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German Pages 532 [540] Year 1960
PAUL FRIEDLÄNDER,
PLATON
PAUL F R I E D L Ä N D E R
PLATOΝ BAND III DIE PLATONISCHEN SCHRIFTEN ZWEITE U N D D R I T T E P E R I O D E Zweite erweiterte und verbesserte
Auflage
WALTER D E G R U Y T E R & CO. vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung / J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung / Georg Reimer / Karl J . Triibner / Veit & Comp.
B e r l i n 1960
© Archiv-Nummer 4212 60 Printed in Germany Copyright 1960 by Walter de Gruyter & Co. Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechtes der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten Satz und D r u c k : Walter de Gruyter Sc Co., Berlin
INHALT Seite
Zweite Periode: Mitte 20. Symposion
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21. Phaidon
29
22. Staat
55
Dritte Periode: Spätwerk Gruppe A. Dialektik 23. Theaitetos
131
24. Parmenides
173
25. Phaidros
201
26. Sophiates
224
27. Politikos
260
28. Philebos
285
Gruppe B. Mythologie und Nomothesie 29. Timaios
329
30. Kritias
356
31. Gesetze
360
Rechenschaft über die Anordnung
415
Anmerkungen
425
Indices
517
Z W E I T E P E R I O D E : MITTE
20. S Y M P O S I O N Wer einmal die Geschichte des Piatonismus schreiben wird, für den wird eines der wichtigsten Kapitel die Nachwirkung des Symposions sein. Nur Timaios und Staat sind darin dem Symposion vergleichbar. In diesem Dialog1) wird Sokrates wie nirgends sonst bei Piaton zugleich als der gesellige und als der einsame Mensch gezeigt und mit höchstem Preise bedacht. Darum konnte weder Sokrates selbst Berichterstatter werden, etwa wie im Lysis oder im Protagoras, noch konnte der Dialog ohne Berichterstatter bleiben, wie der Gorgias oder Phaidros2). Ein kurzes rahmendes Gespräch mußte wie im Phaidon vorausgehen zwischen einem, der dabei war, und einem oder mehreren andern, die den Bericht hören wollen. Beide Male gipfelt dieses einführende Gespräch in der Frage „Welches waren denn die Reden ?", um beide Male über das Gesprochene hinauszuführen in das bewegte Geschehen und in das Schweigen oder das Unsagbare. Schwerer ist die Frage zu beantworten, warum die Ereignisse weit zurückverlegt werden vor die Zeit des Berichtes. Das zu schildernde Fest war auf das Jahr 416 fixiert, als Piaton den ersten Sieg des glänzenden jungen Dichters Agathon — das Gedächtnis daran muß sich lange erhalten haben •—• zur Gelegenheit ausersah, um die Reden über die Liebe halten zu lassen. Warum aber legt er so viele Jahre zwischen die Ereignisse und den Bericht — eine Erfindung, die ihm so wichtig ist, daß er umständlich die Geschichte der Tradition ausmalt und in den Irrtum erst hineinführt, um ihn dann zurückzuweisen: das Fest habe erst vor kurzem stattgefunden (172 BC) ? Gewiß wird die Bedeutung der Geschehnisse F r i e d l ä n d e r , Piaton III
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Zweite Periode
und Reden gesteigert, wenn sich das Andenken daran so lange erhalten hat, und wenn noch jetzt die Menschen so gierig sind davon zu hören. Hinzu kommt, daß Piaton auf diese Weise die Vorgänge zwar als geschichtlich erscheinen läßt — der Erzähler hat sich bei Sokrates selbst Bestätigung geholt — aber von Unerheblichem gereinigt: Aristodem, der Augenzeuge, konnte sich nicht mehr auf alles besinnen, und Apollodor, der Aristodems Bericht weitergibt, hat seinerseits wieder manches vergessen, so daß nur das „Erinnerungswerteste" zurückbleibt (187 A. 180 C). Wie im Symbol erscheint hier die Neugestaltung realen Geschehens, die der platonische Dialog vollzieht3). Aber auch das ist nicht alles. Wir haben noch einmal ein weit zurückliegendes Gespräch mit ausführlich gegebener Überlieferungsgeschichte: den Parmenides. Dort ist Sokrates ganz jung, als er mit dem ganz alten Parmenides zusammentrifft. Jene Aporien der „Ideenlehre" sind nicht erst gestern aufgetaucht, sind also seit langem weitergedacht worden. Ähnlich hat hier Sokrates sein Wissen über den Eros, das er vor langem vorgetragen hat, „einst" — das betont er zweimal — von Diotima empfangen. Er war jung, als er des Eros-Weges inne wurde, des Weges zur höchsten Schönheit und zum wahren Sein. Nach langem spricht er davon beim Fest, und dann wirkt dies weiter bis zu dem Tage, da Apollodor es neu erzählt. Gewiß wird so die fortdauernde Gegenwart der Begebenheit durch das Vorspiel verbürgt. Aber mehr: das zeitlos Seiende taucht in den Strom der Zeit, weil es an und für Menschen ist. Ja, noch mehr: Glanz und Heiterkeit wird von Ernst durchdrungen, wenn man sich sagen muß, daß nicht nur die Katastrophe des Alkibiades und Athens sich schon ereignet hat, sondern auch daß Sokrates' Tod vielleicht nicht mehr als ein Jahr vorausliegt, als Apollodor von dem Fest berichtet4). Derselbe Apollodor wird in der Apologie (34 A ) genannt, da Sokrates die Männer aufzählt, die zu ihm halten und bei der Gerichtsverhandlung zugegen sind. Apollodors Name steht dort neben Piatons Namen und ist in der langen Namensreihe der letzte, so daß man ihn im Gedächtnis behält. Aber selbst wenn sich der Leser des Symposions dessen nicht erinnern sollte, vergessen kann er nicht, daß im Phaidon derselbe Apollodor ganz am Anfang (59 AB) und wieder ganz am Schluß (118 D) mit seinen leidenschaftlichen Schmerzausbrüchen sichtbar und hörbar wird. „Du kennst ja den
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Mann und sein Wesen", heißt es dort (59 Β 1). Symposion und Phaidon gehören in dieselbe Periode platonischer Dialog-Dichtung. Welcher von beiden früher ist, darüber mag man argumentieren ; zu entscheiden ist es nicht, und in einem tieferen Sinne sind beide „gleichzeitig". Undenkbar, daß dem Piaton, als er den Apollodor zum Berichterstatter des Symposions machte, nicht das geschichtliche Faktum vor Augen gestanden hätte: Apollodor anwesend — und wie anwesend! — bei Sokrates' Tode. Von Agathons Fest hätte Piaton wohl auch einen anderen Mann des sokratischen Kreises berichten lassen können. Daß er den Apollodor wählte, geschah — wenn nicht nur, so doch vor allem — darum, weil er seine Leser von dem Fest und den Reden über den Eros hinüberdenken lassen wollte an den Tod, so wie er selbst von dem einen zu dem andern hinüberdachte. Wie in den Dialog vom Tode die Liebe hineinklingt, so klingt der Tod leise aber vernehmbar den Gesprächen über die Liebe voraus — und später in sie hinein. Schon im R a h m e n g e s p r ä c h werden viele Personen aufgeboten. 172A—174A Da ist Aristodem, der einzige aus diesem Kreise, der selbst an dem Fest teilgenommen hat, und dem der Bericht letztlich verdankt wird; und da ist Apollodor, der ihm das Erzählte nacherzählt. Beide gehören zu jener leidenschaftlich anhänglichen aber improduktiven und etwas lächerlichen Art von Schülern, die im Gefolge keines großen Mannes fehlt. Aristodem geht barfuß wie der Meister als dessen „eifrigster Verehrer unter den Menschen seiner Zeit". Apollodor mit dem Beinamen „der Weiche, Sanfte" (μαλακός), den er in groteskem Widerspruch zu seinem Wesen aus unbekanntem Grunde trägt 6 ), hält alle für „unselig" (κακοδαΐμονες) mit Ausnahme des einen Sokrates — was sie ja an diesem gemessen in einem tieferen Sinne wirklich sind. In dem äußersten Kreise sind diese beiden die Sokratesnächsten. Dann ist da ein gewisser Phoinix als Träger der Überlieferung zwischen Aristodem und Apollodor und jener Glaukon, der gierig ist von dem berühmten Gespräch zu hören und „schon neulich" den Apollodor suchte, um ihn danach auszufragen. Bei dem Namen Glaukon kann man kaum anders als an Piatons Bruder denken, der — als Sohn des Ariston und Bruder des Adeimantos, also unverwechselbar — am Anfang der Politeia und am Anfang des Parmenides auftritt, am Anfang der Politeia in einer Szene, die bis in den Wortlaut an die 1*
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Zweite Periode
des Symposions erinnert 6 ). Das ist Piatons Weise, die eigene Zugehörigkeit zu den Vorgängen, die er gestaltet, anzudeuten, ohne sich selber zu einer Person seiner Dialoge zu machen — wie etwa Aristoteles und Cicero das t u n werden. Schließlich ist da ein „Jemand", der seinerseits den Bericht von jenem Phoinix gehört hatte, aber nichts Genaues wiederzugeben wußte—also verschwimmende Tradition. Ganz zuletzt — d. h. am weitesten außen — die Namenlosen, zu denen Apollodoros spricht. Als reiche Geldleute werden sie von ihm bezeichnet (173 C), und wie er die „Reden über die Philosophie" ihrem Gerede gegenüberstellt, wird der Gegensatz zweier Lebensprinzipien, die sich ζ. B. auch im Beginn des Staates befehden, in größer geschwungenen Sätzen deutlich, und ihr Zusammenstoß symbolisiert sich im Zusammenstoß der Worte (οϊομαι — ούκ οϊομαι 173 D). Wobei man freilich wiederum nicht übersehen darf, daß der Trieb nach Geld später als eine Art des Liebestriebes, nämlich die primitivste, auftaucht (205 D), und daß die von Apollodor Geschmähten als neugierige Frager der Anlaß sind, wenn wir den Bericht über das Fest zu hören bekommen. I n das innere Gespräch hinein ragt freilich nur Aristodem und auch er nur als stummer Zuhörer. Dort treffen wir auf Männer höheren Ranges, über die dann wieder Sokrates unvergleichlich herausragt. Noch eins ist in diesem Rahmengespräch zu beachten. Es wird gleich anfangs gesprochen von dem „Zusammensein des Agathon und Sokrates und Alkibiades". Das soll man im Gedächtnis behalten, soll sich wundern, daß Alkibiades nicht unter den Gästen ist, und soll mit Spannung warten, wann er denn — immer anders als alle andern — hereinbrechen wird. Dabei denke man an den Protagoras zurück, wie Alkibiades sofort in den ersten Worten genannt wird und dann viel später (336 B) ins Gespräch eintritt. Was dort gleichsam am Rande blieb, wird im Symposion zum wichtigen Formmotiv. VorDie Erzählung, die in das eigentliche Gespräch hineinführt, geht 4 A—176A n ^ C ^ Y o n Agathons Festmahl aus, sondern gibt — wieder ähnlich wie der Protagoras — Sokrates' Weg dorthin. I n Xenophons Symposion ist Sokrates von Anfang an unter den Gästen. Piaton läßt ihn verspätet in die festliche Versammlung treten. Da er ihm als letztem unter den Festrednern das Wort geben wird, will er ihn gleich zu Beginn eindringlich sichtbar machen.
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Der einleitende Bericht zeigt den Sokrates erst als den Geselligen, so wie der größte Teil des Dialoges ihn zeigen wird, dann in bewußtem Gegensatz als den in sich versunkenen Denker. Das Scherzgespräch mit Aristodem, der als Berichterstatter von Anfang an da sein muß, gipfelt in dem Worte „schön". „Warum er sich so schön gemacht habe ?" fragt Aristodem. „Damit er schön zum Schönen komme", antwortet Sokrates. Und dieses Spiel setzt sich später fort. Denn als Alkibiades kommt, wirft er dem Sokrates eifersüchtig vor: er habe es durch List dahin gebracht, neben dem Schönsten zu Tische zu liegen (213 C). Ist das nicht etwas mehr als bloßes Spiel ? Liebe, wird Diotima auf der Höhe des Dialoges lehren, ist „Zeugung im Schönen". So erklingt das wichtigsteWort gleich zu Anfang in der Vorform gesellschaftlichen Scherzes, etwa wie der Dialog über die Schönheit, der Große Hippias, mit den Worten „Hippias der Schöne" beginnt. Hat nicht aber das Wechselverhältnis „schön zum Schönen" noch einen besonderen Sinn ? Deutet sich darin etwa das Problem des Lysis an, ob Freundschaft zwischen Gleichen oder zwischen Ungleichen sei ? Eine sehr ironische Gleichheit wäre das hier. Aber daß wir nicht ganz fehlgehen, wird alsbald die erste Wechselrede zwischen Sokrates und Agathon lehren (175 C ff.), jener kleine Ironie-erfüllte Wettkampf um die „Weisheit". Und schon jetzt verstärkt das Scherzgespräch mit Aristodem diesen Eindruck. Es wird gespielt mit dem Sprichwort, daß der Gute ungeladen zum Mahl des Geringen komme. Homer habe es umgekehrt: der Geringe kommt zum Mahle des Guten. Wir wenden es wieder anders: der Gute kommt zum Mahle des Guten. Und Aristodem scheut sich, als ein Geringer zum Tische des „weisen" Mannes zu kommen. Überall handelt es sich auch hier in verschiedenen Variationen um die Frage Gleich zu Gleich oder Ungleich zu Ungleich. Eine Frage, die im Symposion selbst in den Reden des Eryximachos und des Agathon aufklingen wird, und die uns vom Lysis her in ihrer notwendigen Beziehung zum Problem der „Freundschaft" bekannt ist. Wenn zum Schluß das Homerwort von den „beiden, die zusammen gehen" (σύν τε δύ' έρχομενω) erklingt, so denke man daran, daß Aristoteles in der Nikomachischen Ethik (VIII 2, 1155 a 15), als er über die Freundschaft zu sprechen beginnt, eben dieses Wort zitiert, und daß in dem Dialog es sich immer um Formen jener „Zweiheit" handelt: jetzt ist es Sokrates und
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Zweite Periode
Aristodem, bald wird es Sokrates und Agathon, schließlich Sokrates und Alkibiades sein. Von den Stufen, in denen dasselbe Grundverhältnis sich darstellt, ist hier die erste. Dann also wird Sokrates in seiner Einsamkeit gezeigt, vor allem durch die Reflexe, die sein versunkenes Draußenstehen hinein in die festliche Gesellschaft wirft, und durch die wachsende Spannung, die es erregt. Der Einsame: so wird er noch einmal in der Preisrede des Alkibiades (220 CD) erscheinen. Und es ist kein Zufall, daß er als der Einsame gerade in diesem Dialoge sich darstellt. Xenophon will zeigen, wie der große Mann auch im Scherz und Spiel (iv ταϊξ τταιδιαΐς) sich zu bewegen wußte. Piaton sieht immer den ganzen Sokrates, und je mehr er von seiner Geselligkeit gibt, um so mehr muß er von seiner Einsamkeit geben. Damit man aber nicht im Biographischen befangen bleibe, lerne man von Jaspers, wie überhaupt die „Polarität von Einsamkeit und Kommunikation" zum Wesen der menschlichen Existenz gehört. In Sokrates äußert sich diese Polarität nur mächtiger als in irgend jemandem sonst. 175D—176 Α Als Sokrates endlich eingetreten ist, wird — eingerahmt von den beiden Momenten, in denen er die Haltung ändert, erst sich niedersetzt, dann sich hinlegt7) — ein Stück Gespräch zwischen ihm und dem Gastgeber laut. Es handelt davon, wo der Ankömmling seinen Platz nehmen solle, aber es wird sogleich zu einem Geplänkel über das Wissen und wie es übertragbar sei. In Sokrates' scherzendem Vergleich, daß es nicht von dem Volleren in den Leereren fließe wie bei kommunizierenden Gefäßen, wird ein Grundsatz sokratischer Erziehung angedeutet. Und der wissende Agathon und der nicht-wissende Sokrates erscheinen in ironisch herausforderndem Nebeneinander. 176 A—178 Α Ein kurzer Gesprächsteil stellt die Festredner vor und führt dann auf das Thema ihrer Reden: den Eros. Agathon und Sokrates haben wir schon zu Gesicht bekommen. Als jetzt mit rituellem Brauch das eigentliche Symposion anfängt, ist Pausanias der erste Sprecher. Man erinnert sich aus dem Protagoras (315 DE), daß dort im Hörsaal des Weisheit-tönenden Prodikos eben dieser Pausanias sitzt und neben ihm ein auffallend schöner Junge — „... ich meine gehört zu haben", sagt Sokrates wie von ungefähr, „daß sein Name Agathon ist, und ich sollte mich nicht wundern, wenn er der Liebling des Pausanias wäre". Das liegt gegenüber dem
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Zeitpunkt des Symposions etwa 15 Jahre zurück. Aber derselbe Pausanias ist es, der jetzt im Hause Agathons nach dem Hausherrn das erste Wort hat: die Freunschaft hat also gehalten. Aristophanes braucht niemandem vorgestellt zu werden: daß der berühmteste Komödiendichter Gast des eben berühmt werdenden Tragikers ist, versteht man, ohne daß es gesagt wird, und man bücke schon jetzt voraus auf den Schluß des Werkes (223 CD), wo allein noch die beiden Dichter dem Sokrates standhalten und er sie „einzugestehen zwingt. . ." Dann werden außer Aristodem, dessen Rolle sich auf die Berichterstattung beschränkt, noch zwei Gäste genannt: Eryximachos der Arzt und Phaidros. Auch diese beiden soll man aus dem Protagoras (315 C) in Erinnerung haben: dort saßen sie dem Professor Hippias zu Füßen, und die Diskussion ging über naturwissenschaftliche Gegenstände. Wozu es paßt, daß Eryximachos jetzt sofort einige fachmännische Allgemeinheiten über das Zuviel des Weingenusses vorträgt, und daß er mitPhaidros offenbar befreundet ist; denn Phaidros „ist gewohnt sich ihm zu fügen, vor allem in ärztlichen Dingen", und Eryximachos hat den Phaidros „oft sagen hören. . ." Damit sind wir bei dem Thema der Reden. Kein Dichter habe bisher dem großen Gott Eros ein Preislied gedichtet, kein Redekünstler ihn gepriesen; das solle also heut geschehen. Seltsam! In der Antigone und im Hippolytos richtet der Chor je einen leidenschaftlichen Gesang an Eros, und schon viel früher hatte Alkaios ihn als den „mächtigsten der Götter" gefeiert. Wenn nachher Aristophanes klagen wird (189 C), daß diesem großen Gotte keine Heiligtümer errichtet werden, so klang schon ganz ähnlich in Euripides' Chorlied die Rüge: dem Eros erweisen wir keine kultischen Ehren. Was also jetzt vermißt wird und den Redekampf in Bewegung bringt, das ist hier gar nicht zum erstenmal gerügt worden. Der Tadel ist auch gar nicht ganz zutreffend, wie eben jene Lieder beweisen und dazu das uralte Eros-Heiligtum in Thespiai, in das wohl noch zu Piatons Lebzeiten die ErosStatue des Praxiteles gestiftet werden wird, und der altberühmte Altar genau vor dem Eingang der Akademie8). Die Tragödiengesänge und den Altar hat Piaton besser gekannt als wir; die Altarinschrift derPeisistratidenzeit, gerichtet an den „viel-erfinderischen Eros", klingt in Diotimas Worten nach (203 D 6). Da ist also allerlei gesellschaftliches Gerede eingemischt in das, was wir bis-
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her gehört haben. Aber dann wieder: wenn man den Phaidros klagen hört, daß „bis auf den heutigen Tag niemand gewagt habe den E r o s nach Gebühr zu besingen", kann der Leser anders als an Piaton selber denken und an sein neues Wagnis ? I n dem K a m p f der Reden gilt es vor allem, auf Sokrates zu achten. Piaton weist ihm den letzten Platz in der Tischordnung a n : „Wir unten am Tisch haben es schwerer. Aber wenn die vor uns hinreichend und gut geredet haben, so wird es uns genug sein" (177 E ) . Wir wissen also: er hört zu, und wir werden prüfen müssen, was vor ihm bestehen mag. Denn über all das, was diese begabten und klugen Männer reden, abschätzig zu urteilen, dazu hätte allenfalls Sokrates ein Recht. Ebensowenig wird aber kritiklos alles bewundern dürfen, wer es mit ihm hält 9 ). Blicken wir schon jetzt auf die kleinen Z w i s c h e n s p i e l e voraus, in denen jeweils der Untergrund des gesellschaftlichen Daseins empordringt zwischen den langen und gleichsam zeitlosen Reden. Aristophanes, der an dritter Stelle hätte reden sollen, wird durch 185 C—Ε den Schlucken gehindert. Darüber gibt es ein kurzes Gespräch zwischen ihm und dem Arzt, und dieser redet an Stelle des Patienten. Wir haben früher gezeigt, wie bedeutsam auf das Ziel weist, was zunächst nur unterhaltendes Spiel scheint 1 0 ). Fort189 A—C geführt wird dieses bedeutsame Spiel in dem zweiten kurzen Zwischengespräch derselben beiden Männer zwischen ihren Reden. 193D — 194E E t w a s Neues aber bringt das Intermezzo, das nach Aristophanes' Rede die des Agathon vorbereitet. Nur sie und nicht auch schon die des Sokrates ? Sokrates selbst tritt j a jetzt aus seinem Schweigen heraus mit dem Geständnis, in höchster Sorge zu sein, was ihm noch übrigbleiben werde, wenn alle andern gesprochen hätten. Also wieder werden wir auf das Ziel hin gerichtet. U n d wenn er dann den Agathon in ein Gespräch hineinzieht über das Verhältnis der „Vielen" zu den „Wissenden", wenn Agathon schließlich nicht weiter weiß und Phaidros als der Wächter über dem Gesetz des Festes ihn warnt vor der dialogischen Verführung des Sokrates —, da merken wir, wie die dialogische K r a f t andringt gegen die für die „Wahrheit" zuletzt unangemessene Form der „langen R e d e n " , und wir fragen wohl auch — ähnlich wie früher (175 C ff.) —, wer in diesem Kreise zu den Vielen und wer zu den Weisen gehört. I 1. P h a i d r o s . Ihn kennen wir aus dem Protaqoras-Dialog als Zu1 TO A 1 Ο Λ "D ° hörer des Hippias, aus dem Phaidros-Dialog als Anhänger des
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Lysias. Seine Rede feiert erst den Ursprung des Eros aus ältestem Göttergeschlecht, dann Eros' Gaben an die Menschen. Das ist ein rednerisches Ordnungsschema, und gewiß hört man in dieser Rede recht moderne Klänge, so sehr Phaidros sich auf die alten Dichter und Weisen beruft 11 ). Nicht nur, daß er die Heroenzeit mit dem ihr fast fremden mann-männlichen Eros ausstattet; er übt seine kritische Laune an der Mythengestaltung des großen Aischylos, damit sie besser in das eigene System passe. Jugendlich klingt auch das reformatorische „Man müßte . . ., man sollte . . (178 Ε 3), mit dem der Redner eine Armee von Liebenden in der Phantasie erstehen läßt. Was aber bedeutet seine Rede für den Sinnzusammenhang des Ganzen, von dem sie ein Teil ist ? Eros ein „großer Gott", weltschaffende Kraft, den Urmächten zugehörig: an dieser Sicht werden die folgenden Redner nichts Wesentliches zu ändern haben bis auf Agathon, der jenem kosmogonischen Eros den jugendlichen, doch nicht minder mächtigen und vollkommenen gegenüberstellt. Die beiden überlieferten mythischen Erosbilder sind notwendig, damit sich von ihnen die Vision Diotimas überraschend abheben kann: „Eros kein großer Gott sondern ein großer Dämon." Dieser Eros, den Phaidros feiert, hat als Weltschöpfer den weitesten Bereich, zugleich aber die tiefste Wirkung auf das menschliche Dasein. Er allein — nicht Verwandtschaft, nicht Reichtum — ist der Führer zum schönen Leben. Scham über das Häßliche, Streben nach dem Schönen (έττΐ TOTS καλοϊ$ φιλοτιμίαν): das wirkt er. Und ohne ihn kann weder Staat noch Einzelner große und schöne Werke schaffen. Sein notwendiger Bund mit der Schönheit, der hier zugleich und wiederholt aufklingt, weist geradewegs in Diotimas Rede hinein. Und Alkibiades wird nachher bekennen, daß er vor Sokrates — vor ihm allein! — sich seines Lebens schäme. Das Entscheidende, was Eros für das Wirken des Menschen — griechisch und platonisch: des Menschen im Staat — bedeutet, wird sofort erfaßt: er wirkt Arete. Auch das ist bestimmend für Diotimas Lehre, bekommt freilich erst dort Fülle und Richtung durch den neuen Gehalt, den sie dem alten Wort einflößt, während in der Phaidros-Rede die vor-sokratische Einheit von Arete und Mannheit-Tapferkeit fast durchaus herrscht — eine Einheit, die schon im Laches überwunden wurde.
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Den Abschluß machen mythische Beispiele, die, aus der heroischen Vergangenheit das Gesagte verdeutlichend und zugleich erhöhend, den Opfertod des einen Liebenden für den andern feiern. Und hier wird nun — seltsam für uns — ein Unterschied gemacht: Wenn der Geliebte sich für den Liebenden opfere, wie Achill für Patroklos, so wird das von den Göttern höher gewertet, als wenn das Umgekehrte geschieht. Dies könnte man so verstehen, daß bei dem Liebenden als dem leidenschaftlich Ergriffenen solches Opfer sich von selbst versteht, nicht so bei dem, der nur Gegenstand der Leidenschaft ist. Begründet aber wird es so: göttlicher ist der Liebende als der Geliebte; denn er ist gotterfüllt (θειότερον γάρ εραστής παιδικών" ενθεος γάρ εστί 180 Β)12). Das klingt im Munde des Phaidros spitzfindig und, wenn man an Eryximachos denkt, grotesk, bis man den Blick auf den schweigend zuhörenden Sokrates richtet. Sokrates ist der große Liebende. Seltener ist es schon, daß die Jünger ihm mit der Zuneigung (άγαττδν) entgegenkommen, die sich gebührt. Tun sie das aber, so erweisen die Götter ihnen Gutes. Auf Sokrates den Gotterfüllten also zielt diese Rede in ihrem Schluß, ohne daß der Redende selbst es weiß oder will. Anders gesprochen: Sokrates ist der Magnet, der dem ins Allgemeine Geredeten Sinn und Richtung gibt. Hat man dies erfaßt, so darf man fragen, ob nicht schon vorher der Leser zu Sokrates hinüberdenken soll, wenn Phaidros eine Armee, die aus Liebenden besteht, in der Phantasie erstehen läßt13): „die werden einander nicht im Stiche lassen". Dort, wo nachher Alkibiades in seiner Preisrede von der Kampfgemeinschaft zwischen ihm und Sokrates erzählt, begegnet zweimal in wörtlichem Anklang das „Nicht-im-Stiche-lassen" (220 Ε 1. 221 Ε 5). Und muß man nicht auch am Beginn des mythischen Teils in der Phaidros-Rede wieder zu Sokrates hinüberdenken, wenn es dort heißt: für andere zu sterben entschließen sich allein die Liebenden ? Es folgen Beispiele aus dem Mythos. Zwar Orpheus, der den Tod „um des Eros willen" nicht wagte, wird ohne sein Ziel erreicht zu haben aus dem Hades zurückgeschickt. Ein „Schattenbild" (φάσμα) wird ihm gezeigt, die Frau „selbst" (αύτήν) gibt man ihm nicht. Alkestis hingegen, die „wegen des Eros" starb, Achill, der noch mehr tat als „für" einen anderen sterben (ύττεραττοθανεϊν). der dem Patroklos „nachstarb" (εττα-ττοθανεϊυ), werden ihres Opfers wegen von den Göttern geehrt. Wie bedeutend diese my-
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thischen Beispiele sind, wird noch deutlicher in der Sokrates-Rede, da Diotima mit wörtlichen Anklängen dieselben Heroen und ihren Opfertod feiert (208 D). Die heraklitische Spannung von Liebe und Tod klingt auf. Hört man zuviel hinein, wenn man den Sokrates zu diesen Heroen gesellt ? Gewiß nicht, da er selber in derApologie (28 CD) den Achill als sein heroisches Vorbild feiert. Und hat nicht gerade Sokrates „gewagt" und „das Ziel erreicht?" Hat nicht er die Dinge „selbst" anstatt ihrer „Schattenbilder" zu Gesicht bekommen ? Ist er nicht gestorben „um des Eros willen"— „für die Anderen" ?]4) P a u s a n i a s . Er ist im Protagoras Hörer des Prodikos. Seine Rede zeigt noch stärker als die des Phaidros rednerische Schulung, um so mehr als sie ganz auf den rhetorisch geschärften Gegensatz des zwiefachen Eros gegründet ist 16 ). Dabei ist solche Doppelung gar nichts dem alten dichterischen Mythos Fremdes, wenn man an Hesiod denkt: es gebe nicht eine Göttin „Streit" sondern zwei, eine böse und eine gute. Es ist schwer zu glauben, daß dem Piaton diese zwiefache Ens nicht vorgeschwebt hätte, als er seinen Pausanias den zwiefachen Eros erfinden ließ. Edler und unedler Eros stehen einander gegenüber, edle und unedle Liebende. So erscheint die Gewalt des Gottes womöglich noch gesteigert, die Beziehung auf die Arete durch den Kontrast verschärft. Die unedle Liebe offenbart sich darin, daß die Liebenden den Leib mehr als die Seele lieben, sich an die Jugendlichen und Unvernünftigen halten, mit der schwindenden Blüte des Leibes (άμα τω τοϋ σώματος ανθεί λήγοντι 183 Ε) davongehen. So „wird der reizgetriebene und nur genießende Eros abgetan"16). Die edle Liebe treibt zu den Reiferen; wer ihr folgt, richtet sich auf gute innere Artung (ηθουξ χρηστού έρσατήζ 183 Ε) und — Pausanias blickt zu Agathon hinüber, soll man wohl denken — „bleibt zeitlebens; denn mit Bleibendem ist er verschmolzen"17). Wenn der reformatorische Eifer des Redners daraus ein Gesetz machen möchte (χρήν δέ καΐ νόμου είναι) so hat man das Recht, an die Neckereien zu Beginn des Protagoras und an den Gegensatz zwischen Sokrates und den vielen Verehrern des Alkibiades in dem Dialog Alkibiades zu erinnern. Denn dort sind die Vielen die, die hier dem Pandemos dienen. Sie gehen davon, wenn die Jugendblüte schwindet (TOÖ σώματος . . . επειδή λήγει άυθοϋν 131 C), weil sie „gar nicht den Alkibiades sondern nur seinen Leib" geliebt
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haben, während den Sokrates erst dann seine bildende Liebe zu den Jünglingen führt18). Durch die ganze Rede des Pausanias, sowohl durch seine Sätze über die beiden Liebesarten wie durch seine Analysen der in den verschiedenen Staaten bestehenden Liebessitten wie durch seine reformatorischen Forderungen (χρήν 181 D, δει 184 C) kehrt immer wieder, als etwas was gar nicht erörtert wird, sondern sich von selbst versteht, die Verbindung, ja fast die Einheit, von Jünglingsliebe mit Philosophie oder, wo am vollsten geredet wird, mit Philosophie und Gymnastik (182 B) 19 ). Philosophie wiederum wird mit Arete verbunden (184 D), so daß der in der Phaidros-Rede angeschlagene Ton weiterklingt, nur noch voller dem sokratischen Tone präludierend20). Daß Sokrates unter „Philosophie" etwas ganz anderes verstehen wird, bedarf keines Wortes. Aber darum ist dies nicht minder deutlich eine Vorbereitung auf ihn. Und am Schluß steht der edle Bund zwischen dem Liebenden, der zu „Denken und aller Tugend" (eis φρόνησιν τε καΐ άλληυ άρετήυ) beitragen kann, und dem Jüngling, der sich ihm „hingibt", um an „Erziehung und anderer Weisheit" zu gewinnen. Es herrscht die Meinung, Piaton habe in dem Pausanias als einem echten Sophisten die verfeinerte Sinnenliebe anpreisen lassen. Mag daran etwas Richtiges sein, es ist nicht alles. Auch Diotima wird ja lehren, daß die Liebe bei dem schönen Leibe beginnt. Also wissen muß man, daß diese Rede in einige Nähe zu Sokrates führt, soll freilich auch wissen, wie weit sie von ihm entfernt bleibt. Agathon wird nachher sagen (194 E ) : alle andern hätten es darin versehen, daß sie nicht den Gott gefeiert, sondern die Menschen ob seiner Wohltaten gepriesen hätten; und da Sokrates Agathons Ordnungsprinzip übernimmt (199 C. 201 D), so müssen wir von hier aus kritisieren. Pausanias hat in der Tat viel zu wenig, und vollends nicht mit sokratischer Strenge, nach dem Wesen des Eros gefragt, sondern hat sogleich allzu empirisch dessen Wirkungen betrachtet. Er hat wohl zwischen dem schönen und dem unschönen Eros unterschieden; aber erst Diotima wird zeigen, daß dieser Gegensatz eine höhere Macht über den beiden gegensätzlichen Kräften voraussetzt — so wie schon im Oorgias (495 C ff.) und noch im Philebos (12 C ff.) aus dem Unterschied zwischen edler und gemeiner Freude sich ein Etwas zwischen oder über diesen beiden Arten der Freude erhebt. Hinter alledem steht Pau-
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sanias weit zurück, wie kann das anders sein ? Daß manches in seiner Rede zweideutig ist, hängt mit seiner grundsätzlichen Unsicherheit zusammen. Dennoch wird sich vieles als Stufe erweisen auf dem Wege zu Sokrates hinauf, wenn man von dessen Rede auf die des Pausanias zurückblickt. E r y x i m a c h o s . Er wurde im Dialog Protagoras als Student der I 3. 18i Naturwissenschaften sichtbar. Dazu stimmt Form und Inhalt der >E—] Rede, die er jetzt hält21). In ihr ist jene Strenge des Aufbaus, wie sie in manchen Hippokratischen Schriften begegnet22). Aber ist diese Strenge hier nicht übertrieben, da scharf gesonderte Abschnitte jeweils in einer schematisch formulierten Begriffsbestimmung gipfeln ? Fachmännischer Stolz und kritische Gesinnung sind schätzenswert. Aber wird nicht der Stolz hier zur Eitelkeit und die Kritik zu unangemessener Krittelei vor allem an dem großen Heraklit, von dessen „Harmonie des Widerspännstigen" doch so viel in den hier vorgetragenen Lehren weiterlebt ? M t dem Blick auf weltformende Prinzipien verträgt es sich für den Redner, wenn er seiner ärztlichen Kunst die Kochkunst einordnet. Auch das könnte man gelten lassen, wenn er nicht beider Ziel darin sähe, daß man „ohne Krankheit Lust ernte" (187 E). Man überhöre auch nicht die Begleitmusik: den lauten Schluckenanfall des Aristophanes und zum Schluß dessen schallendes Niesen, nachdem er sich der ärztlichen Verordnung folgend die Nase gekitzelt hat. Über solchen Zügen ironischer Regie darf man doch nicht vergessen, welchen Gehalt die Rede hat und welchen notwendigen Platz im Ganzen des Symposions. Piaton hat dem Naturforscher-Arzt das Wort gegeben, um dieselben Strebungen, die Pausanias im menschlich-staatlichen Bezirk aufgewiesen hat, auszuweiten in die Natur, ins Weltall und darüber hinaus in die Transzendenz. So beginnt Eryximachos mit der Kritik, sein Vorgänger habe das richtige Prinzip nicht bis ans Ziel verfolgt, und weist zugleich mit den Worten, Eros sei „groß und wunderbar", genau auf den Preis des kosmogonischen Gottes am Anfang der Phaidros-Rede zurück. Kosmischer Eros als Widerspiel der Liebe im menschlichen Bereich: wie sonst vielfach ist auch darin Vorläufer des Symposions der Lysis. Im Menschenleben, so hieß es dort (215 E), müssen die Gegensätze notwendigerweise Freund sein; so sei auch im Elementaren das Gegensätzlichste einander höchst befreundet. Das Symposion setzt an Stelle
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der Freundschaft den leidenschaftlicheren Eros. Aber ebenso wie dort im Lysis stehen hier Urkräfte oder Urwesen einander gegenüber, in verwickelterem Verhältnis freilich (186 D. 188 A): sie können einander feindlich sein und sind es im Prinzip; der gute Eros bringt sie ins Gleichmaß, der böse Eros läßt sie in gewaltsamem Übermaß zur Vereinigung streben. Der zwiefache Eros im Weltall herrschend: das klingt nur wenig anders, als wenn bei Empedokles, dem Naturforscher-Arzt, die beiden gegensätzlichen Urmächte Freundschaft und Streit das Zueinander und das Auseinander der Körper im Weltall bewirken. Denkt man an die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes hinüber, wie Sokrates sie im Phaidon (95 Ε ff.) überblickt, so steht die Theorie des Eryximachos mit der seines Vorgängers Empedokles in der Frühzeit, bevor die Hinwendung zu den Logoi erfolgt ist. Das Prinzip des doppelten Eros wird durch die Stufenfolge der Reiche geführt. Die Arztkunst, neben welcher Gymnastik und Landbau nur eben erwähnt sind, ist auf die Welt des Leiblichen gerichtet, Musik und Astronomie auf Harmonien und Disharmonien im Reich der Töne und der Himmelskörper. Und ist man mit der Astronomie im Kosmischen angelangt, so führt die Mantik, mit der das religiöse Gebiet angedeutet ist, zum Göttlichen empor. Das ist ein Aufstieg, nach dem Piaton immer getrachtet hat. Erziehungssystem und Weltenbau des Staates und des Timaios sind die Erfüllung; beiden klingt hier die Rede des Eryximachos bis in den Wortlaut genau voraus23): Rhythmus und Harmonie als Ordnungssysteme der Seele und des Weltalls; musische Kunst als liebendes Streben zu solcher Erziehung-Bildung der Seele. Wenn dieser Aufstieg in der Eryximachos-Rede bis zu jenem Bezirk gelangt, der als „Gemeinschaft der Menschen und Götter" (ή περί θεούς τε καΐ άνθρωπου^ κοινωνία) bezeichnet wird oder als „die Opfer alle und die Dinge, die der Weissagekunst unterstehen" (θυσίαι ττςχσαι καΐ οΐζ ή μαντική έτπστατεΐ), so wird auch hier die Richtung genommen auf Diotima hin24). Bei ihr geht durch das Gebiet des „Dämonischen", dem ja Eros angehört, „die ganze Weissagekunst und die priesterliche Kunst, die sich um Opfer und Weihen und Zaubergesänge bemüht" und „Verkehr und Zwiesprache der Götter mit den Menschen" (ή όμιλία καΐ ή διάλεκτος θεοί; ττρός ανθρώπους 203 Α ) . Der dogmatische Naturforscher ist dort zu Ende, wo Diotima allererst beginnt.
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Wie die Richtung auf die Arete, die bei Phaidros angelegt war, in der Pausanias-Rede sich, fortsetzte, so ist der Blick auf die ganze gott-menschliche Welt, mit welchem Phaidros begann (178 A), bei Eryximachos geworden zu einem Blick durch alle Reiche vom Leiblich-Menschlichen bis zum Göttlichen empor. Aber mit der Unterscheidung des doppelten Eros wurde die geschlossene Einheit, die der erste Redner vor Augen sah, gesprengt, und die Zersprengung — so notwendig sie war, um tiefer zu dringen — ruft nach neuer Einheit. Denn daß es mit dem guten und dem schlechten Eros nicht sein Bewenden haben, daß überhaupt ein Gott nicht schlecht sein könne, steht fest für jeden, der auch nur etwas von Piaton gelernt hat. Und man könnte in einem leichten Widerspruch zu Beginn der Pausanias-Rede — zuerst, daß man jeden Gott preisen müsse, und dann, daß man nur den guten Eros rühmen dürfe25) — einen Hinweis finden darauf, daß hier wohl von der Fülle des Seienden mehr als in der Rede des Phaidros erfaßt ist, daß aber die Lösung nicht bestehen kann. Die göttliche Sphäre muß unberührt bleiben vom Mangelhaften: das wird die Erkenntnis sein, die am Schlüsse sich wiederherstellt. Dazu muß Eros in den mittleren Bereich des Dämonischen hinabgerückt werden. So spät also wird die Dissonanz aufgelöst. Für jetzt erklingt eine ganz neue Melodie. A r i s t o p h a n e s hat bei Tische seinen Platz an dritter Stelle. Seine I 4. 189( ! — ] Rede würde also unter den fünf vor-Sokratischen Tischreden genau die mittlere sein. Indem Piaton den Schluckenanfall erfindet, um den Aristophanes zum vierten statt zum dritten Redner zu machen, sind wir aufgefordert, ihn und seine Rede für einen Augenblick dort zu denken, wo er sie eigentlich hätte halten sollen. Da ist zunächst deutlich, daß menschlich-gesellschaftlich gesehen die vier anderen Redner zwei Freundespaare sind, Phaidros und Eryximachos, Pausanias und Agathon. Wie also Aristophanes im menschlichen Sinne unter den Gästen allein ist, so entfernt sich seine Rede am weitesten von denen der vier anderen. Denn diese vier Reden bilden wiederum — freilich in anderem Sinne als die Männer, die sie halten, — zwei Paare. Die des Phaidros und des Agathon gehören zusammen als Gegensätze: jene preist den ältesten, diese den jüngsten der Götter. Das andere Redenpaar ist dadurch verbunden, daß das Motiv des zwiefachen Eros von Pausanias eingeführt, von Eryximachos fortgeführt wird. Aristophanes übt die schärfste Kritik: die Menschen haben bisher über-
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haupt die Kraft des Eros nicht begriffen; und er ist am radikalsten in seinem Versuch — man könnte den Ausdruck wagen — einer „existentiellen Anthropologie": die Menschen sind Bruchstücke und immer in Gefahr noch bruchstückhafter zu werden. Daraus folgt die stärkste — schon fast ethische — Forderung: das eigentliche Wesen des Eros ist es, dieses Bruchstückhafte zu überwinden durch das Streben nach Ganzheit. Zugleich hat diese Rede die lebhafteste künstlerisch-mythologische Kraft. Denn in ausgesprochenem Kontrast zu der Soziologie und der Naturwissenschaft der beiden Vorredner, gegen die er sich wendet, strömt nun der Mythos herein28). In den Reden der anderen klang er nur an, da die alten Genealogien des Eros aufgerufen wurden. In der Rede des Sokrates wird er seinen begrenzten Platz bekommen. Für jetzt erfüllt er den ganzen Raum. Am AnschaulichDichterischen soll klar werden, was bisher gefehlt hat: man soll die „ K r a f t " des Eros „wahrnehmen" (189 C). In der Form spürt man überall den Mythologen, der läßlich anreihend und wiederholungsreich erzählt27). Aber diese Form handhabt ein Dichter mit strömender Fülle der Phatasie und der Worte, mit anmutigem und groteskem Spiel der Bilder. Das ist der Aristophanes in Piaton. Die Aristophanes-Rede weitet am Anfang und am Schluß den Blick auf den Kosmos. Die ursprünglichen Menschen sind in Gestalt und Bewegung den Gestirnen verwandt, und unsere Hoffnung ist, daß Eros uns in jenen alten Zustand wieder herstellen werde. Auch dieses kosmische Element, zu dem schon Eryximachos sich erhoben hatte, zieht sich in Diotimas Rede hinein, mit dem bedeutenden Wort, daß durch Eros „das All mit sich selbst zusammengebunden wird". Völlig entfaltet wird es erst im Phaidros und im Timaios. In unserem Dialoge verliert es nach der Rede des Naturforschers an Raum. Denn der Blick bleibt bei Aristophanes — wie später bei Agathon und bei Diotima — vor allem im Kreise der Menschen. Ihre Weisen des Liebens zeigt Aristophanes als nach dem Werte, das ist nach dem Grade der Männlichkeit, gestuft: am höchsten steht die Liebe von Mann zu Mann, die Liebe gerade der tapfersten, dem Staate zugewandten Männer. Hier vor allem finde man jene Erschütterung beim Sichbegegnen, jenes Streben nie voneinander zu lassen und die sichere Ahnung, bei solcher Sehnsucht müsse es auf etwas Tieferes als die Befriedigung eines Triebes abgesehen sein. Daß Aristophanes alle diese Rätsel aus einem
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Punkte jenseits aller Erfahrung deutet, macht die Größe seines Versuches aus. Die Deutung selber, Liebe sei das Begehren des Unvollständigen, Halben, nach Ergänzung (191 A. 192 E), ist ein ergriffenes und ergreifendes Spielen, und Aristoteles28), der dieses Bild aus den „Liebesreden" deutlich vor Augen hat, ist nicht ganz im Unrecht mit seiner prosaisch-spöttischen Kritik: bei solchem Willen des Zusammenschmelzens müßten entweder die beiden zugrundegehen (indem sie zusammenschmelzen) oder der eine von beiden (wenn es ihm nicht gelingt). Erst Sokrates und durch seinen Mund Diotima wird jene Ahnung, daß Liebe im Jenseitigen wurzele, durch ein Wissen ersetzen, die Stufenreihe des Liebens zum „Guten" emporführen und mit genauer Beziehung auf die Aristophanes-Rede (205 D ff.) lehren, daß das „Ganze" nichts ist, wenn man nicht das Vollkommene, das Gute darin versteht. Agathon 2 9 ). Er kritisiert die Vorgänger alle miteinander: sie I 5. hätten nicht von dem Gott sondern von seinen Wirkungen geredet. 194E—197 Ε Er selbst wolle erst das eine, dann das andere tun. Das trifft so genau nicht zu. Denn gleich Phaidros bot dieselbe Gliederung. Aber allerdings war bei ihm vom Wesen des Gottes nur mit Wenigem die Rede, und der Preis der andern hatte sich dann immer mehr seinen nahen und weiten Wirkungen zugewandt. Jetzt also wird der Kurs wieder auf sein Wesen genommen, und da sich nachher Sokrates gerade in der Anordnung ausdrücklich dem Agathon anschließt (201 D), so merkt man deutlich, wie die Bewegung nun dorthin biegt, wo sie gipfeln soll. Das Richtige freilich und eigentlich Neue kann erst dort gesagt werden. Und so wird hier Eros noch ein letztesmal in einem traditionellen Bilde gezeigt, das dem der Phaidros-Rede entgegengestellt ist (195 AB) und sich dabei polar mit jenem ergänzt. Die urweltliche Schöpfermacht dort, der jugendlich-spielerische Liebesgott hier: das sind die beiden überlieferten mythischen Bilder, von denen, zumal von deren letztem, das Neue des Sokrates sich überraschend abheben wird. Agathon rundet zum Kreise, was Phaidros begann. Im Lysis taten sich nacheinander vier Ansichten auf: 1. Neigung besteht zwischen Ungleichen; 2. Neigung besteht zwischen Gleichen; 3. Neigung ist von der Art, daß das weder Gute noch Schlechte, also das Mittlere, zum Vollkommensten emporliebt; 4. Neigung ist ein Begehren des Unvollständigen nach Er-gänzung. Alle vier — so zeigten wir früher — wachsen in das Symposion F r i e d l ä n d e r , Piaton III
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hinein. Die dritte als die tiefste wird im Munde Diotimas mythische Gestalt gewinnen und wird die drei anderen überhöhen, die Piaton in die vor-sokratische Ebene des Symposions münden läßt. Die vierte verkörperte sich in dem aristophanischen Märchen. Aber das „Ergänzende" (οϊκεΐον) — so wird Sokrates nachher (205 E) rügen — ist in sich selbst gleichgültig gegenüber Wert oder Unwert und muß zum „Guten" hinaufgesteigert werden, wenn es das Ziel echter Liebe sein soll. Die These von der Ungleichheit nahm Eryximachos in sein naturwissenschaftliches Weltbild auf. Dort erschöpften sich die Gegensätze im Ausgleich und behielten gleichsam keine Kraft mehr zum Streben nach einem Höheren jenseits von ihnen. Die These von der Gleichheit bleibt dem Agathon vorbehalten, der mit ihrer Hilfe sein Bild des jugendlichen Eros errichtet. Da mangelt die Spannung überhaupt. Kein Wunder, daß das Bild spielerisch bleibt und ohne heroischen Zug. Wenn hier Agathon unausdrücklich gegen Eryximachos streitet — damit über ihrem Gegensatz die neue Erkenntnis Sokrates-Diotimas sich erheben kann —, so streitet er ausdrücklich gegen Phaidros: Nicht unter der Herrschaft des Eros, nur unter der der blinden Notwendigkeit könne jene Urzeit gestanden haben, wenn anders die Geschichten von Götterentstehung und Götterkampf wahr sind (εΐ Ικεϊνοι άληθή ελεγον 195 C) — ein Vorbehalt, der im Sinne der Mythenkritik in Euthyphron und Politeia weitergedacht zu einer Vernichtung oder Umgestaltung der alten Mythologie führen müßte. Ananke aber meint, wenn man an den Timaios vorausdenkt, das völlig Sinn-entleerte und Form-lose. Mit Recht also kämpft Agathon hier gegen die falsche Theologie, — nur daß sein eignes Erosbild nicht ernst genug ist, um sich wirklich an die Stelle des andern setzen zu können, und daß also die beiden polaren Bilder einander eher aufheben als ergänzen. In der Sprache ist Agathons Rede die verführerischste von allen, und so ironisch auch Piaton diesen Gorgiasschüler parodiert, er hat ihn doch mit vollem Genuß und nicht nur zum Spott solch holden Wortzauber verschwenden lassen, von dem die Zuhörer, wahrlich nicht unbedeutende Menschen, entzückt sind 30 ). Und wie in der Sache Agathon am stärksten die Forderung heraustreibt, die Sokrates nachher als richtig anerkennen und, in ganz anderer Weise freilich, aufnehmen wird: daß vom Wesen des
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Gottes die Rede sein müsse, — so fehlen selbst im einzelnen nicht Züge, die auf das Erosbild des Sokrates vorauszuweisen scheinen. Agathon nämlich gliedert den Preis des Gottes derart, daß er ihn „vollkommen" (εύδαιμονέστατου) nennt erstens als den Schönsten, zweitens als den Besten. Als den Schönsten: denn „Eros und die Un-form (σσχημοσύνη) sind stets feindlich gegeneinander", und „bei dem Häßlichen verweilt er nicht" (196 AB). Als den Besten: denn die Tugenden —alle vier! — gehören ihm an (196 Β—D). Ja, alle Götter haben ihr Eigentlichstes von ihm gelernt bis zum Herrscher Zeus hinauf. Und in dem Satz „das Werk der Götter wurde erst recht gefügt, da Liebe unter sie kam, die Liebe zur Schönheit offenbar", klingt für einen Augenblick das an, worauf Liebe bezogen ist. Sokrates wird gleich mit seinen ersten Worten diese Beziehung als unentbehrlich aufweisen in ausdrücklichem Rückgriff auf Agathons Rede (197 B. 201 A). Trotz solcher Andeutungen aber und gerade weil Agathon auf das Wesen des Eros durchzudringen trachtet, wirkt hier am stärksten das Versagen im geistigen Gehalt. Man braucht, um das zu empfinden, nur die Aristophanes-Rede daneben zu halten. Wollte Piaton zeigen, daß auf dieser Ebene nun aber wirklich alle gedankliche Kraft, auch alle mythenbildende Kraft, überhaupt alle Kraft erschöpft sei ? Stellte er darum an den Schluß das spielerischste Bild, in dem der jugendliche Eros unter vielem andern sogar zum Meister der Poeterei erhoben wird (196 E) ? Wird aller Glanz der Worte und Tanz der Rhythmen gerade hier aufgewandt, um zu zeigen: diese Verfeinerung der Mittel, Aufweichung des Ethos, Verflüchtigung des Gehalts ist ein Äußerstes, und eine Wendung muß geschehen ganz heraus aus diesem Kreise ? Und wie wenig Lebenserfahrung hat Agathon, wenn er das jetzige Weltalter — es ist unter anderm die Zeit des Peloponnesischen Krieges! — von Eros beherrscht sein läßt als eine Periode des Friedens und der Freundschaft. Jedenfalls werden Sokrates' nüchterne Fragen den schärfsten Gegensatz zu dieser Agathon-Rede abgeben. Angeordnet aber ist sie so, daß Sokrates ihren Aufbau nachzeichnen kann, wenn er dem konventionellen Erosbild sein erstaunlich neues entgegenstellen wird. Bedenke man doch zum Schluß auch noch einmal, wer der geschichtliche Agathon ist: der Vertreter jenes dolce stil nuovo, in welchem eine eigengesetzlich gewordene Musik und Rhetorik 2*
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alle tragische Strenge vernichtet. War nicht Piaton diesem Stil verfallen, wenn er Tragödiendichter geblieben wäre ? Ist also etwa in seinem Agathon eine eigenste Gefahr gestaltet, die ihm Sokrates bezwingen half, und wird auf dem Weg von der Agathon-Rede zu den Fragen des Sokrates ein Stück der Erziehung sichtbar, die Piaton erfuhr und an andere weitergibt ? 198A—199C Der lärmende Beifall über Agathons Hymnus wird zum Wort im Munde des Sokrates, dessen Entzücken über den „Zauber" fremder Reden man aus Protagoras (328 D), Apologie (17 A), Menexenos (235 A) kennt. Aber nachdem die ironische Zustimmimg aufs höchste gesteigert worden ist, geht der gleiche ironische Bewegungszug in die Kritik über. Sokrates spricht in der Hülle der Ironie das Wort „Wahrheit" aus, zweimal (199 AB); und mit einem Schlage ist alles bisher Gesagte, Flaches und Tiefes, Gehaltvolles und Klangvolles, fürs erste entzaubert. Was davon ernsthaft war und was nicht, wird sich von neuem bewähren müssen vor dem prüfenden, auf das Seiende dringenden Blicke des Sokrates. II. S o k r a t e s . Mit Sokrates dringt die dialogische Kraft durch, 199C — 212C n a c l 1 ( j e m s j e s c hon im vorigen Intermezzo nur mühsam gebändigt werden konnte. Wo Sokrates das Doppelte will, die Fundamentlosigkeit aller früheren Reden zeigen und das Fundament für seine eigene legen, ist ihm das Gespräch der einzig mögliche Ausdruck. Dann wird auch ihn das Gesetz des Symposions zur Rede nötigen, die doch sehr bald wieder sich dialogisch formt. 199C— 201CDreierlei ist es, was Sokrates im Gespräch mit Agathon feststellt. Zuerst: es gibt nicht Liebe schlechthin, sondern nur „Liebe zu jemandem oder zu etwas". Liebe ist „intentional". Diese Erkenntnis — eine echt sokratisch-platonische Einsicht in die Wirklichkeit, ein Stück Phänomenologie, dem anderswo die Einsicht entspricht, es gebe nicht „Rede" schlechthin sondern nur „Rede von etwas" (λύγος τινός, Sophistes 262 Ε 5) — hatte in ähnlicher Form schon der Lysis (218 D) gebracht: Freundschaft sei „um eines Etwas willen" da. Und wie man von dort aus zum „höchst-Befreundeten" (πρώτον φίλον) emporgestiegen war, zu einem ersten Sichtbarwerden des Eidos, so wird im Symposion auf diese nüchterne Feststellung alles Weitere gegründet bis zum Sichtbarwerden des An-sich-Schönen hinauf. Zweitens wird festgestellt, daß Eros Sehnsucht (έτπθυμία) ist nach etwas, was man nicht hat, woran man Mangel hat (oö ενδεής ίσ-τι
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200 Ε). Auch das war im Lysis begegnet in der Form, daß Liebe (φιλία) ein Begehren ist nach etwas, dessen man ermangelt (o0 άν ενδεής ή 221 D). Dort war man bis zu der Ansicht vorgedrungen, daß Liebe auf das „Zugehörige" (οικείου) gehe. Hier wird das Ziel höher gesteckt. Denn nun entnimmt drittens aus der Rede Agathons Sokrates den auch für ihn unumstößlich richtigen Satz: Liebe ist Liebe zur Schönheit. Und dieser Satz verbindet sich mit den beiden vorher gewonnenen Positionen, daß Schönheit eben jenes „Etwas" sei, zu dem Eros in notwendigem Bezüge stehe, und daß Schönheit etwas sei, wonach Eros ewig begehre, was er also selber nicht besitze. „Schön" und „Gut" aber sind ja fast (und oft ganz) nur zwei Namen für dieselbe Sache. Damit sind die wichtigsten Punkte dialektisch festgelegt: hier die Liebe, dort die Schönheit (und das Gute), Liebe ihrem Wesen nach die Schönheit (und das Gute) entbehrend sowohl wie begehrend. Agathon gibt zu, er habe nichts von dem verstanden, was er geredet habe. In der Tat ist mit diesen ersten einfachen Feststellungen alles Frühere in seinen Fundamenten unsicher geworden. Was doch wiederum nicht hindert, daß durch die neue Fixierung manches Frühere erst jetzt seinen echten Sinn bekommt, so gerade Agathons wie zufällige Verknüpfung von Liebe und Schönheit. Nun beginnt Sokrates seine eigentliche Rede, und gleich ist es201D—203A wieder ein Gespräch, das Diotima mit ihm selbst, als er jung war, geführt hat 31 ). Auch was er eben im Vorgespräch mit Agathon aufwies, hatte so Diotima ihm aufgewiesen, woraus man sieht: dies alles gehört in einen einheitlichen Zug der Erörterung, und jene Grundsätze sind nur vorweggenommen in das Vorgespräch hinein. Auf ihnen also baut sich das Folgende auf. Das Gebiet „zwischen" Schön und Häßlich, Gut und Schlecht, Weise und Dumm wird ins Auge gefaßt. Ihm wird Eros zugeordnet, da er ja nicht besitzt sondern strebt. Und nur ein anderer, mythischer Ausdruck dafür ist es, wenn er als „großer Dämon" dem Gott, dem die Vollkommenheit (ευδαιμονία) eignet, gegenübergestellt wird. So wird Eros durch Sokrates erniedrigt, aber doch nur deshalb, damit ein Höheres sichtbar werden kann, auf das er notwendig bezogen ist, und wodurch er unter allem anderen „Mittleren" seine ausgezeichnete Würde empfängt 32 ). Das „Gute" war noch nicht radikal gedacht, solange man Eros schön und gut und einen Gott nannte.
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203 A—204 C Nachdem so das Wesen des Eros erfaßt worden ist, wird es mythisch vergegenwärtigt: jenes In-der-Mitte-stehen wird zur Herkunft von dem gegensätzlichen Elternpaar, Frau Armut und Herrn Wohlstand ; die notwendige Beziehung auf das Schöne wird zur Erzeugung am Feste Aphrodites, der Schönen. An diesem Eros, der ein Liebender des Schönen ist, werden nun immer stärker die Züge, die ihn zugleich zu einem Liebenden der Weisheit, einem Philosophen machen, und davon unabtrennbar empfängt er gleichzeitig Porträtzüge des Sokrates, wie Agathons Eros Agathons Züge getragen hatte 33 ). Diotima sagt selbst, daß sie die Farben für ihr Bild von dem Liebenden, statt wie Agathon von dem Geliebten, genommen habe. Das versteht man erst ganz, wenn man in dem Liebenden den Sokrates selber sieht. Das Männliche, Gespannte, Krieger- und Jägerhafte dieser Liebe steht in ausdrücklichem Widerspruch zu der Weichheit, die in den Worten und Rhythmen Agathons klang. So begreift man von neuem, aus welchem Gegensatz heraus Piaton gerade ihn zum Vorgänger des Sokrates gemacht hat. 204 C—207 Α Nachdem so das Wesen der Liebe und ihres Gegenstandes geklärt ist, wird nach ihrem Wirken für die Menschen gefragt. Liebe will, daß das Schöne-Gute ihr zuteil werde. So zielt ihr Streben letztlich auf „Eudämonie", womit der Schluß der Aristophanes-Rede aufgenommen wird. Liebe ist hier in einem sehr weiten Sinne gefaßt, und was man im genaueren Sinne so nennt, muß innerhalb dieses Umfassenderen abgegrenzt werden. Auch in dem engeren, menschlichen Bereich bleibt jenes allgemeine Gesetz bestehen: Liebe richtet sich nur dann auf „die andere Hälfte", ist nur dann „Streben zum Ganzen", wenn dieses Ganze zugleich ein „Gutes" ist, — womit der Hauptgedanke der Aristophanes-Rede nicht sowohl zerstört als vielmehr erfüllt wird. Liebe geht also auf das Haben des Guten, auf das Immer-haben des Guten, also auf Ewigkeit, zuletzt auf Zeugen im Schönen, welches die dem menschlichen Dasein mögliche Teilhabe an der Ewigkeit oder Un-sterblichkeit bedeutet. Die notwendige Zusammengehörigkeit von Eros, Göttlichkeit, Zeugungswillen mit dem Schönen, ihre Unvereinbarkeit mit dem Häßlichen und Un-gefügen (άνάρμοστον): damit wird aufgenommen, was der Wahrheitsgehalt der Agathon-Rede war, daß immer Krieg sei zwischen Un-gestalt (άσχημοσύνη) und Eros, daß Eros bei dem Häßlichen nicht verweile (196 AB. 197 B).
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Aber dies ruht nun auf jener Erkenntnis, die Sokrates im Vorgespräch mit Agathongesichert hat, undistverbundenmitdemneuauftauchenden Gedanken der Un-sterblichkeit, Todesfremdheit. Was bisher gesagt war, war allgemeine Grundlage. „Dies lehrte sie 207 A—209 Ε mich, so oft die Rede auf Liebesdinge kam" (207 A). Darüber aber erheben sich nun als zweite und dritte Stufe die höhere Erkenntnis und die höchsten Weihen. Auf der zweiten Stufe („einmal fragte sie mich") breitet sich der Blick zunächst auf alles Getier. Es ist jene „natürliche" Auffassung, die in Eryximachos vor allem Wort gewann, und die hier dazu dient, gleichsam die Basis und damit die Standsicherheit zu vergrößern. Immer-sein, Erhaltung, Unsterblichkeit, danach strebt alles, Gattungsleben und Leben des Einzelnen, leibliches und geistiges Leben bis zu den höchsten geistigen Tätigkeiten hinauf 34 ). So gesehen gewinnt auch der Opfertod aus Liebe, gewinnen die mythischen Beispiele dafür, die Phaidros in seiner Rede aufgezählt hatte, einen neuen Sinn. Die Spannung zwischen Liebe und Tod wird von neuem vernehmbar. Aber das heroische Sterben wird hier überhöht durch „das Unsterbliche" : unvergänglich ist das Gedächtnis der Heroen, unvergänglich ihre Arete, auf Unvergängliches ist ihre liebende Sehnsucht gerichtet. So gesehen gewinnt zuhöchst Erziehung den neuen Sinn, daß sie als Zeugung im Geistigen erscheint. Die Rede des Agathon hatte dem Eros spielerisch alle „vier Tugenden" zugeschrieben, ernsthafter hatten schon Phaidros und Pausanias von dem notwendigen Bezug des Eros zur Arete gesprochen und so mit Notwendigkeit auch das staatliche Gebiet berührt. Jetzt wird das neu aufgenommen, aufgenommen von Sokrates-Diotima: Eros ist geistiger Zeugungstrieb, Verewigungstrieb, der auf die Bildung des geliebten Menschen zielt, Bildung für die Gemeinschaft, für den Staat35). „Dasweitaus höchste und schönste Vernunftdenken ist das, welches auf die Ordnung von Staat und Familie zielt. Ihm eignet der Name Maß und Gerechtigkeit" (209 A). Die Dichtungen Homers und Hesiods, die Gesetze Lykurgs und Solons und auch die nichtgriechischer Gesetzgeber: das sind solche Verewigungen. (Und ist es gegen Piatons Willen, wenn wir daran denken, daß er selbst Denker und Dichter ist und Staatsgründer zu sein wenigstens angefangen hat ?) Zuletzt und zuhöchst zeigt Diotima den Aufstieg von der ersten 209E—212C Stufe des Liebens bis empor zum Anblick des An-sich-Schönen.
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III. oiop
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Das ist das vollendete Mysterium, um dessentwillen alles andere da ist (210 A) 36 ). Dies hatte der Rede des Sokrates bisher gefehlt, um wieviel mehr den Reden der anderen. Liest man deren Reden noch einmal unter diesem höchsten Aspekt, so scheidet sich Echt und Unecht, Richtig und Falsch. Und was bleibt, bekommt einen neuen Sinn: die Liebesgemeinschaft, von welcher Phaidros und Pausanias gesprochen haben; der Aufstieg durch alle Reiche bis zur Gottheit empor, wie Eryximachos ihn beschrieb; die „Ganzheit", die im Mythos des Aristophanes am Anfang da war und am Ende wieder erreicht werden wird; die Gemeinschaft von Schönheit und Liebe, wovon Agathon gesungen hatte. So beruht aller Wert der früheren Reden auf ihrer Annäherung an das von Sokrates-Diotima gewiesene Ziel. Nicht daß innerhalb ihrer ein Stufenweg dorthin eingehalten würde. Wohl aber sind sie zusammengesehen eine Stufe hoch über jener gemeinen oder wirren Welt, die als Bezirk des Gelderwerbs in das Vorspiel, als die Verwirrung der Trunkenheit in das eigentliche Fest hineinreicht, aber doch tief unter der Welt des Sokrates und der Diotima und erst von dort aus ihren Wert empfangend. Alkibiades. Wenn Sokrates nach dem „Was ist. . . ?" fragte —
wie in den aporetischen Dialogen — oder wenn er — wie im Gorgias — das Eidos schon in den Blick rückte, so geschah das in einer Einheit des Erziehens oder Kämpfens und der begrifflichen Bewegung. Im Symposion wird ein einziges Mal Sokrates nicht als Erzieher oder Kämpfer gezeigt, sondern er ist fast nur der Mund, durch den ein Höheres seine Weisheit im Seherton verkündigt. So mußte jetzt, nachdem der Weg zum Eidos gewiesen ist, also nach der Klärung im Wort, die menschlich-praktische Bewegung auf das Ziel hin sichtbar werden. Die Verkündigung der Seherin durfte nicht am Ende stehen, sondern ein Schlußteil mußte folgen, der den Aufstieg zu jener Höhe in der Wirklichkeit des gelebten Lebens darstellt. Durch die Alkibiades-Episode empfangt das Symposion seine gipfelhafte Form. Nicht unähnlich wie im Staat — so verschieden sonst alles ist — steht auch im Symposion das Eidos „in der Mitte". 212 C - 215 Α Die Flötentöne, die das Haus durchklangen, waren verstummt, als die Gespräche begannen (176 E). Jetzt wird Flötenspiel von draußen wieder vernehmbar. Mit dem trunkenen Alkibiades bricht das wilde Leben in die geordnete Gesellschaft. Trunkenheit ist
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einerseits dem Chaos zugehörig — durch das chaotische Wesen der später eindringenden Komasten wird ja alles geregelte Gespräch zerstört (223 B) —, und jeder empfindet bei dem Auftreten, ja schon bei dem Namen, des Alkibiades die gegensätzliche Spannung, wie hier eben der Mann den Sokrates zu feiern kommt, der sich aller sokratischen Bindung entziehen und zum Zerstörer Athens werden wird37). Andererseits aber löst Trunkenheit alle gesellschaftlichen Schranken: im Wein ist Wahrheit (214 E). Nur der Wahnsinn der Trunkenheit, in etwas der Mania des Liebenden, des Dichters, des Philosophen verwandt, konnte so ohne Fessel und Scham reden, wie Alkibiades reden wird. Piaton läßt ihn erst sich setzen, dann sich niederlegen. Und zwischen diesen Momenten vollzieht sich, nicht unähnlich wie am Anfang beim Eintreten des Sokrates, eine entscheidende Wendung: von Agathon, dem als „dem Schönsten und Geistesstärksten" zuerst Alkibiades' gesellschaftliche Huldigung galt, zu Sokrates, der in ganz anderem Sinne diese Lobsprüche verdient. In dem neckenden Spiel verbirgt sich vieles. Alkibiades' Vorwurf, Sokrates habe es listig erreicht, neben dem Schönsten zu Tisch zu liegen, paßt nicht nur, wie er gemeint war, auf Agathon, sondern auch auf Alkibiades selber. Denn auch ihn hat ja Sokrates dadurch, daß er rechtzeitig Platz machte (213 AB), als seinen Tischnachbarn gewonnen. Und hinter der Nachstellung, die Alkibiades ihm vorwirft — daß er plötzlich erscheine, wo man es am wenigsten erwarte —, hinter diesem Scherz spürt man den Ernst, wie die Jünglinge das prüfende Auge des Sokrates unerwartet auf sich gerichtet sehen: der Anfang des Alkibiades-Dialoges gibt in Piatons Werk das ergreifendste Beispiel. Der erste Satz, mit dem sich Alkibiades jetzt an Sokrates wendet (213 C), erinnert bis in den Wortlaut an die leidenschaftliche Anrede, mit der er dort (104 D) das lange Schweigen bricht. Man soll sich erinnern und soll den Abstand ermessen zwischen der jetzigen Begegnung und jener ersten, die ein halbes Menschenalter zurückliegt. Sokrates' scherzender Vorwurf (213 D), daß Alkibiades ihn mit seiner Eifersucht plage, daß sein Wahnsinn und seine Liebe (φιλΕρασ-τΙα) nicht mehr zu ertragen seien, zeigt die Gegenliebe, die Sokrates — wenngleich in einer ich-süchtigen Seele — erweckt. Alkibiades selbst spricht das zum Schluß als eine allgemeine Erfahrung aus: Sokrates täuscht die Jünglinge, als wäre er der Liebende und sie die Ge-
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liebten, und ist doch, selbst mehr der Geliebte als der Liebende (222 B). Die Bewegung des Alkibiades-Oialoges vom Anfang bis zum Schluß formt diese Erfahrung zum Drama. Hinter dem gewaltsamen Scherz des Alkibiades, in Sokrates' Gegenwart dürfe er keinen andern lieben als eben den Sokrates, wenn dieser nicht handgreiflich werden solle, zeigt sich die tiefere Unmöglichkeit: Sokrates ist in der Tat der einzig Preisenswerte. Und wie schon der Eros in der Diotima-Verkündigung die Züge des Meisters selber zu tragen begann, so wird nun Sokrates an Stelle des Eros Gegenstand der letzten Huldigung. 215 A—222 Β Im Zentrum der Alkibiades-Rede steht die Eröffnung dieser seltsamen Silenenhülle, die in ihrem Innern köstlich edle Götterbilder enthält. Hier ist die Grundhaltung bei dem Jüngeren völlige Hingabe, bei dem Meister klarstes Wissen und vollkommene Herrschaft über alle Anfechtungen und Triebe, gesunder Sinn (σωφροσύνη), Mannheit (ανδρεία, καρτερία) und Klugheit (φρόνηση) in der nächtlichen Gemeinschaft mit dem Jungen-Schönen wie in den Gefahren der Schlacht. Aber diese Mitte ist umgeben durch jene Hülle von „Seltsamkeit" (άτοιτία) und „Ironie", jene Schicht, durch die man hindurchdringen muß und doch nur für Augenblicke hindurchdringt, jene Region, in der die rätselhafte Anziehung und die schmerzhafte Abstoßung sich erschütternd durchqueren, jenen Bereich, der im Bilde repräsentiert wird durch den Vergleich mit Marsyas und eben auch mit der Silenenhülle, der am Anfang in der Alkibiades-Rede sich, groß hinbreitet und (gleichsam um das Ringsherum anschaulich zu machen) am Schluß noch einmal da ist in der „Täuschung", mit der Sokrates die Jünglinge verwirrt (222 AB). Aber dieses alles sollte man nur aus Piatons Munde hören, da man es durch eigene Worte notwendig schwächt. Und aufzuweisen ist nur noch die Beziehung von Diotimas Verkündigung zu der Preisrede des Alkibiades 38 ). Man versteht nämlich das, was der Meister an ihm gewirkt hat, erst dann, wenn man sich besinnt, daß Sokrates den Stufenweg zum Anblick des Eidos emporgestiegen ist, daß er in seiner Existenz diesen Aufstieg verkörpert. Alkibiades mag staunen, daß Sokrates seine Schönheit verachte. Wir aber wissen, daß Sokrates längst hinausgeschritten ist über jene unterste Stufe, auf der man „den einen schönen Leib" liebt. Er hat nicht nur die dritte Stufe betreten, auf der man „solche Reden erzeugt, die den jungen Menschen besser machen"
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(210 C). Er hat die höchste Stufe erreicht, auf der man das Ewigseiend-Schöne und die Urbilder der „Tugenden" erblickt. Denn nur dort ist es ja gegeben „nicht Abbilder der Arete zu zeugen, sondern die echte Arete selber" (212 A). Die Offenbarung Diotimas muß man einströmen lassen in die Erlebnisse des Alkibiades, damit diesen ihre volle Deutung werde. Und man muß den menschlichen Sokrates, wie er mit Menschen umgeht, zugleich sehen als jenen zum Eidos aufsteigenden Philosophen, um der ganzen Fülle versichert zu sein. Noch eins soll man nicht überhören: daß Piaton hier durch den Mund des Alkibiades von sich selber spricht (215 CD). Marsyas, der häßliche Satyr, gibt seine göttlich ergreifende Musik an den schönen Olympos weiter, und alle spätere Flötenmusik, gute und schlechte, geht auf diese Lehre zurück. Eben solche ergreifende Kraft habe die schlichte Rede des neuen Marsyas, Sokrates: „Wenn man dich hört oder deine Worte sogar aus eines andern Munde, sind wir erschüttert und im Bann." So weist Piaton sich selber seinen Platz und seine Aufgabe in der Nachfolge des Meisters an, und man erwäge von hier aus — unter anderem —·, ob es wirklich sinnvoll ist zu glauben, Piaton hätte in seinem Spätwerk die Person des Sokrates nur aus Gewohnheit beibehalten, oder ob nicht die Musik des neuen Marsyas auch im Alter noch in ihm klang! Was die Alkibiades-Rede in jener tiefen Durchdringung von Ernst 2.22 C—223D und Scherz aufgerufen hatte, klingt nach als gesellschaftliches Spiel zwischen Sokrates, Agathon, Alkibiades. Es gipfelt darin, daß Agathon seinen Platz wechselt und sich zur Rechten des Sokrates niederlegt. Hatte nämlich zuerst Sokrates seinen Platz neben Agathon gehabt, dann durch eine kleine Kriegslist erreicht, daß Alkibiades zwischen ihm und Agathon zu liegen kam, so hat er am Schluß den Platz zwischen den beiden „Schönen", und so die Schönheit an sich ziehend sehen wir ihn, bevor in der Person trunken lärmender Zecher die Verwirrung hereinbricht. In diese Wirrnis der Trunkenheit und des Schlafes wird auch der Erzähler gezogen. Aber Sokrates bleibt darüber, erst noch gemeinsam mit den beiden Dichtern, mit denen er „aus einer großen Schale rechtsherum trinkt" — so auch äußerlich den Sieg der Ordnung über das Ungeordnete bezeugend—, mit denen er „sich unterredet", und die er — bis zuletzt sieghaft — „einzugestehen zwingt", daß der
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wahre, mit voller Kunst (τέχνη) schaffende Tragödiendichter zugleich Komödiendichter sein müsse. Das ist gegen die feste griechische Tradition, der Piaton selber im Staat (395 A) das Wort redet oder zu reden scheint. So wichtig ist ihm diese Frage, daß er sie über Jahrzehnte im Blick behält vom Ion (534 C) bis in die Gesetze (VII 816 DE) 39 ). Im Ion hieß es: die Trennung tragischer und komischer Dichtung beruhe darauf, daß jeder Dichter durch göttliche Gabe (θεία μοίρα) schaffe; wer aber mit Kunst und Wissen (τέχνη καΐ έτπστήμη) zu dichten vermöchte, der müßte beides in sich vereinen 40 ). Aristophanes und Agathon also, so sollen wir den Sokrates verstehen, schaffen nicht als Wissende. Sokrates hingegen vereint beides — wie das ? In seiner Existenz. Er ist der Spötter, der Ironiker, der Erkennende, der Kämpfende, der Sterbende. Und hebt nicht das platonische Werk, in dessen Mitte Sokrates steht, wie es den Anspruch macht an Stelle aller früheren Dichtung zu treten, auch Tragödie und Komödie in sich auf ? Nicht eigentlich so, wie man es manchmal wendet, daß das Symposion als Komödie — oder gar als Satyrspiel — der Tragödie des Phaidon gegenüberstünde. Im Phaidon herrscht, so hören wir gleich zu Anfang, „eine ungewohnte Mischung von Lust und Schmerz", die Anwesenden lachen und weinen, über das Sterben siegt das Un-sterbliche. Im Symposion spürt man durch den Glanz der Feier das Leid. Der Dichter hört am Ende des Festes „des Todes Schlummerflöten klingen" (Conrad Ferdinand Meyer). Wir sahen den Tod von Anfang an gegenwärtig. So sehr sich Symposion und Phaidon ergänzen, in jedem der beiden Werke ist doch „des Lebens gesamte Tragödie und Komödie" beschlossen, von der Sokrates im Philebos spricht (50 B). Zuletzt ist Sokrates allein übrig, als einziger über Trunkenheit und Schlaf siegend, so wie er im Phaidon als einziger durch den Jammer der Frauen und der Freunde unerschüttert der Weise bleibt. Dann geht er in das Lykeion, d. h. an sein Tagewerk, demgegenüber diese Nacht eine wundervolle Ausnahme ist, an die Bewährung der Liebe nach dem Reden über die Liebe.
21. Ρ HAIDON Moses Mendelssohns Phädon (1764) und Lamartines La Μort de Socrate (1823) sind Nachbildungen, Umbildungen des platonischen Phaidon. Aus ihm übernehmen jene beiden Werke die Vorgänge und wenigstens einen Teil des philosophischen Gesprächs. Mendelssohn beginnt und schließt seinen Phädon sogar als genaue Übersetzung und entfernt sich erst dort von dem Original, wo er es für nötig hält, „die metaphysischen Beweistümer nach dem Geschmack unserer Zeiten einzurichten". In Lamartines Gedicht, in dem „Metaphysik und Poesie Schwestern oder vielmehr Eines sind", ist das griechische Vorbild — Geschehen, Gespräch und Gestalt — christianisiert, was bei keinem anderen Werke Piatons so sehr gelingen konnte wie bei diesem. Die Apologie hüllt in eine Gerichtsrede ein, was Piaton sichtbar machen will: die Existenz des Philosophen im Angesicht der letzten Entscheidung. Der Gorgias stellt dem Gericht Athens das Gericht des Jenseits entgegen und erhebt so die wahre Gerechtigkeit über alles nur Irdisch-Zeitliche. Der Menon bezieht die Erkenntnis auf das ewige Sein und erweist — unter dem Bilde „orphischer" Metempsychosenlehre — die Unvergänglichkeit der Seele daraus, daß die Wahrheit des Seienden in ihr ist. Alle diese Sichten wachsen auf der Höhe des Platonischen Werkes im Phaidon zusammen1). Noch weniger als sonst also kann man in diesem Dialog „das Geschehen und die Gespräche" (58 C 7) oder Ereignis und Philosophem als Rahmen und Bild trennen2). Seinswahrheit und Lebenswirklichkeit, Idee und Existenz, fordern einander gegenseitig. Gesetzt, Sokrates hätte der Verordnung des Beamten, der das Gift verwaltet, sich gefügt und an seinem letzten Tage geschwiegen,
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so hätte er der Nachwelt wenig zu sagen. Kein Schüler hätte seine Lehren ins Weite getragen, wie Phaidon es hier tut, und Piaton hätte nicht durch ein halbes Jahrhundert das Wichtigste, was er mitzuteilen oder zu bekämpfen hat, von Sokrates oder in Sokrates' Gegenwart erörtern lassen. Wovon aber kann der Philosoph, der, ganz auf die Sache gerichtet, doch immer zugleich sich selbst aussagt, vor seinem Tode sprechen als von der Philosophie, dem Sterben und der Unsterblichkeit ? Die Logoi wiederum erreichen bei der Größe der Aufgabe und beider menschlichen Schwachheit ihr Zielnichtvöllig(107AB).Dasgilt schon, wo es sich um die Tapferkeit oder umdieSophrosyne handelt. Kein Gespräch also bedarf mehr als das von Tod und Unvergänglichkeit der Gegenwart dessen, der es mannhaft führt, und den wir furchtlos und adlig enden sehen. Rahmen- Das erste Wort prägt es uns ein, daß Phaidon „selbst" zugegen _gespräch^ w a i ) a l s o a l s Augenzeuge berichtet, und eine fühlbare Spannung geht von dieser Bezeugung hinüber zu der kurzen, scheinbar so sachlichen Angabe: „Piaton aber, glaube ich, war krank" (59 B). Nach Phaidon, dem schönen, jungen, heißt nicht umsonst der Dialog vom Tode. Liebe und Tod verknüpft heraklitische Spannung. Man denke an jenen kritischen Punkt des Gesprächs, wo wir nicht wissen, ob es leben oder sterben, d. h. ob es den Sinn des Lebens und des Todes finden oder verfehlen wird. Da greift Sokrates dem ihm zu Füßen Sitzenden in das schöne Haar, und die Berührung des Allernächsten — „dein Erdenleib, dies enge Heiligtum" — scheint den gefährdeten Logos neu zu beleben. Dann trägt dieselbe Liebe, die dem Sterbenden nahe war, die Botschaft des Todes an das Leben in die Weite: in Phleius erzählt Phaidon von Sokrates' letzten Stunden. Indem Piaton so das Rahmengespräch aus Athen hinausverlegt, schafft er sich die Möglichkeit Dinge festzuhalten, die unter Athenern, als allgemein bekannt, kaum gesagt werden konnten. Gleichzeitig aber zeigt sich die Wirkung des großen Geschehnisses, wie sie über Athen hinausdringt in wachsenden Kreisen. Phleius ist Etappe auf dem Wege zwischen Athen und der weiten Welt, zunächst zwischen Athen und Elis, Phaidons Heimat, wo er in seiner Elischen Schule die sokratische Tradition weitergeben wird. Kein Zufall auch, daß Echekrates, der die Kunde zunächst empfängt, Pythagoreer ist, und daß Phleius als Sitz einer Pythagoreischen Gemeinde bekannt war3). Als diese wird ein zeitgenössischer Leser sich den
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Kreis um Echekrates vorgestellt haben, wenn auch, bemerkenswert ist, wie wenig oder gar nicht Piaton diese Menschengruppe charakterisiert. Echekrates aber stellt eine Stufe zwischen dem gewöhnlichen Verstände und Sokrates-Platon dar, dieselbe Stufe, die in dem eigentlichen Dialoge durch das Paar Simmias und Kebes repräsentiert wird: pythagoreische Seelenlehre und Mathematik als Propädeutik zur platonischen Erkenntnis. Es ist nur in der Ordnung, daß die philosophisch Vorbereiteten im Gespräch schärferen Widerstand leisten. Denn auch damit helfen sie dem Sokrates zur Erfüllung seiner philosophischen Aufgabe. Der Prozeß, von dem man in Phleius schon gehört hat (58 A), läßt an die Apologie zurückdenken, in welcher Piaton auf einer früheren Stufe seines Werkes schon einmal dieses gab: den Philosophen und seine Existenz im Angesicht der letzten Entscheidung. Die Apologie hatte in der Überzeugung gegipfelt: der Tod ist „gut", wenn man selbst „gut" ist, und hatte dies, gleichsam hingleitend über den Ernst der Frage, so begründet: nach dem Tode erwarte uns entweder ein traumloser Schlaf oder die Fortsetzung des philosophierenden, also einzig lebenswerten Lebens, das somit der Tod nicht ende, vielleicht sogar bessere. Das war für die Öffentlichkeit, für die große Hörerschaft des Gerichtshofes gesagt. Der Phaidon gestaltet diese Sicht in ein neues Medium hinein. Was sich hinter dem schlichten Worte „gut" in der Apologie noch verbarg, wird hier als das Ideenreich ausdrücklich. Die Aussicht, das Leben des Philosophen, also die Suche nach dem Guten, im Hades fortzusetzen, die Einsicht, daß der Gute keinen Schaden von außen erleiden könne, festigt sich zu der Erkenntnis, daß die Seele ihrem •Wesen nach jener Welt der ewigen Formen, des wahren Seins, des Agathon, der Transzendenz zugehört. Wer in den „Unsterblichkeitsbeweisen" des Phaidon dogmatische Demonstrationen sieht zur Stütze kindlicher Hoffnung, muß in der Apologie einen anderen Sokrates, den „historischen", sprechen hören im Gegensatz zu dem „platonischen" des Phaidon. Demgegenüber wird hier dies eine wenigstens gezeigt werden, wie wenig jene dogmensuchenden Leser den Fingerzeigen Piatons folgen, so daß wir aus dem späteren Dialog nichts herauslesen dürfen, was zugleich eine Erstarrung und eine Verflachung wäre. Der Gedanke an das Gericht hält also den Phaidon verbunden mit dem Werk, das ihm auf der früheren platonischen Stufe entspricht.
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Zugleich aber wird damit innerhalb des Dialoges ein Klang angeschlagen, der sich ganz durch ihn hindurchzieht. Die Freunde versammeln sich im Raum des Gerichtshofes, der neben dem Gefängnis lag (59 D). Gewiß ist das ein Stück geschichtlichen Berichtes. Aber war es der Erwähnung wert, wenn nicht gleichzeitig eben der Gedanke an das Gericht hätte heraufgerufen werden sollen, wie er denn ausdrücklich heraufgerufen wird: „. . . dort wo ja auch die Gerichtsverhandlung stattfand" ? Als dann Sokrates zu sprechen beginnt, sieht er mit bedeutsam ernstem Scherz in seinen Zuhörern seine Richter, vor denen er eine Verteidigungsrede hält mit besserem Erfolge, wie er hofft, als vor den andern (63 BE. 69 DE). Bis zuletzt wird dieser Kontrast durchgehalten. Denn wenn am Schlüsse des Jenseitsmythos die Totenrichter über ungerechten Totschlag und wieder über den, der sich „durch wahre Philosophie hinreichend gereinigt hat", das Urteil sprechen (113 Ε—114 C), so braucht man kaum an die Apologie zu denken, die von den vorgeblichen Richtern an die echten im Hades appelliert (41 A), um zu erkennen, welcher Gegensatz in Piatons Geist dauernd gegenwärtig ist. Nur außerhalb Athens konnte man von den Umständen so ausführlich sprechen, die Sokrates' Hinrichtung aufschoben. Wollte Piaton bloß das wirkliche Geschehen als Historiker festhalten ? Aber warum ging er auf die Vorgeschichte des Brauches zurück ? Darauf, daß Theseus „rettete" und „gerettet wurde", und daß Apollon der „Retter" war ? Als wir dann ins Gefängnis eingetreten sind, erfahren wir von dem Hymnus, den Sokrates auf Apollon gedichtet hat. Das Lied an den Gott und das philosophische Leben stehen in wechselseitiger ironischer Spiegelung da als der zwiefache Gehorsam, mit dem Sokrates auf den Traumruf „Übe Musenkunst!" antwortet. Soll nicht das philosophische Leben erscheinen als der große Hymnus an Apollon, in dessen Dienst der Sokrates der Apologie sein menschenbildendes Wirken sah 4 ) ? Und wollte man auch hier in der Geschichte von Traum und Hymnus nur die berichtende Bewahrung von etwas wirklich Geschehenem sehen, so versagt solche Erklärung vor der ganz von apollinischem Hauch erfüllten Episode zwischen der zweiten und der dritten Ebene des Dialoges (84 Ε ff.). Apollon ist es dort, dem Sokrates dient als Mitknecht der Singschwäne. Wie diese vor ihrem Tode darum am meisten und schönsten singen, weil sie zu dem Gott eingehen
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werden, dessen Diener sie sind, so glaubt Sokrates von demselben Herrn, dem er sich geweiht fühlt (Ιερός τοϋ αύτοΟ θεοί)), keine mindere Zukunftskunde zu haben. So wird gleich am Anfang Apollon als rettender, weissagender und musischer Gott, d. h. als Bürge erhabenster Ordnung und Gesetzmäßigkeit aufgerufen, damit wir ihn bis zum Schluß gegenwärtig wissen. Von der Musik als Gleichnis menschlich - staatlicher Ordnung, von Apollon als Schutzgott beider Bereiche hatte schon Pindar Unvergeßliches gesagt 6 ). Man erinnert sich auch, wie oft von Apollon und den singenden Schwänen in Piatons Mythobiographie erzählt wird®). Dort ist Apollon selber Piatons Erzeuger; Piatons Eltern opfern auf dem Hymettos dem Pan, den Nymphen und dem Apollon, und unterdessen füllen Bienen den Mund des Kindes mit Honig. Sokrates träumt in der Nacht, bevor Piaton sein Schüler wird, wie ein federloser Jungschwan sich auf seine Kniee flüchtet und dann gefiedert und singend davonfliegt. Piaton träumt sterbend von sich als dem von Baum zu Baum fliegenden Singschwan, den kein Jäger erlegen kann, und der Pythagoreer Simmias deutet diesen Traum so: alle Menschen würden sich bemühen Piatons Gedanken zu begreifen, aber jeder werde die Deutung seinem eigenen Denken anpassen. (Das gilt noch heute.) — Wir betreten den Kerker und fixieren den Moment, wo Sokrates, Vorgespräch KQp
nachdem er die Nachricht dessen was bevorsteht empfangen hat, und nachdem er die laut klagende Xanthippe hat entfernen lassen, sich auf das Lager setzt (60 Β 1). Nach einer Weile stellt er die Beine auf die Erde (61 C 10). Da beginnt das philosophische Gespräch. Zwischen beiden Bewegungen aber wird Vorbereitendes gesprochen, nicht unähnlich wie im Symposion zwischen dem Hinsetzen und dem Niederlegen des Sokrates Vorläufiges verhandelt wird. Hier im Phaidon sehen wir, wie Sokrates seinen Schenkel reibt, und hören mit an, wie er über das Untrennbare von Lust und Schmerz ruhig wie aus der Ferne zu sprechen beginnt. Da ist der Gegensatz gegen das was vorherging, zumal gegen die Szene lärmender Trauer, eindringlich. Aber es ist doch kein Zufall, daß Phaidon im Rahmengespräch „die Mischung von Lust und Schmerz" beschrieben hatte, in der er und die andern alle sich befanden an jenem Tage (59 A). Beidemal heißt die Mischung „seltsam" (άτοπον 59 A 5. 60 Β 4). Man merkt die Übereinstimmung, aber auch den Unterschied. Sokrates spricht betrachtend F r i e d l ä n d e r , Piaton III
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von dem, „was die Menschen lustvoll nennen", als ob es ihn nichts anginge, während die andern ganz versunken sind in ihren leidenschaftlichen Zustand. Noch weniger ist es ein Zufall, daß diese Affekte später in den Gesprächen wichtig werden als das, was der Philosoph vermeidet (64 D), als das, was dem Menschen die Seele an den Körper nagelt (83 D). Sokrates ist kein Stoiker; aber wir erfahren gleich hier, wie ihn dies nur von fern anrührt. Ähnlich peripherisch ist für ihn die Dichtung, auf die das Gespräch am Leitfaden der aesopischen Fabel nun hinübergleitet, aber doch zugleich von eigentümlich ironischer Bedeutung. Er erzählt von j enem Traumbild, das ihm zugerufen habe:, ,Übe musische Kunst!'' Und nun geht eine ironische Spannung von seinem Urteil über sich selbst, daß er kein Geschichtenerzähler, Mythenerfinder (μυθολογικός) sei — er, der doch eben eine Fabel skizziert hat, wie Aesop sie hätte erfinden können —, einerseits zu dem Mythischen dieses Dialoges, das sich alsbald anmeldet (61 Ε 2) und dann immer stärker wird bis zu dem großen Mythos, mit dem eben dieser mythenfremde Sokrates sein Letztes verhüllt. Andererseits spielt die Ironie des sokratischen Daseins zwischen jener gewöhnlichen Poeterei (τήν δημώδη μουσική ν), die er im Gefängnis übt, und dem musischen Werk seines Lebens (61 A). Die Ebene, auf die Sokrates scheinbar hinabgestiegen ist mit seinem Versemachen, wird repräsentiert durch den Literaten Euenos, der von allem etwas kann, wie er auch in der Apologie (20 B) als geldverdienender Sophist, im Phaidros (267 A) als Techniker der Rhetorik mit deutlichem Spott behandelt wird. Mit dessen Poeterei will Sokrates nicht in Wettbewerb treten (60 D); aber als „Philosophen" fordert er ihn auf — vergeblich, wie Simmias bemerkt — ihm möglichst rasch zu folgen. Freilich dürfe er nicht mit Gewalt in jenes andere Leben hinübergehen; denn das sei nicht recht (ού Θέμιτον). Damit setzt Sokrates die Beine von dem Lager auf die Erde, und diese neue Haltung markiert den Anfang des eigentlichen Gespräches, in dem es gilt, „über die Reise ins Ferne mit durchdringendem Blick zu forschen sowohl wie Mythen zu erzählen" (διασκοπεϊν τε καΐ μυθολογεϊυ). Ein Weg allein genügt hier also nicht. Warum nicht, soll der Leser fragen und soll in dem, was folgt, zwischen den beiden Wegen zu scheiden lernen. Wie tiefsinnig aber schon die Mahnung an Euenos! Der Tod ein Gut, das ist paradox; ein Gut, das man sich nicht verschaffen darf, das scheint noch para-
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doxer. Nur vorläufig sind die Begründungen: die der ersten Paradoxie auf die Hoffnung, daß wir auch dort zu guten Menschen, und auf die Überzeugung, daß wir zu guten Göttern kommen werden; die der zweiten Paradoxie auf die orphische Lehre, „daß wir Menschen hier in einer Wacht (oder: auf einer Warte) sind und nicht davonlaufen dürfen"7). Mit der zweiten Paradoxie wird (unter anderm) das Grundproblem des Kriton in den Symbolismus des Phaidon einbezogen. Mit der ersten wird (unter anderm) an den Schluß der Apologie (40 C ff.) erinnert, und die dort ausgesprochene Hoffnung wird jetzt überhöht in die Transzendenz, da der feindliche Gegensatz, wie die gewöhnliche Meinung ihn setzt, aufgehoben wird in der Herrschaft der „guten Götter" über beide Bereiche. Damit ist weiter gesagt: Menschliches Dasein findet seine so unausweichliche wie rätselhafte „Voll-endung" im Tode. Aber gerade deshalb verfehlt es diese Vollendung, wenn es das Ende willkürlich sucht8). Also vom Tode werden wir an das Leben gewiesen, das diesem Tode ins Gesicht sieht. Und eine andere Forderung an die Lebenden spricht Sokrates aus, indem er sich dafür auf die alten Jenseitsmythen beruft: viel besser ergehe es dort drüben den Guten als den Schlechten. Das Mythologem trägt in sich den ethischen Imperativ, und dieser zieht sich, wiederholt auftauchend und im Grunde immer gegenwärtig, durch den ganzen Dialog. Es ist alles andre als ein Zufall, daß an dieser Stelle durch den treuen Kriton die Meinung des Beamten, der das Gift verwaltet, zu Sokrates durchdringt: er solle sich nach Möglichkeit des Gesprächs enthalten. Dieses eine Mal gehorcht Sokrates nicht. Vielmehr setzt eben jetzt die dialektische Erörterung ein, die dem vorläufig Angedeuteten überzeugende Kraft geben wird. Gegenstand dieser ersten Erörterung ist nicht allgemein ein „Beweis für die Unsterblichkeit". Sie geht vielmehr aus von der befremdenden Todesbereitschaft des Sokrates, die den Freunden keinen Sinn zu haben scheint und die Götter, die guten Herrscher, beleidigen muß. Dieser heftige Einwand der pythagoreischen Gefährten ist dazu da, damit Sokrates ihm begegnend zeigt: Todesbereitschaft ist die natürliche Haltung des philosophischen Daseins. Denn echtes Philosophieren heißt Sterben-lernen: das ist der Imperativ, der weit in die Zeiten gewirkt hat 88 ). Freilich wird dieses Auf-den-Tod-gerichtet-sein, Des-Todeswürdig-sein, von der Menge mißverstanden und, wie gerade 3*
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Sokrates' Schicksal zeigt, ins Widersinnige verkehrt. Was ist der Tod nach allgemeiner Ansicht ? Trennung der Seele vom Leibe. Was ist das philosophische Leben ? Gegenüber den leiblichen Freuden und überhaupt den Ansprüchen des Leibes ist der Philosoph gleichgültig und „wendet sich der Seele zu" (64 D—65 A). Für seine besondere Aufgabe, den Erwerb der Vernunft, erweisen sich die körperlichen Sinne als hinderlich. Selbst die schärfsten Sinne, Gesicht und Gehör, geben nicht die Wahrheit-Wirklichkeit. Zumal wenn er vor der höchsten philosophischen Aufgabe steht, der Erkenntnis des Gerechten-, Schönen-, Guten-an-sich, mit einem Wort: der Seinserkenntnis, wendet er sich mit dem reinen Denken-an-sich zu dem reinen An-sich-Seienden. Da weist schon die sprachliche Entsprechung auf die Verwandtschaft der Erkenntnis und ihres Gegenstandes: auf das Eidoshafte der Seele und vielleicht auf das Seelenhafte des Eidos (65 C. 66 A. 66 E.) Der Leib und seine Begierden sind schuld an Krieg und Bürgerkrieg — das politische Moment klingt herein —·, sie lassen uns nicht zum Philosophieren kommen und stören unser Denken, selbst wenn wir dorthin vordringen. Das Leben, das heißt die Verbindung von Leib und Seele, ist dieser philosophischen Aufgabe feindlich. Im Tod allein können wir, „wenn überhaupt", das Wissen erlangen. So erweist sich der Tod, das heißt die Befreiung der Seele vom Leib, als die Erfüllung des philosophischen Lebens, mithin Todesfurcht innerhalb solchen Lebenszusammenhanges als „große Unvernunft". Dieser Nachweis einheitlich vernunftvoller Haltung des philosophischen Lebens wird noch dadurch ergänzt, daß sich zeigt: In jedem andern Leben sind die Mutigen „aus Furcht mutig" und die Züchtigen „aus Zuchtlosigkeit züchtig". Mithin werden so allgemein anerkannte Tatsachen wie Tapferkeit und Sophrosyne nur in dem Zusammenhang des philosophischen, auf den Tod gerichteten Lebens sinnvoll, weil nur in ihm das Erkennen (φρόνηση) die „richtige Münze" ist, während die andern, wie schon im Protagoras gespottet worden war, ohne solchen festen Wertmesser größere gegen kleinere Lust- und Unlustmengen jeweils abrechnen. Die Erörterung hatte zu Anfang die „Geheimlehre" berührt, „daß wir hier im Leben wie in einem Wartturm sind" (62 B); später waren für die Trennung der Seele vom Leib die orphischen Bilder der „Reinigung", der „Lösung aus den Fesseln des Leibes" aufgetaucht (67 CD), und diese Mysterienklänge steigern sich am Schluß
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(69 C). I n den Geheimlehren findet Sokrates „rätselnde Hinweise" (αΐυίττεσθοα) auf die Wirklichkeit, auf die er zielt: Reinigungsweihe (καθαρμός) — das ist Sophrosyne, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Vernunft; die Ungeweihten, die im Hades „im Schlamme liegen", die Geweihten und Gereinigten, die „dort mit den Göttern wohnen" — das sind die unphilosophischen und die philosophischen Menschen in der Rätselsprache jener Mystik, die zuletzt wie am Anfang und in der Mitte erklingt, als wollte Piaton eben hier, wo er der Phronesis in Leben und Tod die Herrschaft sichert, doch zugleich dem „änigmatischen Charakter des Daseins" das Recht nicht verkümmern. Die „Verteidigungsrede" ist beendet (69 E). Was ist ihr Wesentliches ? Nicht die „Unsterblichkeit der Seele" ist in ihr das thema probandum, wie — wirklich oder scheinbar — in den später folgenden Gesprächen. Sie deutet das philosophische Leben und Sterben als einheitlich sinnvolles Sein, als „das Verlangen, reiner Geist zu werden" (Schleiermacher). Aber die Elemente sind vorhanden, die später in den „Unsterblichkeitsbeweisen" wiederkehren: die Herrschaft der Phronesis, die Richtung a u f d a s E i d o s , die Erfüllung des philosophischen Lebens im Tode, die Mysteriensymbole als hineinweisend in diese philosophische Existenz. Zum resten Male also ist hier der Kreis gezogen, der später mit größeren Radien, doch konzentrisch, immer wieder gezogen werden wird β). Ii. Zum zweiten Kreise f ü h r t ein Einwand des Kebes hinüber — und 6 9 E 8 4 ® m a n übersehe nicht, wieviel Kebes in jedem von uns ist! E r versichert wohl sein Einverständnis mit dem bisher Gesagten, bezeichnet aber zugleich den im Sinne der Durchschnittsmenschen zweifelhaften P u n k t : wie, wenn die Seele nach der Trennung vom Leibe nirgends mehr wäre, sondern sich auflöste wie Hauch oder Rauch ? Hatte also im ersten Gespräch das Leben des Philosophen knapp und rein sich selbst gedeutet, so t r i t t jetzt ein populärer und materieller Seelenbegriff heran, mit dem die Auseinandersetzung unvermeidlich ist. Aber die Worte „Mythenrede" (διαμυθολογώμεν), „wahrscheinlich" (εΙκός), „Meinung" (δόξα) weisen sogleich darauf hin, in welche Sphäre der Erörterung sich Sokrates hineingezogen sieht. II 1. Wie auf der ersten Ebene so setzt auch hier Sokrates bei den 69 E—72 Ε tiefsinnigen Ahnungen der Mysterien an, diesmal bei ihrer Lehre von der Palingenesie, die, wenn sie zur Evidenz erhoben werden
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könnte, dem hier Geforderten Genüge täte. Aber gleich erweitert sich das Bild über das Menschenschicksal hinaus. Man blickt in das große Weltwesen hinein, das sich als immerwährende Bewegung zwischen polaren Gegensätzen darstellt. Bei Heraklit und Empedokles herrschte solcher Aspekt der Physis. Später tritt er uns bei Melissos besonders nahe verwandt entgegen bis in die Formulierung hinein, daß „das Lebende sterbe und aus Nichtlebendem Werden entstehe" (Frg. 8, 3). Naturphilosophisch also ist, wie auch an der Terminologie sich überall bemerken läßt, die Betrachtung des Sokrates, die aus dem ewigen Wechsel von Leben und Tod, Tod und Leben, aus der zyklischen Bewegung des Werdens die Notwendigkeit ableitet, „daß die Seelen irgendwo seien, von wo sie denn also wieder entstünden". So rückt neben die Mysterienahnung diese erhabene naturphilosophische Ansicht des Daseins. Der Mensch ist hineingestellt in die große Weltordnung, das „Gleichgewicht der ungeheuren Waage" bestimmt auch ihn. Diese Ausweitung, großartig wie sie ist, hat zwei Mängel, die der aufmerksame Leser bemerken soll. Eine Fülle von Gegensätzen bricht herein aus dem Gebiet, wo es ein Mehr oder Minder gibt, wo es also einen Zustand „zwischen" den Gegensätzen gibt: größer und kleiner, stärker und schwächer, besser und schlechter, und so fort. Die beiden ersten Gegensatzpaare aber, die dann durch die Fülle der komparativen Paare dem Blick gleichsam verdeckt werden, waren von durchaus anderer Art (70 Ε 2—3): das Schön und das Häßlich, Gerecht und Ungerecht. Kebes merkt nicht den Unterschied zwischen dem Absoluten und dem Relativen; sonst dürfte er die Frage, ob „alles" so wird, Gegensätzliches aus Gegensätzlichem, nicht mit Ja beantworten, oder er müßte hinzufügen: Du hast aber vorher Seiendes genannt, das nicht „wird" (71 A 9— 11). Daß wir hier nichts hineindeuten, was Piaton nicht gewollt hat, wird gegen Ende des Dialoges ganz klar (103 A), da „einer der Anwesenden" gerade auf diese Erörterung über die Gegensätze zurückgreift und damit den Sokrates veranlaßt, „mit einer scharfen Wendung des Kopfes"—jener Wendung, die schon bei Aristophanes (Wolken 362) sein physiognomisches Kennzeichen ist — den Gegensatz zwischen Seinswelt und Werdewelt deutlich zu machen. Der andere Mangel ist dieser: jene Ausweitung in die große, naturphilosophisch gesehene Weltordnung geschah auf Kosten
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des Sonderwesens der Seele. Leben und Tod wurden hier rein als naturhafte Phänomene gefaßt wie Schlafen und Wachen. Nicht mein Tod und dein Tod wird gesichtet, nicht dein und mein Leben. Ein Naturwesen ist auch die Seele, es fehlt das vernünftige Ich, auf dessen Bestand es dem um sein Schicksal sorgenden Menschen doch ankommt. Es fehlt, würde man heute sagen, die Existenz. Von dem also, was Kebes als Gegenstand des Beweises gefordert hatte, ,,daß die Seele des gestorbenen Menschen besteht, und daß sie eine gewisse Kraft, das heißt Vernunft, hat" (70 B), kam nur das erste bei dieser Betrachtung zu seinem Recht, und so ist es nicht aus Zufall, daß Kebes, nachdem Sokrates scheinbar zu Ende ist, mit einem „und auch" ein zweites Argument anfügt 10 ). Das zweite Argument ist die These von der „Wiedererinnerung": Lernen ist sich-erinnern an das vor diesem Leben Gewußte. Kebes hat diesen Satz „oft" von Sokrates darlegen hören, und Simmias will an die Beweise erinnert werden. Seltsam! Mußte nicht jedem Leser gegenwärtig sein, daß gerade der Meister der beiden, Pythagoras, sich auf solche Vorgeburten berief? Empedokles hatte höchst eindringlich auf den Mann von überragendem Wissen hingewiesen, der sich auf zehn, auf zwanzig früher gelebte Leben besann 11 ). Im Menon (81 BC) beginnt Sokrates seine Erörterung über diesen Gegenstand mit einem feierlichen Zitat aus Pindar von den Seelen, die die Unterweltsherrin in dieses Leben zurücksendet. Nichts davon hier im Phaidon. Also nicht auf mystischekstatische Erfahrungen kommt es jetzt an, so viel davon in dem Wort „Erinnerung" angelegt ist, sondern auf die Tatsachen, die später bei Descartes, Leibniz, Kant als „eingeborene Ideen" in der Mitte erkenntnistheoretischen Forschens stehen werden. Sokrates „erinnert" zuerst die Lehre mit den Argumenten, die aus dem Menon bekannt sind. Dann aber breitet er das Phänomen „Erinnerung" — das im Menon (81 CD) nur mit dem einen Wort von der „Verwandtschaft der ganzen Natur miteinander" gestreift worden war — vor seinen Hörern aus. Es gibt Erinnerung aus Kontiguität und aus Ähnlichkeit 12 ). Bei solchem Erkennen einer Ähnlichkeit aber tritt noch eine ergänzende Erfahrung hinzu: daß das eine hinter dem andern zurückbleibt, oder daß es das andere erreicht. Damit rückt die Vorstellung des „Gleichen" in die Betrachtung. Wie immer wieder bei Piaton werden gleiche Dinge dem Gleichen-an-sich gegenübergestellt. Die einzelnen Dinge.
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die wir „gleich" nennen, sind oder scheinen gleich und sind doch auch wieder ungleich. Sie sind dem Gleichen-an-sich ähnlich und zugleich unähnlich13). Die Weise, wie wir dieser heraklitischen Spannung von Gleich und Ungleich das Wissen um das schlechthin Gleiche abgewinnen, ordnet sich ein in das vorher analysierte Phänomen „Erinnerung". Wir sehen oder nehmen sonstwie wahr, daß solche Gegenstände unsrer Wahrnehmung zwar nicht gleich sind, daß ihnen aber ein „Wille" ein „Streben" gleich zu sein innewohnt (βούλεται, όρέγεται). Bei ihrem Anblick „erinnern wir uns" an das wahrhaft Gleiche, das wir also „vorher wissen" (προειδέναι). Von dem Gleichen breitet sich diese Erkenntnis aus auf das Gute, Schöne, Gerechte, Fromme, kurz auf alles „dem wir das Siegel des An-sich-Seienden (τό"δεστι") aufdrücken". Auch dieses müssen wir gewußt haben, bevor wir in dieses Leben eintraten. Das ist erweitert die Erkenntnis des Menon. Und nun wird zum Schluß (76 D ff.) scharf hervorgehoben, worauf es bei alledem eigentlich ankommt: die Präexistenz der Seele hängt an dem Sein der ewigen Wesenheiten. Wie (ώσπερ) dieses ist, so (ούτως) ist auch unsere Seele präexistent. Es hat die gleiche Notwendigkeit, daß dieses ist und daß unsere Seele präexistent ist. In gleicher Art (όμοίως) ist unsere Seele präexistent und ist jenes wesenhafte Sein. Dreimal wird diese Übereinstimmung eingeprägt. Im Menon diente das halb mythische Bild von der „Wiedererinnerung" dazu, die Möglichkeit der Erkenntnis, zuhöchst der Ideen-Erkenntnis, zu sichern. Hier soll umgekehrt aus der IdeenErkenntnis die Ewigkeit der Seele abgelesen werden. Aber nun erweist sich, daß wenigstens in der Fassung, die dieser Zusammenhang hier annimmt, streng genommen nur die Präexistenz, nicht das Überleben der Seele folgt, also das nicht, worauf es uns, die wir Menschen wie Simmias und Kebes sind, zuletzt ankommt. An diesen Mangel von Kebes gemahnt verbindet Sokrates den Logos von der Wiedererinnerung mit der früher gewonnenen Sicht, daß das Leben aus dem Tode entstehe, und hat so zu der Präexistenz die Postexistenz gefügt. Der Beweis scheint begrifflich geschlossen. Daß freilich Piaton anderer Meinung ist, zeigt er sogleich, indem er hier nicht inne hält, sondern „den Satz weiter behandeln" läßt (77 D)14). In der Tat: die Überzeugungskraft, die jeder Beweisgang als einzelner nicht hergibt, kann auch nicht durch zwei sich ergänzende Beweishälften — sehr ungleiche Hälften! — hergestellt
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werden. Die Zuordnung von Seele und Eidos bleibt höchst bedeutend. Aber die Reinheit der damit gewonnenen Erkenntnis kann durch Jenseitsmythen und naturphilosophische Spekulation eher getrübt werden, so bedeutsam auch mythisches Ahnen ist und so wesentlich der Einblick in das Weltwesen mit seiner zyklischen Bewegung. Kindlichen Wunsch, das persönliche Leben über das Leben hinaus verlängert und dieses Über-leben demonstriert zu sehen, vermag weder Mythologie noch Naturphilosophie noch Ideenerkenntnis, auch nicht wenn man die drei verknüpft, zu erfüllen. Das „Kind in uns" verlangt Zauber Sprüche, um beruhigt zu werden über das Schicksal unserer Seele. Die Furcht der Menschen, daß die Seele bei ihrem Austritt aus dem Körper vom Winde verweht werde, ist nicht beschwichtigt. Die populäre Ansicht von der Hauchseele, die nur ein anderer, feinerer Körper ist, schwebt offensichtlich noch vor. Auf sie läßt Sokrates sich, wie ironisch auch scherzend, hier noch ein. Wir bleiben noch immer in der Sphäre naturphilosophischer Spekulation und werden sehen, wie Piaton ihr im dritten Ansatz abzugewinnen sucht, was zu gewinnen ist. Naturphilosophisch ist durchaus die Begriffsbildung, mit der nun an den Zweifel, ob die Seele nicht zerstreut werde, angeknüpft wird. Vom Zusammensetzen und Scheiden hatten Empedokles, Anaxagoras und die Atomisten geredet. Den Satz, daß das Zusammengesetzte sich wieder auflösen lasse in das, woraus es sich zusammensetzt, daß hingegen das Unzusammengesetzte unauflösbar sei, hätten auch Leukipp und Demokrit von den Körperzuständen und von den Atomen sagen können. Nur daß Piaton dem sichtbaren zusammengesetzten, körperlichen Sein der Dinge das unsichtbare, wenigstens für Menschen unsichtbare (79 B), unzusammengesetzte, unkörperliche Sein der ewigen Formen gegenüberstellt. Und diesen beiden Gattungen der seienden Dinge werden Leib und Seele des Menschen zugeordnet, wo sich denn die Seele als dem Unsichtbaren ähnlicher erweist. Dasselbe wird noch schärfer aus der Wirkungsweise der Seele gewonnen. Dem Erfassen der Gegenstände mittels der körperlichen Sinne steht gegenüber das Erfassen des An-sich. Während dort Wirrnis und Unruhe ist, kommt hier die Seele zum Reinen, EwigSeienden, Unsterblichen, Unveränderlichen, sie ist immer mit ihm, ihre Irrfahrt ist zu Ende, und auf jenes bezogen (ττερί έκεϊνο)
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bleibt sie sich immer gleich. Denn sie ist ihm verwandt. Und dieser Zustand heißt Denken (φρόνησις). Schon auf der ersten Stufe des Dialoges war das wesentliche Dasein des Philosophen mit ganz ähnlichen Ausdrücken bezeichnet worden 15 ). Kann es einen stärkeren Beweis für die Un-sterblichkeit, besser für die Ewigkeit, der Seele geben ? Aber wir stehen ja in einer naturphilosophischen Pragweise, j a mehr, es soll der volkstümlichen Vorstellung von der Hauchseele, einem andern Körper in dem Körper, begegnet werden. So sinkt die Betrachtung wieder herab auf diese Ebene: die Seele ist immer dem in gleicher Weise Seienden „durchaus und ganz und gar ähnlicher" (δλω καΐ τταντί όμοιότερον) als dem Gegenteil (79 Ε). Und noch einmal: da die Seele über den Körper herrscht, so „gleicht" (IOIKEV) sie dem Göttlichen und Herrschenden. Also ist sie „gänzlich unauflösbar oder doch nahezu" (80 B). Und in zusammenfassender Wiederholung: sie ist dem Göttlichen, Unsterblichen, Intelligiblen, Eingestaltigen, Unauflösbaren und immer ebenso und in gleicher Weise sich Verhaltenden „am ähnlichsten" (όμοιότατον), während dem Entgegengesetzten der Leib am ähnlichsten ist. So wird der Aspekt, der schon rein vor uns stand, immer wieder getrübt durch den Vergleich der Seele mit dem Leibe. Dadurch ergibt sich statt eines radikalen Gegen- und Auseinander jene leidige vergleichende und annähernde Betrachtungsweise, die doch nur „das Kind in uns" einen „Unsterblichkeitsbeweis" nennen kann, und die doch Piaton immer wieder einschärft, als wollte er zeigen, daß hier, wo man zuviel beweisen will, im Grunde gar nichts bewiesen wird. Nicht etwa soll Piaton hier — wie so oft geschieht — von außen kritisiert werden, wir folgen nur den kritischen Hinweisen, die er selbst freigebig ausgestreut hat 16 ). Und wir lernen, daß jene Trübung des sicher Begreifbaren nicht nur im Logos, sondern auch im Leben immer wieder geschieht. Reine Seele, reiner Geist werden: das ist eine für die Menschen nie erfüllbare Aufgabe und bleibt doch eine Forderung, die der Philosoph, den Tod vor Augen, an sich selbst und an die anderen stellt. Bald wird sie noch ausdrücklicher werden. Schon im Menon hatte sich mit der Ideenschau der Seele einerseits die Eschatologie und andererseits die ethische Mahnung verbunden. Nicht aus Zufall oder Willkür. Denn wenn es sich im Tun nicht bewährt, ist alles Denken für den Menschen unvollendet, wie
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denn im Staat (540 Α) die Erschauer des Ewig-Seienden gezwungen werden müssen, das was sie dort gesehen haben, hineinzubilden in das Leben. Und die Eschatologie stellt den erkennenden und den handelnden Menschen vor das Gericht der Ewigkeit, mit einer anschaulichen Kraft und mit der Feierlichkeit alter Überlieferung, die der Mythos vor dem Logos voraus hat. So kehrt jene tief gegründete Dreiheit von Ideenerkenntnis, mythischer Eschatologie und ethischer Forderung im Phaidon immer wieder. Schon auf der ersten Stufe wird sie sichtbar und nun wieder auf der zweiten, indem an die Kette der „Beweise", als deren Mitte sich eben die Ideenschau erwies, die beiden andern Elemente sich fügen. Die Eschatologie steht auf dem Gegensatz von Leib und Seele, der bis zuletzt den Beweis beherrschte — und trübte. Die reine philosophische Seele, die sich — wie es schon im ersten Kreise lautete (81 Α 1~67 Ε 5) — im Sterben geübt hat, geht vom Körper befreit in das ihr artgleiche Reich ein, das unsichtbare, göttliche, unsterbliche, Vernunft volle, und findet dort ein Ende ihrer Irrsal. Die nicht gereinigte Seele, beschwert von dem ihr anhaftenden Leiblichen, wird herabgezogen in die sichtbare Welt und je nach ihrer Wesensart in mannigfache Leiber neu eingekörpert. An diese Jenseitsbilder, in denen das Wort „wahrscheinlich" immer wiederkehrt, ist mit einem „deshalb also" (τοιγάρτοι) die ethische Paränese geknüpft, die als ein leises aber deutlich vernehmbares Motiv gleich am Anfang des Gespräches aufklang (63 D) und dann wieder im zweiten Kreise, dort wo er halb durchmessen war (72 Ε 1—2). Jetzt ruft mit feierlichem Nachdruck Sokrates zur Lösung und Reinigung auf. Das Mysterienziel also wird zum Ziel der Philosophie. Philosophie ist reine Erkenntnis und Abkehr von den Affekten Lust und Unlust, Begier und Furcht, die die Klarheit des Erkennens trüben und die Seele an den Leib nageln17). Schau des Wahren-Göttlichen, durch dauernde Denkarbeit mühsam erreichte Schau: das ist jetzt nicht mehr das Ziel des Mysten sondern des Philosophen. Sein Tod ist Eingehen der Seele in das ihr Verwandte. So steht am Schluß noch einmal der eigentliche Kern des UnVergänglichkeitsbeweises, dessen allzu irdischer Teil hier abgefallen ist, und tief unter sich sieht der Ironiker die Furcht — er wendet sich nachdrücklich an seine beiden Unterredner und echot hier zuletzt, damit der Abstand ganz eindringlich werde, die Worte genau, die bei dem Eintritt in
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diesen zweiten Kreis der Erörterung (70 A) Kebes gebraucht hatte 18 ) — die kindische Furcht, die Seele möchte bei ihrem Scheiden aus dem Leben im Winde zerflattern. III. Langes Schweigen. Die ersten Worte, die es brechen, zeigen an, 84 C—115 Α daß die Unterredner an dem Vorhergesagten Kritik geübt haben. So ist ihr Schweigen für den Leser die Mahnung, ein Gleiches zu tun. Zugleich weist es als starke Zäsur darauf hin, daß wir uns dem höchsten Kreise nähern. Aber vorher wird noch einmal die Wesensart der Frage klargemacht: Das Wahre darüber zu wissen ist im jetzigen Leben unmöglich oder doch sehr schwer. Daraus aber zu folgern, daß man vorzeitig abstehen dürfe vom Forschen, wäre feig. Kann man nicht zum vollkommensten Wissen vordringen, so muß man sich mit dem menschlich besten Logos begnügen, es sei denn daß jemand — wie Simmias rätselnd sagt — auf dem Fahrzeug eines göttlichen Logos seine Lebensfahrt zu machen vermöchte. Damit ist über die Sicherheit dessen, was bestenfalls gesagt werden kann, ebenso wie über die Notwendigkeit unablässigen Forschens im Voraus entschieden und das Geheimnis des sokratischen Lebens noch einmal umrätselt. III 1 a. Von zwei Einwänden geht die eigentliche Erörterung aus. Der 85 Ε 88 b Einwand des Simmias erhebt sich hoch über jenen früheren materialistischen Vergleich der Seele mit einem Rauch oder Hauch: sollten sich, heißt es jetzt, Leib und Seele zu einander verhalten wie ein Saiteninstrument zu der Harmonie, die in ihm herrscht ? Womit der Forderung des Unsichtbaren, Körperlosen, sehr Schönen, Göttlichen Genüge geschehe und doch die Fortdauer verneint werde. Kebes wendet ein (86 Ε ff.): erwiesen sei im Vorhergehenden nur das Vor- und das Nachleben der Seele, auch ihre Überlegenheit über den Körper, aber nicht ihre Ewigkeit. Denn nach dem Gesagten sei es nicht unmöglich, daß sie viele Körper vernutze, aber schließlich dennoch sterbe. Von diesen beiden Einwänden scheint wenigstens der erste von Piaton gesetzt, weil er für ihn selbst viel Verlockendes haben mußte. Die Prädikate des Unsichtbaren, Körperlosen, Schönen, Göttlichen rufen nicht zufällig das Eidos in den Sinn. Und wie wichtig der Pythagoreische Harmoniebegriff für Piaton und nicht zuletzt für Sein Bild von der Seele war oder wurde, dafür genüge die Berufung auf die eine Tatsache, daß die Weltseele im Timaios als mathematisch genaue Harmonie konstruiert wird 19 ). Aber sobald man den Ver-
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gleich ausmalend an das Verhältnis von Instrument und Klangharmonie dachte, wurde er gefährlich, weil er die Seele zu einer Funktion, wenn einer auch noch so edlen, des Körpers zu machen droht — obgleich man sehr wohl fragen kann, oder in Piatons Sinne fragen soll, ob die harmonische Ordnung wirklich nichts anderes ist als eine Funktion des Saiteninstruments, ob nicht umgekehrt das Instrument die ewige Harmonie ins Greifbare und Hörbare umsetzt. Bei dem Einwand des Kebes ist die Seele, wie überall in der naturphilosophischen Erörterung, als eine Art feinsten Körpers vorgestellt. Beide Einwände zeigen noch einmal, daß die Seele nicht in ihrer radikalen Körperfremdheit anerkannt ist, und daß man die Betrachtung nur mit physikalischen Motiven zu verquicken braucht, um das reine Anders-Sein der Seele sicher zu verkennen. Hier ist eine kritische Stelle des Dialoges. Mißbehagen und Zweifel- Episode sucht, die sich der Anwesenden bemächtigen, breiten sich bis in 88C—91C das Rahmengespräch hinein, in dem der zuhörende Echekrates — man muß bedenken, daß auch er Pythagoreer ist — an der These von der Seele als Harmonie etwas ihm Vertrautes findet und dann doch seinen Zweifel an allem Gesagten bekennt. Aber des Sokrates verständnisvolle Güte, seine Fähigkeit, dem „Logos zu Hilfe zu kommen", seine „Tapferkeit", bewährt sich in diesem gefährdeten Moment aufs Schönste. Er versteht sehr wohl die herrschende Stimmung, aber er bekämpft die gefährliche, indem er sie den Anwesenden deutet als „Redenhaß" — vergleichbar dem Menschenhaß — und ihre Ursache aufweist: in unserem mangelhaften Umgehen mit dem Logos, nicht im Logos selber. Nirgends wird die Würde des Logos eindringlicher, als da Sokrates dem Phaidon durch das Ephebenhaar fährt und ihn mahnt, es nicht nach der Sitte für Sokrates zu opfern — denn Sokrates, so hören wir zwischen den Worten, stirbt ja nicht — sondern es zu schneiden, wenn der Logos stirbt und von uns nicht wieder belebt werden kann. Dann geht Sokrates mit einem neuen Aufruf zur Mannhaftigkeit (άνδριστεον) und zur Sorge um die Wahrheit an die Widerlegung jener Einwände. Grundlage bleibt die Lehre von der Wiedererinnerung. So zweifei- i n 1 b. haft das Übrige gewesen sein mag, in diesem Punkte kamen alle 91C—95 Ε überein. Jene Lehre aber und der Satz von der Harmonie vertragen sich nicht20). Denn Harmonie ist nicht präexistent. Weichen muß —
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wie eine wichtige, in ihrer vollen Wichtigkeit erst später sich verdeutlichende Bemerkung über die Geltungskraft von Sätzen uns lehrt — daa, was „ohne Beweis auf Grund einer gewissen Wahrscheinlichkeit" aufgestellt worden ist, vor dem, was „auf annehmbarer Grundlegung" beruht. Aber auch sonst ist der Satz von der Harmonie leicht zu widerlegen. Er streitet mit der Tatsache, daß die Seele über denKörper herrscht, seinen Leidenschaften entgegentritt, während die Harmonie eines Instruments das Ergebnis seines Baues ist. Der Satz streitet ferner mit der Tatsache, daß die Seele selbst Harmonie und das Gegenteil davon haben kann. Die hier bekämpfte Lehre zeigt ihre Gefährlichkeit darin, daß sie von ethischen Normen nichts zu wissen scheint. Harmonie ist nicht dasselbe wie Seele, sondern ist eine Forderung an die Seele — wie denn im Staat (443 DE) die „Gerechtigkeit" es ist, die die drei Seelenformen (oder Seelenteile) wie die Klänge dreier gespannter Saiten in eine Harmonie zusammenfügt. Indem also Sokrates die verlockende These des Simmias zerstört, erweist er die Seele als etwas „weit Göttlicheres". — Hier sollte man einen Augenblick innehalten und fragen, ob man nicht mit gebührender Ehrerbietung oft anders antworten könnte als Simmias. Ist wirklich die Harmonie „später" als das Instrument ? Oder bestimmt sie nicht vielmehr, wie das Instrument sein muß, um auf ihm die „vorher" und „nachher" bestehende Harmonie hier und jetzt mehr oder weniger vollkommen hervorzubringen ? Ist wirklich Harmonie den Elementen gegenüber, aus denen sie besteht, folgsam und nicht vielmehr führend ? Ist nicht Harmonie eben dieses, was das Wort besagt: Fügung der Töne in eine höhere Einheit ? Kann wirklich keine Seele mehr Seele sein als die andere ? Ist nicht Sokrates' Seele unvergleichlich mehr „Seele" als die eines jeden von uns 1 Kann wirklich keine Harmonie mehr Harmonie sein als die andere ? Gibt es nicht einfachere und reichere, unvollkommenere und vollkommenere Melodien ? Und Seelen ? — Aber auch so noch, wenn man nicht jedem Ja und Nein des Simmias zustimmt und aus dem Widerspruch zu lernen sucht, wird man einsehen müssen: das In-eins-setzen von Seele und Harmonie ist eine Metapher. Aristoteles hat über Wesen und Formen der Metapher gründlich nachgedacht und spricht darüber eingehend in der Poetik und der Rhetorik. In den Bezirken, die er dort behandelt, können Metaphern erhaben oder nützlich oder lächerlich
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sein: Wenn er in der Ethik oder der Metaphysik einen Ausdruck „metaphorisch" nennt, so bedeutet das eine Kritik21). „Ohne Beweis auf Grund einer gewissen Scheinbarkeit aufgestellt" ist nach Sokrates' Urteil die eindrucksvolle Gleichsetzung von Seele und Harmonie. Wichtiger noch für den Fortgang des Gespräches ist der Einwand des Kebes. Sokrates wiederholt ihn eindringlich. Aber was um so merkwürdiger ist, er widerlegt ihn nicht eigentlich. Er ordnet ihn einer allgemeineren Problematik ein, der „Ursachenforschung im Bereich des Werdens und Vergehens". In diesen Worten klingt die Begriffsbildung der Naturphilosophie — seit Anaximander und Parmenides — auf 22 ), und was sich hier vollzieht, und wozu das Argument des Kebes den Anstoß zu geben von Piaton bestimmt ist, das ist die Überwindung der Naturphilosophie durch die Logosphilosophie oder — da Piaton auf jene nie zu verzichten gedenkt — die Unterordnung jener unter diese. Indem Sokrates beträchtliche Zeit innehält, ehe er zu sprechen III 2. beginnt·, wird der ganz neue Ansatz fühlbar. Und bald ist man auf 95E—102A einer so anderen Ebene, daß der Einwand des Kebes vollkommen aus den Augen verschwunden ist. Der Weg, den Sokrates mit seinen Zuhörern überblickt, und den er als den Weg seines eigenen philosophischen Werdens darstellt, ist dreistufig. Auf der ersten Stufe ergreift der leidenschaftliche Erkenntnisdrang die naturphilosophischen Fragestellungen und Antworten. Die Welt wird aus materiellen Prinzipien erklärt. Das Geistige bis zur Erkenntnis selber hinauf erscheint als ein Ergebnis materieller Verursachungen. Schon am Anfang macht die Vielheit der Meinungen stutzig, und das Ende ist vollends Verwirrung. Denn ganz einfache biologische oder mathematische Phänomene, das des Wachsens oder des Größerseins, oder wie eins zu zwei wird, erweisen sich von dort aus undeutbar. Auf der zweiten Stufe tritt Anaxagoras' Lehre vom „Geist" als Befreierin aus dieser Wirrnis in den Gesichtskreis. Eine Naturerklärung scheint sich anzumelden, die nach dem Prinzip des „Besten", der vollkommenen Ordnung des Ganzen, jedes Einzelne zu deuten unternimmt. Aber zu seiner Enttäuschung muß Sokrates einsehen, daß dieser „Geist" nicht etwa als Prinzip des Guten-Vollkommenen die Natur vergeistigt, sondern daß er bei aller eigentlichen Naturerklärung sofort materieller Ätiologie weicht. Und das größte,
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ganz gegenwärtige Beispiel für das Versagen dieses anaxagoreischen Geist-Prinzips: es gibt keine Begründung, warum Sokrates hier im Gefängnis auf seinen Tod wartet, da er doch hätte davonlaufen können. Das Grundmotiv des Kriton deutet sich an. Was wie Philosophiegeschichte aussah, erweist sich mit der Mitte des sokratischen Lebensschicksals verbunden. Die dritte Stufe wird gekennzeichnet durch den radikalen Wandel der Blickrichtung von den Sachen zu den Logoi: Gedanken, Begriffen, Definitionen oder wie man sonst versuchen will das griechische Wort wiederzugeben, das alles dieses umfaßt und noch einiges mehr; „reine Vernunft" könnte man wagen. Als ein Akt der Entsagung scheint sich jener Wandel zu geben, und Sokrates will nicht für immer auf Naturerkenntnis verzichten (99 C) — wie Piaton nicht für immer darauf verzichtet hat. Schon in den Schlußmythen des Phaidon und dann des Staates ist Physis, Kosmos das Fundament. Der Timaios wird erfüllen, was Anaxagoras nicht vermocht hat. Über das zwiefache Ursachen system aus Zweckursache und materieller Ursache, das den Weltbau des Timaios beherrschen wird, spricht schon der Sokrates des Phaidon mit voller Klarheit (99 Α ff.). Zuletzt vereinigen sich in den Gesetzen der Sternenhimmel und die Seele, um zu dem Anblick des Göttlichen emporzuführen 2 3 ).Daß es sich jetzt bei der Hinwendung zu den Logoi um ein Verfahren minderen Ranges handele (δεύτερος πλοΟξ), das spricht Sokrates aus, um es dann so gut wie ganz zurückzunehmen (99 Ε 6 ff.), — ein ironisches Spiel, welches noch heut den Piatondeutern zu schaffen macht und zu schaffen machen soll, die Logiker ebenso warnend wie die Alogiker 23a ). Die neue „logische" Methode wird nun zunächst ganz allgemein so beschrieben: Sokrates nimmt den jeweils „stärksten" Satz als Grundlegung (ύττοθέμενος), und was mit ihm zusammenstimmt, setzt er als wahr. So hatte er es beispielsweise in der Kritik an Simmias kurz vorher schon gehalten (92 C). Dieses rein Formale füllt sich mit Inhalt, indem Sokrates zu den „vielberedeten" Ideen zurückkehrt und als Gegenstand der Grundlegung das Schöne-, das Gute-, das Große-an-sich bezeichnet 24 ); das Verhältnis des Einzeldings zum Eidos wird nicht eindeutig begrifflich bestimmt, kann offenbar so nicht bestimmt werden, sondern wird in Metaphern zu verdeutlichen gesucht: Anwesenheit, Gemeinschaft oder etwas der Art 2 5 ). Und das Problem, wie etwas größer oder kleiner wird,
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wie eins zu zwei wird, zeigt sich nun als lösbar, während es auf der zweiten Ebene des Gesprächs (70 D ff.) und noch eben (96 D ff.), da man Dinge durchschnitt oder zusammensetzte, in der Verwirrung hängen geblieben war. Schließlich wird der formale Weg der „Grundlegung" noch einmal aufgenommen und nun eine Reihe immer höherer Grundlegungen gesichtet bis hinauf zu dem höchsten Ziel, dem „Zulänglichen, Befriedigenden" (Ικανόν), und das Systematische dieser Ordnung wird eingeschärft im Gegensatz zu eristischer Willkür (101 E). So wird noch im Philebos (17 A) als unterscheidender Gegensatz des dialektischen zu dem eristischen Verfahren bezeichnet, daß jenes, nicht aber dieses, die Stufenfolge zwischen dem Einen und dem Vielen genau innehalte. Als der Weg bis zu diesem Ziel gezeigt worden ist, müssen die Partner gleichzeitig ihre lebhafte Zustimmung bekunden, und diese Zustimmung pflanzt sich ins Rahmengespräch fort wie früher die Niedergeschlagenheit und Skepsis. Man muß diese beiden Momente, in denen Echekrates aus einem Zuhörer zum Redenden wird, in strenger Entsprechung aufeinander beziehen (88 C ff.— 102 A). Damals, als man noch auf der Stufe naturphilosophischer Begriffsbildung stand, konnte solche Misologie Raum finden. Jetzt sind wir bei der Methode angelangt, die eine sichere Erkenntnis verbürgt. Gewiß ist dieser Stufenweg durch die Systeme nicht der Weg des geschichtlichen Sokrates gewesen und schwerlich der des geschichtlichen Piaton. Denn Sokrates begann nicht bei der Naturphilosophie und endete nicht bei der platonischen Methode. Und für Piaton bedeutete die Naturphilosophie nicht einen Anfang, sondern eine letzte periphere Ausweitung — so viel er frühzeitig über Anaxagoras und Heraklit gewußt haben mag. Was hier beschrieben wird, ist vielmehr die Bewegung, die die griechische Philosophie von Thaies bis zu Piaton vollzogen hat, aber wiederum nicht als ein nur Tatsächliches, welches für Piaton wesentlich gleichgültig wäre, sondern als die Weise, wie Philosophie überhaupt zu sich selber kommt 26 ). Und nun sehen wir vollends, welchen Sinn diese Episode für das Ganze unseres Dialoges hat. Indem der Läuterungsweg des philosophischen Denkens erkennbar wird, steigt zugleich das Gespräch über die Seele von dem Kreise, den die Vorherrschaft naturphilosophischer Begriffe bezeichnet, zur reinen Logos-Philosophie empor. F r i e d l ä n d e r , Pia ton III
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III 3. Mit dieser Methode wird das Fundament gelegt für den letzten 102 A—107 Β Beweis. Nicht nur das Eidos schließt sich völlig ab vor seinem Gegenteil, „nimmt das Gegenteil nicht auf". Sondern auch solche Wesenheit, die jene Form immer an sich trägt 27 ), wie das Feuer die Wesensart des Heißen, der Schnee die des Kalten, die Drei die des Ungeraden, geht bei dem Herankommen des Gegenteils entweder zugrunde oder sie räumt jenem ihren Platz ein. Daraus folgt für unser Problem: Wesen der Seele ist es, daß sie den Leib, in dem sie ist, lebendig macht. Also kann Seele ihr Gegenteil, den Tod, nicht aufnehmen. Was den Thanatos nicht aufnimmt, ist a-thanatos, unsterblich und mithin unvergänglich wie der Gott und wie das Eidos des Lebens, mit denen die Seele also zusammengesehen wird. So wird sie vom Tode nicht vernichtet, sondern weicht ihm aus. Mithin sind in der Tat unsere Seelen „im Hades". Wie ist das zu verstehen ? Wir blicken noch einmal dorthin zurück, wo das Fundament dieses Beweises gelegt wurde: Gegensätze schließen sich aus, nicht nur im An-sich, sondern auch „in uns". Da greift (103 A) ein Jemand aus der Zuhörerschaft ein, dieses einzige Mal im ganzen Dialog, und macht auf einen Widerspruch aufmerksam gegenüber dem, was früher in gemeinsamer Erörterung festgestellt worden war (70 D): daß die Gegensätze auseinander entstehen. Sokrates lobt den Mut des Ungenannten, aber belehrt ihn über die grundsätzliche Verschiedenheit des Jetzigen und des Früheren. Also um diese Verschiedenheit der Ebenen noch einmal handgreiflich zu machen, muß jener Einwurf geschehen, und ein unbestimmter Jemand muß ihn äußern, nicht Simmias oder Kebes, weil diese beiden dem Sokrates auf die neue Ebene gefolgt sind. Der Unterschied aber beruht darin, daß es sich früher um die Welt der Dinge, Gegenstände (πράγματα) handelte, jetzt um die Urformen, dort um Körperhaftes, hier um die Logoi. Daraus folgt, daß in unserm Zusammenhang auch das, was das Eidos „in sich" trägt, nicht als Körper, sondern gleichfalls ideenhaft gedacht sein muß. So ist „Seele" hier nicht ein lebendiges Ding, das mit dem Leibdinge zusammen dieses Naturwesen Mensch bildet. Sondern sie ist wesenhaft Lebendigkeit, Träger des Eidos „Leben". Wie dieses Eidos selbst den Tod rein von sich abwehrt, so wehrt die eidoshafte, lebenhafte Seele den Tod von sich ab. Die „Verwandtschaft", die „Ähnlichkeit" der Seele mit dem Eidos ist hier so gesteigert, daß die Seele ihrer eigentlichen Existenz nach geradezu
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in das Ideenreich hineingenommen scheint. Nichts anderes meint ja in leicht mythologisierender Verhüllung der Schlußsatz von den „Seelen im Hades" nach der Deutung, die Piaton diesem Namen im Kratylos (403 A) gibt: Hades ist das Un-sichtbare, das mit den leiblichen Augen nicht zu Erfassende. Man blicke noch einmal auf die frühere Stufe naturphilosophischer Betrachtung zurück, um inne zu werden, welche Sublimierung der Seelenbegriff seitdem erfahren hat. Es ist zu bezweifeln, ob unsere Interpretation dieser Höhe des Gedankens ganz gerecht geworden ist; gewiß, daß moderne und antike Kritik — die antike für uns beginnend mit dem Peripatetiker Straton — ihr selten gerecht wird, unter anderm darum, weil sie sich dem Einwand jenes Herrn Jemand anschließt und über Sokrates' Widerlegung dieses Einwands hinwegsieht 28 ). Ja, findet man sich nicht selbst immer wieder als ein Kebes, der eigensüchtig Bürgschaft dafür sucht, daß sein kleines Ich nimmer vergehe ? Für Piaton aber steht über dem ganzen Werk das Mysterienwort „Läuterung" 29 ). Läuterung ist die Aufgabe des philosophischen Daseins. Läuterung ist der Tod. Auch die Beweise für die Unvergänglichkeit der Seele läutern sich empor. Ist es ein Wunder, oder hegt es nicht vielmehr in der Natur des menschlichen Logos, daß diese Läuterung nicht zur reinen Vollkommenheit gedeiht ? So läßt denn Piaton seine Unterredner auch diesen Beweis kritisieren. Die Größe des Gegenstandes und die menschliche Schwachheit sind es, die dem Simmias noch einen Zweifel lassen. Und auch Sokrates fordert auf, die ersten Grundlagen immer erneut zu prüfen. Dann allerdings, so ist er überzeugt, werdet ihr dem Logos folgen; und doch fügt er gleich wieder einschränkend hinzu: soweit es dem Menschen möglich ist, — um freilich auch dieser Einschränkung wieder durch einen Satz der Sicherheit zu begegnen: wenn dieses selbst — er deutet offenbar auf die Welt des An-sich — deutlich geworden ist, so werdet ihr nichts weiter suchen. Die Dialektik von Zweifel und Gewißheit ist echt sokratisch-platonisch, aber ebenso echt ist es, daß sie schließlich in einem Festen zur Ruhe zu kommen verspricht. Zweierlei wird jeweils dem begrifflichen Gespräch über die Ewigkeit III 4. der Seele ein- oder angefügt, wie im Menon und wie auf jeder der 107 B—l] beiden früheren Stufen des Phaidon, so jetzt auf der dritten und letzten: ethische Forderung und eschatologischer Ausblick. Wie die dreiBezirke „Wissen, Wollen, Glauben" in der christlichen Welt 4*
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zusammenstehen30), so Logos, Ethos, Mythos in der platonischen. Im Menon (86 B) hatte Sokrates die Ewigkeit der Seele darauf gegründet, daß die Wahrheit des Seienden in ihr ist, und hatte daran ein Muß gefügt: Alle Unsicherheit, die bei einer solchen begrifflichen Erörterung notwendig zurückbleibe, müsse aufgewogen werden durch die Energie des Forschens, die uns „tapfer" mache. Für solche Aktivität sei er entschlossen zu kämpfen mit Wort und mit Werk — „Werk" war dort das letzte Wort dieses langen Gesprächteiles. Ebenso schließt jetzt im Phaidon, unmittelbar nachdem die begriffliche Betrachtung mit jener Dialektik von Zweifel und Gewißheit geendet hatte, die Mahnung an: Die Seele bedarf der Pflege, um so größerer Pflege, als es nicht nur für ein Zeitliches, sondern für ein Ewiges zu sorgen gilt. Und zum Schluß des Ganzen (114 D ff.) wird noch einmal gemahnt, nicht die Lüste des Leibes, sondern die Lust des Lernens zu üben und statt leiblichen Schmuckes die Seele zu schmücken mit dem ihr eigenen Schmucke. Dazwischen aber breitet sich der eschatologische Mythos weit aus. Wo die Linien des Lebens abreißen für jede mögliche Erfahrung, da setzt bei Piaton mit Notwendigkeit der Mythos ein, der mit der Feierlichkeit des uralt Überlieferten diese Linien sinnvoll ergänzt und auf das Leben selber zurückstrahlt. Was sich auf den früheren Stufen des Phaidon andeutete, das gewinnt so zuletzt weitesten und selbständigen Raum. Für den Mythos verweisen wir auf früher Gesagtes31) und versuchen hier noch einmal anzudeuten, wie etwa die Beweise und die Mythen des Phaidon gelesen sein wollen. Das „Kind in uns" möchte Tod in Leben umfälschen. Erst das Leid lehrt manchen die Sehnsucht zum Ende. Der Philosoph, der Nichtwissende, kann keine dieser Hoffnungen zur Gewißheit machen. Aber er versinkt nicht in Zweifelsucht, sondern mit der tapferen Haltung des trotzdem Forschenden holt er aus den Vorstellungen des Volkes, den Jenseitsbildern der Frommen, den naturphilosophischen Spekulationen der alten Denker, zuhöchst der eigenen Ideenerkenntnis Klarheit nicht sowohl über das Was des Todes als über das Wie des Lebens. Ob Boreas wirklich die Oreithyia von diesem oder jenem Felsen entführt habe, darüber habe er — nach dem Phaidros — keine Zeit nachzudenken, und noch weit weniger jetzt im Angesicht des Todes darüber, ob es Totengericht und Wiedereinkörperung im wörtlichen Sinne gibt. Aber er sieht: der Ruf zur
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Arete, zur Gemeinschaft, zum vollkommenen Leben, von ganz anderswoher ertönend, stimmt genau zu der Lehre des frommen Mythos und empfängt von ihm neue Kraft. Die Vorstellung, daß die Seele sich vom Leibe trenne, reinige, daß sie dann vollends in ein Purgatorium eingehe, bleibt als Dogma auf sich beruhen32). Aber solche Befreiung, Reinigung ist es ja gerade, die der Philosoph erstrebt. So bedeutet diese Konvergenz auf das Leben gesehen Bestätigung des philosophischen Berufs, auf das Sterben gesehen die Einsicht, wie unphilosophisch Todesfurcht ist: der Versuch nämlich, vor der Voll-endung auszuweichen. Den Glauben, daß die Seele durch das Todestor in eine Welt des Glanzes und wunderbarer Bilder trete, tastet der Philosoph nicht an. Er sieht vielmehr dort abgebildet seinen eigenen Anstieg zum Licht und zu den wahren Gestalten. Und da Gleiches nur von Gleichem erkannt wird, Seiendes, Ewiges, Gestalthaftes nur von Seiendem, Ewigem, Gestalthaftem, so stärken ihm jene Jenseitsbilder noch einmal die Kraft: sich zu verewigen. In keinem Dialoge, so sagten wir früher, kann man weniger das theoretische Ergebnis der Gespräche lösen von dem Lebensgrunde, aus dem sie wachsen. Sokrates' letzter Tag: diese Wirklichkeit wird am Anfang vergegenwärtigt und dann durch das Ganze immer wieder mit einem Wort oder einer ergreifenden Bewegung lebendig erhalten, um sich am Schluß vollends auszubreiten. Über den Bericht vom Tode des Sokrates ist um so weniger zu Schlußteil sagen, je weniger er für jemanden stumm bleiben kann. Die im ϋδΒ—118 philosophischen Gespräch gehobenen Erkenntnisse wirken in den letzten Worten und Gebärden: in Sokrates' Auftrag an die Seinen, „für sich zu sorgen" (115 B); in der Mahnung an die weinenden Freunde: „Seid ruhig und stark!" (117 E); in dem, was er mit wunderbar scherzendem Ernst über das Begräbnis anordnet (115 C ff.): daß man den Sokrates nicht bestatten könne und seinen Leichnam bestatten solle — nicht kynisch sondern echt sokratisch — „wie der Brauch es will". Aber auch der Wunsch von dem erlösenden Trank den Göttern spenden zu dürfen, der Verzicht auf diesen Wunsch, das Gebet, die Verhüllung, die Anordnung des Opfers an Asklepios — alles dies ist von einer SinnBildlichkeit, deren durchsichtige Tiefe durch Ausdeutung eher verliert. Sei hier nur auf Weniges hingewiesen. Zweimal im Phaidon greift der Mann ein, der das Gift verwaltet. Fast am
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Anfang (63 D) läßt er den Sokrates mahnen, möglichst wenig zu sprechen33). „Zweimal und dreimal" müsse sonst zuweilen das Gift gereicht werden. Sokrates gehorcht dieses eine Mal nicht: das Gespräch aufgeben hieße für ihn sich selbst aufgeben. Der Mann solle „sogar zweimal und dreimal" wenn nötig den Gifttrank zubereiten. Piaton gebraucht im Qorgias (498 E), im Philebos (60 A), in den Gesetzen (956 E) das Sprichwort „Sogar zweimal und dreimal das Gute (oder: das Rechte)"! Schwer denkbar, daß ihm dieses „Sprichwort", wie er selbst es im Philebos nennt, hier nicht im Ohr geklungen haben soll, da er den Sokrates mit nachdrücklicher Wiederholung genau diese Worte gebrauchen läßt. Damit gehört die kurze Szene am Ende zusammen, da Sokrates denselben Verwalter des Giftes fragt, ob den Göttern eine Opferspende zu bringen erlaubt sei. Den Göttern Gift darbringen? Das wäre Sakrileg, wenn nicht eben jetzt das Gift ein Gutes, ein Heilendes wäre. Und damit wieder sind im Einklang Sokrates' letztes Gebet an die Götter um gutes Gelingen der Reise und seine letzte Verordnung: das Opfer an den heilenden Gott. Der Bericht bleibt schlichte Wahrheit und wird zugleich von selbst zum Symbol.
22. STAAT Einbau des Thrasymachos-Dialoges: Die feindliche Gegenkraft Man kann die platonische Politeia vergleichen mit einer in Stufen nach großartigem und einheitlichem Plan gebauten Stadt, die dabei eine aus älterer Zeit stammende Siedelung als Vorstadt sich eingegliedert hat. Dieser Vergleich beruht auf einer Voraussetzung, der heute wohl nur wenige widersprechen werden: daß das Erste Buch ursprünglich ein Dialog der platonischen Frühzeit war, als solcher zum mindesten genau geplant, wahrscheinlich aber niedergeschrieben, für den man sich weithin auf den Titel Thrasymachos geeinigt hat. Unter den „aporetischen Definitionsdialogen" ist er von uns besprochen worden 1 ). Wer das eine unbeweisbare Hypothese nennt, muß gleich zwei viel schwerer glaubliche machen: erstens daß Piaton in der Periode seiner aporetischen Dialoge zwar nach den anderen „Tugenden" geforscht hätte, gerade nach der „Gerechtigkeit" aber nicht; zweitens daß er auf der Höhe seiner Schriftstellerei den Anfang seiner Politeia in Grundriß und Sprachform nach der Weise einer zurückliegenden schriftstellerischen Epoche hätte gestalten können oder mögen. Man bedenke auch dies: Die Anfangsszene ist mit der des Symposions nahe verwandt. Beidemal ist man draußen im Hafenort, im Phaleron hier, im Piräus dort; beidemal will man nach Athen (ττρόξ τό άστυ Staat 327 Β 1. C 4. εΙς άστυ Symp. 172 A 2); beidemal ruft jemand von hinten und von weitem (ττόρρωθεν, όπισθεν Staat 327 Β 2.4. Symp. 172 A 3) und fordert zum Stehenbleiben auf (ττεριμείναι Staat 327 Β 3. ού ττεριμενεΐς; Symp. 172 A 5). Um so schärfer nun der Gegensatz: während Agathons Sieg in Athen in seinem eigenen Hause gefeiert wird, geht das große Gespräch über den Staat im Hafenort vor sich, im Hause des
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reichen Metöken Polemon. Man darf den Satz wagen: So wenig Piaton die Reden über den Eros in einem Metökenhause der Hafenstadt hätte halten lassen, so wenig hätte er an eine solche Szenerie für den Bau des wahren Staates denken können — wenn sie nicht für den Thrasymachos-Dialog schon festgelegen hätte. Für das Gefecht mit dem Immoralisten, der als Besucher vom Bosporus nach Athen gekommen ist, konnte es keine geeignetere geben. So behielt Piaton sie bei, als er diesen Kampf zum Eingang des großen Werkes machte. Er behielt ja auch die Abendstunde bei, zu der es beginnt, obgleich sich so, wenn man nachrechnet, das Gespräch als Ganzes durch die Nacht und weit bis in den nächsten Tag erstreckt haben müßte 2 ). Das Spätwerk der Gesetze läßt Piaton am frühen Morgen beginnen — viel natürlicher, so muß er selbst sich gesagt haben. Damals als er den wahren Staat baute, waren solche Fragen nach Raum und Zeit unwichtig gegenüber dem Einen, daß der Aufbau keinen Sinn hatte ohne den Kampf, der ihm vorhergeht und ihn begleitet. Der Dialog Thrasymachos ist voll des heftigsten Kampfes. Vom Zweiten Buch des Gesamtwerkes ab wird diese echt dramatische Bewegung durch jene ruhige Erörterung ersetzt, in der der Bau des Staates allein gedeihen kann. Nichts ist bezeichnender, als wie am Anfang des Ilten Buches die niederzuringende Gegenkraft in Glaukon und Adeimantos — Piatons Brüdern — neue Gestalt gewinnt, die beide aber ganz anders als Thrasymachos nicht wirkliche Widersacher sind, sondern nur dessen Logos erneuern (358 Β 7) und darüber hinaus die Argumente sammeln, die tausendfach über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit umlaufen (358 C. 362 E). Um so wichtiger ist es, daß ein echter Kampf vorausgegangen ist: die Ungerechtigkeit muß bekämpft und dialektisch besiegt sein, ehe das neue Reich der Gerechtigkeit im Logos gegründet werden kann. Und doch wäre dieser Sachverhalt als ein bloßes Vorher oder Nachher nicht hinreichend erfaßt. Thrasymachos scheidet ja nicht aus dem Gespräch. Auch später wird seiner ab und zu als eines Anwesenden gedacht. Der Beste, so heißt es gegen Ende des Neunten Buches (590 C) — und wir wissen: der Beste ist der, der in sich das Göttliche als Herrschendes hat —, muß über den Geringeren herrschen wie der Herr über den Knecht, aber nicht, wie Thrasymachos meinte, zum Schaden des Knechtes, sondern zu dessen Förderimg. Und wenn es hier so
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scheinen könnte, als ob der Gegensatz so gut wie erloschen wäre, so werden wir anderwärts eines besseren belehrt. Die Forderung des Sokrates, daß nicht die Jugend sondern gerade das Alter philosophieren müsse, wird, so heißt es im VI ten Buch (498 C), auf den Widerstand der Zuhörer stoßen, und Thrasymachos wird unter ihnen der erste sein. Im Gorgias (484 C) vertrat Kallikles, der aus dem Thrasymachos des älteren Dialoges hervorgewachsene Machtmensch, gegen Sokrates die These, daß nur die Jugend „philosophieren" dürfe, während der reife Mann das politische Leben — was man so nennt! — entschlossen ergreifen müsse. So ist es kein Zufall, daß gerade an unserer Stelle des Staates Thrasymachos als Gegner ausdrücklich genannt wird. Denn Sokrates' Forderung widerspricht, so ergänzen wir, der Gesinnung aller jener, die nur die Politik des gewöhnlichen Machtstrebens kennen. Wir wollen, so heißt es später zu Beginn des VIII ten Buches (545 A), die Fehlformen der Staatsverfassung betrachten, um dann die reine Gerechtigkeit und die reine Ungerechtigkeit nach dem Maße von Glück und Unglück, das sie bringen, aneinander messen zu können. Erst dann werden wir erkennen, ob wir der Gerechtigkeit den Vorzug geben sollen oder mit Thrasymachos der Ungerechtigkeit. Also ist es nur eine sehr ironische Urbanität, wenn Sokrates sagt, er und Thrasymachos seien jetzt Freunde geworden, und Feinde seien sie auch vorher nicht gewesen (498 CD). Vielmehr ist die Feindschaft jener Gegenmacht, die in Thrasymachos dargestellt, bekämpft und besiegt worden war, im geheimen immer gegenwärtig. Piaton hat in der Reifezeit den leidenschaftlichen Kampf seiner jüngeren Jahre nicht als abgetan, vielmehr als die Voraussetzung sicheren Bauens gesehen. Das drückt sich üi der Ebene künstlerischer Gestaltung darin aus, daß er den frühen Kampfdialog Thrasymachos zum Vorbau seiner Politeia oder mit seinen eigenen Worten (357 A) den Logos zum Proömium macht und die Person dieses kräftigsten Gegenspielers immer anwesend sein läßt. Darauf aber, daß das Kampfgespräch dem Aufbaugespräch nicht nur vorangeht, sondern in einer ständigen Spannung zu ihm steht, beruht es mehr als auf irgend etwas anderem, daß die Politeia als Ganzes genommen trotz allem keine in Dialogform gezwungene Lehrschrift ist, sondern echter Dialog3). E i n a r b e i t u n g . Bei der Betrachtung des Thrasymachos-Oialogs Buch I 348 wurde früher4) ein Stück ausgesondert, das Piaton eingearbeitet 3 4 5 ^
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haben muß, als er den ursprünglich selbständigen Bau zum Vorbau machte. Diese Einarbeitung ist jetzt auf ihre Bedeutung für die Struktur des Ganzen zu prüfen. Thrasymachos hat durch die Argumente des Sokrates unerschüttert in ausführlicher Rede (343 Β—344 Ε) das Wesen der Tyrannis entfaltet und sie als höchste Kraft und höchstes Glück gepriesen. Aber bevor nun Sokrates zum Angriff gegen diese Stellung vorgeht (348 C ff.), steht da jenes eingearbeitete Stück, das überraschenderweise mit deutlichen Worten zurückgreift, (ετι γαρ τά Ιμπροσθεν ίπισκεψώμεθα 345 Β 9) auf den schon abgeschlossenen Kampf gegen die These von der „Gerechtigkeit als Vorteil des Stärkeren". Dort hatte Sokrates gezeigt (341 D): Jede Kunst will ihrem Wesen nach im höchsten Grade vollkommen sein (τελέαν είναι). Ihre Vollkommenheit aber ist, daß sie im Sinne ihrer besonderen Aufgabe wirkt (αύτή αύτη τό συμφέρον σκέψεται 342 Β 1). So die Medizin, die Pferdezucht, so auch die Kunst des Herrschens, die mithin nie den Vorteil des Herrschenden bezwecken kann. Jetzt in dem Zwischenstück heißt es erneut: Jede Kunst wirkt den nur ihr eigenen Nutzen (ώφελίαν Ιδίαν 346 A 6). So die Medizin, die Steuermannskunst, so auch die Kunst des Herrschens, die mithin nie den Vorteil des Herrschenden bezwecken kann. Warum wird hier noch einmal mit wenig andern Worten und Beispielen derselbe Weg gegangen ? Offenbar um der verblüffenden Paradoxien willen, die hier folgen: Kein wahrer Herrscher herrscht freiwillig (345 E). Er muß dazu gezwungen werden durch Lohn oder Strafe. Das ist so aufreizend gesagt, daß Glaukon, der bisher noch gar nicht am Gespräch beteiligt war, um Erklärung bittet. Nun zeigt Sokrates: Die üblichen Belohnungen, Geld und Ehre, sind keine im eigentlichen Sinne erstrebenswerten, wie denn die Worte „Geldliebe" (φιλάργυρον) und „Ehrliebe" (φιλότιμοv) geradezu tadelnden Sinn haben. Die Strafe ferner, von der vorher gesprochen wurde, ist diese: von Schlechteren beherrscht werden. Wenn also ein Staat vollkommener Menschen entstünde (ττόλις άνδρών άγαδών εΐ γένοιτο 347 D 2), so würde niemand sich zum Herrschen drängen. Aber das wird abgebrochen und nun erst der Kampf gegen jene feste Stellung des Thrasymachos von Grund aus begonnen (£ξ dpxfjs 348 Β 8). Wer sind die Herrscher, die wider Willen zum Herrschen gezwungen werden müssen ? Was ist der Lohn hoch über Geld und Ehre ? Man
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kann nur antworten, wenn man die späteren Bücher des Staates kennt. Dann aber weiß man: Die Herrscher sind die PhilosophenWächter, der Lohn ist das Leben in der Erkenntnis, Philo-sophie steht höher als Streben nach Ehre und Streben nach Reichtum. Wie muß nun, so lautet die Frage, der Staat aussehen, in dem solche Herrscher, solcher Lohn und die entsprechende Strafe möglich sind ? Das wird hier mit der Bedingung „wenn ein Staat vollkommener Menschen entstünde" ganz von fern angedeutet. Aber wie fern auch immer, nur an dieser Stelle des Ersten Buches taucht gleichsam wie eine Luftspiegelung gegenüber dem Preise der Tyrannis der wahre Staat eben auf, um sofort wieder zu verschwinden. Ihn für einen Augenblick wenn auch mehr als Rätsel und Fragezeichen hinzustellen, das war Piatons Absicht, da er jenes Verbindungsstück einarbeitete. Er gab damit dem frühen, man könnte sagen flächenhaften, Dialog Thrasymachos einen Hinweis auf jene Tiefendimension, in der das Werk vom Ilten bis zum Xten Buch sich durchaus bewegt·.
Reden des Glaukon und Adeimantos: Erneuerung der Gegenkräfte Um endgültig die neue Wendung von der Gerechtigkeit zum Staat χ jj. der Gerechtigkeit zu vollziehen, läßt Piaton am Anfang des Buch II ° 9ΚΟΌ 9ΛΓ II. Buches den energischen (άνδρειότα-ros ών) Glaukon Einspruch gegen den Verzicht des Thrasymachos erheben5). Dessen Logos will er erneuern, gerade damit am Gegenteil sichtbar werde, welche Kraft Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ,,an und für sich in der Seele" ihres Trägers hat, ganz ohne Rücksicht auf äußere Folgen. Und Adeimantos wird sich dem Bruder anschließen. So ballen sich die Gegenkräfte, die Sokrates niederzuringen (κατατταλαϊσαι 362 D 8) hat, in zwei großen Reden des Brüderpaares zusammen. Je weniger die beiden das, was sie sagen, als ihre eigene Meinung sagen, um so schärfer tritt in ihren Reden die furchtbare Zersetzung der menschlichen Norm vor Sokrates hin, der allein sie heilen kann. Wir erinnern an den Inhalt dieser Reden, fragen dann, wie sie herausgewachsen sind aus Piatons früherer Gedankenarbeit, und untersuchen zuletzt, wie durch sie der Bau des Werkes, in dem sie stehen, weithin bestimmt wird. σ
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Buch II R e d e d e s G l a u k o n . Die Rede des Glaukon ist dreiteilig. Der 8B—362C e r s t e Teil trägt an der Spitze den Satz: „von Natur", dem Wesen nach, sei Unrecht-tun gut, Unrecht-erleiden-müssen schlecht. Das wird noch gesteigert: das (von Natur) Beste sei es, straflos Unrecht zu tun, das (von Natur) Schlechteste, Unrecht zu erfahren ohne die Kraft, sich dafür rächen zu können. Dieser ursprüngliche Zustand, so wird in einer Genealogie der geltenden Moral (γένεση καΐ ούσία της δικαιοσύνης) nachgewiesen, ist dadurch verdorben worden, daß die Menschen sich aus Schwäche auf einen Zustand gegenseitigen Einverständnisses geeinigt haben (νόμους τίθεσθαι καΐ συνθήκας), den man „das Gerechte" nennt (όνομάσαι): man läßt das „Unrecht", und dafür läßt es der andere auch. Wer aber die Kraft hätte, diese Konvention zu zerreißen, der wäre verrückt, wenn er es nicht täte. Der zweite Teil weist nach und erläutert diesen Nachweis an dem Beispiel des Gyges mit seinem Zauberring: Wer gerecht handle, tue es nur aus Schwäche. Freiwillig handle eben niemand gerecht, sondern nur gezwungen (ουδείς έκών δίκαιος). (Damit ist der schärfste Widerspruch gegen den sokratisch-platonischen Satz von der Unmöglichkeit freiwilligen Unrechttuns formuliert. Anders gesprochen: diese sokratisch-platonische Paradoxie ist der Widerspruch gegen jene gewöhnliche Meinung.) Denn jeder sei überzeugt, daß Ungerechtigkeit nützlicher sei als Gerechtigkeit, also daß Ungerechtigkeit „gut" sei. Der dritte Teil unterbreitet dem Urteil und Richterspruch (κρίσις) die beiden entgegengesetzten Lebensformen, das gerechte und das ungerechte Leben, in vollkommener Reinheit. Das ungerechte Dasein wird ausgestattet gedacht mit dem Rufe der Gerechtigkeit, mit der Macht des Wortes und des gewalttätigen Handelns. Das gerechte Dasein wird von allem anderen entblößt außer eben von der Gerechtigkeit, entblößt sogar von dem Rufe der Gerechtigkeit. Dann wird das Schicksal des Gerechten ausgemalt, der in seiner Hilflosigkeit dem äußersten erdenklichen Unglück anheimfällt, und demgegenüber das Schicksal des Ungerechten, der mit den Früchten seiner Pleonexie sich bei den Menschen und sogar (nach der verwerflichen Vorstellung, die wir aus dem Euthyphron kennen) bei den Göttern behebt zu machen versteht. So zeigt die einfache Glücksrechnung, um wieviel das ungerechte Leben dem gerechten vorzuziehen sei.
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Diese Rede des Glaukon hat ihre Vorgängerinnen in dem platonischen Werk. Kallikles sprach sehr ähnlich im Oorgias (482 C ff.), und dessen Rede wieder sahen wir herauswachsen aus der des Thrasymachos in dem frühen Dialoge, der jetzt das I. Buch des Staates ausmacht (343 Β ff.) e ). Alle drei Reden kämpfen gegen die übliche aber unehrliche Wertung von Gerecht und Ungerecht, leiten diese Wertung aus Furcht und Schwäche ab, verbinden Ungerechtigkeit und Glück, Gerechtigkeit und Unglück. Seit dem Gorgias klärt das Begriffspaar Nomos und Physis die Lage und empfängt die Glücksrechnung durch den Blick auf das Schicksal des Sokrates ihre Intensität. In die Politeia klingen als stärkster Ton aus dem Oorgias außer den Warnungen des Kallikles noch die des Polos herein: dasselbe Drohen mit Folter und qualvollem Tode. Im ganzen ist Glaukons Rede — die ja nicht die Überzeugung des Redenden sondern eine weithin herrschende Ansicht darlegt — schwächer im Temperament als die des Kallikles, dafür geschärft im Aufbau und in der Herausarbeitung der beiden Lebensformen, die „wie zwei Statuen" (361 D) einander gegenüberstehen. Ein Motiv der Kallikles-Rede mußte wegfallen: der Kampf gegen die Philosophie als Lebensziel und für ihre Beschränkung auf den Jugendunterricht. Da die Politeia ein Erziehungssystem in systematischer Ausführlichkeit entwickeln wird, so mußte jener Kampf dorthin — nämlich in das VI. Buch (487 C ff.) — verwiesen werden und also aus der grundsätzlich gerichteten Rede des Glaukon verschwinden. Es ist für die drei verglichenen Reden bezeichnend, daß ein Rückweis auf die betreffende Rede jedesmal am Schluß des ganzen Werkes steht. Denn bis dorthin ist jedesmal die aufgestellte These niedergekämpft, und so beherrscht der Kampf um sie mit einer von Werk zu Werk wachsenden Spannungsweite das Gefüge. Im Thrasymachos - Dialoge reicht diese Spannung durch den zweiten Teil des Gespräches mit Thrasymachos, und am Schluß steht die „Glückseligkeit" des Gerechten, die „Unseligkeit" des Ungerechten erwiesen da (354 A, vgl. 344 B). Im Oorgias reicht dieselbe Spannung über das ganze Kallikles-Gespräch bis dorthin wo die Drohungen des Kallikles — „dir wird schwindlig werden und du wirst den Mund aufsperren", „man wird dich ohrfeigen, ohne dafür bestraft zu werden", „wenn dich jemand vor Gericht zieht, wirst du den Tod finden" (486 Α ff.) — im Munde des Sokrates wieder-
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kehren, vernichtet durch die Überzeugung: er wird mich töten, gewiß, aber sein Tun wird ungerecht sein und also schlecht (521 B). Und noch einmal im Mythos, wo Sokrates es dem Kallikles zurückgibt: „Vor den Unterweltsrichtern wirst du den Mund aufsperren, und es wird dir schwindlig werden, und wer will wird dich ohrfeigen" (527 A). In der Politeia endlich geht dieselbe Spannung über einen noch ungleich weiteren Raum: sie bestimmt im allgemeinen das Gefüge vom Anfang des II. bis zum Ende des X . Buches. Gipfelte die Rede des Glaukon in dem Vergleich zweier Lebensformen und in der Frage, wo das größere Glück zu finden sei, so wird diese Prüfung am Ende des IX. Buches vollzogen, nachdem in der Reihe der „verfehlten Verfassungen" eine absteigende Stufenfolge der Güte und zugleich des Glücks gezeigt worden war. Noch weiter gegen Ende, im X. Buch (612 B), taucht das Bild vom Gygesring wieder auf, und es hat sich ergeben, daß die Seele des Gerechten gerecht handeln müsse, ob sie diesen Ring trage oder nicht. Und es erweist sich das menschliche Schicksal, das Glaukon dem Gerechten vorausgesagt hatte, die Drohung mit Schande, Schmach und Qualen (361 E), vielmehr als für den Ungerechten gültig (613 DE) 7 ). Dann gibt wie imGorgias so auch hier der Endmythos von dem Schicksal der Seelen die letzte Antwort. Aber es versteht sich von selbst, daß, was sich so von Stufe zu Stufe vollzieht, nicht Ausweitimg, sondern eine Bereicherung der Struktur, ein Zuwachs an Dimensionen ist. Der letzte Teil des Thrasymachos beruht auf den Gegensätzen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Macht und Glück, auf diesen allein. Sie bestehen im Gorgias fort. Aber sie werden dort die Grundlage für zwei Lebensformen, die des Philosophen und die des politischen Rhetors. Noch stoßen die beiden im gegenwärtigen Staat aufeinander, der Bereich des Gerechten oder des Philosophen ist noch nicht zu einem Reich, dem Staat der Gerechtigkeit, erweitert. Dieser Schritt wird in der Politeia vollzogen. Sie nimmt den Urgegensatz des Thrasymachos von neuem auf, wie sie ja dieses Gespräch sich einverleibt, und macht ihn zur Grundlage zweier politischer Systeme: hier des wahren Staates (Buch II—VII), dort der verfehlten Verfassungen (Buch VIII und IX). Aber auch der Dimensionsgewinn des Gorgias geht nicht verloren: von den beiden Lebensformen, die dieser Dialog hingestellt hatte, wandelt sich die philosophische in das Erziehungssystem des wahren Staates,
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und die des Rhetor-Politikers wächst hinein in die verfehlten Verfassungen, bis schließlich am äußersten Ende dieser Reihe in der tyrannischen Seele, „die am allerwenigsten tut, was sie will" 8 ), die im Oorgias durch Kallikles verkörperte Kraft — oder Unkraft — wieder gegenwärtig ist. R e d e d e s A d e i m a n t o s . Glaukon hatte von der Position — Buch II nicht von der Gesinnung — des Immoralismus aus das Glück des 362 E—36' Ungerechten und das Unglück des Gerechten geschildert und sich dabei an die Folgen gehalten, die das So- oder So-Sein für das Leben des Betreffenden hat. Wir sahen, wie dieser Position am Ende des IX. Buchs der Nachweis antwortet, daß vielmehr der Gerechte glücklich, der Ungerechte unglücklich sei. Aber die Ungerechtigkeit nur durch das was aus ihr folgt zu entwurzeln, damit konnte sich Piaton nicht begnügen. Die feindliche Macht war erst dann gebrochen, wenn die Gerechtigkeit in sich selbst als gut, die Ungerechtigkeit als übel nachgewiesen wurde. Dieses Ziel vorzubereiten ist die Rede des Adeimantos da. Sie muß jenen Nachweis fordern und muß zugleich, um nach dem Wesen der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit an sich fragen zu können, eine Sphäre aufweisen, von der reine Gerechtigkeit und reine Ungerechtigkeit sich abheben kann. Damit wird die andere Tendenz der AdeimantosRede sichtbar: sie sammelt die Argumente jener halbschlächtigen und verhüllten „Ungerechtigkeit", die sich zu dem Radikalismus der Glaukon-Rede nicht entschließen kann, aber gerade darum so verbreitet und so gefährlich ist. Das populäre Lob der „Gerechtigkeit", so beginnt Adeimantos, gründet sich nicht auf ihr Wesen sondern auf ihre Folgen: Ruhm und Vorteil bei den Menschen, Gunst der Götter auf Erden und im Jenseits. Noch ärger ist eine andere Form (άλλο είδος 363 Ε 5), die Gerechtigkeit anzusehen: sie sei zwar „schön", aber mühsam zu gewinnen, während die Ungerechtigkeit angenehm und leicht zu erwerben sei, wenngleich „häßlich" (αίσχρόν). Freilich sei hier schön und häßlich ein Urteil der Konvention (νόμο?). In Wahrheit sei Ungerechtigkeit nützlicher als Gerechtigkeit. Sogar die Götter gäben oft dem Ungerechten Glück und dem Gerechten Unglück, wie sie denn überhaupt wetterwendisch und bestimmbar seien. Aus solchen Vormeinungen aber muß die Jugend folgern, daß das Sein ohne Schein keinen Zweck habe. Vielmehr müsse man sich mit einem illusionistischen Bilde von Tugend (σκιαγραφία
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άρετηί) umgeben, was nicht leicht, aber doch nicht unmöglich sei, wenn man sich die Waffen der Rhetorik zunutze mache. Man möge nur nicht glauben, daß die Götter hinter die Hülle dringen. Denn — so heißt es mit deutlichem Anklang an die Schrift des Gorgias Vom Nichtseienden und die des Protagoras Von den Göttern — entweder existieren sie nicht, oder sie kümmern sich nicht um die Menschen, oder man kann sie umstimmen und vor den Jenseitsstrafen Schutz durch die Mysterienweihen finden. Mit alledem erweist sich die Überzeugung von der Würde der „Gerechtigkeit" als im Innern erschüttert; und wenn man von der Ausnahme einer seltenen Genialität oder Erkenntnisklarheit (6e(qt φύσει ή έπιστήμην λαβών) in sittlichen Dingen absieht: für die breite Masse gilt allerdings der Satz, daß, wer gerecht handelt, nur nicht die Kraft hat ungerecht zu handeln. So viel von der Diagnose der sittlichen Krisis. Diese Auflösung der Normen, diese Verwirrung des menschlichen Gefüges hat — soll man sagen: ihre Ursache ? oder lieber: ihr sichtbarstes und erschreckendstes Ab- und Gegenbild? — in den Vorstellungen, die man sich von den Göttern macht. Man ist selbst so nichtig, daß man ihr Dasein überhaupt für ein Nichts erklärt, oder man überträgt die eigene Haltlosigkeit auf sie: Es bestehe kein notwendiger und fester Bezug zwischen ihrer Gabe an die Menschen und menschlicher Güte oder Schlechtigkeit; es gebe Mittel und Riten sie umzustimmen und die Jenseitsstrafen von sich abzuwenden. Verantwortlich aber für diesen Irrglauben und mitschuldig an der sittlichen Wirrnis überhaupt sind vor allem die Dichter: dieses Urteil zieht sich durch die ganze Rede des Adeimantos. Hesiod lehrt, „wie leicht der Weg zur Gemeinheit ist" (364 D); nach Simonides' Wort „siegt das Meinen auch über die Wahrheit" (365 C). Von den Heroen angefangen — durch wessen Mund sprechen sie als den der Dichter % — hat man Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit immer nur wegen der Folgen, nie wegen ihres Wesens, gerühmt oder getadelt (366 E). Was aber das Wichtigste ist: auch jene gefährliche Theologie stützt sich auf die Dichter. Daß man sich durch Riten von begangenem Unrecht lösen könne, daß die Götter durch Opfer und Gebet umzustimmen seien, an diesem Irrglauben sind Homer, Musaios, Orpheus schuld. So sieht man hier die Bewegung des Euthyphron in die Politeia münden. Denn Sokrates' Kampf wider jene Pseudo-Theologie ist
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mit schuld an der Anklage gegen ihn (Euthyphr. 6 A). Gegenwehr also, tief gegründet in Sokrates' Schicksal, ist Piatons Kampf gegen die überlieferte Mythologie, der die Politeia durchzieht. So richten Piatons Brüder, die die bestehende Krisis aussprechen und doch den Glauben an die „Gerechtigkeit" nicht verloren haben, an Sokrates den dringenden Ruf nach einer neuen Begründung. Denn keine der älteren habe es vermocht — sonst wäre eben die neue Krisis nicht da — die Überzeugung zu sichern, daß Ungerechtigkeit das größte Übel, Gerechtigkeit das größte Gut ist. Ausdrücklich wird der Blick von den praktischen Folgen wegund auf das Sein hingewendet: Was sind Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit rein für sich genommen? Wie erweist sich in der Wirkung auf die Menschenseele Ungerechtigkeit als übel und Gerechtigkeit als gut ? Der einzige der diese Frage beantworten könne, sei Sokrates; denn sein ganzes Leben habe er den Blick auf nichts als dies eine gerichtet. Durch diese Worte, die Piaton seinem Bruder mit hohem Nachdruck in den Mund legt, läßt er die Frage nach der Gerechtigkeit und die Antwort darauf, das heißt aber die Politeia als Ganzes, gegründet sein in der somatischen Existenz. Fragen wir, wie vorher bei der Rede des Glaukon, so jetzt bei der des Adeimantos danach, wie sie die Architektur des Gesamtwerks bestimmt, so ist auszugehen von jener Grundfrage nach dem Wesen der Gerechtigkeit. Diese Frage empfängt ihre Antwort im IV. Buch, wo in zwei weitgespannten Untersuchungen das System der „Tugenden" erst im Staat (427 D—434 B), dann in der Einzelseele (434 D—444 E) aufgewiesen wird. Innerhalb dieser beiden Systeme steht jeweils die „Gerechtigkeit" am letzten Platz. Auf sie wird aller Spürsinn gerichtet. Denn sie erweist sich schließlich als die strenge Ordnung, die jedes der beiden symmetrischen Systeme eigentlich zusammenhält. So wird dort die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit beantwortet, und es ist kein Zufall, daß, wo diese doppelte Untersuchung beginnt, ein ausdrücklicher Rückweis auf die Worte des Adeimantos (367 Ε 4) unverkennbar ist: man müsse nach dem Wesen von Gerecht und Ungerecht fragen, und welches von den beiden man besitzen müsse, um zu seiner Vollendung zu kommen, „ob nun alle Götter und Menschen es sehen oder nicht" (έάν τε λανθάνη Ιών τε μή ττάνταξ θεούς τε καΐ ανθρώπους 427 D 6). F r i e d l ä n d e r , Piaton III
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Aber diese Untersuchung des IV. Buches liegt nach vorwärts wie rückwärts in architektonischem Verbände. Nach rückwärts: Der Parallelismus zwischen Staat und Einzelseele wird im II. Buch gleich nach der Adeimantos-Rede hingestellt eben unter dem Aspekt, daß in beiden die Gerechtigkeit gesucht werden müsse (368 DE). Dann wird dieser Staat, der eine erweiterte „Seele" ist, vom II. bis ins IV. Buch ausgebaut, und als der Bau so weit wie für jetzt notwendig gediehen ist, kann die Suche nach der Gerechtigkeit angehen: das System der „Tugenden" entsteht. Nach vorwärts: Es handelt sich schon in der Adeimantos-Rede um das Wesen nicht nur der Gerechtigkeit sondern auch ihres Gegenteils. Nach diesem wird denn auch gefragt, sobald man sich über jene klar geworden ist, und wiederum ist der Bezug auf die Worte des Adeimantos „mag man es nun sehen oder nicht" (Ιάν τε λανθάνη έάν τε μή 445 Α 2), also die Unabhängigkeit des Seins vom Scheine, deutlich und wichtig. Die Suche nach der Ungerechtigkeit aber wird, kaum daß sie begonnen hat, am Ende des IV. Buches vorläufig abgebrochen und erst am Anfang des VIII. wieder aufgenommen : der Verfall der Seelenformen und der ihnen entsprechenden Staatsformen bis zur ungerechtesten hinab füllt die Bücher V I I I und IX. Dann zieht sich die Betrachtung auf die „innere Politeia" zusammen (IX Ende) und erhebt sich im X. Buch zu einem Blick auf die ewige Seele. Dort wie hier ist die Frage nach der Gerechtigkeit leitend, und ausdrücklich fällt zuletzt (612 B) der Blick rückwärts auf die Forderung des Adeimantos (II 367 D): man müsse suchen, was die Gerechtigkeit an sich selbst sei, unabhängig von „Belohnung und Beurteilung". Hatte Adeimantos davon geredet, daß der Mensch sich vor den Göttern verstecken könne (II 365 C), so ist das jetzt durch den Aufstieg in die Sphäre des wahrhaft Seienden und des Guten, also in die göttliche Sphäre, als Wahn kenntlich geworden und man sieht vielmehr die genaue Beziehung der göttlichen Liebe auf den Guten, des göttlichen Hasses auf den Schlechten (X 612 E). Aber damit ist die Strukturbedeutung der Adeimantos-Rede erst nach der einen Seite aufgewiesen. Noch einen Kraftstrom sendet sie aus, der nicht in einem einheitlichen Zuge das ganze Werk durchdringt, sondern in einzelnen Episoden ans Licht tritt. War die Adeimantos-Rede durchdrungen von der Überzeugung, daß an der moralischen Krisis die gefährliche Theologie der Dichter
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schuld sei, so ist der Kampf gegen diese Theologie und damit — scheinbar! — gegen die Dichtung überhaupt ein in immer neuen Episoden die Politeia durchziehendes Anliegen Piatons. Schon im II. Buch taucht es auf. Der Stand der „Wächter" hat sich kaum gezeigt, da ist auch schon die Frage da, die gar nicht früh genug gestellt werden kann: die Frage nach seiner Erziehung (376 C). Die Erziehung beginnt mit Mythen, d. h mit Märchen. Der Anfang ist überall das Wichtigste, die junge Seele ist bildsam. Buch II So muß schon gleich diese früheste Nahrung der Seele von dem 377 A—379A Staatsbildner geordnet werden. Aber von Kindermärchen zu sprechen ist gleichsam nicht im Maßstab der Politeia. „Mythos" ist ja auch Götter- und Heldensage. Und „in diesen größeren Formen werden wir die kleineren zu Gesicht bekommen". So nimmt das Gespräch zum ersten Male den in der Adeimantos-Rede gewiesenen Weg zum Kampf gegen Homer und Hesiod, die die „unwahren, täuschenden Mythen" verfertigt haben und dabei „nicht richtig zu täuschen" wußten (was also ihre Aufgabe gewesen wäre). Solche falschen Mythen sind die vom Kampf des Kronos gegen seinen Vater Uranos, des Zeus gegen Kronos, die gerade jungen Menschen das schlechteste Beispiel geben. Das Euthyphron-Motiv, das wir in der Rede des Adeimantos gewahrten, wird deutlicher und ist auch weiterhin zu verspüren, da Sokrates in unserm Staate alle Mythenerzählungen und Bilddarstellungen vom Kampf der Götter gegen die Götter verbietet 9 ). Welches sind nun aber die wahren Mythen, die wir an die Stelle der falschen setzen müssen ? Diese Frage lehnt Sokrates „für jetzt" ab (379 A 1) und verweist damit vielleicht auf den Schlußmythos der Politeia oder auch auf Timaios und Kritias. Jetzt werden nur die Grund- Buch II formen gelehrt, in denen die Dichter wahre Mythen bilden müssen, 383 C Grundformen des Wissens von der Gottheit (τύποι ττερί θεοAoyias 379 A 5). Der Gott ist gut, das ist der erste „Grundsatz"; die Gottheit wandelt sich nicht, das ist der zweite. Damit sind alle Mythen verboten, die die Götter zu Urhebern irgend welches Übels machen, und alle Mythen, die von Verwandlung und überhaupt von Täuschungen der Götter handeln. Welche systematische Bedeutung diesen Sätzen innewohnt, darüber wird später zu reden sein. Hier muß sichtbar werden, wie die Rede des Adeimantos die moralische Krisis in den engsten Ursachenzusammenhang mit Poesie und Theologie gebracht hatte, und wie nun sofort mit dem 5·
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Werk der Erziehung, als dessen Vorbedingung und Anfang, auch der Kampf gegen die große hellenische Dichtung beginnt und der Ersatz ihrer Grundformen durch eine reinere Ansicht über das göttliche Wesen. Buch III Der Kampf gegen die Dichter geht weiter. Gefragt wird nun, 3 8 6 A — 3 9 2 C welche sittlichen Eigenschaften als Ergebnis der Erziehung wünschbar sind in unserm Staate. Und bei jeder einzelnen, der Tapferkeit (386 A), dem Ernst (ού φίλογέλωτα; 388 Ε), der Sophrosyne (389 D), der Freiheit von Geldgier (390 D), überall wird gegen Homer gekämpft, der gerade das Gegenteil fördere: durch ein falsches Bild vom Jenseits die Furcht, durch seine mißgeformten Helden alle Art von Maßlosigkeit. Buch III Aber auch damit nicht genug. In der musischen Erziehung fortopnp nqrrTi fahrend kommt Sokrates zum Kapitel (so möchte man hier sagen) vom dichterischen Ausdruck (περί λέξεως). Er zeigt von Homer ausgehend den Unterschied zwischen dichterischer Erzählung (διήγηση), nachahmender d. h. dramatischer Darstellung (μίμησίζ) und der aus beiden gemischten Form. Er fragt, ob unsere Wächter sich dieser mimetischen Form, vor allem also — aber keineswegs nur — der dramatischen Dichtung, sollen bedienen dürfen, und entscheidet, daß man mit einem J a gegen den Grundsatz unserer Staatsgründung verstoßen würde: Wo jeder nur eins tun darf und nicht vieles, wo es sich darum handelt, daß der rechte Mann (άνήρ άγαθό; 395 D 6) gebildet werde, da ist solche Verwandlung in fremde Wesensart untersagt, und dementsprechend müssen Harmonien und Rhythmen frei von schroffemUmschlagen (μεταβολαί 397 B6) sein. „Denn nicht zwiefach ist der Mann bei uns und nicht vielfach, da jeder nur eines tut" (397 E). Es ist gewiß kein Zufall, daß in diesem großen Stück Erziehungslehre Adeimantos der Gesprächspartner ist (von 376 D bis 398 C). Denn in seiner Rede erschien zuerst als Aufgabe der Kampf gegen die Dichter. Der zieht sich auch weiter, nicht eigentlich den Grundriß bestimmend, wohl aber episodisch, durch das ganze Werk. Buch VIII Eine kleine, ausdrücklich als Abschweifung (έξέβημεν 568 D 4) 568 A—D bezeichnete Episode steht am Ende des VIII. Buches bei der Darstellung der „tyrannischen" Staatsverfassung. Ein Tragödienvers — „Tyrannen werden weise durch der Weisen Gegenwart" — gibt Gelegenheit von neuem ausdrücklich zu sagen, daß wir die
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Tragödiendichter als Lobpreiser der Tyrannis in unsern Staat nicht aufnehmen werden, daß sie aber in den andern Staatsformen, je weiter diese von der reinen entfernt sind, um so höhere Ehren genießen, die höchsten in Tyrannis und Demokratie. Mit Piatons Erfahrungen aus Athen und Syrakus verbindet sich hier ersichtlich ein systematischer Gedanke. Wie jeder Staatsform ein bestimmter Menschentypus, so ist ihr auch ein bestimmter Dichtertypus zugeordnet, und man ermißt an dem Abstand zwischen echter Dichtung und der Tragödie, wie sie heut ist, zugleich den zwischen wahrem Staat und Tyrannis. Man ahnt auch, welches Drama — Tragödie und Komödie zugleich — Piaton dem wahren Staat zuordnet. Wie wichtig dieser Gegenstand für Piaton ist, wird aus jener BuchX großen Episode am Anfang des X. Buches klar, wo kurz vor d e m 5 9 5 " ^ - 6 0 < Schlußmythos noch einmal das Thema aufgenommen wird von der mimetischen Dichtung und der Feindschaft des neugegründeten Staates gegen sie. Wir haben früher zu zeigen versucht, wie sehr hier Piaton verhüllt von sich selber spricht10). Jetzt muß gesehen werden, wodurch diese Erörterung sich von der des II. Buches, an die sie doch anknüpft, wesentlich unterscheidet. Die Gesamtlage hat sich verändert. Zwischen beiden Episoden liegt erstens der Aufstieg zum Ideenreich. Damit ist zweitens das gestufte System der Denkformen deutlich geworden. Und drittens ist der vollkommene Staat und als sein Ebenbild die Staatsverfassung in der Menschenseele vor unseren Augen erwachsen. Damit hat alles das, was im II. Buch vorläufig und empirisch war, seine systematische Festigkeit empfangen. Hat man die Stufenfolge: Eidos, Gegenstand der Erscheinungswelt, mimetische Darstellung dieses Gegenstandes begriffen, so sieht man, daß „der Tragödiendichter als mimetischer Dichter den dritten Rang hat vom König und der Wahrheit" (597 E) 11 ). Hat man die Erkenntnisformen im Blick, so weiß man, daß der nachahmende Künstler nicht wie der Verfertiger des Dinges eine „rechte Meinung", geschweige denn wie der Gebraucher ein klares Wissen hat über den Wert oder Unwert dessen, was er nachbildend schafft, sondern höchstens eine abbildhafte Vorstellung (είκασία 511 Ε). Hat man die Struktur des wahren Staates und der wahren Seele erfaßt, so weiß man, wie der Dichter, gerade je „poetischer" er ist, um so mehr die leidenschaftlichen Elemente in jenen Strukturen stärkt auf Kosten der
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vernunftvollen, und wie er damit das Gleichgewicht und Herrschaftsgefüge stört, das doch zu wirken ganz allein unser Anliegen ist. So tritt denn das Verdikt gegen Homer fast am Schluß des Ganzen noch einmal systematisch gefestigt vor den Leser, der seit der Rede des Adeimantos im II. Buche ahnt, welchen Anteil „Homer" an der sittlichen Katastrophe hat, wie „ungerecht" also gegen Homer der neue Staat eben darum sein muß, weil er die ewige Gerechtigkeit zu erneuern bestimmt ist. Schon im Gorgias (502 B) tauchte unter den Schmeichelkünsten neben Flötenspiel, Kitharodie, Dithyrambos die Tragödiendichtung auf. Sie erwies sich als eine Form der Rhetorik und verfiel derselben Verurteilung. Denn sie gehört auf die Seite der „Lust", ist also Feindin der Philosophie. Wie alle Kräfte und Kämpfe des Gorgias im Staat wiederkehren, so auch der Kampf gegen die Tragödie. Und wie alles andere so ist auch er in die neue Dimension überführt. Die Tragödie gehört mitsamt ihrem Ahnherrn Homer auf die Seite der verdorbenen Verfassungen, also zu dem, was dem wahren Staat ferngehalten werden muß. Was im Gorgias für einen Augenblick auftauchte, kommt im Staat immer wieder ans Licht als ein das Ganze durchziehender Kraftstrom, der in der AdeimantosRede am Anfang des II. Buches seinen Ursprung hat. Ursprünge der Staatsgemeinde II 1. Die kleinste menschliche Gemeinschaft entsteht aus dem Bedürfnis 36sf&—376C rü^ht genügenden Menschen. Vier oder fünf in ihrem Handwerk sich ergänzende Männer bilden die ursprünglichste, die auf das Notwendigste beschränkte Polis (άναγκαιο-τάτη πόλις). Sie vergrößert sich um andere unentbehrliche und sich weiter ergänzende Berufe. Aber sie bleibt einfach, so einfach, daß das anmutig scherzende Bild ihres täglichen Lebens und ihrer Feste den Widerspruch des Glaukon herausfordert. Und nun entwickelt sich aus dem „gesunden" Staate, wie Sokrates ihn nennt, aus dem „Schweinestaat", wie Glaukon ihn schilt, ein zweiter, der „üppige" (τρυφώσα) oder der „entzündete" (φλεγμαίνουσα). Es ist bezeichnend, welche neuen Berufe hinzukommen: Musikanten, Dichter, Rhapsoden, Kunsthandwerker, Ammen, Barbiere, Köche, kurzum Vertreter jener Künste, die der Gorgias (464 C ff.) „Schmeichelkünste" genannt und auf das Prinzip des Vergnügens zurückgeführt
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hatte. Auch die Ärzte sind hier (373 D) in schlechterer Gesellschaft als im Qorgias: in dem entzündeten Staat braucht man ihrer viel mehr als in dem gesunden, in dem von ihnen überhaupt nicht die Rede gewesen war. Das Land wird für viele Bewohner zu klein; man greift nach dem des Nachbarn. Wie nahe Lust und Pleonexie liegen, auch darüber hatte der Qorgias uns belehrt. So entsteht der Krieg, und damit werden die Krieger oder „Wächter" als besondererStand herausgehoben. Wie ihre,,Natur"sein,,muß", damit sie , ,gute" Wächter seien, wird gefragt; die Verbindung von, ,Mannheit" und „Milde" (ττραότης) erweist sich als notwendig. Hier (376C), wo die Erziehung der Wächter beginnt, woAdeimantos wieder für eine lange Zeit statt des Glaukon Gesprächsperson wird, ist ein natürlicher Halt, an dem wir fragen, was dieses Aufdecken der Ursprünge für das Ganze zu sagen hat. „Wenn wir den Staat als werdenden anschauen, werdend nicht in der empirischen Wirklichkeit, sondern in der höheren Wirklichkeit von Rede und Denken (γιγνομένην λόγω), dann werden wir auch die ihm zugeordnete Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit als werdend zu Gesicht bekommen" (369 A). Also wir sollen das Wesen erfassen, indem wir das Werden „von Anfang und Ursprung an" betrachten: ein notwendiges, in sich sinnvolles Wachstum geschieht vor uns. Ausdruck dafür ist, daß das Wort Physis samt dem zu ihm gehörigen Verbum des ursprünglichen Wachsens (κατά φύσιν, φύεσθαι) in unermüdlicher Wiederholung fürs erste die Darstellung beherrscht (370 Α ff.) 12 ). Dazu kommen, gleichfalls immer wiederkehrend, Ausdrücke des Bedürfens (χρεία, δεΐσθαι, ττροσδεϊσϋσι, ένδεής) und der Notwendigkeit (δει). Denn in der „Natur", im Wesen, sind Forderungen angelegt, die erfüllt sein müssen, damit das Ding „zu seiner Physis" komme. Und was bedeutet dieses Wachstum im Gefüge des Gesamtwerks, da doch Piaton die Frage nach der Entstehung menschlicher Gemeinschaft nicht im Sinne irgend einer heutigen Soziologie oder Prähistorie stellt13)? Etwa Folgendes: Aus diesen Anfängen wächst zuletzt die platonische Polis auf. Sie ist also Gewächs, nicht Maschine. Und wie aller echte Ursprung auf immer bestimmend bleibt für das, wovon er Ursprung ist, so müssen auch diese Anfänge fortdauern in dem vollkommenen Staat. Doch wir sollen ja die Gerechtigkeit in diesem Werden zu Gesicht bekommen. Darauf wird also, kaum daß der „gesunde Staat" da
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ist, die Frage von neuem gerichtet (371 Ε 12): wo ist sie ? Die Antwort klingt nicht sehr ergebnisreich: ihr Ort sei in dem wechselseitigen Bedürfnis und Verkehr (kv χρεία) jener einander ergänzenden Berufe. Das ist eher weniger, als schon im Thrasymachos gesagt worden war: Gerechtigkeit habe ihren Bereich in den Geschäften, in der Gemeinschaft, im Bedürfnis (συμβόλαια, κοινωνία, χρεία I 333 Α ff.). In der Tat, wir stehen noch nicht dort, wo mehr gesagt werden kann. Denn Gerechtigkeit im strengen Sinne gibt es erst dann, wenn es Logos gibt. Aber warum wird überhaupt die Frage nach dem Ort der Gerechtigkeit schon hier gestellt und, wenn auch noch so vorläufig, beantwortet ? Das Prinzip der Gerechtigkeit wird sich später erweisen als die Selbstbeschränkung jedes Standes im Staate und jedes Bezirks in der Seele auf seinen besonderen Bereich. Dieses selbe Prinzip nun, daß jeder ,,das Seinige tue", ist hier in einer Vorform schon vorhanden. Die Handwerkserzeugnisse werden reichlicher und schöner, wenn jeder nur eines seiner Natur entsprechend betreibt (370 C). Also naturhaft eingewachsen und damit wesenhaft zugehörig ist aller echten menschlichen Gemeinschaft jenes Tun-des-Seinen, das dann in der platonischen Form der ideenhaften Staatsgemeinde zur Reife gedeiht. Dieses Prinzip, daß „jeder das Seine tut", kann freilich arg mißdeutet werden als Selbstsucht oder stolze Unabhängigkeit. Jemand kann „das Seine tun" entweder zu seinem eignen Vorteil oder für das gemeine Wohl: so unterscheidet Sokrates fast gleich zu Anfang die beiden Möglichkeiten (369 Ε 2 — 370 A 4). Dann kehren das Wort „gemeinsam" und seine Ableitungen immer wieder (369 Ε 5. 370 D 6. 371 Β 5. Ε 2); „Anteil geben" (371 Β 4) ist ein anderer Ausdruck für dasselbe Prinzip; „nicht für sich selbst" (370 C 9) ist die negative Entsprechung. Nur so, wenn es sich auf das Gemeinwohl richtet, ist Tun-des-Seinen gemeinschaftbildendes Prinzip und bleibt es in immer höheren Rängen. Genau dort, wo das Höhlengleichnis und seine Deutung an uns vorbeigezogen sind und nun dem Philosophen seine Aufgabe in dem wahren Staat angewiesen wird, fallen die Worte: „sie werden einander Anteil geben" (VII519 Ε 4), sie müssen „für die anderen sorgen" (520 A 8), und verboten wird „sich zu wenden, wohin jeder m a g " (520 A 3). Man erwäge, wieviel von diesem Höchsten schon auf der frühsten Stufe des Staatsbaues vorhanden ist!
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Was Piaton hier den Sokrates erfinden läßt, gehört in den breiten Strom des Nachdenkens über die Anfange menschlicher Kultur14). Er beginnt bei den Griechen mit Hesiods Mythen von den Zeitaltern und von Prometheus und setzt sich in den Dichtungen fort, die den Orpheus zum Kulturbringer machten. Aischylos im Prometheus und Sophokles in dem großen Chorlied der Antigone wandeln dieses uranfängliche Geschehen zum tragischen Geschehen. Was in Epos und Tragödie Mythos der Vorzeit war, wird bei Anaxagoras und Archelaos zu einem Stück rationaler Urgeschichte, und Demokrit führt diese Linie weiter, vielleicht vor ihm schon Protagoras, wenn auch ungewiß bleibt, wie wenig oder wie viel auf ihn zurückgeht von dem, was der platonische Protagoras erzählt. Mag auch in dessen mythischer Frühgeschichte ein unbestimmbares Maß überlieferten Gutes stecken, es ist doch platonisches Eigentum geworden. Und wie nahe kommt diesem Mythos der Bau der anfänglichen Polis, da dieselben fünf ursprünglichen Berufe hier wie dort und sogar fast in derselben Reihenfolge vereint erscheinen. Beobachte man nun, in welchem Ton Sokrates diese menschliche Urgeschichte darstellt, und wie seine Zuhörer ihm diese Erfindung abnehmen. „Vielleicht ist es so", antwortet Adeimantos (370 A 5), als jene kleinste Gemeinde mit dem Prinzip der Arbeitsteilung vor ihm steht; und dasselbe „Vielleicht" kehrt wieder, da Sokrates seine etwas erweiterte Urgemeinde nunmehr als „vollständig" erklärt (371 Ε 9). Ja Sokrates selbst nimmt das zweite „Vielleicht" auf (372 A 3), und dann wird man sich besinnen, daß er seine ganze Konstruktion mit einem solchen „Vielleicht" begann (368 Ε 7). Also kommt der heftige Widerspruch des Glaukon nicht so plötzlich, wie es scheinen könnte, wenn man jenes wiederholte „Vielleicht" überhört. Blicken wir von der sokratischen Konstruktion des Urstaates rückwärts, so erwies sich als Vorstufe der Mythos, den Protagoras erzählt. Blicken wir vorwärts, so erwächst aus der ursprünglichen Staatsgemeinde, wie Sokrates sie als notwendig entstehen läßt, der Idealstaat, der die Sonderung der Berufe ins Große ausgeweitet bewahrt und die Gerechtigkeit, die in einer Vorform dort schon angelegt ist, zur herrschenden Tugend erhebt. Auf der Höhe des Ganzen wird Sokrates die Seinsart dieses Idealstaates mit einem ebenso schlicht-treffenden wie unübersetzbaren Ausdruck
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bezeichnen, in dem sich Mythos und Logos vereinen (ήν μυθολογοϋμευ λόγω 501 Ε 4). Mythos und Logos oder Ernst und Spiel also durchdringen sich gleich auf der untersten Stufe, und jenes wiederholte „Vielleicht" ist Symbol für diese Durchdringung. Nach alledem ist die viel verhandelte Frage fast schon beantwortet, was es mit diesem „gesunden Staat", den Glaukon einen „Schweinestaat" nennt, denn auf sich hat. Daß Piaton zu irgendeiner Zeit in dieser primitiven Vereinigung von Menschen so etwas wie eine Wunschform staatlicher Gemeinschaft gesehen habe — im Sinne einer Utopia oder eines Contrat Social — ist ebensowenig denkbar, wie irgend etwas darauf weist, daß er die Staatsutopie eines Denkers oder Dichters verspotte oder in seine Konstruktion einbaue. Solche Hypothesen führen nur von der Einsicht ab, daß hier die Vorform des gerechten Staats in natürlichem Wachstum vor uns entsteht, so wie sie „vielleicht" gewesen ist. Wenn Glaukon gröblich von einem Schweinestaat spricht, so benennt er die gesunde Staatsgemeinde aus der Gesinnung jener Lust, die aus der gesunden die entzündete machen wird. Was aber besagt schließlich das Nacheinander dieser beiden Entwicklungsstadien ? Auch darin muß Piaton Prinzipielles, nicht Historisches oder gar Polemisches aussprechen. Der gesunde Staat enthält in einer Vorform das Prinzip der „Gerechtigkeit", aber noch ohne den Logos und also nicht als Arete im Sinne des vollendeten Seins. So ist es „natürlich", daß der Urtrieb des leiblichen Daseins, die „Lust", aus welcher letztlich die „Ungerechtigkeit" erwächst, in jener ungesicherten Form der Gemeinschaft sich durchsetzt. Es ist derselbe Fall, der auf der Stufe des Logos von dem wahren Staat zu den verfehlten Staatsformen führen wird. Also auch dieser Gegensatz ist angelegt in der „Natur". Wie aber selbst die schlechteste unter den verfehlten Formen noch lebt von dem letzten Abglanz der reinen, so ist auch auf unserer Stufe die „kranke" Staatsgemeinde nicht alles gesunden Bestandes entleert. Der Krieg entsteht aus dem Bösen. Aber schon bei ihm ist es fraglich, ob er nur Böses wirke (373 E). Und vollends bei der Auswahl der Wächter wird sogleich das Prinzip des gesunden Staates wieder wirksam. Nicht etwa wird — wie doch in den meisten empirischen Staaten — der Landmann oder der Schuster zugleich Krieger. Sondern der Kriegerstand sondert sich ab, damit Einer nicht Vieles tue. Schließlich sind in den Wächtern jene gegen-
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sätzlichen und gerade darum in ihrer Polarität notwendig zu vereinigenden Eigenschaften angelegt, die auf der höchsten Stufe zu „Tugenden" werden, mutiger Sinn und Lernbegierde, wenn auch der Vergleich mit dem Haushund (375 E) lehrt, wie sehr wir uns auf dem Feld der Vorformen bewegen. So sieht man in der üppigen oder kranken Staatsgemeinde jene Gegenkraft wirksam, die zurückgedrängt werden muß, damit das platonische Reich gegründet werden kann. Aber der Trieb, die Gier (έτπθυμία), die auf Lust zielt, und die Energie, das Vorwärtsstreben (θυμοειδέξ) sind ja gleichfalls „von Natur", können also und sollen gar nicht ausgerottet werden, müssen vielmehr ihren Platz angewiesen bekommen, damit das Ganze vollkommen wird. Also ist in der „wahren" Staatsgemeinde nicht nur die „gesunde" aufgehoben, sondern auch die „üppige", diese freilich ihrer Fehler entkleidet, „gereinigt" (399 Ε 5). Erziehung der Wächter Musik, Gymnastik und Gerechtigkeit. Kaum ist sichtbar geworden, daß der Staat Wächter braucht, sofort erhebt sich die Frage nach ihrer Erziehung. So sehr ist Piatons Staat Erziehungsstaat, und so wenig darf man vergessen, daß der Staatsbau von Anfang an (368 DE) bestimmt war, „dasselbe in großer Schrift" zu zeigen, was in jeder einzelnen Seele als Möglichkeit vorhanden ist und ausgebildet werden muß. In jedem von uns (so ist wenigstens zu hoffen) besteht als Anlage etwas „Mutartiges", etwas also, das auf das Ganze des Staates gesehen der Stand der Wächter ist. Auch dieser Gegenstand, die Erziehung der Wächter, ist freilich nicht autonom, sondern er wird alsbald eingeordnet in die Grundform des Ganzen: die Suche nach der Gerechtigkeit und ihrem Gegenteil. Am Schluß aber heißt es, die beiden Künste, aus denen diese Erziehung besteht, „Gymnastik" und „Musik" seien nicht oder doch nur nebenher zur Bildung von Leib und von Seele bestimmt, wie die gewöhnliche Ansicht lautet (376 E). Vielmehr dienen beide der Seele, d. h. dem Eigentlichen im Menschen, und zwar seien sie da, um die beiden gegensätzlichen Kräfte, die die Auswahl der Wächter bestimmen (375 E), mutigen Sinn (τά θυμοειδές) auf der einen, geistiges Streben (τό φιλόσοφον) auf der andern Seite, in ein harmonisches Verhältnis zu setzen.
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Was hat das aber mit der „Gerechtigkeit" zu tun ? Alles, wenn man bedenkt, daß sie — für die man fast besser „Richtigkeit" sagte — sich später als die Idiopragie der Stände im Staat herausstellen wird. Diese aber beruht eben auf dem harmonischen Verhältnis der erziehenden Mächte. Nirgends wird das deutlicher als dort, wo im Beginn des VIII. Buches der Verfall einsetzt. Er geschieht, indem die Schätzung jener Mächte überhaupt, vor allem aber die der Musik im Verhältnis zur Gymnastik, sinkt, so daß die junge Generation un-musischer wird (546 D. 548 C). Damit ist die Probe darauf gemacht, daß der Bezug, in den beim Eintritt gleichsam in die „pädagogische Provinz" des Werkes hier Gymnastik und Musik und dort Gerechtigkeit tritt, nicht etwa einem formalen Beweggrund bequemer Stoffanordnung entsprach, sondern einem tiefen sachlichen Zusammenhang. II 2 a. D i e L o g o i . Mit dem „musischen" Unterricht wird begonnen, und BuchII3^6I) z w a r mit dem Gegenständlichen, den Logoi, das Wort in sehr weitem Sinn genommen. Zwei Arten gibt es: die wahren, d. h. die das Sein so aussagen wie es ist, und die trügerischen, täuschenden. Zur Erziehung gehören beide. Zuerst sollen die täuschenden, die Mythen, an die Reihe kommen, — worin unausdrücklich liegt, daß später über die wahren gehandelt werden wird. Diese Erwartung bleibt freilich unerfüllt, nicht etwa weil Piaton seinen Bauplan geändert hätte 1 5 ), sondern weil es „Wahrheit" erst dort gibt, wo die Vernunft dem Wahrhaft-Seienden begegnet. Also einer der vielen Hinweise von dieser mittleren Stufe des Staatsbaues auf die höchste, die in Buch V—VII. Wahrheit ist ja freilich, auch ohne daß es hier ausdrücklich gesagt würde, den täuschenden Mythen beigemischt 16 ). In den Grundformen der Gotteslehre (τύποι ττερί θεολογίας)17) werden zwei Normen hingestellt, nach denen der überlieferte Schöpfermythos zu reinigen sei. Erstens: Der Gott ist gut. Also kann er nicht Ursache von irgend etwas Schlechtem sein, und alle Geschichten, die den Zeus oder einen anderen Gott in solcher Rolle zeigen, sind zu verbannen. Zweitens: Veränderung und Täuschung ist mit dem Wesen der Gottheit unvereinbar. Darum sind alle Metamorphosen abzulehenen und alle Geschichten, in denen ein Gott den falschen Schein erzeugt, als wandle er sich. In der Form einer Kritik am Mythos und in der Form des Mythos selber sehen wir Winke, die wiederum erst in der Mitte des Werkes zur deutlichen Erkenntnis
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werden18). Über den mit Namen benannten Göttern erscheint das Agathon, im Höhlengleichnis mit dem Bilde der Sonne gefaßt, während schuld an allem Schlechten, d. h. an allem Irrtum, das ist, was dort als „Höhle" (im Timaios als der „Behälter") verbildlicht wird. Die Unveränderlichkeit der Götter: das wird auf der Stufe der Dialektik erscheinen als die Ewigkeit des reinen Seins, der Gegensatz zu aller Täuschung als die reine Erkenntnis, Sein und Erkenntnis wechselweise streng aufeinander bezogen, „göttlich" das eine wie das andere. So strahlt schon auf die niedere Ebene von der höchsten her das Licht der Wahrheit-Wirklichkeit ein. Nachdem die Grundsätze durchgesprochen worden sind, denen die Mythen „von den Göttern, Dämonen und Heroen und von einem Jenseits" (392 A) gehorchen müssen, bleibt zu fragen, was die Dichter von den Menschen erzählen sollen. Aber diese Frage wird, kaum daß sie aufgeworfen ist, als unzeitig abgewiesen. Denn damit sie beantwortet werden kann, müßte der Preis der Ungerechtigkeit, wie wir ihn vorher aus dem Munde des Thrasymachos vernahmen, und wie er jetzt mit wörtlichem Anklang wiederholt wird (392 B, vgl. I 343 C), endgültig vernichtet sein. Dazu gehört, daß wir uns vorher klar werden, „ein wie geartetes Etwas die Gerechtigkeit ist" (οίόν lern δικαιοσύνη 392 C 2) — das wird im IV ten Buch gezeigt — „und daß sie ihrem Wesen nach dem, der sie hat, förderlich ist" — dafür steht die Glücksrechnung am Schluß des IXten ein. Darauf also wird hier vorausgewiesen. Das Gesamtwerk aber beschließt jener große Mythos, der „von den Göttern, Dämonen, Heroen und vom Jenseits" handelt, doch gleichzeitig und recht eigentlich „von den Menschen", und nun nicht mehr in allgemeinen Vorschriften sondern in einem Beispiel zeigt, „wie man von ihnen reden muß". Der nun folgende Abschnitt vom Kampf gegen die mimetische Buch III Dichtung wurde vorher besprochen (S. 66), als wir der Wirkung 392C 398B der Adeimantos-Rede nachspürten dorthin, wo in scheinbar seltsamem Abbiegen die Suche nach der Gerechtigkeit zur Frage nach den dichterischen Formen und ihrer Eignung für den wahren Staat wurde. Ein Wink blieb dabei unbeachtet: „Vielleicht", sagt Sokrates (394 D 7—9), „ist die Frage noch viel umfassender; ich weiß es noch nicht; aber wohin der Logos wie ein Windhauch trägt, dorthin muß man folgen." Nichts mehr von dieser Aus-
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weitung ins scheinbar Unbestimmte. Wenn man aber (394 AB) von den Formen der Dichtkunst liest, so kann man nicht vergessen, daß Piatons eigner Dialog zwar nirgends „einfache Erzählung" ist, doch weithin zur „mimetischen" Dichtung gehört·— der reine Dialog wie Euthyphron, Gorgias, Phaidros — und vielfach Erzählung mit dramatischer Darstellung verbindet — der wiedererzählte Dialog wie Symposion, Phaidon, Staat. Als darauf Sokrates feststellt, Tragödie und Komödie seien einander scheinbar sehr nahe, und doch seien sie wiederum so verschieden, daß derselbe Künstler außerstande sei beide zu schaffen, muß man, ja soll man nicht an die Schlußszene des Symposions denken, wo Sokrates den Aristophanes und Agathon „einzugestehen zwingt": es sei Sache desselben Dichters beide Kunstgattungen in sich zu vereinen? Und weiter, wenn ganz im Gegensatz dazu in der Erörterung zwischen Sokrates und Adeimantos die menschliche Natur in immer kleinere Teile „zerstückelt" wird(395B), willPlaton wirklich, daß wir mit Adeimantos alles „höchst wahr" finden und uns diese Zerstückelung gefallen lassen, statt an Piatons universales Werk zu denken als den denkbar schärfsten Gegensatz zu solcher „Zerstückelung" ? Um kurz zu sein: man kann nicht überhören, daß wie am Ende des Symposions so hier Piaton von sich selber spricht und seinem eigenen literarischen Werk wenigstens andeutend den Platz in dem wahren Staat sichert, seinem Dialog, der erzählende und mimetische Form, Tragödie und Komödie in sich vereint und zu alledem Philosophie ist. II 2b. H a r m o n i e und R h y t h m u s . Auf die Logoi — das Wort umfaßt g ^ H I ^ Q e g e n s t ä n d e und die großen Formen der Dichtung — folgt, mit einem „danach" deutlich sich absetzend, der Abschnitt über Harmonien und Rhythmen, von denen doch schon vorher (397 BC) einiges gesagt worden war. Für die Einzelheiten beruft sich jetzt Sokrates zweimal auf Damon, den Musiktheoretiker, von dem viel mehr und Genaueres über diesen Gegenstand zu lernen sei 18 ). Wenn Damons Areopagitikos uns weniger fragmentarisch erhalten wäre — der Titel kennzeichnet diese Schrift als feierlich verantwortungsvolle Rede vor dem höchsten Gerichtshof Athens —, dann wüßten wir genauer, wie viel Piaton ihr verdankt, wie viel er als für seinen höheren Zweck unwesentlich beiseite ließ, und wie weit er über den Vorgänger hinausgeht. Bestimmte Harmonien und Rhythmen werden ausgeschieden als unangemessen für unsere Staatsgemeinde.
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Wenige bleiben als geeignet zurück, bestimmt, in ihrem Zusammenspiel die Polarität der reinen Gegensätze, der kriegerischen, mannhaften, energischen Anlage auf der einen, der friedlichen, besonnenen, maßvollen auf der andern Seite zu entwickeln und auszugleichen, — für Piaton eine grundsätzliche Polarität der menschlichen Anlage, die schon bei der Auswahl der Wächter bedeutsam war. Dann aber wird der Blick auf das Allgemeine von Rhythmus und Harmonie gerichtet. Die Verwandtschaft wird aufgewiesen, die zwischen rechtem Rhythmus, rechter Harmonie, rechter Redeweise (λέξις), schöner Haltung und Gestaltung (εΰσχημοσύνη), Schönheit des menschlichen Wesens (εύήθεια) besteht: das ist gleichsam die Tiefenerstreckung dieser musikalischen Grundkräfte bis in das Innere des Menschen. Ihre Breitenerstreckung aber wird sichbar in den Erzeugnissen aller Künste und Handwerke, in Leibern und allem anderen Gewächs. So liegt, da der Mensch immerfort von bildenden oder mißbildenden Gegenständen umgeben und unmerklich aufs Tiefste berührt wird, gerade in den anscheinend rein sinnlichen Elementen der musischen Kunst die wirkendste Nahrung der noch jugendlichen Seele. Rhythmus und Harmonie — in der Weite und Tiefe, wie sie vorher gesehen wurden — bereiten die Seele vor, bis dann später, „wenn der Logos kommt", der so erzogene Mensch ihn erkennt und ihn begrüßt um der Verwandtschaft willen (402 A). Wenn der Logos kommt: das geschieht auf dieser Stufe der Staatsgründung und Erziehung nirgends. Also weisen die Worte voraus auf den höchsten und innersten Kreis der Politeia (Buch V—VII), auf den Weg durch die mathematischen Wissenschaften zur Idee, zur Welt der Ordnung, zum Agathon. Wie aber sind gerade die sinnlichen Elemente der Musik Vorbereitung zu jenem Ziel? Es kann hier nicht die Fülle der Beziehungen ausgebreitet werden, in denen Piaton von der frühen Zeit bis in die späteste Rhythmus und Harmonie sah. Genüge der Hinweis, daß nach den Nomoi (664 Ε f.) Rhythmus der Name ist für die Ordnung der Bewegung, Harmonie für die Ordnung der Stimme; daß nach dem Timaios (90 D) Aufgabe der Seele ist, die geordnete Bewegung des Universums, sein Gefüge und seine Kreisläufe (αρμονίας τε καΐ περιφοράς), in sich nachzugestalten; daß nach dem Gorgias (507 Ε f.) die „Proportion unter Menschen und Göttern Großes vermag" und, durch sie bestimmt, „Gemeinschaft und Freundschaft
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und gute Ordnung und Zucht und Gerechtigkeit Himmel und Erde zusammenhält". Nimmt man noch dazu, daß Logos nicht nur vernünftige Rede, sondern auch Zahlenverhältnis bedeutet, und daß diese Bedeutung jederzeit mitsprechen kann, so wird klar, in welchem Sinne Rhythmus und Harmonie als Vorstufen für den Logos gemeint sind. Systeme der Ordnung sind jene ebenso wie dieser, nur auf verschiedenen Stufen der Sublimierung. „Wohlgefüge und Eurhythmie, nicht Erkenntnis" übermittelt die musische Erziehung, so wird später im VII. Buch (522 A) Sokrates sagen, als er auf unsere Erörterung noch einmal zurückblickt, um dann sofort mit der Zahlenlehre den Weg des Logos, den Weg vom Werdenden zum Seienden, zu eröffnen. Wie die vollendete musische Bildung zur Erkenntnis, so verhält sich der Gegenstand der einen zu dem der anderen. „Vollendet musisch ist man nicht eher, als bis man die Formen (Gestalten, είδη) von Zucht, Tapferkeit, freier und großer Gesinnung (έλευθεριότης, μεγαλοττρέττεια) und verschwisterte Gestaltungen wahrnimmt und neben ihnen auch ihr Gegenteil; wahrnimmt, wie sie sich überall umher bewegen20) und in mannigfaltigen Verkörperungen gegenwärtig sind (Ινόντα h 0I5 ενεστιν), sie selbst und Abbilder von ihnen" 21 ). So also sieht musische Bildung aus, in jedem Punkte ein Vorläufer der reifen Episteme, notwendige Vorstufe, ohne die man den dialektischen Weg zur Episteme gar nicht beginnen könnte. „Formen" (είδη) bekommt man hier wie dort zu Gesicht. Aber hier nimmt man sie wahr, dort (537 C) gelangt der Geist ohne alle Wahrnehmung zu dem WahrhaftSeienden. Hier bewegen sie sich in mannigfachen Verkörperungen umher, aber neben lebendig verkörperter Sophrosyne und Tapferkeit wird auch deren Gegenteil sichtbar. Dort schaut der Wagenlenker Geist sie so, wie sie an sich sind, und nur sie auf heilig reinem Postamente stehend (Phaidros 247 D. 254 B). Dabei ist ohne musische Bildung keine philosophische denkbar. Wer nicht in seiner bildsamsten Zeit rhythmisch und harmonisch geworden ist und Sophrosyne und was ihr verwandt und gegensätzlich ist in mannigfachen Verkörperungen erblickt hat, wird nie den Weg zur reinen Sophrosyne und zum Agathon emporsteigen können. 402D—403C Eros. Der Aufstieg von der irdischen Schönheit zur ewigen, und daß jene für uns die notwendige Vorstufe zu dieser ist, wird im
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Symposion und im Phaidros (250 C ff.) gezeigt. Wie dort Eros emporführt, so ist er hier auf der Vorstufe gegenwärtig, und hier wie dort trägt er für Augenblicke Züge des Sokrates. Der musische Mensch liebt den, in dem schöne Artung des Leibes und der Seele zusammentreffen, und wenn denn schon ein Mangel ist, so darf er nur auf der Seite des Leiblichen sein (wie bei Sokrates und bei Theaitet). Diese Liebe bändigt den mächtigen Trieb, der sich bis in den Wahnsinn steigern kann, durch Maß und Zucht. So erhebt sich aus dieser Betrachtung der ethische Imperativ (403 A 7—8): „Die richtige Liebe ist es, einen Zuchtvollen und zugleich Schönen auf maßvolle und zugleich musische Art zu lieben." Und die ethische Forderung wird in unserm neuen Staat zum Gesetz: nicht anders als mit seinem eignen Sohn solle man mit dem geliebten Freunde umgehen — wie es Alkibiades in jener Nacht mit Sokrates erfuhr (Symp. 219 CD). So gipfelt dieses Hauptstück, das von der Musik handelt, in der Liebe, die durch ethische Forderung und gesetzliche Regelung begrenzt wird, zu allertiefst aber dadurch bestimmt wird, daß wie im Symposion „das Schöne" Gegenstand des Liebens ist: „Denn es muß ja wohl der Bereich der Musik Ziel und Ende finden in der Liebe zum Schönen" (403 C)»2). ,,Wenn der Logos kommt", so hieß es früher (402 A) vorausdeutend. Muß man nicht fragen, was denn auf dieser höheren Stufe aus dem musischen Eros wird ? Wie jetzt mit seinem Namen der Abschnitt von der musischen Erziehung schließt, so wird im V. Buch, kaum daß das Wort „Philo-soph" in die Mitte getreten ist (474 C ff.), Eros für einige Augenblicke durch das Gespräch gehen, und man wird von denen, die nur die schönen Stimmen und Farben und Figuren lieben, hinüberblicken zu den Seltenen, die das Schöne-an-sich zu sehen imstande sind (476 B), zu denen, „die das Wahrhaft-Seiende zu schauen begehren" (τής αληθείας φιλοθεάμονες 475 Ε). Wer in Wahrheit lerngierig ist, so heißt es bald nachher im Kampf gegen die Verächter der Philosophie (VI 490 B), der verweilt nicht bei Vielheit und Schein, sondern er steigt zu dem Wahrhaft-Seienden empor und sucht es mit dem, was in der Seele diesem Seienden verwandt ist, zu ergreifen. Dann finden seine Wehen (ώδϊνες), die wie im Symposion (206 E) und Phaidros (251 Ε 5) mit Liebe notwendig verbunden sind, ihr Ende. So also überhöht in der Mitte des Werkes der philosophische Eros • F r i e d l ä n d e r , Piaton III
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den musischen. Den Stufenweg genau zu beschreiben hat Piaton dem Symposion vorbehalten. G y m n a s t i k . A r z t und R i c h t e r . Über die Gymnastik wird n a ° k d e r Musik kurz gehandelt. Nicht nur daß ein Sich-verlieren in technische Einzelheiten hier noch unangemessener wäre als auf dem Gebiet der Musik; es kam vor allem darauf an, den Irrtum abzuschneiden, als habe die Gymnastik ihren eigenen Richtungssinn. Darum wird zu Anfang (403 D) die Meinung bekämpft — die heute wieder herrschend zu werden droht! — wenn man nur den Körper tüchtig mache, so leiste er das gleiche Werk der „Ertüchtigung" an der Seele. Vielmehr ist es umgekehrt, und so kann auch die Aufgabe des Staatsbildners nur sein, den Geist (διάνοια) zu bestimmen, damit der so Bestimmte von sich aus die Einzelheiten auch der gymnastischen Erziehung regle. Und am Schluß wird die gewöhnliche Meinung, Gymnastik diene dem Körper, Musik der Seele (376 E), überwunden durch die höhere (411 E ) : beide dienen sie zuletzt der Seele, um deren polare Kräfte, die Kraft des Mutes und die der Erkenntnis — die Wächter bedürfen ja beider — in das richtige Verhältnis zu setzen. Darum erscheint die innige Verbindung der beiden Künste erst als Verschwisterung (404 E ) : Gymnastik wirkt körperliche Gesundheit, Musik seelische; dann aber als richtige Mischung: das Übermaß an Gymnastik oder an Musik macht denMenschen sei es zu hart, sei es zu weich (410D). Nur das richtige Maß der beiden Künste stellt die rechte Harmonie in der Seele her. So zeigt sich innerhalb dieses Abschnittes ein leiser aber deutlicher und echt platonischer Aufstieg von einer Stufe zur höheren. Aber man muß sich wundern, zwischen diesen beiden Stufen den größten Teil des Gesprächsstückes, das eigentlich von der Gymnastik handeln sollte, eingenommen zu sehen von Erörterungen über den Arzt und den Richter, wie sie sein und noch mehr wie sie nicht sein sollen, und denen in unserem wahren Staate der Raum nach Möglichkeit beschränkt wird. Indem wir die beherzigenswerten Einzelheiten den heutigen Juristen und Medizinern zu nachdenklichem Lesen überlassen, fragen wir nach dem Sinn dieses Exkurses und greifen, um ihn klarzumachen, auf das System der Künste aus dem Gorgias zurück 23 ). Wie die Gesetzgebung zur Aufgabe des Richters, so verhielt sich dort die Gymnastik zur Medizin: Leib und Seele, Vorsorge und Wieder her-
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Stellung, das waren die doppelten Prinzipien der Gliederung. Nichts ist bezeichnender als die Umformung auf dieser Stufe des Staates. Alles bleibt unverändert, nur steht an Stelle der Nomothesie die Musik. Man begreift das, wenn man erkennt, wie sehr im Staat fast alle Gesetzgebung durch die Erziehung abgelöst ist, und in welchen erstaunlich strengen Bezug zumal die Weisen der Musik und die staatlichen Gesetze gebracht werden nach dem Worte des Musik- und Staatstheoretikers Damon (424 C): „Nirgends ändern sich die Weisen der Musik, ohne daß zugleich die bedeutendsten Satzungen des Staates in Bewegung geraten." Im Oorgias stand neben dem System der echten das der Schmeichelkünste. Aus diesem taucht hier im Staat die Schlemmerkochkunst eben am Rande auf: „die syrakusanische Tafel" und „die sizilischen Delikatessen" (404 D); deutlicher dann die ärgste aus dieser Schar, die Rhetorik, die ganz wie im Gorgias darauf zielt, den Menschen vor dem „Recht" (oder der Strafe) zu bewahren (405 BC). Im Gorgias war sie das verzerrte Gegenbild der Rechtspflege. Jetzt heißt sie „noch schlimmer als die Rechtspflege", die also gleichfalls keinen besonders hohen Rang hat. Denn nun rühren wir innerhalb der gleichen Strukturen an den Unterschied gegenüber dem Gorgias. Dort kam es darauf an, auf dem Boden der Polis, wie sie nun einmal ist, die Rhetorik zu entwerten. Hier aber soll auf dem Boden der neuen Gründung ein Wertunterschied herausspringen innerhalb des Systems der echten Künste. Gewiß, Piaton hat Wirklichkeitssinn genug, um zu wissen, daß man den Arzt und den Richter auch im besten Staat nicht entbehren kann. Aber ihre Wirkung wird um so weiter, je schlechter der Staat ist. Besser als Medizin ist Gymnastik, besser als Rechtspflege ist — Musik, Musik in jenem tiefdringenden Sinne, der den Piaton berechtigt, ihr hier den Platz zu geben, den in dem entsprechenden System des Gorgias die Gesetzgebung innehat. Wahrscheinlich hatte schon Damon aus dem Doppelsinn des Wortes „Nomos" •— Gesetz undGesätze oder Satzung und (Ton) Setzung—eine so wichtige Beziehung herausgehört und die musiktheoretischen und zugleich politischen Folgerungen daraus gezogen. So wird jetzt klar, was die scheinbare Abschweifung über den Arzt und den Richter im Abschnitt von der Erziehung bedeutet: Medizin und Rechtspflege werden in ihrem Wert herabgesetzt, um der Erziehung den höchsten Rang zu sichern. 6*
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Abschluß des — vorläufigen — Staatsbaues II 2 d.
In diesem Stück, an dessen Ende Sokrates mit sehr ironischem Nachdruck sagt, daß der Staat nun fertig gebaut — nicht ist, —IV427D sondern „wohl sein mag für dich, Sohn des Ariston" (427C 6) 24 ), kreuzen sich mannigfache Gedankenzüge. Die Institutionen werden vervollständigt. Im Stande der „Wächter" steigen, durch immer erneute Prüfungen ausgesondert, die „Regenten" über die „Helfer" auf (412 Β ff.). Der Platz des „Feldlagers" für die Wächter soll ausgesucht werden. Strengste Einfachheit des Wohnens und Lebens wird ihnen bestimmt (415 D ff.), persönliches Eigentum untersagt (416 D ff.). In Wahrheit läßt Piaton sehr wenig verordnen und immer wird klargemacht, daß auch diese wenigen Institutionen nicht Selbstzweck sind. Sie haben den einen Sinn, jeden Stand bei seiner eigentümlichen Aufgabe festzuhalten und dadurch die geordnete Einheit der Staatsgemeinde zu verbürgen. Einzelverordnungen über Betragen und Tracht, Marktverkehr und Gerichtswesen werden ausdrücklich abgelehnt (425 Β ff.), gewiß im Hinblick auf zeitgenössische Erörterungen. Aber dieser Blick nach außen trifft wie immer nicht den eigentlichen Sinn, der vielmehr so zu bestimmen ist: Bildung hat den Vorrang vor den Institutionen, die aus ihr mit Notwendigkeit folgen. Das Wächterhaus muß gewiß an dem Punkte der Stadt gebaut werden, wo man den inneren Feind am besten in Schach halten, dem äußeren am besten wehren kann (415 DE), also damit die Wächter ganz eigentlich Wächter sind. Aber mehr noch kommt es darauf an, daß es in einem geistigen Raum gebaut werde:, ,in der Musik'' (424 D) 25 ). Wichtig für den Bau des Ganzen sind die vielen Hinweise darauf, daß man nur scheinbar am Ziele ist, in Wahrheit sich im Vorläufigen bewegt. Glaukon ist freilich der Meinung, die Erziehung sei beendet, und wie er denken die meisten Leser, denken ja auch die, die da meinen, daß dieser Teil des Staatsbaues in Piatons Geist jemals etwas fertig Abgeschlossenes gewesen sei. Sokrates hingegen weist voraus auf die höchste Stufe der Erziehung, die eigentlichste Mitte und Höhe des Werkes, in den Büchern VI und VII (414 B. 416 B). Auch von den Einzelinstitutionen wird das, was über den Besitz der Frauen, über Ehe und Kindererzeugung zu sagen ist, zurückgehalten (423 E). Damit kommt jene eigentümliche Spannung hinein, die dann im V. Buch dazu ausgenutzt
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wird, um das Gespräch auf die höchste Ebene hinaufzuschnellen. Dort oben wird dann wirklich von den Herrschern, ihrer Bildung und ihrer Aufgabe, die Rede sein. Dort wird Sokrates auf unsere Erörterung zurückblicken (502 Ε f.) und wird ironisch hinzufügen: der Logos hatte sich bei Seite gedrückt und hatte sich versteckt aus Furcht das Ganze aufzuregen, welches jetzt da ist. Also was man der Stelle selbst entnimmt, bestätigt uns Piaton: er hat die Erörterung zurückgehalten, und der Leser soll dieses Zurückhalten als ein Moment der Spannung bemerken. So ist fühlbar, daß es sich um einen Aufstieg, einen Aufstieg zum Geheimnis handelt 26 ). Wie nun, wo der Grundriß der Staatsgemeinde (scheinbar) fertig ist, sogleich die mythische Linie des Werkes sichtbar wird — Sokrates erfindet das erzieherische Märchen von den Erdgeborenen und dem verschiedenen Metall aus dem sie bestehen (414 Β ff.) —, soll später verfolgt werden (S. 123 ff.). Heben wir hier den Sinn des Märchens heraus: es zeigt in der Geburt aus der Erde die Einheit der gemeinsamen Mutter, in der Verschiedenheit der Metalle die Vielheit, worauf das Wesen der platonischen Gründung beruht. Von diesem Grundprinzip aus bestimmen sich die einzelnen Institutionen und Anordnungen: Den Wächtern — nur diesen — ist Privateigentum so gut wie verboten (416 D ff.). Von dem Glück des Ganzen her ist jedem Einzelnen sein Glücksanteil zugemessen, nicht umgekehrt (420 BC). Dem Staat muß Reichtum wie Armut gleichermaßen fernbleiben, weil es sonst zwei Staatsgemeinden in der einen gibt (421 D ff.). Der Staat darf weder zu groß sein noch zu klein; nicht zu groß, weil sonst die Einheit gefährdet ist; nicht zu klein, weil mit der Kleinheit die Gefahr wächst, daß jeder alles mögliche tue, anstatt „das Seine" zu tun, und gewiß auch darum, weil dann gleichsam der Stoff zu knapp wird, aus dem das Ganze gebildet werden soll (423 BC). Wenn Nachkommen aus dem Wächterstande die an sie zu stellende Forderung nicht erfüllen, so sind sie dem Stand der Handarbeiter einzuordnen; wenn jemand aus der Masse wächterhafte Eigenschaften hat, so steigt er in den Wächterstand empor (415 BC. 423 CD). „Einheit aus artverschiedenen Gliedern" (έξ εΐδει διαφερόντων), so bestimmt Aristoteles in der Politik (II 1261 a 15 ff.) das Wesen des Staates. „Gleichheit, die den Gegensatz in sich enthält und aufhebt" (τό ϊσον άντιπεττονθόξ), ist ihm ebendort das staatbe-
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wahrende Prinzip. So hat er in der Auseinandersetzung mit Piaton das Wesen des platonischen Staates ausgezeichnet formuliert. Gerade weil das Grundwesen des wahren Staates die zarte Labilität des Gleichgewichtes ist, gerade darum ist er immer bedroht durch den Verderb (φθορά). Schon in den Anfängen der Staatsgründung war ja mit der Lust, dem Lebensprinzip des natürlichen Menschen, das Prinzip auch des Verderbs hineingewachsen (oben S. 74). Jetzt schließt das Märchen mit dem feierlichen Orakelspruch (415 C): dann werde die Staatsgemeinde zu Grunde gehen, wenn der eiserne oder der kupferne Wächter sie bewache. Ursprünglicher Wuchs und bildende Erziehung, jener noch vor dieser als ihre Bedingung, bauen, wenn sie richtig angewandt werden, den rechten Staat. So sind sie auch beide in strenger Wechselwirkung an seinem Verfall beteiligt. In der Tat, wie beginnt nachher im VIIIten Buch (546 ff.) der Verderb ? Aus einem Mangel an Erziehung, nämlich an Arithmetik: durch den Verfall der sehr schwierig zu berechnenden „Hochzeitszahl" setzt ein Verfall der Physis ein. Und nun verschiebt sich wiederum bei den Wächtern, die nicht mehr ganz für ihr Amt geeignet sind, das genaue Gleichgewicht von musischer und gymnastischer Bildung. So sind alle Einzelinstitutionen des wahren Staates zugleich Sicherungen vor dem Verderb, der immer ganz aus der Nähe droht als Eigensucht, Privatbesitz, individuelles Glücksstreben, Wechsel des Musikstils 27 ). Und diese Gegenkraft ist stark genug, um für einen Augenblick auch dramatischen Ausdruck zu finden. Wie sie in den Anfängen der Staatsgründung durch den Mund des Glaukon sich geregt und den gesunden Staat als Schweinestaat angefochten hatte (S. 74), so rügt sie jetzt, als die Gründung vorläufig beendet scheint (419A), durch den Mund des Adeimantos, daß Sokrates den Wächtern wohl Pflichten aber kein Glück gebe, d. h. keinen Genuß (μηδέν άττολαύουσι). So bedeutend ist diese Einrede, daß im V. Buch (465 Ε ff.) noch einmal auf sie zurückgegriffen wird. Die staatsbauende Kraft aber wehrt entgegen dem Glücksanspruch des Einzelnen „das unsinnige, kindische Scheinbild des Glückes" (466 Β 7) ab als das, was dem Ganzen den Verderb bringe, indem der Wächter nun nicht mehr versucht Wächter zu sein, sondern glücklich zu sein, und läßt als berechtigt nur die Eudaimonie des Ganzen gelten (421 A. 466 B). So liegt die große Glücksrechnung, die in der Glaukon-Rede am Anfang des II. Buches gefordert und
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gegen Ende des ganzen Werkes (IX 580 Β ff.) gegeben wird, als Antwort im Hintergrunde. Der immer drohende „Verderb" aber, dessen Verwirklichung Piaton seinem Bauplan gemäß für das VIII te und I X te Buch hat aufsparen wollen, verwirklicht sich schon hier für einen Augenblick, indem der Verfallsstaat gesichtet wird: gegenüber unserer Gründung, in der nur die Grundsätze festgelegt werden, steht — Athen, so muß jeder sagen, wenn es auch nicht bei Namen genannt wird, mit der unaufhörlichen Gesetzemacherei, vergleichbar dem Kranken, der anstatt seine Lebensweise zu ändern mit immer neuen Medizinen an sich herumkuriert (425 Ε ff.). Am Gegensatz des Fehlerhaften also wird das eigentliche Wesen unserer Gründung nur deutlicher sichtbar. Ein Letztes fehlt noch im vorläufigen Staatsbau: Gottesdienst und Ehrung der Toten. Doch darüber etwas anzuordnen ist nicht Menschenwerk, sondern dem Delphischen Apollon, dem „Deuter", wird die Auswahl in der Vielfalt der überlieferten Gebräuche und Kulte anheimgestellt (427 Β C). Bemerkenswert ist, wenn man auf die höchste Stufe des Staatsbaues vorausblickt, der Gegensatz: dort ist von einem Gottesdienst der Lebenden mit keinem Wort die Rede, nur der Ehrung der verstorbenen Philosophen wird kurz gedacht (540 BC). Für den Stand der Wächter ist Religion gereinigte Überlieferung; für den der Philosophen ist Religion die Schau des höchsten Vollkommenen selbst, von dem auch Helios, der leuchtendste und erleuchtendste der Himmelsgötter, nur ein Abbild ist. Da wir nun immer wieder die Einzelseele „in kleinerer Schrift" parallel mit dem großen Bau des Staates sehen sollen, und da das Wächterhafte in der philosophischen Seele nicht ausgelöscht sondern durch das Philosophische überhöht wird, so ist in ihr auch die überlieferte Religion nicht ausgelöscht sondern in der höchsten Erkenntnis des Einen, Vollkommnen und der sie begleitenden Ehrfurcht aufgehoben.
Die Suche nach der Gerechtigkeit Als spannendes Moment dauernd gegenwärtig beginnt sie sofort π 2 e. von neuem (s. S. 75), nachdem der Staatsbau — sehr vorläufig —^Buch^TV^ beendet ist, und füllt den Schluß des IV. Buches. Die notwendige Zusammengehörigkeit der Begriffe Staat und Gerechtigkeit wird
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auf diese Weise eindringlich, eine wechselseitige Beziehung, da der wahre Staat ein Staat der Gerechtigkeit ist, Gerechtigkeit aber sich nur in der Gemeinschaft verwirklicht. Der Aufbau unseres Abschnitts wird von zwei Strukturmomenten bestimmt: von dem Parallelismus zwischen Staatsgemeinde und Einzelseele und von dem Gegensatz zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Darum wird erst von den Tugenden im Staat (427 D—434 E), dann von den Tugenden in der Einzelseele (434 Ε—435 C. 441 C— 444 C) gesprochen. Bevor dieses zweite geschehen kann, war eine Erörterung nötig über die innere Form eben dieser Einzelseele (435 C—441 C). Den Schluß macht die Frage nach den Untugenden, zumal der Ungerechtigkeit. Daß diese Frage, kaum begonnen, sofort abgebrochen und erst im Vlllten Buche wieder aufgenommen wird, das wurde erfordert durch den großen Bauplan des Werkes (s. S. 107). Die Gerechtigkeit wird, als ob sich das von selbst verstünde, in dem Gesamtsystem der „Tugenden" aufgesucht. Piatons weiter Geist erhebt ihn über den Verdacht, er habe es aus irgend einem Grunde auf die „vier Kardinaltugenden" abgesehen gehabt als auf ein Dogma, das man unabhängig von dem Zusammenhang in einem Paragraphen der „platonischen Ethik" buchen dürfe28). Wie wenig dogmatisch er dies alles meint, geht unter anderem etwa auch daraus hervor, daß ihm die Formel „Jeder müsse das Seinige tun" im Charmides (161 B) die „Sophrosyne" und jetzt im Staat (433 A) die „Gerechtigkeit" definieren hilft. Im Symposion (209 A) wiederum verschmilzt er Gerechtigkeit und Sophrosyne fast in eine Einheit, die die Ordnung des Gemeinwesens verbürgt. Daß er im Staat die „Frömmigkeit" überhaupt nicht einbezog — oder, wie vorher (S. 87) angedeutet wurde, nur indirekt einbezog—, die in der älteren ethischen Spekulation so wichtig ist und bei ihm selbst in der Apologie an Sokrates als die eigentlich zentrale „Tugend" erscheint, zeigt, wie er das „System" der Tugenden auf das der Staatsgemeinde und der Seele abstimmte29). Er hätte es sonst leicht bei den fünf Tugenden des Protagoras bewenden lassen, und auf die Vier- oder Fünfzahl kam es ihm gewiß weit weniger an als eben auf das System. Warum aber auf das System ? Die Antwort ergibt sich, wenn man weiter fragt, warum die platonischen Frühdialoge, die nach einer Einzeltugend forschten, in der Aporie stranden mußten. Bedeutet nicht solcher aporetische
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Ausgang eben dieses: in der Vereinzelung kann die Frage der „Tapferkeit" oder der „Sophrosyne" überhaupt nicht beantwortet werden, weil jede dieser „Tugenden" nur in ihrer Abgrenzung gegen andere zu etwas Eigenem wird? Nur das Sy-stem verbürgt die Richtigkeit jeder einzelnen „Tugend", etwa daß Tapferkeit und Sophrosyne einander gegenseitig in solcher Spannunghalten, die jene davor bewahrt zur Gewaltsamkeit und diese zu schüchterner Bescheidenheit zu degenerieren. Nur das Sy-stem hält als Einheitsgefüge die Staatsgemeinde wie die Seele zusammen. Wie sehr das Problem der Einheit der Tugenden in der einen Tugend dem Piaton von jeher im Sinne lag, lehrt schon der Vergleich des Protagoras mit den aporetischen Definitionsdialogen. In jenem wird die Einheit gewaltsam und gleichsam voreilig hergestellt ; in diesen zeigt jeweils der Ausgang des Gesprächs, daß die Isolierung der einzelnen Tugend die Frage notwendig in der Aporie stranden läßt. Piaton aber kann diese beiden Wege nur darum nach zwei verschiedenen Seiten so scharf an der Wahrheit vorbeiführen lassen, weil er das Ziel unverrückbar im Auge hat. Das kommt im Gorgias zuTage(Bd.IIS.244). Denn währendKallikles „Tapferkeit" und „Zucht, Selbstbeherrschung" auseinanderreißt, jene bejaht, diese verachtet, und dadurch zeigt, daß er auch von jener nichts begreift, stellt Sokrates ihm den Kosmos der Seele entgegen, in dem Zucht sich mit Gerechtigkeit und Frömmigkeit nicht nur, sondern auch mit Tapferkeit zur unlösbaren Einheit des Vollkommenen zusammenschließt. Hier steht also ein System von vier Tugenden — man sieht: es sind nicht ganz dieselben wie dann im Staat — als Ausdruck der Ordnung gegen die Zerstörung, und wie alle Motive so wird auch dieses im Staat in die neue Dimension übergeführt, nachdem im Kampf gegen die Mächte der „Ungerechtigkeit" die neue Staatsgemeinde gegründet worden ist. Fügen wir hinzu, daß im Alkibiades ein System von Erkenntnis, Gerechtigkeit und Sophrosyne sich angedeutet hatte, zwar mehr als Frage denn als Antwort und erst von der Politeia aus in seinem eigentlichen Sinn verständlich. Dafür war dort ausdrücklicher als selbst im Gorgias, der auf das Gefüge der Einzelseele zielt, das Staatsgefüge im Blick 30 ). Erscheint so das doppelte System der Tugenden, wie es in der Politeia vor uns steht, als Zielpunkt einer langen Entwicklung, ist es von höchstem Wert als Ausdruck des Einheitsgefüges von
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Staat und Seele, so muß nun andererseits klar werden, wie sehr wir uns auch hier noch im Vorläufigen befinden. Im Verbände mit den beiden Systemen liegt zwischen ihnen der Abschnitt „über die Seele" und ihre drei „Formen, Gestalten" (Είδη). Und hier steht (435 D) der berufene Hinweis darauf, daß auf den jetzt beschrittenen Wegen (μέθοδοι) nichts zu erreichen sei, daß erst ein anderer und weiterer Weg zum Ziele führe, daß aber dieses vorläufige Verfahren dem, was vorher erkannt worden, entspreche. Dem vorher Erkannten: das ist das System der Tugenden im Staat. Auch dieses also wird ausdrücklich in dieselbe Vorläufigkeit verwiesen wie jetzt die Seelenlehre und das mit ihr notwendig zusammenhängende System der Tugenden in der Einzelseele. Der andere und weitere Weg ist der Aufstieg der erkennenden Seele zum Reich der Ideen. Darüber kann kein Zweifel sein, zumal Piaton im VI ten Buch (504 B) ausdrücklich auf unsere vorausweisende Stelle zurückverweisen wird. Fast am Schluß des Werkes aber, bevor im Endmythos Dike ihr Amt an der unsterblichen Seele vollzieht, wird diese Reinheit, Einheit und Ewigkeit der Seele erfaßt und dabei hinabgeblickt auf den früheren Aspekt, nach dem die Seele „verstümmelt war durch die Gemeinschaft des Körpers und andere Übel" (611 C). Wenn man zu solcher Höhe der Einsicht emporgelangt, dann „wird man auch deutlicher den Bezirk der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit durchschauen und alles, was wir jetzt durchgegangen sind". So sinkt das System der Tugenden wie der Seele — und muß man dann nicht auch notwendig sagen: das des Staates ? —·, wie es im IVten Buch gegeben wird, ins Vorläufige zurück. Wie kann es auch anders sein, da die Erziehung auf dieser Stufe noch gar nicht Logos ist ? In der Tat, sehe man hier, wo nun Sokrates jeder der vier „Tugenden" ihren Platz bestimmt, vorerst und vor allen Dingen auf das, was er unter „Weisheit, Erkenntnis" verstanden wissen will (428 Β ff. 442 C). Es ist im weiteren Gefüge der Polis die Tugend der „Wohlberatenheit" wie im AlMbiades (125 E), praktisches Wissen also um das, was der Staatsgemeinde frommt nach innen und nach außen. Es ist ganz entsprechend im inneren Gefüge der Seele das Wissen um das, was jedes einzelne Glied der Seele und deren gegliedertes Gefüge als Ganzes fordert. Das Wissen von der Idee liegt noch weit voraus und hoch über der jetzigen Erörterung. So werden wir Sokrates' schließende Bemer-
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kung (429 A 5—6), „Wir haben die eine von den vieren gefunden, ich weiß nicht wie", in ihrem ironischen Doppelsinn verstehen und werden wissen, wie es aufzunehemen ist, wenn Glaukon das Gefundene für „hinreichend" erklärt. Die zweite Tugend ist „Mannhaftigkeit, Tapferkeit" (429 Α ff. 442 BC). In vielem erinnert die Erörterung an den Laches, so wenn wie dort (191 DE) in einem psychologischen und zugleich ethischen Ordnungssystem die vier Affektgruppen klassifiziert werden, gegen die sich die Mannhaftigkeit durchzusetzen hat. Noch aber bleibt sie auf den Stand der Krieger beschränkt, wenn auch nachher (430 C 3) der Hinweis auf ihren „staatlichen" Charakter über das nur Militärische an ihr schon hinausführt. Immer wieder wird eingeschärft (429 C 1.7. 430 Β 3), daß wir uns in dem vorläufigen Bereich des „Meinens" bewegen, wenn auch „richtiger Meinung", wie das Gesetz sie mittels der Erziehung-Bildung durch Musik und Gymnastik den Seelen einprägt. Der Vergleich (429 DE) mit einer vollkommenen Färbetechnik, die die eingedrungenen Färbemittel unauswaschbar macht, lehrt deutlich, wie sehr wir uns noch im Vorläufig-Praktischen bewegen. Das bestätigt der Schlußsatz mit dem Hinweiß, daß wir „in diesen Gegenstand später noch besser eindringen werden". Die dritte Tugend ist „Besonnenheit, Selbstzucht'' (430 Dff. 442 CD). Sie ist eine Art Zusammenklang, Harmonie: mit dieser musikalischen Metapher beginnt und schließt die Erörterung und weist damit auf das Zusammenstimmen der verschiedenen Stände oder Kräfte als eine Grundforderung der Polis, der großen und der kleinen. Dann wird die Formel „Herr seiner selbst sein" (τό κρείττω ΙαυτοΟ) zur Deutung der Sophrosyne herangezogen. Das sophistische Argument — das gewiß aus der zeitgenössischen Diskussion stammt —: wer Herr seiner selbst sei, müsse zugleich Diener seiner selbst sein, taucht eben auf, um einer echten Einsicht Platz zu machen. Der sprachliche Ausdruck selber zeige: es gibt in der Seele ein höheres und ein niedrigeres Element, und jenes muß über dieses herrschen, dieses muß sich jenem fügen, in freier beiderseitiger Übereinstimmung. Wer zu herrschen, wer zu gehorchen hat, darüber müssen beide Teile dieselbe „Meinung" haben — Meinen wieder als Vorstufe des Wissens. Bleibt als vierte Tugend die „Gerechtigkeit" (432 Β ff. 442 Dff.): die zentrifugale Kraft, die in der Spannung mit der Sophrosyne, der
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zentripetalen, das Gebäude des Ganzen trägt. Denn sie erweist sich, „wie wir von vielen anderen gehört und selbst oft gesagt haben" 31 ), als das Prinzip, daß „jeder das Seinige tue", das heißt als das Prinzip, welches seit den allerersten Anfängen den Bau unseres Staats bestimmt. Aber ist das nicht eine alberne Sache (βλακικόν τι ιτάθοζ), wenn wir nach vielem Bemühen nur das wiederfinden, was wir zu Anfang hineingelegt haben? Nicht so ganz! Wir haben es ja hineinlegen „müssen" (δεΐν 433 A 2), weil es „nach der Natur" in jedem guten, d. h. „nach der Natur" gebauten Staate darinnen ist. Und wir finden es wieder nicht in der primitiven Form der Natur-Stufe, daß der Schuster bei seinem Leisten bleibt und der Landmann den Acker bebaut, sondern gleichsam emporgewachsen und ausgeweitet in jener höheren Form der Bildungs-Stufe, daß jeder Stand des Staates und jedes Glied der Seele sich auf den ihm eigenen Bezirk des Wirkens beschränkt. Und wieder muß klar werden, daß wir hier nur an einem Haltepunkt stehen auf dem Wege, der weiter emporführt. Noch ist die reine Erkenntnis gar nicht ins Spiel eingetreten. Die Welt der ewigen Formen eröffnet sich erst später, auch die Idee der Gerechtigkeit taucht dort ausdrücklich auf (517 E). Der Mythos des Schlusses endlich läßt uns im Anschauen der Weltenharmonie jene höchste Ordnung erfahren, die alle anderen Ordnungen überhöht und bestimmt. Die Weltenspindel, die Lebenslose, das Walten des ewigen Gerichts: alles dieses sind Repräsentanten der „Gerechtigkeit" hoch über der Stufe, die wir im IV. Buch ersteigen 32 ). Welche Aufgabe stellt Piaton dem Menschen! Er zeigt das System der „Tugenden" noch vor aller reinen Erkenntnis und zwingt uns zu fragen, wie es sich darstellen wird, wenn die Erkenntnis den Weg zum Reich der Ideen genommen hat. Er baut die gegliederte Seele vor uns hin, von außen gleichsam sie betrachtend wie einen Gegenstand 33 ), und führt darüber hinaus auf jene Stufe, wo die Seele ihrer selbst gewiß wird in ihrer Ewigkeit, ihrer Einheit, ihrer Kraft zum Anschauen des wahrhaft Seienden. Jenes System der Tugenden, jener Aspekt der dreigegliederten Seele ist untrennbar von dem Bau des ständischen Staates. Auch er also wird überhöht durch das, was aus seiner Mitte aufwächst: durch die Philosophie. So gesehen verliert das, was dem Menschen als Seelenlehre, Tugendlehre, Staatslehre erscheint, alles Lehrhafte und alles Statische. Stufen sind sie auf dem Weg zum Agathon, und wenn
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man hoch genug gestiegen ist, bleibt alles dies zurück: die Systeme der Seele, der Tugenden, des Staates. Auch der Staat verliert so seine Erdhaftigkeit, er wird zum Mythos (VI 501 E); d. h. er sinkt nicht zum „bloßen Mythos" herab, sondern er erhebt sich zum höheren Dasein der ideenhaften Mär.
Die drei Wogen Drei Wogen stürzen über uns herein, die eine immer mächtiger als III 1. die andere: mit dieser Spielform hebt Piaton das Gespräch nun- ^^uch^ mehr auf die höchste Stufe, die wir zuletzt immer wieder gesichtet haben. Sie ist erreicht, und alles Frühere ist mit einem Schlage gewandelt, als der Keim- und Ursprungssatz der ganzen Politeia erklingt, die unerhörte Paradoxie von den Philosophen-Königen, und daß nur durch sie der wahre Staat ins Werden treten kann (473 CD). Von dort ab steht die neue Erkenntnis in der Mitte und ist der Blick auf das Seiende gerichtet. Zu dem wahrhaft Seienden also trägt diese Woge empor, die uns zu überschwemmen drohte. Gerade um ihrer Gewalt willen aber läßt Piaton sie nicht als einzige kommen, sondern als dritte, letzte, lang zurückgehaltene. Zwei Paradoxa gehen dem dritten und größten voran, Paradoxa freilich nicht von jener umstürzenden Art wie das dritte, sondern die eigentlich auf der Ebene, die wir jetzt verlassen, hätten verhandelt werden können. Dort nämlich war schon (IV 423 E) ins Auge gefaßt und beiseite geschoben worden die Frage der Weiber- und Kindergemeinschaft. Das wird jetzt „die zweite Woge". Und wie durch sie die dritte, so wird sie selbst wieder durch die erste absichtsvoll zurückgehalten: durch die Frage, ob die Frauen dieselbe musische und gymnastische Erziehung empfangen sollen wie die Männer. Es sind paradoxe Forderungen, und Piaton spielt mit diesen Paradoxien — pour epater le bourgeois —, indem er die Frauen nackt mit den Männern turnen läßt und die Gemeinschaftsehe mit mancherlei scherzhaften und auch grotesken Einzelzügen ausmalt333-). Aber sein Spiel meint etwas höchst Ernstes. Denn hier wie überall kommt es ihm nicht auf die Institution an, sondern auf das in ihr sich darstellende Prinzip: daß die Erziehung, auf der der Staat ruht, möglichst alle umfaßt, die daran teilnehmen können (456 E), daß es für den Staat kein größeres Übel gibt als das, was ihn auseinanderzerrt,
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kein größeres Gut als das, was ihn zusammenbindet, und daß die Gemeinsamkeit von Lust und Schmerz das stärkste Band des Zusammenhalts ist (462 AB). Je stärker die Paradoxie, um so klarer das Prinzip. Und wiederum: kann man leugnen, daß wenigstens in der Erziehung die heutige Welt sich jener platonischen Paradoxie angenähert hat ? Hinter diesen vorläufigen Paradoxien wird die dritte und schärfste gleichsam versteckt. Alle Spannung wird zunächst auf das Vorläufige gesammelt, um den Leser darüber zu täuschen, worauf es hinaus will. Dem dient die Episode am Anfang des V. Buches, die stärkste dramatische Bewegung überhaupt, seitdem Glaukon und Adeimantos zu Anfang des II. Buches an den Platz des Thrasymachos getreten sind. Dieses Getuschel unter den Hörern, dieses Eingreifen des Polemarch und sogar des Thrasymachos selber, diese Neugier, von so bedenklichen Dingen zu hören wie Weibergemeinschaft und Kindererzeugung: all das muß — ironische Fügung! — dazu dienen, das Gespräch vor das Angesicht des wahrhaft Seienden zu bringen 34 ). Aber man betrachte noch genauer, wie eigentümlich der Weg zum Ziele verhüllt, wie die dritte und eigentliche Frage („die dritte Woge") gleichsam eingeschmuggelt wird. Bei der „ersten Woge" entstehen zwei Fragen: ist die musische und gymnastische Erziehung für die weiblichen Wächter förderlich und ist sie möglich ? Bei der „zweiten Woge" stellt Sokrates die Frage nach der Möglichkeit zurück — wir werden also daraufgespannt! — und erörtert zunächst, wie die Weiber- und Kindergemeinschaft geordnet werden soll, und daß diese Ordnung förderlich ist (458 B). Dann will er die Frage der Möglichkeit prüfen, und der Partner läßt merken, daß sonst er selber das Gespräch auf diesen Punkt würde gebracht haben. Aber wider alles Erwarten wird der Kurs plötzlich abermals geändert. Eine Episode folgt über den gemeinsamen Kriegsdienst von Männern und Frauen (466 Ε ff.). Eine zweite Episode schließt sich an über die Frage, wie Griechen gegen Griechen Krieg führen sollen (469 Β ff.). Nicht ohne tiefe innere Beziehung zu der großen Aufgabe: denn darauf kommt es an, daß die Hellenen untereinander „von Natur befreundet" sind, daß also nicht „Krieg" (πόλεμος) sondern nur „Fehde" oder „Entzweiung" (στάσις) unter ihnen herrschen könne. Damit erscheint die hellenische Nation durch dasselbe Prinzip der „Freundschaft" geeinigt, das
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auch unsere Staatsgemeinde zusammenhält, die Nation also zuletzt als die ins Große erweiterte Polis. So ernst und wichtig diese Gedanken sind, so sehr Piaton sich hier nicht als „weltfremder Idealist" sondern als politischer Mensch mit seiner Botschaft — vergeblich! — an ganz Griechenland wendet: daß er diese Mahnung gerade an dieser Stelle einlegt, geschieht doch vor allem darum, damit das eigentliche Ziel noch einmal hinausgeschoben und verschleiert wird. Sokrates, so wendet der Partner ein (471 C), möchte noch weiter Episode an Episode reihen, um nur jener einen Frage zu entgehen, die wir beantwortet hören wollen, jener Frage nach der Möglichkeit — aber der Möglichkeit wovon ? Das gemeinsame Leben von Männern und Weibern war es, dessen Möglichkeit geklärt werden sollte (466 D). Und unversehens finden wir das Problem ausgeweitet zur Frage, ,,ob diese Staatsgründung überhaupt möglich sei und auf welche Weise möglich" (471 C). Mit so vielen Umwegen, Verzögerungen und Listen sind wir bei der dritten, größten Woge angelangt (472 A. 473 C). Heben wir aus den mannigfachen Nebenmotiven, die sich in diesen Abschnitt hineinschlingen, nur eins heraus (453 Ε ff.). Die falsche Meinung, Männer und Frauen müßten, weil ihre Naturen verschieden sind, auch in ihren Leistungen verschieden sein, beruht auf einer falschen „Gliederung" (διαίρεση) der Begriffe oder besser der Wesen, Formen, Formbestimmtheiten (είδη): Man glaube, wenn man den ganzen Bereich einteile in Mann und Weib und dem einen Bezirk eine bestimmte Betätigung zuweise, so habe man sie damit dem anderen ohne weiteres abgesprochen. Aber man lasse dabei außer acht, worauf denn jene Gliederung gerichtet sei. Mit demselben Recht könne man die Menschheit in Kahle und Behaarte einteilen und den Schluß ziehen, wenn die einen das Schusterhandwerk ausübten, so dürfen die anderen es nicht. Das aber sei eristische Diairesis, nicht dialektische. Die dialektische dürfe nicht irgendwelche Begriffspaare willkürlich herausgreifen und andere ebenso willkürlich herausgegriffene auf jene beziehen, sondern müsse Verschiedenheit und Gleichheit und das Worauf der Beziehung genau beachten. Diairesis (und Synopsis) ist mit der Idee gegeben, war also, seitdem Piaton philosophierte, seinem Geiste als Forderung mindestens gegenwärtig 34a). Und es ist nicht ohne geheime Absicht, daß er hier, wo er den Weg zum Logos und zum Eidos nimmt, unter der Hand den Kampf gegen die
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falsche Diairesis fuhrt und die echte wenn auch nur andeutend sichtbar macht 35 ). Später, als der Name des „Philosophen" fällt und damit das Gespräch auf die neue, die höchste Ebene tritt, wird fast das erste eine scharfe Diairesis sein (διαιρώ 476 A 9), die hierhin die „Philosophie" stellt, dorthin die „Liebe zum Sehen, zum Hören, zur Ausübung von Künsten . . . " — hierhin als Gegenstand „das Schöne selbst", dorthin das Schöne in irgend einer Verkörperung, Vereinzelung, Trübung — hierhin das Wachsein, dorthin das Träumen — hierhin das Erkennen, dorthin das Meinen.
Der Kernsatz der Politeia und der siegreiche Kampf um seine Bewährung III 2. Piaton schreibt im VII. Brief (326 AB): die paradoxe Erkenntnis, nur y j 5Q2 Ε Einheit von Herrschaft und Philosophie aus dem Verderben retten könne, habe schon den Vierzigjährigen nach Sizilien begleitet. Sie ist Keim und Kern seiner geistigen Staatsschöpfung. Wie eindringlich er die Paradoxie schon dadurch macht, daß er sie durch alle möglichen Umwege und Listen immer wieder zurückhält, haben wir gezeigt. Endlich ausgesprochen hat sie sich nun zu wehren, man möchte sagen: gegen die Mächte der Doxa, denen das Para-doxe (473 Ε 4. 490 A 5) unverständlich und widerwärtig sein muß. In zwei Angriffen, von denen der erste dem Glaukon (V 473 E), der zweite dem Adeimantos (VI 487 B) in den Mund gelegt wird, äußert sich der feindliche Widerstand. In seiner Bekämpfung klärt sich der Sinn der Paradoxie, und nachdem sie sich siegreich durchgesetzt hat, vermag der Philosoph das höchste Ziel seines Weges zu gewinnen (VI 502 C — VII Ende). Den ersten Stoß führen „sehr viele und durchaus nicht geringe Leute". Sie werfen den Mantel ab, waffnen sich mit dem, was ihnen gerade zur Hand ist, und stürmen gegen Sokrates an. Einen Akt der „Volksjustiz" also üben sie36). Es sind keine bestimmten Personen, nicht einmal bestimmte Berufe oder Typen. Sie repräsentieren die unbestimmte Gefährlichkeit des Man. Es ist auch nichts Bestimmtes, Einzelnes in jener These, was sie angreifen. Sie haben keine Gegenargumente. Sie schlagen zu.
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Sokrates begegnet dem Angriff, indem er nach dem Wesen des „Philosophen" fragt. Daß niemand eher als Sokrates dieses seltene Dasein als Wirklichkeit verbürgt, sagt sich bei seiner Frage jeder Leser, und hinter dem Angriff der unbestimmten Vielen wird die gerichtliche Anklage und damit Verteidigung und Tod in der Ferne sichtbar. Hier aber richtet Sokrates die Frage auf das Wort „Philosoph", was es genau betrachtet über das Wesen dieses Daseins aussagt. Der Philo-sophos liebt die Erkenntnis. Er liebt: damit taucht die Eros-Linie des Dialoges auf (s. S. 80 ff.). Es hegt im Wesen jeder Liebe, daß sie ihren Gegenstand ganz hebt. Also der Philosoph liebt die Weisheit ganz. Damit wird er zu einem, der die Wahrheit-Wirklichkeit zu schauen strebt (της αληθείας φιλοθεάμων 475 Ε), der „auf das Schöne-selbst loszugehen und es zu sehen imstande ist" (476 B). Was das heißt, wird durch ein Stück Ontologie gesichert: den drei Erkenntnisstufen, dem Wissen, dem Nichtwissen und in der Mitte dem Meinen, entsprechen in strenger Beziehung drei Seinsstufen, das Sein, das Nichtsein und in der Mitte unsere Werdewelt, die hier ganz parmenideisch — wie auch das Übrige parmenideisch ist — als „Sein und Nichtsein zugleich" bezeichnet wird. Diese ontologische Analyse ist vorläufig, sie wird nachher durch eine vollständigere überhöht werden (VI 504 Ε ff.); aber sie reicht hin, um zu sichern, worauf es hier ankommt: den Bezug des Philosophen auf das wahrhaft Seiende. Damit hat die para-doxe Existenz des Philosophen ihren eigentlichen Sinn enthüllt. Der Philosoph ist in der Tat „vorbei an der Doxa" und über sie hinaus. Wenn die „Liebe", die er im Namen trägt, auf das wahrhaft Seiende geht, so erweisen sich damit — in klarer Diairesis (s. S. 95) — alle übrigen Bestrebungen wesenhaft als auf eine niedrigere Seinsart gerichtet, etwa die des Ehrbegierigen (φιλότιμος) oder des Kunstbeflissenen (φιλότεχνος) oder des Schaulustigen (φιλοθεάμων) in dem gewöhnlichen Wortsinn, ganz verschieden von dem, dessen Schau-lust auf das wahrhaft Seiende gerichtet ist (475 Ε 4). Jene alle haben es zu tun mit dem, was „sich zwischen dem wahrhaft Seienden und dem Nichtseienden vielfältig herumwälzt" (479 D). Nicht Philo-sophie, Liebe zur Erkenntnis, ist ihr Wesen sondern Philo-doxie, Liebe zu Schein und Meinen. So weit hat — das wird unausgesprochen um so wirksamer deutlich — diese ontologische Orientierung die Lage F r i e d l ä n d e r , Platon III
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VI 484 Α 478 Α
VI 487 Β 502 C
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geklärt, daß alle jene „Vielen", die da über Sokrates herzufallen sich rüsteten, nunmehr als Philodoxe unterhalb des Philosophen eingeordnet sind. Aber damit ist immer noch nicht der paradoxe Satz einsichtig gemacht, daß der Philosoph Regent sein müsse. Dieser Nachweis wird geführt auf dem eben gewonnenen ontologischen Fundament. Die Erkenntnis des Seienden, der Wahrheit, weist die Richtung auch für das irdische Staatsleben, dessen Aufgabe ja ist, Gesetze über das Schöne, Gerechte, Gute zu geben und die bestehenden zu hüten. Denn nur jene Erkenntnis macht „sehend". Verbindet sich damit noch Erfahrung und allseitige Arete, so ist der Nachweis geführt. Und in der Tat lehrt der Rückgriff auf die ontologische Basis, daß die „Natur" des Philosophen alle Tugenden, d.h. hier: ursprünglichen Kräfte, einschließen „muß"37). Denn Verwandtschaft und Zugehörigkeit zu dem Seienden ist unverträglich mit jeglicher Art von Niedrigkeit oder ursprünglichem Mangel. Inneres Gleichmaß (εμμετρος φύσις) ist dieser philosophischen Anlage eigen, da sie keine einzelne jener natürlichen Gaben im Übermaß besitzen darf. Zur Vollendung kommt sie durch Erziehung und durch Reife des Mannesalters. Erziehung: das weist auf die zentrale Erörterung, die vor uns liegt; Altersreife: das zeigt, wie auch die natürliche Grundlage durchaus im Blick bleibt. Die so Veranlagten, Erzogenen und Gereiften also müssen Lenker des Staates werden. Damit ist der Kernsatz der Politeia einsichtig gemacht — im „Logos"! Aber gerade nun erhebt sich durch den Mund des Adeimantos die Gegenkraft und stellt gegen diesen Logos die durchschnittliche Erfahrung: wenn die Philosophie nicht auf die Jugendbildung beschränkt wird, sondern jemandes Leben ganz erfüllt, so wird er unbrauchbar für bürgerlich-staatliches Dasein. Wir kennen den Vorwurf aus der Kallikles-Rede des Gorgias-T>\&\ogs (484 C), und wir sahen (S. 61), wie Piaton ihn allein, als er diese Rede im II. Buch der Politeia durch Glaukon erneuerte, für unsere Stelle des VI. Buches aufgespart hat, um durch seine Überwindung das Wesen des philosophischen Staates weiter zu klären und zugleich den Weg zu bereiten für die philosophische Bildung. Das Wesen des Staates wird an dem Vorwurf geklärt. Der Staat, so spricht die Menge durch den Mund des Adeimantos, kann mit dem Philosophen nichts anfangen. Dieser ist im günstigsten Falle
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„unnütz" — das Wort „unnütz" bleibt für eine Weile thematisch38). Die Menge spricht wahr, erwidert Sokrates zum Erstaunen des andern, das wir teilen; aber sie spricht wie eine meuterische Schiffsmannschaft, die den echten Kenner der Schiffahrtskunst für unnütz hält, für einen „In-die-Luft-Gucker und Wortespinner" — Spottnamen, wie sie in Piatons Jugend von der Bühne und auf dem Markte umherflogen gegen die Aufklärer, Naturforscher und Redekünstler. Der Angriff gegen Sokrates selber in Aristophanes' Wolken klingt deutlich an (488 E). Aber was ist denn nun wahr an jenem Urteil der Menge ? Freilich ist der Philosoph unnütz in dem gegenwärtigen Staat. Doch damit wird nicht, wie die Menge glaubt, der Philosoph sondern eben dieser Staat verurteilt. Zum Sein des Philosophen gehört — so vernimmt man dahinter — der wahre Staat, der eben durch den Philosophen zu einem wahren, das heißt auf das Seiende bezogenen Staate wird, und in dem dann der Philosoph nicht länger unnütz ist. Aber der gewöhnliche Vorwurf gegen die Philosophen hat doch noch eine andere Seite. Nicht nur unnütz nennt man sie, sondern viele von ihnen seien „ganz schlecht" (παμπόνηροι 487 D 2.489 D 3). Darin liegt etwas, was uns aufklärt über die philosophische Natur selber. Wir gehen abermals aus von der Grundbestimmung des Philosophen, daß er erfüllt ist von der Liebe zum wahren Sein. Ihm will er — so wird jetzt diese Leidenschaft in ihre Folgen begleitet — sich nähern, mit ihm sich gatten, Geist und Wahrheit zeugen, um in der Erkenntnis und in der Wahrheit zu leben und so von seiner Qual befreit zu sein. Zu alledem gehört dann eben notwendig jener „Chor" von „Tugenden", in welchem sich so entgegengesetzte Vorzüge wie etwa Gerechtigkeit und Maß auf der einen, Tapferkeit und Stolz auf der andern Seite, dann wieder leichte Auffassung und Gedächtnis verbinden müssen. Neben allem Hohen aber, das sehen wir von neuem, wie wir es seit Beginn unserer Staatsgründung sahen (S. 74), steht als eine Drohung die Möglichkeit des „Verderbs". Je stärker das Gewächs, um so gefährlicher wird ihm unzuträgliche Nahrung, während einer mittelmäßigen Natur solche Gefahr gar nicht droht. So zeigt gerade das Berechtigte, was an jenem Vorwurf der Menge ist, die Steilheit der philosophischen Existenz und die Notwendigkeit und Verantwortung der philosophischen Erziehung-Bildung (492 A). Davon scheinen auch heut die Feinde des platonischen Philo7*
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sophenstaats — Arnold Toynbee an ihrer Spitze — nichts zu ahnen, unwissend daß sie mit jener Menge gehen39). Bevor wir nun die höchste Ebene erreichen, auf der die Erziehung zum Philosophen-Herrscher Gegenstand der Erörterung sein wird, muß die Aufgabe noch dringlicher gemacht werden. Noch sind die Möglichkeiten nicht erschöpft, die in den Worten „Verderb der philosophischen Natur" angelegt sind. Zwei Namen verbinden sich für Piaton mit diesen Worten unlösbar: Sokrates, den von dem unsinnigen Vorwurf, er verderbe die Jugend, für die Menge auch Piatons Apologie nicht hatte befreien können, und Alkibiades als das große Beispiel einer philosophisch und herrscherlich begabten Natur, die nun aber wirklich verdorben worden ist. Die Anklage gegen Sokrates klingt bis in den Wortlaut an (492 A) wie vorher der Angriff in den aristophanischen Wolken, damit man sehe, wie gefährdet die Existenz des Philosophen ist. Mußte doch jeder Leser, wenn nicht schon vorher, so bei den Strafen, die den unfügsamen Erziehern drohen — „Verlust der bürgerlichen Rechte, Vermögenskonfiskation und Tod" — an Sokrates denken (492 D). Gegen die tyrannische Macht der Menge vermag der Einzelne gar nichts40). So verzweifelnd denkt Piaton über die Möglichkeit echten Erziehens im gegenwärtigen Staat, daß er es für eine besondere göttliche Gnade hält, wenn in diesem Zustand jemand „gerettet" wird (492 Ε f.). Wenn also ähnliche Vorwürfe wie gegen Sokrates sich gegen einzelne „Weisheitslehrer" (Sophisten) erheben, so muß man wissen, daß in Wahrheit diese eben zur Masse gehören, und daß sie die Zöglinge in den Meinungen der Masse erziehen. Also prallt die gegen Sokrates geschleuderte Anklage auf die Kläger, nämlich auf die Vielen, zurück, die ihrem Wesen nach unphilosophisch sein müssen (494 A). Sie trifft die zünftigen Weisheitslehrer, die eben auch Masse sind. Sie nimmt nur gerade den einen Sokrates aus, dessen Erziehungswerk als rettende Tat des Gottes erscheint. Und Alkibiades. Man hat immer gesehen, daß in dem Folgenden sein Bild vorschwebt (494 Β ff.). Man hat nicht sehen wollen, daß der Dialog Alkibiades in seinen Hauptzügen hier eingeschmolzen ist. Aus dem allgemeinen Typus der hochbegabten und großgesinnten Natur, dem auch Dion und Piaton selber angehören, heben sich immer deutlicher die Züge heraus, die im Anfang jenes Dialoges Sokrates gerade an Alkibiades aufweist. Er stammt aus einer
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großen Staatsgemeinde, er ist reich und edel geboren, wohlgestaltet und groß gewachsen41). Daraus entsteht ihm grenzenlose Hoffnung, nicht nur über Hellenen sonder auch über NichtGriechen zu herrschen, und er füllt sich mit leerer Einbildung42). Nun tritt „Jemand" zu ihm, sagt ihm die Wahrheit: nämlich daß keine Vernunft in ihm ist, daß er aber ihrer bedarf, und daß man sie nicht erwerben kann, wenn man sich nicht ganz diesem Erwerb hingibt. Es wird ihm schwer darauf zu hören wegen der vielen Übel, von denen er umringt ist; dann aber, wegen seiner guten Anlage und Verwandtschaft mit dem Gesagten, merkt er auf und wird zur Philosophie hingewendet. Der „Jemand" in dem Alkibiades-Dialog ist Sokrates, und die einzigartige Bewegung jenes unvergleichlichen kleinen Werkes ist in dem großen so genau nachgezeichnet, wie es in der Knappheit irgend möglich war. Am Schluß des Alkibiades-Oialoges (132 A. 135 E) aber erklingt die Besorgnis, „du möchtest vom Athenervolk verdorben werden". Und dieser Verderb der höchstbegabten Natur wird hier im Staat gezeigt als eine Gefahr, vor der die neue Gründung wird schützen müssen. Den Platz, der von den philosophisch Begabten aber Gefährdeten leer gelassen wird, nehmen niedrige Naturen ein. So bleibt das Gelingen des philosophischen Lebens ein seltener Glücksfall (495 C ff.) — wo man in Piatons Worten den autobiographischen Ton nicht überhören wird43). Bei der Verbannung eines Mannes von edler, wohlgebildeter Artung (496 B) hat man mit Recht an Dion gedacht44). Wenn dann Theages genannt wird als einer aus dem sokratischen Kreise, den seine Körperschwäche vom politischen Leben fern hält, und wenn gleich darauf Sokrates in ironischem „understatement" und mit einem kurzen Wort von seiner eigenen dämonischen Stimme spricht, die ihn vom politischen Leben zurückhalte, so kann man kaum anders denken, als daß Piaton hier an seinen Theages-Tfialog erinnern will, das heißt an das Dämonische als eine in dem Erziehungswerk geheimnisvoll mitwirkende Kraft, die man auch künftig in dem vernunftvollen Aufbau des Erziehungsstaates nicht vergessen soll. Volles Gelingen aber — das also Piaton weder für sich selbst noch für Sokrates in Anspruch nimmt — würde nur dann beschieden sein, wenn ein Mann von philosophischer Anlage und Bildung zusammenträfe mit der zu ihm „passenden Staatsverfassung", also mit dem „besten
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Staat", auf den wir nun wieder zurückgeführt sind. Diesem Staat fehlt etwas, ja fehlt noch die Hauptsache, ohne die er zu Grunde gehen müßte (497 D 9). Noch hat der Logos, hat die Philosophie, hat die philosophische Bildung in ihm nicht ihren festen Platz. Seitdem wir in dem Abschnitt von der musikalischen Vor-Erziehung hingewiesen wurden auf den Logos, der später kommen müsse (402 A), seitdem ist die Spannung auf das gerichtet, was immer wieder zurückgehalten nun bald als Lösimg erscheinen muß. Noch freilich sind wir nicht ganz dort, wo mit frischem Einsatz das Werk der philosophischen Erziehung beginnt (502 C). Noch bewegt man sich — den Blick scharf auf diesen Punkt gerichtet — weiter in der begonnenen Bahn. Denn wir waren ja hierher gelangt, indem Adeimantos die Erfahrung der „Vielen" ins Gespräch warf, daß „Philosophie" eben gerade für den Jugendunterricht tauge, während allzu langes Verweilen in ihr die Menschen für den Staat untauglich machen müsse. Jetzt sind wir so weit, daß im Rückstoß gegen die Vielen gefordert wird: für den Knaben eine „knabenhafte Erziehung und Philosophie", mit zunehmenden Jahren ein immer stärkeres Anspannen der philosophischen Bestrebungen, die im Alter zum Hauptgeschäft werden (497 Ε ff.). Das ist ein neuer Hinweis auf die bevorstehende Aufgabe und zugleich die Antwort an die Vielen, die vorher durch den Mund des Adeimantos ihr Bedenken gegen das allzu lange Verweilen in der Philosophie ausgesprochen hatten. Aber dieses Bedenken war ja nur ein Teil innerhalb der großen Bewegung, die Sokrates durch die Paradoxie von den PhilosophenKönigen entfesselt hat. Immer deutlicher hat sich gegen die Vielen, unter denen jetzt (498 D ff.) die wortklingelnden Rhetoren, die Eristiker, die Advokaten sich herausheben, die Notwendigkeit philosophischer Bildung durchgesetzt, und so steht nun fast am Ende dieses Teiles mit Nachdruck wiederholt die zentrale Paradoxie, von der alles ausging (499BC. 501E). Wir wissen jetzt, was Philosophie ist: Vordringen zu der Welt des Geordneten und Immer-seienden, in der es keine „Ungerechtigkeit", keinen Übergriff gibt. Das Vollkommene aber weckt, wenn eine ihm verwandte Seele es anschaut, in ihr den Trieb es nachzubilden. So wird der wahre Philosoph, wenn „eine Notwendigkeit" ihn ergreift, in dieser irdischen Welt des Staates zu schaffen, sein Werk üben wie
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ein großer Maler von der Art des Polygnot nach dem göttlichen Vorbild schauend 44a ). Der Widerstand der Gegner ist besiegt, die Möglichkeit des, wenn auch noch so schwierigen, Unternehmens siegreich durchgefochten. Nur der Erziehungsweg muß, diese Forderung hat sich immer klarer herausgestellt, genau gezeigt werden. Und dann war fast zuletzt mit dem seltsamen Wort von der Notwendigkeit, in die der Philosoph geraten müsse (500 D 4), die Aufgabe deutlich geworden, das Wie des philosophischen Wirkens im philosophischen Staat zu bestimmen. An Einem haben wir bisher vorbeigesehen, als wir die Bewegung der letzten Strecke nachzuzeichnen suchten. Genau dort, wo sich die philosophische Bildung als notwendig erwies und ihre Stufung durch die verschiedenen Lebensalter klar wurde, steht amSchluß ein Wink hinaus über die Grenze unseres Daseins: das rein oder fast rein philosophische Leben des alten Mannes ist derart, daß ihm das jenseitige Leben entsprechen wird (498 C). Und die Energie, mit der wir unsere Gegner hier und jetzt zu überzeugen suchen, wird entweder Erfolg haben, oder wir werden damit etwas erreichen für das künftige Dasein nach unserer Wiedergeburt (498D). So klingt zweimal, plötzlich und befremdlich, für je einen Augenblick der Schlußmythos des gesamten Werks voraus, und der ethische Imperativ, der dem Seelenmythos innewohnt, wird auch hier schon vernehmbar.
Die Erziehung der Philosophen und deren Einordnung in das Staatsganze So sind wir denn bei der höchsten und schwersten Aufgabe angeIII 3. langt: bei der Bildung derer, die die „Retter des Staates" w e r d e n ^ * ^ ® ^ sollen. Fast von Ursprung und Anfang her (έξ άρχής 502 Ε 2) soll wieder alles abgehandelt werden. Noch einmal werden aus dem Vorigen alle Schwierigkeiten neu eingeprägt: das absichtliche Zurückhalten dessen, was zur Sprache kommen soll (503 AB. 504 B), deutet auf das Steile und Seltene der philosophischen Existenz. Warum so selten ? Das wird jetzt noch deutlicher als vorher. Weil die höchsten, allseitigen Forderungen an den Philosophen gestellt werden, muß seine Natur allseitig begabt sein; sie muß jene polar entgegengesetzten Grundhaltungen in sich vereinen: vorwärts-
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dringende Energie des Geistes und zurückhaltende Festigkeit (άνδρεία und σωφροσύνη). Man entsinne sich, daß noch im Politileos die Aufgabe des Philosophenherrschers es ist, diese beiden Grundtriebe im Staat auszusöhnen, damit man erfasse, durch welch raren Glücksfall sie sich in einer einzigen Person vereinigen mögen. So selten solche Naturen, so schwierig ist der für sie bestimmte Weg zu den „höchsten Gegenständen der Lehre" (μέγιστα μαθήματα 503 Ε). Es ist der „andere, größere Umweg" (504 B), der früher von fern gesichtet worden war (435 D), als man ihn noch, wie Sokrates dort ironisch verschleiernd sagt, vermeiden zu können hoffte. Von hier aus also sinkt jene frühere Untersuchung über die Gerechtigkeit und die anderen „Tugenden" und mit ihr die Lehre von der dreigeteilten Seele ins Vorläufige zurück. Sie war nicht „angemessen", wie der Partner meint, sondern es fehlte ihr Ende und Ziel und damit das richtige „Maß". Etwas Größeres also muß jener höchste Gegenstand sein, und die frühere Ethik und Psychologie darf nicht in ihrer Vorläufigkeit stehenbleiben, sondern muß jetzt vollendete Ausarbeitung empfangen. Also ganz schwer ist es. Aber plötzlich erscheint es wieder ganz leicht. Der höchste Gegenstand der Lehre ist ja „das Urbild des Guten". Daß er das ist, „hast du oft gehört". Nämlich immer wenn wir ernsthaft von irgend etwas Ernsthaftem sprachen, meinten wir zuletzt das Gute, Vollkommene. Alle suchen es. Die einen setzen es gleich mit der Lust, die anderen mit dem Denken (φρόνηση). Zwei gegensätzliche Haltungen werden deutlich gemacht. Bedenkt man, daß sie in eben dieser Gegensätzlichkeit später die Ausgangsstellung des Philebos bestimmen werden, so ergibt sich schon daraus klar, daß es sich hier um mehr handelt als um eine gelegentliche Auseinandersetzung mit Positionen anderer philosophischer Denker. Nicht ob hinter der „hedonischen" These Aristipp, hinter der „intellektualistischen" Antisthenes oder die Megariker oder auch Sokrates selbst zu erspähen sei, ist hier die wichtige Frage, vielmehr muß Lust gesehen werden als das natürliche Streben des leiblichen Daseins wie Erkenntnis das der geistigen Existenz. Jetzt aber will Piaton zeigen: Das Streben des Geistes wird sich selbst erst ganz deutlich, wenn es sich nicht als Erkenntnis schlechthin, sondern als Erkenntnis des Guten versteht — hier mündet eine Linie, die vom Charmides und Euthydem herkommt. Aber auch der Leib unterscheidet ganz von sich aus zwischen guter
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und schlechter Lust — durch solche Unterscheidung war schon im Oorgias die Macht der radikalen Hedonik gebrochen worden45). Beide notwendig einseitige und scheinbar gegensätzliche Positionen also weisen auf ein gemeinsames Ziel jenseits ihrer, das „Gute" — so unklar noch bleibt, was eigentlich dieses Gute ist. In aller Unklarheit, in allem Ahnen (μαντεύεσθαι 505 Ε 1. 506 A 6. 8) ist ganz deutlich: mag sonst menschliches Streben noch so sehr auf den Schein gerichtet sein, wer nach dem Guten trachtet, begnügt sich nicht mit dem Scheinhaften, sondern ist auf das Seiende aus. Damit wird das Wissen um das Gute die eigentliche Aufgabe des Wächters, das Gute, das über dem „Gerechten und Schönen" (506 A) auftaucht, und vor dem jenes System der Tugenden im IVten Buch zu etwas Vorläufigem hinabsinkt. Mit immer stärkerer Spannung erwartet der Leser, das Gute nun endlich zu Gesicht zu bekommen. Aber gerade hier sind wir an dem Punkte, der früher (Band I 66 f.) in seiner Bedeutung gewürdigt worden ist. Der durchschnittliche Verstand hält den Weiseren für fähig, jede Frage, die er ihm stellt, zu beantworten: so drängt Glaukon den Sokrates, seine Ansichten (δόγματα) über das Gute zu eröffnen (506 Α ff.). Eben dagegen aber wehrt sich aus Piaton der Nichtwisser Sokrates (506 C), der das kaum aus der Ferne Gesehene wieder verhüllt, weil er es verhüllen muß. Denn wenn er vieles „auslassen" (τταραλείττειν) wird, so wird er doch nichts „absichtlich zurückbehalten" (έκών ουκ άττολείψω 509 C)46). Wir zeichnen hier nicht noch einmal nach, wie das „Gute" in seinem paradoxen „Sein jenseits des Seins" sichtbar wird — und doch unsichtbar bleibt. Nur ganz im Allgemeinen sei dies bemerkt: Durch das gesamte Werk wuchs immer stärker die Spannung -— ganz deutlich mindestens seit jener Stelle in der Seelenlehre des IVten Buches, wo ausdrücklich der „größere und weitere Weg" verheißen wurde (435 D) — die Spannung auf das eigentlich Zentrale. Aber diesem Vordringen begegnet ein Zögern und Ausweichen. Als jenes am Ziel zu sein scheint, gewinnt dieses wieder an Kraft und hält ihm das Gleichgewicht. Nicht zufällig wird durch solches Streben und Widerstreben weithin die Form der Politeia bestimmt. Denn im Wesen des Agathon liegt das Doppelte: einmal daß es als Ziel allem unausweichlich die Richtung gibt; dann aber daß vor ihm das Wort halt machen muß, weil es jenseits des Seins und mithin jenseits des Logos ist.
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Nachdem so das Agathon in den Blick getreten — und in demselben Atem dem Blick wieder entrückt — ist, muß auch jene Gliederung des Seins und des Erkennens umgeformt werden, die damals, als das Wort „Philosoph" aufgetaucht war, eine erste Klärung bewirkte (476 C ff.). Wissen und Nichtwissen und auf der Gegenstandsseite Sein und Nichtsein als die Pole, zwischen ihnen einerseits die Doxa und andererseits als ihr Gegenstand die Werdewelt: dieses parmenideische Schema hatte damals genügt; jetzt stehen wir höher. Vom Nichtwissen und Nichtsein wird freilich geschwiegen. Mag sich in diesen Worten ein ernstes Problem verstecken, das der Theaitet und der Sophistes aufnehmen werden — im Leben kommen die reinen Verneinungen nicht vor. Selbst tief unten in der Höhle, so werden wir bald hören, fällt auf die Wand noch ein schwacher Feuerschein, von dem die Schatten sich abheben. Es gibt im Leben nur ein — wenn auch noch so getrübtes — Sein und Erkennen. Neu aber ist, daß der einfache Gegensatz von Wissen und Meinen, von Seinswelt und Werdewelt zu dem harmonischen System der vier Erkenntnisformen und der ihnen entsprechenden Seinsformen durchgebildet wird. Über diese Vierheit der Stufen, deren Zusammenhalt durch die Proportion verbürgt wird, führt der Aufstieg zum Agathon. So legt die neue Ontologie am Ende des VIten Buches den Grund für das was sich im Vllten anschließt. Das Höhlengleichnis führt aus dem Dunkel zum Anblick der Sonne — und wieder in die Höhle zurück (514 A—517 Α). Die Deutung führt aus der Welt des sichtbar Erscheinenden zum intelligiblen Ort, bis zur „Idee des Guten, Wesensform des Vollkommenen" — und von dort wieder zurück in die Werdewelt (517 A—518 Β). Die Erziehungs- und Wissenschaftslehre führt erkenntnistheoretisch und ontologisch über Gymnastik und Musik in das Gebiet der Logoi und hier durch die mathematischen Wissenschaften hinauf zur Dialektik und auf dem „dialektischen Wege" in den Anblick des höchsten Agathon— von dort aber wieder zurück zum Wirken innerhalb des Staates (518 Β — 535 A). So wird dreifach der Weg zum Höchsten gezeigt, und jedesmal wird wieder zurückgebogen in die menschliche Gemeinschaft und das Wirken in ihr als ethische Forderung eingeprägt. Zurückbiegen an den Anfang, um den Kreis zu schließen: das ist auch der Sinn dessen, was das Ende des Vllten Buches ausfüllt. Am Anfang des VIten, auf dem Boden jener früheren Seins- und
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Erkenntnislehre, war die Auswahl der zum Philosophieren und Herrschen Geeigneten erfolgt (485 Α ff.). Wenn jetzt bald mit denselben, bald mit anderen Worten fast dieselben Eigenschaften gefordert werden, so haben sie sich doch nach der neuen Ontologie vom Ende des VIten Buches, und nachdem der Weg zum Agathon frei geworden ist, unmerklich mit anderem Inhalt erfüllt. So sind die Mathemata, zu denen die Seele tauglich sein muß (485 Β 1. 535 Α f.), jetzt als die zum wahren Sein emporführenden Wissenschaften von der Ordnung deutlich geworden. Ein Wahrheitsfreund und fremd aller Lüge und Täuschung (άψευδής) soll der Auszuwählende sein, jetzt wie vorher (485 CD. 535 DE). Aber erst jetzt weiß man von den sich stufenweise läuternden Formen des Seins und des Erkennens, und daß allein „die Idee des Guten" es ist, die „Wahrheit und Sinn" (άλήθειαν καΐ νοΰν) spendet (517 C). Der Rückgriff, durch den das Ganze des Werkes sich zum Kreise rundet, geht noch weiter: zu der vorbereitenden Erziehimg der Bücher I I und III 4 7 ). Dort war im Voraus der Logos gesichtet worden, auf den zuletzt auch alle Gymnastik und Musik ziele (έλθόντοζ δέ τοΟ λόγου I I I 402 A 3). Jetzt wird vom vollendeten Logos her rückwärts in die Propädeutik eine Art spielenden Erfassens der Mathemata hineingesehen, wie denn mathematische Elemente in Gymnastik und Musik nicht zu verkennen sind. So ist der Anfang und fast das Ende des Bildungsweges noch einmal deutlich aufeinander bezogen. Die vollkommenste Zusammenflechtung des Bildungssystems zu einer Einheit aber ergibt sich am Schluß, indem das ganze Leben des zum Herrscher Bestimmten periodisiert wird. Nicht auf die Zahl der Jahre kommt es dabei zuletzt an, ob die gymnastische Jugenderziehung zwei oder drei Jahre dauern soll (537 B) und die Schulung in der Dialektik vier oder fünf oder sechs (539 DE), sondern auf etwas Wichtigeres: auf den Zusammenhang eines aus Erziehung und Wirken, aus Theoria und Praxis sich einheitlich aufbauenden Lebensprozesses, in dem auch das Höchste und Seltenste seinen bestimmten Ort hat, auch der Einsamste zum Dienst an der Gemeinschaft zurückgezwungen wird.
Der Verderb Der Thrasymachos stellte die Grundspannung zwischen „Gerecht" und „Ungerecht" dar. Der Qorgias machte daraus den Kampf der Philosophie gegen die Rhetorik, in dem jene Spannung zu
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neuer Heftigkeit gedeiht. Der in der Rhetorik verkörperten „Ungerechtigkeit" wird Schritt um Schritt ihr Machtbereich verkürzt, und mit jedem Schritt wächst der als Philosophie sich darstellenden „Gerechtigkeit" Raum zu. In der Politeia wird die alte Grundspannung zu dem Gegenüber des idealen Staates — Buch II bis VII — und der verfehlten Verfassungen — Buch VIII und IX. Die beiden Gegenkräfte also haben, indem sie als Staatsformen verkörpert wurden, ihren Ort gewechselt. Das konnte geschehen, weil der Thrasymachos zum Vorbau wurde, sodaß die „Ungerechtigkeit" schon bekämpft ist, als der Staatsbau beginnt. Es mußte geschehen, weil die „verfehlten Verfassungen" nur von der einen reinen her verständlich sind. Der Aufstieg hingegen über jene zu dieser wäre nicht denkbar. Denn selbst von der besten unter den verwirklichten führt keine Folge der Stufen zu dem Ideenstaate hinauf, der ein Wesen von völlig eigener Art ist. Piaton ließ — in hohem Ernst, dem doch Spiel beigemischt war — den vollkommenen Staat aus natürlichen Gegebenheiten erwachsen und machte durch diesen Werdeprozeß deutlich, daß sein Staatsgebäude, so sehr es ein Wunschbild ist, doch zu den Naturgesetzen des Daseins stimmt. Genau entsprechend sieht er jetzt das Verhältnis aller empirischen Staaten zu dem vollkommenen unter dem Bilde des Verfalls. Ihre Vielheit ordnet sich ihm zu vier Grundformen von Staat und Mensch, und deren größerer oder geringerer Abstand vom Philosophenstaat und Philosophenherrscher stellt sich ihm dar als Degenerationsprozeß, der in Stufen von der Gerechtigkeit zu der äußersten Ungerechtigkeit hinabführt. Denn hier werden „nicht die Formen geschichtlicher Verfassungen verglichen, sondern die staatsbildenden und staatszerstörenden Kräfte aufgewiesen"48). Wie das Werden des vollkommenen Staates in jenem Mythos vorgebildet ist, den im Protagoras-Dialog (322 Α ff.) der Sophist von der Erschaffung des Menschen erzählt, so ist jetzt Vorbild für den Degenerationsprozeß, so viel echte Erfahrung — auch unsre eigene Erfahrung! — darin ist, der hesiodische Mythos von den fünf Weltaltern. An ihn hatte Piaton schon viel früher erinnert, als er der menschlichen Substanz die verschiedenen Metalle beigemischt sein ließ (415 A). Jetzt greift er eben darauf zurück und nennt Hesiod mit Namen (546 E). Er beginnt diese Verfallsgeschichte mit einem feierlichen Anruf an die Musen „wie Homer" (545 D) —
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oder eher: wie Hesiod —, um gleich danach und in demselben feierlichen Ton die Hochzeitszahl zu konstruieren, die noch heut den Mathematikern zu schaffen macht. Hesiod war Dichter und Denker in einem, Piaton verschmilzt Mythos mit Mathematik und mit politischer Erfahrung. Auf jeder der vier Stufen des Verfalls wird für Staatsverfassung und Einzelmensch erstens die Umbildung (μεταβολή) in den neuen Typus und zweitens die Daseinsform dieses Typus beschrieben, so daß sich jede Stufe wieder vierfach gliedert. Um so mehr muß es auffallen, wenn dieses auf drei Stufen streng bewahrte Schema für die letzte, die der Tyrannis, erweitert wird um die Frage nach der Eudämonie dieses Staates und dieses Menschen (556 D ff. 571 A. 576 Β ff.). Damit wird der Weg genommen zu jener Untersuchung, die die Mitte des IXten Buches ausfüllt (576 Β—588 A): zu der Glücksabrechnung zwischen dem königlichen und dem tyrannischen Mann. Auf sie zielt alles Frühere. Als sie zum eigentlichen Thema wird, zeigt Piaton die Bedeutung des Moments dadurch an, daß er den Glaukon statt seines Bruders wieder in das Gespräch eintreten läßt. Und zugleich entsinnt man sich, daß am Schluß der großen Glaukon-Rede zu Beginn des Ilten Buches (361 D) eben diese Glücksabrechnung gefordert worden war. Damit wird klar, wie die Stufenfolge des Verderbs bis zur Tyrannis und zum Tyrannen hinab aus einer einfachen Grundform ausgeweitet ist, die in Piatons Geist ursprünglich angelegt war, und in die er hier aus Hesiods Mythos von den fünf Weltaltern die Stufenfolge hineinfügt. Am Schluß des Thrasymachos steht die Abrechnung über die Eudämonie des Ungerechten; auf der Polos- und dann auf der KalliklesStufe des Gorgias erweitert sich das zur Frage nach dem Glück des politischen Rhetors, der der Repräsentant der Ungerechtigkeit und gleichsam ein Tyrann ohne Tyrannis ist. Aus dem Gegensatz der Lebensprinzipien wird im Gorgias ein Gegensatz der Lebensformen, in der Politeia ein Gegensatz der Staatsformen. Aus dem polaren Gegensatz, wie er ursprünglich war, wird in der Politeia eine Stufenreihe, derart, daß doch die Polarität am Schlüsse sich wieder durchsetzt. Dreifach wird die Unseligkeit des Tyrannen aufgewiesen. Der erste Nachweis (576 C—580 A) wächst aus der Schilderung des Typus heraus. Wie der tyrannische Staat so ist die tyrannische Seele voll von Leidenschaften und damit voll Unfreiheit. Also tun
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Staat und Seele bei aller Willkür ganz und gar nicht „was sie wollen" (ήκιστα ττοιήσει δ άν βουληθη 577 Ε), und der wahre Tyrann ist in Wirklichkeit der wahre Knecht. Da hört man bis in den Wortlaut genau einen Hauptgedanken aus dem Polos-Gespräch des Gorgias wieder (ουδέν γάρ -ττοιεΐν ών βούλονται 466 Ε). Dort war der Gegensatz zwischen Willkür (α δοκεϊ) und echtem Wollen sogar ausdrücklicher gemacht. Hier ist dafür die Fülle des Beobachteten reicher, und der Parallelismus von Staat und Einzelseele beherrscht wie überall die Struktur und schärft alle einzelnen Züge. Läßt der erste Nachweis unmittelbar aus dem geschauten Bilde die Entscheidung erwachsen, so ruht der zweite und dritte auf einer Auseinandersetzung mit dem Prinzip der „Lust". Auch damit wird ein Aspekt des Gorgias wieder aufgenommen, wie denn nicht zufällig gerade hier im Staat das Bild des Siebes oder durchlöcherten Gefäßes anklingt als Symbol für die von der Lust zerstörte Seele oder das Begehrliche in der Seele49). Aber dieser Anklang macht nur deutlicher, daß jener Aspekt jetzt im Tiefsten verwandelt ist. Der radikale Kampf gegen die „Lust" — in dem freilich die Unterscheidung „besserer" und „schlechterer" Freuden schon wichtig wurde — ist ersetzt durch eine Einsicht in das gestufte System der Freuden, die nun nicht mehr nur bekämpft, sondern — wie das immer mehr das Verfahren des alternden Piaton wird — geordnet und eingeordnet werden. Der zweite Nachweis (580 D—583 B) geht aus von den drei „Formen" (είδη, Gattungen, Teilen), aus denen die Polis und die Seele besteht. Jeder „Form" entspricht ein eigentümliches Streben: nach Geld und Gewinn, nach Sieg und Ehre, nach Erkenntnis und Wissen. Wir kennen diese Stufenfolge aus dem Phaidon (68 C. 82 C). Dann war sie in der Lehre vom Verderb der Verfassungsformen leitend gewesen, um den Verfall des vollkommenen Staates zur „Timokratie" und weiter zur „Oligarchie" zu begreifen. Nun aber entspricht jedem solchen Streben nicht nur ein eigentümlicher Herrschaftstypus und eine eigentümliche Menschennatur, sondern auch — und das ist hier neu — eine eigentümliche „Lust". Also das philosophische Streben steht nicht wie im Phaidon und Gorgias gegen die Lust schlechthin, sondern eine Lust wird jetzt anerkannt, die eben dem philosophischen Streben zugehört. Über den Vorrang dieser philosophischen Lust vor den beiden andern kann nur der
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Philosoph entscheiden. Denn nur er kennt sie alle, und nur er verfügt über das Werkzeug dieser Entscheidung: den Logos. Am tiefsten und grundsätzlichsten ist der dritte Nachweis (583 Β— 588 Α), der — Erkenntnisse des Philebos vorwegnehmend —• den Begriff der „Wahrheit" überraschend auf das Wesen der Lust anwendet. Lust schien im Gorgias als das schlechthin Flüchtige aller Wahrheit und allem Guten noch feindlich gegenüberzustehen. Jetzt aber wird echte Lust als etwas Positives der Scheinlust entgegengestellt, die recht besehen nur ein gehobenes Weh ist. Diese steigt — im Bilde einer Skala — von unten bis zur Mitte, dem Indifferenzpunkt, jene von der Mitte nach oben, und der Irrtum der gewöhnlichen Deutung besteht darin, daß man ein bedingtes Oben mit dem unbedingten Oben verwechselt. Noch wichtiger ist eine zweite Betrachtung. Jedes Begehren entsteht aus einer Leere, geht also auf Füllung. Jede Füllung ruft Lust hervor. Aber das was sich füllt und das womit gefüllt wird hat verschiedene Grade von „Sein und Wahrheit" (οϋσία και άλήθεια), die Seele mehr als der Leib, die Erkenntnis mehr als Essen und Trinken. Einen verschiedenen Grad von Wahrheit oder Wirklichkeit hat auch die solcher Füllung jeweils zugeordnete Lust. Hier wird nicht mehr wie im Gorgias und Phaidon die Wahrheit und das Gute aller Lust entgegenstellt. Auch die Lust des Leibes hat ihr Recht und ihren Ort. Nicht das Begehren zu vernichten ist die Aufgabe, sondern es der Vernunft unterzuordnen. So kennt auch die Seele des Philosophen alle Formen der Lust. Aber wie es in der geordneten Politeia dieser Seele keinen inneren Feind und keinen Bürgerkrieg (στάσις) gibt, so herrscht in ihr auch eine Hierarchie der Freuden, die gestuft sind nach ihrem Gehalt an „Wahrheit". Dem Verfall der Verfassungsformen und der ihnen zugeordneten Menschentypen entspricht also auch ein Abstieg der echten Freude. Und wenn zum Schluß der Abstand zwischen der Freude des „Königs" und der des „Tyrannen" in arithmetischem Spiel bestimmt wird — F. d. K.: F. d. T . = 729: 1 ( = 3®: 1) —, so tritt noch einmal die gestufte Ordnung der Staats- und Menschenformen in das Bewußtsein, die in den Gegensatz der beiden polaren Typen hineingewachsen war.
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Der letzte Anstieg V. Buch IX Mit der tiefsten Stufe des Verderbs konnte Piaton nicht schließen, wenn —X*Ende Glücksrechnung nicht wieder an das höchste Ziel gemahnt hätte. Schon das Gleichgewicht des Kunstwerks verlangte hier, wo die Glaukon-Rede vom Anfang des Ilten Buches beantwortet worden ist, wo also dieser äußere Kreis sich gerundet hat, daß nun zuletzt auch das Erste Buch, der alte, jetzt neu verwandte und eingeordnete Thrasymachos - Dialog, symmetrisch aufgewogen wurde, sagen wir zunächst nur: durch irgendetwas. Die Politeia war aus dem Gorgias erwachsen. Der Gorgias gipfelte in dem Jenseitsmythos. War dieser wirklich ein organischer Bestandteil des früheren Werkes, so konnte auch dem neuen, größeren Gewächs der Endmythos nicht fehlen. Den also mußte jenes „Irgendetwas" enthalten. Aber was hier aus der künstlerischen Form der Politeia und ihrem organischen Wachstum abgeleitet wird, läßt sich in einer tieferen Schicht als philosophische Gesetzmäßigkeit des Werkes erfassen. Seit der Glaukon-Rede des I l t e n Buches steht die Frage nach dem Glück des Gerechten und des Ungerechten offen. So viel Verschiedenes, ja Entgegengesetztes, in dem Worte Eudaimonia sich zusammenfinden mag — vollkommenes Sein und Lust —, diese Gier nach ihr ist berechtigt. Denn sie ist ein Trieb des Lebens selber. So aber wie die Glücksrechnung gegen Ende des I X t e n Buches vollzogen wird, am Leitfaden der Freude, ist sie unvollständig und unzureichend. Man braucht das nicht aus Allgemeinheiten abzuleiten. Man kann es aus einer wichtigen Stelle der Gesetze (V 732 D ff.) entwickeln. Dort wird ein Vergleich der verschiedenen Lebensformen gegeben je nach ihrem Gehalt an Lust und Weh mit dem allgemeinen Ergebnis, daß das Leben der Arete gemessen an der entgegengesetzten Lebensform nicht nur alle anderen Vorzüge habe, sondern auch „lustvoller", „freudvoller" sei (κρατεί τω χαίρειν ιτλείω 733 Α, ήδίω είναι 734 D). Schon der Platz dieser Erörterung als letzter „Vorspruch" (ττροοίμιον), ehe das eigentliche Gesetzbuch beginnt, beweist, wie wichtig sie ist, und begründet wird die Wichtigkeit damit, daß an Lust und Weh und Begehren im allerhöchsten Maße das eigentlich menschliche Dasein hängt (732 E). Und mit Menschen, nicht mit Göttern haben wir — Gesetzgebenden — es zu tun. So „natürlich" denkt noch — und
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gerade — der alte Piaton. Hingegen die anderen „Vorsprüche", welche vorangehen, handeln von den Göttern und dem, „was nach den Göttern das Göttlichste ist, der Seele" (726 A). Wie man dieses Göttlichste „wahren" und pflegen müsse, und daß die Teilnahme am Schlechten dieses Göttliche schlecht mache, ferner die natürliche Rangordnung zwischen Seele, Leib und Gütern, und was daraus für Erziehung und Gesetzgebung folgt: all das wird in feierlichen Worten eingeprägt. Dies ist der „göttliche" Aspekt der Dinge, dem dann in der Lustrechnung der „menschliche" folgt. Beide ergänzen sich notwendig. Der menschliche allein wäre gemeiner Hedonismus, der göttliche allein wäre zu hoch für die Menschen. So hat Piaton immer gedacht, schon im ProtagorasM). Damit ist einleuchtend, warum der Staat mit der Glücksrechnung nicht schließen durfte: auch hier wäre die „menschliche" Betrachtung ohne die „göttliche" nicht nur halb, sondern eben dadurch falsch gewesen. Diese höhere Glücksabrechnung aber lag für den Piaton des Staates in jener Sphäre, wo die Seele Aug in Auge mit dem wahrhaft Seienden steht. Erwäge man noch ein Letztes. Piaton hatte zum Vorbau seiner Politeia den Thrasymachos-Dialog gemacht, aus dem sie zuletzt erwachsen war. Im Anfang dieses Frühwerks aber vernimmt man aus dem Munde des alten Kephalos jenen volkstümlich-unverbindlichen Hinweis auf das Jenseits, seine Belohnungen und Strafen, der dort, weil er aller sokratischen Forschung vorausging, keine weiteren Folgen haben durfte. Wie er aber überhaupt in dem platonischen Gesamtwerk weiterwächst, so trug die Politeia mit dem Moment, wo der Frühdialog zu ihrem Vorbau wurde, den Zwang in sich, jener Vorläufigkeit des Anfangs durch einen echt platonischen Jenseits-Mythos zu entsprechen61). Wir ließen uns vorher von der organischen Verknüpfung zwischen Gorgias und Staat leiten. Nun aber ist zu sagen, daß die beiden Werke bei aller Verwandtschaft des Baues doch einen bezeichnenden Unterschied haben. Der Gorgias steigt in einheitlicher Linie bis dorthin an, wo die sokratische Kraft sich immer stärker durchsetzt und der Jenseits-Mythos als der natürliche Gipfel aufwächst. Ganz anders der Staat: seine höchste Erhebung ist mit Notwendigkeit in der Mitte, in der Gründung des idealen Staatsbaues selber. Dann aber folgt der Abstieg durch die „verfehlten" Verfassungen, und wenn dieser auch zuletzt mit jener irdischen Friedländer, Piaton III
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Glücksrechnung schließt und so die höchste Form wieder in den Blick bringt, so konnte doch an diesen Abstieg unmittelbar kein Jenseitsmythos organisch ansetzen, und es bedurfte eines weiten Weges, um dorthin zu gelangen. Gehen wir aus von der Einsicht, die im letzten Teil des Gorgias mit immer neuen Vorstößen Sokrates gegen Kallikles durchficht (503 D ff.): es ist die Einsicht in das Wesen der Ordnung (κόσμος, τάξις). Geordnet ist gut, ungeordnet ist schlecht. So überall: beim Gegenstand, den der Handwerker, der Künstler hervorbringt, so beim Leibe, so bei der Seele. Ordnung der Seele aber ist Nomos und Arete. Damit ist zugleich erkannt die Bedeutung des Strafens, Züchtigens, Zügeins, Beschränkens (κολάζειv). Es stellt die verletzte Ordnung wieder her und ist darum besser als das, was die Menge sich wünscht: Zuchtlosigkeit, Zügellosigkeit (ακολασία) und Straflosigkeit (505 Α ff. 507 D). Dazu kommt nun noch im Kampf gegen die großen Staatsmänner das Bild des Menschen als eines Haustieres, welches zahm ist, da sein Pfleger es übernimmt, und durch falsche Pflege, durch den Mangel an Zucht, wilder wird als es zu Anfang war: es beißt, schlägt aus, stößt mit den Hörnern. Statt dessen ist es die Aufgabe des echten, des bildenden Staatsmannes, die Menschen „zahmer", ohne Bild gesprochen: „gerechter" zu machen (516 Α ff.). Im Staat (588 Β ff.) wird gleich hinter der Glücksrechnung ein phantastisches Bild der Seele geformt. Sie ist zusammengewachsen aus einem Menschen, einem Löwen, der von Schlangen umgeben ist, und einem dritten vielköpfigen Tiere, das im Kreise die Köpfe zahmer und wilder Tiere trägt und sie zu wechseln und neue hervorzubringen versteht 62 ). Das Ganze ist wieder eingeschlossen in einem Menschen, der den Leib verbildlicht. Und nun sieht man an diesem Bilde alle Zustände der menschlichen Seele: den Zustand der Ordnung, wenn die zusammengewachsenen Wesen einander Freund sind und der „innere Mensch" herrscht; die Untugenden aller Art, wenn dieses Verhältnis gestört ist, indem die löwen- und schlangenhafte Energie die Übermacht hat oder die vieltierischen Begierden; Züchtigung, wenn das Tierische befriedet, das Zahme dagegen befreit wird. Das Urteil der Menge, Straflosigkeit sei besser als Strafe, was meint es anderes, als daß dem vielköpfigen Tier Freiheit gegeben wird auf Kosten des „inneren Menschen" ? Der Gedankenbereich entspricht genau dem des Gorgias53). Wie im
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Gorgias bereitet er — wir werden das noch sehen — den Jenseitsmythos vor. Sollte nicht auch aus dem Bildansatz im Gorgias das Bild der Politeia erwachsen sein ? Der Schöpfertrieb in Piaton wollte die Gestalt der Seele verbildlichen, derselbe Trieb, der später im Phaidros das Bild des Seelenwagens, in den Gesetzen das Bild der Marionette schaffen wird64). Hier scheint er sich des Gegensatzes der zahmen und wilden Tiere im Gorgias zu bemächtigen und aus diesem Ansatz das phantastisch großartige Bild hervorzutreiben, von dem wiederum der Anfang des Phaidros (230 A) eine Spur bewahrt in dem „Ungetüm, das vielverflochtener ist als der Riese Typhon". Weniger auf diesen Nachweis kam es uns an als darauf, die Homologie des Abschnittes mit dem entsprechenden des Gorgias einleuchtend zu machen, womit denn für die Vermutung, daß das phantastische Bild hier wie dort eine Stufe auf dem Wege zum Mythos sei, ein Vorurteil geschaffen ist. Aber es versteht sich, daß Gewißheit nur aus der Bewegung der Politeia selbst gewonnen werden kann. Die Freude des Königs — so hieß es dort, wo der Verfall der Staatsformen sein Ende erreicht hat (587 DE) — verhält sich zu der des Tyrannen wie 729 zu 1. Aber das ist auch das Verhältnis eines Jahres (von 364% Tagen) zu einem (12stündigen) Tage und eines philolaischen „großen Jahres" (mit seinen 729 Monaten) zu einem Monat56). Damit also ist jene Zahl nicht nur „wahr", sondern sie „gehört auch zum menschlichen Leben" (προσήκοντα ßiois), das sich in den Zeiträumen von Tagen, Monaten, Jahren bewegt. Eine leere Spielerei ist das gewiß nicht66). Mannigfache Bezüge stellen sich ein zwischen Lebensdauer und Glücksfülle. Und vielleicht will Piaton noch darauf deuten, daß wir es nicht allein mit so seltenen Ausnahmefällen wie König und Tyrann zu tun haben, sondern daß dieser Kampf um das Gerechte unser menschliches Dasein überhaupt bestimmt. Vor allem aber spricht er aus, daß der Vergleich von Freude mit Freude unausdenkbar weit zurückbleibt, wenn man die innere Wohlgeformtheit oder Tugend ihrem Gegenteil gegenüberstellt, wo es denn nur noch Gegensatz und keinen Vergleich mehr gibt. Wie man darüber denke, jedenfalls wird gleichzeitig das Gespräch eigentümlich verschoben. Statt König und Tyrann heißt es jetzt (588 A 1) Gerecht und Ungerecht. Konnte man Freude des Ty8*
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rannen und Freude des Königs noch, gegen einander messen, so verschwindet alle Möglichkeit eines Vergleichs, sobald man den Guten, Gerechten und den Schlechten, Ungerechten einander gegenübersieht. Wie aus diesem Urgegensatz, der im ThrasymachosDialog herrschte, der politische Formreichtum der Politeia erwuchs, so taucht Piaton jetzt wieder in jenen Ursprung hinein. Damit biegt er in zyklischer Gestaltung zum Anfang des Ilten Buches zurück und zu der dort aufgeworfenen Frage, ob nicht die vollendete Ungerechtigkeit unter dem Schein der Gerechtigkeit dem Menschen förderlich sei (588 Β ~ 360 C). Ja noch weiter dringt er zum Anfang des Ganzen zurück mit einer Wendung gegen Thrasymachos, dessen Gewaltherrscher seine Herrschaft zum Schaden des Beherrschten ausüben wollte. Dort im ErstenBuche hatteSokrates mit Worten widersprochen, die vorauswiesen auf „einen Staat vollkommen guter Menschen, wenn er verwirklicht würde" (347 D 2). Jetzt in der „inneren Politeia" wird vollends klar, daß das Herrschende als das Göttliche seinem Wesen nach niemandes Schaden bezwecken kann, und daß alle anderen Kräfte sich diesem Herrscher freiwillig unterordnen oder sich ihm unterordnen müssen. Es ist wichtig, daß solche Beziehungen auf den Anfang des Werkes auch im Schlußteil nicht verschwinden, daß also die feindliche Gegenmacht bis zum Ende gegenwärtig bleibt57). Der Formwille des Künstlers aber, der hier sein Werk rundet, bliebe äußerlich, wenn nicht der Gehalt dem entspräche. Bis zur Glücksrechnung hatte man sich im staatlichen Bezirk bewegt. Dem Bau des Idealstaates folgte sein Verfall, den Verfallsstaaten entsprachen die gleichfalls politisch gesehenen Verfallstypen des Menschen. Nach der Glücksrechnung hingegen taucht man in jene gleichsam ursprunghafte Betrachtung zurück, aus der alle staatliche sich erst erhoben hatte. Erst in dieser Allgemeinheit kann man die echten Gesetze des menschlichen Daseins studieren, wie sie für jeden gelten, auch wenn er sich weder unter dem Bilde des Königs noch unter dem des Tyrannen noch auch unter dem der Zwischentypen wiedererkennt. Das ist der eigentliche Sinn der künstlerischen Rundung, insbesondere der Sinn des Mythenbildes von dem vielförmigen Ungeheuer, das man „Mensch" nennt. Dieses Mythenbild zeigt das Sein des Menschen in seiner schwer faßbaren Verflochtenheit und stellt zugleich dem Menschen die Aufgabe — denn platonischer Mythos ist zugleich ethischer Impe-
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rativ — aus der Vielheit eine gegliederte Einheit zu formen. Es zeigt das Sein des Menschen ganz unabhängig von aller Einordnung in den politischen Bau und gerade darum ganz radikal. Die Radikalisierung, die die innere Politeia und ihre Ordnung so erfährt, wird am Schlüsse dieser Episode, das ist am Schluß des IXten Buches, sinnfällig durch den Blick einerseits auf den empirischen, andererseits auf den wahren Staat. Wer seine innere Politeia zur Harmonie gestimmt hat, bleibt dem Staate, in den er hineingeboren ist, immer wesensfremd (wie Piaton dem zeitgenössischen Athen) — „wenn nicht ein göttlicher Zufall eintritt" (Worte, die Dion auf sich bezogen haben muß). Einzig dem wahren Staat gehört ein solcher Mensch an. Aber der wahre Staat entschwebt in diesem Augenblick aus der irdischen Wirklichkeit an den Himmel, um dort als Vorbild hoher Ordnung in dem Reich hoher Ordnung immer sichtbar zu bleiben. Nach den Verfassungsformen und den ihnen entsprechenden Menschentypen: der Mensch. So zieht sich die Betrachtung zusammen, indem sie das Politische in jedem äußeren Sinne hinter sich läßt, um es desto mehr in die „innere Politeia" gleichsam einzusaugen. Wie man denn nie vergessen soll, daß das Staatsgebäude errichtet worden war, um die Gerechtigkeit und ihr Gegenteil „in größerer Schrift" sichtbar zu machen (368 D). Stellt also das mythische Bild am Schluß des IXten Buches eine Radikalisierung dar gegenüber dem was vorhergeht, so enthält es in sich den Keim jener noch stärkeren Radikalisierung, die im Endmythos des Werkes gipfelt. Zwei Ansätze sind deutlich. Erstens: der „Mensch" trägt in sich den „inneren Staat", in diesem gibt es ein „Herrschendes", den „inneren Menschen" (589 A 7), das „Göttliche" (589 D 1. 590 D 1). Was das ist, wurde in der Mitte des Werkes gezeigt, so viel sich davon mit Worten zeigen läßt. Dort hieß es „das Beste in der Seele" (532 C), und sein Ziel war die „Schau des Besten im Bezirk des Seienden". Der Weg zu diesem Ziel wird jetzt mit dem Worte „Gegenstände der Lehre" (μαθήματα 591 C 2) kurz in das Gedächtnis gerufen. Der zweite Ansatz ist da, wo der wahre Staat aus der irdischen Wirklichkeit entweicht, um „am Himmel als Vorbild" sichtbar zu bleiben (592 Β 2). Der Himmel, dieses System hoher Ordnung, als der Ort dieses Staates, das Vorbildhafte als Wesen dieses Staates: das sind Züge, die der Staat mit der Idee gemeinsam hat. Die göttliche
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Seele und der geordnete Himmel als Baum ihres Daseins und ihres Schauens: im Endmythos werden beide zusammengeführt. Aber noch konnte hier der Endmythos nicht ansetzen. Was ist denn sein Wesen ? Daß er das Dasein der Seele über die engen Grenzen dieses Lebens in ein „Jenseits" ausweitet. Jenes vielgestaltige Ungeheuer aber, dessen innere Politeia es zu ordnen gilt, war ausdrücklich gefaßt als leiblich begrenztes — gerade weil die leibliche Harmonie der seelischen untergeordnet werden muß (591 D) — und damit zugleich als ein zeitlich begrenztes — in der kurzen Spanne vom Kind bis zum Greise kann nichts Großes geschehen (608 C). Also mußte ein neuer Aspekt von Seele, den früheren nicht vernichtend, sondern überhöhend, als Fundament für den Endmythos in den Dialog eintreten. Keine naturphilosophische Spekulation — wie im Phaidros — führt diesen neuen Aspekt von Seele herauf. Gewonnen wird er aus der Grundposition des Staatswerkes, aus dem Gegensatz von „Gerecht" und „Ungerecht". Der Leib hat eine besondere „Schlechtigkeit", fehlerhafte Verfassung (πονηρία), die ihm zugeordnet ist: Krankheit. Diese vernichtet ihn im äußersten Falle. Die Seele hat eine besondere „Schlechtigkeit", sie ihr zugeordnet ist: Ungerechtigkeit und überhaupt Bosheit (κακία). Dadurch aber kann die Seele — ganz anders als der Leib — auch im äußersten Falle nicht zerstört werden. Also ist sie unzerstörbar, unsterblich, immer-seiend. So schließt der „Unsterblichkeitsbeweis". Wir werden die Ironie nicht überhört haben, mit der ihn Sokrates dort, wo er ihn begann, für „gar nicht schwierig" erklärte und damit auf den Zweifel seines Partners — und unsern Zweifel — traf (608 D). Denn als Beweis — more geometrico — ist das Deduzierte absurd, als Einsicht in das Wesen sowohl von Gut und Schlecht wie von „Seele" höchst tiefsinnig. Seele wurde bisher gesehen nach der Analogie des Leibes. So durchaus noch in jener Betrachtung, wo sie als das vielköpfige Ungetüm erschien. Sie stand zwar in höheren Ehren (τιμιωτέρα 591 Β) als der Leib, doch der Parallelismus zwischen der Gesundheit des Leibes und dem „gesunden Sinn", der Sophrosyne, der Seele schien unzerstört. Jetzt aber sind wir — ähnlich wie auf der dritten, höchsten Ebene des Phaidon (S. 50 ff.) — an dem Punkt, wo alle Analogie versagt und Seele sich vom Leib radikal unterscheidet. Der Leib hat das Glück, daß er von seinem Leiden befreit werden kann durch
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Auflösung. Die Seele hat dieses Glück nicht. Ihre Unzerstörbarkeit ist etwas ganz anderes, als was die ängstlichen Gemüter meinen: keine Rettung vor dem Nichts, sondern die große, ja die einzige Drohung und die große, ja die einzige Aufgabe. Man wird dieser Drohung und dieser Aufgabe nicht quitt, indem man sich sagt: in kurzer Zeit ist alles aus. Wenn ich die Tatsache, daß es Gerecht und Ungerecht, Güte und Gemeinheit, Erkenntnis und Unwissenheit gibt, fixiere — wenn ich aus der Politeia weiß, daß mit diesen Worten die beiden Grundmöglichkeiten der Seele, d. h. des Menschen, getroffen werden — wenn ich wieder aus der Politeia weiß, was das Gerechte, das Gute ist, nämlich Idee, ewige Form — so erfasse ich die Seele nicht als ein mit dem Leib verbundenes Etwas, welches unsterblich ist und außerdem sich um Gerecht und Ungerecht bemüht, sondern als den ewigen, unzerstörbaren Kampfplatz zwischen Gerecht und Ungerecht. Der Grundkontrast der Politeia also fordert und verbürgt die Ewigkeit der Seele. So hat man den neuen Aspekt von Seele gewonnen. Der frühere wird damit nicht aufgehoben, sondern überhöht. Der Weg von der einen Ebene zu der anderen bleibt im Halbdunkel. Angedeutet wird er (611 C ff.) durch das mythische Bild des Meerdämons, der in seiner ursprünglichen Natur durch das Leben im Meere bis zur Unkenntlichkeit verändert worden ist. Rückkehr zur ursprünglichen, zur gottverwandten Natur, also Läuterung wird damit die Aufgabe der Seele. Die Grenze des Seelenmythos, der den Läuterungsweg der ewigen Seele beschreibt, ist fast erreicht. Fast, aber nicht ganz. Seit der Rede des Glaukon am Anfang des Ilten Buches stand die Frage nach dem „Glück" des Gerechten und des Ungerechten im Gesichtskreise. Piaton ist nicht gesonnen diese Frage abzuweisen. Denn in ihr spricht ein Trieb des Lebens selber. Im VI ten Buch, dort wo die Erziehung auf ihrem Stufenweg durch die verschiedenen Lebensperioden bei dem Greisenalter angelangt war und bei der Eudaimonie, die es begleitet, wurde für einen Moment die Eudaimonie über die Grenze dieses Lebens hinaus verfolgt in ein Jenseits, das solcher Eudaimonie entspricht, und in eine künftige Wiedergeburt, in der die früher gewonnenen philosophischen Erkenntnisse sich fortsetzen. Mit der Glücksrechnung, die im IXten Buch den Abschnitt von den Fehlformen des Staates beschließt, meldet sich diese Sicht von neuem, da das
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Ganze den Weg zu einer letzten Radikalisierung nimmt. Die beiden Aspekte von Seele werden entfaltet, und wiederum wird das Fragen nach ihrem „Lohn", d. h. nach ihrem Glück, erst zugelassen, nachdem man über ihr Wesen klargeworden ist (612AB). Erst jetzt ist diese Frage unanstößig (vüv ήδη άνεττίφθονον 612 Β). Aber jetzt läßt sie sich auch nicht länger abweisen. Den zwei Ansichten der Seele entsprechen zwei Stufen ihres Lohnes, freilich sowenig wie jene ängstlich geschieden58). Die zweite Stufe, auf der die „Seele selbst" der „Gerechtigkeit selbst" (612 B) zu begegnen die Möglichkeit hat, wird in den Mythos hineingenommen, die Frage nach Lohn und Strafe im engen Raum des irdischen Lebens ist das letzte Glied, das zum Mythos hinüberleitet. „Der Gute ist gottgeliebt. Ihm muß darum alles zum Guten ausschlagen im Leben oder auch im Tode. Denn von den Göttern wird nicht vernachlässigt, wer nach menschlicher Möglichkeit gestrebt hat sich dem Gotte anzuähnlichen." So spricht Sokrates, und der Partner erwidert: „Gewiß, es ist ja einleuchtend, daß der so Geartete nicht vernachlässigt werde von dem ihm Ähnlichen." Das sind Sätze, in denen man den wörtlichen Anklang an die Apologie (41 D) nicht überhören wird. Nur die Begründung greift jetzt tiefer, weist zurück auf den Emporstieg zum höchsten Guten im V l l t e n Buch, weist voraus auf die „Episode" des Theaitet (176 B). Ist es nicht sehr ironisch, daß Piatons Sokrates von dem äußeren Lohn sprechen will und gerade durch die Erinnerung an sein eigenes Schicksal den Siegespreis von Seiten der Götter doch wieder zuletzt nur dem Menschen in die eigene Hand zu legen weiß ? Und wie ist es mit dem menschlichen Lohn (613 B) ? Einfach genug. Alles wird schön und gut und sehr bürgerlich. Die Gerechten tragen am Ende jedes Geschäfts und des Lebens Ehre und Siegespreis von den Menschen davon. Wenn sie älter werden, so bekleiden sie die Würde, die sie wollen, in ihrer Staatsgemeinde und schließen eheliche Verbindungen mit den besten Familien nach ihrem Belieben. Und dem Ungerechten geht es schließlich umgekehrt. Es ist eine Stelle, die einem den ganzen Piaton verleiden könnte, wenn man sie völlig ernst nehmen müßte 69 ). Aber steht nicht gleich das Ganze sehr ironisch unter dem Vorbehalt: dem Gottgeliebten geht es auf das allerbeste — wenn er nicht aus einem früheren Leben noch etwas abzubüßen hat (613 A) ? Und vernahm man nicht eben den Klang aus der sokratischen Apologie: der Gute werde von den
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Göttern nicht vernachlässigt ? So daß man etwa von dort her an Sokrates' eignem Schicksal ablesen kann, wie es mit dem irdischen „Ende" steht, an dem die Gerechten Ehre und Siegespreis von den Menschen empfangen. Ein seltsamer Siegespreis, den Sokrates von seinen Athenern empfing! Und daß die Gerechten, wenn sie das entsprechende Alter erreicht haben, jede ihnen beliebende Würde in ihrer Staatsgemeinde bekleiden können, klingt auch spaßhaft, nachdem man vor kurzem (IX 592) gehört hat, der Weise werde sich in seiner Staatsgemeinde überhaupt nicht an dem öffentlichen Wesen beteiligen. Und die ehelichen Verbindungen mit den besten Familien, soll man das aus Sokrates' Munde ganz unerschütterlich ernst nehmen ? Man vergesse doch nicht, wie sehr wir hier, zumal wo über den schließlichen Mißerfolg der Ungerechten gesprochen wird, eine genaue Replik hören auf die Drohung aus Glaukons Munde (362 B). Sokrates steigt zu den Vielen hinab und reicht ihnen ihr Urteil ins Gegenteil verkehrt wieder zurück. U n d nach so vielen Vorbehalten wird dieses Stück vollends und gründlich eingeebnet durch den Satz, der zum Jenseitsmythos hinüberleitet: „All das ist ein Nichts an Menge oder Größe verglichen mit dem, was den Menschen nach dem Tode erwartet." In der Tat: gemessen an dem eterno dolore des Tyrannen Ardiaios verschlägt es nichts, ob er vorher auf Erden „geherrscht hat unter dem Scheine der Gerechtigkeit, sich verschwägert hat mit wem er wollte und darüber hinaus allen Vorteil und Gewinn genoß" (II 362 B), oder ob es ihm so arg gegangen ist, wie Glaukon es dem Gerechten, Sokrates dem Ungerechten voraussagt. Zwischen den beiden Ansichten der Seele steht ein bisher übergangenes Dialogstück: der Kampf gegen Homer und die von Homer bestimmte tragische Dichtung. Es verdient in diesem scheinbar ganz aus Episoden zusammengesetzten Schlußteil, in dem sich doch jede Episode als ein folgerichtiger Schritt zum Ziel erwiesen hat, den Namen Episode in einem echteren Sinne. Wer es nur durch polemische Beziehungen gerechtfertigt glaubt, hat wie immer bei Piaton Unrecht und hat doch das Fremdartige richtiger empfunden, als wer da meinte, daß es bei dieser Willkürlichkeit der Linienführung auf eine Episode mehr oder weniger nicht ankomme 80 ). In Wahrheit ist dieser Abschnitt seit langem vorbereitet. Den Kampf gegen die Dichter, Homer an ihrer Spitze, als die Begründer
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der falschen Theologie hatte die Adeimantos-Rede des Ilten Buches aufgeregt (364 DC). Dann hatte die Erziehungslehre des Ilten und III ten Buches weithin darin bestanden, im Kampf gegen jene Mythen Homers und seiner Nachfolger, der Tragiker vor allem, die neue Sicht des Göttlichen und die neue Sittenlehre zu begründen (380 C ff.). Gegenüber jenen Geschichten von den Göttern, die mit einander streiten und ihre Gestalt wechseln, von den Göttern als Ursache des Übels sowohl wie des Guten, eröffnet die Mitte der Politeia den Blick auf die unwandelbaren Formen und auf die Idee des Guten-Vollkommenen. Dann, nachdem die „innere Politeia" gegründet ist (IX 591 D), heißt es: die Harmonie des Leibes müsse als Ziel die Harmonie der Seele haben, wenn der Mensch „in Wahrheit ein musischer Mensch sein wolle". Diese Worte weisen zurück auf die Erziehungslehre in Buch II und III, aber zugleich weisen sie voraus. Denn wenn man an den Anfang des Phaidon denkt, und wie Sokrates dort den Befehl des Traumbildes „Übe musisches Werk!" ironisch umrätselt, so wird hier in den Worten von dem „wahrhaft musischen Menschen" jener Kampf vorbereitet, der dann in der ersten Hälfte des Xten Buches durchgekämpft wird. Dort wird gezeigt, wie die tragische Dichtung das Gleichgewicht der „inneren Politeia" stört (605 B. 608 B), und am Schluß dieses Abschnittes wird die Dichtkunst in ihrer Bedeutung und ihrer Gefahr mit Geld und Ehre und Herrschaft in eine Reihe gestellt, also gerade mit den Mächten, die vorher (IX 591 Ε f.) das Gefüge jener „inneren Politeia" bedrohten. Gewiß war der Kampf gegen die Dichter als die Zerstörer der echten, die Begründer der falschen Theologie, seitdem die Adeimantos-Rede des Ilten Buches ihn aufgeregt hatte, einer letzten systematischen Schärfe bedürftig, die erst von der Seinslehre des VII ten Buches aus gewonnen werden konnte®1). Aber daß sie gerade hier zwischen den beiden Aspekten der Seele und kurz vor dem mythischen Schluß des Ganzen kommen mußte, ist aus der Gesamtstruktur nicht einsichtig zu machen. Es gibt Gemälde, in denen eine Figur hinausblickt auf den Beschauer. Gehört sie zum Bilde ? Unlösbar. Denn das Ganze bräche zusammen, wenn man sie herausnähme. Und doch ist sie dem Bildzusammenhang, den sie begründen hilft, durch ihren Blick nach außen gleichsam wieder entrückt. Eine ähnliche Doppelstellung nehmen wir für die platonische Episode vom Dichter in Anspruch. Der „alte Zwiespalt
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zwischen Philosophie und Dichtkunst" (607 B), der in Piaton selber um seinen Ausgleich ringt, der sich im Ion zum ersten Male aussprach, hier findet er fast am Schluß des größten, zugleich philosophischen und dichterischen Werkes seinen heftigsten Ausdruck. Wir haben früher zu zeigen versucht, daß Piaton hier für sich selbst und seine philosophische Dichtung eben jenen Platz beansprucht, den er die tragischen Dichter und ihren Ahnherrn Homer zu räumen zwingt (Band I 125ff.).
Die mythische Linie des Werkes Mit dem Kampf gegen die überlieferte Mythologie geht Hand in Hand die Begründung des neuen Mythos durch die neue Poiesis. Am Schluß des ganzen Werkes steht er fertig da, freilich nicht so plötzlich, wie mancher denken möchte. Wie er vorbereitet ist durch die volkstümlichen Jenseitsvorstellungen, die wir im Ersten Buch aus dem Munde des Kephalos hören, und wie Anfangsmythos und Schlußmythos in ihrer Berührung wie in ihrer tiefen Gegensätzlichkeit die Gesamtspannung des Werkes von seinem Anfang bis zu seinem Schluß abbilden, das ist früher gezeigt worden. Jetzt ist zu sagen, daß auch zwischen ihnen die mythische Linie an den wichtigsten Wendepunkten wieder sichtbar wird. Am Ende des III ten Buches (414 Β ff.), wo die Gründung des Staates wie in einer Skizze (cbs έν τύττω) beendet ist, steht das Märchen von den goldenen, silbernen, eisernen, kupfernen Menschen, die in der Erdentiefe gebildet und dann von der Mutter Erde ans Licht hinaufgesandt wurden. Im Ylten Buch, als gegen die zentrale Paradoxie des Staates, den Satz von den PhilosophenKönigen, sich durch den Mund des Adeimantos die Erfahrung erhebt, macht Sokrates das Schicksal des Philosophen im gegenwärtigen Staat deutlich am Bilde der meuternden Schiffsmannschaft (488 Α ff.), die nicht begreift, was ein echter Steuermann ist. Am Anfang des VIIten Buches, dort wo die „Idee des Guten" in Abbild und in Wirkung sich offenbart und in ihrem „Jenseits des Seins" der Ahnung nahbar geworden ist, steht das Höhlengleichnis. Im IXten Buch (588 Β ff.) wird die menschliche Existenz anschaulich im Bilde des aus Mensch und Löwe und vielgestaltigem Tier zusammengesetzten Wesens, das wiederum in eine mensch-
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liehe Gestalt eingeschlossen ist. Die Kluft zwischen diesem Aspekt und dem der ewigen, unsterblichen, nicht mehr vielfältigen Seele hilft im X t e n Buch (611 C ff.) überspannen der Vergleich mit dem Meerdämon Glaukos, dessen ursprüngliche Gestalt unkenntlich geworden ist durch das Viele, was sich an sie angesetzt, und durch die Verletzungen, die sie erlitten hat. Wohl nicht zufällig steht das Höhlengleichnis in der Mitte des Gesamtwerkes, vor ihm die beiden Bilder des geordneten und des verwirrten Staates, ihm folgend die beiden Bilder der Seele, zu Anfang und zu Ende des Ganzen die Mythen vom Jenseits dieses Lebens. Freilich sind diese Gebilde von ganz verschiedenem Wesen. Ein echter Mythos ist allein das letzte, echt, weil er — als Ganzes — nur gehört und befolgt, aber — außer in Einzelheiten — nicht gedeutet oder in eine andere Form umgegossen werden kann. Das erste stellt sich dar als eine dem Staate nützliche Täuschung (γενυαΐον ψεϋδος), wie ihr früher (382 CD. 389 B) das Recht gesichert worden war. Sie soll — vielleicht nicht die Herrschenden, aber jedenfalls die niederen Stände — von dem Doppelten überzeugen: von der notwendigen Einheit der Polis — dem dient das „kadmeische" Element: die Herkunft aus dem Schöße der einen Mutter — und der eben so notwendigen Gliederung — dem dient das „hesiodische" Element: die Verschiedenheit der Metalle. Das Höhlengleichnis hat nicht einmal die Form des Märchens oder Mythos, sondern etwa die der verdeutlichenden Parabel, und das Bild (είκών) wird nachher (517 Α ff.) Zug um Zug ausgelegt. Ähnlich sind die anderen Stücke „Bild" (488 A l . 588 Β 10) oder Vergleich (611 C 7). Trotz solcher wesentlicher Verschiedenheiten ist doch in allen diesen Bildungen die eine mythenschaffende Phantasie am Werk, mannigfache Zusammenhänge zwischen ihnen bewirkend. Der Parallelismus von Staat und Seele ist wohl Ursache davon, daß das Bild des Schiffs mit der meuternden Besatzung an das Seelenbild des X t e n Buches anklingt. Um das Bild des schlechten Staates zu schaffen, muß man es machen wie die Maler, die Bockshirsche und ähnliche Mischwesen malen (488 A), und bei dem Bild der vielgestaltigen Seele wird an die alten Schöpfungen der Mythologie, Chimaira Skylla Kerberos, erinnert (588 C). Die meuternden Matrosen dort sind die begehrlichen Elemente des Staates, die Köpfe der zahmen und wilden Tiere hier sind die Begierden. Die
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Matrosen kämpfen bis aufs Messer um das Steuer; denn sie wollen „herrschen" und dabei gut essen und trinken (εύωχουμέυους 488 C 6). Das Tier mit den vielen Köpfen will stark werden, will gut essen und trinken (εύωχοϋντι 588 Ε 5), die Tiere kämpfen miteinander und beißen sich gegenseitig (589 A 4). Wie es dort den „wahren Steuermann" gibt, den die Matrosen einen „Sterngucker und Schwätzer und Nichtsnutz" nennen, so ist hier der „innere Mensch" in Gefahr von den andern hin und her gezerrt zu werden, da es doch seine eigentliche Aufgabe wäre, als Herrscher unter den andern Frieden und Freundschaft zu stiften. Die Seelenbilder wieder münden in den Endmythos, den Mythos vom Schicksal der Seele. An dem Meerdämon Glaukos sehen wir den Gegensatz des „reinen" Daseins, das ihr eigentlich zukommt, und des jetzigen Zustandes, wo ihr viel „Erdiges und Steiniges und Wildes rings angewachsen ist". Dieser Gegensatz, der hier der Seele überhaupt eignet, kehrt im Endmythos wieder, nur auf verschiedene Seelen verteilt: die einen kommen „rein" von ihrer Himmelsreise, die andern „von der Erde voll Schmutz und Staub". An den Löwen und an die Köpfe der zahmen und wilden Tiere im ersten Seelenbild wird man bei der Wahl der Lebenslose im Endmythos erinnert. Aias wählt das Leben eines Löwen: er ist ganz „Mut". Im Gleichnis können die Köpfe miteinander ausgetauscht werden (588 C 9). Wenn der „innere Mensch" zur Herrschaft kommt, wird er die zahmen pflegen, die wilden unterdrücken (589 AB). Im Mythos wandeln sich Menschen in Tiere, Tiere in Menschen und ineinander, ungerechte Menschen in wilde, gerechte in zahme Tiere. Was im Gleichnis der Seele überhaupt widerfährt, das geschieht hier den verschiedenen Seelen, und wenn es hier zum Schluß heißt, daß sie „Mischungen aller Art erfahren" (πάσας μείξεις μείγνυσθαι 620 D 5), so ist vielleicht an einen Vorgang gedacht, der so ein Mischwesen wie dort im Gleichnis erzeugt (μειγνύντες 488 A 7). Sehen wir zuletzt das Märchen von den Metallen, das Höhlengleichnis und den Schlußmythos an. Sie alle sind mehr oder minder bestimmt durch den räumlichen Gegensatz des Unter- und des Überirdischen, durch den Aufstieg aus jenem in diesen Raum und durch die Gegensätzlichkeit der Menschen, deren Existenz sich in diesen Räumen bewegt. Unter dem räumlichen Gegenüber versteht das Märchen von den metallenen Menschen einen Gegensatz
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der Physis: das Unterirdische meint den nährenden Schoß, aus dem der Mensch zu solcher oder zu solcher Art gebildet emporwächst. Auch die Verschiedenartigkeit der so gebildeten Menschen ist also biologisch, und biologisch ist ebenso ihr Aufstieg. Oder vielmehr, es ist bezeichnenderweise nicht ein Aufsteigen aus eigenem Willen, sondern die Erde „sendet sie hinauf", als wären sie ein Gewächs. Im Höhlengleichnis meint der räumliche Gegensatz des Unterirdischen und Oberirdischen, verstärkt durch den Gegensatz von Hell und Dunkel, einen Gegensatz der eigentlich menschlichen oder der geistigen Existenz. Ein eigentlich menschlicher oder geistiger Akt ist der Aufstieg: Erziehung-Bildung; und die Verschiedenheit der Menschen, ihre Freundschaft und Feindschaft untereinander bestimmt sich danach, ob sie an diesem Aufstieg teilhaben oder nicht. Im Schlußmythos endlich bleibt die radikale Verschiedenheit der Menschen bestehen, nur daß sie sich jetzt ausweitet zu dem Gegensatz Gerecht und Ungerecht, Fromm und Unfromm, Gut und Schlecht. Aufstieg und Abstieg enthält freilich auch jetzt noch den Gegensatz von Dunkel und Licht und damit von Unwissenheit und Erkenntnis in sich. Aber was nun dominiert, ist der Weg zum Gericht, ist Lohn und Strafe, Verderben und Eudämonie. So erleuchtet der mythische Weg der Politeia ihre drei Stufen: die Gründung in der Physis, den Aufstieg in der Paideia, den Beschluß in der Dike. Im Reich der Dike ist sowohl Physis wie Paideia aufgehoben. Die Macht der Physis stellen Ananke und ihre Töchter, die Moiren, dar. Die Weltenspindel verkörpert den höchsten Gegenstand anschauender Erkenntnis. Wenn wir im letzten Satz des ganzen Werkes die Mahnung hören, „sich an den Aufstieg (rfjs άνω όδοΰ) zu halten und Gerechtigkeit im Bunde mit Erkenntnis auf alle Weise zu pflegen", so soll man nicht entscheiden wollen, ob hier der Weg zum Gericht oder der Aufstieg aus der Höhle gemeint ist, weil durch den Jenseitsmythos das Höhlengleichnis hindurchscheint.
Die Daseinsform der Platonischen Politeia Aus der Einsicht, daß eine bildhaft-mythische Linie sich durch die ganze Politeia zieht, erhebt sich zum Schluß die Frage nach der Daseinsform des platonischen Staatsbaues überhaupt. Der Ort des wahren Staates sind die Logoi. „Im Bezirk der Worte" liegt er, nicht auf der Erde (IX 592 A). Er ist „Rede" (λέξι5),
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nicht „Geschehnis, Aktion" (πρδξις) (V 473 Α). Aber damit verliert er nicht etwa, wie die gewöhnliche Meinung damals und heute will, an Wirklichkeit82). Logos ist ja nicht „bloßes Wort", sondern ist Wort, das auf die „Wahrheit", auf das wirkliche Sein bezogen ist. Logos ist nicht ein schwächlicher Vorläufer oder Nachzügler der Praxis; sondern — so heißt es mit einer für das gewöhnliche Bewußtsein paradoxen Umkehrung — notwendig „rührt diese weniger an die Wahrheit als jener" (473 A). Was also das handelnde Leben an Wahrheit-Wirklichkeit hat, das trägt es vom Logos zu Lehen. Eine Form des Logos ist der Mythos, freilich eine Form, die dem Logos im engeren und strengeren Sinne wiederum gegenübersteht. Abgesehen davon, daß dieser Staat im Reich der Worte und Gedanken liegt, ist er doch auch Mythos, Märchenerzählung. Das tritt im Aufbau des wahren Staates plötzlich einmal zu Tage in einer Formel, in welcher sich Mythos und Logos unübersetzbar verschlingen (ήν μυθολογοϋμεν λόγω 501 Ε), dann dort, wo nach dem Vorbild des hesiodischen Mythos von den Weltaltern die Degeneration von Seele und Staat geschildert wird. Es ist ja nicht von ungefähr, daß Sokrates gerade hier wie ein Homer die Musen anruft (VIII545 D) und dann in der mythischen Weise des Timaios und doch in genauem mathematischen Verfahren die Hochzeitszahl konstruiert, die den Kairos der richtigen Geburten bestimmt und, wenn sie verfehlt wird, den Verderb der menschlichen Physis einleitet. So ist denn auch jedes Bauglied nur innerhalb des Ganzen „richtig", und das Mäkeln an einzelnen Institutionen, wie es seit Aristoteles immer wieder geübt wird, verfehlt diese mythische Gesamtverfassung63). Wiederum darf doch eine Formel wie „Mythos" nicht alle Unterschiede zudecken. So wichtig die Einsicht ist, daß Piaton weder dort, wo er den Staat wachsen, noch dort, wo er ihn verfallen läßt, als gelehrter Historiker oder Soziologe spricht, sondern numine afflatus641), so kann doch gerade der Vergleich mit dem Schöpfungsmythos des Timaios lehren, wie viel näher die „Tragödie" (τραγικώς 545 Ε 1) vom Verfall des seelischen und staatlichen Gefüges der menschlich-geschichtlichen Erfahrung steht als das Wunder des Kosmos. Welche Fülle politischer Wirklichkeit diese „Tragödie" in sich trägt, möge man daran abschätzen, daß der Wandel von der Demokratie in die Tyrannis genaue Züge dessen trägt, was wir selber 2300 Jahre später erlebt haben.
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So schwebt die Politeia zwischen Logos und Mythos. Sie ist Logos nicht nur im allgemeinen, sondern im strengen Sinne, weil sie auf das wahrhaft Seiende gerichtet ist. Sie hat etwas vom Mythos, weil sie einen Bereich des Werdens gestaltet, der alle menschliche Erfahrung überschreitet, und sofern der Mythos „eine Kurve ist, die zum Brennpunkt das Eidos hat" 66 ). Sie ist weder reiner Mythos, schon darum nicht, weil die echten Mythen immer in das Jenseits des menschlichen Daseins hinausgreifen, heiße es Tod oder Eros oder Kosmos. Noch ist sie immer und überall reiner Logos, weil der Staat, abgesehen davon, daß er auf das wahrhafte Sein zielt, als wachsender und verfallender der Welt des Werdens angehört. Sie ist Spiel (536 C. 545 E) und dabei jeden Augenblick zu höchstem Ernst bereit, jenes echt platonische „Ineinander von Ernst und Spiel, das undurchdringlicher ist als Stahl und Granit"ββ). Und es muß sich vereinigen, daß der Sokrates des Staates einmal nach Dichterart die Musen anruft (545 D) und an anderer Stelle (378E) eindringlich erklärt: wir sind „für jetzt" keine Dichter, sondern Gründer eines Staates. Die Politeia ist Musenwerk, philosophische Denkarbeit und politische Aktion zugleich. Es ist die höchst paradoxe Existenz dieses Staates (άδοξία 473 C 8. παρά δόξαν 473 Ε 4), daß er beinahe unmöglich ist, möglich nur unter einer fast unausdenkbar schweren, für den gemeinen Verstand absurden Bedingung. Wenn aber die Bedingung eintritt — über dieses Wenn verfügt kein Mensch —, ist er nicht nur möglich sondern sofort wirklich, ja so wirklich, daß er der einzige wahre Staat ist. Denn er ist auf das wahrhaft Seiende bezogen. Wird er verwirklicht, so bringt er die Rettung, und ohne ihn ist alles Verderben. Aber er ist gleichgültig gegen irdische Realisierung, weil er sich als die eigentliche Wirklichkeit im staatlichen Bereich weiß und, was man die wirklichen Staatsformen nennt, nur als mehr oder minder verdorbene Abbilder seiner selbst. Und er kann auch günstigstenfalls nur annäherungsweise verwirklicht werden, weil eben die Praxis nie die Wahrheitsnähe hat wie die Lexis. So hat er seinen Ort vielleicht am Himmel eher als auf der Erde (592 B), freilich nicht um den Menschen zu entschwinden, sondern nur um desto klarer gesehen zu werden als „Beispiel und Vorbild für den, der zu sehen und sich zur inneren Staatsordnung zu bilden entschlossen ist". Er wird damit nicht selbst zur Idee, da er ja vielmehr um die Idee als Zentrum gegründet ist. Aber er bekommt
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viel von dem Gepräge des ewig Seienden und des Vorbildhaften, das ihr eignet, und verhält sich zu jedem einzelnen Staat des Erfahrungsbereiches wie sie zu ihren mannigfach getrübten Abbildern. Daß wir so auf die Frage nach der Daseinsform der platonischen Politeia jede einfache Formel vermeiden, wie sollte es anders sein, da uns hier nicht ein Bezirk in Piatons Welt entgegentritt, sondern die zentrale Aufgabe seines Lebens.
F r i e d l ä n d e r , Piaton ΙΠ
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DRITTE P E R I O D E : SPÄTWERK
GRUPPE A DIALEKTIK
23. THEAITETOS Das Gespräch zwischen Sokrates, dem Mathematiker Theodoros und dem jungen Theaitet ist rein dramatisch ohne erzählende Zwischenreden geführt, wie das in manchen von den frühesten Schriften, dann im Kratylos, Gorgias, Menon geschieht und besonders in Piatons Spätwerk, d. h. überall dort, wo der leiblichgeistige Raum mehr vorausgesetzt oder angedeutet als ausgebildet ist. Symposion, Phaidon, Staat stehen auf der anderen Seite als wiedererzählte Gespräche mit reichem Ereignisraum. Der Theaitetos aber ist der einzige Dialog der rein dramatischen Gruppe, dem ein Vorgespräch wie im Symposion und Phaidon vorangeht. Das Hauptgespräch wird nicht mündlich berichtet, sondern — dieses einzige Mal bei Piaton — vorgelesen. Wie es zu dieser Vorlesung kam, zeigt das Vorgespräch, das also scheinbar leicht abzulösen ist; man kannte in der späteren Antike sogar ein anderes Vorgespräch an seiner Stelle, das ein antiker Literarkritiker als „ziemlich frostig" (ύττόψυχρον) charakterisiert. So haben sich schon antike Erklärer und dann wieder moderne den Tatbestand derart zurechtgelegt, als sei der Dialog ursprünglich ohne diesen Vorbau gewesen 1 ). Das V o r g e s p r ä c h leistet für den Gesamtbau zunächst dreierlei. 142A—143C Erstens wird — ähnlich etwa wie im Symposion — die (ideelle) Geschichtlichkeit und Genauigkeit des Berichtes gesichert, indem Eukleides sich auf die Erzählung des Sokrates beruft, und daß er immer wieder bei Sokrates nachgefragt habe, um Mängel der Niederschrift auszubessern2). Zweitens wird — ähnlich wie im Symposion und im Parmenides — die Bedeutung des Hauptgespräches von vornherein gesteigert, wenn es ein volles Menschen9*
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alter nach Sokrates' Tode noch lebendig ist. Und einen dritten Dimensionsgewinn bringt das Vorspiel für den Hauptpartner des Sokrates, Theaitet. Theaitet ist im Hauptgespräch der kluge, besonders mathematisch begabte Junge. Aber je mehr sich bei der Fragestellung des Dialoges diese Begabung auf den Intellekt richtet, um so wichtiger ist es, daß gleich zu Anfang der Berichtende nicht nur Theaitets leichte Auffassungsgabe hervorhebt, sondern darüber hinaus dieses, daß er so entgegengesetzte Eigenschaften wie Seelenruhe und Tapferkeit in sich vereinigt habe (144 A). Und nun gibt das Vorgespräch die Erfüllung dessen, was im Hauptgespräch Wort des Theodoros bleibt: Theaitet ist wirklich in tapferem Kampfe vor Korinth tödlich verwundet worden. Gewiß errichtet so am Anfang Piaton dem im Jahre 369 Gefallenen ein Denkmal. Aber man nehme auch dieses nicht nur persönlich. Wenn der kluge und wohlgeartete Junge zugleich als Mann gezeigt wird, der seine Tapferkeit bis in den Tod bewährt, so bedeutet das über den Preis der Person hinaus eine Darstellung dessen, was dem Piaton vollkommenes Menschenbild ist 3 ). Noch wichtiger ist für das Ganze der vierte Gewinn: ohne das Vorgespräch bliebe jene unvergeßliche Episode des Hauptgesprächs unverständlich (172 C—177 C), da Sokrates scheinbar unvermittelt davon zu sprechen beginnt, wie diejenigen, die lange Zeit in philosophischen Bestrebungen zugebracht haben, sich als Redner vor Gericht lächerlich machen. Die Plötzlichkeit dieses Ausbruchs hat in der Tat etwas Verblüffendes — wenn man das Vorgespräch vergessen oder als nachträglichen Zusatz abgesondert hat. Dort nämlich hören wir (142 C 6), daß Sokrates „kurz vor seinem Tode" mit dem jungen Theaitet zusammengetroffen sei. Und auf diesen Anfang beziehen sich wiederum die letzten Worte des Dialoges zurück, mit denen Sokrates sich anschickt in die „Königshalle" zu gehen, um sich dort der Anklage des Meietos zu stellen. Im Angesicht seines Prozesses, das heißt also seiner letzten Entscheidung, unternimmt Sokrates diese subtilen „erkenntnistheoretischen" Forschungen. Und so wird durch Anfang und Schluß des Ganzen jene Episode getragen, in welcher hoch über der eigentlichen Ebene der Erörterung die erhabene aber gefährdete Existenz des Philosophen gezeigt wird4). Ist also der Dialog, der als „das Grundbuch der platonischen Erkenntnistheorie" gilt5), darüber hinaus noch etwas ganz anderes ?
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Was mag es schließlich bedeuten, daß Piaton zu Personen des Vorgespräches Eukleides und Terpsion von Megara gemacht hat ? Geschah es nur darum, weil Megara von Korinth her gerechnet ein Halt auf dem Wege nach Athen ist ? Oder nicht zugleich darum, weil die „Megariker" mit ihrer dem Parmenides und Zenon zugewandten Dialektik eine Stufe auf dem Wege zu SokratesPlaton sind, ähnlich wie die pythagoreische Gemeinde in Phleius, die das Vorgespräch des Phaidon einführt ? Von Philosophie ist freilich zwischen den beiden Männern nicht die Rede. Aber vielleicht wollte Piaton dennoch, daß man bei dem Namen des Eukleides an das eine Sein denke, welches zugleich das Gute-Vollkommene ist, „das mit vielen Namen genannt wird, Denken, Gott, Geist und so fort"®), eine Wirklichkeit also, die sich aller sophistischen Auflösung von vorn herein entgegenstellt. Gewiß ist dieses Vorgespräch auch ein Dank an Eukleides, zu dem Piaton und andere Schüler des Sokrates nach dessen Tode, also vor 30 Jahren, sich geflüchtet hatten. Was aber bedeutet diese Widmung über das Persönliche hinaus ? Terpsion und Eukleides kommen noch einmal im platonischen Werk vor, im Phaidon, als die letzten in der langen Reihe der bei Sokrates' Tode anwesenden Gefährten, die dort der Berichterstatter aufzählt. Undenkbar, daß Piaton nicht daran gedacht hätte, als er das Rahmengespräch des Theaitetos erfand, schwer denkbar, daß er seine Leser nicht daran hätte erinnern wollen. Die beiden Dialoge sind ja auch die einzigen in Piatons Gesamtwerk, die das Vorgespräch aus Attika weg verlegen. Also an das Geschehen im Phaidon, das 30 Jahre zurückliegt, müssen wir denken, und jenes „kurz vor Sokrates' Tode" bekommt von hier aus noch einen starken Akzent. Wie sehr man den Blick einengt, wenn man die Absicht des Theaitetos-Oi&loges auf Erkenntnistheorie beschränkt, möge man daraus von neuem ersehen —· es sei denn, Erkenntnistheorie habe etwas mit dem Tode zu tun. Der Schauplatz, nicht gleich zu Anfang und auch nachher nur ganz 443D—145E knapp angedeutet, ist in der Palästra. Erst spricht Sokrates mit dem Mathematiker Theodoros aus Kyrene über den jungen Theaitet. Da tritt dieser selbst herein als der mittelste in einer Schar Gleichaltriger, die auch später gelegentlich (168 D 8) als anwesend gezeigt werden. Nicht nur im allgemeinen erinnert Bild und Bewegung an Charmides, Lysis, Euthydem. Auch im einzelnen kehrt Sokrates' Frage aus dem Charmides, wer gegenwärtig die
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hoffnungsvollsten jungen Leute seien, nur etwas umständlicher wieder und aus dem Lysis jener Zug, daß Sokrates den Namen des Jungen nicht weiß7). Theodoros hat wenigstens zunächst denselben Platz wie der Rritias des Charmides-Oialogea: als einer, der den jungen Menschen kennt, macht er — in der dramatischen Verflechtung — den Vermittler zwischen Sokrates und Theaitet, und gleichzeitig spiegelt er dessen Bild dem Leser zu. Diese Ähnlichkeiten bedeuten etwas. Nimmt man dazu, daß sehr bald die Frage gestellt werden und den Dialog beherrschen wird, was denn Erkenntnis sei, wie im Charmides nach dem Wesen der Sophrosyne, im Lysis nach dem Wesen der Freundschaft gefragt wird, und daß diese Frage überall ohne endgültiges Ergebnis bleibt, so ist klar, daß Piaton mit dem Theaitetos die Struktur der aporetischen Definitionsdialoge in das Werk seiner späten Reifezeit hineinnimmt8). In dem etwas zeremoniösen Anfangsgespräch der beiden Männer wird das Persönliche deutlich, von welchem die sachliche Erörterimg getragen ist. Sokrates fragt den Fremden nach den hoffnungsvollsten jungen Menschen; und er fragt nicht nach der kyrenäischen Jugend, sondern nach der athenischen; denn in diesem Raum erfüllt er seine Sendung. Theaitet wird ihm gezeigt als der Begabteste. Er vereint so verschiedene Gaben wie rasche Auffassung und gutes Gedächtnis mit Festigkeit und natürlichem Schwergewicht, Zartheit mit Mut. Denn daß man „erkenntnistheoretische" Fragen mit jemandem verhandeln könne, der intelligent aber feige oder maßlos ist, das wäre wohl eine moderne, aber eine durchaus widerplatonische Denkbarkeit. Vielmehr soll der Leser sich entsinnen, daß eine ganz ähnliche Vereinigung entgegengesetzter Vorzüge für die werdenden Philosophen-Herrscher im Staat (485 Α ff.) gefordert wird, und daß dort Gymnastik und Musik dazu dienen, dieses Einheitsgefüge vorzubereiten. Noch am Schluß des Politikos (309 Ε ff.) stellt Piaton es als Aufgabe des königlichen Staatsmannes hin, die beiden menschlichen Grundanlagen, vorwärtsstrebenden Mut und bewahrendes Maß, in ein Gewebe zusammenzuweben, und in den Oesetzen (V 731 Β ff.) fordert er, daß der „Gute" diese Gegensätze in sich vereine, mutvoll und maßvoll sei 9 ). Zu so Hohem also ist Theaitet durch seine Natur befähigt, und wie das Gespräch über die Sophrosyne nur mit Charmides geführt werden kann, der diese Tugend in ihrer naturhaften Vorform besitzt, so die Untersuchung
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über das Wesen der Erkenntnis nur mit Theaitet. Dann wird auch der Nachdruck, der auf seiner sokrateshaften Häßlichkeit liegt, mehr sein als nur eine Erinnerung an etwas ganz Persönliches, so sehr es auch dies ist. Die Sokrates-Ähnlichkeit — geht sie nicht hinaus über Stülpnase und vorspringende Augen ? Die Häßlichkeit — läßt sie nicht einerseits an die Schönheit jener Jugend denken, die Piaton in den früheren Dialogen gezeigt hatte, und andrerseits an den Stufenweg Diotimas, wo auf der höheren Stufe, „wenn nur die Seele wohlgeartet ist, auch eine geringe Blüte des Leibes genügt", um Liebe zu erwecken (Symp. 210 Β 8) ? Und überhaupt an die Eironeia, mit der des Sokrates (und nun des Theaitet) Äußeres sein Inneres verhüllt10) ? Auch Theodoros endlich wird nicht von ungefähr eingeführt, aus persönlicher Erinnerung und Dankbarkeit Piatons etwa, obgleich auch dieses mitspricht. Geometrie ist Vorstufe für die Dialektik, so lehrt der Staat, und Theodoros scheidet aus, als das eigentlich philosophische Gespräch beginnt. Aber mehr. Da das Gespräch sich um die Frage nach dem Wesen der Episteme bewegt, und zwar allem Anschein nach ergebnislos, so ist es überaus wichtig, wenn gleich in den ersten Worten des Sokrates „Geometrie oder ein anderes Wissensgebiet" (γεωμετρίαν ή τίνα άλλην φιλοσοφίαν) verbunden wird. W a s Erkenntnis ist, wissen wir freilich nicht. Aber um so deutlicher müssen wir gleich von Anfang an sehen, daß es Erkenntnis gibt. Durch die Geometrie und den Geometer wird sie nicht auf der höchsten aber auf einer hohen Stufe und in sehr bestimmter Form anschaulich dargestellt, und dieses wirkliche Dasein widersetzt sich schon im voraus allen Versuchen, Erkenntnis und ihren Gegenstand ins fließend Unbestimmte aufzulösen11). Im Charmides geht die Linie des Gespräches von der leiblichen Schönheit zu den inneren Vorzügen, dann fragt Sokrates den Jungen, ob er jene Sophrosyne besitze, die sein Oheim ihm zuschreibt, und daraus erwächst die Frage: was Sophrosyne sei. Im Theaitet liegt ganz ähnlich der Ausgangspunkt bei der Person des Jünglings, und die Linie mündet in die Frage: was ist Erkenntnis ? Aber der Weg ist kürzer und doch reicher an Ausblicken. Auch hier wird der Schritt vom Leiblichen zum Seelischen gemacht. Nur steht an Stelle der Schönheit die sokrateshafte Häßlichkeit, und die Erörterung knüpft an den kategorialen Begriff der „Ähnlichkeit" (όμοιοv) an, der später im Dialog zu jenen Gemeinbe-
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griffen (κοινά) gezählt wird, welche die Seele allein durch sich selbst erblickt (185 C ff.). Als Beurteiler solcher Ähnlichkeit wird scherzend der des Zeichnens oder Malens Kundige (γραφικοί) genannt, und ebenso scherzend wird ihm gegenübergestellt als Nichtwissender auf diesem, als Wissender auf anderem Gebiet der Kenner der Geometrie, Astronomie, Rechenkunst, Tonkunde und verwandten Bildungswissens (καΐ όσα παιδείας εχεται). Das ist der bekannte sokratisch-platonische Hinweis auf die Vertreter sachlichen und fachlichen Wissens, der hier einen besonderen Sinn für die Haupterörterung über das Wesen der Erkenntnis bekommt. Es handelt sich abermals um Erkenntnisformen, die ihre anerkannten Vertreter haben und durch dieses unangezweifelte berufliche Dasein in ihrer Wirklichkeit gesichert werden noch ohne die Erörterung über das Wissen als solches. Mit dem Blick auf jene Einzelwissenschaften also fragt Sokrates: worin besteht ihr Charakter als Wissenschaft ? Mag den Vertretern jeder einzelnen von ihnen solche Frage überflüssig erscheinen; aber kann nicht jede Wissenschaft ihrem Wesen untreu werden, wenn nicht die kritische, philosophische, sokratische Frage sie auf ihr Wesen hinweist ? Ist also nicht die ins Allgemeine gestellte, aber dann an Theaitet gerichtete Frage des Sokrates an jeden von uns gerichtet, die wir eine Wissenschaft oder Kunst ausüben ? (Denn dadurch unterscheidet sich ja der platonische Dialog von dem reinen Kunstwerk, daß er in jedem Augenblick den Leser zum Eintreten in die Erörterung auffordern kann12).) Bewährt sich also nicht gleich von Anfang an die Frage des Sokrates als eine, die durchaus nicht nur auf „Erkenntnistheorie", sondern zugleich auf „Ethik" gerichtet ist oder gar auf „Existenz" ? Sobald das Thema scharf gestellt ist, scheidet Theodoros aus und überläßt es der Jugend, sich dem Sokrates zur Prüfung darzubieten13). So beteiligt sich im Thrasymachos der alte Kephalos nicht mehr am Gespräch, als es sich dem Wesen der „Gerechtigkeit" selbst zuwendet. Und wie dort Kephalos eine volkstümlich traditionelle und sich selbst nicht durchsichtige „Gerechtigkeit" vertritt, so hier Theodoros eine auf bestimmte Sachen gerichtete Erkenntnis, die doch das Wesen der Erkenntnis nicht zu ihrem Gegenstande machen kann, und eine Art des Unterrichts, der das sokratische Gespräch (διαλέγεσθαι, διάλεκτος 146 AB) fremd ist. Aber freilich, Theodoros bleibt — anders als der alte Kephalos—
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anwesend, als Repräsentant dieses unerschütterlichen Sachwissens; seine Wissenschaft, Mathematik, bedeutet also etwas für die Grundfrage des Dialoges; und wir werden abzuwarten haben, wo er wieder in das Gespräch eingreift. V o r v e r s u c h . Sokrates also fragt den Theaitet nach „einer 145E—147C Kleinigkeit", über die er nicht zur Klarheit komme: was Erkenntnis, Wissen, Wissenschaft (έτπστήμη) sei. Dabei hat er, noch ehe er die Frage formell stellt, diese „Erkenntnis" mit der „Weisheit" (σοφ(α) gleichgesetzt und damit einen Wink gegeben, daß er Erkenntnis nicht auf irgendeinen Teilinhalt beziehe, sondern daß er die höchste im Sinn habe, „die allein von allen Erkenntnissen Weisheit genannt werden muß" (Staat 429 A). Aber diesen Wink übersieht Theaitet, als er die Antwort gibt: Erkenntnisse seien Geometrie und die übrigen mathematischen Wissenschaften, dazu die Handwerkskünste; diese alle zusammen und jede einzelne von ihnen, das sei Erkenntnis. Sokrates zeigt ihm den Fehler dieses Definitionsversuches: nicht auf Einzelerkenntnisse sei die Frage gerichtet, sondern darauf, „was das ist: Erkenntnis". Die Antwort gehe einen „unendlichen Weg", während doch nach De-finition, nach „Grenze" gefragt war. Der Theaitetos steht in der Reihe der aporetischen Definitionsdialoge, und die erste Antwort im Laches, Thrasymachos, Euthyphron ist von ähnlicher Art, indem sie irgendeinen Tatbestand aus dem Erfahrungsbereich des Gefragten aufgreift. Im Großen Hippias läßt Piaton nach zwei Versuchen von dieser Art einen dritten folgen, in dem eine lange Aufzählung gegeben wird. Diesen Dialogen schließt sich der Menon in seinem ersten Teile an, und hier findet sich denn auch die Aufzählung in ihrem Vielerlei statt der Abgrenzung und der Einheit. So sehr diese Strukturverwandtschaft deutlich macht, in welcher Traditionsreihe unser Dialog steht, so fern ist doch Piaton davon, einem Schema, und sei es seinem eigenen, sklavisch zu folgen 14 ). Vielmehr hat die Antwort Theaitets, der doch wahrhaftig nicht als beliebiger Schüler auftritt, in mehrfacher Hinsicht ihren sehr besonderen Sinn. Solche Aufzählung widerspricht formal-logisch Piatons Ansprüchen an eine Definition. Aber nicht nur Ungeschultheit oder Ungeschick wird hier getroffen; sondern eine bestimmte Theorie, auf die Piaton später ausdrücklich eingehen wird (207 C), sah die Aufzählung der Einzelelemente als Definition an. So kann diese Theorie samt ihren naiven Vorstufen gleich abgeschnitten werden
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durch die platonische Forderung des „Einen im Vielen", des „Identischen in allem"15). Inhaltlich sodann werden noch einmal, wie schon öfter geschah, die exakten Wissenschaften und hier noch dazu dieHandwerke aufgereiht, die ja in derTat in allem Folgenden vorschweben und von vornherein die Existenz eines Wissens gegenüber sophistischer Zerreibung verbürgen. Schließlich bedeutet es für das Gefüge des Dialoges etwas Besonderes, daß nach einer ironischen Zurechtweisung und nach einer kurzen Analyse des Fehlers Theaitet selber ganz von sich und aus eigener mathematischer Erfahrung das Gespräch vorwärts führt. Man vergleiche den Menon — wo Zurechtweisung und Analyse von derselben Art sind und doch der Partner mühsam von Sokrates geleitet werden muß (72 Α ff.), wo sogar ein Beispiel aus der Geometrie verdeutlichend vorwärts hilft, das wieder Sokrates heranholt (73 Ε ff.), — um die neue Fassung des alten Motivs zu würdigen. In der Dialogreihe, die der Theaitetos fortsetzt, pflegt auf die formal verfehlte Definition alsbald nach der kritischen Analyse eine erste Definition zu folgen, die dem Erfordernis der Einheit Genüge tut. Im Theaitetos ist das Gefüge ausgeweitet. Hier breitet sich nämlich zwischen jener kritischen Analyse und jener ersten eigentlichen Definition, also gleichsam noch im Vorbereich, das Gespräch über zwei Gegenstände aus, die nicht notwendig auf dem geraden Wege liegen, doch eben darum für das besondere Wesen unseres Dialoges bestimmend sind. 147 C—148Ε Das erste dieser beiden Gesprächsstücke ist jenes, auf das wir schon hinwiesen, in welchem Theaitet selber führt und von der Entdeckung spricht, die er gemeinsam mit seinem Freunde, dem jungen Sokrates, gemacht habe. Gewiß hat es diesen jungen Sokrates wirklich gegeben. Aber daß Piaton für Theaitets gleichaltrigen Freund gerade diesen Namen wählt, ist doch wohl nicht nur persönlich zu verstehen. Theaitet hat Gesichtszüge —• Stumpfnase und hervorstehende Augen — die an Sokrates erinnern; der junge Sokrates trägt den Namen des Meisters; und der Fund, von dem Theaitet nun berichten wird, ist ihnen in gemeinsamer Diskussion (διαλεγομένοις 417 D 1) gekommen, also in einer jugendlich-natürlichen Vorform des sokratischen Dialoges, während ihr Lehrer Theodoros das Problem, von dem ihre Erörterung ausging, für sie „aufgezeichnet hatte" (άγραφε 147 D 3). Gemeinsam haben sie die Zahlenreihe nach bestimmten Merkmalen erst
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in zwei, dann in vier Gruppen geteilt und haben zu jedem Gruppennamen die zugehörige Definition gefügt1®). Solches Verfahren möchte Theaitet auf die gesuchte „Erkenntnis" anwenden, weiß aber nicht weiter. Hier ist die Mathematik als propädeutische Wissenschaft nach dem Erziehungssystem des Staates an einem Beispiel gezeigt; dabei wird das Prinzip der „Gliederung" (Diairesis) in einer einfachen Vorform angewandt17); und zugleich bewährt sich der selbständige, dabei doch auf den Meister angewiesene Schüler. Dem exemplarischen Schüler entspricht in dem zweiten dieser 148 Ε—151D vorbereitenden Gesprächsteile der exemplarische Lehrer. Er kennt die Schwierigkeit des zu erforschenden Gegenstands und weist den Jungen ausdrücklich darauf hin: das Problem gehöre zu den „durchaus höchsten" (148 C 7) — wie denn der Dialog in der Aporie enden wird. Aber zugleich macht Sokrates dem Schüler Mut zu dem schweren Unternehmen und deutet ihm sein Sichnicht-Herausfinden als Geburtswehen und sich selbst als den Geburtshelfer. Sokrates' Maieutik: das ist die neue Formulierung, die unser Dialog für die forschende und erziehende Methode des Meisters hat. Und mit der Hebammenkunst verbindet sich als Regulativ „das Daimonion". Denn nur wenn dieses den Weg frei gibt, kann Sokrates jene üben. Was über „das Dämonische" hier
gesagt wird, nimmt die Linie des Theages und des Großen Alkibiades
auf 18 ). Jener Aristeides (der Enkel des „Gerechten"), der als Beispiel für mißlungene Schülerschaft dasteht, läßt außerdem an den Schluß des Laches denken, wo Sokrates gebeten wird sich seiner anzunehmen, und an dieselbe Stelle des Laches erinnert es, wenn Sokrates hier im Theaitet weiter auseinandersetzt: wo er sich selbst nicht als den geeigneten Lehrer sehe, da trete er als Freiwerber auf (in der Fortsetzung seines Hebammenberufes) und empfehle andere Lehrer. Auf diese Dialoge also blickt man von hier zurück und auf die andern dazugehörigen, in denen die Maieutik geübt wird. Im Theaitet wird sie nicht nur geübt; hier ist es, wo die erziehende Macht des Sokrates am stärksten zum Bewußtsein ihrer selbst und zugleich ihrer dämongesetzten Grenze kommt. Unsere Interpretation hat gezeigt, daß dort, wo nach allerI. 1 5 1 meist geltender Auffassung die eigentliche philosophische Linie ® 187 A beginnt, bei der ersten strengen Definition19), in Wahrheit schon
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Wesentliches deutlich geworden ist. Nimmermehr handelt es sich in diesem Dialog um reine „Erkenntnistheorie" im Sinne von Descartes oder Locke oder Kant, sondern zum mindesten auch um ethische Normen, um dialogische Form gegenüber Lehrvortrag und Abhandlung, um Erziehung und das Dämonische, um Leben und Tod, um „Existenz". Und dann wissen wir, daß es die exakten Wissenschaften samt ihrem Gegenstande gibt, die durch Theodoros und seine Schüler lebendig vergegenwärtigt und im Gespräch immer wieder aufgewiesen werden. Und wir ahnen, daß in ihrer Richtung, vielleicht über ihnen, aber auf keinen Fall ganz anderswo, die Episteme gesucht werden muß. So vorbereitet hören wir die erste der drei Definitionen, die von nun an den Dialog deutlich in drei Abschnitte gliedern. Diese Definition sagt: Erkenntnis ist nichts anderes als Wahrnehmung (151 E). Es besteht die Neigung, für diese „sensualistische" These den Aristipp oder den Antisthenes verantwortüch zu machen, oder man hat auch beide Hypothesen zu verbinden gesucht 20 ). Antisthenes kann schon darum nicht in Betracht kommen, weil er Wahrnehmen und Wissen überhaupt nicht unterschied, sondern beide Gebiete des Bewußtseins vermischte. Für Aristipp sind allein die Empfindungen der eigenen Zustände, die inneren Affektionen (ττάθη) wirklich, und durch diese Subjektivierung gehört er wohl im allgemeinen zu den Denkern, die Piaton hier meint und von denen er Protagoras und die Herakliteer bald nennen wird. Aber Aristipp leugnete ja ganz folgerecht, daß die Wahrnehmungen allemal richtig seien21). So kann er genau gesehen gar nicht Erkenntnis und Wahrnehmung gleichgesetzt haben. Der Sache nach haben das seit Parmenides und Empedokles gewiß viele getan 22 ). Etwas anderes aber ist die begriffliche Formulierung. Und wo ist gesagt, daß diese von irgend jemandem vor Piaton geprägt worden wäre ? Oft genug unterschätzt unsere Frage: wen hat er gemeint ? seine schöpferische Kraft, viele gegnerische Strebungen unter einheitlicher Parole zu versammeln. So faßt er hier alles, was er an vulgären und philosophischen Ansichten seiner eigenen Erkenntnis des Seienden diametral entgegengesetzt sah, in dieser Definition zusammen und stempelt es mit der weithin sichtbaren Formel, die vielleicht niemand vor ihm so ausgesprochen hatte 23 ). Erkenntnis (Wissen) ist Wahrnehmung: so die These, die über dem ganzen ersten Hauptteil des Dialoges steht. Die Grundbewegung
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innerhalb dieses Teiles ist wie immer in ähnlichen Fällen bei Piaton antithetisch, erst Klärung, dann Widerlegung. Geklärt muß werden. Denn jene Definition ist ja nur zugespitzter Ausdruck für eine bestimmte Daseinserfassung oder eher für mannigfach unter sich verwandte Richtungen solcher Daseinserfassung. Widerlegt muß werden. Denn darum hat ja der platonische Erkenntnisbegriff sich zunächst diese ihm am schärfsten entgegenstehende These gewählt oder geschaffen, um sich durch Kampf und Überwindung ihr gegenüber ins Klare zu setzen. Aber es versteht sich bei Piaton von selbst, für den Einordnung die eigentliche Art des Widerlegens ist, daß die Wahrnehmung zu klären für den Aufbau seiner Seinsund Erkenntniswelt wichtig werden muß, so grundsätzlich das eigentliche Wissen, auf das er zielt, von aller Wahrnehmung sich unterscheidet. Die Klärung der These geschieht in drei Stufen. Auf der ersten IIa. wird die Grundthese in den homo-mensura-Satz des Protagoras 151D 152 C umgeformt oder als ein anderer Ausdruck dieser Subjektivierung alles Urteilens dargestellt 24 ). Wahrnehmung wird vertreten durch die Empfindung des Kalten. Also nur die sinnlichste Sphäre wird überhaupt berührt. Und so ist die etwas kurzatmige Darlegung unanfechtbar nur so lange, als man nicht nach dem Bereich fragt, für den die Subjektivität des Urteils gelten soll. Das wird plötzlich klar am Schlüsse: „Wahrnehmung geht immer auf das Seiende und ist (somit) als Wissen untrüglich" 2B) — wo man denn fast erschrickt, plötzlich auf „das Seiende" zu stoßen, und erschrecken soll. Denn mindestens drei Fragen erheben sich, und drei Einsichten melden sich in ihnen an: 1) Ist wirklich das Kalte ein Seiendes ? Oder ist nicht vielmehr Seiendes und Sein von so etwas wie Kalt radikal verschieden ? 2) Geht also Wahrnehmung wirklich auf Seiendes, und ist damit Wahrnehmung Erkenntnis ? Oder sind nicht Wahrnehmung und Erkenntnis radikal verschieden dadurch, daß Erkenntnis, aber nicht Wahrnehmung, auf Seiendes gerichtet ist ? Nicht umsonst kehren ja in der Analyse der Wahrnehmung die Worte „Schein" und „scheinen" immer wieder (φαίνεται, φαντασία, κινδυνεύει). 3) Ist wirklich Schein = Sein, oder ist nicht zwischen beiden der schärfste Gegensatz ? Ist etwa Schein= Nichtsein ? Über die sehr vorläufigen Andeutungen der ersten Stufe wird auf IIb. der zweiten der Aspekt erweitert, indem die Welt als ein schlecht- 152 C—155 D
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hin Bewegtes erscheint, wo es kein Sein und kein So-Sein, sondern nur Bewegung und Mischung gibt. Und es wird der historische Fernblick vertieft, indem zu Protagoras die Naturphilosophen insgesamt und die Dichter bis zu Homer hinauf treten, das heißt alle, die das Dasein zu begreifen versucht haben 26 ). Einer ist ausgenommen, Parmenides, womit sofort, ohne für jetzt noch Raum zu gewinnen, das Gegenbild dieser Weltansicht in das Bewußtsein tritt. Diese selbst wird naturphilosophisch gestützt durch den Nachweis, daß Bewegung überall auf die Seite des Lebendigen, Ruhe auf die des Todes gehört, — ein Nachweis, der durch das ganze Weltwesen hindurchzieht vom Elementaren über das Körperliche zum Seelischen und zum Kosmischen hinauf (153 D). In dieser Weltansicht hat nun auch jene Deutung des Wahrnehmungsprozesses ihren Platz, wonach das, was wir als das Wahrgenommene in seiner So-Beschaffenheit ansprechen, sich im Vorgang des Wahrnehmens durch den Zusammenstoß der Sinne mit dem Gegenstand konstituiert. Als Beispiel steht jetzt die Farbe da, die nicht an sich ist, weder am Gegenstand noch im Auge, die also etwas Fließendes ist. Diese Auffassung konnte für Piaton durchaus gültig sein, solange ihr Geltungsbereich eingeschränkt blieb und man nicht übersah, daß es jenseits davon etwas „Geordnetes" (έν τάξει), „Bleibendes" (μενον), „ein An-sich-Seiendes" (αύτό καθ' αύτό εν δν) gibt, was hier freilich nur auftaucht, um als unwirklich abgelehnt zu werden (153 E). Aber worauf passen diese Prädikate besser als zunächst einmal auf die Gegenstände der Mathematik, Astronomie, Harmonie, — Wissenschaften, die von Anfang an in ihren Vertretern gegenwärtig sind ? Auffallen muß auch, wenn neben das Berührende (έφατττόμενον) und den Gegenstand der Berührung (ou έφοηττόμεθα) das Messende oder SichMessende (τταραμετρούμενον) und das, an dem wir (uns) entlang messen (φ τταραμετρούμεθα), der Maßstab also, gesetzt wird, als wären diese beiden Bezirke, Berühren und Messen, von gleicher Art, und als wäre nicht für Piaton vom Protagoras bis zum Philebos und Politikos die „Meßkunst" Retterin vor dem Schein (Prot. 356D) und mitsamt der Kunst des Rechnens und Wägens das was den Wissenschaften ihre eigentliche Festigkeit gibt (Phil. 55 E)! So weist dieses eine Wort wieder auf den Bereich des Exakten. Und als nun vollends ein mathematisches Beispiel den protagoreischen Satz stützen soll — die Sechs erscheint bald größer bald kleiner,
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je nachdem man sie neben die Vier oder neben die Zwölf stellt 27 ) —, da macht die Zustimmung Theaitets einer Unsicherheit Platz. Sobald man sich ernstlich auf die Welt des Mathematischen besinnt, gelangt man dorthin, wo die Lehre vom allgemeinen Flusse jedenfalls nicht mehr so einfach angewendet werden kann. Das Beispiel ist freilich dem Bezirk des Relativen entnommen, innerhalb dessen die Möglichkeit sophistischer Fechtstücke so stark und so gefährlich ist. Aber Sokrates weist solcher Gefahr entgegen auf den Weg ruhiger Betrachtung und stellt, um der Schwierigkeit Herr zu werden, drei Axiome auf (όμολογήματα 155 Β 4): 1) Nichts wird größer oder kleiner an Gewicht oder Zahl, solange es sich selbst gleich bleibt. 2) Wem nichts zugesetzt oder weggenommen wird, das wächst weder noch schwindet es, sondern bleibt immer gleich. 3) Was vorher nicht war, später aber ist, muß notwendigerweise werden. Damit ist scheinbar das Problem nur noch mehr verwirrt, da sich nun zwei diametral entgegengesetzte Aussagen jeweils auf unwiderlegbare Axiome scheinen stützen zu können: hier, daß Sokrates nicht wächst und nicht abnimmt, also gleich bleibt, auf die beiden ersten Axiome; dort, daß Sokrates jetzt größer ist (als Theaitet), bald aber kleiner sein wird (als Theaitet), auf das dritte Axiom. So endet Theaitet in der Verwirrung: wie ein Schwindelanfall kommt es ihm vor. Aber mit erzieherischer Güte erklärt Sokrates ihm — und dem Aristoteles und Goethe — dieses „Staunen" als den Ursprung aller Philosophie. Wir aber, denen die mathematische Erkenntnis von Anfang an als die geheime Konstante des Dialoges erschien, sehen die Festigkeit der mathematischen Größen gerade da sich offenbaren, wo sie sophistisch relativiert werden sollen. Wir sehen ferner Grundsätze hier auftauchen, die „in uns sind" (εστίν έν ήμϊν 155 A 2), und über die wir uns „einig sind" (όμολογήματα), die also durch ihre Geltung der zu prüfenden These widersprechen und besonders noch in ihrem Inhalt dadurch, daß sie ein „Immer-gleich-sein" (räi ίσον είναι) anerkennen. So tritt dem auflösenden Leitsatz „Erkenntnis ist Wahrnehmung" in demselben Augenblick, da er axiomatisch fest begründet werden soll, eben diese Axiomatik im geheimen als eine Macht entgegen, die ihn in Wahrheit widerlegt, d. h. ihn auf jenes Gebiet beschränkt, wo er auch für Piaton gültig ist. Auf der dritten Stufe wird nun das, was auf den beiden früheren I 1 c. gesichtet worden war, zu einem vollständigen System dieser „ s e n - 1
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suaHstisch-positivistischen" Weltansicht ausgeweitet. Dieses richtig einzuschätzen als Denkleistung und es gleichsam in seiner Spiritualität anzuerkennen, dazu dient eine jener bei Piaton beliebten Wendungen gegen grobschlächtigen und ungeistigen Materialismus, der nur das, was er „mit denHänden greifen" kann (oö &v δύνωνται άπρίξ τοΐν χεροΐν λαβέσθαι), für wirklich hält. Nicht auf Antisthenes ist hier gezielt, geschweige denn auf Demokrit, überhaupt gar nicht auf irgendeinen Denker oder eine Philosophie; sondern Piaton konstruiert den schärfsten Gegner, den Unphilosophen, mit dem jede Auseinandersetzung, das heißt jede Einordnung in den eigenen Denkkosmos, unmöglich ist28). Gegen diese „Ungeweihten" (άμύητοι) fühlt er sich mit jenen „feineren Köpfen" (κομψότεροι) ganz einig, deren Weltansicht er nun zum dritten Male und am ausführlichsten entwickelt, — um dann gegen sie anzugehen. Alles also ist Bewegung. Innerhalb dieser unendlichen Fülle von Bewegungen sondern sich zwei Formen, eine aktive und eine passive, durch deren „Gemeinschaft" und Reibung" zahllose „Sprößlinge" entstehen, aber wiederum von zwei Arten: hier die Sinneswahrnehmungen (α1σθήσει$), dort die ihnen jeweils zugeordneten, „verwandten" (συγγενή) Wahrnehmungsgegenstände (αίσθητά). So kommt der Sinneseindruck zustande, indem das Auge seine Sehkraft (όψι;) aussendet, gleichzeitig die ihr verwandte „Weiße, Weiß-heit" (λευκότης) vom Gegenstand erzeugt wird und beide zusammen die Farbe „Weiß" hervorbringen. Nichts Aktives also gibt es, ehe es mit einem Passiven zusammentrifft. Es gibt überhaupt nichts An-sich-Seiendes (αύτό καθ' αϋτό), es gibt nur Bewegung und Beziehung. Die menschliche Sprache täuscht über diesen Tatbestand gänzlich. Der sensualistischen Erkenntnistheorie tritt eine skeptische Kritik der Sprache zur Seite, an die Hermogenes-These des Kratylos erinnernd29). Und in diese Auflösung werden nicht nur die Einzelwesen hineingezogen, sondern auch eine Zusammenfassung (άθροισμα) wie Mensch, Stein, Lebewesen und überhaupt Eidos (Form, Gattung). Es ist nicht umsonst, daß das Eidos —· in noch so allgemeiner Verwendung — hier auftaucht (157 C 2), und daß die Verneinung des Seins und das Hineingerissenwerden in den scheinbar allgewaltigen Strom des Werdens wie im Vorbeigehen auch solche Begriffe wie „Gut" und „Schön" trifft (157 D 8), wo denn die Gefahr unmittelbar fühlbar wird, für den Aufmerkenden aber sich
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schon das Feste anzeigt, an dem der Strom sich brechen wird: die Sprache, das Eidos, das Gute 30 ). Doch für jetzt leitet Sokrates zu der letzten, radikalsten Folgerung (157 E). Er zeigt — in Traum, Wahnsinn, Sinnestäuschung — Wirklichkeiten, die stark genug zu sein scheinen, um das Wahr und Falsch in den Wahrnehmungsbereich hineinzutragen. Aber nur für einen Augenblick. Denn solcher Widerspruch gegen die These, die Sokrates hier aus Theaitet „entbindet", kommt aus demselben, man könnte sagen biologischen, Bereich wie die eigentliche Argumentation, gegen die der Widerspruch sich richten will. So ist diese These vielmehr stark genug ihn in sich hineinzuziehen mit dem Ergebnis, daß sie selbst nur noch radikaler wird. Jetzt hat der gesunde Sokrates nicht mehr Recht als der kranke Sokrates, der wachende nicht mehr als der schlafende. Sokrates ist rein biologisch gefaßt. Mehr als das: der kranke Sokrates ist verschieden von dem gesunden, der wachende Sokrates ist ein anderer als der schlafende. Und so endet die Erörterung auf der dritten Stufe mit einer völligen Auflösung des Menschen, der „Existenz" — und nun gar unter allen Existenzen der sokratischen Existenz! Nicht „Seele" ist der Mensch wie im Großen Alkibiades und im Phaidon, sondern ein Aggregat, nicht an sich seiend, sondern seiend oder vielmehr werdend jeweils in Beziehung auf irgend etwas. Der Mensch wird aufgelöst in das große Beziehungssystem, und das Ganze schließt abermals damit, daß es überhaupt kein An-sichSeiendes gibt. Bis in diese erschreckenden Konsequenzen ist die Weltansicht verfolgt, deren Ausdruck die Gleichsetzung von Wissen und Wahrnehmung war —• um so erschreckender, wenn man daran denkt, daß dieser Sokrates, der hier seine eigene Existenz begrifflich aufzulösen scheint, in ein paar Stunden in die Königshalle gehen wird, um sich dort der Anklage zu stellen (210 D 2). Die Gegenkraft war bisher nur ab und an für den schärfer Blickenden fühlbar geworden. Jetzt wendet sich die Prüfung des Maieutikers dem Neugeborenen zu. Was hier geprüft werden soll, ist von solcher systematischen Festigkeit, daß „Protagoras", der durch den Mund des Sokrates redet, nach dem ersten und zweiten Gegenstoß unerschüttert steht. Erst der dritte bringt — nicht die Zerstörung, sondern die Einordnung in den sokratisch-platonischen Kosmos. Wie vorher die Bewegung, so vollzieht sich jetzt die F r i e d l ä n d e r , Piaton III
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Gegenbewegung auf drei Stufen 31 ). Auf den beiden unteren bleibt Theaitet Gesprächspartner, auf der höchsten wird er durch Theodoras ersetzt. Schon der Beginn dieser Gegenbewegung jedoch ist markiert dadurch, daß Theodoros für ganz kurze Zeit in das Gespräch eintritt (161 A). Das ist nicht rein dialog-technisch zu verstehen 32 ). Sondern der Geometer ist durch sein bloßes Dasein der stärkste Einwand gegen „Protagoras". Dabei führt die Ironie, mit der Sokrates „dein Gefährte Protagoras" sagt, noch auf etwas anderes: Wohl widerlegt der Geometer den Sophisten. Aber er weiß es nicht. Dazu gehörte — um in der Begriffssprache des Staates zu reden — noetische, nicht nur dianoetische Erkenntnis. Auf der ersten Stufe richtet sich der Vorstoß gegen den homomensura-S&tz, der die „erkenntnistheoretische" Auflösung am schärfsten formuliert. Ihn hatte Piaton schon im Euthydem (286 E. ff.) bekämpfen lassen mit dem argumentum ad hominem: wie kann sein Verkünder Lehrer sein wollen, da doch jede Meinung gleiches Recht hat ? Im Kratybs (385 Ε ff.) läßt er minder persönlich die „Wahrheit" des Protagoras anrennen gegen den anerkannten Unterschied von Gescheit und Dumm. Hier im Theaitet wird das Argument aus dem Euthydem wiederholt. Nur daß neben den weisen Protagoras in der ironisch bescheidenen Form der praeteritio Sokrates sich pelber stellt, seine Hebammenkunst und „das ganze Geschäft philosophischer Gesprächsführung" (σύμπασα ή τοϋ διαλέγεσΟαι πραγματεία 161 Ε 6). Hier ist lebendig die Kraft, an der der protagoreische Satz sich bricht. Aber das bleibt leise, und lauter klingt die Polemik: warum nur der Mensch ? warum nicht Schwein oder Affe ? Und (nach einer Weile) auf der andern Seite: warum nicht der Gott ? Das erste ist recht gröblich gesagt 33 ). Aber mit dem zweiten ist auf etwas sehr Ernstes hingewiesen. Oder ist es Zufall, daß der deus-mensura-S&tz an einer feierlichen Stelle der Gesetze wiederkehrt (IV 716 C), dort wo Piaton erklärt: solange im Staat nicht der Gott herrsche sondern ein Sterblicher, gebe es keine Flucht aus dem Elend (713 E), und der Willkürmensch, der des Gottes und der ihm immer folgenden Dike nicht als Führer zu bedürfen meint, der sei verlassen und richte den Staat zugrunde (716 Α f.)? Also hat Sokrates im Theaitet auf etwas sehr Ernstes hingewiesen, doch eben nur hingewiesen. Und so kann „Protagoras selbst oder ein anderer für ihn" durch den Mund des Sokrates sich gegen solche lockere Art
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des Disputierens verwahren und geometrische Strenge fordern. Aber wenn gerade Protagoras die Geometrie ruft, so muß er vorsichtig sein, daß sie sich nicht gegen ihn wende. Der Angriff also auf dieser ersten Ebene bleibt vorläufiges Geplänkel. Er ist zu unsystematisch, die gegnerische Front zu breit, alsdaß sie durch ihnerschüttertwerdenkönnte.Ertrifftjanur—und das nicht systematisch genug — die protagoreische These, aber weder ihr „herakliteisches" Fundament noch ihre theaitetische Folgerung. Gegen diese richtet sich auf der zweiten Ebene der I 2 b. Angriff in einer Reihe kurzer Argumentationen, die wohl gegen die 163A—168C Gleichsetzung von Wissen und Wahrnehmung bedenklich machen, aber mitnichten das ganze System erschüttern. Auch sie gehen nur gegen einen Teil, auch sie sind nicht systematisch genug, ja sie bedienen sich gelegentlich sophistischer Mittel, die so durchsichtig sind, daß Protagoras durch den Mund des Sokrates sich erfolgreich wehrt. In solcher Art der Durchführung scheint sich auszusprechen — und wiederholte Warnung vor Wortfechtereien (164 C 7.166 D 8) legt den Gedanken noch näher —, daß man mit einer dialektischen Widerlegung jenes Theaitet-Satzes sehr wenig gewinnt, ehe man nicht über die gesamte Weltansicht, deren Ausdruck er ist, zu einem Urteil gelangt. Vier Argumente bringt Sokrates auf dieser zweiten Stufe gegen den Satz des Theaitet vor, vier Phänomene, die sich mit der Gleichsetzung von Wahrnehmung und Wissen nicht reimen wollen. Erstens (163 B): es ist ein Unterschied zwischen dem Hören und dem Können einer fremden Sprache, dem Sehen und dem Verstehen einer Schrift. Zweitens (163 D): Erinnerung (μνήμη) ist von Wahrnehmung deutlich getrennt, aber dem Wissen deutlich zugehörig. Drittens (165 B): man kann zugleich wahrnehmen und nicht wahrnehmen, aber kann nicht zugleich wissen und nicht wissen. Viertens (165 D): die Wahrnehmung kann Qualitäten haben, das Wissen aber nicht. Gegen den ersten Einwand wehrt sich Theaitet, und Sokrates lobt ihn deswegen, nicht ohne Ironie freilich, und so, daß man merkt, auch diese Gegenwehr lasse sich überwinden (163 C). Gegen den zweiten Einwand wendet sich Sokrates selbst, indem er solche Erörterung für eristisches Wortgefecht und die Gegenkraft „Protagoras" für unüberwunden erklärt. Bei dem dritten Argument ist das Verfahren noch augenscheinlicher sophistisch. Ein „unerschrockener Mann" — so malt 10»
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Sokrates aus — hält dem Theaitet gewaltsam das eine Auge zu und fragt ihn dann, ob er nicht zugleich sehe und nicht sehe, und sophistisch — ganz wie wir es aus dem Euthydem (296 A) kennen — will er ihn in der Antwort auf glattes Ja und Nein beschränken. Als gewaltsamer Überfall aus dem Hinterhalt wird auch das vierte Argument gekennzeichnet. Nicht als wiesen nicht alle diese Argumente irgendwie in die Richtung, in die der Leser wirklich blicken soll. Selbst das ganz eristisch vorgetragene dritte wird ja später aufgenommen (182 E), wo der Unterschied zwischen Wissen und Wahrnehmung darauf zurückgeführt wird, daß man gleichzeitig sehen und nicht sehen, nicht aber gleichzeitig wissen und nicht wissen könne. Wir deuteten an, warum Piaton für jetzt den Angriff nicht energisch führen läßt, so wenig energisch, daß am Schluß die Gegenkraft fast stärker ist als zuvor: in langer, zusammengefaßter Rede weist „Protagoras" durch den Mund des Sokrates die Argumente gegen den Satz des Theaitet zurück; er besteht auf jener Relativität der Erkenntnis bis zur äußersten Auflösung des Ich; er wendet sich gegen das Argument, mit dem der homomensura-S&tz widerlegt werden sollte; und er hält den eigenen Vorrang und die eigene Fähigkeit, andere von schlechterer zu besserer Meinung zu bringen, durchaus aufrecht. Höchst ergötzlich beschwert der Sophist sich bei dem Philosophen — freilich durch dessen Mund — über eristische Kampfweise; wie sonst nur Sokrates selber34) warnt er vor den Folgen solchen Mißbrauchs, der die Menschen zu Misosophen statt zu Philosophen erziehen müsse, und mahnt zum echten dialektischen Verfahren, ähnlich wie er auf der früheren Stufe geometrische Strenge gefordert hatte. Nach alledem steht zum Schluß unerschüttert das dreigeschichtete System: die Allbewegungslehre, der Mensch als Maß der Dinge, die Gleichsetzung von Wahrnehmung und Wissen. Es half nichts, wenn man das zweite oder dritte Glied für sich angriff. Man muß das Ganze — nicht stürzen; denn es ist in wesentlichen Positionen unumstößlich; wohl aber es einordnen und ihm dadurch erst jene Richtigkeit geben, die es noch nicht hat. Das geschieht auf der dritten Stufe unseres Abschnittes. Auf den beiden bisher durchmessenen Ebenen der Prüfung hatte „Protagoras" geometrische Strenge und philosophische Dialektik gefordert. Auf der dritten Ebene nun, wo die Entscheidung fallen soll, wird trotz seines Sträubens Theodoros in das Gespräch hinein-
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gezogen, der durch seinen Beruf jene geometrische Strenge verbürgt. So lang e soll er teilnehmen und erklärt er sich bereit teilzunehmen, bis Aar wissen, ob auch dort, wo es sich um Geometrie, Astronomie und die anderen exakten Wissenschaften handelt, jeder zulänglich zum Urteilen sei. Damit ist das Denkmotiv, das von Anfang an meist unterirdisch da war, offen ans Licht gekommen, und das Eintreten des Theodoros in das Gespräch symbolisiert diesen Tatbestand35). Schon vorher, so werden wir erinnert, hat Protagoras zugegeben I 2 ο α. (166 D), nein selbst kräftig behauptet, daß in dem Urteil über J ^ q ^ i t o b Besser und Schlechter gewisse Menschen sich vor andern herausheben, die „Weisen"; behauptet hat er es durch den Mund des Sokrates. Was heißt das anderes — da doch der Abwesende nichts zugestehen kann — als dies: dadurch daß er „Sophist" ist, das heißt also Schüler zu lehren beansprucht, folgt jenes Eingeständnis unmittelbar. Aber die Erörterung soll auf ein breiteres Fundament gestellt werden. Und so wird im Meinen der Menschen, dem ja eben Protagoras Wirklichkeit zuschreibt, die Überzeugung aufgewiesen, daß an „Weisheit" die Menschen verschieden sind, und bestätigt wird das aus der Wirklichkeit des menschlichen Handelns: aus ihrem Suchen nach dem Lehrer und Herrscher. Das wirklich gelebte Leben, die „Existenz", wird zum Entscheid dafür aufgerufen, daß die Menschen Wissen (σοφία) und Unwissenheit unterscheidend anerkennen. Also mag man vom homo-mensura-Satz ausgehen oder sogleich den Blick auf die Wirklichkeit richten, man kommt zu derselben Evidenz. Noch einmal aber setzt die Erörterung bei der These des Protagoras an34), um sehr spitzig deren selbstzerstörerische Folgen zu zeigen. Da sie jeden zum Maß über Richtig und Falsch macht, so gilt sie selbst nicht für alle, sondern vielleicht nur für ihren Urheber, und jedenfalls macht sie zum Richter über sich selbst die Majorität, — der Piaton stets am wenigsten Kompetenz zugebilligt hat zu entscheiden, wo über Richtig und Falsch entschieden werden soll (Laches 184 Ε; vgl. Kratylos 437 D). Nun aber das Witzigste (κομψότατον): Protagoras gibt durch seine Lehre denen recht, die eben diese Lehre für Irrtum halten, da ja jede Meinung „das Seiende" trifft. Damit hat der Satz des Protagoras dialektisch sich selbst zersetzt.
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Aber so λvichtig es ist zu erkennen, welche selbstzerstörerischen Kräfte in jenem Satz verborgen sind, nicht Auflösung hat Piaton letzten Endes im Sinne. Protagoras würde gegen unsere Darlegung manches zu erinnern haben, sagt Sokrates (171 D) 37 ). In der Tat hatte ja Protagoras früher durch den Mund eben des Sokrates eindringlich erklärt, daß er durchaus nicht gewillt sei, auf Unterschiede des geistigen Ranges zu verzichten (166 D ff.). Liegt das schon in der Tatsache enthalten, daß Protagoras seiner Schrift den Titel Wahrheit gibt und seinen Satz mit dem Anspruch gehört zu werden ausspricht, so ist offenbar, daß dieser Satz über sich selbst hinausweist und aus sich selbst Beschränkung fordert, gerade weil er weithin gilt. Er gilt im eigentlichsten Sinne für den Bereich der reinen Sinneswahrnehmungen. Er gilt dagegen niemandem dort, wo es sich um Gesundheit und Krankheit des Einzelnen, um Nutzen und Schaden in der Staatsgemeinde handelt, das heißt dort, wo Sachverständnis oder dessen Gegenteil durch den Erfolg am eigenen Leibe erprobt wird. Damit sind aus der allgemeinen Erfahrung heraus zwei Bereiche voneinander gesondert, und nun führt auf eine noch höhere Ebene die Frage, welchem dieser Bereiche das Schöne und Häßliche, Gerechte und Ungerechte, Fromme und Unfromme zuzurechnen sind, Begriffe, die hier — zunächst — der staatlichen Sphäre angehören. Auch sie werden von vielen dem Bereich subjektiver Willkür zugerechnet, als hätten sie kein Wesen an sich. An dieser Stelle (172 Β 8) biegt Sokrates plötzlich vom geraden Wege ab. Das Gespräch betrachtet den Typus des Philosophen im Gegensatz zu dem des Rhetor-Politikers und kehrt dann (177 C) wie von einem Exkurs genau an den Punkt zurück, an dem es abgebogen war (έτη τά Εμπροσθεν ίωμεν): selbst wenn man „das Gerechte" mit vielem anderen, das heißt also, wie es vorher hieß (172 AB), mit dem Schönen und dem Frommen, der subjektiven Willkür preisgeben wolle, — ob etwas sich als nützlich erweise, das hänge jedenfalls nicht von dem Meinen oder „Setzen" oder der Gesetzgebung einer staatlichen Gemeinschaft ab. Fragt man nach der gesamten Seinsform (ττερΐ ttocvtös toö είδους), für die diese Unabhängigkeit gelte, so kommt man auf das „Zukünftige". Wo es sich um Bevorstehendes handelt, da hat nicht jeder Beliebige den Maßstab des Urteils (κριτήριον) in sich, vielmehr hat ihn jeweils der Arzt, der Landmann, d. h. der Sachkundige ; also dort, wo es um die künftige Wirkung einer Gerichts-
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rede geht, gerade Protagoras; und über der Gerichtsrede wird die staatliche Gesetzgebung auf einer noch höheren Stufe sichtbar. Mithin ist es Protagoras selbst, der über dem Bereich, in dem seine These ohne Einschränkung gilt, einen andern aufzufinden hilft, in dem nicht subjektives Ermessen sondern Sachkunde das Urteil bestimmt. Wer aber führt für Protagoras das Wort ? Daß wir überall den Ironiker reden hören müssen, macht Sokrates selbst am Ende dieses Abschnitts sehr deutlich: als Nicht-Wissender sei er freilich nicht „Maß"; aber eben, da er für Protagoras das Wort nahm, habe er selbst notwendig solches „Maß" sein müssen. Wie sehr er noch in ganz andrem Sinne „Maß" ist, lehrt der Exkurs und lehrt vor allem seine Haltung vor Gericht. Nun also zurück zu jenem Exkurs, der inmitten dieser Ausein- Exkurs, andersetzung mit Protagoras scheinbar wie ein fremder Körper 172 C 177 C steht. Im Angesicht der immer unabsehbarer andrängenden Logoi sagt Sokrates — und abrupter kann man nicht einsetzen —, er habe wie schon oft so auch jetzt wieder die Erfahrung gemacht, daß Menschen, die in philosophischen Bestrebungen viel Zeit verbringen, vor Gericht lächerlich versagen38). „Auch jetzt wieder", das bleibt unverständlich, wenn wir uns nicht des Vorgesprächs entsinnen, wonach diese Begegnung mit Theodoros und Theaitet kurz vor dem Tode des Sokrates stattgefunden habe. Und noch deutlicher wird dieser Hinweis auf Sokrates' Lebensschicksal, wenn man vom Schluß des Dialoges (210 D) auf den Einsatz des Exkurses zurückblickt (oder beim wiederholten Lesen auf den Dialogschluß vorausblickt). Aber damit ist nur gleichsam der persönlich-biographische Anlaß eingesehen, nicht was der Exkurs für das Ganze des Dialoges wesentlich bedeutet. Solcher Einsicht kommt man näher, wenn man beachtet, was ihm eben vorausging, und was ihm sofort folgen wird. Auf der Suche nach objektiven Maßstäben gegenüber sensualistischer Auflösung war das Gespräch zuletzt (172 A) von dem praktischen Sachwissen zum politischen Bereich hinaufgestiegen, und auf dieser deutlich höheren Ebene werden die Begriffe „Schön, Gerecht, Fromm" vernehmbar, deren Sein in Gefahr ist durch die „Wahrheit" des Protagoras aufgelöst zu werden. Aber für die verpflichtende Objektivität dieser Tugenden tritt Sokrates in der Apologie mit seinem Leben ein. Denn daß Sokrates in wenigen Tagen vor dem Gerichtshof eben diese Rede halten wird, das darf der Leser des Theaitet auch bei den
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subtilsten „erkenntnistheoretischen" Untersuchungen nicht vergessen. Auch so noch ist der Übergang zur Digression sehr plötzlich. Paradox soll sie wirken und die Frage nach ihrem Sinn dauernd rege halten. Das lächerliche Versagen des Philosophen, das ist gleichsam der Zipfel, an dem dieses Ganze aufgenommen wird. Das Ganze, aber ist der Gegensatz zweier Lebensformen: des Philosophen und des Rhetor-Politikers. Hier eine skia venhafte Existenz, stets von außen bestimmt, unter fremdem Befehl stehend, dort — wenigstens bei den echten Verfechtern — ein staatsfernes, lebensfernes, um alles nur Persönliche unbekümmertes Dasein, vertieft in Seelenschicksal (ras τε yäs ΐπτέυερθε), Geometrie und Astronomie und die Ergründung des wahrhaft Seienden 39 ). Der Philosoph wird lächerlich, wenn er vor Gericht oder sonst ins Praktische eingreifen muß. (Hier ist der Zipfel wieder, an dem das Ganze aufgenommen wurde.) Dem Philosophen hingegen kommt die Stumpfsichtigkeit lächerlich vor, mit der man etwa gemeiniglich Besitz- und Geburtsadel rühmt, da er ja für alles dieses die wahren Maßstäbe aus seiner geistigen Weite gewinnt. Wenn nun vollends der Philosoph einen Menschen der anderen Art „emporzieht" — man wird an das Höhlengleichnis des Staates erinnert —, aus der Welt der praktischen Rechtskämpfe empor „zur forschenden Betrachtung der Gerechtigkeit-selbst und der Ungerechtigkeitselbst" und „zur Betrachtung des vollkommenen Glücks und der Unseligkeit", dann kehrt sich das Verhältnis um: jetzt ist es der Praktiker, der ganz und gar versagt 40 ). Und nun, nachdem diese Antithese durch die menschlich-bürgerliche Welt geführt worden ist, wird sie ins Außer- und Übermenschliche erhoben (176 A). Der Gegensatz von Gut und Schlecht zeigt sich als notwendiger Gegensatz. Gut und Schlecht haben ihren gleichsam kosmischen Ort, das Schlechte hier bei uns Sterblichen, das Gute — oder, wie es dann mit Nachdruck heißt, „das Gerechte" — dort bei den Göttern als ihr eigentliches Wesen. Damit bekommt das Streben des Philosophen seinen Sinn als Versuch „von hier dorthin zu fliehen" oder anders gesagt als Näherung, Anähnlichung an den Gott. Zuletzt (176 E) werden die beiden Musterformen (τταραδε(γματα) des Lebens noch einmal einander gegenübergestellt, aber nunmehr befreit von menschlicher Trübung des Urteils, im Angesicht der Ewigkeit: hier das Göttliche, Selige, dort das
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Ungöttliche, Elende. So wird mit der Tugendrechnung zugleich die Glücksrechnung aufgetan. Das Leben selbst, welches man wählt, enthält mit und in der Ungerechtigkeit zugleich auch die Unseligkeit schon hier und dann nach dem Tode. Wie nun das lächerliche Versagen des Philosophen der wie zufällige Anfang war, an dem dieses ganze Gefüge aufgenommen wurde, so ist das entsprechende Ende, mit dem es gleichsam niedergelegt wird, das lächerliche Versagen des Politikers, wo er über die Prinzipien „Rechenschaft geben und nehmen" soll. Bevor man fragt, was dieses Ganze in dem größeren Ganzen des Theaitet bedeutet, ist zu sagen, daß der in Piatons Geist dauernd gegenwärtige Gegensatz der beiden Lebensprinzipien schon vorher in seinem Werk große Form gewonnen hatte. Dieser Gegensatz bestimmt ganz das Kalliklesgespräch des Gorgias41). Auch dort gipfelt er in der Glücksrechnung, und die knappen Worte, die im Theaitet das Schicksal der Seele über dieses Leben hinaus begleiten, wirken wie ein Nachklang des Jenseitsmythos, mit dem dort Sokrates das Gespräch beendet. Sogar Anfang und Schluß sind vergleichbar. Denn der Vorwurf gegen die Philosophen, daß sie das praktische Leben nicht meistern können, wird mit deutlichem Bezug auf Sokrates von Kallikles bald zu Anfang erhoben (485 D ff.), und am Schluß des Ganzen sehen wir Kallikles unfähig noch weiter „Rechenschaft zu geben". Dieselbe Antithese, die den letzten Teil des Gorgias beherrscht, hält weithin den Bau des Staates zusammen, vom I l t e n Buch, wo die beiden reinen Typen einander gegenüber wie zwei Standbilder (άνδριάυτες 361 D) aufgestellt werden, über die Höhlenepisode des VII ten mit dem staatsfremden Philosophen, der sich beim Eingreifen in die Dinge dieses Lebens lächerlich macht (517 D) 42 ), bis zum Xten, wo die Glücksrechnung wiederkehrt, und wiederum der Jenseitsmythos abschüeßt. Im Staat scheint Piaton mit einer ironischen Wendung mehr auf den äußeren Erfolg—einen sehr zweifelhaften Erfolg!—des Gerechten zu sehen als wie im Theaitet auf seine immanente Glückseligkeit ; aber der Weg dessen, der die Arete übt, wird als Näherung an Gott, soweit sie möglich ist (613 B), genau wie im Theaitet bezeichnet 43 ). Diese großen Gestaltungen also sind es, die in dem Exkurs unseres Dialoges knapp zusammengefaßt wiederkehren. Was aber meinen sie im Theaitet selber ? Beachte man, daß der Exkurs eben an der Stelle eingefügt wird, wo die Frage auftaucht,
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ob, und wo die Möglichkeit gesetzt wird, daß „das Gerechte" in den Kreis der Relativität und Willkür gehöre, also die unerhörteste Zumutung, die es für Piaton geben kann44). Als nach dem Exkurs das Gespräch genau dort weitergeht, wo es vorher abbrach, bleibt auch der Zweifel über das Wesen der Gerechtigkeit genau so bestehen, wie er vorher war, und nur für das Nützliche wird eine Bestimmtheit jenseits des subjektiven Meinens anerkannt. Ganz anders aber war innerhalb des Exkurses als Gegenstand philosophischen Nachdenkens aufgetaucht „Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit", „was beides ist und wodurch sie sich von allem andern und unter sich unterscheiden". Und dann hatte sich gezeigt : das Gute ist im göttlichen Bereich gegründet, Gott ist „höchst gerecht", ihm ähnlich werden heißt nach Menschen-Möglichkeit gerecht werden. Die Theonomie des Guten und der Gerechtigkeit also wird in dem Exkurs deutlich, während die Erörterung des eigentlichen dialektischen Gesprächs in diese Höhen nicht hinaufsteigt. Erinnern wir uns ferner, daß Theodoras sich bereit erklärt hatte (169 C 6), solange Partner des Dialoges zu sein, bis sich herausgestellt hätte, ob der homo-mensura-Satz auch für seine mathematischen Wissenschaften gelte. Theodoros wird bald aus dem Gespräch ausscheiden, ohne daß doch jene Frage auch nur angerührt worden wäre. In dem Exkurs aber, da erscheint Geometrie und Astronomie als Tätigkeit — wie hier nur implicite deutlich wird, vorbereitende Tätigkeit — des Philosophen (173 E), so hoch über aller Beschäftigung der Menge, daß schon damit die Antwort auf jene Frage gegeben ist. Zugleich beachte man die eigentümliche Ironie: Auf der Ebene des Gesprächs erscheint vor und nach dem Exkurs der Praktiker als der, an dessen Dasein sich der protagoreische Satz bricht. Ob der Geometer nicht hoch über dem Praktiker ein Gleiches erweise, wird gefragt und — in dem Exkurs — beantwortet. Ob der Philosoph nicht abermals über dem Geometer, das wird ausdrücklich nicht einmal gefragt. Aber der Exkurs antwortet auf die unausgesprochene Frage, und um sie zu beantworten braucht man vielleicht nicht einmal Theodoros an Sokrates zu messen. Weiter: Sokrates hat soeben die Möglichkeit ausgesprochen, ohne sie im mindesten zu kritisieren, daß auch das Gerechte und das Fromme dem Bereich des schlechthin Subjektiven preiszugeben sei, und nach dem Exkurs wird auch dies noch
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einmal unverändert wiederholt. Aber kann Piaton einen solchen Stoß gegen die Mitte seines eigenen Lehrens und Lebens führen lassen, ohne einen Widerstand auch nur anzudeuten ? Nun, der Exkurs eben ist es, der diesen Widerstand bringt, und wenn man ihn gelesen hat, so wird man die tiefe Ironie in den Worten des Sokrates vernehmen, als er jene These von der Subjektivität der Gerechtigkeit und Frömmigkeit abermals vorbringt45). Zuletzt: Der Dialog stellt das Problem, was Erkenntnis ist, und endet in der Aporie. Aber der Exkurs zeigt den Erkennenden und lehrt, daß auf das Göttliche und die Gerechtigkeit alle menschliche „Weisheit und Tugend" — denn Erkennen und Handeln läßt sich nicht trennen — gerichtet ist hoch über den geistigen Bestrebungen auf dem Felde technischen Hervorbringens und staatlichen Handelns. Dabei wird in diesem so deutlich sich heraushebenden Dialogstück niemand die ironischen und oft sarkastischen Züge verkennen, mit denen zuerst das Bild des geistigen Menschen und dann das des Tagespolitikers ausgestattet ist 46 ). „Wir sind nicht Diener der Logoi, sondern sie sind unsere Diener, und jeder Logos wartet ab, bis wir zu seiner Hilfe kommen, wenn es uns gefällt". So sagt Theodoros (173 C), und man wundert sich fast, daß Sokrates ihm nicht einwendet: du weißt doch aus deiner Geometrie, daß der Satz uns sein Gesetz vorschreibt, und daß nicht wir bestimmen sondern er, wann und wo das Ziel erreicht ist (Protag. 314 C. Gorg. 505 CD). Wenn man dann aus Sokrates' eignem Munde hört: die Meisterphilosophen kennen den Weg zum Staatsmarkte nicht und wissen nicht, wo das Rathaus steht, muß man sich da erst lange besinnen, daß Sokrates oft auf dem Markt zu sehen war wie damals jeder Athener (Apol. 17 C), und daß er seinen Platz im Staatsrat mit besonderem Einsatz eingenommen hat (Apol. 32 B) ? „An Festlichkeiten mit Flötenspielerinnen teilzunehmen, kommt ihm nicht im Traume bei" — und das Symposion ? Der Spott des thrakischen Dienstmädchens über den Sterngucker Thaies passe auf alle Philosophen. Der Philosoph wisse nicht, wer sein eigner Nachbar sei; nur was der Mensch im allgemeinen sei, darauf gehe seine Frage. Was ist das alles als eine Karikatur des Philosophen, so wie er sich in den Augen des Spießbürgers oder des Tagespolitikers ausnimmt ? Oder ist es etwa zugleich ein Bild des Philosophen in seinen höchsten Momenten ? Sokratisch-platonische Ironie verhüllt
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die letzten Einsichten und weist zugleich auf sie hin; muß sie hier nicht mehr noch, als es im Staat geschah, hinweisend verhüllen, da jetzt nicht Piatons Brüder Gesprächsteilnehmer sind, sondern der Mathematiker Theodoros und dessen jugendlicher Schüler ? und da hier die Frage nicht auf das Erkennen dessen geht, was das Gerechte ist, sondern auf das Erkennen des Erkennens ? So ahnen wir, was der Exkurs für das Ganze des Werks bedeutet47). Plötzlich reißen gleichsam die Wolken auseinander, und man tut einen Blick ins unbändig Helle. Dann schließen sie sich wieder, und die Erörterung geht weiter, als wäre nichts gewesen. Aber unversehens hat alles einen neuen Sinn bekommen. War vorher Mathematik die geheime Dominante, wurde ein Seiendes einmal geahnt, erklang einmal das göttliche Maß, um gleich wieder zu verschwinden, so wird jetzt das göttliche Dasein und das in strenger Entsprechung darauf bezogene Erkennen und Leben—die „Existenz" — des Philosophen gesichtet. Erschien bald zu Anfang alles Sprechen und Sich-besprechen in Gefahr von dem protagoreischen Satz vernichtet zu werden, so ist er es jetzt, dem gerade die Tatsache unseres Gespräches Halt gebietet mitsamt den Bereichen, die es eröffnet. Und nach der Erkenntnis wird gefragt ? Aber hier ist sie im lebendigen Vollzüge. Und alles, was nun noch zur Antwort auf diese Frage gesagt werden wird, will zurückbezogen werden auf diesen Lichtblick und wird von ihm her einen eigentümlich ironischen, d. h. auf das Wesen weisenden Schein empfangen48). Wir hatten das Gespräch zwischen Sokrates und Theodoros bis zu dem Punkt verfolgt, wo der homo-mensura-S&tz eine Widerlegung oder Eingrenzung erfuhr (179 B). Aber wir wissen ja, daß dieser Satz nicht allein steht, sondern innig verbunden mit jener „herakliteischen" Weltansicht vom ewigen Fluß. (Wie wenig sie mit dem großen Heraklit zu tun hat, braucht hier nicht gesagt zu werden.) I 2 c ß. Sie gilt es jetzt zu prüfen, um Klarheit zu gewinnen, ob der prota179C--184A g 0 r c i s c h e g a t z für die Affektionen (πάθη) des Einzelnen gelte. Da macht gleich das Bild, welches Theodoros von jenen Herakliteern zeichnet, bedenklich. Sie sind selbst so ganz „Fluß", daß man mit ihnen kein Gespräch führen kann, daß sie nicht Rede stehen, daß keiner des andern Lehrer oder Schüler ist. Nun gibt es aber alles dieses: Dialektik, Logos, Lehrertum, Schülerschaft. Wir sehen es ja in lebendigem Vollzuge, und seine Abwesenheit weckt Mißtrauen gegen jene Lehre, noch bevor man sie genau kennengelernt hat.
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Nach den Lehrenden wird dann also ihre Lehre betrachtet. Und hier erinnert Sokrates ausdrücklich an seine genaue Analyse der Sinneswahrnehmungen im ersten Hauptteil des Dialoges und greift auf jenes System des extremen Sensualismus zurück ( I I c) 49 ). Denken wir, heißt es jetzt, „Bewegung" grundsätzlich, so daß beide möglichen Arten des Bewegens, Ortswechsel (φορά) und Veränderung (άλλοίωσίξ), immer zugleich vorhanden sind, so gibt es, den Fall der Farbenempfindung betrachtet, nicht einmal die Möglichkeit, etwas „weiß" zu nennen, da es sich in jedem Augenblicke verändert. J a man kann nicht einmal das Wort „sehen" aussprechen, ohne mit der Vorstellung des Flusses in Widerstreit zu kommen; man muß gleichzeitig denselben Vorgang als „nicht-sehen" bezeichnen, und wenn also Wahrnehmung identisch mit Erkenntnis ist, so ist Erkenntnis zugleich Nicht-Erkenntnis. Das heißt: Erkenntnis ist aufgehoben, jede Antwort ist gleicherweise richtig, es gibt überhaupt keine Sprache mehr, oder man müßte eine neue erfinden. Von der vorhandenen sei nur der Ausdruck „auf keine Weise" (ούδ' όττως) in seiner „Unbestimmtheit" (άπειρον) brauchbar 60 ) . Damit ist über die Flußlehre und die Gültigkeit des subjektiven Eindrucks (ττάθος 179 C) nichts entschieden, wohl aber darüber, daß sie ihre Grenze finden an der Tatsache vernünftigen und verantwortungsvollen Sprechens und Sich-Besprechens, an dem Gegensatz von Richtig und Falsch. Wenn früher (157 B) die sensualistische These auch die Sprache in ihre Auflösung einzubeziehen schien, so ist es jetzt die Sprache, die dieser Bewegung sich widersetzt, wie schon im Kratylos (385 B) der offenbare Gegensatz zwischen richtiger und falscher Rede als Basis aller Erörterung gesichert worden war51). Damit ist Wahrnehmung als das schlechthin Flüchtige endgültig geschieden von der Erkenntnis (dem Wissen), wo denn noch, nachdem die Identität der beiden Funktionen zerstört ist, ihr gegenseitiges Verhältnis aufzuklären bleibt. In der Partie des Dialoges, die zwischen Sokrates und Theodoros spielt, ist die Allgültigkeit der Flußlehre gebrochen, hat der homo-mensura-Sa,tz aus sich selbst seine eigene Widerlegung herausgetrieben, hat die These Theaitets sich in ihr Gegenteil verkehrt. Zwischendurch hat der Exkurs den Weisen, die Weisheit, das wahre Sein sichtbar gemacht. Nun scheidet Theodoros aus dem Gespräch. Doch vorher waren ja den Herakliteern gegenüber Parmenides und sein Gefolge als Gegenfront sichtbar geworden (180 DE). So
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erwartet jetzt Theaitet eine Erörterung über den Satz, „daß das All unbeweglich stehe". Sokrates aber geht darauf nicht ein: so ehrwürdig Parmenides auch sei, die Fülle der „Reden", der Gedanken, würde das vorliegende Problem, was denn Wissen eigentlich sei, unsichtbar machen (183 E). Daß Piaton je daran gedacht hätte, die Lehre vom Sein so ausdrücklich wie die vom Werden hier zu behandeln, und daß er seinen Plan aus äußerem Grunde geändert hätte — wer dies aus Sokrates' Worten und aus denen des jugendlich-stürmischen Theaitet schließen wollte, würde platonische Ironie sehr piißverstehen. Wir sind in der Mitte zwischen den Extremen (άμφοτέρων sis τό μέσον ττετττωκότες), der unendlichen Bewegung und dem ewigen Sein, so hatte Piaton den Sokrates sagen lassen (180 E). Wirklich wird denn im zweiten Hauptteil die Wendung gegen Parmenides genommen werden, da bei der parmenideisch starren Gegenüberstellung des Seins und Nichtseins, Wissens und Nichtwissens, Irrtum und Wahrheit gleichermaßen vernichtet wird 62 ). Aber wenn „Heraklit" und „Parmenides" im Kratylos einander etwa die Wage hielten, so hat der Theaitet von vornherein sein eigenes, wenn man will: sein einseitiges, Gesetz des Wachsens, und was hier zu fehlen scheint hat Piaton nirgends, auch im Parmenides und im Sophistes nicht, im eigentlichen Sinne ergänzt 63 ). I 2 c y. Nach dem Ausscheiden des Theodoros führt Sokrates mit Theaitet 184A—187B die Linie des ersten Hauptteils zu ihrem Abschluß. Die Identität von Wahrnehmung und Wissen ist zerstört; nun bleibt das Verhältnis der beiden Problem. Darum waren sie ja von Piaton in eins gesetzt worden, damit sie im Auseinandertreten einander klärten und sich gegenseitig in das rechte Verhältnis setzten. Jene mangelnde Vornehmheit (άνελεύθερον) außer acht setzend, die — gesellschaftlich gesehen — in allzu großer Schärfe der Begriffsdistinktionen liegt, scheidet Sokrates zwischen dem, womit wir wahrnehmen (φ), und dem, wodurch (δι' oö) wir wahrnehmen. Noch deutlicher wird der Unterschied, wenn wir übergehen zum Denken (διανοείσθαι) über das, was uns die Sinne vermitteln. Haben die Sinne ihre spezifischen, unvertauschbaren Energien, so ist etwas in uns, das über die Sinneserscheinungen insgesamt denkt, denkt in den kategorialen Begriffen des Seins und Nichtseins, der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, der Identität und des Andersseins, auch derZahlen,unddas ebenso überSchön und Häßlich,
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Gut und Schlecht urteilt. Das ist die „eine Gesamtform, mag man sie Seele oder sonstwie nennen" (184 D), „die Seele selbst" (185 E), die sich der Sinne als ihrer Werkzeuge bedient. Damit ist nicht nur Verschiedenheit sondern auch Rangordnung gesetzt; denn „unter dem, was unser ist, ist das Herrschende immer dem Dienenden vorzuziehen" (Gesetze V 726). Die Rangordnung wird noch weiter daran deutlich, daß Wahrnehmung gleich bei der Geburt Tieren und Menschen einwohnt, während das Denken darüber überhaupt nur den Menschen und auch ihnen nicht allen gegeben ist. Das Denken geht auf Wesen und Wahrheit, Sein und Richtigkeit (ουσία καΐ αλήθεια), die Wahrnehmung tut das nicht. Und damit ist zum letzten Male die Identität von Wissen und Wahrnehmung widerlegt — so schließt dieser Teil. Aber in Wahrheit sind wir weitergekommen als nur zu der Einsicht, „was Erkenntnis nicht ist" 54 ). Erfaßt ist Wesentliches über die Struktur des Seelischen, über das Verhältnis von Wahrnehmung und Wissen. Was auf der Ich-Seite Psychologie, ist auf der Gegenstandsseite Ontologie, da das Wissen auf „das Wesen" oder „das Seiende" gerichtet ist. Und dieses anscheinend formale Schema wird lebendig erfüllt, zur Psychologie und Ontologie gesellen sich Ethik und Transzendenz, wenn man auf den Exkurs zurückblickt, wo als Ziel des philosophischen Lebens das Seiende sichtbar wurde, von der „Gerechtigkeit selbst" bis zur „Annäherung an den Gott". Man steht an der Schwelle zum Adyton, als Piaton innehält. Der zweite H a u p t t e i l des Dialoges bewegt sich formal in der II. Aufklärung und Widerlegung der nächsten Definition: Erkenntnis 187 (Wissen) ist richtige Meinung (ή αληθής δόξα έτπστήμη). „Meinen" (δοξάζειν) ist ja ein ungefährer Ausdruck der Alltagsrede, den auch Piaton öfters obenhin für das gebraucht, was er genauer Erkennen oder Wissen nennt. Im Timaios (51 D) wird der Ansicht der unbestimmten „Manchen", die zwischen der richtigen Meinung und der Erkenntnis keinen Unterschied machen, die systematische Scheidung der beiden Begriffe entgegenstellt. In unserm Dialog ist der junge Theaitet einer von diesen Manchen. Als ob sich das von selbst verstünde, setzt er Wissen und Meinen gleich und formuliert diese Gleichsetzung dann als Definition, indem er das allgemeine „Meinen" zum „richtigen Meinen" verschärft. Piaton läßt ihn das tun, damit Sokrates an dem Gegensatz zu richtigem Meinen das Wesen des Wissens weiter verdeutlichen kann, nach-
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dem er im ersten Hauptteil dasselbe am Gegensatz zu der Wahrnehmung getan hat. Daß etwas „mir annehmbar scheint" (δοκεΐ μοι), hört man ja in dem Worte Doxa, und dieses Aktive und Scheinhafte des Begriffes wird vor allem fixiert. Darum die Gleichsetzung in der neuen Definition. Das Merkwürdige aber, wenn wir die Bewegung dieses Abschnittes im Großen überblicken, ist dieses: II 1. Der weitaus umfänglichste Teil ist der Frage gewidmet, was Irrtum 187 B—200 D ge^ u n c [ wie Irrtum überhaupt möglich sei. Dann wird zum Schluß II 2. kurz die Definition geprüft und widerlegt. Das wäre ein Mißver200D—201C hältnis, wenn nicht eben in dem, was als Nebenfrage und Abschweifung erscheint, sich das eigentliche Problem klärte. Wir wissen aus dem Kleinen Hippias, dem Euthydem, dem Kratylos, was gegenüber sophistischer Vermengung von Wahrheit und Irrtum der Nachweis „daß Irrtum möglich sei" für den Philosophen bedeutet, nichts weniger nämlich als die „Rettung" des Erkennens. Im Bereich der reinen Wahrnehmung gibt es Irrtum nicht. Im Bereich des reinen Erkennens wird es ihn auch nicht geben. Das Reich der Doxa ist durch das Dasein von Irrtum geradezu bestimmt. So war hier der Platz, sein Wesen deutlich zu machen, und so wird wohl das Wort „wahr" darum in die Definition aufgenommen worden sein, weil die Klärung seiner selbst und seines Gegenteils bestimmend ist für das Wesen der Episteme65). Die Untersuchung, was denn Irrtum sei, geschieht der Form nach in einer Reihe vergeblicher Ansätze, dieses unfaßbare Wesen zu erfassen. Es sind fünf Versuche, von denen die drei ersten durch gemeinsame Voraussetzung und gleichartige Behandlung sich fast in einen zusammenschließen M ). l i l a . E r s t e r V e r s u c h : Wissen und Nichtwissen werden einander 187 Β 188C ggjjgjf entgegengesetzt, die Zwischenstufen Lernen und Vergessen bleiben (für jetzt) ausgeschaltet. Wie ist dann Irrtum oder Verwechslung zweier Gegenstände möglich ? Zweier gewußter oder zweier nicht gewußter oder eines gewußten mit einem nicht gewußten ? Offenbar in keiner Weise. Danach also ist kein Raum für so etwas wie Irrtum. Die scharfe, parmenideische Entgegensetzling von Wissen und Nichtwissen schließt die sophistische Vermengung oder Verneinung der beiden aus. Und doch ist es wiederum eben jene radikale Entgegensetzung ohne Zwischenglied oder Übergang, die den Irrtum anscheinend unerklärbar macht und sich damit in den Dienst
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sophistischer Vermengung stellt. Parmenides selbst handelt ja in dem zweiten Teil seines Lehrgedichts von den Scheinmeinungen der Menschen. Sokrates' Wirken wäre sinnlos, wenn nicht Irrtum bestände und aufzuklären wäre. Nicht zufällig hat am Anfang dieses Abschnitts Theaitet als ganz selbstverständlich ausgesprochen, daß es „auch falsches Meinen gebe" (187 Β 5 έττειδή και ψευδής έσ~π δόξα). Dann aber doch wohl darum, weil wir bei dem parmenideisch starren Gegenüber von Wissen und Nichtwissen verharrten und das Meinen zu einfach gleichsetzten mit dem Wissen. Zeichnen sich also nicht sofort wieder Grundlinien eines Schemas ab: hier Wissen, dort Nichtwissen — absolut und ohne Übergänge ? Und anderswo richtiges und falsches Meinen, der Bereich also, in dem es Irrtum gibt ? Gewiß wird da Polemik sein gegen zeitgenössische „Parmenideer", d. h. Eristiker, aber mehr sehen wir den Piaton sich auseinandersetzen mit dem Parmenides in ihm selbst 57 ). Z w e i t e r V e r s u c h : Die Frage, die von der Erkenntnisseite ^ggQ * 189B unlösbar scheint, wird von der Gegenstandsseite her gefaßt. Sein und Nichtsein werden einander so scharf entgegengesetzt wie vorher Wissen und Nichtwissen. Falsches Meinen heißt NichtSeiendes meinen, und die Frage nach dem Irrtum formuliert sich jetzt so: Wie kann man Nicht-Seiendes meinen? Meinen scheint sich doch wie jede andere geistige Tätigkeit — sehen, hören, berühren—auf einEtwas, ein Seiendes also, beziehen zu müssen 58 ). Wer ein Nicht-Seiendes meint, meint nichts, meint also überhaupt nicht. Auch von der Gegenstandsseite her läßt sich also Irrtum nicht deduzieren. Aber — fügen wir sogleich wieder hinzu — Irrtum gibt es doch. Also war es wohl auch hier nicht zulänglich, bei der harten, parmenideischen Gegenüberstellung des Seienden und NichtSeienden zu verharren. Und hatte sich nicht der erste Hauptteil zumeist auf einem Felde bewegt, das man weder Sein noch NichtSein zu nennen hat ? Sinnesempfindungen haben jeweils ihren Gegenstand, aber ob sie auf ein Seiendes gehen, und in welchem Sinne, bleibt zu fragen. Und Nicht-Seiendes meinen, nichts meinen, nicht meinen — wer nicht selber merkt, daß hier sophistisch vorschnell gleichgesetzt wird, was nicht identisch ist, sollte aus dem Euthydem und dem Kratybs wissen, welches Problem hier lauert. F r i e d l ä n d e r , Fla ton III
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Um es aufzulösen, dazu gehörte freilich die Überwindung des parmenideisch-starren Seins, die erst der Sophistes vollzieht. I I I c. D r i t t e r V e r s u c h : Irrtum ist Anders-meinen, Anderes-meinen, 189B—191Α Verwechslung eines Seienden mit einem andern Seienden (άλλοδοξία, έτεροδοξία). Im ersten Versuch hatte Piaton den Nachdruck auf die Seite des Erkennens gelegt, im zweiten auf die Seite des Seins, wobei doch, wie sich versteht, dort das Sein, hier das Erkennen mitwirkte. Im dritten Versuch sind Erkennen und Sein gleichermaßen beteiligt: Jemand verwechselt im Denkvorgang ein Seiendes mit einem andern Seienden; er hält das Eine (ετερον) für ein Anderes (ετερον) — ein Gegensatz, der im Griechischen durch dasselbe Wort bezeichnet wird. Liest man zu viel hinein, wenn man diese von der Sprache nahe gelegte Identifizierung des Entgegengesetzten für eine von Sokrates gewollte Verlockung zu eristischem Mißbrauch hält ? Hier jedenfalls läßt Piaton den Theaitet nicht wie bei den ersten beiden Versuchen gelehrig folgen, sondern der Junge greift selbst lebhaft ein und versucht, die von Sokrates aufgestellte Formel durch ein Beispiel zu verdeutlichen: wenn man Schön mit Häßlich verwechselt, das sei „in Wahrheit falsch". Warum schneidet Sokrates diesen Versuch ab, statt ihn verdeutlichend fortzusetzen ? Theaitet scheint doch auf einer sehr richtigen Fährte zu sein: braucht man nicht, wie Sokrates selbst das bald nachher tun wird (190 Β 3), zu Schön und Häßlich nur den Artikel zu setzen, damit etwas Platon-Nahes daraus wird ? Doch sogleich meldet sich die Gefahr: ,,Ιη Wahrheit falsch", das kann durchaus sachlich verstanden werden, könnte aber auch zu sophistischer Verdrehung führen (wie vorher die Wortgleichheit des „Einen" und des „Anderen"). Und das ist wohl der Grund, weshalb Sokrates, jenes „in Wahrheit falsch" wiederholend, halt! sagt und, zu seinem Definitionsversuch zurückkehrend, das Denken als ein Gespräch der Seele mit sich selber deutet. Was soll diese Deutung ? Nicht nur anschaulich machen soll sie, sondern vor allem eins klar machen: im Gespräch mit anderen kann man die Wahrheit sophistisch verdrehen; im Selbst-Gespräch kann niemand, der die beiden Stimmen sich aussprechen läßt, „das Schöne" (Sokrates greift Theaitets Beispiel auf, fügt aber den Artikel hinzu — und das bedeutet viel) für häßlich halten oder das Gerechte für ungerecht (man vergißt nicht, daß Sokrates am nächsten Tag vor
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Gericht stehen wird) oder das Ungerade für gerade (Sokrates spricht zu dem jungen Mathematiker). Wenn man in jedem dieser Gegensatzpaare sowohl Α "wie auch Β wirklich kennt, kann man nicht Α mit Β verwechseln; wenn man nur Α oder nur Β kennt, erst recht nicht. Über der Ebene der einfachen Erfahrung — Rind und Pferd (190 C 4) — werden Mathematik und ethische Entscheidung sichtbar. So wird an diesen beiden Instanzen, Mathematik und Ethik, sich die Kritik dieses dritten Versuchs (190 Β ff.) zu messen haben: Wenn die Seele Beides kennt, wie kann sie dann das Eine für das Andere halten ? Wenn sie nur das Eine kennt, wie kann sie das Gewußte für etwas halten, was sie gar nicht kennt ? Die Antikritik würde gegen den zweiten dieser Sätze einwenden, daß man das Gerade oder das Gerechte nicht wirklich kennen kann, ohne auch das Ungerade oder das Ungerechte zu kennen59). Vierter Versuch: Das Bild der wächsernen Prägemasse (κήρινον έκμαγεΐον)60), unter dem beispielsweise unsere Seele gesehen wird, dient dazu, die Momente des Lernens, Sich-erinnerns, Vergessens in die Untersuchung einzugliedern, nachdem die drei ersten Versuche sich absichtlich (188 A) auf das schroffe Gegenüber von Wissen und Nicht-wissen beschränkt hatten. Und nun werden in einer kombinatorischen Rechnung die Momente des Wissens und des Wahrnehmens sowie ihre Negationen auf ihre Vereinbarkeit untereinander geprüft61). Dann scheiden die meisten Fälle als denkunmöglich aus, und übrig bleiben nur die drei, daß verwechselt wird mit einem gewußten Α (oder B) ein gewußtes und wahrgenommenes Β (oder A); mit einem gewußten Α ein nicht gewußtes aber wahrgenommenes B; mit einem gewußten und wahrgenommenen Α ein gewußtes und wahrgenommenes B. Die Untersuchung also hat gelehrt, daß falsche Meinung dort ist, wo Wissen (in der Form der Erinnerung) und Wahrnehmen miteinander verknüpft sind. Wenn zum Schluß aus dem Bild der wächsernen Prägemasse auch die Verschiedenheit der seelischen Anlagen erläutert wird, so erscheint das wie eine empirische Bestätigung oder eine Ausweitung des erkenntnistheoretischen Bezirks ins Psychologische (194 C—195 B). Aber — so setzt mit einer scharfen Wendung die Kritik wieder ein — zu diesem Versuch stimmt nicht die Tatsache des Rechenfehlers. Denn da ist Irrtum offenbar, ohne daß die Wahrnehmung 11*
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auch nur ins Spiel käme. Und so ist auch der vierte Versuch erledigt. Oder sagen wir lieber: eingeschränkt. Die Erweiterung des empirischen Feldes gegenüber der Einengung der drei ersten Versuche ist fraglos ein Gewinn. Und wenn nicht der Irrtum geklärt wird, so wird doch eine Gruppe von Irrtümern beschrieben. Diesen Weg, der von der Wahrnehmung über Lernen und Sich-erinnern zum Wissen, über das Vergessen zum Nicht-Wissen führt, wie sollte Piaton ihn nicht anerkennen ? Unrecht hat man freilich dann, wenn man auf diesem Wege allein zur Erkenntnis meint kommen zu können. Ein einfaches Beispiel aus der Rechenkunst zeigt ein Gebiet — das Gebiet der Dianoia nach der Erkenntnislehre des Staates —, wo der eben angesetzte empiristische Erkenntnisweg versagt und wir auf die Aporie des ersten und dritten Versuchs zurückgeworfen werden. Also steht auf der einen Ebene Wahrnehmung und empirisches Wissen als ein Gebiet, auf dem der Irrtum im Bilde leicht hat dargestellt werden können; darüber aber die Mathematik mit einer besonderen Weise des Irrens und also einer besonderen Weise des Erkennens, über die bisher nur dies ausgemacht ist, daß sie nicht in den Bereich des Empirischen gehört. II 1 e. F ü n f t e r V e r s u c h : Das Bild des Vogelkäfigs, in dem die er196 D—200 D worbenen Erkenntnisse als eingefangene Vögel hausen und in Scharen, zu wenigen, einzeln herumfliegen, dient dazu, den Unterschied zwischen Besitzen und Haben, latentem und präsentem, potentiellem 62 ) und aktuellem Wissen abermals anschaulich darzustellen. Waren im vierten Versuch die Stempelformen in die wächserne Prägemasse ohne sinnvolle Ordnung eingeprägt und je nach der Beschaffenheit des Wachses, also des Individuums, deutlicher oder undeutlicher eingeprägt, so ordnen sich jetzt die Erkenntnisse ihrer Natur nach in größere oder kleinere Gruppen, oder sie bleiben einzeln, und sie bewegen sich im Käfig mit derselben Natürlichkeit, wie sie sich draußen bewegten. Die Welt des Wissens also scheint ein Ordnungssystem zu sein, das seine Regeln hat. Irrtum kommt nicht zustande bei der „ersten Jagd" nach den Vögeln, beim ersten Erwerben des Wissens, sondern bei der „zweiten Jagd" im Vogelkäfig selber, bei dem Beginnen, das was man besitzt auch zu haben. Hier kann man versehentlich „eine Erkenntnis statt einer andern" greifen (άυθ' έτερα; έτέραν). Und während der vierte Versuch an der Zahlenlehre seine Grenze
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fand, wird hier das Beispiel, um den Irrtum aufzuweisen, sofort der Zahlenlehre entnommen. Ihr folgt die Grammatik. Wenn Theaitet weniger knabenhaft wäre, würde Sokrates noch andere Wissensgebiete herangezogen haben — so sollen wir doch wohl denken. Das Bild des Vogelkäfigs zeigt: man kann „sich vergreifen". Der neu erfaßte Unterschied latenten und präsenten Wissens klärt also Erkenntnis und Irrtum auf der Stufe der Dianoia®3). Aber auch hier setzt alsbald wieder die Kritik ein64). Wie kann aus einer Vertauschung von Erkenntnissen der Irrtum entstehen ? Wie kann anders gesprochen Falsch aus Richtig entstehen ? Der Versuch des Theaitet, in den Käfig neben den „Kenntnissen" auch „Unkenntnisse" (άνετηστηυοσύνοπ) zu versetzen, führt entweder auf die erste Aporie zurück, auf die unbegreifliche Verwechselung des Wissens und Nichtwissens, oder aber drängt dazu, ein Wissen anzusetzen, das über Wissen und Nichtwissen entscheidet, und so ins Unendliche fort. Der regressus in infinitum steht als stärkste Aporie am Ende dieses letzten Versuches. Denken wir an den vierten Versuch zurück, so war es die Möglichkeit mathematischen Irrtums, die über dem empirischen Bereich einen andersgearteten, den der Dianoia, aufwies. Beim fünften Versuch sind wir auf der höheren Ebene, wo mathematischer Irrtum in anschaulichem Gleichnis erklärbar wird. Aber nun zeigt sich eine neue Schwierigkeit und zugleich eine neue Dimension: die scheinbar ins Unendliche sich verlängernde Erkenntnisreihe. Wohin zielt dieses Argument ? Wir kennen es als den Gipfel der Erörterung im Charmides. Nun entsinnen wir uns, daß der Theaitet sich in die Traditionslinie eben dieses Dialoges stellte. Dessen Grundform also, das wird jetzt klar, dringt im Theaitet wieder durch, wo seine zweite Ebene ihren höchsten Punkt erreicht. Im Charmides wurden wir zu der Anerkennung gedrängt, daß das Wissen so lange leer bleibe, bis es aufgehoben wird in dem Wissen des Guten. Im Theaitet kann man die Lösung nicht irgendwo anders suchen. Ein Wissen muß postuliert werden über Wissen und Nichtwissen, d. h. über jenem Wissen und Nichtwissen, welches uns eben im Mathematischen begegnete. Wenn dieses übergeordnete Wissen sich ins Unendliche zu verlaufen schien, womit denn alles sinnlos wurde, so war das Licht vergessen, das der Exkurs des Ersten Teiles ausgestreut hatte. Ist es von dort aus gesehen nicht so, daß der regressus dann sein Ziel erreicht, wenn
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die Erkenntnis nicht mehr bloß Erkenntnis der Erkenntnis ist, sondern Erkenntnis „des Göttlichen und der GerechtigkeitRichtigkeit" ? Die Stufe des Wissens also, unterhalb deren sowohl Erfahrungswissen wie mathematisches Wissen ist ? Wenn Sokrates hier abbricht und sich vom Logos den Vorwurf machen läßt, man sei darum zu keinem Ergebnis gekommen, weil man über die „falsche Meinung" eher Klarheit habe gewinnen wollen als über die Erkenntnis — so ist das, wie sich versteht, ironisch, d. h. richtig und falsch zugleich. Allerdings wird man völlige Klarheit nicht haben, „bevor man nicht das Wesen der Erkenntnis hinreichend erfaßt hat". Aber ein Weg dorthin, durchaus kein Abweg, war die Aporetik des Irrtums. Sie hatte dazu geführt, daß sich Erkenntnisse in einer Stufenreihe übereinander ordneten bis zu der höchsten hinauf, die, wenn man sie erreicht hätte, den Ausweg aus der letzten Aporie schaffen würde. Das formulierte Problem dieses Dialogteiles ist die Definition des Wissens als „richtiger Meinung", worin die Absicht liegt, diese beiden Erkenntnisweisen in ein festes Verhältnis zu bringen und die eine an der andern zu klären. Wäre nicht viel davon in der Aporetik des Irrtums bereits geschehen, so wäre es ein Mißverhältnis, daß nun hinterdrein in aller Kürze und Einfachheit aus dem Leben heraus die Gleichsetzung von Wissen und richtiger JJ 2 Meinung widerlegt wird96). Eine ganze Kunst zeigt durch ihr Ver200D—201Cfahren das Verkehrte jener Definition: die Kunst der Rhetoren und besonders der Gerichtsredner (δικανικοί). Man braucht nur die Umstände zu erwägen, unter denen sie wirken, damit klar werde, daß sie wohl auf das Überreden, aber nimmer auf das Belehren aus sind, daß sie wohl eine wahre (im besten Falle wahre!) Meinung, aber nimmermehr ein Wissen hervorbringen können. Das ist die alte Argumentation, die wir aus dem Großen Alkibiades (114 Β ff.) und dem Gorgias (454 Α ff.) kennen68). Im Theaitet hat sie noch eine besondere Beziehung. „Nach der Wasseruhr" müssen sie vor Gericht reden, so heißt es an dieser Stelle (201 Β 2), und so hieß es in dem Exkurs des Ersten Teils von denselben Gerichtsrednern (172 Ε 1). Dort aber wurde ihr Tun dem des Philosophen, dem des Sokrates, dem gegenwärtigen Tun gegenübergestellt, dem Suchen der Wahrheit, für das man, wie es dort und auch später wieder (187 E) mit Nachdruck heißt, „Zeit habe", das (anders gesprochen) nicht unter einem äußeren Zwange stehe. So wird
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denn am Ende des Zweiten Hauptteils nicht nur „Meinung" endgültig von „Wissen" getrennt. Wir tragen zugleich aus dem „Exkurs" die strenge Scheidung zwischen Redner und Philosoph, ja die Feindschaft zwischen beiden Lebensformen, in den Gegensatz zwischen Meinung und Wissen hinein und sehen von dort her in der Hierarchie der Lebensformen und der Erkenntnisarten die Überordnung des Philosophen und der Episteme über den Rhetor und die Doxa. Im D r i t t e n H a u p t t e i l des Dialoges wird der Form nach die Iii. dritte Definition aufgestellt und geprüft: Erkenntnis (Wissen) ist 2 0 1 ^—210C richtige Meinung (wahre Vorstellung) verbunden mit Logos '(ή μετά λόγου
άληθής δόξα).
Theaitet hat sie v o n einem
andern
gehört, Sokrates auch. Man pflegt sie auf Antisthenes zurückzuführen, weil die Theorie, deren Ausdruck sie nach Sokrates sein soll, dem Antisthenes zu gehören scheint67). Aber schwerlich kann das für die Definition zutreffen, weil vielmehr nach dem ausdrücklichen Zeugnis des Aristoteles die Kyniker überhaupt Definition als Wesensbestimmung nicht gelten ließen68). Wie viel in dem, was Piaton hier zur Untersuchung stellt, von ihm selbst, wie viel von anderen formuliert worden ist, wird nie genau auszumachen sein, und jedenfalls tut man gut zu bedenken, daß er nicht schrieb, um uns Material für verloschene Kapitel der Philosophiegeschichte zu liefern. Für das Verständnis des Dialoges ist allein wichtig die Frage, warum dies hier erörtert wird. Erkenntnis unterscheidet sich von richtiger Meinung dadurch, daß der Logos zu ihr hinzutritt: das ist gar nicht sehr weit ab von dem, was Piaton eigentlich meint69). Im Menon (97 Β ff.) hatte er den Sokrates formulieren lassen, daß richtige Meinung durch die Rechenschaft von der Ursache gebunden werden müsse, um Erkenntnis zu werden. Im Symposion (202 A ) heißt es um ein Stück zurückhaltender: richtiges Meinen ohne die Fähigkeit Rechenschaft zu geben sei noch keine Erkenntnis. Und so erklärt auch im Theaitet (202 D) Sokrates es für „natürlich", daß es keine Erkenntnis geben könne ohne den Logos in Verbindung mit richtiger Meinung (χωρίς του λόγου τε καΐ ορθής δόξης). Als Mitursache also
für die Konstitution der Erkenntnis ist der Logos von höchster Bedeutung, und dies ist es, was den Piaton veranlaßt sein Wesen hier zu klären an der Kritik einer Lehre, mit der er nicht verwechselt zu werden wünscht.
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III 1. Diese Theorie — man kann sie einen epistemologischen Atomismus C 206C n e n n e n 7 0 ) — hatte Sokrates auf der ersten Dialogebene entwickelt (156 A—157 C), auf der zweiten noch einmal gestreift (182 AB). Jetzt stellt er sie zum dritten Mal als ein „Traumbild" dar: von den einfachsten Elementen (πρώτα στοιχεία) gebe es gar keinen Logos, keine begriffliche Deutung. Man könne ihnen nur einen Namen anheften, aber dem Namen nichts zusetzen. Sie seien wahrnehmbar und benennbar, aber undeutbar (unerklärbar, άλογα) und unerkennbar (άγνωστα). Logos und Erkenntnis gebe es nur von den zusammengesetzten, „zusammengeflochtenen" Bildungen, genau entsprechend wie der Logos (Rede, Satz) selbst aus „Namen" (Wörtern) zusammengeflochten sei. Stoicheion ist Element und Buchstabe, Syllabe ist Zusammenfassung und Silbe, sodaß das Verhältnis von Buchstaben und Silbe jederzeit mitklingt, aber zugleich für ein weiteres Gebiet repräsentativ ist (204 A 3. 206 Β 6). Mit dieser Theorie — wie man meist annimmt, des Antisthenes 71 ) — berührt sich Piaton in zwei Punkten. In der Wissenschaftslehre des Siebenten Briefes sind ihm die beiden untersten Stufen des zum Seienden aufsteigenden Erkenntnisweges erstens der Name und zweitens der Logos, und ähnlich klingt die Überordnung des Logos über den bloßen Namen im Sophistes (218 C)72). Ferner ist das System der Buchstaben schon im Kratylos (424 Β ff.) und noch im Sophistes (252 Ε ff.) und PUlebos (18 Β ff.) Symbol für das System der seienden Dinge. Die Elemente sind ja die letzten unteilbaren Formen, auf die die „Einteilung" alles zurückführt. Und wie hier in der Theorie des „Antisthenes" die Elemente und parallel die ihnen entsprechenden Namen miteinander „verflochten" sind, so ist im Sophistes die „Verflechtung" der „Formen" das wichtigste Problem. Aber trotz oder gerade wegen dieser Verwandtschaft will Piaton sein Eigenes im Gegensatz zu dieser Theorie sichtbar machen, und so setzt denn nach anfanglicher Zustimmung sehr rasch die Kritik des Sokrates an diesem „Traumbilde" (202 C 5) ein. Sie geht darauf aus, jene radikale Unterscheidung von Buchstabe und Silbe hinfällig zu machen. Entweder nämlich ist die Silbe die Summe ihrer Bestandteile; dann begreift man nicht, wie aus „unerkennbaren" Teilen ein „erkennbares" Ganzes werden soll. Oder die Silbe ist eine Gesamtform (μίαν τινά Ιδέαν 203 C 5, iv τι γεγουόζ είδος Ιδέαν μίαν αύτό αύτοΟ Ιχον Ε 3), eine unzerlegbare Einheit, wobei die
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Unzerlegbarkeit an einer Analyse der Begriffe „Gesamt" (παν) und „Ganz" (όλον) anschaulich gemacht wird73). Dann aber müßte von der Silbe gelten, was von dem Buchstaben gilt: sie müßte unerkennbar sein (205 E). Dasselbe Ergebnis wie die Dialektik liefert ein Blick auf die Erfahrung. Im Lese- und Schreibunterricht wie im Musikunterricht geht man von den „Elementen" aus. Sie geben deutlichere und enscheidendere Erkenntnis für das Erfassen irgendeines Lehrgegenstandes als die „Zusammenfassung". Es gebe auch noch andere Beweise, sagt Sokrates, und wendet sich nun zur Prüfung der eigentlichen Definition (206 C). Wir aber verweilen noch einen Augenblick bei den letzten Erörterungen. Darum wurde doch wohl jene Theorie des Antisthenes untersucht, um klarzumachen: Das Sein wird alogisch, wenn seine Elemente keinen Logos haben. Und das Sein wird atomisiert, wenn die höheren Formen jeweils nur Aggregate von niederen sind. Beide Gefahren werden zunichte, sowie man die höhere Form als Eidos sieht und in gleicher Weise das Element als Eidos, und sowie man den Charakter des „Logischen", den das höhere Eidos hat, folgerecht auf das einfachste, „unzerschneidbare" Eidos überträgt. So wird — wenn auch an absichtlich primitiven Beispielen — das geschichtete System der Seinsformen deutlich. Wie fast am Ende des ersten Hauptteils auf der Ich-Seite die „eine Gestalt der Seele" (μίαν τινά Ιδέαν 184 D 3) erschien, die Seele als Gesamtform, die ganz etwas anderes ist als die Summe ihrer Wahrnehmungen, die sich vielmehr „allein für sich mit dem· Seienden befaßt" (187 A 5), so erscheint hier auf der Gegenstandsseite die „eine Gestalt", die ebenso wenig als Aggregat von Elementen verstanden werden kann. Es bleibt dem Leser überlassen, die Gesamtform der Seele und die für den Logos gerettete „eine Gestalt" des Seienden aufeinander zu beziehen. Sokrates aber wendet sich, nachdem jene Theorie widerlegt ist, III 2. besser: ins Platonische erhoben worden ist, am Schluß des Ganzen 206C—2] zur Kritik der Definition, die am Anfang dieses dritten Hauptteiles stand. Die Kritik versucht das Wort Logos auf drei Weisen zu verstehen, und auf alle drei Weisen zeigt sich, daß mit diesem Logos der richtigen Meinung gar nichts eigentlich Heues hinzugefügt wird. Logos ist entweder Sprechen; dann wird die innere Meinung durch das Stimmorgan vermittelst der Haupt- und Zeitwörter nur nach außen getragen. Oder Logos ist Aufzählung der Elemente,
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aus denen etwas besteht — solcher Logos scheint durch die Begriffe „Element" und „Zusammenfassung" jener vorher erörterten Theorie zugeordnet zu sein, die man antisthenisch nennt. Aber schon beim Lesen und Schreiben muß man den Weg durch die „Elemente" machen. Also führt auch hier nicht der Logos richtiges Meinen zur Erkenntnis empor, sondern er ist unentbehrlich schon zum Zustandekommen der Meinung selber. Ist der Logos auf der ersten Stufe rein sinnlich, auf der zweiten atomistisch und mechanistisch, so erhebt er sich auf der dritten zu seiner eigenen systematischen Leistung. Richtige Meinung mit Logos verbunden, das heißt jetzt nicht mehr Meinung, die sich in Tönen ausspricht, auch nicht Meinung die ihre Elemente einfach aneinanderreiht, sondern Feststellung der spezifischen Differenz (φ των άττάντων διαφέρει τό έρωτηθέν) innerhalb des Allgemeinen (κοινόν). Aber wieder erweist sich, daß man ohne Kenntnis des unterscheidenden Merkmals schon richtige Vorstellung nicht besitzen könne. Verlangt man hingegen, daß der Logos eine Erkenntnis des Unterschiedes im Gegensatz zu richtiger Vorstellung des Unterschiedes sei, so ergibt sich, daß man ein Unbekanntes, nämlich eben die Erkenntnis, durch dieses Unbekannte selbst zu erklären beansprucht. Mit diesem Zirkel endet das Gespräch in der Aporie. Stufenweise Aufklärung des Logos als des höchsten Begriffes, zu dem die dialektische Erörterung sich erhebt: das ist der Sinn des dritten Dialogteiles. Darum war der Logos in die dritte Definition aufgenommen worden. Was aber bedeutet der Zirkelschluß, in den seine Erörterung endet ? Ist es nicht eine eigentümliche Paradoxie, daß die in Definitionen sich vollziehende Bewegung des Dialoges sich schließlich totläuft im Problem der Definition ? Oder spricht sich eben darin aus, daß man allein auf dem Wege des Logos, also auf dem Wege dieses Dialoges, zur Erkenntnis dessen, was Erkenntnis ist, überhaupt nicht gelangen kann ? Wie sollte das auch möglich sein, da der Erkenntnisweg des Siebenten Briefes den Logos auf der zweiten Stufe sieht, die Erkenntnis selbst weit darüber auf der vierten ? Oder um innerhalb unseres Dialoges zu bleiben: da doch der „Exkurs" des Ersten Teiles den Erkennenden sichtbar macht in seiner „Flucht von hier dorthin", in seiner „Angleichung an den Gott", in seiner „wahren Weisheit und Tugend"? So zeigt sich, daß Logos auch in seiner höchsten Form das Besondere des „Wissens", der „Erkenntnis" nicht aufklären kann, so unentbehrlich er für
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diese Aufgabe ist. Erkenntnis steht noch hoch über dem Logos: zu dieser Einsicht führt am Schluß des Dialoges — der Logos hinauf. Wenn Sokrates sich mit den Worten verabschiedet, er müsse jetzt sich der Klage des Meietos stellen, so läßt er noch einmal den Moment, in dem das Gespräch geführt wird, ganz lebendig werden, weckt noch einmal den „Exkurs" mit dem feindlichen Gegenüber des Philosophen und des Rhetor-Politikers und macht das ungeheure Trotzdem fühlbar, unter dem die sokratische Existenz steht. Als Formmotiv erinnern die Worte an den Schluß des Euthyphron. Wenn Sokrates dann fortfährt: aber am andern Morgen wolle man sich wieder an demselben Ort treffen, so wird die nie endende Aufgabe des Wahrheitssuchens gegenwärtig wie im Schluß des Charmides und Laches. Noch einmal also darf daran erinnert werden, daß der Theaitet die Struktur der aporetischen Dialoge aus Piatons Frühzeit in die Periode seiner hohen Reife hinübernimmt. Es ist ganz die gleiche Art, wie hier und dort die nach außen sichtbare Bewegung sich vollzieht in dem Aufstellen und Wiederumstürzen von Definitionen, durch welche das Wesen der betreffenden Sache erfaßt werden soll und nicht erfaßt wird. Auch die Dreistufigkeit ist als Baumotiv aus dem Thrasymackos, die Dreiheit der Definitionen ist aus dem Charmides, Euthyphron, Großen Hippias bekannt. Aber eins unterscheidet den Theaitet von ihnen allen. Während in ihnen jene Welt, auf die sie hinführen, nirgends erreicht wird, ist sie hier mittels des „Exkurses" einbezogen in das Gefüge. Da hat sich also mit dem Formsystem der aporetischen Definitionsdialoge das des Gorgias und des Staates durchdrungen, dieses eine Mal bei Piaton. Die Verbindung ist schroff. Aber diese Schroffheit ist hier gewiß kein Zeichen mangelnder Vollendung74). Sie steht da als Symbol dafür, daß kein allmähliches Aufsteigen durch die Aporien des Wissensbegriffes, so wenig es entbehrt werden kann, zur Erkenntnis dessen führt, was Erkenntnis ist, sondern daß nach den Worten des Siebenten Briefes „plötzlich wie von überspringendem Funken das Licht sich entzündet". Sieht man den Gesamtbau des Dialoges aus der Ferne, so erscheint er wie eine Stufenpyramide. Jede der drei Stufen verengt den Raum, in dem die Erkenntnis gesucht wird. Und doch erweist sich, daß das höchste und eigentliche Wissen noch über der
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höchsten ersteigbaren Stufe ist 76 ). Was man damit zu Gesichte bekommt, ist gleichsam die Struktur des aporetischen Definitionsdialoges. Hat man sich ferner die Durchdringung der beiden Strukturen anschaulich gemacht, so erfaßt man auf der untersten Stufe die weiteste Spannung zwischen der „Erkenntnis" des Weißen oder des Kalten, deren auch das Tier fähig ist, und der Erkenntnis des Göttlich-Gerechten, der sich nur der Philosoph nähern kann. Die dazwischenliegenden Gebiete werden' auf der zweiten und dritten Stufe aufgeklärt: auf der zweiten das Gebiet der Doxa, in dem der Irrtum und mit ihm die Wahrheit in Schichten aufsteigen, auf der dritten das Gebiet des Logos, der sich gleichfalls schichtenweise sublimiert. Aber jeweils ganz oben auf der zweiten und dritten Stufe wird die wahre Episteme gesichtet als etwas, was nicht mehr durch einen neuen Schritt von gleicher Art wie die früheren erreicht werden kann. Und so wird auch von diesen beiden Stufen der Blick hinaufgeführt in jene Welt, die auf der untersten Stufe sich plötzlich auftat und dort das Reich des GöttlichGerechten hieß. Denkt man schließlich vom Ende des Dialoges an den Anfang zurück (142 C 6) und vom Ende und Anfang her an den „Exkurs", so wird in aller Erkenntnistheorie, Ethik und Metaphysik und durch sie hindurch noch eins sichtbar: die menschliche „Existenz" und damit das, was Jaspers die „Grenzsituation" genannt hat: der Kampf gegen die Gewalt, die Aneignung des Leidens, das Wissen vom Tode. In der Lebenswirklichkeit „Sokrates" ist alles dies gegenwärtig und durchdringt, mehr als der Leser des Theaitet zumeist gewahr wird, die Suche nach dem, was Erkenntnis ist.
24. P A R M E N I D E S Platon sah sich in der Mitte zwischen den Fronten „Parmenides" und „Heraklit", als er den Theaitet schrieb. Dort nimmt er die Richtung gegen die Vertreter des alles in sich hineinreißenden Werdens. Aber vor Augen steht ihm zugleich die Auseinandersetzung mit dem einen, unbeweglichen Sein, vor Augen auch der dramatische Moment, da Sokrates „ganz jung dem ganz alten Parmenides begegnete". In diesen Worten des Theaitet-Oialoges (183 E) ist der Hinblick auf den Parmenides deutlich, ungewiß ob Platon dieses Werk damals zu schreiben erst plante, oder ob er es schon geschrieben hatte, oder ob er gleichzeitig daran arbeitete 1 ). An der radikalen Starrheit des parmenideischen Grund-Satzes mußte seine eigene Theoria der ewigen Formen sich bewähren, in dieser Auseinandersetzung eine neue Klarheit gewinnen 2 ). Ein gewisser Kephalos erzählt, unbestimmt wem und wo, nur nicht in Athen und schwerlich in seiner Vaterstadt Klazomenai, wie er von dort nach Athen gekommen sei mit einigen Mitbürgern, sehr „philosophischen" (oder wissenshungrigen) Männern, und wie er das Gespräch von dorther mitbringe, das vor langer Zeit — wenn man nachrechnet, vor etwa 50 Jahren — Sokrates mit Parmenides und Zenon geführt habe. Die Herkunft des Kephalos wird kaum zufällig sein, da sie an so ausgezeichnetem Platze steht. Proklos deutet die Absicht Piatons so: die „jonischen" Philosophen, die sich mit der „Natur der Dinge" befassen, treffen mit den „italischen", den Vertretern der Begriffsphilosophie (ττερϊ των ειδών θεωρία), den Bestreitern einer Erscheinungswelt, zusammen in Athen, wo Sokrates und Platon die Extreme vereinigen 3 ). Unbefangener wird bei dem Namen Klazomenai jeder an den größten
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Klazomenier Anaxagoras denken 4 ), der als erster dem „Geist" seinen Rang in und gegenüber der Dingwelt zu sichern suchte und damit eine Wegmarke gesetzt hat in der Richtung auf das Ziel auch unseres Dialoges8). Ist es nicht so, daß Kephalos für das, was seine Heimat auch der Stadt Athen geschenkt hat, aus Athen selber überreichen Lohn, mitbringt, da Piaton den „Geist" des Anaxagoras bewundernd übernimmt und diese Erkenntnis dann weit über Anaxagoras hinausführt (Phaidon 97 C ff.) ? Wer freilich glaubt, Piaton habe „philosophische" Männer aus Klazomenai auftreten lassen ohne einen Gedanken an den klazomenischen Philosophen, wird das Gesagte als leeres Denkgespinst ablehnen. Solcher Zweifelsucht steht gegenüber die immer von neuem bewährte Überzeugung, daß Piaton wie die Natur „nichts umsonst t u t " (ουδέν μάτην ττοιεΐ). Der Weg, auf dem das Gespräch dem Erzähler Kephalos überliefert worden ist, wird umständlich zurückverfolgt, und die Pedanterie solcher Zwischenbemerkungen wie: „sagte Antiphon, daß Pythodoros gesagt habe", hat Piaton willig in Kauf genommen. (Man könnte fast meinen: er hat sie hier sehr bewußt verwendet in ironischem Gegenspiel zu der im Theaitet befolgten und betonten Technik 6 )). Kephalos ist der Erzähler. Adeimantos und Glaukon, jedem Leser des Staates bekannt, sind hier nur Kephalos' Führer zu ihrem (und Piatons) Halbbruder Antiphon. Antiphon, der jetzt fast nur noch für seinen Rennstall Sinn hat, ist gleichsam der mechanische Vermittler des Gesprächs, das wir hören werden. (Heute würde eine Schallplatte seinen Platz einnehmen.) Erst „ein gewisser Pythodoros, einer aus dem Kreise Zenons", war selber dabei. Im Alkibiades-Oialog (179 A) weiß Sokrates zu berichten, daß Pythodoros, Sohn des Isolochos, bei Zenon einen Kurs für den Preis von 100 Minen genommen habe zusammen mit Kallias, Sohn des Kalliades 7 ). Pythodoros und Kallias sind dann unter Perikles hervorragende Offiziere gewesen; Kallias hat 432 vor Poteidaia das athenische Heer kommandiert, sodaß Sokrates und Alkibiades dort unter seinem Kommando gestanden haben müssen. All dieses war dem Piaton, als er den Alkibiades und gewiß noch als er den Parmenides schrieb, gegenwärtig und vielen seiner athenischen Leser auch. Den Mann aus Klazomenai läßt er davon nur sehr Ungefähres wissen und dazu bösartigen Klatsch (127 Β 5). Pythodoros also war bei jenem Gespräch anwesend. Parmenides,
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Zenon und Sokrates haben es geführt. Gewiß ist es Künstelei, wenn Proklos die Vielheit (der Klazomenier) über die Zweiheit (Adeimantos und Glaukon) zur Einheit (Sokrates) aufsteigen läßt8). Aber ein Stufenweg der Annäherung ist unverkennbar. Und wie im Symposion so ist es auch hier zuerst einmal die Absicht, den Abstand der Zeit sichtbar zu machen9). Denn wie die Eidos-Philosophie sich an der Eins-Lehre mißt und dadurch zu einer neuen Klarheit über sich selbst gelangt, das konnte Piaton nur anschaulich zeigen, indem sein Sokrates als junger Mensch den Eleaten begegnet und so über den vor ihm liegenden Lebensraum für das Reifen seiner Probleme verfügt. Wie jene Aporien vor langem aufgetaucht sind, so sind sie auch seit langem weitergedacht worden. Aber das ist längst nicht alles. Was soll der junge Aristoteles in diesem Kreise ? Seine Aufgabe wird sich darauf beschränken, jeden Satz, den Parmenides spricht, mit Ja oder Nein in mannigfachen Variationen zu begleiten. Hätte Piaton den Namen Aristoteles etwa darum gewählt, weil damals, als er den Dialog schrieb, schon der junge Mann aus Stageiros in der Akademie war10) ? Vielmehr weisen die Worte, mit denen Piaton ihn einführt, in ganz andere Richtung: „er wurde später einer der Dreißig" (127 D 2). Also zu jener Ohgarchengruppe der „Dreißig Tyrannen" hat er gehört, die, wie jeder sich aus der Apologie (32 D) erinnert, den Sokrates zum Mitschuldigen an ihren Gewalttaten machen wollten und, da er sich weigerte mitzutun, ihn „vielleicht" ums Leben gebracht hätten — nämlich wenn ihnen Zeit genug dafür geblieben wäre. Das Gespräch ist anscheinend so abstrakt wie nur eben denkbar; aber für einen Moment soll das Schicksal des Sokrates vor dem Leser erscheinen. Idee und Existenz, Seinswahrheit und Lebenswirklichkeit, Sein und Zeit stehen auch hier in einer schwer faßbaren, doch unverkennbaren Spannung zu einander. Das wird bald noch deutlicher werden. Zenon hat dem Sokrates und anderen Zuhörern sein Buch beinahe bis zu Ende vorgelesen, als Parmenides mit einigen Begleitern eintritt. Nachdem die Vorlesung beendet ist, beginnt sehr bald das Gespräch. Sokrates führt es. Er macht etwas Sinnvolles aus dem Klatsch, den der Berichterstatter über das persönliche Verhältnis der beiden Eleaten von sich gegeben hatte (128 A), und ebenso ist es Sokrates, der sachlich die echte Verbindung zwischen ihnen beiden herstellt. Daß er „wie ein Jagdhund" in Zenons Beweisen die
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apagogische Ergänzung zu dem Satz desParmenides richtig erkannt hat, wird durch Zenons Zustimmung betont, durch seine leichte Korrektur um so eindringlicher. Das Buch, sagt Zenon, habe er als junger Mensch aus „Streitlust" (φιλονικία) geschrieben, nicht in der Lebensreife aus „Streben nach Ehre" (φιλοτιμία); und dann — so läßt Piaton ihn weiter erfinden — sei ihm das Buch entwendet worden 11 ). (Als ob es nur jene beiden Beweggründe gäbe, als ob sich nicht hoch über beide Piatons Schriftstellerei erhöbe und noch höher, einzigartig, die Nur-Mündlichkeit des Sokrates, dessen Gespräche niemand stehlen kann!) „Freude am Streit": damit stellt Zenon seine Schrift Von der Natur oder dem Seienden neben die des Gorgias Von der Natur oder dem Nicht-Seienden. Die Gefahr, den Zenon im Sinne des Gorgias zu lesen, hat immer bestanden, wie denn Isokrates (X 2), „der Hohepriester der allgemeinen Bildung" (Wilamowitz), die beiden dicht neben einander reiht. Piatons Sokrates dagegen zeigt, daß zenonische Dialektik so lange, aber nur so lange, unsophistisch bleibt, wie sie im Sinne der parmenideischen Aufgabe steht 1 2 ). Aber noch für den zweiten Hauptteil des Gespräches ist diese Vereinigung bedeutsam. Auch dort wird ja zuerst parmenideisch von der Einheit und dann zenonisch von der Vielheit gehandelt werden, nur daß jede der beiden Thesen antinomisch entfaltet ist und damit sich selbst aufzuheben scheint. Daß in dieser Antinomie das Eidos und die Vielheit der ihm zugeordneten Dinge dialektisch angelegt ist, kann sich erst später zeigen. Aber schon jetzt sei darauf hingewiesen, wie gleich hier am Anfang Sokrates es ist, der durch die Ineinssetzung des parmenideischen und des zenonischen Aspekts dahin führt, späterhin die 4 Antinomienpaare als einheitliches dialektisches Gefüge zu begreifen. Nimmermehr hätte Piaton seinen Sokrates schweigend dieser vielstimmigen Dialektik zuhören lassen, wenn sie nicht eben durch die K r a f t „Sokrates" erst ihren eigentlichen Sinn empfinge. (Das wird später zu zeigen sein.) Sokrates also ist es, der die Einheit zwischen Parmenides und Zenon erfaßt oder herstellt. Aber sobald das geschehen ist, stört er durch seine eigene Ansicht der Dinge das unbedingte Einvernehmen zwischen der Position des Einen und der Negation des Vielen. Die Wirklichkeit ist mannigfaltiger, als daß sie sich in so einfache Formeln einfangen ließe. Parmenides hat mit seiner Sicht
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des Einen Seins etwas Wesentliches ergriffen. Aber er vereinfacht zu rasch. Zenon hat durchaus recht mit seinem Beweis, daß das Viele alle Gegensätze zugleich in sich enthalte. Aber er irrt, wenn er damit die Selbstaufhebung des Vielen erwiesen zu haben meint 13 ). Über Parmenides und Zenon erhebt sich die platonische Weltsicht, in Sokrates sich darstellend: hier die ,,an sich seienden Formen", dort das „Andere", „Viele", was an jenen „teilnimmt". Sokrates zeigt in immer neuen Wendungen, daß die Vereinigung des Gegensätzlichen durchaus möglich ist im Bereich des Vielen, während die Ungleichheit-selbst nicht Gleichheit, das Eine-an-sich nicht zugleich Vieles sein kann. Hier ist eine sicherlich gewollte Doppeldeutigkeit aufzuweisen, die mit der fortschreitenden Rede des Sokrates zuzunehmen scheint. Wenn man bewiese (a), daß Gleiches-an-sich (αύτά τά όμοια) ungleich wird oder umgekehrt Ungleiches-an-sich gleich, das wäre „ein Wunder" (oder gar „eine Ungeheuerlichkeit") (τέρας). Wenn jemand (b) das Seiende-Eine (δ Ισπν iv) als Vieles und die Vielheit als Eins erweisen wird, dann „werde ich mich wundern" (θαυμάσομαι). Wenn jemand beweisen sollte (c), daß die „Geschlechter" (γένη) und „Formen" (είδη) in sich selbst gegensätzliche Zustände erfahren, derart wie sie eben genannt worden sind, das „wäre der Verwunderung wert" (άξιον θαυμάζειν). Wenn jemand (d) im Verfahren der Diairesis die gegensätzlichen Formen einander gegenüberstellte und dann bewiese, daß diese Formen sich zu mischen und wieder zu scheiden die Kraft hätten, dann „würde ich ganz außerordentlich erstaunen" (άγαίμην άν θαυμαστώξ). Noch viel mehr würde ich erstaunen (ά/ασθείην άν), wenn (e) die mannigfaltige Verflechtung, wie Zenon — nämlich nach Sokrates' Interpretation der zenonischen Aporien — sie im Bereich der sichtbaren Welt aufgewiesen hat, sich auch im Bereich des Intelligiblen, im Bereich der „Formen" nachweisen ließe. Daß Sokrates die Verbindung des Gegensätzlichen zuerst dem Bezirk der Erfahrung, des Werdens vorbehält, ist deutlich. Nicht ganz so eindeutig klar ist es, ob der sich verändernde Ausdruck nicht die Möglichkeit eröffnet, die Mischung und Entmischung der Gegensätze möchte in der Welt des Ewig-Seienden ihre Entsprechung haben. Das Wort vom „Hineinflechten in die Formen" (έν toTs είδεσι ττλεκομένην 129 Ε 6) erinnert gar zu sehr an die „Verflechtung" der Begriffe im Sophistes (ττεττλέχθαι συμπλοκή υ 240 F r i e d l ä n d e r , Piaton III
12
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C 1), die hier aufgezählten „Formen" — Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Eins und Vieles, Stillstand und Bewegung — an die „Gattungen" dort, als daß man diese Wahrscheinlichkeit übersehen dürfte. Aber hiervon noch abgesehen ist klar, wie Sokrates die Doppelthese der Eleaten zugleich weiterführt und überwindet durch seine eigene Ansicht der Dinge — wenn diese Ansicht sich erweisen läßt. Die Eleaten ärgern sich nicht, wie der Erzähler erwartet hatte, sondern sie hören aufmerksam zu und sehen lächelnd einander an mit einem Ausdruck, in dem Bewunderung für Sokrates liegt. Offenbar fühlen sie sich nicht bekämpft und widerlegt, sondern bewiesen und vielleicht über sich selbst hinausgeführt. Nun beginnt das eigentliche Kampfgespräch, in dem Parmenides die Schwierigkeiten der sokratischen These zeigt, Sokrates diese These zu verteidigen sucht, ohne daß er doch imstande wäre sich gegen den Angreifer völlig zu behaupten. Aber Parmenides denkt — ein Zeichen, wie richtig wir sein Lächeln gedeutet haben — von nun ab sokratisch, und daß der junge Mann weiterforschen müsse auf dem betretenen Wege, ist immer wieder die freundliche Mahnung des alten Philosophen14). 12. Die Schwierigkeiten, die Parmenides im Ansatz des Sokrates 130 A 135Β beschlossen findet, gliedern sich deutlich in drei Stufen. I 2 a. Zuerst gilt es den Bezirk der „Formen" abzugrenzen. Daß Ver130A—Ε hältnisbegriffe wie „Ähnlichkeit" und ethische Begriffe wie „das Gerechte" solche Formen repräsentieren, darüber ist sich Sokrates völlig klar, wie es für Piaton eine Erfahrung gewesen sein muß, an der kein Zweifel gestattet war. Aber schon bei „Mensch" oder „Feuer" wird Sokrates schwankend, um bei „Haar, Lehm, Schmutz" vollends in unlösbare Schwierigkeiten zu geraten. Darum kehre er lieber zu dem zurück, wo er sich sicher fühle. Parmenides deutet an, worin wenigstens bei der letzten Gruppe Sokrates' Widerstand liege: es scheine etwas „höchst Wertloses und
Geringes"
(ατιμότατου και φαυλότατου).
Und
er
schließt
damit, daß er dem noch Schwankenden zuversichtlich prophezeit: die Folgerichtigkeit des eigenen Denkens werde ihn dahin führen, unabhängig von menschlicher Schätzung zuletzt nichts für wertlos zu halten (ούδέν ατιμάσεις). Der dem jungen Sokrates dies prophezeit, ist der Entdecker des Einen Seienden, in dem es keine Wertunterschiede gibt, das aber selbst alle Prädikate des höchsten
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Wertes hat: „ungeboren, unvergänglich, unverletzbar" (wie ein Heiligtum, άσυλου). Und wie in seinem Gedicht so warnt Parmenides auch hier vor den „Meinungen der Menschen". Wirklich hat Piaton dort, wo er als alter Mann und aus eigner Person über diese Dinge spricht, im Siebenten Brief (342 D), den Bereich so weit ausgedehnt, daß er die geometrischen Formen und die Farben, ethische Begriffe, künstlich hergestellte und natürliche Körper, Elemente, Lebewesen und Wesenszüge der Seele einbezieht. In den Dialogen treten zuerst die ethischen und neben ihnen die mathematischen Begriffe auf, später wird der Bereich mannigfach erweitert16). Bei Xenokrates, Speusipp und Aristoteles geht die Erörterung weiter, wie denn offenbar hier ein Problem liegt, das seinem Wesen nach nicht zur Ruhe kommen darf, wenn man nicht in dogmatische Starre verfallen will. Die zweite Aporiengruppe betrifft das Verhältnis des Eidos zu dem I 2 b. Andern, dem Vielen, dem Teilhabenden, den Dingen. Hier wechseln 130Ε Ii die Versuche des Parmenides dieses Verhältnis zu mißdeuten mit Versuchen des Sokrates es aus eigenen Mitteln anschaulich zu machen. Daß jener schließlich siegt, dieser an seinen Ansätzen nicht festzuhalten vermag, ist kein Grund das Wertverhältnis der Argumente mißzuverstehen. Wir kennen zumal aus den frühen Dialogen die Fülle der Beispiele, daß ein Charmides, Lysis, Alkibiades auf dem richtigen Wege ist und nun durch Sokrates ironisch auf den falschen abgedrängt wird. Jetzt ist Sokrates selbst Anfänger — welcher Anfanger freilich! Drei Versuche macht Parmenides, paradoxe oder unsinnige Folgerungen aus der Theorie des Sokrates zu ziehen. Erstens (131 A): das Eidos sei ganz in jedem der vielen Dinge und also getrennt von sich selber (χωρίς έαυτοϋ). Zweitens (131 C): das Eidos sei zu einem Teil in jedem der vielen Dinge und also zerstückelt. Drittens (132 A): das Eidos bedürfe, um mit den vielen Dingen vermittelt zu werden, eines neuen Eidos und so ins Unendliche. Die drei Versuche sind von sehr verschiedenem Wert. Der zweite ist rein eristisch, und Parmenides selbst zeigt unter Sokrates' Zustimmung die Unsinnigkeit dieses Ansatzes. Der dritte Versuch ist das vermutlich in Piatons Kreise und dann bei Aristoteles und wieder in neuer Zeit viel erörterte Argument des „dritten Menschen". In allen drei Versuchen aber ist das Eidos fälschlich als Raumding aufgefaßt und „gleichgeordnet" (όμοταγές, σύστοιχου), wie die 12·
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Neuplatoniker sagen, mit den Einzeldingen16). Dabei führt doch Parmenides bei seinem dritten Versuch die „Idea, Sicht, Schau, Schaubild" nachdrücklich auf das „Sehen, Schauen" zurück (ίδόυτι, ΐδηζ 132 A 3. 7) und erklärt dieses als ein seelisches Schauen, ein Gedanke, den dann Sokrates aufnimmt. Drei Versuche macht Sokrates, seine Theorie zu behaupten. Erstens (131 B): das Eidos ist eine unteilbare Einheit wie der Tag, der überall zugleich und dabei ganz über jedem einzelnen Menschen ist. Wenn Parmenides mit dem Beispiel des ausgespannten Zeltes antwortet, das viel dinglicher zu einem Teile jeden darunter bedeckt, so wird die Unzerteilbarkeit des Eidos in dem somatischen Bilde um so anschaulicher und zugleich der höhere Rang und die Spiritualität, da der Tag nicht zufallig an die Lichtmetaphysik des Staates anklingt. — Zweitens (132 B): das Eidos ist „in den Seelen", ein Gedankending (νόημα). Wenn man im Siebenten Briefe (342 D) liest, daß dem Gegensatz der Erkenntnis, dem Eidos also, „der Geist am nächsten ist an Verwandtschaft und Ähnlichkeit", und wenn dem vollkommen Seienden im Sophistes (249 A) Geist, Leben, Seele zugesprochen wird, so sieht man, wie Sokrates' zweiter Versuch dazu bestimmt ist, das Über-Dinghafte, Geisthafte des Eidos gegenüber allen Verstofflichungen und Verräumlichungen deutlich zu machen. Schon im Menon (86 B) hieß es, daß „immer die Wirklichkeit des Seienden in der Seele ist", und was man die Anamnesislehre des Phaidon nennt, lebt ganz aus derselben Überzeugung oder Erfahrung. So hätte Piaton sich jederzeit zu dieser Formulierung bekannt unter dem Vorbehalt, daß man „in der Seele" nicht mißdeutet als „nur in der Seele" oder als „in der Einzelseele". Die Erörterung geht bei Aristoteles weiter {De anima III 4, 428 a 27): er stimmt denen zu, die zum „Ort der Formen" (τόπον είδων) die Seele machen, schränkt das aber ein: nicht die Gesamtseele sondern die vernünftige Seele sei dieser Ort, und die Formen seien dort anwesend nicht in ihrer Aktualität, sondern potenziell. Der Universalienstreit des Mittelalters kündigt sich an und ganz in der Ferne die Kritik der reinen Vernunft. Und so zeigt denn hier im Dialoge die Widerlegung durch Parmenides, worin die Gefahr dieser These liegt: das eigentliche Sein kann so zu einem Gedankending verflüchtigt werden. — Drittens (132 D): die Formen (Sokrates spricht jetzt im Plural) sind „in der Natur". Sie sind also nicht erdacht (so könnte man das „in den Seelen"
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mißverstehen); sie sind nicht künstlich gemacht (Techne ist der Gegensatz zu Physis); sie gehören in das umfassendste Ordnungssystem hinein, das unabhängig ist von unserm Denken und unserm Machen17). Dort stehen sie als Vor-Bilder (παράδειγμα). Die Teilhabe besteht in der Ähnlichkeit mit ihnen. Aber wie mit der zweiten Metapher die Gefahr der Verflüchtigung so ist hier mit der dritten die der Verräumlichung und Verstofflichung gegeben. Auch hier bleibt die Möglichkeit offen, die Wesensverschiedenheit von Eidos und Einzelding zu übersehen, und davon macht das — in alter und neuer Zeit viel erörterte — Argument des „dritten Menschen", die reductio ad infinitum, Gebrauch18). Gewiß weiß Sokrates sich mit seinem dritten Versuch ebensowenig wie mit dem ersten und zweiten zu behaupten. Aber seine immer erneuten Ansätze, das Wesen des Eidos in Vergleichen und Metaphern zu erfassen, müssen darum nicht weniger von uns bewahrt und mit einander verbunden werden, weil Piaton seinen Parmenides die darin liegenden Gefahren aufweisen und als den dialektisch geschulteren den Sieg behalten läßt 19 ). Schließlich die letzte und ernsthafteste Aporie (μέγιστου 133 Β 4). I 2 c. Die Ideen sind nicht „in uns" (έν ήμΐυ), sondern „an sich". Sie 133A—135C sind also mit ihrem Sein auf einander bezogen (πρόξ αύτάς), nicht aber auf die Abbilder, die bei uns sind und die wiederum nicht auf die Urbilder, sondern gegenseitig auf sich bezogen sind20). Urbild und Abbild gehören verschiedenen Seinssphären an. Entsprechend ist eine „Erkenntnis an sich", die auf das Sein gerichtet ist, ganz anderen Ranges als eine „Erkenntnis bei uns", eine empirische Erkenntnis, die auf das bei uns Seiende, auf empirische Dinge gerichtet ist. Urbild und Abbild gehören verschiedenen Erkenntnissphären an. Und drittens, wenn man Herr und Knecht in unsrer Erfahrungswelt mit Herrschaft-an-sich und Knechtschaft-an-sich vergleicht, so erkennt man: Urbild und Abbild gehören auch in verschiedene Sphären des Wirkens oder der Wirkungskraft (δύναμη)21). Daraus ergibt sich der Schluß, daß das An-sich-Schöne und An-sich-Gute für uns unerkennbar (άγνωστου) ist. Die Paradoxie dieses Gedankens ist noch deutlicher, wenn man ihn weiterführt. Wer die Erkenntnis-an-sich hat, und das kann nur Gott sein, hat als Erkenntnisgegenstand die Urbilder. Aber die Dinge bei uns sind ihm unerkennbar. Damit ist die Welt in zwei durchaus beziehungslose Bezirke des Seins.
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des Erkennens und der wirkenden Kräfte auseinandergerissen. Wenn dies das Ergebnis ist, so muß man sich allerdings fragen, ob es „Ideen, Formen" gibt, und ob sie nicht zum mindesten für uns ganz unerkennbar sind. Scheinen sie nicht, wenn man sie setzt, den Zusammenhang der Welt ebenso zu zerspalten wie den Zusammenhang des Erkennens ? Aber andererseits ist Parmenides von Sokrates' Lehre so erfüllt, daß er ganz sokratisch behauptet: wer nicht zulasse, daß es Urformen des Seienden gebe, der zerstöre alle Möglichkeit, überhaupt von irgend etwas sachhaltig zu reden (την τοϋ διαλέγεσθαι δύναμιυ τταντάττασι διαφθερεΐ 135 C). Man bedenke auch noch die radikalste Folgerung in Parmenides' letzter Aporie: Die Götter sind weder unsere Herren noch erkennen sie die menschlichen Dinge; wir Menschen wiederum erkennen mit unserem menschlichen Denken nichts von dem göttlichen Sein, und —• das ist nicht ausgesprochen, aber, da von Herrschaft und Dienst die Rede war, ist es mitgemeint — wir sind den Göttern zu dienen gar nicht imstande. K o m m t nicht damit Piatons Parmenides dem ganz nahe, was als Anklage gegen den geschichtlichen Sokrates jedem im Ohr klingt, der diese Sätze liest und ihnen nachdenkt ? Muß man nicht über alle Abstände vom Parmenides — so seltsam das den meisten klingen mag — zur Apologie und zum Euthyphron hinüberdenken, sodaß die Gegenwehr des jugendlichen Sokrates gegen Parmenides „ D a s wäre doch ein erstaunlicher Satz, wenn jemand dem Gott das Wissen absprechen wollte!" noch einen tiefen persönlich-geschichtlichen Hintersinn empfängt ? Also nicht um Ontologie allein geht es hier, nicht einmal um Theologie allein, sondern für einen Augenblick um Leben und Tod, um die somatische Existenz. I 3. In dieser Krisis des Gesprächs belehrt Parmenides den Sokrates, 135 C—137 C w a s ihm fehle: Übung. Er gehe zu geradlinig auf die Ideenforschung los, ehe er jene von den meisten als Geschwätz verachtete Begriffsschulung durchgemacht habe. Und nun entschließt sich Parmenides auf das Drängen aller Anwesenden, eine Probe solcher Schulung zu geben. Diese Probe soll die Form der zenonischen Dialektik haben. Die ganze zweite Dialoghälfte vollzieht sich zwischen Parmenides und dem jungen Aristoteles, der nur Ja und Nein zu sagen hat. E s wird ausdrücklich verlangt, daß er keinen Widerstand leiste. Eine eigentümliche, bei Piaton neue Form des Dialoges, der — so
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scheint es im ersten Augenblick — ebensogut zusammenhängender Lehrvortrag sein könnte 22 ). Aber sollte nicht auch hier Piatons gestaltende Ironie am Werke sein ? Parmenides will jeweils einen Augenblick des Ausruhens haben. Der Leser aber, soll er etwa gar nicht ausruhen, vielmehr scharf nachdenken und oft sehr anders antworten als der junge Aristoteles ? Mehr noch: soll der Leser nicht versuchen sich in die Rolle des schweigend dabeistehenden Sokrates zu versetzen, der nicht nur im Einzelnen oft anders antworten würde, der zurückfragen würde, mehr noch, vor dessen geistigem Blick die gesamte Dialektik des zweiten Dialogteils einen neuen Sinn empfängt ? Noch eins wird meist verkannt. Man pflegt den zweiten Teil des Dialoges so zu lesen, als wäre jener Antwortende ein beliebiger Junge, der wie zufällig den Namen Aristoteles trägt. Es wurde schon früher darauf hingewiesen, daß das nicht angeht. Es muß Absicht sein, wenn Piaton einen jungen Menschen wählt, von dem er ausdrücklich sagt, daß er später einer der Dreißig geworden ist. Piaton also lenkt den Blick des Lesers auf das geschichtliche Ereignis, das sich Jahrzehnte später vollzieht, und die Verschiedenheit der beiden jungen Menschen soll man als symbolisch bedeutsam verstehen. Aristoteles antwortet J a oder Nein, so wie der Meister es will. Später gehört er jener autokratischen Herrschergruppe an, die ihr Ja oder Nein den andern aufzwingt. Sokrates sucht schon hier dem Parmenides und Zenon gegenüber seinen eigenen Weg, und so wird er es später den Dreißig gegenüber tun auf die Gefahr seines Lebens. Über die zweite Hälfte des Parmenides-Oialogs gibt es einen alten Gegensatz zwischen den Erklärern 23 ). Piaton, so meinen die einen, sagt nicht nur seine klare Meinung, wenn er diesen Teil des Gesprächs als „Übung" bezeichnet, er sagt seine Meinung auch vollständig. Die andern, durch Piatons schriftstellerische Ironien zum Mißtrauen erzogen, suchen neben dem formalen Zweck einen echt sachlichen Gehalt. Denn, sagen sie sich, wollte man Piatons Worten trauen, so müßte man etwa auch die drei Liebesreden des Phaidros für nichts anderes als rhetorische Musterstücke halten. In jenem ersten Falle bleibt die allein gegenständlich wertvolle erste Hälfte des Gespräches trotz einiger Hinweise in ungelösten Aporien. Im zweiten Falle sucht man in der Dialektik des Schlußteils Lösungen jener Aporien. Dasselbe läßt sich von dem dra-
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matischen Bau des Werkes her so bezeichnen: Im ersten Falle ist des Sokrates Gegenwart von der Mitte an gleichgültig und so gut wie vergessen. Im zweiten Falle ist sie notwendig: der platonische Sokrates denkt die Dialektik des platonischen Parmenides im Sinne seiner eigenen Entdeckung weiter. Nun darf es wohl für diese Stufe der platonischen Schriftstellerei von vornherein als wahrscheinlich gelten, daß Piaton auf die Form des rein aporetischen Gespräches nicht mehr zurückkommenwird, da er doch jene Form seiner Frühzeit im Theaitet durch die eingefügte „Episode vom Philosophen" in ihrem Wesen verwandelt. Und auf keiner Stufe in dem platonischen Werk ist es glaublich, daß das eigentliche Gespräch in der Mitte zu Ende wäre. Piaton war, auch als er den Parmenides schrieb, noch Gestalter genug, noch Ironiker genug, ja einfach Mensch genug, um seinen Sokrates nicht schweigend dabeistehen zu lassen, ohne daß eben diese Gegenwart den Leser zwänge, in solchen unsokratischen Erörterungen den somatischen Gehalt zu suchen. Acht Deduktionen ordnen sich in zwei Gruppen zu je vier, eine positive und eine negative, jede Vierergruppe wieder in zwei Paare, in deren erstem „das Eine" 24), in deren zweitem die Vielheit des „Anderen" (τά άλλα) thematisch ist; jedes Paar bildet eine Antinomie, in welcher Thesis und Antithesis sich gegenseitig aufzuheben scheinen. Auf die erste Antinomie folgt noch eine Synthesis25), die schon darum gewiß auch für die zweite Antinomie gelten soll, weil diese, verglichen mit der ersten, überkreuz angeordnet ist. Im Schema: Thesis I : Antithesis I : Das Eine von Allem isoliert. Das Eine mit Allem verbunden. Synthesis der widerstreitenden Sätze im „Nu". Thesis II: Das Viele mit dem Einen verbunden.
Antithesis II: Das Viele von dem Einen getrennt.
Wenn man so weit ist, dann wird man vielleicht eine solche Synthesis auch für die dritte und die vierte Antinomie suchen müssen2®). Sieht man von den mancherlei gewiß absichtlichen Fehlschlüssen ab, die besonders in der zweiten, ausführlichsten
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Deduktion reich gesät sind, und überblickt nur das Schema, wie es am klarsten in den kurzen Deduktionen von der dritten ab sich darstellt, so wird auch der für solche Künste nicht von vornherein Begabte zunächst einmal das Staunen über die Kontrapunktik dieser vielstimmigen Fuge lernen müssen. Das Staunen entbindet freilich nicht von der Pflicht, sie als eine solche zu verstehen, in der keine Stimme entbehrt werden kann27). Sagen wir noch, daß diese Antinomienfuge in Piatons Werk, so einzigartig sie darin erscheint und als Ganzes auch ist, doch ihre Vorstufen hat. Man denke daran, wie im Lysis Sokrates selbst viermal hintereinander Satz und Gegensatz über die Freundschaft entwickelt und wieder zerstört, um in dieser dialektischen Spannung platonische Wahrheiten schweben zu lassen. Ja, bis auf das Frühwerk, den Hipparch, darf man zurückgehen, wo im ersten Gefechtsgang der Satz „Kein Mensch ist gewinnliebend" bewiesen wird, im zweiten der Satz „Alle Menschen sind gewinnliebend". Auch in den antithetischen Fangschlüssen des Euthydem übersehe man nicht das formal Ähnliche, und wie durch sie hindurch echte Erkenntnisse sichtbar werden, ohne daß die Eristiker selbst es ahnen. So zeigen auch diese Vorstufen, wie sehr wir Anlaß haben, in den angeblich bloß formalen Übungen unseres Dialogs einen Gehalt zu erwarten über den Kopf ihres Trägers hinweg. E r s t e A n t i n o m i e , Thesis. Das „Eine" ist ohne jede Vielfalt, II 1 a. ohne Teilbarkeit und Ausdehnung, ohne Zeitlichkeit und Räum- l^C—14. lichkeit. In dieser Deduktion wird das Eine in äußerster Abgeschiedenheit gesehen nur als das Eine und als gar nichts anderes. Hier ist eine Radikalisierung des Einheitsbegriffes erreicht, die ebenso erstaunlich wie unentbehrlich ist, unentbehrlich vor allem für den zuhörenden Sokrates, der in dieser Seinsweise das Sein seines eigenen Eidos wiedererkennen muß. Aber bald schon wird die Frage sich aufdrängen, ob hier nicht Möglichkeiten abgeschnitten werden, die nicht abgeschnitten werden dürfen. Wenn das Eine ohne Raumgestalt ist, folgt wirklich daraus, daß es am Geraden oder Runden „keinen Anteil habe" (137 D 8) ? Oder würde nicht gerade hier Sokrates, wenn Parmenides ihn zum Gesprächspartner gewählt hätte, hinweisen auf das, worüber sich vorher Parmenides mit ihm geeinigt hatte (129 Α ff. 130 B): auf den Unterschied des Eidos von dem, was an dem Eidos teilhat ? Ebenso bleibt, wenn die Identität und die Verschiedenheit, die
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Räumlichkeit und die Zeitlichkeit dem Einen abgesprochen wird, gewiß richtig, daß eine Scheidung von alledem nötig ist; aber die Frage, ob nicht eine Verbindung mit alledem möglich sei, ist damit nicht abgeschnitten. Braucht sie denn erörtert zu werden ? Hat nicht Parmenides in seinem Lehrgedicht bewiesen, daß nur das Eine ist, und daß gar nichts anderes ist als eben dieses Eine ? In der Tat bewegt sich Piatons Parmenides hier in den Bahnen des parmenideischen Lehrgedichts. Hier wie dort wird dem Einen abgesprochen Teilbarkeit, Bewegung, Veränderung. Nur übertrifft der platonische Parmenides sein Urbild an Folgerichtigkeit. Sprach das Gedicht dem Sein die Ganzheit zu (ούλου 8,4), die unerschütterliche Ruhe (άτρεμέξ 8,4. άκίνητον 8, 26), die Selbigkeit und das Verbleiben in ihr
(ταύτόν τ' έν ταύτω τε μένου 8,
29),
die
Begrenztheit
(ττεϊραζ 8. 31, ούκ άτελεύτητον 8, 32), so werden genau diese Prädikate dem Einen bei Piaton ebenso abgesprochen wie die vorigen: es ist ohne Anfang und Ende, also unbegrenzt (137 D); es ist ohne Form, weder rund noch gerade (137 DE); es ist nirgends, weder in einem andern noch in sich selbst (138 A); es ruht ebensowenig wie es sich bewegt (138 B); es ist weder mit sich selbst noch mit einem andern identisch (139 B). In der Tat ist nicht abzusehen, warum man dem Einen, wenn gar nichts anderes ist als eben dieses Eine, jene Prädikate absprechen und diese belassen sollte. Damit hat das in vollkommener Strenge gedachte parmenideische Eine sich selbst aufgehoben, es entzieht sich jeder Prädikation, es wird zum Nichts. Man kann es nicht aussagen und kann es nicht denken. Da wir nun gar nichts weiter tun als es denken und von ihm sprechen, so hat diese parmenideische These sich selbst widerlegt. — „Wenn man einer solchen Deduktion trauen darf", sagt Parmenides fast am Schluß (141 Ε 12) und überträgt dann den Zweifel an diesen letzten, radikalsten Folgerungen auf seinen Schüler. Daß der zuhörende Sokrates längst anders geantwortet hätte als der fügsame Aristoteles, braucht man kaum zu wiederholen. Die Darstellung des Einen als des Einen in seiner Reinheit: das erwies sich als das Verdienst und die notwendige Aufgabe der Thesis. Aber aus ihrer Selbstaufhebung am Schlüsse ergibt sich die Frage, ob nicht jene Vereinzelung schuld sei an dem endlichen Ergebnis; ob nicht die strenge Absolutheit bewahrt bleiben und
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doch jene Vereinzelung aufgegeben werden könne; ob nicht die abgelehnte „Teilhabe" anerkannt werden könne und müsse; ob nicht gerade dies der einzig wahre Weg sei. Das Eine kann weder still stehen noch sich bewegen, so heißt es hier (138 Β ff.). Aber im Sophistes (254 D) mischt sich das Sein mit Stillstand und Bewegung. Das Eine ist nirgends, so heißt es hier (138 A). Aber im Sophistes (250 B) wird Stillstand und Bewegung vom Sein umfaßt. E r s t e A n t i n o m i e , A n t i t h e s i s . Dieselbe Sache ist noch einer π ι b. anderen Ansicht fähig (άλλοΐον). Schon die Voraussetzung „wenn 142 Β—155 D das Eine ist" verbindet das Eine mit einem Andern, mit dem Sein. Das „Eine Seiende" ist ein Ganzes wie bei dem geschichtlichen Parmenides, aber es hat im Gegensatz zu Parmenides „Teile" (μόρια) — und man braucht diesen Gegensatz des Ganzen und der Teile nicht größenhaft oder dinghaft mißzuverstehen. Da nun das Eine immer wieder ein Seiendes, das Seiende immer wieder ein Eines ist, so ist auch die Unendlichkeit in dem „Einen Seienden" angelegt. Noch schärfer vielleicht wird die Vielheit auf andere Weise aus dem „Einen Seienden" abgeleitet28). In dem Einen Seienden liegt die Zwei und, da das Eine ein „Anderes" ist als das Seiende, auch die Drei und so das ganze Zahlensystem. Kurz: in dem Einen Seienden ist der Ansatz zur Vielheit gegeben, und man muß diese notwendige Verflechtung zu Gesicht bekommen, um den einseitigen Folgerungen aus der Thesis zu begegnen. Mit dem zuhörenden Sokrates aber muß der Leser sich fragen, ob hier nicht beides angelegt ist: die notwendige Vielheit und Verflechtung der Ideen und die ebenso notwendige Wechselbeziehung zwischen der je einen Idee und ihren vielen Erscheinungen29). Doch schon ist auch hier die Verwirrung nahe. Da nicht nur das Ganze, sondern auch jeder Teil, nicht nur das Eine, sondern auch das Viele „am Sein teil hat" (ουσία; μετέχει 144 A), so ist das Sein in kleinste Teile zerschnitten (κατακερμά-πσται, μεμέρισται 144 Β), und da jeder Teil ein Teil ist, so ist „das Eine" gleichfalls und ist ebenso wie das Sein geteilt. Also nicht nur das Seiende Eine, auch das Eine allein ist Vieles30). Hier ist das „Eine" und das „Sein" grob verstofflicht, die feineren Möglichkeiten, die im Begriff der Teilhabe liegen, sind verschüttet. Und das Ergebnis lautet denn auch höchst befremdlich und bedenklich: das Eine ist Vieles. Nicht daß es in einer notwendigen Verbindung steht mit dem Vielen, wird abgeleitet, nicht daß —
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wie es mit besonders feierlichem Nachdruck im Philebos (15 D) heißt —- „im Vollzug der Gedanken" (ύττό λόγων) dasselbe Eines und Vieles ist, sondern daß das Eine schlechthin Vieles ist. Und nun man einmal so weit ist, wird eine ganze Schar entgegengesetzter Prädikate auf das Eine gehäuft: es ist nicht nur (wie das parmenideische Lehrgedicht ausgesagt hatte) begrenzt (8, 42), in sich selber (8, 29), ruhend (8, 4), identisch mit sich selbst (8, 29), sondern gleichzeitig unbegrenzt, in einem Andern, bewegt, verschieden von sich selbst. Und so ist es sich selbst und dem Andern sowohl gleich wie ungleich, zugleich jünger und älter als es selbst und als das Andere. Alle gegensätzlichen Prädikate versammelt es in sich, ohne daß etwa fühlbar gemacht würde, diese Bestimmungen seien in verschiedener Hinsicht zu verstehen, ohne daß über die Möglichkeit dieser coincidentia oppositorum irgend etwas verlautete31). In dieser Antithesis ist — von den Inkonsequenzen des geschichtlichen Parmenides aus — die antiparmenideische These ins äußerste gesteigert. Das Eine wird hier zu so etwas wie dem Apeiron Anaximanders und enthält gleichzeitig viel von dem Logos Heraklits, dem die Gegensätze in sich vereinenden Logos. Aus dieser Selbstaufhebung des Einen in ein unbestimmtes, gegensatzhaltiges Alles aber erhebt sich die Frage, ob nicht die zu rasche und unvermittelte Verbindung schuld sei an dem Ergebnis. (Und vielleicht ist hier an jene PÄiZeftos-Stelle (16 C—17 A) zu erinnern, an der das Hinüberspringen von dem Einen zum Unendlichen ohne Stufen und Mittelglieder als eristisches Verfahren gerügt wird.) Kann nicht die notwendige Verknüpfung gewahrt bleiben, ohne daß man jene Häufung sich ausschließender Gegensätze in dem Einen zu dulden braucht ? Führt nicht gerade hier der Weg aus der Wirrnis, den die Antithesis ganz gleicherweise wie die Thesis verbaut — und doch zugleich zeigt32) ? II 1 c. Erste Antinomie, Synthesis. Die Antithesis zeigt das Eine 155 E—157 Β a n d e m g ^ teilnehmend, die Thesis verneint jede solche Teilnahme. Thesis und Antithesis kqnnen neben einander nur dann bestehen, wenn sie je „in einem anderen Zeitpunkt" gelten sollen33). Die Vermittlung aber von hüben zu drüben, der Punkt, in dem Werden und Vergehen, Scheiden und Vereinigen, Wachsen und Schwinden koinzidiert, kann seinerseits „in keiner Zeit" sein. Dies ist das Nu (τό εξαίφνης), der Moment des Umschlagens aus der
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einen Seinsweise in die gegensätzliche. Hier also wird die Verbindung hergestellt nicht nur zwischen den antithetischen Sätzen der ersten Antinomie, sondern auch zwischen den antithetischen Prädikaten des Einen innerhalb der ersten Antithesis wie Bewegung und Ruhe, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit. Welche Bedeutung für das Ganze hat nun diese Vermittlung der beiden Antithesen, diese Deduktion des Nu, in dem die Gegensätze sowohl aufgehoben wie angelegt sind ? Hier wird gezeigt, daß Thesis und Antithesis nicht darum einander gegenübergestellt sind, um sich gegenseitig eristisch zu vernichten, sondern um in ihrer Konvergenz gesehen zu werden. In der Thesis gilt es Absolutheit zu erkennen — nur darf sie nicht bis dorthin gesteigert werden, wo man zum unterschiedslosen Nichts kommt. In der Antithesis gilt es Verknüpfung zu vollziehen — aber sie nicht so unvermittelt zu vollziehen, daß man ohne Zwischenstufen zur unendlichen Verschiedenheit kommt. Die Synthesis lehrt eine Absolutheit suchen, die die Verknüpfung, und eine Verknüpfung, die die Absolutheit nicht nur zuläßt, sondern fordert. Was weder die parmenideische Formel noch die gegnerische leisten kann, leistet das Eidos, wie Sokrates es in dem Gespräch mit den Eleaten und unter ihrer Zustimmung sichtbar gemacht hat. Denn in diesem Eidos und nur in ihm ist Absolutheit mit Beziehungsfülle verbunden, notwendig verbunden. Die Thesis dient dazu, das Eidos in seinem strengen So-und-nicht-anders-sein zu Gesicht zu bekommen. Die Antithesis führt auf die mit dem Eidos notwendig gegebene Beziehungsfülle: hier liegt der Ansatz sowohl zu der Vielheit und Verknüpfbarkeit der Formen wie zu der notwendigen Wechselbeziehung zwischen dem jeweils einen Eidos und den vielen daran „teilnehmenden" Dingen. Die Thesis lehrt jede Räumlichkeit und Zeitlichkeit im Sinne einer möglichen Teilung von dem Eidos abstreifen. Die Antithesis — der ausgeführteste und am reichsten mit absichtlichen Fehlschlüssen bedachte Teil34) — lehrt zugleich am stärksten die Aporien aufzulösen, die in dem Gespräch zwischen Sokrates und Parmenides sich nicht hatten zur Ruhe bringen lassen. Das Sein — so hieß es in der Antithesis (144 Β) — ist „zersplittert", weil es keinem der seienden Dinge fehlt (ούδενόζ αποστατεί), und das Eine ist gleichfalls in unendliche Bruchstücke geteilt, in ebenso viele wie das Seiende, weil jeder Teil des Seienden ein Teil,
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das Eine also bei jedem Teil zugegen ist (-π-ρόσεστι). Der Schluß, daß das Eine Vieles ist, stellt sich dann schnell ein (144 Α — Ε ) . Hier muß man sich an jene Aporien des ersten Dialogteils zurückerinnern, wo das Eidos sich zu teilen schien (μεριστά τά είδη 131 C 5) und das Anteilhaben zu einem räumlich körperlichen Vorgang wurde, der das Eidos sich selber entfremdete (131 Β ff.). Damals versuchte Sokrates, ohne sich durchsetzen zu können, durch seine Bilder von dem unteilbaren Tage und dem Verhältnis zwischen Vorbild und Nachbild solche Mißdeutungen zu hindern. Jetzt zeigt Parmenides eine dialektische Lösung; oder vielmehr: jetzt wird in der Dialektik des Parmenides, gerade wo sie ins Gestrüpp führt, eine solche Lösung für den zuhörenden Sokrates faßbar und für den Leser, der sich bemüht in sokratischem Sinne zu denken. Zerlegt wurde hier, was unteilbar bleiben muß: das Eine, das Sein; und darum kam man zu so unsinnigen Ergebnissen, weil man die Teilhabe als räumlich körperliches Phänomen mißdeutete. W i e kann das Eidos in jedem Einzelding sein, ohne doch „ v o n sich selbst getrennt" zu sein ? Das war eine der Aporien in dem Gespräch zwischen Parmenides und Sokrates (131 A B ) . Eine bildliche Lösung bot dort Sokrates, indem er das Eidos mit dem Tage verglich. Eine begriffliche Lösung wird jetzt für Sokrates in der Dialektik des Parmenides sichtbar. I n der Thesis wurde bewiesen, daß das Eine weder in sich noch in einem Andern ist (138 A B ) . I n der Antithesis wurde bewiesen, daß es sowohl in sich wie in einem Andern ist (145 Β — Ε ) . Das heißt auf das Eidos übertragen: Man muß mit der Thesis das reine Eidos-und-nichts-anderes-sein des Eidos sehen. Man muß mit der Antithesis sehen, wie das Eidos in ein Anderes eingeht, ohne damit aus sich selbst herauszutreten, ohne sich sich selbst zu entfremden. Nur wenn man dort die strenge Abgeschlossenheit des Eidos anerkennt, kann man hier das Eingehen in die am Eidos „teilhabenden" Dinge behaupten, ohne die verschiedenen Rangstufen von Eidos und Erscheinung zu verkennen. So wahrt man die Immanenz des Eidos, ohne seine Transzendenz preiszugeben. W i e ist die Vorbildlichkeit des Eidos für die an ihm teilnehmenden Einzeldinge, wie deren Ähnlichkeit mit ihm zu denken, ohne daß man dazu genötigt wird, eine Vermittlung der beiden sich gegenüberstehenden Größen zu suchen und so in infinitum ? So wurde
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eine andere Aporie in dem aporetischen Teil formuliert, die zur Konsequenz des „dritten Menschen" führt (132 D—133 A). Die erste dialektische Antinomie antwortet auf diese Aporie in den Deduktionen der Selbigkeit (139 Β—E. 146 A—147 B) und der Ähnlichkeit (139 E—140 B. 147 C—148 D). Betrachten wir jene! In der Thesis wird bewiesen: das Eine ist weder identisch noch verschieden, identisch weder mit sich selbst noch mit einem Andern, verschieden weder von sich selbst noch von einem Andern. In der Antithesis wird bewiesen: das Eine ist sowohl identisch mit sich selbst wie auch verschieden von sich selbst, und das Eine ist sowohl identisch mit den Anderen wie auch verschieden von den Anderen. (Parmenides gebraucht in der Thesis den Singular, hier in der Antithesis den Plural.) Das heißt auf das Eidos übertragen — oder anders gesprochen, das heißt vor dem Blick des zuhörenden Sokrates —: Man muß mit der Thesis zuerst die Absolutheit des Eidos sehen. Man muß dann mit der Antithesis sehen, daß es ebenso sehr an sich ist, wie es aus sich heraustritt, daß es ebenso sehr in vielen Anderen ist, wie es diesen Anderen als ein völlig anderes gegenübersteht. Man muß alle acht Aussagen gegenwärtig haben, um Immanenz und Transzendenz gleichzeitig zu sehen. Die acht Sätze, in denen ganz entsprechend Ähnlichkeit und Unähnlichkeit dem Einen und dem Andern zugesprochen und abgesprochen wird, bieten nichts eigentlich Neues, insofern als Ähnlichkeit auf Selbigkeit, Unähnlichkeit auf Verschiedenheit zurückgeführt wird. Aber für die beiden ersten Sätze der Antithesis wird vor dem gewöhnlichen Beweis ein anderer, sehr paradox scheinender beigebracht (147 C 2—148 C 2), welcher gerade überkreuz Ähnlichkeit auf Verschiedenheit, Unähnlichkeit auf Selbigkeit gründet. Ähnlichkeit des Einen mit den Anderen wird nämlich gefolgert aus der Beziehung des Einen zu den von ihm verschiedenen Anderen, welches genau entsprechend eine Beziehung der Anderen zu dem von ihnen verschiedenenEinenist. (Im Griechischen wird das noch eindringlicher, weil ετερον dasselbe Wort für das Eine wie für das Andere ist.) Dann wird der Beweis umgekehrt und aus der ähnlichmachenden Wirkung des Verschiedenen die unähnlichmachende Wirkung des Gleichen gefolgert. In dieser Paradoxie scheint für das Eidos folgendes beschlossen zu sein: Eidos und Teilhabendes sind nicht einerseits gleichartig und ähnlich,
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andererseits verschiedenartig und unähnlich. Sondern die Verknüpfung ist viel dichter. Eben indem sie ungleichartig sind, sind sie einander ähnlich, und indem sie gleichartig sind, sind sie einander unähnlich. Will man, wie es in Parmenides' Aporienkette geschah, die Ähnlichkeit mißbrauchen zu dem auflösenden Argument des „dritten Menschen", so wird man hier gewahr, wie Ähnlichkeit in Verschiedenheit gegründet ist, und umgekehrt. Vielleicht aber duldet und fordert auch dieser Paradoxienknoten —• durch Sokrates — noch eine andere Lösung, die sich innerhalb des Ideenbezirkes hält. Die eine Idee und die mit der einen notwendig gesetzten anderen Ideen sind gleichartig und ähnlich als Idee, sind ungleichartig und verschieden als diese bestimmten Ideen. Und wiederum ist die Verknüpfung dichter als zuerst scheinen kann: Nur deshalb weil die Ideen gleichartig eben als Idee sind, können sie verschiedene Ideen sein, und nur deshalb weil die Ideen untereinander völlig verschieden sind, können sie sich in dem einen Idee-sein zusammenfinden. Der Ideen-Kosmos als Einheitsgefüge scheint — für Sokrates — durch die paradoxe Ableitung des Parmenides hindurch. Thesis und Antithesis der ersten Antinomie, obgleich in allem einander entgegengewandt, haben einen Konvergenzpunkt, den das „Nu", das Plötzlich-Augenblickliche, der Synthesis symbolisiert. Hier, in der Konvergenz der entgegengesetzten Thesen, steht das Eidos einerseits verknüpft mit anderen Ideen, andererseits verknüpft mit den an ihm „teilhabenden" Dingen36). Denn das Eine, welches so absolut ist, daß es zum „Nichts" strebt, und das Eine, welches so beziehungsreich ist, daß es zum Grenzenlosen strebt: sie konvergieren in dem Einen, welches sowohl absolut ist wie in notwendigen Beziehungen steht, d. h. dem Eidos. Aber in dem Konvergenzpunkt, dem Ort des Eidos, ist zugleich auch die Divergenz angelegt. Sie führt auf der einen Seite zu der unendlichen Beziehungsfülle. Sie führt auf der andern Seite zu dem Nicht-Seienden, Nicht-Erkennbaren. Aber man muß beachten, daß dieses Nicht-Sein die äußerste Steigerung ist des absoluten Seins. Wie also auf der einen Seite das Apeiron der Werdewelt vom Eidos her zu erreichen war, so auf der andern Seite jenes höchste Sein, für das Sokrates in der Mitte des Staates (VI 509 B) die paradoxe Formel prägt: „noch jenseits des Seins"38). So kann sich Plotin (V 1, 8) ausdrücklich auf Piatons Parmenides berufen für sein
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dreifach Eines: das erste Eine, das in reinem Sinne Eines ist; das zweite Eine, das zugleich Vieles ist; das Dritte Eine, das Eines ist und Vieles ist. Und Iamblich und Proklos folgen dem Plotin37). In der ersten Thesis war das Eine aus aller Verbindung gelöst, in der ersten Antithesis in alle Verbindungen hineingeworfen, in der Synthesis war die Vereinigung beider Thesen gesetzt. Die zweite II 2. A n t i n o m i e antwortet dem von der Seite des „Andern", des „Vielen", dessen was außerhalb des Einen liegt. Und auch hier ist der Gegensatz zwischen dem Andern, das mit dem Einen verbunden ist (ού στέρεται τταντάττασι) und danach alle Gegensätze in sich enthält, und dem Andern, das von dem Einen getrennt ist und dann sich in Nichts auflöst. Dennoch wird hier nicht einfach eine Wiederholung des Früheren geboten. Schon daß die Reihenfolge der beiden Thesen umgekehrt ist, kann nicht bedeutungslos sein, da so die Synthesis in symmetrische Mittelstellung zwischen die beiden ersten Antinomien kommt. Die zweite Thesis muß also mit der ersten Antithesis zusammen- II 2 a. gesehen werden. Und hier ist nun sogleich die Korrektur bemerk- 157B—15i bar. Wurde dort von dem Einen her sofort der Sprung in das Alles getan, so geschieht hier kein solch plötzlicher Sprung von dem Andern, dem Vielen, in das Eine. Sondern vorsichtig und zuerst ganz allgemein wird das Verhältnis der Vielheit zu dem Einen als ein „Nicht-völlig-entbehren", als ein „Irgendwie-teilhaben" (μετέχει ττη 157 C 2) bezeichnet. Eine Gemeinschaft (κοινωνία) des Einen und des Andern wird gezeigt, worin das Eine die Ursache aller Begrenztheit (ττέρα$), das Andere die Ursache aller Grenzenlosigkeit (άπειρον) ist. So wird schließlich das Andere zu der Sammelstätte aller möglichen Zustände (ττάθη). Das Eine und das Viele in ihrer notwendigen Verbindung machen das Wesen des Logos aus; das Eine und das Viele oder anders gesprochen Grenze und Unbegrenztheit bilden das Wesen des Seins überhaupt: so wird der Philebos lehren. Grenze und Unbegrenztheit gehören zu den Grundformen (γένη, είδη), deren Gemeinschaft (κοινωνία) der Sophistes auf ihre Möglichkeit hin untersuchen wird. So deutet auch unsere zweite Thesis wieder auf diesen Bezirk des reinen Seins. Dann aber wird nun das Eine gelegentlich genannt „die eine Idee" (μία Tis Ιδέα 157 D 8), das Andere gelegentlich „das von dem Eidos verschiedene Wesen" (ή έτερα φύσις του είδους 158 C 6), so daß die ewige Form, die Fricdländer, Plato α III
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grundsätzlich andere Seinsweise des Vielen und die Teilhabe des Vielen an der Form vor dem Bück des Sokrates noch deutlicher wird als schon bisher. Wiederum wird auch dies von Parmenides nicht folgerichtig festgehalten; sondern er deutet, als ob sich das von selbst verstünde, die Teil-habe doch wieder als das Verhältnis des Teils zum Ganzen, gleichsam um zu prüfen, ob wir aus dem aporetischen Teil wie aus der ersten Antithesis nicht das Gefährliche dieser Mißdeutung kennten. II 2 b. Die damit verwischte Trennung des Einen und des Andern wird 159Β 160Bj n (j e r Z W e i t e n A n t i t h e s e von neuem eingeschärft: Das Eine und die Vielheit des Anderen sind „getrennt", da das Eine nicht in dem Andern sein kann, ohne den Gegensatz des Einen und des Andern aufzuheben. Damit ist es verwehrt, die Teilhabe als das Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen zu fassen. Nicht verwehrt wäre eine Teilhabe ganz anderer Art, die die vorher gesprochenen Worte von dem „verschiedenen Wesen" (158 C) festhielte. Aber wie die zweite Thesis in der Verknüpfung Ansätze zu klarerer Scheidung enthielt, als sie in der ersten Antithesis gegeben war, und wie dann doch die Spannung einer Mischung wich, so wird nun in der zweiten Antithesis sogleich wieder überspannt. Weil Teilhabe nur als räumliches Einwohnen des Ganzen oder seiner Teile gesehen wird, so muß Teilhabe überhaupt geleugnet werden (ούδαμη μετέχει, τταυταχη στέρεται). Damit wird das Vorhandensein entgegengesetzter Zustände bestritten, weil nimmermehr an zwei entgegengesetzten Formen teilhaben könne, was nicht an einer einzigen Form teilhabe. Und so werden dem „Andern" mit der Teilhabe an dem „Einen" alle denkbaren Zustände abgesprochen. Es wird selbst zu einem Nichts. Wir aber, die wir — mit Sokrates — schon in der ersten Antinomie und noch ausdrücklicher in der zweiten Thesis durch die Dialektik des Einen das Eidos hindurchklingen hörten, werden uns weigern, jenes Teilnehmen als ein räumliches Verhältnis zu mißdeuten. Die „Teilnahme" in der Thesis wird durch die „Sonderung" in der Antithesis sinnvoll ergänzt. Beide zusammen geben in ihrer Spannung das Verhältnis der Formen zueinander und das Verhältnis der Form zu den an ihr „teilhabenden" Dingen. II 3. D r i t t e A n t i n o m i e . Von jetzt ab wird die Voraussetzung in zunächst rein formalem Gegensatz negativ gewandt. Wie müßte das dritte Antithesenpaar lauten, wenn man es nach dem Vorbild
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des ersten durchgeführt denkt ? Von der Erkennbarkeit des Nichtseienden aus müßten ihm alle Prädikate zugesprochen werden bis zu der letzten Folgerung: das Nichtseiende ist alles. In polarem Gegensatz dazu würde die Antithese verlaufen bis zu der letzten Folgerung: das Nichtseiende ist nichts. Diese scharfe Antinomie hätte dazu geführt, die Konvergenz der einander entgegenstehenden Thesen zu suchen, und so wäre man wiederum einerseits auf die Formen gestoßen, die ebenso notwendig getrennt voneinander sind, wie sie in einer „Gemeinschaft" miteinander stehen, andererseits auf die „teilhabenden" Dinge, welche dem Eidos gegenüberstehen sowohl im Verhältnis der Teilhabe wie im Verhältnis der Trennung. Aber in dem ersten Antinomienpaar haben sich die Ansichten von Eidos, Teilhabe, Teilhabendem schon einigermaßen geklärt, und so tritt denn die T h e s i s d e r d r i t t e n A n t i n o m i e π 3a nicht in der übersteigerten, sondern sogleich in einer angemessenen 160Β—163B Form auf. Hier wird zunächst das Wesen der Negation geklärt wie später ausführlicher noch im Sophistes. Negation von etwas ist nicht einfach die Vernichtung dieses Etwas, sondern weist auf ein Anderes (Ιτερον), welches dieses Etwas nicht-ist. Damit wird das Eine, auch wenn man es verneint, nicht einfach ein unerkennbares und unsagbares Nichts, sondern es ist erkennbar und sagbar und tritt in alle möglichen Beziehungen ein, die durch das Wort „teilnehmen" ausgedrückt werden. So wird die paradoxe Folgerung ganz scharf entwickelt, daß das Nichtseiende am Seienden auf die mannigfaltigste Weise Anteilhabe, ja die unlösbare wechselseitige Verknüpfung von Sein und Nichtsein wird aufgewiesen. In dem „Einen Nicht-Seienden" also ist Sein und Nichtsein zusammen. Das wäre nicht möglich, wenn nicht als Übergang und Verbindung zwischen beiden der „Umschwung" (μεταβολή) stünde, der in der Deduktion des „Moments" schon früher (156 C f.) begegnete. Damit ist aber zugleich die Möglichkeit geschaffen, alle Veränderungen in das Eine Nichtseiende hineinzunehmen: Bewegung, Werden und Vergehen. Und doch kann diese Veränderung keine unbegrenzte Veränderung sein, wenn man denn überhaupt von „Etwas" spricht. Es muß gleichsam stillhalten, daß man von ihm sprechen kann. So sind in dem Einen Nicht-Seienden alle Gegensätze vereint. In der A n t i t h e s i s wird umgekehrt aus der Voraussetzung des π 3 b. Nicht-Seienden Einen die Ab-Wesenheit alles Wesens (ουσίας 163Β 164B απουσία) gefolgert und von dort aus wird dem Nicht-Seienden 13«
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Einen alles bis auf jede Möglichkeit des Erkanntwerdens und des Von-ihm-Redens abgesprochen. In der Antithesis ist die These des parmenideischen Gedichtes durchgeführt, daß „das Nichts nicht ist" (6, 15); „denn es ist nicht sagbar noch denkbar, wie Nicht-sein sein könnte" (8, 8). In der Thesis ist ebenso streng die antiparmenideische These — die der „Sterblichen" — durchgeführt, die Parmenides selbst in seinem Gedicht als bloße Worte ablehnt (8, 38 ff.). Wie ist es möglich, daß man mit derselben Strenge die beiden entgegengesetzten Thesen über dasselbe „Nicht-seiende Eine" deduzieren kann ? Der Konvergenzpunkt beider liegt dort, wo man ein Nichtseiendes sieht, das einem Seienden gegenübersteht und zwar gleichzeitig in dem Verhältnis der notwendigen Zugehörigkeit und doch zugleich der vollkommenen Trennung. Das Nicht-seiende, das bis dorthin, wo alle Gegensätze in ihm vereint sind, am Seienden Anteil hat, und das doch zugleich vom Seienden völlig getrennt ist: darin zeigt sich einerseits — wenn man mit dem Sophistes das Nichtseiende als das Nicht-dieses-Seiende, als das Andere also, faßt — die Gemeinschaft der Ideen; darin zeigt sich andererseits — wenn man das Nicht-seiende alsdasNicht-wahrhaft-Seiende faßt—der Bereich der teilhabenden Dinge gegenüber demEidos, auf dasEidos notwendig bezogen und doch ebenso notwendig von ihm getrennt. Es wurde eben gezeigt, daß nur die Antithesis, nicht die Thesis, in jenem äußersten Radikalismus gefaßt ist, den man aus der ersten Antinomie kennt. So wird denn auch die Divergenz, die mit der Konvergenz zusammen in dieser dritten Antinomie angelegt ist, nur nach der einen Seite, nach dem Nichts hin, radikal durchgeführt. Was hegt in diesem „Nichts" der Antithesis ? In der ersten Thesis kam man zu dem Unerkennbaren durch radikales Denken des Seins in seiner Absolutheit. Jetzt kommt man zu dem Unerkennbaren durch radikales Denken des Nichts in seiner Absolutheit. Wie man dort in dem Unerkennbaren das Jenseitsdes-Seins angelegt finden mußte, so hier genau das Entgegengesetzte : das was in der naturphilosophisch-mythischen Sprache des Timaios „das Behältnis, der Raum, die Amme alles Werdens" heißt, und was nur „durch eine unechte Geistesoperation" (λογισμω T I U I νόθω) überhaupt für uns erfaßbar ist. II 4 a. V i e r t e Antinomie. Thesis. Wenn das Eine nicht ist, so ent164 B—165 Ε kehrt das Andere der gliedernden Einheiten, der Zahl, des Halts,
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der Form (Anfang, Mitte, Ende), es zerkrümelt sich (θρύπτεται κερματιζόμενου). Was von fern und undeutlich gesehen noch eine Einheit scheint, löst sich bei näherem Hinblicken in eine Vielheit auf, und ebenso sind je nach der Schärfe unseres Blickes gleiche oder völlig verschiedene Zustände (ττάθη) vorhanden. Ohne das Eine gibt es nur unbestimmte All-Möglichkeit. A n t i t h e s i s . Wenn das Eine nicht ist, so gibt es bei dem Andern weder Einheit noch Vielheit noch irgendwelche Beziehung noch irgendwelche Kenntnis oder Erkenntnis. Ohne das Eine gibt es kein Anderes. Ohne das Eine ist Nichts. Beide Thesen sind einander so nahe gerückt, daß die zweite eigentlich nur als die entschiedenere Fassung der ersten erscheint38). Beide sind darin einig, daß es ohne das Eine von dem Vielen entweder eine vollkommen unangemessene oder überhaupt keine Erkenntnis gibt, weil das Viele ohne das Eine entweder völlig unbestimmt oder überhaupt nicht ist. Sahen wir nun in der dritten Antinomie einerseits die Gemeinschaft der Ideen, anderseits die gegenseitige Bezogenheit von Einzeldingen und Eidos abgebildet, so leitet die vierte noch einmal zu der Einsicht, daß das Viele ohne das Eine nicht sein und nicht gedacht werden kann, daß also herakliteische Spannung herrscht sowohl innerhalb des Ideenkosmos wie im Verhältnis von Eidos und Werdewelt. Die Thesis lehrt, daß ohne das Eidos die Welt sich auflösen würde in eine form- und gestaltlose Masse, die Antithesis, daß ohne das Eidos überhaupt nichts wäre noch gedacht werden könnte. Noch einmal erscheint das, was die Thesis wirre, gestaltlose Masse nennt, in dem „Nichts" der Antithesis radikaler gefaßt und noch einmal wird deutlich, daß, wenn man das Eidos völlig folgerecht vernichtet denkt, nichts übrigbleibt als jenes unbestimmbare Etwas, das in der physikalisch-mythischen Sprache des Timaios die „Prägemasse" oder der „Raum" heißt, aber um seiner Unbestimmtheit willen noch mit anderen metaphorischen Namen benannt wird. Beschlossen wird der Parmenides-Dialog durch einen Satz, in dem Parmenides zusammendrängt oder zusammenzudrängen scheint, was er bisher als kunstvolle Antinomienfuge aufgebaut hatte: „Ob das Eine ist — das sind die beiden ersten Antinomien — oder ob das Eine nicht ist — das ist die dritte und vierte — das Eine selbst — das ist die erste und die dritte —
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und das Andere — das ist die zweite und die vierte —: alles dies ist in Bezug auf sich, selbst und auf einander auf alle Weise und ist wiederum in Bezug auf sich selbst und auf einander n i c h t , ist und erscheint, ist nicht und erscheint nicht." Der junge Student antwortet zum letzten Mal, antwortet mit dem Ausdruck stärkster Zustimmung, den er bisher nur selten gebraucht hatte: „Höchst wahr!" Damit ist alles aus. Auch für den Leser ? Oder soll der vielmehr einwenden, daß hier die Synthesis zwischen den ersten beiden Antinomien ganz vergessen ist, vergessen also, daß sich die gegensätzlichen Bewegungen in verschiedenen „Zeitabschnitten" vollziehen und nur im „Moment" sich treffen oder mit einander wechseln ? Ist nicht die dialektische Spannung hier ganz zuletzt in ein chaotisches In- und Durcheinander aufgelöst, das nur im Wortlaut noch etwas von der dialektischen Strenge bewahrt ? Was Dialektik ist und was nicht, soll der Leser hier noch einmal zu begreifen suchen, indem er den Satz prüft, auf den jenes schülerhafte „Höchst wahr!" die Antwort ist 39 ). Noch eine Frage sei hier wiederholt und zu beantworten wenigstens versucht: Warum hat Piaton statt irgendeines beliebigen jungen Menschen — Namen standen ihm wirklich in beliebiger Zahl zur Verfügung — diesen Aristoteles eingeführt, mit dem ausdrücklichen Hinweis (127 D 2): „der später einer der Dreißig geworden ist" ? Soll das bedeutungslos sein ? Oder etwa ein Hinweis, den wir nicht mehr verstehen ? Oder ist vielmehr genau am Ende des Dialoges angedeutet, daß in solchem Gedankenchaos das politische Chaos gedeiht, dem Sokrates sich auf die Gefahr seines Lebens entgegenstellen wird ? Hat also etwa der Parmenides-Dialog — so absonderlich das klingen mag — gar noch ein pädagogischethisch-politisches Moment, das sich am Anfang und am Ende andeutet ? Man denke dieser Frage nach, oder man versuche den Hinweis auf die politische Katastrophe des Jahres 404 anders zu erklären 1 Sokrates wohnt schweigend den logischen Übungen bei, die Parmenides mit dem Schüler anstellt. Wer die dramatische Form des Dialoges bis zuletzt nicht vergißt — und Piaton rechnet auf solche Leser —; wem der Kreis dieser Menschen durch alle Begriffs-
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akrobatik hindurch vor Augen steht; wer es für undenkbar hält, daß Piaton in irgendeiner Zeit seines Lebens den Meister Sokrates, der für die Sache der Wahrheit starb, nur eben aus Gewohnheit hätte dabeistehen lassen, während ein Jemand, der später einer der Dreißig werden wird, die Rolle des Antwortenden übernimmt — der muß sich fragen, was Sokrates zuhörend und auf sein Problem gerichtet aus diesen Übungen entnimmt. Sein Problem: das sind — theoretisch — die Seinsformen bis zu der höchsten hinauf, die noch jenseits des Seins ist, in ihrem Verhältnis sowohl zu einander wie zu den Dingen der Werdewelt; und das ist — praktisch oder „existentiell" — das Handeln, das diesem Sein entspricht. Wenn nun aus dem Einen, dem Vielen, dem Nicht-Einen und ihrer Verflechtung immer wieder jenes Grundverhältnis emportauchte, so wurde damit versucht die Dialektik des Parmenides im Sinne des zuhörenden Sokrates weiterzudenken. Die Aporien des ersten Dialogteils, soweit sie das Verhältnis von Urbild und Erscheinung betreffen, sind überwunden worden durch das Ineinander von „Trennung" (χωρισμός) und „Teilhabe" (μετοχή). Noch bleibt die letzte und ernsthafteste Aporie (133 B). In ihr schien die Welt der Erkenntnis und des Handelns auseinandergerissen zu werden in das „genaueste Wissen" und die „vollkommenste Herrschaft, Meisterschaft", welche den Göttern vorbehalten sind, und auf der anderen Seite das „Wissen bei uns" und die „Meisterschaft bei uns". Wie denn eine echte Spannung durch diese ungelöste Aporie offengehalten werden soll zwischen der Erfahrung, über die wir ohne weiteres verfügen, und jener Ideenerkenntnis, die im Staat, im Symposion, im Phaidros doch immer wie ein Blitz aus einer anderen Welt erscheint. Diese Spannung wird von der entgegengesetzten Seite her verstärkt durch die eigentümliche Paradoxie, daß ganz entsprechend auch Gott kein Wissen hat von den Dingen bei uns und keine Wirkung auf sie. Nun pflegen die Neuplatoniker dieser Paradoxie durch die Lehre Herr zu werden, daß Gott „das Vielfache auf einfache, das Teilhafte auf unzerteilte, das Zeitliche auf ewige Weise" erkenne. Entsprechend lassen sie den Menschen „auf teilhafte Weise das Unzerteilte, auf zeitliche das Ewige" erfahren 40 ). Damit ist Piaton geistvoll dogmatisiert. Er selbst zeigt mit dem „Aufstieg", der „Schau des Oberen" in Symposion und Staat an, wie jene Kluft von der Seite des Menschen her zu überwinden ist — unter dem
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Vorbehalt einer letzten Unüberwindbarkeit. Ist nun nicht im Parmenides-Dialoge selbst die Lösung der „größten Aporie" (133 Β 4) gewiesen ? Aufgabe der dialektischen „Übung" war es doch, immer von neuem das notwendige Aufeinanderbezogensein des Einen und des Vielen, des Seins und des Nichtseins, des Eidos und der Erscheinungswelt sichtbar zu machen. Und nur am äußersten Pol wurde das Absolute zu einem Unerkennbaren, einem Sein, welches (in der Terminologie des Staates) jenseits des Seins ist, und wurde die Erscheinungswelt zu einem chaotischen Nichts. Damit ist die Zerreißung der Seins-, der Erkenntnis- und der Handlungssphären, zu der jene schwerste Aporie zu führen schien, überwunden, ohne daß damit das Epekeina aufgehoben würde. Syndesmos des Seins, des Erkennens und des Handelns heißt das Ziel, dem die Dialektik des Parmenides zustrebt, und für das Sokrates mit seiner Existenz einsteht.
25. PHAIDROS Wir kennen den jungen Phaidros als eifrigen Sophistenschüler aus dem Dialog Protagoras, wo er an einem naturwissenschaftlichen Seminar des Hippias über astronomische Fragen teilnimmt. Dort wie im Symposion und in dem Dialog, der seinen eigenen Namen trägt, ist Phaidros befreundet mit den beiden Ärzten, Akumenos dem Vater und Eryximachos dem Sohne, die sich offenbar gleichfalls zu der modernen geistigen Bewegung gehalten haben. Wenn Phaidros in unserm Dialog sofort als begeisterter Hörer des Redners Lysias auftritt und dann wieder zu Sokrates neigt, und wenn die Rede des Sokrates an den fingierten Schönen, der Geliebte müsse dem Liebenden Gunst erweisen, an Phaidros selber gerichtet scheint (242 E), so wird klar, wie auch hier wieder der Kampf zwischen Sophistik-Rhetorik und Philosophie um die Seele der Jugend geht. Hier ist nun das Eros-Thema, das Lysias durch den Mund des Phaidros anstimmt, und das dann von Sokrates aufgenommen und in ganz andere Höhen geführt wird, einzig bedeutsam. Denn einen solchen Kampf sieht Piaton als Kampf zwischen echter und unechter Liebe. So erfaßt man vielleicht sehr bald etwas von der vielstimmigen Thematik des Phaidros-T)\aXoge&: Rhetorik, Seele, Liebe, Philosophie1). „Vater des Logos" heißt derselbe junge Phaidros im Symposion (177 D) als der, der dort den Redewettkampf in Bewegung bringt, und hier im Phaidros (242 B) rühmt Sokrates scherzend von ihm, daß niemand mehr Reden als er ins Leben gerufen habe. Also die Eros-Reden des Symposions soll man hier gegenwärtig haben eben in dem Moment, da Sokrates von seiner Scheinrede die Wendung zu seiner echten Rede nimmt. Wenn nun gerade hier wie vorüber-
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gehend ein Blick auf den Thebaner Simmias fällt als den einzigen, der es in dieser Kraft des Rede-Erzeugens mit Phaidros aufnehme, so kann man gar nicht anders als an den Phaidon-Dialog hinüberdenken 2 ). Denn Simmias ist es ja dort, der durch seine Einwände und durch seine These von der Seele als Harmonie das Gespräch vor dem Erlöschen bewahren hilft. Was aber heißt das anderes, als daß man versuchen soll zu vereinen, was in beiden Dialogen vom Schicksal der Seele sichtbar wird, und daß man auch in der Heiterkeit des Phaidros den letzten Ernst der sokratischen Existenz nicht vergessen darf. Man hat das Einzigartige der Szenerie in diesem Dialog immer sehr stark empfunden. Wir stellen neben seinen Eingang den des Lysis -— des Dialoges, der das Thema „Liebe", oder wie es dort heißt „Freundschaft", auf der Frühstufe des platonischen Werkes erörtert —, damit innerhalb einer gewissen Gleichartigkeit das Besondere des Phaidros noch deutlicher werde. Dort wie hier ist es eine Begegnung, die mit der Frage „Woher und Wohin ?" eröffnet wird. Und der Weg führt dort hier wie „aus der Stadtmauer heraus". Aber im Lysis geht Sokrates am Fuß der Mauer entlang auf kürzestem Wege von einer Ringschule zur andern, und zum geistigen Ringkampf mit jugendlichen Turnern begegnet er sich in diesem aporetischen Dialog. Phaidros hingegen hat stundenlang im Hause seines Meisters Lysias gesessen und macht nun auf ärztlichen Rat seinen Gesundheitsspaziergang draußen vor der Stadt. Noch wichtiger ist, daß Sokrates ganz gegen seine Gewohnheit aus dem Tor herausgelockt wird in eine Gegend, die er nicht kennt. Das Begeisternde der schönen und freien Landschaft, der Mittagszeit, des Nymphenheiligtums, alles das ist ungewöhnlich und vom Dichter gemeint als eine Seltenheit, die der ebenso ungewohnten Ekstase des sonst so Nüchternen entspricht, ja sie zu wecken scheint 3 ). Dabei ist doch wiederum Sokrates zuletzt derselbe wie immer: er „will sich selbst erkennen", ist sich selbst ein Rätsel (229 Ε f.), seine „Fremdartigkeit, Seltsamkeit" (άτοττία) ist hier (229 C 6. 230 C 6) dem Phaidros so erstaunlich wie dem Alkibiades im Symposion (215 A) und im Alkibiades-OiaAog (106 A). Über das Verhältnis der drei Liebesreden, die den größeren ersten "R Teil des Dialoges füllen, zueinander genüge vorerst dies, daß die des Lysias, von Phaidros vorgelesen, den Anfang macht, daß dann Sokrates in der zweiten den Rhetor auf seinem eigenen Felde
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schlägt, um in der dritten scheinbar von denselben Dingen sprechend das Ganze in eine neue, die eigentlich platonische Dimension hinaufzuführen. Sokrates als Rhetor: dieses Motiv war vorgebildet im Memxenos4). Dort füllt fast den ganzen Raum die eine Rede des Sokrates, in der er mit dem berufsmäßigen Redekünstlertum auf dessen eigenem Gebiet den Kampf aufnimmt, wie in der mittleren Rede des Phaidros. Aber im Ansatz fehlt auch dessen erste und dritte dem Menexenos nicht. Was bedeutet nun diese Formverwandtschaft, abgesehen davon daß sie zeigt, wie gewisse Gestaltungsmotive in dem Künstler Piaton über lange Zeiträume ruhen, bis sie vollkommener wieder ans Licht treten ? Offenbar dieses: Piaton sieht, wie das, worüber die Rhetoren reden, sich selbst unter ihrer eigenen Voraussetzung schärfer, lehrreicher und eindringlicher sagen läßt. Aber er bleibt dabei nicht stehen. Jene Kunstreden rühren Gegenstände an, über die man mit ganz anderem Ernst sprechen kann und soll. Daß sie sie anrühren, darin liegt sowohl ihr beschränkter Wert wie ihre Gefährlichkeit. Sie als unterste Stufe zu benutzen und sie so zugleich unschädlich zu machen: das ist der eigentliche Sinn, weswegen Piaton sich mit ihnen einläßt. Er hat unter den Reden des Lysias eine gelesen, die durch Zierlichkeit und sinnlichen Reiz ebenso wie durch die raffinierte und paradoxe Spitzigkeit der erfundenen Situation den Rhetor, den Künstler in ihm zum Wetteifer reizte und zugleich den Philosophen empörte durch den Leichtsinn, mit dem er menschliche Liebesgemeinschaft hier zum Genuß und zum Geschwätz herabgewürdigt sah. Diese Lysias-Rede hat Rede des Piaton in seinen Dialog aufgenommen „als einen fremden, v o n 230^ —*234 außen herzugekommenen Gegenstand wie den Gärstoff im Sauerteig" (Vahlen). So wenigstens ist es sehr viel wahrscheinlicher als sich den Piaton vorzustellen, wie er aus Dutzenden von Anklängen und Zitaten ein schwer erträgliches Lesestück im Stil des Lysias zusammenklittert 5 ). Aber wie dem auch sei: „der Anlaß wird nur gewählt, um weit darüber hinauszugehen" (Grillparzer)®). Die Lysias-Rede gibt sich als an „einen der Schönen" gerichtet über das ausgeklügelte Thema, „daß man dem Nichtliebenden eher günstig sein müsse als dem Liebenden". Was würde dieses oratorische Kunststück heute sein ? Eine raffinierte short story etwa, in der sich ein Verführer hinter der Maske des kühlen, zurückhaltenden Freundes versteckt. Daß bei solcher Umkehrung einer
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weithin anerkannten Norm7) kein Ernst sein kann, deutet sich sogleich in der Erwiderung des Sokrates an: der Verfasser könne statt dessen ebenso gut über die Gegensätze Reich und Arm, Alt und Jung oder sonst irgendwelche diskutieren (227 C). Ein so hohes Gut wie die Liebe soll hier im Schnitzelkräuseln der Rhetorik vertan werden. Aber mehr als das: Reich oder Arm, Älter oder Jünger, das macht zuletzt wirklich keinen Unterschied, Liebend oder Nicht-Liebend macht einen ganz radikalen. Sokrates weiß das besser, lebt es unmittelbarer, als irgend jemand. Also soll man von der Analogie erst lernen, was sie aussagt, und dann einsehen, wie Sokrates mit ironischer Absicht eine halb unzutreffende Analogie ins Spiel geworfen hat. Erste Nachdem die Lysias-Rede abgelaufen ist, geht Sokrates daran sie ^°RedeS ZU überbieten. Kritik, die er in dem Zwischengespräch mit 237 A—241DPhaidros andeutet (234 C—237 B), und die er im zweiten Hauptteil des Dialoges geben wird, macht es noch ausdrücklicher, worauf es ihm ankommt, und zeigt zugleich, daß in dieser Kunst des Uberbietens schon von seiner Philosophenkraft Wesentliches verborgen ist. Aber wir würden auch selber das Wichtigste beobachten. Lysias ließ die Person des Redenden mit ihrer eigentlichen Gesinnung im Unklaren, und er hätte sich vielleicht diese Unbestimmtheit als einen Vorzug gutgeschrieben. Sokrates hingegen legt die Situation eindeutig fest in einem vorausgeschickten Summarium, wie es die spätere Rhetorik für solche fingierten Reden beibehalten hat 8 ): Einem schönen, viel umschwärmten jungen Burschen hat einer von seinen Verehrern, ein „listiger Schmeichler", vorgetäuscht, daß er den Jungen nicht liebe. So wirkt jetzt das lysianische Thema nicht rein paradox, sondern es steht durch die verschärfte Charakteristik im Dienst einer psychologisch bestimmten Strategie. Diese Aufklärung des Ungeklärten geht vor allem — und Sokrates verfehlt nicht, dies gleich zu Anfang und nachher im zweiten Teil des Dialoges zu betonen (237 C. 263 C. 265 D) — auf das Worüber (ττερί oö), auf das Wesen (οΰσία) dessen, wovon eigentlich gesprochen wird: die Liebe soll in einer Begriffsbestimmung (όρο;) erfaßt werden, auf die man die ganze Betrachtung gründen muß. Ähnlich kühl und scharf war es schon im Symposion. Dort stellt Sokrates sich allen anderen Rednern gegenüber wie hier dem einen Lysias, und dort wie hier beginnt er mit der Frage, wie geartet denn der Eros ist (olös έστιν Symp.
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199 C 7, οΐόν έστιν Phaidr. 237 C 8). Diese definitorische Erörterung ist beide Male abgetrennt von der eigentlichen Rede. Nur freilich ist im Phaidros dadurch alles kompliziert, daß wir in der ersten Rede des Sokrates noch nicht sein Eigentliches, also auch in der Definition nicht seine eigentliche, zu hören bekommen. Das andere, was Sokrates später (264 C) als Forderung für die Redekunst aufstellt, das ist die feste Gliederung, die den Vergleich einer Rede mit einem Lebewesen (ζωου) nahe legt. In der Tat bemerken wir die durchgeführte und ausdrücklich eingeschärfte Disposition (238 DE. 241 D). Aber das ist nicht äußerlich zu nehmen. Sondern die Aufklärung der Grundlagen, von der vorher gesprochen wurde, wirkt hier weiter und bewährt sich besonders dort, wo Sokrates, wie sich ja ganz von selbst ergab, mit gewissen Argumenten des Lysias übereinstimmt. Daß Liebe eine Krankheit ist, erscheint bei Lysias als ein Argument unter vielen (231 D). Bei Sokrates (238 E) ist der pathologische Zustand des Liebenden, seine Knechtung unter die Lust, die Grundlage, von der aus sein Verhalten in scharfer Begrifflichkeit abgeleitet wird. Es wird bestimmt nach den Kategorien des Schädlichen (βλαβερόν), Unangenehmen (άηδές), Unzuverlässigen (άπιστου); die Schädlichkeit wiederum wird nach den drei platonischen Seinsbezirken gestuft — wie sie besonders scharf im Alkibiades herausgearbeitet werden 9 ) —, wird also bezogen auf die Erziehung der Seele, auf die Pflege des Leibes, auf den Besitz von Hab und Gut. Daß der Liebenden den Geliebten von aller andern Gemeinschaft zu trennen sucht, daß er ihm übertriebenes Lob spendet, sind Vorwürfe, die sich verstreut auch bei Lysias fanden (232 C. 233 A)10). Bei Sokrates kehren sie an ihrem Ort wieder, eingeordnet in den eben dargestellten festen Verband (239 A—240 E). Lysias hätte auf die Kritik des Sokrates erwidern können, gerade wegen ihrer minder strengen Begründung und Ordnung sei seine Rede wirksamer für ihren Zweck, für die Aufgabe des Überredens11). Aber Piatons Sokrates will letzten Endes ganz etwas anderes, nämlich klares Wissen und notwendige Ordnung erzeugen. Und daß diese Ordnung nicht als eine lediglich formale Besserung gemeint ist, etwa wie man einem schlecht disponierten Schulaufsatz durch eine schärfere Disposition Halt gibt, das wird der zweite Teil des Dialoges lehren.
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Sokrates bringt in seiner ersten Rede nur die eine Hälfte des Beweises, nämlich daß man sich dem Liebenden versagen müsse. Die ergänzende zweite Hälfte, daß man dem Nichtliebenden günstig sein müsse, fügt er trotz Phaidros' Mahnen nicht hinzu, weil man sie durch einfache Umkehrung des Gesagten leicht ergänzen könne (241 DE). Aber der innere Grund ist ein anderer. Nur auf den Liebenden kam es dem Piaton an, nicht auf den Nichtliebenden. Damit kommen wir erst im tieferen Sinne „zur Sache". Es handelte sich um Rhetorik. In Definition und Disposition schien sich etwas anzukündigen, dessen Sinn über die rhetorische Technik hinausgeht. Aber in dem Gegenstand, von dem hier geredet wird, in der Liebe, ist vollends etwas gegeben, was von aller Rhetorik fort in die Tiefe des Menschlichen führt. Hätte Piaton nicht diese Möglichkeiten in dem Vortrag des Lysias gesichtet, so hätte er ihn nicht zum Ausgangspunkte seines Dialoges gemacht. Was aber ist es denn, was sich in dem definitorischen Teile herausstellt, in dem weiteren Verlauf befestigt ? Liebe wird erkannt als „ein sehnsüchtiges Streben" (έτπθυμία Tis). Dabei besteht die Schwierigkeit nicht mehr, die noch im Menon (73 Ε ff.) bestand, zu scheiden zwischen „Tugend" und „einer Tugend", „Gestalt" und „einer Gestalt". Vielmehr geht Sokrates sofort daran, der Liebe im größeren Kreis des Begehrens ihren Platz zu sichern, und weist zu diesem Zweck die in unserer Seele um den Vorrang streitenden Strebungen auf (237 D): hier Lustbegehren oder Willkür (Oßpis), dort verständiges Streben nach dem Guten (δόξα έφιεμένη τοΟ αρίστου) oder Sophrosyne. Damit wird der Kampf in der Seele sichtbar, der später im Mythos der zweiten Sokratesrede zu sokratischem Radikalismus und zu platonischer Bildhaftigkeit erhoben werden wird. Von jener Höhe sind wir freilich noch weit entfernt. Denn hier kämpfen „Begier" und „Meinung, Doxa" mit einander; dort steht neben der Begier der „strebende Mut" (θυμός), das sind die beiden Seelenrosse, und ihr Lenker ist der „Geist". Wie hoch sich aber der Geist über bloße Meinung erhebt, weiß man aus der Mitte des Staates (V 477 A) 12 ). Damit man nun von „Liebe" reden kann, muß — so heißt es hier weiter — Ergebnis dieses Kampfes der Sieg des Luststrebens sein, und dieses Streben muß sich auf die Schönheit richten, muß vielmehr von den andern begleitenden Begierden Kräfte empfangen, sich auf die leibliche Schönheit zu richten. Die Schönheit als das, worauf Liebe sich
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richtet, wird in dem Leser das Symposion wachrufen, zumal wenn man auf die vorher vermerkte formale Verwandtschaft der beiden begriffsbestimmenden Teile blickt. Aber um so erschreckender ist für jeden durch Piaton auch nur ein wenig Erzogenen die Niederlage der vernünftigen Triebe und die Beschränkung auf körperliche Schönheit. Liebe steht mit Hunger und Durst auf einer Stufe (238 AB). Es ist die naturalistische Ansicht von Liebe. Also nicht d i e Liebe wird hier begrifflich bestimmt, sondern eine sehr einseitige Liebe. Damit wird klar, daß es sich in der ersten SokratesRede keineswegs nur um eine neue Redaktion und formale Besserung der Lysias-Rede handelt, sondern zugleich um ein Herausarbeiten des menschlichen, allzu-menschlichen Gehalts, der in jenem sophistischen Erzeugnis undeutlich, aber um so gefährlicher, beschlossen lag. Ehe er nicht in seiner Gefährlichkeit sichtbar gemacht wird, kann er nicht von Sokrates bekämpft werden. Jetzt zeigt der Sprechende mit jedem Wort, in welch niederem Sinne er die Liebe nimmt, am deutlichsten zu Anfang, und zumal wenn man sich aus dem Symposion erinnert, daß Eros Führer zur Philosophie ist. Hier im Phaidros sagt der Hinterlistige (239 B), daß der Liebende den gehebten Freund fernhalte von der „göttlichen Philosophie". E r muß es wissen, denn er selbst ist ja in dieser Art von Liebe befangen, so sehr er sie verbirgt. Also eine Lebenshaltung, jene die von dem schlechten Eros bestimmt ist, wird hier — nicht etwa bekämpft, sondern zu ihrer Selbstoffenbarung geführt. Das ist der sachüche Gehalt dieser ersten SokratesRede. Wie sehr die beiden Tendenzen des ersten Dialogteils, die für uns Zwischenso schwer vereinbaren, die rhetorisch-formale Tendenz und die gespräche
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gegenständliche, durch das Wort ,,Liebe" bezeichnete, sich bereits 241D—243E in dieser ersten Rede des Sokrates anzeigen, wird noch klarer aus dem kurzen kritischen Zwischengespräch, welches nun folgt. J a diese Spannung zwischen Inhalt und Form wurde für einen Augenblick schon in dem Zwischengespräch zwischen den beiden ersten Reden fühlbar, als Sokrates die Frage aufklingen ließ und sie dann zugunsten der Formfragen beiseite streifte, ob der Verfasser wirklich „das Gehörige, Angemessene" (τά δέοντα) gesagt habe. Phaidros ist so sehr Schüler des Meisterredners, daß er, als Sokrates sprach, anscheinend nur auf die Form geachtet hat. Für Sokrates, den Dialogiker, ist die eigene Rede zunächst als Rede fremd und
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seltsam, etwas was er gar nicht als sein Eigen empfindet (242 DE). Vor dem Sprechen hatte er sich den Kopf verhüllt aus Scham, weil er etwas ihm Ungemäßes tue (237 A). Dann hatte er die Musen angerufen in poetischen Klängen und Rhythmen und hatte das ferne Volk der Ligurer bemüht um einer ganz überflüssigen Etymologie willen, einer so gezwungenen, wie die ganze Rede gezwungen ist (237 A 8)13). Dann hatte er die Rede unterbrochen und sie — ironisch — göttlicher Eingebung zugeschrieben (238 C). Jetzt, nachdem er zu Ende ist, ist es der Inhalt, der ihn beschämt: sie ist ein Vergehen gegen die Gottheit, von dem man sich reinigen muß (242 C). Stellte die Form beide Reden gegeneinander, so erweisen sie sich jetzt vom Inhalt her als auf derselben Ebene stehend: sie streiten beide mit der Überzeugung, daß Eros ,,ein Gott oder etwas Göttliches" ist (242 Ε 2) — ein seltsames „Oder", wenn man nicht dabei anDiotimas Rede zurückdenken müßte14): Eros kein Gott sondern eine verbindende Zwischen-Macht, ein großer Dämon, „durch den" darum die Kräfte der Weissagung und der anderen priesterlichen Wirksamkeiten von den Göttern zu den Menschen und von den Menschen zu den Göttern vermittelt werden. Diese Kräfte sind es, die die zweite Sokrates-Rede des Phaidros als Arten der Ekstase in ein System ordnen wird. Durch dichterische Klänge, Zeilen aus Ibykos und Stesichoros wird diese Rede vorbereitet (242 C. 243 A), wie sie sich selbst ins Dichterische erheben wird. Sokrates spricht sie nicht mehr in Verhüllung, sondern bloßen Hauptes. Und sie ist nicht an einen Irgendjemand gerichtet, sondern Phaidros weiß, daß er jetzt selbst der Junge ist, zu dem Sokrates sprechen wird (243 E). So unlösbar Sokrates wie so oft Spiel und Ernst ineinander schlingt, so gewiß er ganz etwas anderes als die Vielen meint, wenn er von „Hingabe" spricht, Phaidros meint wenigstens in diesem Augenblick ganz, was er sagt: „Hier ist er (der Junge, den du meinst), bei dir ganz nahe, wann immer du willst"16). Zweite Der Gegensatz zwischen den beiden ersten Reden also ist verda ihnen eine dritte Rede aus dem Munde des Sokrates 243 Ε—257 Β gegenübertritt als etwas ganz Neues in der Sprache wie im Gehalt1β). Damit hat die Aufmerksamkeit ihren Gegenstand gewechselt. Schien sie bei der Lysias-Rede ganz auf dem formalen Thema der Rhetorik zu ruhen, dann bei der ersten Sokrates-Rede sich außerdem auf das gegenständliche Problem zu richten, so ist in der
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Palinodie des Sokrates die Rhetorik — für jetzt — aus dem Blickfeld verschwunden, und als alleiniges Ziel der Betrachtung erscheint: die Liebe. Man muß unter diesem Aspekt die drei ersten Reden als Ganzes überblicken, um in neuer Form ein echt platonisches Spannungsmoment gegenwärtig zu finden: den Kontrast von edler und unedler Liebe. Er gehört zu Piatons Grunderfahrungen und ist schon früh überall bemerkbar, so etwa im Euthydem, dann besonders stark im Alkibiades, der mit der Rätselfrage beginnt, warum Sokrates allein aus dem Schwärm der Liebenden geblieben sei, und mit der Antwort schließt, daß Sokrates allein unter allen den Jüngling selbst, seine Seele, gehebt habe. In der Pausanias-Rede des Symposions wird die Spannung zwischen dem Pandemos und dem Uranios ausdrücklich zum Thema. Hier im Phaidros bestimmt sie das Gefüge des ganzen ersten Teiles. Denn in den beiden ersten Reden kann man den Pandemos nicht verkennen, von welchem Pausanias sagt, daß die ihm Zugetanen mehr den Leib als die Seele heben, da ihr Sinnen nur darauf gerichtet ist, ans Ziel zu kommen (Symp. 181 B). Und der Name des Uranios kommt ja in der dritten Rede ganz eigenthch zu seinem Recht, da hier Eros die Seele zum Himmelsgewölbe und zum überhimmlischen Ort emporführt. Aber nun gehören die beiden Sokrates-Reden doch auch wieder zusammen. Im zweiten Teil des Dialoges (265 D ff.) wird sich als die zwiefache Aufgabe des Philosophen zeigen das Aufsuchen der „einen Gestalt" (εϊ$ μίαν Ιδέαν άγειν) und des gegliederten Systems (κατ' είδη τέμνειν). Am Anfang der ersten SokratesRede stand die Begriffsbestimmung des Eros. In der kritischen Untersuchung des zweiten Teiles wird sich herausstellen, daß diese Begriffsbestimmung, die den Eros als „eines unter den Seienden" (εν τι των όντων) ergreift, hinführt auf die Erfassung der „einen Gestalt" (265 DE). Das gegliederte System aber wird anschaulich, wenn man die beiden Sokrates-Reden zusammen überblickt (265 Α ff.). Denn das einheitliche Wesen der Mania gliedert sich, wie an einem Körper, in eine rechte und eine linke Seite. Der „linken" oder schlechten Mania hat die erste Sokrates-Rede gegolten, der „rechten" oder guten Mania gilt die zweite17). Und nun ist es kein Zufall, daß die gute sich klar in vier Glieder auseinanderlegt, deren viertes die edle Liebesleidenschaft ist, während die schlechte Mania „vielgliedrig und vielgestaltig" genannt wird F r i e d l ä n d e r , Piaton III
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und ohne scharfe Sonderung die (unedle) Liebe vermischt mit ähnlichen Begierden sehen läßt18). Denn da man dieses Zerschneiden „gliedweise" vollführen muß und nicht „nach Art eines schlechten Metzgers" gegen den natürlichen Wuchs, so gibt die „Einteilung", wenn sie richtig vollzogen wird, die Struktur des Gegenstandes wieder. Den „göttlichen Wahnsinn" finden wir also in der zweiten SokratesRede vierfach gegliedert als prophetischen, kathartischen, poetischen, erotischen19). Und dieses Besessensein stellt sich entgegen aller „menschlichen Besonnenheit, die kleinbürgerlich sparsamen Haushalt führt und jene Illiberalität, wie sie der Menge als Vorzug gilt, in die befreundete Seele hineinzeugt" (256 E). Damit kommt eine Bewegung zu ihrer Höhe, die schon im Ion zur Anerkennung der dichterischen Existenz neben der denkerischen führte, im Menon (99 c) das politische Handeln aus göttlicher Eingebung — wie ironisch auch immer — als berechtigte Existenzform gelten Heß, im Symposion als Feier des Eros Gestalt gewann und diese dämonische Zwischenwelt die Richtung empor zu den ewigen Formen nehmen ließ. In der zweiten Sokrates-Rede des Phaidros wird das System dieser Mania aufgezeigt und in ihm der erotischen Form der höchste Platz angewiesen. Wenn schon im Ion vergleichsweise die „Orakelsänger und göttlichen Seher", im Menon dazu noch die „schöpferischen (poietischen) Menschen" genannt wurden, im Symposion die „Seherin" von der „Liebe" spricht, so ist klar, wie der Phaidros dies alles vereinigt im System der Mania und in einer Weise des Sagens, die strenges Denken und ekstatische Erhebung zugleich ist. Die scharfe Gliederung läßt das Ganze zuerst wie ein Kapitel beobachtender und beschreibender Psychologie erscheinen, und dem entspricht der Ton streng begrifflicher Erörterung, mit dem Sokrates beginnt. Aber seine Rede schwingt sich dann in den Bezirk dessen auf, was ihr Gegenstand ist, wird zuletzt selber Ekstase und wechselt hinüber in dichterischmythische Klänge und Bilder. So hat sie auf Dichter, Ronsard und Shakespeare, ebenso stark gewirkt wie auf Denker und Forscher, arabische und gewiß auch moderne20). Beschlossen wird die Darstellung des erotischen Wahnsinns und damit die Rede durch ein Gebet an Eros selber, der hier noch einmal als Führer zur Philosophie erscheint (257 A). Daß die Rede „mit Notwendigkeit manche dichterische Worte gebraucht habe",
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sagt Sokrates selbst in ironischem understatement; daß es „um des Phaidros willen" geschehen sei, wird dem Ironiker niemand aufs Wort glauben. Für Piaton war diese Welt des Dämonischen, in die er seinen Sokrates hinaufführen läßt und an die ihn selbst stärkste Kräfte banden, nach unten ein Schutz gegen spießbürgerliche Dürftigkeit, nach oben enthielt sie Kräfte, die zum Eidos emporführen. Zu dem großen philosophischen Mythos der dritten Rede ist auf früher Gesagtes zu verweisen21). Er erhebt sich über dem mythischen Hügelland dreier kleinerer Sagen. Er ist Mythos von der Seele, der Liebe, dem Weltall und dem Reich der ewigen Formen. Und er sucht nicht nur, wie der platonische Mythos immer, in Wort und Bild zu formen, was zuletzt ins Unaussprechbare hinaufreicht, sondern zugleich enthält er die Forderung, die hier in dem Schlußgebet ausgesprochen wird: „auf Eros gerichtet im Forschen nach Erkenntnis das Leben zu führen". Die beiden ersten Reden des ersten Teils behandeln ein rhetorisches Schulthema. Wenn in der dritten das Gegenständliche mit Macht durchdrang, so ist das wie ein Abbiegen von der Linie, in die doch sofort wieder eingebogen wird, da Phaidros gleich in den ersten Worten, die er nach der echten Eros-Rede des Sokrates spricht, die Erinnerung an Lysias weckt und den Zweifel äußert, ob dieser Redemeister es mit Sokrates werde aufnehmen können (257 B).Also fast gewaltsam werden wir in den Kreis der formalen Redekunst zurückgezwungen, und der beginnende zweite Teil des Dialoges wird denn in der Tat jene Reden zum Gegenstand einer formal-rhetorischen Kritik machen. Aber nun war in der erstaunlichsten inneren Wendung der Sachgehalt durchgebrochen. Eros hatte sich aus einem Gegenstand schulgerechter Deklamation zu einer lebendigen Macht erhoben. Aus einem rhetorischen Geistestraining war man emporgehoben worden in das Reich der ewigen Formen und hatte das kosmische Schicksal der Seele im mythischen Bilde erfahren. Wenn jetzt der zweite Teil des Dialoges auf die Ebene rhetorischer Erörterung zurückzusinken scheint, gleich als wenn jener Ausblick gar nicht gewonnen worden wäre, so dürfen wir von vornherein gewiß sein, daß für Sokrates nicht wie für seinen Partner das Rhetorische Selbstzweck ist, sondern daß er sich darauf einläßt, um auch dort die philosophischen Möglichkeiten der Rhetorik hindurchleuchten zu lassen. 14*
II.
257 Β
279 C
212 II I.
II 2.
II 3.
II 4.
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Vier Gedankengänge sind es, die den zweiten Hauptteil des Dialoges füllen. Der erste betrifft den Gegensatz zwischen geschriebener, d. h. ausführlich vorbereiteter, Rede und Stegreifrede. E r hatte sich schon im ersten Hauptteil angedeutet, indem Lysias als der bedeutendste Redenschreiber seiner Zeit (δεινότατος ων των vüv γράφειυ 228 Α) von Phaidros bezeichnet wurde und dann Sokrates sich scheinbar sträubte, mit einem so trefflichen Künstler als Dilettant (ίδιώ-της) aus dem Stegreif zu wetteifern (236 D). Wie früher gezeigt wurde 22 ), greift Piaton damit eine unter den Technikern der Rede lebhaft gepflogene Erörterung auf, nicht weil ihm an ihr selbst gar so viel gelegen hätte, sondern um sie über sich selbst hinaufzuheben dorthin, wo sich eine ganz andere mündliche Rede, nämlich das erziehende Gespräch des Philosophen, als die echteste Form des Redens erweist. Der zweite Gedankengang betrifft die Frage, ob der Redner von dem, worüber er redet, ein wahres Wissen haben müsse, oder ob ein ungefähres Bekanntsein mit der Sache genüge. I m ersten Teil erwies es sich nicht nur als eine Torheit, daß jemand Wert darauf lege, „irgendwelche Menschlein zu täuschen und sich Auszeichnung bei ihnen zu erwerben" (243 A 1. 2); vielmehr war das unwissende Gerede über die Liebe geradezu als Vergehen gegen den Gott selbst erschienen (242 C ff.). Jetzt wird sich in dem Problem das ganze Verhältnis von Philosophie und Rhetorik eingeschlossen zeigen, das für Piaton in der paradoxen Forderung einer philosophischen Rhetorik gipfelt. Der dritte Gedankengang betrifft den Gegensatz von unbestimmter und ungeordneter Rede zu solcher, deren Worüber durch Definition festgelegt ist, und die sich auf einem klaren Plan aufbaut. Auch dieser Gegensatz war im ersten Teil deutlich geworden in der Kritik, die Sokrates an der Lysias-Rede übte (235 A), und in der Art, wie er deren Mängeln durch die Definition am Anfang (237 CD) und durch klare Ordnung durchweg begegnete. Wenn die Problematik von neuem aufgenommen wird, so kann man sicher sein, daß es sich für Piaton um mehr handelt als um das Einüben schulmäßiger Definitionen und Dispositionen. Vielmehr wird die Begriffsbestimmung Mittel, um den Gteist auf die „eine Gestalt" (iv είδος) zu richten, und die Ordnung führt auf das gegliederte System der Formen, das Piaton spätestens seit dem Kratylos als Forderung vor Augen hat. Der vierte Gedankengang betrifft den Gegensatz einer Kunstlehre, die
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sich nur um die formalen Mittel der Rede kümmert, und einer solchen, die sich von dem Seelenzustand der Hörer genaue Rechenschaft zu geben weiß und eine diesem Seelenzustand angemessene Rede hervorbringt. Auch dafür darf man wohl die Wurzel schon im ersten Dialogteil suchen. Denn es ist schwerlich ohne Zusammenhang mit dem hier Erörterten, wenn Sokrates dort seiner ersten Rede eine scharfe Analyse des „Falles" vorausschickt, wo denn Altersstufe, Schönheit, Anziehungskraft des jungen Menschen, das schmeichlerische, hinterhältige Wesen des Älteren und der Moment ihrer Begegnung genau festgelegt werden. Diese vier Gedankengänge läßt Piaton nicht wie in einer Abhandlung aufeinanderfolgen, sondern er verschlingt sie miteinander derart, daß der dritte und der vierte die Mitte bilden, der zweite zweigeteilt sie wie einen Kern einschließt, und der erste gleichfalls zweigeteilt als eine äußere Schale dieses Ganze umhüllt. Der kunstvolle, konzentrische Bau bringt Dialektik und Psychologie in die Mitte — nicht als Einzeldisziplinen, sondern als die Höhe des philosophischen Forschens — und läßt diese zentralen Erörterungen umgeben sein von den allgemeinen Fragen über das Verhältnis von Redekunst und Philosophie. Das erste Problem, das vom Werte des Schreibens, wird durch II l a. Phaidros gestellt, der an der enthusiastischen Improvisation d e s 2 5 7 ® - 2 5 Sokrates die Fähigkeiten seines Lysias zu messen sich nicht enthalten kann und sich nun entsinnt, daß eben diesen „einer von den Politikern" kürzlich mit dem Scheltwort „Redenschreiber" (λογογράφοξ) belegt habe. Da werden wir also, wie schon gesagt, in die Kämpfe der Zeit hineingezogen, und Sokrates nimmt zunächst, statt in die eigentlich platonischen Tiefen zu führen, für den Angegriffenen Partei, indem er auf eine andere Art des „Redenschreibens" hinweist, die doch gerade bei den Politikern hoch in Ehren steht: das Abfassen und Einbringen von Gesetzen 23 ). Ein Bück auf die berühmtesten Gesetzgeber Griechenlands und Persiens beweist, daß das „Redenschreiben" an sich nichts Unedles ist; auf das Wie kommt es an, ob gut oder schlecht. Nachdem diese Entscheidungsfrage gestellt ist, weitet sich für einen Moment der Umblick: Schriften mögen für die Öffentlichkeit bestimmt sein oder für einen privaten Kreis, sie mögen Dichtung sein oder Prosa. Es wäre mehr als seltsam, wenn Piaton hier nicht unter anderm seine eigene Dialogdichtung — in der Ferne vielleicht sogar seine
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Gesetze — im Blick hätte. So wird schon hier, und erst recht später, die viel größere Tiefe deutlich, in die Sokrates die Erörterungen des politischen Tageskampfes tragen wird. Durch die Frage nach dem Wie bahnt er sich für jetzt den Weg zu den anderen Problemen. II 2 a. Das erste Problem wurde mehr beiseite geschoben als erörtert. 258 D—262 C D o r t w o nun die Dinge fester angegriffen werden sollen, am Beginn der zweiten Erörterung, steht das Märchen von den Zikaden, die aus Menschen voll musischer Leidenschaft in diese neue Gestalt verwandelt worden seien, immer singend, ohne Speise und Trank zu bedürfen. Es mahnt zu unermüdlichem Gespräch, und die Namen der Musen klingen an vieles Hohe an, wovon die Rede gewesen ist, zuhöchst der Name Urania. Durch dieses Spiel und diese ernste Forderung aufmerksam gemacht hören wir den Sokrates die zweite Frage stellen: ob für das Gelingen der Rede das Wissen des Wahren im Geiste des Redners vorauszusetzen sei (259 E). Es ist Piatons Entscheidungsfrage an die Rhetorik. Als solche war sie schon im Gorgias gestellt worden, und Gorgias hatte dort, von Sokrates gedrängt, für seine Kunst auf das echte Wissen vom Gerechten und Ungerechten verzichtet und sich mit ungefährer Meinung begnügt (455 A), hatte freilich gerade damit dem Sokrates die Schwäche seiner Stellung enthüllt. Ähnlich hat hier Phaidros sagen hören, es sei für den werdenden Rhetor nicht nötig, das wesenhaft Gerechte, Gute oder Schöne zu wissen, sondern es genüge das, was der Menge so scheine. Und auch die Bekämpfung dieser These erinnert mannigfach an den Gorgias. Sokrates gebraucht zuerst ein argumentum ad hominen: wenn der Redekünstler von Gut und Schlecht kein Wissen habe, sondern der Menge beibringe Schlechtes statt Gutes zu tun, so werde er böse Früchte ernten (260 CD). Das ist, wenn auch verhüllt, der Gedanke aus dem Gorgias (519 Β ff.): wenn das Volk sich gegen die Redner-Politiker aufsässig zeige, so liege die Schuld bei ihnen selbst, da solche Aufsässigkeit doch nur das Ergebnis schlechter Erziehung sei. Zu zweit aber läßt Sokrates hier eine Erörterung folgen, die dazu bestimmt ist, die Rhetorik aus ihrem Anspruch zu stürzen oder — in der eigentümlichen Paradoxie des PhaidrosDialoges — sie zur Philosophie zu erheben. Wenn nämlich Rhetorik sich darauf zurückziehe, daß sie nur „Kunst der Worte" sei, während man Erkenntnis von Gut und Böse anderswo lernen müsse, so verzichte sie auf die Würde einer „Kunst" und gebe
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sich damit zufrieden, „kunstlose Übung" (άτεχυος τριβή) zu sein. Denn zum Begriff der „Kunst" gehört, daß sie das Wesen erfasse (αληθείας ήφθαι). Die abschätzige Einordnung der Rhetorik in die „Schmeichelkünste" kommt aus dem Oorgias in die Erinnerung. Denn auch dort wurde die Rhetorik aus dem Bereich der „Kunst" ausgeschlossen und zu einer bloßen Übung (ού τέχνη άλλ' Ιμπειρία καΐ τριβή 463 Β). Damit aber tritt an die Stelle der Rhetorik, die sich ihres Anspruchs auf Wahrheit oder Sachhaltigkeit selbst begeben hat, die Philosophie, die eben diesen Anspruch erhebt und zwar erhebt als die Voraussetzung jedes ernsthaften Sprechens über etwas 24 ). Denn Rhetorik ist „Seelenleitung durch das Mittel von Worten" (ψυχαγωγία διά λόγων 261 AB). Solche Seelenführung kann Seelenverführung sein,wennder Redner vor Gericht Gerecht als Ungerecht oder in der politischen Versammlung Gut als Schlecht oder umgekehrt erscheinen läßt. Wie vorher auf die Bezirke des Rechts und der Politik, der Öffentlichkeit also, die „privaten Kreise" folgten (ίν Ιδίοις 261 A 9), so wird jetzt von Gericht und politischer Versammlung der Schritt zur Philosophie, zur Dialektik gemacht. Hier nun scheint ein (nicht leicht verständlicher) Blick auf den Parmenides-Dialog zu fallen. Wer ist der „eleatische Palamedes" (261 D 6), der dasselbe als gleich und ungleich, als eins und vieles, als bleibend und sich bewegend nachweist ? Seit der Antike hat man dieses Rätsel auf Zenon gedeutet und hier die drohende Eristik bekämpft gesehen25). Tut man das, so übersieht man, in wie hohen Ehren der mythische Palamedes als Erfinder und dazu als ungerecht zum Tode Verurteilter bei Piaton steht. Am Schluß der Apologie (40 B) hofft Sokrates, im Jenseits dem Palamedes oder dem Aias zu begegnen, die beide durch ungerechtes Gericht ums Leben gebracht worden sind. Im Staat (VII522 D) wird Palamedes als Erfinder der Zahl gerühmt, ohne die Agamemnon nicht hätte Heerführer sein können. Politische Leitung also, soll man darin hören, ist gegründet auf — Mathematik. Und noch in den Gesetzen (III 677 D) sind Daidalos, Orpheus und Palamedes die großen Erfinder der Urzeit. Hätte wirklich Piaton hier im Phaidros den Zenon zu diesen ursprünglichen Entdeckernaturen gezählt, Zenon, von dem ein antikes Urteil mit Recht sagt, er sei kein eigenständiger Denker, sondern er habe nur die Gedanken des Parmenides weiter verfolgt25) ? Ganz ähnlich läßt Piaton im Par-
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memdetf-Dialog den Sokrates urteilen: Zenon habe in seiner Schrift dasselbe gesagt wie Parmenides, und nur durch den Wechsel der Form versuche er den täuschenden Eindruck zu machen, als sage er etwas Eignes. Danach also ist Zenon genau das Gegenteil eines ursprunghaften Erfinders, eines Palamedes. Ist es nicht wahrscheinlicher, daß mit dem „eleatischen Palamedes" der Eleat Parmenides gemeint ist ? Dafür wäre sogar der Anklang der beiden Namen eine Stütze, wie ja Piaton mit Namen oft — so ganz kurz vorher mit den Musennamen — sein ernstes Spiel treibt. Dann also will er auf den zweiten, dialektischen Teil seines Parmemcfes-Dialogs hindeuten. Dort demonstriert ja Parmenides: wenn das Eine ist, so ist es gleich und ungleich zugleich (158 E), es ist unendlich und hat Teil am Endlichen (158 D. 143 A), es bewegt sich und steht zugleich still (145 E). Nicht als eristische Kunststücke sind diese Paradoxien dort gemeint — wie sie in der Schrift des Zenon wohl erscheinen konnten (127 Ε ff.) — sondern als ernste Schritte der Dialektik. Eristische Rhetorik also — das ist hier im Phaidros gemeint, und dafür wird auf den Parmenides verwiesen — wird von ernster Dialektik überhöht, so ähnlich beide in Momenten aussehen mögen. Die Problematik des Kleinen Hippias vom wissentlich Täuschenden steht im Hintergrunde27). Aber sie hat sich ausgewachsen zu zwei Grundsystemen sprachlicher Äußerung, die doch wiederum nicht als gleichberechtigte Mächte einander gegenüberstehen. Vielmehr ist es im Wesen der Rhetorik angelegt, daß sie zur Philosophie werden muß, wenn sie nicht darauf verzichten will, ernsthafte Kunstübung zu sein. Damit ist in erstaunlicher Paradoxie das Entscheidende gesagt, das nachher noch in seine Konsequenzen verfolgt werden wird (II 2 b). Für jetzt aber wird die Frage dringend, wie denn dieses Zur-Philosophie-werden genau zu verstehen sei. Damit ordnet sich der dritte und der vierte Gedanke, den wir vorher herausstellten, in die Betrachtung ein. II 3. Zufällig trifft es sich, sagt Sokrates — indem er es uns überläßt, 262 C—267 Ε über diesen „lächerlichen Zufall" unsere eigenen Gedanken zu haben28) —, daß die vorher besprochenen Reden Beispiele für die zu gewinnende Einsicht bieten. Da ist vorerst zu beobachten: obgleich sie über einen so vieldeutigen Gegenstand wie die Liebe gingen, hatte doch im Gegensatz zu Sokrates Lysias versäumt, dieses Unbestimmte begrifflich festzulegen. Das ist Rhetorenart,
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wie sie überall im politischen Leben geübt wird. Der wahre Redner aber muß uns zwingen, gerade über solche Begriffe klar zu werden, über die wir mit anderen, ja mit uns selbst, nicht im Einverständnis sind, Begriffe wie „Gerecht und Gut", während wir doch unter „Eisen oder Silber" alle dasselbe verstehen. Hier dachte Piaton an einen kritischen Moment in seinem Alkibiades (111 Β ff.) zurück, da Sokrates dem jungen Menschen klar macht: die Menschen sind sich einig über das, was sie unter „Stein oder Holz" verstehen, aber über „Gerecht und Ungerecht" geraten sie in Konflikt. Über „Gerecht und Ungerecht" kann Alkibiades keine Rechenschaft geben, hat nie etwas darüber gelernt und trifft hier auf den Lehrer, der dem werdenden Politiker das „Wahnsinnige" seines Beginnens klar macht: daß er sich auf die Politik stürzt, ehe er Unterricht in Semantik und Ethik genommen hat. Diesen kritischen Moment muß man im Hintergrunde sehen, um hier im Phaidros die Forderung erst ganz verstehen zu können: der Anfanger in der Redekunst müsse scharfe Begriffsgliederung (Diairesis) lernen gerade bei solchen Gattungen oder Arten, bei denen die Menge ins Irren gerät. So erfaßt man, wie es auch hier um Semantik und damit zugleich um Ethik geht, wenn Lysias wegen seines Mangels an Begriffsklarheit getadelt wird. Der wahre Redner — das ist Lysias also nicht — müßte uns in solchem Falle „zwingen, die Liebe als ein Bestimmtes unter den seienden Dingen aufzufassen und dann mit dem Blick auf dieses die ganze spätere Rede zu komponieren" (263 DE). Daran schließt sich die Vorschrift über den Bau der Rede, die keine beliebig auswechselbare Anreihung der Elemente vertrage, sondern wie ein gegliedertes Lebewesen organisiert sein müsse. Wie das zu verstehen sei, lehrt der Vergleich zwischen den beiden SokratesReden noch deutlicher. Die beiden Reden erfaßten je eine „Form" der Mania, die menschliche Krankheit und die göttliche Ekstase, gliederten also das Gesamtgebiet zweifach, und dann wieder gliederte die zweite Sokrates-Rede den göttlichen Wahnsinn in vier Arten, als dessen letzte und „beste" der Liebeswahnsinn erschien. Jetzt wird aber aus diesen wie zufällig (έκ τύχης) an den Musterbeispielen abgelesenen Regeln die systematische Konsequenz gezogen (την δύναμιν τέχνη λαβείν). Man muß „auf e i n e Sicht, sichtbare Gestalt, in der Zusammenschau zurückführen das vielfach Zerstreute" (eis μίαν Ιδέαν σννορώντα aye ι ν τά πολλαχτ}
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διεστταρμένα), und man muß wiederum „form-entsprechend zu zerschneiden fähig sein, das heißt entsprechend den Gelenken und dem natürlichen Wuchs" (κατ' εϊδη δύνασθαι διατέμνειν, κατ' άρθρο ή ττέφυκευ). Sokrates selbst macht es deutlich genug, daß damit etwas aufgewiesen wird weit hinaus über den nur praktischen Gebrauch des Rhetors: Gliederung und Zusammenfassung machen das Sprechen und Denken möglich, Gliederung in Vieles und Zusammenfassung in Eines je nach dem natürlichen Wuchs. Wer dies vermag, wird ein göttlicher Wegbereiter, dessen Spuren Sokrates zu folgen vorgibt (266 Β 6) — da er doch selber dieser Wegbereiter ist. Hatte sich vorher im zweiten Abschnitt dieses zweiten Dialogteils (II 2 a) die Rhetorik zur Philosophie erhoben, waren dann im dritten Abschnitt (II 3) Semantik und Ethik als Sondergebiete der Philosophie sichtbar geworden, so zeichnet sich jetzt als Aufgabe des Philosophen Ontologie und Dialektik ab, Idea und Eidos, „Gliederung und Zusammenfassimg". Und alles, was die Rhetoren in ihren Büchern an Regeln aufstellen und an Kunstwörtern verwenden (266 D— 267 D), wird demgegenüber sehr von oben herab behandelt. Nun sind diese gehäuften Mittel rhetorischer Technik, wie sie zu den großen und einfachen Aufgaben des Dialektikers das kleinliche und gekräuselte Gegenbild abgeben, gleichzeitig der Übergang zu etwas Neuem. Die Rhetoren haben diese Lehre von den technischen Mitteln raffiniert durchgebildet. Das Beispiel des Arztes, II 4. des Dichters, desMusikers aber zeigt, daß alle technische Ausbildung 268 A—272 Β lächerlich ist, wenn man nicht weiß, an wem und wann und in welchem Maße diese technischen Mittel zu verwenden sind. Um in einem dieser Bereiche wirklich Kenner zu sein, muß man über die vor der Harmonik, vor der tragischen Dichtung, vor der ärztlichen Kunst liegenden Kenntnisse verfügen29). Ebenso steht es mit der Rhetorik. In ihr kann die Höhe nur erreichen, wer erstens natürliche Begabung hat, wer zweitens in der Dialektik Bescheid weiß, um begrifflich zu bestimmen, „was Rhetorik ist" (269 Β 6) — wir haben ja in dem vorigen Abschnitt (II 3) die Dialektik zu Gesicht bekommen — und wer drittens über die vor der Rhetorik liegenden Wissenschaften verfügt (B 7. 8). Was damit gemeint ist, lehrt der Blick auf Perikles als das Muster des vollkommenen Redners. Perikles, der hochbegabte, ist durch den Umgang mit Anaxagoras zum Wissen über die Gesamtnatur und damit zum Wissen um Geist
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und Ungeist gelangt. Denn alle Künste oder Wissenschaften hohen Ranges müssen Anteil haben an dem Studium „über Wuchs und Wesen", an dem Problemgebiet der Naturphilosophie 30 ). Darin treffen sich so entfernte Wissensgebiete wie die ärztliche und die rednerische Kunst, und man merkt, wie hoch Piatons Schätzung der politischen Rhetorik seit dem Gorgias gestiegen ist, da Perikles und Hippokrates jetzt auf derselben Stufe stehen. Die ärztliche Kunst studiert und zergliedert den Leib, die Rhetorik die Seele; mit Heilmitteln und Nahrungsmitteln arbeitet die eine, mit Regeln und Gesetzeswerk die andere; jene wirkt Gesundheit und Kraft, diese wirkt „Überredung (Überzeugung) und Tugend". Im einzelnen muß erstens das Wesen der Seele, ob sie ein Eines ist oder vielgestaltig, untersucht werden — man denkt zurück an die zweite Eros-Rede des Sokrates —, zweitens die Wirkung, die die Seele ausübt und die sie erfährt, drittens das Zusammenwirken bestimmter Arten der Rede mit bestimmten Verfassungsweisen der Seele. War im vorigen Abschnitt (II 3) die Dialektik in den Blick getreten, so erweist sich jetzt als philosophische Aufgabe die Schaffung einer „beschreibenden und zergliedernden Psychologie", gegründet auf eine allumfassende Naturwissenschaft und gerichtet auf die praktische Arbeit der Rhetorik. Es ist eine gewaltige Leistung, die Piaton hier fordert und vorausschauend in ein System möglicher und für seine Aufgabe notwendiger Wissenschaften einordnet. Aber man würde die sokratische Ironie überhören, wenn man dem Piaton völlig glauben wollte, daß sein Absehen auf die Erziehung des Rhetors gerichtet sei, anstatt auf Erziehung überhaupt, anstatt auf Philosophie. Gerade die Größe dieser Aufgabe läßt die Frage dringlich werden, I I 2 b. ob es denn keinen kürzeren Weg gibt, und läßt es noch einmal mit 2 7 2 B — 2 7 4 A der Möglichkeit versuchen, daß der Rhetor es mit der Wahrheit über Gerecht und Ungerecht und — wie jetzt nach den letzten Erörterungen erweiternd gesagt wird — über gerechte und ungerechte Menschen vielleicht gar nicht zu tun habe, sondern mit der „Wahrscheinlichkeit" (εικός), ein in der rhetorischen Theorie und Praxis verbreiteter Leitsatz, mehr als das: eine Grundhaltung zu den Dingen, für die hier auf den Namen des sizilischen Redelehrers Teisias, d. h. auf das erste Lehrbuch der Rhetorik, verwiesen wird 31 ). Aber gegen „Teisias", also gegen jene Grundhaltung, ist schon vorher, als das Problem zuerst auftauchte, entschieden
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worden (II 2 a). Denn was jetzt „Wahrscheinlichkeit" genannt wird, ist doch eben wahr-scheinlich durch seine Ähnlichkeit mit dem Wahren, fordert also Wissen des Wahren, d. h. Philosophie, deren Aufgaben, seitdem dies vorher festgestellt wurde, deutlicher erkannt sind und jetzt abermals eingeschärft werden: die psychologische und die dialektische. Nun aber zeigt sich, warum die Grundfrage nach der Beziehung von Philosophie und Rhetorik von neuem auftaucht, nachdem sie doch vorher schon entschieden worden war. Das bisher Gesagte konnte noch so gedeutet werden, als wäre hier nur ein tieferes und festeres Fundament für den Hochbau der Redekunst errichtet. Jetzt aber haben wir in das, was die beiden eigentlich sind, Einsicht genug erreicht, so daß es ein absurdes Mißverhältnis wäre, wenn man Philosophie noch immer zum Mittel für den Zweck der Rhetorik machte. Vielmehr haben Mittel und Zweck den Rang getauscht. Reden und Handeln kann man nun nicht mehr auf den Menschen abstellen, sondern nur auf die Götter, nicht auf die „Mitsklaven", sondern auf die guten „Herren", wie es anklingend an orphisch-pythagoreischeWorte des Phaidon (62 B) hier heißt32). Und die große „Periodos", von der dann scherzend rätselnd Sokrates spricht, ist nun nicht mehr allein der Weg durch jene Erkenntnisse, sondern zielt hinein in den kosmischen Mythos von der Seele. Dort kehrt das Bild vom „Kreislauf" der Seele immer wieder (247 D. 248 C. 249 A), wie auch im Schlußmythos des Staates und im Timaios. II 1 b. Damit ist der Ausblick weit genug genommen, um zu der ersten 274A—278 Β Frage, über das Verhältnis von Rede und Schrift, zurücklenken zu können, die damals auf der niedrigeren Stufe der Rhetorenerörterung liegengeblieben war. Auch sie wird zuletzt in die Höhe sokratischer Problematik erhoben33). Die ägyptische Fabel von Theut, dem Erfinder der Schrift, und dem guten König Ammon, der das Bedenkliche an der neuen Erfindung sieht, macht den Anfang und legt schon den Grund für die Antwort. Die Gefahren und Mängel des geschriebenen Wortes werden herausgestellt —zwei berühmte Stellen der platonischen Briefe klingen wörtlich an (II 314 C. VII. 341 Β ff.) —, und der Lehrschrift gegenüber tritt der mündliche Logos, der in die Seele des Lernenden geschrieben wird, der lebende und beseelte, von dem das Buch nur ein Abbild ist. Alles was früher über die Aufgaben der Philosophie erfaßt worden war, verbindet sich jetzt, um das lebendige philosophische
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Gespräch, das erziehende und weiterzeugende, als die höchste Form menschlicher Rede zu bestimmen. Die Sätze des Schlusses sagen, es komme nun darauf an, daß Schluß Phaidros dem von ihm geliebten Lysias und Sokrates dem von ihm 278 B—279 C geliebten Isokrates das hier Gesprochene vermittle und sie zur Nachfolge aufrufe. Wie das philosophische Gespräch liebend und lebendig fortgetragen sich verbreite, das wird hier, noch von aller Einzelwirklichkeit abgesehen, im Wunschbilde deutlich. Näher betrachtet ist es die Rhetorik, der die Philosophie den Weg zu der eigenen Höhe zeigen will. Das war Piatons Bemühen durch den ganzen Dialog hindurch. Nun müßte freilich die Ironie des Sokrates ein Kleid sein, das er beliebig ablegen kann, wenn man diese Aufforderung an die beiden genannten Redemeister im vollen Ernst gesprochen denken müßte 34 ). Mochte auch Piaton — anders als bei Lysias — ein „gewisses philosophisches Streben" in dem Geist des Isokrates anerkennen und dessen einflußreiche Schule als ein Lehrsystem von Rang — freilich von zweitem Range — gelten lassen 35 ): daß dem Rufe, der an ihre Namen hier ergeht, weder Lysias noch Isokrates gefolgt ist, darüber war kein Augenblick des Schwankens möglich. Das Gebet, das Sokrates zum Schlüsse des Ganzen an Pan und die anderen Götter des Ortes richtet, weckt nach so langen Erörterungen noch einmal die Naturnähe der ersten Dialoghälfte. Die Bitte um Schönheit, Schönheit des Innern, wird von dem häßlichen Sokrates an Pan gerichtet, dessen Bildern er ähnlich sieht. Denn wenn er den Satyrn und Silenen ähnelt (Symp. 215 AB), dann auch dem Pan. Vielleicht darf man auch daran denken, daß in dem Etymologiengeschwirr des Kratylos (408 D) der Name Pan gedeutet wird als „der Alles zeigende", der dort als Sohn des Hermes „entweder Logos oder Bruder des Logos" ist. Die Bitte um Schönheit erfüllt sich mit philosophischem Sinn, wenn man sie gesprochen hört und nachspricht in dem Gedanken an die zweite SokratesRede: nämlich an die Ewigkeit der Seele; an den besonderen Rang, den das Eidos der Schönheit für den Menschen hat; an den Bezug der Seele auf dieses Eidos, welchen man Liebe nennt. Die Bitte um „Freundschaft" zwischen Äußerem und Innerem sucht den Kampf, wie ihn der Mythos von den beiden Seelenrossen verbildlicht, aufzuheben in jene Wohlgefügtheit, die selbst Piaton immer von neuem erringen muß und doch nur als Gnadengeschenk von den
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Göttern zu empfangen sich bewußt ist. Zuletzt wird der so natürlichen Bitte um Reichtum — nachdem schon Solon in seiner Musenelegie sie geadelt hatte — nicht ihr Recht, wohl aber ihr Eigenrecht genommen: das, was dem Menschen gehört, wird untergeordnet dem Menschen selbst (Alkib. 131 Α ff.) und empfangt Wert und Grenze durch Weisheit und inneres Maß. „Auch für mich bete dies mit", sagt Phaidros; „denn gemeinsam ist, was den Freunden gehört." Das Gebet, die Philosophie, die Liebe: sie gehören in besonders ausgezeichnetem Sinne jenem Zwischenreich an, in das Diotima den Blick eröffnet38). — Seit der Antike hat man darüber gestritten, welches denn das Thema des Phaidros eigentlich sei. Im Kommentar des Neuplatonikers Hermias heißt es: einige bestimmen das Ziel des Dialoges als die Liebe, andere als die Rhetorik, wieder andere als das Gute oder das höchste Schöne37). Und in neuerer Zeit (1834) schreibt Grillparzer: „Welches das eigentliche Hauptthema von Piatons Phädrus sei, ist vielfaltig gestritten worden. Die einen überschreiben es: Vom Schönen, die andern: Über die Redekunst; Schleiermacher endlich meint: vor allem gelte es der Dialektik. Wie gezwungen diese Unterlegungen sind, sieht wohl jedermann . . ."3S). Kein anderer Dialog Piatons muß sich so verschiedene Interpretationen gefallen lassen, keiner auch ein Urteil, das wie ein Verzicht auf die Lösung dieses Knotens klingt: der Phaidros sei in der Komposition „verfehlt" (Norden)39). Gerade der Phaidros! Nicht das Thema, wohl aber das Vordergrundsthema des Phaidros ist die Rhetorik40). Denn im ersten Teil des Dialoges reiht Piaton rhetorische Musterstücke aneinander, um sie dann im zweiten Teil an rhetorischer Theorie zu prüfen und diese wiederum an jenen erwachsen zu lassen. Als Musterbeispiele bezeichnet Sokrates sie ausdrücklich (262 CD. 264 E) — Grund genug ihm zu mißtrauen, auch wenn er nicht die gleichfalls sehr ironische Bemerkung machte, daß sie „zufällig" zur Hand seien (265 C9). Sie sind Musterbeispiele der Redekunst und müssen doch noch ganz etwas anderes sein, wenn inmitten der dritten Rede in ekstatischem Aufschwung der Blick frei wird auf das wahre Wesen des Eros, auf den Kosmos, auf die ewigen Formen und auf das kosmische Schicksal der Seele. Aus der theoretischen Erörterung über die Redekunst erhebt sich dann im zweiten Teil des Dialoges die Forderung einer philo-
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sophischen Dialektik und einer philosophischen Seelenlehre und erweist sich das philosophische Gespräch als die höchste Form menschlichen Sprechens. Aber das philosophische Gespräch wird ja nicht nur gefordert, sondern in diesem Dialoge selbst verwirklicht. So erkennt man, wie in dem liebenden Miteinander von Sokrates und Phaidros — persönlich gesprochen — und in dem ekstatischen Aufschwung und dem lehrenden Aufstieg zum Eidos — sachlich gesprochen •—• die geeinte Zwienatur des Ganzen beschlossen liegt, die Einheit der so entfernten Pole: Liebe und Rede. Denn Philo-sophie ist die höchste Form des Liebens und die höchste Form des Redens zugleich. Dann wird man auch nicht mehr über die Frage grübeln, wie es denn möglich sei, daß erst im Rausch der Mania und dann in der strengen Schule der Dialektik sich die Bewegung zum Eidos vollziehe41). Es sind die beiden Wege, die Piaton weiß, weil er sie erfahren hat. Mit Notwendigkeit hat er sich auf beiden bewegt. Daß es hier fast gleichzeitig und mit gleicher Energie auf beiden geschieht, das macht die besondere Spannung und den besonderen Rang dieses erstaunlichen Werkes aus.
26. SOPHISTES Ob Piaton die Verabredung auf „morgen früh", mit der er seinen Theaitet (wie ähnlich früher seinen Laches) Schloß, schon damals in einem eigenen Dialog zu erfüllen gedachte, wissen wir nicht 1 ). Später jedenfalls hat er die Möglichkeit, die in jener Ankündigung lag, ausgenutzt, indem er das Dialogpaar Sophistes und Politikos schuf 2 ). Gewiß würde er sich eine neue Formung des geistigen Raumes nicht gespart haben, hätte er nicht gerade um des Neuen willen, das er jetzt zu zeigen gedachte, den Theaitet mit seinen Gestalten, seinen Einsichten und seinen liegengelassenen Problemen in den Blick rücken müssen3). Die Frage nach der Erkenntnis und nach ihrem Gegenstand, dem Ewig-Seienden, steht auch im Hintergrunde des neuen Gespräches, wo offen nach dem Sophisten und geheim nach dem Philosophen gefragt wird, und im Hintergrunde des Gesprächsraumes steht Sokrates, der der Philosoph und das Gegenbild des Sophisten ist. Theodoros, der Mathematiker, leitet die Unterredung ein, und ohne selber an dem forschenden Gespräch teilzunehmen, stellt er, wo es sich um die Frage nach dem Sein und dem Nichtsein handelt, die mathematische Existenz dar. Theaitet ist nicht zufällig Gesprächspartner in dem Dialog, der die Methode der „Einteilungen" betreibt •— und übertreibt. Denn er selbst erzählt ja in dem früheren Dialog (Theait. 147 C ff.), wie er und der jüngere Sokrates, angeregt durch eine mathematische Demonstration des Theodoros, im Gespräch darauf gekommen seien, das Zahlensystem erst in zwei, dann in vier Gruppen einzuteilen und zu jeder Gruppe die zugehörige Definition zu finden. Man denke auch an die Diairesis der Seins- und Erkenntnisformen im VI ten Buch des Staates, die
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als Proportion auf eine Linie aufgetragen werden, an das Verhältnis von Diairesis und mathematischem Logos, wie der Sophistes selbst es einmal andeutet (251 A), und an den Zusammenhang von Zahlensystem und diairetischem Schema überhaupt, um zu begreifen, was die Teilnahme der Mathematiker gerade an diesem Gespräch — wie später am Politikos — bedeutet 4 ). Ist also der Sophistes durch die Gegenwart der Mathematiker mit dem Theaitet verbunden, so durch die des „Eleatischen Gastes" mit dem Parmenides6). Dort waren es Parmenides und Zenon selbst, die aus Elea nach Athen kamen. Das war im Sophistes chronologisch unmöglich, wenn Theodoros und Theaitet Gesprächsteilnehmer sein sollten. An Stelle der berühmten Eleaten mußte also ein namenloser „Gast aus Elea" treten, der zur Parmenideischen Schule gehört. Ganz allein zwischen ihm und dem jungen Theaitet wird das Gespräch hin und her gehen. Diese Gesprächstechnik ist im Grunde die im zweiten, dialektischen Teil des Parmenides geübte, auf die Sokrates sich deutlich beruft, als er es hier im Sophistes (217 C) dem Eleaten überläßt, ob er sich in zusammenhängendem Vortrag äußern wolle oder im Wechsel von Frage und Antwort. In solchem Wechselgespräch gehe es leichter, entscheidet der Eleat, stellt aber dabei die Bedingung, daß der Antwortende „sich gut im Zügel halte". Im Parmenides-Oialog war der zusammenhängende Vortrag noch nicht als Möglichkeit erschienen, aber Parmenides forderte dort ganz so wie hier der Eleat, daß der Antwortende keine Schwierigkeiten mache. Vielleicht ist es richtig, daß diese neue Spielart des Dialogs „dem tatsächlichen Lehrbetrieb" entnommen ist, in dem sie die Bedeutung habe, „sich jeden Augenblick über das Verständnis des Mitunterredners zu vergewissern" (Stenzel)®) — wenn auch die Frage bleiben mag, ob Piaton sich durchaus fügsame Schüler gewünscht oder gewählt hat. (Der junge Aristoteles aus Stageira war gewiß nicht von dieser Art, und der allzu fügsame junge Aristoteles des Parmenides-Dialoges wurde später einer der Dreißig Tyrannen!) Auf jeden Fall übersehe man das Wichtigere nicht, daß zwar die dialektische Spannung zwischen dem Eleaten und seinem Partner fast auf Null sinkt, daß aber dafür eine neue von diesem fast spannungslosen Gespräch zu dem stumm zuhörenden Sokrates hinübergeht, die man sich immer wieder bewußt machen muß, wenn man den Dialog in Piatons Sinne, d. h. wenn F r i e d l ä n d e r , Piaton III
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man ihn als Dialog und nicht als Lehrschrift lesen will7). Auch darin also stimmt der Sophistes—und, wie sich versteht, der Politikos — m i t dem zweiten, dialektischen Teil des Parmenides überein, nur daß Sokrates jetzt nicht als junger Mensch, sondern als Siebzigjähriger schweigend zuhört. Die dialektische Spannung wird so gewiß nur noch stärker, die Spannung zwischen dem sophistischen Dasein, nach dem derEleat fragt, und der philosophischen Existenz, die Sokrates wie kein anderer vertritt. Sokrates hat für die Unterredung, über die der Sophistes berichten wird, am Schlüsse des Theaitet Ort und Stunde festgelegt: „Jetzt muß ich in die Königshalle gehen, um mich gegen die Anklage des Meietos zu verantworten. Morgen früh wollen wir uns hier an demselben Ort wieder treffen." Also nicht nur ein Abstand von so und so vielen Stunden liegt zwischen den beiden Gesprächen, sondern ein über Sokrates' Leben oder Tod entscheidendes Ereignis. Undenkbar, daß Piaton dies nicht im Sinne gehabt hätte, als er den Anfang des Sophistes an das Ende des Theaitet anschloß; schwer denkbar, daß er seine Leser nicht hätte daran erinnern wollen. Sollte ein Hinweis in den ersten Sätzen des Sophistes zu finden sein, nicht leicht verständlichen Sätzen, mit denen Sokrates die einführenden Worte des Theodoros beantwortet ? Theodoros hat seinen Begleiter vorgestellt, einen „Gastfreund" — das konventionelle Übersetzungswort für den unübersetzbaren ξένος — , der aus dem fernen Elea nach Athen gekommen ist. Sokrates antwortet in zwei kurzen, gedrängten Reden, die mit homerischen Wortklängen reich bedacht sind8), und auf Homer weist er selbst ausdrücklich, da er fragt, ob Theodoros statt eines „Gastfreundes" etwa einen Gott an seiner Seite habe. In der Odyssee9) erscheint Athene als Gast aus der Fremde, um dann als Göttin erkannt zu werden, da sie plötzlich in Vogelgestalt verschwindet. Die Frage, die sich unter den jugendlichen Freiern erhebt, ob der heimgekehrte, in seiner Heimat unbekannte Odysseus nicht etwa ein Gott sei, ist das genaue Vorbild für die Frage, die Sokrates an Theodoros stellt. Die ethische Überzeugung, daß Zeus, der Beschützer der Fremden, auf Vergehungen und Rechtlichkeiten der Menschen hinabschaue, erklingt zweimal in der Odyssee. Was soll das alles hier im Munde des Sokrates und gar am Anfang des Gesprächs über das Wesen des Sophisten ? Bei der Frage, ob der
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Gast nicht etwa ein Gott sei, kann man gar nicht anders als an den Kampf gegen Homer im I l t e n Buche des Staates zurückdenken. Denn dort (381 D) übt Sokrates seine Kritik genau an dem homerischen Motiv von den in der Gestalt fremder Männer erscheinenden Göttern und zitiert dieselben Verse wie hier im Sophistes, um gegen Homer auf der Überzeugung zu bestehen: ein Gott wechselt seine Gestalt nicht. Also von Ironie durchdrungen ist Sokrates' Frage 10 ). Aber um so unerschütterlicher ist dann der Ernst in der gleich folgenden Überzeugung: der Gott, in dessen Schutz die Fremden stehen, schaut hinab auf Rechtsverletzungen und Rechtlichkeit der Menschen. Ist es zuviel, wenn man bei diesen homerischen Worten, bei diesem homerischen Bilde eben daran denkt, daß Sokrates sich am Tage vorher in der Königshalle hat verantworten müssen ? In der Anklageschrift hieß es, wie damals jeder wußte: „Sokrates hält die Götter des Staates nicht in Ehren sondern dämonische Wesen neuer Art" (Apol. 24 BC). Und nun ist es derselbe Sokrates, der im tiefsten Ernst dem Zeus als „prüfendem und überführendem Gott" das Urteil über Recht und Unrecht der Menschen zuschreibt. Nicht nur in ihrer Unsinnigkeit wird die Anklageschrift getroffen, sondern vor dem Blick des höchsten Gottes weiß Sokrates sich und seine Ankläger stehend. So wird man sich fragen müssen, ob die kritische Gegenwart des Mannes, der gestern vor Gericht gestanden hat und bald seinem Todesurteil standhalten wird, nicht den Gesprächen, die nun folgen, einen tiefen Hintersinn gibt: der Suche nach dem „Sophisten" und nach dem „staatlichen Menschen". Der Theaitet hatte gewisse Fragen aufgeworfen und vor erreichtem Ziel liegengelassen. Erstens hatte er, um die Erkenntnis zu fassen, nach dem Irrtum gefragt. Er hatte Irrtümer verständlich gemacht, aber nicht den Irrtum, und so war die Frage nach Irrtum, und damit nach Erkenntnis schließlich in der Aporie gestrandet. Zweitens hatte er „sich mit Heraklit auseinandergesetzt", d. h. er hatte dem Werden, der Veränderung den notwendigen Platz in seiner Welt angewiesen. Er hatte die „Auseinandersetzung mit Parmenides" ausdrücklich bei Seite gelassen um der Oekonomie des Ganzen willen 11 ). Die beiden Fäden aber, die so liegen blieben, gehörten sie vielleicht zusammen ? Anders gesprochen: war die Frage nach dem Irrtum und nach der Wahrheit im Theaitet darum nicht zum Ziel gekommen, weil dort die Auseinandersetzung mit 15·
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Parmenides fehlte ? Indem dieser große Vorgänger Sein und Erkennen in eins setzte, hatte er den Weg zur Erkenntnis des Seins freigemacht. Aber indem er allem außerhalb des Einen die Wirklichkeit abstritt, hatte er den Weg doch wieder versperrt, wie seine eristische Nachfolge lehrte. So war die Auseinandersetzung mit dem parmenideischen Sein notwendig für die Antwort auf jene im Theaitet gestellte Frage. Der Parmenides-Dialog hatte diese Auseinandersetzung ein weites Stück vorangeführt, indem erst die Metaphorik der „Ideenlehre" sich an der begrifflichen Strenge des Einen-Seienden messen mußte, dann die Dialektik des Einen und des Anderen in ein ebenso belehrendes wie gefährliches Zickzacksystem einging. Wenn „Wahrheit" auf das Seiende und das Sein geht, so muß Irrtum es mit dem unheimlichen Problem des Nichtseins zu tun haben. Die Frage nach Wahrheit und Irrtum aber, mochte sie auch in solch dünne Luft emporführen, war in Piatons anschauendem Geist von jeher nicht ein abstraktes Problem der Logik, sondern sie war gegründet in einem lebendigen Gegenüber, das zu seinen Grunderfahrungen gehörte, das er seit dem Protagoras nicht müde geworden war in immer neuen Formen abzubilden, das unter einem bestimmten Aspekt auch in der Episode des Theaitet sichtbar geworden war: in dem Gegenüber des Philosophen und des Sophisten12). Der Sophist zeigte im Protagoras, im Gorgias, im Euthydem und anderwärts sehr verschiedene Gesichter. Aber Piaton ließ sich nicht täuschen über die Klarheit des Gegensatzes: Aletheia und Pseudos stehen sich hier gegenüber. Und nun war es eine eigentümliche Paradoxie: gerade die Eristiker machten sich die parmenideische Bestreitung des Nichtseins und seiner Sagbarkeit zu Nutze und vernichteten damit auch die Wahrheit und das echte Reden und Sich-Unterreden, um ihr Zerrbild des echten Gespräches desto besser durchzusetzen. Sie bestritten die Möglichkeit des Pseudos (Irrtum, Lüge, Täuschung), um desto sicherer in die Irre führen zu können (Euthyd. 285 Ε ff.). Man mußte also das Wesen des Sophisten und damit des Pseudos aufklären, um gleichzeitig über die Wahrheit-Wirklichkeit und den Philosophen klarer zu sehen. Wie es keine Wahrheit gibt ohne Irrtum, so wird erst im Kampf gegen den Sophisten — vielleicht auch gegen den Sophisten in ihm selbst ? — der Philosoph recht eigentlich zum Philosophen.
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Die neue Form aber, in der der alte Kampf hier geführt wird, erklärt sich nur daraus, daß Piaton besessen war — oder wohl eher: sich besessen gab — von einem methodischen Prinzip: Diairesis. Gliedernde Einteilung, so weit getrieben, daß sie die Form dieses Dialoges samt der seines Zwillingsbruders durchaus beherrscht: das ist etwas Neues und Einziges. Gliederung überhaupt: das muß in Piatons Geist so früh vorhanden gewesen sein wie Dialektik überhaupt. Und wenn jetzt gerade der Sophist, der Politiker und damit der Philosoph Gegenstand einer solchen systematischen Ortsbestimmung werden, so läßt sich dieses Systembild bis in den Gorgias zurückverfolgen (464 Α ff.): Künste, die Wohlbefinden schaffen echte Künste leiblich:
wΛ
Schmeichelkünste
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leiblich:
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seelisch:
A
Medizin Gym- Rechts- Gesetz- Schlemmer· Putz- Rhe- Sophinastik pflege gebung küche kunst torik stik Die linke Hälfte dieses Systems kehrt im Staat wieder (oben S. 82 f.), nur daß dort an Stelle der Gesetzgebung aus erkennbarem Grunde die „Musik" tritt — beide sind ja „Nomo-thesie" —, und setzt sich in den Sophistes hinein fort mit weitergetriebener Zerspaltung: Reinigung leiblich: ärztliche Kunst
Gymnastik
seelisch: Rechtspflege
Unterricht
Fachunterricht Bildung Mahnung
Prüfung
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Mit der Prüfung (Elenktik) ist die „edelgebürtige Sophistik" (γένει γενναία σοφιστική) erreicht, d. h. die Philosophie scheint durch die gleichsam transparent gewordene Sophistik hindurch. Noch in einem anderen, dem letzten der Ordnungssysteme, mit denen unser Dialog den Sophisten einzufangen sucht, erkennt man die Diairesis des Gorgias wieder. Wir vereinfachen das, was im Sophistes durch manche Zwischenglieder bereichert ist, so daß die Verwandtschaft mit dem Gorgias sich deutlich darstellt: Menschliche schaffende Kunst der Sachen selber
der Abbilder
Nachahmung durch die', Nachahmung durch die, die die Sachen kennen die die Sachen nicht kennen ehrliche Nach- verstellte Nachahmung ahmung Politiker Philosoph
Rhetor Sophist
Hier also ist der Punkt, wo wir die Diairesis sogar in der Anwendung auf dasselbe Thema längst vor dem Sophistes greifen können. Damit ist deutlich: keineswegs neu geschaffen hat der späte Piaton diese Methode, er hat sie nur bis ins Äußerste durchgeführt und, dürfen wir sagen, schon über das Äußerste hinaus. Denn er hatte auch im Alter nicht die Ironie verlernt gegenüber Methoden, die in sich das Bestreben tragen sich selbständig zu machen, so wie er etwa in jüngeren Jahren die Begriffsspaltereien des Prodikos, die er doch nicht missen mochte, ironisch herabdrückt13). Es kann nach alledem kein Zufall sein, daß das erste große Beispiel einer durchgeführten Diairesis gerade den Sophisten — und mittelbar den Philosophen — zum Gegenstande hat. Die Frage und die Methode gehören zusammen, weil nur Diairesis in strenger Scheidung der „Gattungen" nebeneinander und in strenger Ordnung
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der Stufen übereinander die Wahrheit verbürgt und den Irrtum ausschließt. Es kann auch kein Zufall sein, daß gerade der „eleatische Gast" Diairetiker werden mußte. Die ursprünglichsten Einteilungen, Sein und Nichtsein, Erkennbarkeit und Unerkennbarkeit, sind parmenideisch. Zenon und Melissos führen die Methode weiter: hinzufügen und wegnehmen, weniger und mehr, begrenzt und unbegrenzt, Anfang und Ende. Nun haben aber jene Urgegensätze des Parmenides die zwiefache Eigentümlichkeit, daß sie einerseits grundsätzliche Verständigung allererst möglich machen, daß sie aber in ihrem starren und verknüpfungslosen Gegenüber solche Verständigung wiederum vernichten. Parmenides war es denn auch zuletzt, auf den sich die Eristik mit ihrer Bestreitung des Pseudos und des Widersprechens, mit ihrer Vernichtung alles echten Gespräches berief 14 ). Darum also muß der Eleat im diabetischen System die Fragen nach dem Wesen des Sophisten und von da fortschreitend nach dem Wesen des Irrtums beantworten, von denen zu Beginn des Dialoges Sokrates jene ausdrücklich, diese unausdrücklich stellt, und er muß sie beantworten unter den Augen des Sokrates, der das antisophistische, das philosophische Dasein, der das echte Gespräch, der den Aufstieg zum wahrhaften Sein verkörpert. Von hier aus versteht man die Frage des Sokrates erst wirklich (216 D f.): Was meint man und benennt man in Elea, wenn man Sophist, Staatsmann, Philosoph sagt ? Die S u c h e n a c h d e m S o p h i s t e n . Was geschieht nun in dem A. Gespräch zwischen dem Eleaten und Theaitet ? Wenn wir „ n a c h B — 2 3 6 1 ) dem Sophisten suchen und im Gespräch klären wollen was er eigentlich ist", so haben wir zunächst nur den „Namen", das Wort, gemeinsam, die „Sache" (ϋργον, -πραγμα) aber hat jeder für sich, es fehlt die Verständigung durch das klärende Gespräch. Aufgabe ist es, auf dem Wege durch solches Gespräch dorthin zu kommen, daß man den Gegenstand so gemeinsam habe wie vorher den Namen 15 ). Man kommt aber dorthin nicht durch Begriffsbestimmung und Definition, sondern indem man die Sache in einem diabetischen System verwandter und verschiedener Sachen zu Gesicht zu bekommen und festzulegen sucht. Das ist bei der „Angelfischerei" leicht, bei dem Sophisten schwer: solch wandelbares, schillerndes Wesen (223 C 2. 226 A 6) ist er, daß er einem immer wieder durchs Netz geht und in vielen Systemen festgelegt
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werden muß 16 ). Wenn die Fülle jener Bestimmungssysteme Überfülle zu werden droht und man in der erstaunlichsten Mischung von Spiel und Ernst mit Namensprägungen überschüttet wird, so hat man doch immer wieder die Genauigkeit zu bewundern, mit der Piaton hier Techniken beobachtet und ordnet, und die Erfindungskraft, die er auf die Bildung ihrer Namen verwendet 17 ). (Dies hat an Rabelais erinnert). Vor allem aber muß man versuchen sich deutlich zu machen, wie alles dieses sich vor dem Blick des dabeistehenden Sokrates darstellt. Jene Wandelbarkeit beruht auf dem Hinzugehören zum Reich oder Un-Reich des NichtSeienden, in dessen Dunkelheit der Sophist sich dem Zugriff entzieht (254 A). Die sokratische Erkenntnis aber ist eines und nicht vieles, ist einfach und nicht schillernd (Theait. 146 D). 218 D—221C Das Festlegen der „Angelfischerei" in einem diairetischen System ist durchaus nicht nur methodisches Beispiel, sondern im sarkastischen Spiel wird ein Gegenbild der eigentlich gesuchten Sache entworfen. Es ist ja ein sehr ironischer Zufall, daß drei Stellen dieses Systems hinterdrein Ausgangspunkte werden für drei Systeme, in denen die Sophistik angesiedelt wird: die „Jagd zu Lande" (ττεζοθηρική) für das erste, der „Tausch vermittels Geschenk, Lohn und K a u f " (μεταβλητική) für das zweite, die „Kunst des Kämpfens" (άγωυιστική) für das fünfte. Wichtig ist vor allem die grundlegende Einteilung alles Tuns in herstellendes und erwerbendes (ποιητική — κτητική). Nicht nur weil jener erste Schienenstrang, der vorläufig ungenutzt liegenbleibende, bei der Suche nach dem Sophisten in dem siebenten, letzten System zu seinem Recht kommen wird, der ganze Dialog also durch jene Zweiteilung formal zusammengehalten ist. Sondern gleich von Anfang an ist das „Herstellen" (Machen) von grundsätzlicher Bedeutung. Herstellen heißt „Nicht-Seiendes zum Sein führen" (219 B). Sofort also tritt das Nicht-Sein in die Erörterung ein, und zwar in einer Weise, daß man dessen Existenz nicht wie nachher in Frage stellt und mühsam rettet, sondern daß ein Grundphänomen des Lebens selber, das Herstellen Machen Schaffen, dieses Nicht-Sein garantiert. Man kann etwas so Einfaches wie „Machen" gar nicht verstehen ohne das Nicht-Sein. 221C- 223B E r s t e B e s t i m m u n g 1 8 ) . Die Sophistik ist Jagd auf zahme Tiere. Denn zu den zahmen Tieren stellt der freundliche Theaitet den Menschen, während der Eleat offen gelassen hatte, ob er zu diesen
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oder zu den wilden Tieren gehöre. Piaton will hier den Gegensatz anklingen lassen, der für ihn durch die Menschennatur selber geht 19 ). Die Erziehung entscheidet darüber, ob der Mensch das zahmste oder das wildeste Tier wird von allen, die die Erde trägt: so heißt es in den Gesetzen (VI 766 A). Das Mythenbild im I X t e n Buch des Staates (588 C) zeigt den Menschen als vielgestaltiges Ungetüm mit den Köpfen wilder und zahmer Tiere, und gärtnerische Aufgabe des „inneren Menschen" ist es dort, die wilden Triebe im Wachstum zu hindern, die edlen zu fördern. Derselbe Gegensatz setzt sich fort in dem Endmythos von der Seelenwanderung. Zurück zu der Begriffsbestimmung im Sophistes! Sophistik gehört also in den Bereich: Jagd auf zahme Wesen, Menschenjagd. Sophistik wird solche Jagd durch das Mittel der Überredung; links liegen bleibt Räuberei, Versklavung, Tyrannei, Krieg. Die Überredung der Sophistik wendet sich an Einzelne; links liegen bleibt Überredung, die sich an die Menge wendet: das ist die mit der Sophistik verwandte Rhetorik, die schon im Gorgias (452 Ε f.) als „Wirkerin der Überredung" erschien. Sophistik ist „Lohn erntende Kunst"; links liegen bleibt die Geschenke darbringende Jagd — sehr paradox, so sehr, daß der junge Theaitet zum ersten Mal „Ich verstehe nicht" antwortet. Der Eleat erklärt ihm das Unverständliche als eine Form der „Liebeskunst". Dabei denkt man daran, daß im Anfang des Protagoras Sokrates herkommt „von der Jagd auf Alkibiades", und daß im Symposion Diotima den Eros als „mächtigen Jäger" charakterisiert20). Spätestens jetzt ist klar, daß hier der Gegensatz, wie er durch Piatons Werk geht, sich auftut zwischen Sokrates und den Sophisten. Daß sie sich bezahlen lassen, dieser ständige Vorwurf wird hier noch einmal in seinem Sinn deutlich: sie täten es nicht, wenn der Dämon sie triebe — wie er den schweigend dabeistehenden Sokrates treibt. Lohn erntende Menschenjagd teilt sich wieder in eine Schmeichelkunst oder versüßende Kunst (κολακική, ήδυντική) — man möchte verdeutlichen: die Kunst des Konditors — und eine andere, die Anspruch erhebt Arete zu lehren. Im Gorgias war die Rhetorik eine Schmeichelkunst neben anderen, hier ist sie mit der Schmeichelkunst verschwistert. Ihr mangelnder Ernst wird deutlich, gerade da sie den Anspruch auf Arete erhebt. Und am Gegensatz wird von fern erfaßbar, was Philosophie sein muß,
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nachdem schon vorher die „Geschenke bringende Jagd" und die „Liebeskunst" den Blick auf Sokrates gelenkt hatte 2 1 ). 223C—224D Z w e i t e B e s t i m m u n g . Alseinen Händler mit seelischer Nahrung, so hatte boshaft genug Sokrates schon im Protagoras (313 C) den Sophisten bestimmt, indem er nach dessen Wesen (δτι ποτ' Ιστιν) fragte. Das wird jetzt zum Leitgedanken eines neuen Ordnungssystems. Achten wir besonders auf die ausgeschiedenen Glieder der Dichotomie. Links liegen bleibt das Schenken (δωρη-πκόν): der Sophist verkauft, aber verschenkt nicht. Links liegen bleibt der Eigenhandel des Produzenten (αύτοττωλική): die Sophistik verkauft, was andere erzeugt haben. Sie ist nur Händlerin, Vermittlerin etwa parmenideischen Gutes. Das aber ist auf geistigem Gebiet darum so schlimm, weil nur lebendiges Erzeugnis im Akt geistiger Zeugung wahren Wert hat. Links liegen bleibt der innerstädtische Kleinhandel (καττηλική): Sophistik ist Außenhandel, Großhandel. Der Sophist — wir hören es bei Piaton überall betont— zieht als ein Fremder von Stadt zu Stadt. Ein kleiner Schulmeister ist er freilich nicht, der an seinem Heimatort unterrichtet. Die Sophistik ist Handel nicht mit Lebensmitteln, sondern mit geistiger Nahrung (ψυχεμπορική). Sie ist nicht Schaustellung (έτπδεικ-πκή), sondern Handel mit Gegenständen des Lernens (μαθημοττοιτωλική); sie ist nicht Verkauf von Einzelfertigkeiten (τεχνοττωλικόν), sondern sie verkauft — Arete. Man denkt wieder an den Protagoras. Dort wurde (313 D ff.) das Gefährliche der Sophistik daran deutlich, daß der Verkäufer dieser geistigen Nahrung sie jedem anpreist, mag sie dem bekommen oder nicht, und daß zwar der Käufer von Lebensmitteln das Gekaufte in einem Gefäß nach Hause trägt und in Muße prüfen kann, der Käufer sophistischer Ware aber zum Gefäß nur die eigene Seele h a t . Aus dem Protagoras kennen wir auch den Gegensatz von technischer Unterweisung und Menschenbildung (312 B), wobei sich die Frage erhebt, ob man so etwas wie Arete in demselben Sinne verkaufen könne wie eine technische Unterweisung. Ein Blick auf den zuhörenden Sokrates gibt die Antwort. Sieht man nun bei den letzten Gliederungen genauer auf die links liegen bleibenden Glieder, so ergibt sich etwas Eigenartiges: Unter den Schaustellungen, die von auswärts importiert werden, sind Musik und Malerei, sind also Werke des Simonides, Pindar und Polygnot, Kunstwerke hohen Ranges auch für Piaton; aber höheren
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Bang hat die Rhetorik. Unter den Gegenständen des Lernens sind die Einzelfertigkeiten, in deren Namen Mathematik und Technik anklingen, also Wissensgebiete hohen Wertes auch für Piaton, und man besinnt sich, daß die Mathematik hier durch Theodoros und Theaitet vertreten ist 22 ); aber die „Tugend", die die Sophisten lehren, steht höher. Wie viel ironisches Spiel hier ist, wie viel Ernst, wird mit keinem noch so feinem Instrument abzumessen sein. Aber sagen soll man sich doch wohl: wenn der Sophistik ein so überragender Rang zugewiesen wird, weil sie Arete lehrt, welchen Rang hat dann die Philosophie, wie Sokrates sie vertritt — der am Tage vorher als Verführer der Jugend vor Gericht hat stehen müssen! Die d r i t t e und v i e r t e Bestimmung 2 3 ) halten sich als Va- 224D—Ε rianten im Bezirk der zweiten. Dort wurde der Typus des Sophisten getroffen, wie er in seinen berühmtesten Vertretern, Protagoras oder Gorgias oder Hippias, sich darstellt. Aber schon im Protagoras-TÄslog (313 C) hieß der Sophist „Großkaufmann oder Kleinhändler" (εμ-rropos ή κάττηλος). So wird jetzt gesagt: nicht darauf kommt es eigentlich an, daß er von Stadt zu Stadt zieht; er kann auch ansässig sein. Und nicht darauf, daß er nur erworbene Ware verschleißt; er kann auch selbstgefertigte feilhalten. Man muß diese Varianten sehen, damit man nicht das, was zuletzt zufällig ist, für das Wesen der Sache nehme. Fünfte Bestimmung. Von neuem wird in das System der224E-226A Angelfischerei zurückgegriffen und zwar auf jene Bestimmungsstelle (219 E), wo der Bezirk des Kampfes (αγωνιστική) links hegen blieb. In diesen Bezirk wird die Sophistik jetzt hineingestellt. Und zwar ist sie nicht Wettkampf sondern Gefecht (μάχη). Und zwar Gefecht nicht von Leib gegen Leib, sondern von Rede gegen Rede (άμφισβητητικόν). Im Bezirk der Logoi, der hier gesichtet wird, und dessen zentrale Wichtigkeit sogleich einleuchtet, bleibt links liegen der Bezirk der langen Reden über Gerecht und Ungerecht, d. h. vor allem des Gerichtskampfes. Unsere Bestimmung ergreift den der kurzen Frage und Antwort. Man wird aufmerksam, weil man den Gegensatz des sokratischen Gesprächs zu den langen Reden der Rhetoren herauszuhören meint. Und diese Nähe zur Sokratik wird noch größer. Denn im Bezirk des Zwiegesprächs lassen wir liegen den kunstlosen Wortwechsel auf dem Felde der Geschäfte und ergreifen den kunstgerechten auf dem
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Felde von Gerecht und Ungerecht. Stehen wir damit nicht vor dem echten philosophischen Dialog, der Sprechform des jetzt stumm zuhörenden Sokrates ? Da aber wird im letzten Augenblick scharf abgebogen. Links liegen bleibt der Bezirk, wo das Kampfgespräch aus Freude an der Sache geführt wird, unbekümmert um Hab und Gut und bis zu dessen Verlust (χρηματοφθορικόν). Die meisten hören es ohne Vergnügen, und darum heißt dieser Bezirk — nicht etwa der sokratische sondern der des Geschwätzes 24 ). Ihn lassen wir links liegen und ergreifen den, wo man aus solchen Streitgesprächen Geldgewinn zieht (χρηματιστικόν): und wir haben mit diesem letzten Schritt — einem Rückgriff auf die früheren Bestimmungen — uns von der Sokratik, der beinahe erreichten, zur Sophistik weggewandt. Aber die Sokratik wird im folgenden noch greifbarer werden. 226A—231BSechste B e s t i m m u n g . Aus mannigfachen Beschäftigungen des Haushalts wie Worfeln, Sieben und dergleichen, für die insgesamt ein trennendes Auseinandernehmen bezeichnend ist (διαιρετική), gewinnt man die umfassende Bezeichnung der „Scheidekunst" (διακριτική). Jetzt wird also der Ausgang nicht mehr bei der Angelfischerei genommen, sondern bei etwas ganz Neuem. Ist es Zufall, daß alles, was der Eleat hier treibt, ein solches „trennendes Auseinandernehmen" ist, so daß man in Wahrheit gar nicht bei zufälligen und entlegenen Dingen, sondern bei den allergrundsätzlichsten anfängt ? Aus den verschiedensten Arten des trennenden Auseinandernehmens klärt sich die „Reinigung" (καθαρμός), und nun sehen wir jenes System vor uns liegen, dessen Hervorwachsen aus dem platonischen Werk vorher aufgewiesen wurde. Allem Ernst wird auch hier noch das Groteske bis zum derben Spaß beigemischt. So stellt der Eleat die Badeschwamm-Herrichtung neben die Arznei-Bereitung als Unterarten der Reinigung und, auf die erste Bestimmung zurückgreifend, die Strategie neben die Kunst des Läusefangens, von denen jene nicht würdiger, nur meist anmaßender sei als diese! Der Eleat steuert auf die Elenktik zu. Die fundamentale „Torheit" wird sichtbar, die da ist: zu wissen meinen, was man nicht weiß. Wir kennen diese Formel: es ist die des Sokrates 26 ). Und wir wissen, wie Sokrates dieser Torheit begegnet: nicht durch Mahnung ist das schwere Ziel zu erreichen, das „Herauswerfen des irrtümlichen Meinens" (τή$ δόξη; έκβολή 230 Β 1), sondern durch Forschen und Prüfen, durch den Elenchos.
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Also gerade dieses sokratische Verfahren ist es, dessen Wesen der Eleat hier darlegt: den Geprüften zu dem Geständnis zu bringen, daß er über dieselben Dinge in derselben Hinsicht gleichzeitig Entgegengesetztes meint. War im fünften Bestimmungssystem die Sophistik der Sokratik so nahe gekommen, daß im letzten Augenblick gewaltsam von dieser zu jener abgebogen werden mußte, so hat jetzt ein sehr ironischer Zufall mitten in das Verfahren eben des Sokrates hineingesteuert, der das Gespräch in Gang gebracht hat und es nun schweigend mit anhört. Oder wenigstens in ein Verfahren, das dem des Sokrates zum Verwechseln ähnlich sieht. Ob wir hier nicht dem Sophisten zu Ariel Ehre antun, bezweifelt der Eleat selber. Daß wir vielleicht den Philosophen erfassen, wird durch den seltsamen Namen „hoch- und edelgeborene Wissenskunst" (ή γένει γενναία σοφιστική 2 3 1 Β 7) ebenso ausgesagt wie versteckt 28 ). Ist etwa die Eristik des Euthydem eine solche Seelenprüfung, Reinigung ? Wie weit kann sie es sein ? Was hat sie mit der Weise desSokrates gemeinsam,und was trennt beide 27 ) ? Auf das höchst schlüpfrige Gebiet der „Ähnlichkeiten" wird hingewiesen, wo, wer sicher stehen wolle, sich vor dem Ausgleiten hüten müsse, — ein methodischer Wink, der die Bemühungen der Akademie in Piatons Spätzeit 28 ) ebenso wie die Denkarbeit unseres Dialoges trifft. Doch die Scheidung durch das Aufweisen der Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten wird hier von dem Eleaten nicht weitergeführt. Mit gutem Grunde. Sokrates selbst müßte jetzt das Wort nehmen. Ihn aber läßt Piaton schweigen. Es ist eine sehr ironische Spannung zwischen formaler Begriffsforschung, die der Eleat übt, und jener Philosophie, wie der Sokrates in Piaton und nur er sie versteht. Sie schließt solche Begriffsforschung ein, aber sie geht unfaßbar weit darüber hinaus und hinauf. Man stirbt nicht für Diairesis! S i e b e n t e B e s t i m m u n g . Sechsmal war versucht worden, das231B—236D wechselvolle Wesen des Sophisten in immer neuen Ordnungs- 264 C—Ende systemen festzulegen. Als die Ergebnisse nun zusammengestellt werden, zeigt sich, daß man von der äußeren Bestimmung als lohnbringender Menschenjagd zu immer innerlicheren fortgeschritten war, bis man auf dem Wege über den „Handel mit geistigen Gütern" und über die „Kunst des Wortkampfes" bei jener „Reinigung" landete, von der es mehr als fraglich blieb, ob die Sophistik selbst sie zu leisten im Stande sei. Wir rührten hier
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in Wahrheit an die Sokratik. Um so entschiedener wird nun von dort im siebenten, dem letzten und eigentlich entscheidenden Versuch weggebogen29). Der Sophist ist „Meister im Widersprechen" (άνηλογικόξ), der auch andere zu solchen Wortkämpfern heranzubilden fähig ist, und diese Kunst übt er auf allen Gebieten (περί πάντων), von der Theologie und Kosmologie über die Politik bis hinab zu solchen Einzeltechniken wie die Athletik. Da aber echtes Wissen auf allen Gebieten für einen einzelnen Menschen unmöglich ist, so kann der Sophist nur ein „scheinhaftes Wissen" (δοξαστικήν έπιστήμην 233 C) besitzen. Damit stellt seine Kunst sich jenem Elenchos, der in der sechsten Bestimmung auf das „Herauswerfen des irrtümlichen Scheines" gerichtet war, gerade gegenüber. Erst in dieser Gegenüberstellung kommt die eine wie der andere zur Deutlichkeit. Und indem der Gegensatz von Schein und Wahrheit (oder wahrem Sein) auftaucht, wird das Problem erst radikal. Die Sophistik ist eine scheinhaft nachahmende Kunst, wie schon der Gorgias (464 D ff.) sie charakterisiert hatte. Sie rückt damit in die Nähe der nachahmenden, illusionistischen Malerei, der Piaton im letzten Buch des Staates ihren Rang, wie er ihn sehen mußte, zugewiesen hat (X 596Bff.) 30 ). Der Sophist ist ein Taschenspieler und Zaubermeister (γόη*, θαυματοποιός 235 AB), wie der nachbildende Tausendkünstler im Staate (598 D, vgl. 602 D) genannt wurde. Nicht der „Bildkunst" (εΙκαστική), die in ihren Werken die wahren Proportionen schöner Körper wiedergibt, gleicht die Sophistik, sondern dem „Illusionismus" (φανταστική), der scheinhafte, schön und richtig scheinende Proportionen in seine Bildwerke hineinarbeitet. „Scheinbildnerei": mit dieser Bestimmung verläßt der Eleat den bisher zäh verfolgten Weg der Diairesis. Die Frage nach dem Sophisten wird zur Frage, ob und wie es so etwas wie Schein, Abbild, Nicht-Sein, Unwahrheit geben könne, und in der Aufklärung dieser Probleme bewegt sich von nun an der Dialog, um erst gegen Schluß in die Frage nach dem Sophisten und zur diairetischen Technik zurückzulenken (265 B). Man kann immerhin sagen, daß wir erst hier auf das eigentliche Thema des Dialoges stoßen, und daß alles Bisherige mitsamt dem Schluß „Rahmen" sei. Aber man muß verstehen, daß die Frage nach Sein und Nichtsein, Wahrheit und Täuschung für Piaton nicht im leeren Raum stand, sondern daß diese Gegensätze in dem Gegenüber des Philo-
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sophen und des Mathematikers auf der einen, des Sophisten auf der anderen Seite lebendig repräsentiert waren. Was „ontologisch" das notwendige Gegenüber von Sein und Nicht-Sein, das ist geschichtlich oder in der Lebenswirklichkeit oder „existenziell" das Gegenüber von Sophist und Philosoph. So ist hier wie sonst das was man Rahmen und das was man eigentliches Bild nennt nicht zufällig zueinander, geschweige daß man das eine von dem andern trennen könnte 31 ). Erst nachdem das Nicht-Sein begriffen, Abbild und Schein gesichert sind, kann mit echtem Sachverständnis die Sophistik als Scheinkunst gedeutet werden (264 C). Dazu wird zurückgegriffen auf die ursprünglichste Einteilung in schaffende und erwerbende Künste. Die ersten sechs Bestimmungen hatten die Sophistik unter den erwerbenden gesucht, die siebente stellt sie als nachbildende zu den schaffenden. Damit wird die Tatsache des Machens, Schaffens, Herstellens wieder aufgegriffen als der Kraft, die das Nicht-Seiende zum Sein bestimmt (265 BC. 219 B). Was zu Anfang des Dialogs ohne weiteres Fragen aus der Vorstellung des gemeinen Mannes entnommen worden war, hat jetzt seine Tiefe gewonnen, indem das notwendige Gegenüber und Miteinander von Sein und Nicht-Sein als eine Grundtatsache der Welt sich offenbart hat. Der Welt im allerweitesten und höchsten Sinne. Darum stellt jetzt die Diairesis das göttliche Schaffen neben das menschliche. Das göttliche wird — im Sinne des PoKiifcos-Mythos, des Timaios und der Nomoi32) — gerechtfertigt vor dem Mißverständnis blindes Naturgeschehen zu sein: es ist ein Schaffen mit Vernunft und Erkenntnis. So erscheint es gedeutet nach dem menschlichen. Und doch kann menschliche Schöpfung nur ein Zusammenfügen sein „aus dem", was die göttliche ihr bereitgestellt hat (265 E). Der Bereich der göttlichen wie der menschlichen Schöpfung gliedert sich je zwiefach: hier wie dort stehen sich die Wesen selbst und ihre Abbilder gegenüber, eine Analogie, durch die das göttliche Schaffen für Menschen verständlich wird, das menschliche seine Würde ebenso wie seine Begrenzung empfängt. In der göttlichen Schöpfung stehen auf der einen Seite die lebendigen Wesen und die physikalischen Elemente, aus denen dieses Lebendige besteht; auf der anderen Seite die Träume, Schatten, Spiegelbilder. Alles dies ist voll von Anklängen an den Timaios. In dem menschlichen Schöpfungsbereich stehen Dinge wie etwa der Hausbau und das
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malerische Abbilden eines Hauses einander gegenüber. Weiter wird die Analogie zwischen göttlichem und menschlichem Hervorbringen nicht durchgeführt, und die Frage muß sich melden, ob die Teilung in „Abbild" und „Trugbild" (είκαστικόν—φαυταστικόν), ob die Mimesis, ob gar die Schein-nachahmung (δοξομιμητική) irgendeine Entsprechung im Bereich der göttlichen Schöpfung habe. Man wird diese Fragen, je weiter man in der Teilung fortschreitet, um so sicherer verneinen, und vollends für den „versteckten (oder sich versteckenden) Nachahmer" (ειρωνικός μιμητής), der den Volksredner und den Sophisten unter sich befaßt, wäre es Frevel an eine solche Entsprechung auch nur zu denken. Daß dies ohne weitere Worte fühlbar werde, ist auch eine Aufgabe der Diairesis und nicht ihre geringste. Das Hauptziel des Verfahrens aber ist dies: nicht eine Definition zu suchen, die vielmehr nur als zusammenfassender Rückblick am Schluß ihre Berechtigung hat, sondern in einem lebendigen, gegliederten System von Nebeneinander und von Unterordnung die Sache selbst sichtbar werden zu lassen. Sichtbar aber wird sie, wenn sie sich abhebt, und zugleich mit dem, wovon sie sich abhebt 33 ). Es ist kein Zufall, daß wir auf die Glieder der Diairesis die „links liegen blieben" (vgl. 264 E l ) , ebenso oft blicken muß ten wie auf die „rechten". Und wenn wir so gelernt haben, daß man „Leib" gar nicht sagen und verstehen kann ohne „Seele", „Abbilder" nicht ohne „Sachen", „Schmeichelkünste" nicht ohne „echte Künste", „Eristik" nicht ohne „Philosophie" — und umgekehrt — so ist eine Einsicht schon ganz lebendig geworden, der die ontologische Untersuchung des zweiten Dialogteils gewidmet sein wird. Mag es erst im Verlauf ausdrücklich werden, unbestimmt weiß man es schon, daß auch Sein und Nicht-Sein, wenn überhaupt, nur in ihrem notwendigen Miteinander wechselweise zu erschließen sind. Und so ist ein neues wichtiges Band aufgezeigt, das die ontologische Untersuchung mit den Diairesen zusammenhält 34 ). Unausdrücklich bleibt noch ein letztes Band. Es liegt im Wesen der Diairesis, daß jedes ihrer Glieder, indem es dieses „ist", das andere, von dem es abgehoben wird, gleichzeitig „nicht ist" eben als „anderes". Diese Bedeutung von „Nicht-Sein", in der die ontologische Untersuchung eigentlich gipfeln wird, ist unausdrücklich schon immerfort eingeübt worden 36 ).
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ontologische Untersuchung. Mit dem Auftauchen der Worte B. „Schein" und „Abbild" geraten wir in die größte Schwierigkeit. Wie 236D—264B etwas scheinen oder erscheinen könne und zugleich nicht-sein, 236D—237C oder vom Redenden her; wie man „etwas" sagen könne und zugleich etwas „nicht Wahres", das ist ein Gebiet ohne klaren Ausweg. So ist es jetzt, so war es „schon immer". Der Kleine, Hippias hatte im platonischen Werk dieses alte, von den Eristikern so gern mißbrauchte Problem angerührt, der Euthydem hatte das gefahrliche Spiel weitergespielt. Der Kratylos und der Theaitet hatten sich um die Lösung bemüht. Nun wird es ganz prinzipiell. Der Logos hat, indem er von Pseudos redete, vorauszusetzen „gewagt", daß das Nicht-Seiende sei. Damit tritt er in Widerspruch zu dem Grund-Satz des Parmenides — in dessen Nachfolge der Redende sich weiß —, so daß Logos gegen Logos steht. Und dieser Widerspruch wird in die Tiefe verfolgt, ernsthaft, uneristisch (237 Β 10), der Weise des Euthydem und Dionysodor ganz entgegen. Wir mögen den Wortklang „Nicht-Seiendes" ertönen lassen 12. (φθέγγεσθαι). Aber wir können ihn nicht auf etwas S e i e n d e s 237 D 238 C beziehen, also nicht auf ein Etwas (τι), also nicht auf ein „Eins" (Iv), also auch nicht auf eine Mehrzahl und überhaupt nicht auf eine Zahl. Daraus scheint sich zu ergeben, daß man dann nicht nur „nichts sagt", sondern überhaupt nicht „sagt", wenn anders „sagen" sich von „tönen" durch den Bezug auf den Gegenstand unterscheidet. Fast ganz so hatten die Sophisten im Euthydem (284 C) und hatte Sokrates im Theaitet (189 B) demonstriert. Hier wird es verschärft. Zu einem Seienden kann ein anderes Seiendes hinzukommen, zu einem Nicht-Seienden kann kein Seiendes hinzukommen, also auch keine Zahl, da Zahl ein Seiendes ist. Also kann man Nicht-Seiendes weder erklingen lassen noch sagen noch denken. Damit ist man beim Wortlaut des Parmenides angelangt und ist der Beweis für dessen Grund-Satz erbracht38), — nur daß der Zusatz „das Nicht-Seiende selbst an sich selbst" (τό μή δν αύτό καθ' αύτό) eine eigentümliche Schärfung hineinbringt. Da aber setzt unter der Form, daß jetzt erst „die größte Aporie" I 3. 239 ^ aufgewiesen werden solle, die Gegenbewegung ein. Indem der 2 3 8 Eleat dem Nicht-Seienden alle Prädikate absprach, ja noch indem er es für „unsagbar" erklärte, hat er von ihm als „einem" gesprochen. „Gesprochen" wohlgemerkt, nicht nur „getönt"37). So hat sich jener Beweis des Parmenides im Munde seines eleatischen F r i e d l ä n d e r , Piaton III
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Schülers in Widerspruch mit sich selbst verstrickt. Und damit wir nicht glauben, es handle sich um ein Spiel mit Worten, so taucht sogleich wieder das Ausgangsthema des Dialoges auf: der Sophist hat sich an einem unwegsamen (cnropov) Ort versteckt. Er ist nicht zu fassen. Denn seine Existenz hängt für uns daran, daß es so etwas wie Schein und damit Nicht-Sein gibt. I 4. Doch nun spricht aus dem Eleaten der Eristiker — wie Gorgias 239 C—241C u n ( j Euthydem und sein Bruder sich nicht zufällig ihre Waffen aus der Werkstatt des Parmenides holten — und fragt herausfordernd, was denn überhaupt unter jenem Scheinbild (εϊδωλον) zu verstehen sei, als dessen Hersteller (ε!δωλοιτοιό$) man ihn anspreche. Der Sophist will darauf hinaus, daß es ein Scheinbild überhaupt nicht gibt, um so im Trüben fischen zu können. Theaitet aber läßt sich mit Recht die Erfahrung nicht wegdisputieren, daß es Scheinbilder gibt, und wenn er auch nach Anfängerart, anstatt das Wesen des Scheinbildes zu bestimmen, zunächst verschiedene solcher Bilder aufzählt, so kommt er doch unter der Anleitung seines Partners bald dahin, das „Eine Seiende" in ihnen allen zu erfassen. „Scheinbild" ist etwas, was dem wirklich Seienden (Wahren) angeähnelt und doch ein anderes ist. Es ist „nicht auf wahrhaft seiende Weise" (ούκ όντως) und ist doch eben dieses „auf wahrhaft seiende Weise" (όντως). Es ist also „auf gewisse Weise" (ιτως)38). Entsinnen wir uns, wie unangenehm es dem Euthydem war, als Ktesipp den Täuschenden als einen bestimmte, der das Seiende „auf gewisse Weise (τρόπον τινά) sage, aber nicht sowie es ist (cos y' εχει)" (Euthyd. 284 C). In unserm Dialog wird der Sinn dieses „irgendwie" deutlich als jene „Verflechtung" (συμττλοκή) des Gegensätzlichen (ÖVTCOS ούκ όντως). Was es freilich mit dieser Verflechtung auf sich hat, bleibt zunächst unklar, und so stehen am Schlüsse unseres Teiles die beiden feindlichen Lager einander gegenüber: dort der Sophist, der gestützt auf Parmenides39) daran festhält, daß es Täuschung nicht gebe, hier die Einsicht, daß es den Sophisten gibt, daß es darum Lüge und Schein geben muß, und daß die Verflechtung von Sein und Nichtsein „irgendwie" möglich ist. II. Gegen den Satz des Parmenides also muß sich die folgende BeV°t trachtung richten. Den „starken" Satz werden wir nicht stürzen, 241C—242B werden uns vielmehr begnügen, wenn wir „etwas von ihm zu uns herüberziehen"; es handelt sich also um eine Abwandlung des
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parmenideischen Seinsbegriffes. Diesen Kampf gegen den Logos unseres „Vaters" führen wir, sagt der Eleat, nicht aus Mangel an Pietät, sondern aus Notwendigkeit: die eleatische Seinslehre treibt, indem sie von Nichtsein redet, aus sich selbst ihre eigene Abwandlung hervor, und sie muß es tun, wenn sie nicht in leere Eristik verfallen will. So geht es jetzt an die lange schon zurückgehaltene Untersuchung. Die Betrachtung des Nichtseins führt mit Notwendigkeit auf das II 1. Sein zurück. Es hat ja überhaupt nur Sinn von Nichtsein zu reden,242B—245E wenn man von Sein redet (und umgekehrt). So wird jetzt der Ausgang (άρχή 242 Β 6) genommen bei dem, was sich scheinbar von selbst versteht, und worüber doch in Wirklichkeit Verwirrung herrscht: bei den Lehrmeinungen der Früheren über das Seiende, die Seinsformen (τά όντα), ihre Zahl und Beschaffenheit. In Wahrheit haben jene Physiker Märchen davon erzählt (C 8). Wir aber müssen erforschen, was sie überhaupt unter dem Seienden, dem Sein (τό όν 243 D 3) verstanden. So finden wir uns hier in II 1 a. den Anfängen einer Doxographie oder Philosophiegeschichte, (jje243D—244B dann Aristoteles fortsetzt, auch er nicht als Historiker, sondern um seine eigenen Einsichten von den Theorien der Früheren abzuheben und zugleich an sie anzuknüpfen 40 ). Zuerst fordern wir diejenigen vor uns, die zwei Wirklichkeiten, etwa das Warme und das Kalte, ansetzen, — so sagt der Eleat, d. h. also wir mit unserm durch Parmenides geschärften Begriff von Sein messen daran die ältere άρχή-Spekulation, die diese Frage noch gar nicht zum Thema nahm. Ist das Sein (τό είναι) etwas außerhalb der zwei Seienden in dem Sinne, daß wir dann drei Seiende hätten statt der zwei ? Oder ist nur eins von diesen beiden oder sind beide zusammen dasSeiende, so daß man nur einSeiendes hätte ? So zeigt sich das Widerspruchsvolle jener früheren Philosopheme, wenn man sie nach ihrem Verständnis von Sein fragt. Offenbar darf man das Sein weder zu dem Warmen und dem Kalten als etwas Gleichartiges hinzuzählen noch es auf eins der beiden einschränken noch ihre Summe damit bezeichnen. Wenn man „das Seiende" denkt, so richtet man sich in eine ganz andere Dimension. Aber in welche ? „Wir sind", sagt der Eleat, „in eine ausweglose Schwierigkeit geraten" — bei der in unserer Zeit Heidegger ansetzt, da er „die Frage nach dem Sinn von Sein erneut stellt." 16·
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I I 1 b. Jetzt aber fordert der Eleat gar die Seinslehre des Parmenides vor 244B—245Ε geinen Richterstuhl. Das heißt: es werden die in dieser Lehre selbst liegenden Aporien aufgewiesen. Das Eine und das Seiende, sind das zwei verschiedene Namen für eine und dieselbe Sache ? So war es von Parmenides gemeint. Aber was ist der Sinn dieser doppelten Benennung ? Und welchen Sinn hat überhaupt „Name" für den, der nur das „Eine" setzt ? Man gerät dann jedenfalls mit dem Namen wie mit der Eins in Widersinn hinein41). — So weit der Eleat, der die Schwierigkeiten im System seines Meisters sichtbar macht. Denn hatte nicht Parmenides verächtlich von den „Namen" gesprochen, mit denen die Menschen die — unwirkliche — Vielheit belegen, und hatte doch selber „Namen" verwendet für sein — allein wirkliches — Eines ? So daß also das Sprechen selbst erstens dadurch, daß es eine Mehrheit von „Namen" ist, und zweitens dadurch daß es ein Reden-von-etwas ist, die undifferenzierte Einheit des Seins sprengt, die es verkünden will. Aber Parmenides hatte von dem Einen Seienden auch ausgesagt, daß es ein „Ganzes" (όλον, -n-äv) sei, und hatte es mit einer vollkommenen Kugel verglichen. Eine Kugel aber hat Zentrum und Kugelfläche, hat also Teile, und der Begriff „ganz" hat nur dann Sinn, wenn das Ganze eine Ganzheit von etwas, also von Teilen, ist. So kann das Geteilte oder Teilbare zwar ein Ganzes und damit ein Eines sein, aber es kann nicht das schlechthin Eine oder das Eine-selbst sein, auf das Parmenides zielt. Will man dem ausweichen, so kann man entweder „das Ganze" (die Ganzheit) außerhalb des Einen Seienden stehen lassen: dann verliert das Seiende seine Vollkommenheit; es wird als ein Mangelhaftes zum Nicht-Seienden. Und das Ganze neben dem Seienden: das gibt zuletzt zwei Seiende. Oder man bestreitet überhaupt, daß es so etwas wie „Ganzheit" gebe. Dann aber vernichtet man nicht nur das Sein, indem man ihm die Vollkommenheit abstreitet, sondern mit dem Sein wird zugleich das Werden vernichtet, da jedes Werdende ein Ganzes werden will. Man muß an den Theaitet zurückdenken (203 C ff.), um zu verstehen, daß hier die Problematik des „Gesamten" (παν) welches aus seinen Teilen zusammengesetzt ist, und des „Ganzen" (δλον), welches eine geschlossene, unteilbare Form (eTSos) ist, im Hintergrunde steht. Die parmenideische Seinslehre führt, indem sie sich selbst weiterdenkt, in solche „und zahllose andere" Aporien hinein und fordert
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von sich aus eine tiefere Erfassung des Seins. Aber steht nicht Sokrates als schweigender Zuhörer dabei, er, der bei Piaton den Erkenntnisweg zur Welt der ewigen Formen vertritt, und der zugleich das unablässige Fragen vertritt, das alle Antwort lebendig erhält, und der für alles dieses mit seinem Leben einsteht ? Führen die Aporien etwa gerade dorthin, wo dieser Sokrates eine Lösung sieht ? Parmenides wollte formal gesprochen die „Vielheit", lebendig gesprochen alle bunte Fülle des Daseins, deren Schein nur durch die Sprache geschaffen werde, auslöschen in der allein wirklichen Einheit. Aber er kann es nur tun mit dem Mittel der Sprache, das gerade die Vielheit verbürgt, ja eigentlich schaffen hilft, und das durch nichts widerlegt werden kann, da ja allein Sprache würde widersprechen können. Gerade im Bereich der Logoi (έν λόγοι;) aber hatte ja — ausdrücklich im Phaidon (99 E) — Sokrates den Erkenntnisweg zum Seienden aufgefunden. Wie Einheit und Vielheit einander nicht ausschließen, sondern sich notwendig fordern, das hatte die Dialektik des Parmenides-Dialoges ausdrücklich gemacht, wenngleich diese Grundtatsache auch überall sonst in den platonischen Dialogen vom Protagoras an lebendig ist. Daß schließlich das „Ganze" ein notwendiges Prädikat jeder „Form" ist, war im Theaitet (204 Α ff.) deutlich geworden. So richten sich in der Tat alle Linien, die hier abgebrochen werden, auf das Eidos. Die Betrachtung wird radikaler42). Waren auf der ersten Stufe die Aporien des Seins aufgewiesen worden an dem Gegenüber der frühen „Physiker" und des ersten Ontologen, so wird auf der zweiten Stufe der „Gigantenkampf" ausgefochten zwischen denen, die nur das Körperhafte, Tastbare für „seiend" halten und alles andere verachten, und denen, welchen intelligible und körperlose Formen das wahre Sein bedeuten43). Der Theaitet (155 E) stellte jene „Ungeweihten", die nur das „was sie mit den Händen fassen können" für seiend halten, einer Weltansicht gegenüber, mit der es dort dem Piaton wert war sich auseinanderzusetzen, der nämlich von der Allbewegung. Damals waren jene Ungeweihten anscheinend nur dazu da, um als Folie diese Allbewegungslehre, die doch bekämpft wird, in ihrer Spiritualität sichtbar zu machen. Jetzt ist der Gegensatz schärfer auseinandergespannt. Auf der einen Seite steht eine Weltauffassung, die, um das Mindeste zu sagen, der platonischen „Ideenlehre" der früheren Dialoge zum Verwechseln
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ähnlich sieht 44 ). Auf der anderen Seite steht zunächst oder vielleicht überhaupt gar keine philosophische Doktrin 46 ), sondern jenes naive Seinsverständnis, welchem alle Wirklichkeit im Tastbaren, Widerständlichen liegt. So naiv ist diese Haltung, daß die in ihr Befangenen gar nichts anderes hören wollen. Hingegen von der anderen Seite, von den Ideenfreunden her gesehen, löst sich das, was jene einzig für seiend nehmen, lösen sich die „Körper" in bewegtes Werden (γένεση φερομένη) auf. Eins scheint paradoxerweise diesen beiden gegensätzlichen Sichten gemeinsam. Ist es nicht dieselbe Starrheit, mit der hier der Körper gegen körperliche, dort der Geist gegen geistige Gegenstände stößt und sie als das einzig Seiende erklärt, derart daß von hier aus geistiges Sein überhaupt nicht sichtbar wird, von dort aus körperliches Sein sich verkrümelt (κατά σμικρά διαθραύοντες 246 C I ) ? Piaton will die beiden polaren und doch sich in ihrer Polarität an einander annähernden Sichten auf ihr Seinsverständnis hin prüfen. Es ist ein ungeheurer Kampf zwischen den beiden, ein Kampf also nicht zwischen zwei philosophischen Doktrinen, sondern einer, der „immer bestanden h a t " (246 C 3). II 2 a. Die Verständigung ist nicht gleich leicht nach beiden Seiten. Mit 246C—248 Α denen, die „alles in den Körper hineinziehen" (246 C 9), ist sie im Grunde nicht möglich. Sie sind gar keine Denker 46 ), bedienen sich nicht des Logos, sonst würden sie damit ein Unkörperliches anerkennen. Man muß ihnen also dazu verhelfen, daß sie sich mit uns verständigen können. Dazu wäre es das Richtigste, wenn man sie in der Tat bessern könnte. Wenn das nicht möglich ist, so wollen wir sie mit dem Wort besser machen, d. h. ihnen von unseren Worten leihen (246 D. 247 C). Das ist sehr wichtig: es zeigt, daß hinter diesen ontologischen Untersuchungen praktisches Verhalten, ethische Forderung, Leben steht. Das Gespräch wird so geführt, daß Theaitet jenes massive Seinsverständnis vertritt, aber in einer Form, die es „gesprächsfähig" macht. Die echten „Erdgeborenen und Autochthonen" (247 C), in denen also jenes Seinsverständnis ganz ungebrochen grobschlächtig lebt, sind schamlos (also wieder verbindet sich ein ethisches Moment mit der ontologischen Untersuchung und zeigt, daß sie nicht so formal ist, wie sie zuerst erscheint) und bleiben dabei, daß, was man nicht „mit den Händen zusammendrücken" kann, überhaupt nicht ist. Macht man sie aber besser, leiht man ihnen Worte, so
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müssen sie zugestehen: Es gibt nicht nur Körper, sondern auch beseelte Körper, also „ist" Seele. Es gibt gerechte und ungerechte, vernünftige und vernunftlose Seelen, also „ist" Gerechtigkeit und Vernunft und deren Gegenteil. Indem man Gerechtigkeit hat, indem sie dabei ist, hinzukommt, ist man gerecht. Demgemäß „ist" also das, was „fähig (δυνατόν) ist, was die Möglichkeit hat, zu etwas anderm hinzuzukommen" oder sich von ihm abzuscheiden. Mit dem Begriff Seele vielleicht und mit Gerechtigkeit ganz sicher haben wir den Bezirk des Tastbaren überschritten. Es gibt also ein Sein, welches diesem Untastbaren und jenem Körperhaften gemeinsam ist (συμφυές γεγονός 247 D). Seiend ist, was eine Dynamis (Können, Kraft, Fähigkeit) besitzt, etwas sei es zu bewirken sei es zu leiden. So ist knapp formuliert „Dynamis" die Bestimmung (όρος) des Seins. Soweit läßt sich also jene einfache „Wider-ständigkeit" vergeistigen. Und wiederum übersehe man nicht, daß der sicherste Ausgangspunkt, um zu dieser Dynamis vorzudringen, „Gerechtigkeit und die übrige Tugend und ihr Gegenteil" war (247 AB). So wird noch deutlicher als vorher durch die Ontologie hindurch die Ethik erkennbar. Noch eins sei wenigstens gefragt: „Dynamis des Tuns und Erleidens" als die oder als eine Grundbestimmung des Seins, klingt das nicht genau bis in den Wortlaut an eipe berühmte Grundthese des Aristoteles an 47 ) ? Schmilzt also Piaton hier ein, was der junge Aristoteles, der „Nous", in der Akademie hat verlauten lassen ? Oder hat Aristoteles diese platonische These aufgegriffen und aus ihr ein weithin herrschendes Gedankensystem geschaffen, indem er sie polar durch das ergänzte, was der eigens von ihm geprägte Terminus Entelechie und der von ihm umgeprägte Terminus Energie ausdrückt ? — Indem der Eleat das bisher Erkannte unter den Vorbehalt einer künftigen Revision stellt, wendet er sich zu der entgegengesetzten Position, zu den „Freunden der Formen". Er läßt sie ganz so sprechen, wie wir im Phaidon, Phaidros und Theaitet den Sokrates hörten oder zu hören vermeinten. Streng scheiden sie (χωρίς) Sein und Werden. Unsere Gemeinschaft mit dem Werden findet statt mittels des Körpers auf dem Weg über die Wahrnehmung (δι'αίσβήσεως), unsere Gemeinschaft mit dem Sein mittels der Seele auf dem Weg durch das Denken (διά λογισμών). Was aber
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meint hier das Wort „Gemeinschaft" (κοινωνία) ? Darauf spitzt sich der Gegensatz zwischen dem Eleaten und den Freunden der Formen zu. Er will das vorher im Kampfe mit den Materialisten gewonnene Ergebnis benutzen, um auch hier die in Frage stehende „Gemeinschaft" als jene Fähigkeit (δύναμη) des Tuns und Erleidens zu interpretieren. Sie hingegen wollen „Tun und Erleiden" nur für die Werdewelt, nicht für die von ihr so streng geschiedene Seinswelt gelten lassen, weil es ihrem Begriff von Sein widerspricht. Aber das ist, so zeigt der Eleat, eine eleatische Starrheit, die sie nicht rechtfertigen können und die vor dem Phänomen der „Gemeinschaft" unhaltbar wird. Ist das Wahrnehmen eine „Gemeinschaft", dann auch das Denken. Denken (Erkennen) ist ein Tun, Erkanntwerden ist ein Erleiden (Erfahren) und insofern ein „Bewegtwerden" (248 E). Und noch grundsätzlicher wird Schritt für Schritt die Starrheit jenes Seinsbegriffs überwunden. Man muß zu dem Phaidros-M.yth.os (250 C) hinüberdenken 48 ) mit seinen „ganzen und einfachen und unerschütterlichen und selig vollkommenen Urbildern" und die ironische Gegenspannung bemerken, wenn der Eleat jetzt fragt, ob man wirklich glauben dürfe, das „vollkommen Seiende (τό παντελώς 6v 248 Ε) stehe erhaben und heilig, ohne Geist, unbeweglich d a " % Vielmehr, es kann nicht geist-los (sinn-los) gedacht werden, also auch nicht ohne Leben, also auch nicht ohne Seele, also auch nicht ohne Bewegung. So weit also wird der Begriff der Bewegung über räumliche Ortsveränderung hinaus und hinauf sublimiert. Und so muß man wiederum auf der anderen Seite Bewegtes als seiend anerkennen. Energischer kann der Eleat nicht das eleatisch Starre an der Lehre der Ideenfreunde und damit zugleich an der Eleatik überwinden, hinüberwechselnd — scheinbar — in die „herakliteische" Lehre von der Allbewegung. Aber nun setzt sofort (249 Β 8) das Argument gegen diese Allbewegungslehre ein, das wir aus dem Theaitet (183 Α f.) kennen. Sie schließt „das Selbige" (ταύτόν) aus dem Kreise des Seienden aus. Der gesamte Bezirk der Identität (τό κατά ταύτά καΐ ωσαύτως καΐ ττερί τό αύτό) ist nicht, ohne daß es „Stillstand" gibt (χωρίς στάσεως). Wer aber die Identität vernichtet, vernichtet damit Geist, Wissen, Erkenntnis, die nicht auf das ewig Fließende sondern nur auf das Beständige gerichtet sein können. Und so stehen wir gegen eine zwiefache Front und müssen, um des Logos willen,
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sowohl die eleatische Starrheit wie die herakliteische Bewegtheit überwinden (249 DC). Ein Schritt in dieser Richtung geschieht, indem wir die beiden Gegensätze Bewegung und Stillstand „zusammenfassen" (συλλαβών), indem wir fortblicken von dem was sie vereinzelt und hinblicken auf ihre „Gemeinschaft im Sein" (ττρός την της ουσίας κοινων(αν). Also ist „das Seiende" (τό όν) ein Drittes jenseits von Bewegung und Stillstand, wie es auf der früheren Stufe — primitiver ·—• als ein Drittes jenseits von Warm und Kalt erschien (250 A, vgl. 243 DE). Es ist etwas, von dem Bewegung und Stillstand „umfaßt" wird (ττεριεχομένην). Und soweit sind diese Begriffe über das Räumliche hinaus vergeistigt, daß das Seiende, das sie umfaßt, „in der Seele" angesiedelt wird. Aber — so erhebt sich die Gegenstimme wieder — ist das möglich ? Muß „das Seiende" nicht entweder eins oder das andere sein ? Und so endet die Betrachtung des Seins in einer nicht geringeren Aporie als die des Nicht-Seins. Wie dort die „Verflechtung" von Sein und Nichtsein sich als Lösung dargeboten hatte — wenn es nämlich gelänge diese Verflechtung einleuchtend zu machen —, so hier die „Umfassung" der einander ausschließenden Gegensätze durch das Sein, ihre „Gemeinschaft" im Sein — wenn es gelänge diese Umfassung und Gemeinschaft in ihrem Sinn aufzuhellen. Das also, was solch starres Entweder-Oder, Nicht-Dieses-sondernJene3, zu überwinden iin Begriff stand, gilt es zu erforschen: jene „Gemeinschaft", die im denkenden Erfassen liegt, jene „Dynamik des Tuns und Erleidens", in der das Miteinander sowohl in der Körperwelt wie in der Welt der reinen Formen gegründet ist. Vergessen wir nie, daß Sokrates, das Urbild des Dialektikers, schweigend dabeisteht. Wie er durch die ursprünglichste menschliche „Gemeinschaft", durch das echte Sprechen und Sich-besprechen, die Starrheit der eleatischen All-Eins-Lehre besiegt und den Weg in die Welt der ewigen Formen frei macht, so verbürgt er hier durch seine Anwesenheit jene „Gemeinschaft" und jene „Dynamik", die auch in der Welt des Eidos alle dinghafte Starrheit überwinden wird 49 ). Die Aporetik ist am Ende (διη-ττορημένον). Nicht-Seiendes und III. Seiendes hat gleichermaßen teil an der Aporie. (Wie sollte es anders 250E—254E sein, da man von „Nicht-Sein" überhaupt nur sinnvoll sprechen kann, wenn man „Sein" ihm gegenüber weiß — und umgekehrt.)
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So ist Hoffnung, sie gemeinsam aufzuhellen. Und wenn wir keines von beiden zu Gesicht bekommen werden, dann werden wir wenigstens die Untersuchung über beide zugleich soweit wie möglich treiben. Man überhöre den Vorbehalt nicht, unter dem das Ganze steht! Er mag uns davor bewahren, in den wenn auch noch so wichtigen Strukturanalysen des Eleaten, wie seit Hegel nicht selten geschieht, den einsamen Gipfel des platonischen Philosophierens zu sehen. Wie sie vor den Ohren des Sokrates geführt werden, so muß man — ein Wagnis freilich! — hinüberdenken zu dem, was Sokrates in dem platonischen Werk lehrt und verkörpert, und wofür er mit seinem Leben einsteht. III 1. Die Untersuchung wird über Sein und Nicht-Sein zugleich gehen. 250E—254BSo muß man sagen, wenn man die „Gemeinschaft" zum Thema macht. Da aber „Rede" es ist, die sich dieser „Gemeinschaft" versichern soll, so wird ihr vor dem Anfang jene kynisch-sophistische Logik entgegengestellt, die alle Aussagen auf identische Aussagen beschränkt („Mensch ist Mensch"), d. h. die sinnvolles Reden überhaupt zerstört60). Piaton spricht durch den Mund des Eleaten hier und noch einmal am Schluß, als die „Gemeinschaft" geklärt ist (259 DE), sehr von oben herab über „die Jungen und die spät lernenden Alten" und über diesen gänzlich „unphilosophischen und unmusischen Versuch, alles von allem abzutrennen". Die Beziehung auf Antisthenes ist wohl allgemein anerkannt und hier einmal mit Recht. Nicht als ob Piaton in ihm einen bedeutenden Gregner sähe, gegen den die ganze Auseinandersetzung gerichtet wäre; sondern an einem augenfälligen Beispiel wird gezeigt, daß die Anerkennung solcher „Gemeinschaft" notwendig ist, um den so einfachen wie grundlegenden Tatbestand sinnvollen Redens zu rechtfertigen. Daß es so etwas wie „Gemeinschaft" gibt, geben muß, ist seit langem klar. Aber die Vorfrage wird systematisch dreigeteilt und an alle gerichtet, die jemals vom Sein gesprochen haben, und mit denen unser Gespräch sich auseinandersetzt: 1) Gibt es überhaupt eine Gemeinschaft im Sein und also auch im Reden ? Oder 2) kann alles mit allem in Gemeinschaft treten? Oder 3) einiges mit einigem Ϊ Versuchen wir die erste Frage zu verneinen, so widersprechen una alle: Heraklit und Parmenides und die „Freunde der Formen" kennen die Gemeinschaft von Sein und Bewegung oder Sein und Ruhe; die Vertreter der Stoicheia-Spekulation mit ihrer Trennung
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lind Mischung kennen die Gemeinschaft des Vielen oder des Einen; ja, was das Komischste ist, selbst unser Gegner Antisthenes kann eben jenen Satz, in welchem er alle Gemeinschaft verneinen will, nicht aussprechen, ohne eine Gemeinschaft zwischen den sachbezeichnenden Worten herzustellen. Wollte man nun aber die zweite Frage mit Ja beantworten, so müßte man den Widersinn in Kauf nehmen, daß Bewegung steht und Stillstand sich bewegt. So bleibt nur übrig die dritte Frage zu bejahen, und es erhebt sich die Forderung einer Kunst oder einer Wissenschaft, die über die Möglichkeit dieser Gemeinschaft eben solche Sachkunde hat wie Grammatik und Musik über die Gemeinschaft der Laute und der Töne. Das Lautsystem (γράμματα) in der Hand dessen, der von Berufs wegen sachkundig darüber verfügt, des Schreibmeisters, ist für Piaton von früh an Symbol gewesen über seinen nächsten Sinn hinaus. Im Kratylos (424 Β ff.) dienen ihm die Laute erstens in ihrer systematischen Ordnung (Vokale, Konsonanten) als Beispiel der Diairesis, zweitens betrachtet er, wie die einzelnen Laute, jeder selbst eine feste Einheit, sich zusammenfügen zu den höheren Einheiten von Silbe, Wort und Satz, und deutet hin auf das Problem, ob diesen Zeichen in ihrer Stufung nicht ein gestuftes System der Dinge entspreche. Im Theaitet (203 Α ff.) sieht er aus den einzelnen Buchstaben (Lauten), die nur Klang aber keinen Sinn haben, sich das Eidos oder die eine Idea oder die Ganzheit der sinnvollen „Syllabe, Silbe" zusammenfügen. Dort hat er auch schon die Parallele mit der Musik: dem Buchstaben entspricht der einzelne Ton, der Silbe die melodische Figur. Im Philebos (17 Α ff.) dient ihm das Lautsystem als Beispiel, wie der Weg von dem Einen — hier dem „Laut" (γράμμα) — zu der Unendlichkeit des Lautmeeres nicht im Sprung zurückgelegt werden dürfe, sondern schrittweise durch den Bereich des nach Zahl und Art Bestimmten. Im Sophistes schließlich (252 Ε ff.) kommt es vor allem darauf an, das Miteinander von Diairesis und Koinonia und die verschiedenen Grade von Verbindbarkeit und Ni cht-Ver bindbarkeit sichtbar zu machen. Der Grammatiker zeigt etwa, daß die Vokale wie ein „Band" durch alle anderen Laute sich hindurchziehen, daß hingegen manche Lautverbindungen unmöglich sind. Dementsprechend wird die Gemeinschaft der Wesenheiten angeschaut als ein Sich-hindurch-erstrecken, ein Umfaßtwerden, eine
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Verknüpfung und dann wieder als totale Abgeschlossenheit und Unverknüpfbarkeit vieler einzelner Formen51). Ob aber Gemeinschaft zwischen Wesenheiten besteht, und welcher Art diese Gemeinschaft ist, entscheidet sich auch hier nur, wenn man die einzelnen genau kennt. Genau kennt man sie, wenn es gelingt, sie mittels der Diairesis an ihren festen Platz in ihrem System einzuordnen. Das aber ist die Aufgabe des Dialektikers, des Philosophen, die Aufgabe, die wir von vornherein in unserem Gespräch geübt haben. Und so sind wir auf unserer Suche nach dem Sophisten auf den Philosophen gestoßen. Das geschah schon einmal und zwar in dem diabetischen Teil des Dialoges, in dem sechsten Bestimmungsversuch, nicht zufallig in diesem, der das Scheiden und Trennen selbst zum Thema nahm. Das geschieht jetzt von neuem, wo Diairesis und Koinonia sich zusammenschließen. Der Philosoph ist das Gegenbild des Sophisten. Beider Wesen kann, wie Sein und Nicht-Sein, nur miteinander aufgeklärt werden. Aber nicht von jemandem, der außerhalb ihrer stünde — wer sollte das sein ? —; sondern indem der Philosoph dem Sophisten nachspürt, indem er das philosophische Verfahren, Diairesis und Erforschung der Koinonia, übt, klärt er sein eigenes Wesen. Der Sophist flüchtet in das Dunkel des Nichtseins, der Philosoph verweilt im Denken bei dem wahren Sein (τη τοΟ όντος άεΐ διά λογισμών προσκείμενος Ιδέα 254 Α 8); beide sind darum schwer zu erfassen, der Philosoph deshalb, weil „bei den meisten das Auge ihrer Seele es nicht aushält, den Blick wegzuwenden auf das Göttliche hin". Diese Worte klingen im Munde des Eleaten ebenso fremd, wie sie plötzlich an das erinnern, was Sokrates in der Mitte der Politeia vom Aufstieg aus der Höhle und vom dialektischen Wege lehrte. Hier hört er schweigend zu. Aber man mißversteht den Piaton, wenn man ihm zutraut, er habe durch den Eleaten den Sokrates überflüssig gemacht. Aus der Eleatik wächst, wenn sie sich richtig, d. h. un-eristisch, d. h. philosophisch versteht, ihre Selbstüberwindung hervor: Der eleatische Gast löst, indem er die Strenge des eleatischen Seins bewahrt, ja steigert, dessen Starrheit und zugleich das eleatisch Starre in der Lehre der „Ideenfreunde". Aber man wird die nun folgende Untersuchung, wenn man ihren höchst schwierigen Wegen folgt, bei aller ihrer Neuheit und Wichtigkeit doch nur als ein Stück des Weges gelten lassen zu jenem Ziel, das hier vor ihrem Beginn durch die
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Worte: „Glanz, Seelenauge, Göttliches" bezeichnet ist, und zu dem nicht der Eleat sondern allein Sokrates zu führen wüßte und selbst Sokrates zu allerhöchst nicht in begrifflicher Erörterung allein, sondern in seinem Leben und Sterben. „Auf diesen" sagt der Eleat und meint den Philosophen „werden wir vielleicht forschend eingehen, wenn wir noch Lust dazu haben". Der Hinweis auf den angeblichen Dialog Philosophos ist unverkennbar. Das „vielleicht" und das „wenn" sind doch wohl Anzeichen, daß Piaton diesen Dialog nie zu schreiben gedachte. Es gibt stärkere Beweise. Nun also geht es endlich an die Untersuchung über die „GemeinIII 2. schaft der Wesenheiten, Gattungen, Formen" (Piaton gebraucht 254B—259C anscheinend ohne Unterschied die Wörter γένη und είδη). E s werden fünf der „größten, wichtigsten" ausgewählt 52 ) mit dem ausdrücklichen Ziel, das Seiende und das Nicht-Seiende aufzuklären, „soweit die Art der jetzigen Betrachtung es zuläßt". Die Einschränkung ist ein neuer Hinweis auf das künftige Gespräch über den Philosophen. Man denke an die Mitte des Staates und etwa an den Timaios, um ganz andere Weisen zu sehen, in denen Sein und Nicht-Sein sich aufklären läßt. Das „Seiende-selbst" (das Sein), „Bewegung" und „Stillstand", die sich bei der Betrachtung der früheren Ontologien herausgestellt hatten, sind voneinander verschieden. Bewegung und Stillstand mischen sich nicht. Aber das Sein mischt sich mit beidem. Jedes der drei Wesen ist nun aber mit sich selbst identisch und von den beiden anderen verschieden. Damit ergeben sich als vierte und f ü n f t e Gattung: „das Selbige" (Selbigkeit, ταύτόν) und „das Andere" (Andersheit, Verschiedenheit, θάτερον), verschieden von Bewegung und Stillstand, aber auch von dem Sein verschieden. Bewegung „ist" dadurch, daß sie „Anteil h a t " am Sein. Bewegung ist verschieden von dem „Selbigen", aber auch von dem „Andern", mit beiden ist sie verbunden durch „Teilnahme" oder „Gemeinschaft" (μέθεξη, κοινωνία 256 Β. 257 Α). Bewegung ist etwas anderes als das „Seiende", aber sie h a t Anteil am Seienden, also ist sie seiend und nicht-seiend zugleich. So stellt sich „das Andere" heraus als das, was bewirkt, daß an jeder Wesenheit Sein, aber noch mehr Nicht-Sein ist. Sogar das Sein ist Sein nur dadurch, daß es alles andere „nicht ist". Damit verhört das Nicht-Sein seine Stellung „gegenüber" dem Sein und wird zu einem „Anderen".
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Verneinung (άττόφασις) — wie nicht-schön, nicht-seiend — meint also nicht etwas Entgegengesetztes, sondern „etwas aus dem Bezirke des Anderen'", so in der Rede, so erst recht im Bereich der Sachen, auf die die Rede sich ihrem Wesen nach bezieht (257 BC). So ist der Begriff des Nicht-Seins gleichsam seines Schreckens entkleidet und hat als „Anderes" seinen Platz innerhalb des „Seienden" erhalten (258 BC). Freilich wird bald nachher (258 E) ein Wort daraufhinweisen, daß die Frage nach dem NichtSein noch ein anderes Gesicht habe: ob es etwas dem Sein schlechthin Entgegengesetztes gebe oder nicht, ob es einen Logos davon gebe oder nicht. Die Frage war am Anfang der großen ontologischen Untersuchung gestellt worden (238 C), hatte aber dann für lange Zeit vor der Frage nach dem Nicht-Seienden als dem Nichtdieses-Seienden den Platz geräumt. Jetzt am Schluß, da das NichtSeiende höchst paradox als ein Seiendes erwiesen worden ist, noch dazu als eines, das unter die vielen Seienden als eine Seinsform, ein Eidos gehört, gibt Theaitet mit einem „Durchaus höchst wahr" seine stärkste Zustimmung. Vielleicht sollten wir uns dabei erinnern, wie ganz am Ende des Parmenides der junge Aristoteles mit demselben Superlativ antwortet gerade dort, wo ein Einspruch nur allzu berechtigt gewesen wäre. Bleibt es dort dem Leser überlassen, anders zu antworten als der Junge, so wirft hier der Gast aus Elea noch einmal einen Blick auf jenen Anfang der ontologischen Untersuchung: Wir haben allen Fragen über das schlechthin Nicht-Seiende Lebewohl gesagt (258 Ε 8). Das heißt doch wohl nicht: Auf Nimmerwiedersehen, heißt doch wohl nicht, daß etwa Sokrates diese Fragen nicht wiederaufnehmen könnte ? Noch einen anderen Hinweis darf man nicht übersehen. Gerade hier in diesem anscheinend so abstrakten Gedankengang, bei dem Etwas und dem Nicht-Seienden, wird uns eingeprägt: es handle sich nicht bloß um Begriffe sondern noch viel mehr um „Sachen" (257 C 1—3), das heißt doch wohl: um Wirklichkeiten des Lebens. Und gerade hier, als das Wesen des „Anderen" „in kleinste Teilchen zerschnipselt" zu sein scheint, tun sich ethische und vielleicht metaphysische Grundgegensätze auf: das Schöne und das NichtSchöne, Groß und Nicht-Groß, Gerecht und Ungerecht. Gerecht und Ungerecht: das ist der Grundgegensatz, der durch Sokrates' Leben und durch Piatons Werk geht. Er taucht ganz am Schluß des Sophistes noch einmal auf.
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Die Energie, mit der Parmenides die Frage nach dem Sein gestellt hatte, ist nicht etwa vermindert, eher gesteigert, indem der Eleat in ausdrücklicher Korrektur seines Meisters von der „Form des Nicht-Seins" (τό είδος δ τυγχάνει δν τοΰ μή όντοζ) spricht, wo jener von „den nicht-seienden Dingen" (τά μή övtqpJ gesprochen hatte (258 D). Aber die starre und ausschließende Entgegensetzung hat sich in die reiche und mannigfaltige Struktur des Miteinander gewandelt. So wäre die Aufgabe, die durch die Gestalt des zuhörenden Sokrates lebendig dargestellt wird, mit dieser neuen Erkenntnis den Weg zu jenem „glänzenden Orte", zu jenem „Göttlichen" zu weisen, „dessen Anblick bei den meisten das Auge der Seele nicht auszuhalten vermag" (254 AB). Diesen Weg deutet Piaton nur an, er beschreitet ihn nicht. Er hätte sonst den Dialog Philosophos schreiben, hätte also „das Allerernsteste in schriftlicher Form niederlegen müssen, ein unmögliches Unternehmen für jemanden der selbst ernst ist" (Brief VII 344 C). Statt dessen wendet der Eleat im Besitz des neuen Wissens um die Methexis und Koinonia der Gattungen sich abwärts gegen die Eristiker, die entweder „das Selbe" für „das Andere" erklären und umgekehrt, ohne nach der Hinsicht zu fragen, in der jene Gleichsetzung gilt, oder die auf der anderen Seite überhaupt keine Verknüpfung zulassen und so den Logos vernichten. Von der eristischen Zerstörung sinnvollen Redens war die ErIII 3. örterung aufgestiegen zum Nachweis der „Gemeinschaft". Gegen2590—26 die Zerstörer wendet sie sich nun zuletzt ausdrücklich, indem sie den Logos selbst einbezieht in die eben herausgestellte „Gemeinschaft". Auch der Logos ist eins von den „seienden Geschlechtern" (των όντων ίν τε γενών). Das „Nicht-Seiende" in seiner Repräsentation als „das Andere" hatte sich herausgestellt als das durch alle übrigen Wesenheiten Zerstreute. Mischt es sich auch mit Doxa und Logos, dann gibt es Irrtum, Täuschung, Schein, Abbild und dergleichen. Diese Mischung also muß zuletzt aufgewiesen werden, um im Pseudos zugleich den Sophisten zu erfassen. Wie immer fordert die Frage nach der Möglichkeit von „Gemeinschaft", daß man über das Wesen dessen Bescheid wisse, was in solche Gemeinschaft eingehen kann oder nicht. Nun ist die Struktur des Logos die folgende: Er besteht aus Wörtern („Namen"), und es wiederholt sich in ihm, was vorher (III 1) von den „größten Wesenheiten" und zum Vergleich auch von den Sprachlauten auf-
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gewiesen worden war: Manche Wörter passen zusammen, andere nicht, und zwar ist das Kriterium dieses: ob die Wortreihe etwas klarmacht, bedeutet (δηλούντα τι, σημαίνοντα), oder nicht. Eine Diairesis weist eine zweifache Gattung von Wörtern auf, hier den „Namen" (Nennwort, όνομα), dort die „(Aus-)Sage" (Verbum, £ήμα). Diese drückt Geschehen, Handlung aus (έιτϊ Tals -π-ράξεσιν δήλωμα), jener wird dem beigelegt, was solche Handlungen geschehen läßt oder vollzieht (έττ'αΰ τοις εκείνα ττράττουσιν)63). Die Probe lehrt, daß man mit einer Folge von Wörtern ausschließlich der einen oder der andern Gattung weder ein Geschehen noch ein Sein, also überhaupt gar nichts bezeichnen kann. Die kleinste „Verflechtung" aus den beiden Wortgattungen hingegen ergibt sofort einen echten, d. h. sachbezeichnenden Logos („Theaitet sitzt"). Er ist hinaus über die Stufe des bloßen „Nennens", er ,,be-sagt" etwas. Er ist also ein „Logos von etwas" (τινός) und ein „so beschaffener Logos" (iroiös τις), nämlich ein „wahrer" oder ein „falscher". Der wahre sagt das „Seiende, wie es ist", der falsche sagt „das NichtSeiende als Seiendes" oder, wie wir jetzt nach unserem neuen Verständnis von Nicht-Sein verdeutlichen können, „an Stelle des Seienden ein anderes Seiendes" (δντων όντα Ιτερα). Indem wir dieses verstanden haben, ist als möglich gesichert der falsche, täuschende Logos. Falsch, täuschend, irrtümlich kann also auch das „Denken" (διάνοια) sein als ein schweigender Logos und innerer Dia-log; weiterhin das „Meinen" (δόξα) als ein solches Denken, welches Ja-sagen und Nein-sagen in sich enthält; endlich „Vorstellung, Imagination" (φαντασία) als eine Meinung, die mit Sinnesempfindung (αίσθηση) verbunden ist. So versteht man den Irrtum, weil man den Logos versteht, den Logos, weil man das Sein als Koinonia versteht. (Sokrates freilich würde, wenn er an dem Gespräch nicht nur zuhörend teilnähme, bei aller Anerkennung fragen: Kann man wirklich „Denken" und „Meinen" so dicht nebeneinander auf dieselbe Ebene stellen, wenn man den grundsätzlichen Unterschied zwischen wahrem Sein und Erscheinungswelt erfaßt hat?) Man weiß, wie der Versuch, dem Wesen des Pseudos (Irrtum, Täuschung, Lüge) auf den Grund zu kommen, ein altes, dringendes Anliegen Piatons ist, entsprungen nicht einem isolierten Interesse an einem schwierigen logischen Problem, sondern weil sich —- im anschaulichen Bilde des Sophistes zu sprechen — alle Sophistik
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und Eristik hinter dieser Unklarheit versteckt, alles also was der Philosophie feindlich ist und was durch die gefährliche äußere Ähnlichkeit ihren Ruf und das Leben des Philosophen gefährdet. Schon eine der allerfrühesten von Piatons Schriften, der Kleine Hippias, handelte von dem Wesen der Täuschung, unfreiwilliger und freiwilliger, sophistischer und sokratischer Täuschung. Im Kratylos wurde dann die Besinnung auf die Sprache das Mittel positiver Aufklärung. Schon dort (431 BC, vgl. 385 BC) wurde der Logos als eine „Zusammenstellung" von Nenn-Wort und Aus-Sage gesehen. Im Sophistes wird er zu einer „Verflechtung" aus beiden, und das ist mehr als ein bloßer Unterschied des Ausdrucks. Im Kratylos wurde gezeigt: wie man die Elemente des Satzes, die „Namen", falsch verwenden könne, so auch ihre Zusammenstellung. Der Sophistes leitet das „Reden" nicht einfach aus dem „Nennen" her, sondern hier hat der Logos eine neue und eigene Struktur, nämlich als ein — ausgezeichnetes — Seiendes die Struktur des Seins überhaupt: Koinonia, Gemeinschaft. Der Kratylos gibt die Funktion des Enthüllens oder Aufdeckens (δήλωμα 433 Β ff.) den „Namen", der Sophistes gibt sie dem Logos. Demgemäß sucht der Kratylos den Irrtum in den Elementen der Sprache, der Sophistes sucht ihn tiefer in ihrer Struktur. Und damit hängt ein Weiteres zusammen. Euthydem (284 C) und Kratylos hatten Wahrheit und Irrtum zu fassen gesucht in den Formeln: „das Seiende sagen, wie es ist" und „das Seiende auf gewisse Weise sagen, aber nicht so, wie es ist". Im Sophistes wird dieses „nicht so wie" erst wirklich verstanden, indem einerseits die „intentionale" Struktur des Logos, seine notwendige Bezogenheit auf ein Etwas herausgestellt wird, und indem andererseits aus seinem Wesen als Koinonia folgt: er kann sich wie alles Seiende mit dem Nicht-Seienden, d. h. mit dem „Anderen" verbinden. So endet der Kampf gegen die Sophistik, indem klar wird, was Irrtum und damit — wenigstens in gewisser Weise — was Wahrheit ist. — Wie gegen Ende des Gespräches die diairetische Linie des ersten 264C—268 D Dialogteiles nach überraschend weitem Abstand wieder aufgenommen und die siebente, letzte, so lange unterbrochene Begriffsbestimmung schließlich zu Ende geführt wird (264 C), dieser seltsamen Struktur auf den Grund zu kommen ist früher versucht worden. Aber ein wichtiges Motiv blieb dabei noch unbeachtet 54 ). Plötzlich nämlich taucht dort nach Menschen, Tieren, Elementen, Fricdländer, Piaton III
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nach Spiegelbildern, nach Architektur und naturalistischer Malerei und manchem anderen, plötzlich taucht die „Form (σχήμα) der Gerechtigkeit und, um zusammenzufassen, der gesamten Tugend" auf (267 C) und bleibt für kurze Zeit thematisch: Viele versuchen in Werken und in Worten den Schein zu erwecken, als besäßen sie diese Gerechtigkeit und Tugend, und vielen gelingt es gerecht zu scheinen, da sie es doch nicht sind. Es ist der Bereich der „ScheinNachahmung", der sich dann weiter in den der Rhetorik und den der Sophistik gliedert. Ist es nicht, als ob Piaton hier durch alle Dialektik hindurch auf den Grundgegensatz deutet, der für die sokratische Existenz und dadurch für sein eigenes Werk bestimmend gewesen ist ? „Sokrates handelt ungerecht", das waren die Anfangsworte der Klageschrift, und Sokrates beginnt seine Apologie damit: seine Ankläger hätten mit großer Überredungskraft, aber ohne jede Wahrheit, über seine „Ungerechtigkeit" geredet. Im Thrasymachos disputiert Sokrates erst mit dem Sophistenschüler Polemarch und dann mit dem Sophisten Thrasymachos über das Wesen von Gerecht und Ungerecht. Im Gorgias kämpft Sokrates um das Wissen dessen, „was Gerechtigkeit ist", mit dem Redemeister Gorgias und dann mit den radikaleren Gorgias-Schülern, und dort wird die Rhetorik in einem diairetischen System von Künsten festgelegt, das wir bis ins Einzelne als eine Vorstufe des Sophistes erkannten55). Der Thrasymachos wird zum Eingang der Politeia; denn im Widerstand gegen die Macht der Ungerechtigkeit, die in Thrasymachos' Person dauernd gegenwärtig ist, errichtet Sokrates seinen Staatsbau. Muß man nicht alles dies im Sophistes mindestens an vier Stellen lebendig vor sich sehen ? Erstens erinnert Sokrates selbst ganz am Anfang des Gespräches in seinen allerersten Worten an die Überzeugung Homers, daß die Götter den Menschen geneigt sind, die an Ehrfurcht und Recht festhalten, und daß der höchste Zeus hinabschaut auf die Rechtsüberschreitungen und die Rechtlichkeiten der Menschen. Zweitens hört man kurz nach dem Anfang des ontologischen Teiles, dort wo die „Gigantomaehie" beginnt, die Mahnung, man müßte versuchen die Materialisten „in der Tat" besser zu machen, so aber wollen wir es wenigstens in Gedanken tun (246 D); und unter dem Immateriellen, dessen Wirklichkeit sie zugeben müssen, wird sehr bald der Gegensatz Gerecht und Ungerecht thematisch (247 AB). Drittens steht fast am Ende des
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ontologischen Teils die Warnung, nicht um Begriffe handele es sich hier, sondern viel mehr noch um „Sachen, Wirklichkeiten" (257 C), und gerade dort treten Ungerecht und Gerecht einander als Seiende gegenüber (218 A). Zum vierten Male erklingt dieses Motiv mit besonderer Kraft eben am Ende des Werkes (267 C), da der Eleat plötzlich von der „Form der Gerechtigkeit" zu sprechen anfängt und die „Volksredner" dem „politischen Menschen" gegenübergestellt, die „sophistischen Menschen" dem „Weisen". Wir haben oft daran erinnert — denn man vergißt es leicht —, daß der Weise schweigend dabeisteht, und daß der wegen Ungerechtigkeit Angeklagte am Tage vorher sich vor Gericht hat stellen müssen. Das ist die Lebenswirklichkeit, die alle Begriffsgliederung und alle ontologische Forschung des Sophistes durchdringt.
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27. POLITIKOS Politikos und Sophistes sind ein so eng verbundenes Dialogpaar wie sonst allenfalls noch Timaios und Kritias1). Dieselben Personen sind anwesend. Wiederum sind Sokrates und Theodoros, nachdem sie anfangs wenige Worte gewechselt haben, stumme Zuhörer bis zum Schluß2). An Stelle Theaitets wird jetzt „der jüngere Sokrates" Partner des Eleaten, auch er ein Mathematikstudent, den wir aus dem Theaitet-Dialog und dem Anfang des Sophistes als Schüler des Theodoros und Studiengenossen des Theaitet kennen3). Beide jungen Leute haben „eine gewisse äußere Ähnlichkeit" mitSokrates, der eine im Gesichtsschnitt, der andere im Namen. Wir wissen noch etwas von diesem jüngeren Sokrates. Der XI te Brief der platonischen Briefsammlung ist ein Stück — oder, wenn man sehr skeptisch sein will, gibt sich als ein Stück — aus der Korrespondenz Piatons mit dem Mathematiker und Koloniegründer Leodamas von Thasos. Leodamas, so erfahren wir, hatte dem Piaton von seinen Kolonialplänen (an der thrakischen Küste) Mitteilung gemacht4). Piaton hatte ihm geraten nach Athen zu kommen zu mündlicher Erörterung dieser Fragen. Leodamas hatte geantwortet, das sei ihm nicht möglich, und hatte den Piaton gebeten, entweder selbst zu kommen oder den Sokrates zu schicken: das ist, wie man allgemein annimmt, eben dieser „jüngere Sokrates". Offenbar hat er der Akademie angehört, die, wie schon die pythagoreische Schule, Mathematik mit politischem Denken und Tun verband. Piaton antwortet in dem erhaltenen Briefe, Sokrates leide an Harnzwang und könne darum der Aufforderung nicht folgen. Gewiß ist sein politisches Interesse ein Grund, warum Piaton ihm in der Diskussion über den politischen Menschen die Rolle gibt, die im Sophistes der junge Theaitet hatte.
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Dieselbe Methode breitet sich in den beiden Dialogen aus: Wesensbestimmung durch Diairesis. Und beide zielen mit dem, was sich gleichsam in der Ebene des Gespräches selber vollzieht, auf etwas jenseits des Themas: auf den Philosophen. Dieses freilich schon in sehr verschiedenem Sinne, indem der Sophist Gegenbild des Philosophen ist, der Staatsmann hingegen, der wahre Staatsmann, im Grunde der Philosoph selber. Dem Piaton glauben, daß er je das für später (είσαΰθΐξ 257 Β 8. 258 A 6) verheißene Gespräch über den Philosophen habe schreiben wollen, heißt seine Ironie verkennen. Wer sie nicht in Rechnung stellte und etwas über den Inhalt der ungeschriebenen Schrift meinte vermuten zu dürfen, hat eben mit diesem Versuch ihre Unmöglichkeit bewiesen: sie müßte von dem handeln, worüber Piaton nach dem Geständnis des VII ten Briefes niemals zu schreiben vermochte5). In dem kurzen Vorgespräch erinnert Sokrates nicht nur an die Begriffsbestimmung des Sophisten, bei der er „eben jetzt" zuhörend dabeigewesen ist, sondern auch an das Gespräch, das er selber „gestern" mit Theaitet geführt hat. Was nach diesem Gespräch gestern noch geschehen ist, daran rührt er nicht mit einem Wort. Undenkbar, daß Piaton selbst nicht daran gedacht hätte, schwer denkbar, daß er mit jenem „gestern" seine Leser nicht gerade auch an die Schlußworte des TAeaiiei-Dialoges hätte erinnern wollen. Steht etwa die ganze Begriffsuntersuchung über das Wesen des staatlichen Menschen unter der Drohung der Anklage, die gegen Sokrates als rechtswidrig handelnden eben jetzt erhoben worden ist ? Genaue Anklänge an den Wortlaut dieser Klage und an Sokrates' Apologie werden uns an einem Höhepunkt des Politikos begegnen (299 BC. Ε 7—8). Je weniger Sokrates selber an dem Gespräch mit seinem jungen Namensvetter teilnimmt — oder teilzunehmen scheint —, desto mehr wollen seine wenigen Worte gleich zu Anfang genau erwogen werden. Theodoros, der Mathematiker, stellt den Sophisten, den politischen Menschen und den Philosophen neben einander, als ob sie im Grunde gleichen Ranges wären. So hatte sie Sokrates am Anfang des Sophistes neben einander aufgereiht. Jetzt aber erhebt er Einspruch gegen die Rechnungsweise des Mathematikers: die drei stehen an Rang so weit von einander ab, daß sie sich jeder Proportion entziehen. Man muß Sokrates sein, um über diese Nicht-Proportion Bescheid zu wissen. Wer noch immer glaubt,
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daß Piaton den Dialog „Philosophos" wirklich als drittes Glied einer Trilogie plante, folgt doch wohl zu sehr der Denkform des Theodoros. Den nach Art der spätplatonischen Werke sehr verschlungenen Gang dieses Dialoges vergegenwärtigen wir zuerst von fern®). Der I. große Anfangsteil bringt eine erste Einordnung des Politikers in ein diairetisches Bestimmungssystem. Der große Schlußteil bringt jjj eine zweite und führt damit das Unternehmen zu Ende. Jeder dieser beiden Teile biegt in der Mitte exkursartig aus: der erste in den Mythos von den großen Weltperioden, der Schlußteil in die Lehre von den Verfassungsformen und ihrem Rang. Zwischen den jj 2 beiden diabetischen Hauptteilen steht eine beispielhafte Diairesis, in der die Webekunst untersucht wird. Eingeleitet wird dieses jj j Beispiel durch eine methodologische Untersuchung über das Wesen von „Beispiel" (Paradeigma) überhaupt; ihm folgt eine sehr locker jj 3 eingeknüpfte Erörterung über das Wesen des „Maßes", die das scheinbar Maß-lose des Gespräches entschuldigen soll und dabei noch zu vermehren scheint. Der Eindruck ist verwirrend, die ironischen Gewichtsverschiebungen fast stärker als irgendwo sonst. Und jedenfalls haben wir allen Anlaß mißtrauisch zu sein, wenn sich ein Stück dieses verschlungenen Werkes „nur" als Exkurs, „nur" als Beispiel, „nur" als methodologische Vorbemerkung oder als Entschuldigung gibt 7 ), j E r s t e s B e s t i m m u n g s s y s t e m . Das eigentliche System wird 258A—277 Α zunächst ausführlich entwickelt (I 1), dann folgt der Mythos (I 2) und zuletzt eine Abänderung des ersten Systems (13). j j Gesucht wird der Staatsmann oder der König oder der Herrscher 258A—268D (δεσ-ττότης); auch der Hausherr, Hausverwalter (οίκουόμος) ist nur eine Spielart desselben Typus. Dabei ist es gleichgültig und zufällig, ob er wirklich Herrschaft ausübt oder Privatmann ist (259 B) — ein Satz, der nicht umsonst im Schlußteil des Dialoges (292 E) noch einmal abgewandelt wird: wer das königliche Wissen (βασιλικήυ έπιστήμην) besitze, ob er nun wirklich herrsche oder nicht, müsse gleichwohl ein königlicher Mann (βασιλικό;) heißen. Man denkt an den Euthydem zurück, auf dessen Höhe (291 B) — man weiß nicht recht wie — plötzlich die „königliche Kunst" auftauchte, die sich als eins mit der „staatsmännischen" erwies und über allen einzelnen Künsten als die beherrschende stand. Ihr Erkenntnischarakter und ihre Beziehung auf „das Gute"
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wurde sichtbar. Damit aber verlor sie sich im Fragwürdigen, da das Wesen dieses „Guten" unklar blieb, während gleichzeitig klar wurde, daß niemand anders als Sokrates Ausübender dieser Kunst sei. Was im Euthydem noch in Andeutungen bleibt, wird im Bau des Staates zu systematischer Deutlichkeit erhoben. Dort steht (580 BC) in der Stufung der Eudaimonie an höchster Stelle „der beste und gerechteste Mann; dieser aber ist der königlichste, der auch über sich selbst Herrscher und König ist." So wird im Politikos bei den nachdrücklich wiederholten Worten: „der diese Kunst besitzt, ob er nun wirklich herrscht oder nicht", der Blick auf den schweigend dabeistehenden Sokrates fallen, den Mann, der König und Herrscher seiner selbst ist. Die erste Diairesis setzt an bei der Gliederung des Wissens, Könnens (έτπατήμη, τέχνη), in ein solches, das zugleich handelt, und ein solches, das sich aufs Erkennen beschränkt (-πρακτική — γνωστική). Das zweite gliedert sich wieder in ein richtendes, kritisches, und ein anordnendes, befehlendes (κριτική — έτπτακτική). Und so geht es weiter bis zur Herdenzucht (άγελαιοτροφική). Hier hegt nun sogleich — damit man auf das Groteske nicht lange zu warten braucht — die Einteilung in Menschen- und Tierherde nahe (262 A). Aber in einem methodischen Exkurs (262 A—264 Β), auf den wir noch zurückkommen, wird diese Gliederung abgewiesen, um vielmehr die Lebewesen einzuteilen in solche die im Wasser und solche die auf dem Trockenen leben, diese in fliegende und in solche die zu Fuße gehen. Und hier (265 A) wird nun, wiederum mit einer methodischen Bemerkung, ein längerer von einem kürzeren Wege geschieden. Auf dem längeren, den der Eleat für den besseren zu halten vorgibt, teilt er die Landtiere — lustig genug — in gehörnte und ungehörnte, die gehörnten in einhufige und mehrzehige, diese in vier- und in zweifüßige. So ist man beim Menschen angelangt, und — damit man nicht vergesse, daß wir auf der Suche nach dem Staatsmann sind, — der Herrscher hat sich als „Hirt einer ungehörnten Herde" herausgestellt. Auf dem kürzeren Wege (266 E) werden die Landtiere sofort in vier- und in zweifüßige geteilt, diese wieder in gefiederte und in federlose, — so daß Diogenes ein Recht gehabt hätte, die akademische Diairesis mit seinem gerupften Hahnen zu verspotten, wenn eben Piaton nicht mit seiner sehr ernst gemeinten Methode zugleich ein heiter-spöttisches Spiel triebe 8 ).
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Das Ergebnis — so werden wir belehrt, wenn wir es nicht schon selber bemerkt haben sollten, — ist nicht endgültig. Die Herdenzucht, wie der Hirt sie übt, vereinigt alle möglichen Geschäfte in sich, die im Verhältnis des Menschen zu Menschen auf viele Berufe aufgeteilt sind, Kaufmann, Landmann, Arzt, Kingmeister, Musiker und andere. Bis in den letzten Teil des Dialoges soll dieser Einwand uns spannen, indem er das eigentliche Unterscheidungsmerkmal der politischen Existenz zu suchen auffordert, das also noch nicht gefunden worden ist — nein wirklich noch nicht, so lange wir uns im Bereich der Zoologie und der Viehzucht bewegen! Für jetzt aber dient der Einwand dazu, den Mythos von den Weltperioden einzuknüpfen. I 2. Über den Mythos ist früher gesprochen worden9). Kein schärferer 268D—274E Gegensatz bis ins Sprachliche hinein läßt sich ausdenken als zwischen ihm und den dialektischen Teilen. Seine Bedeutung für das Ganze geht weit hinaus über die Funktion, die er unmittelbar übt. Denn nicht die kleine Änderung in der Definition des Staatsmanns kann das Wesentliche sein, wie ausdrücklich angedeutet wird (277 B). Vielmehr läßt er sichtbar werden, in welcher Wirrnis der Welt und des Staates wir leben, sobald man den Maßstab der Vollkommenheit anlegt, wie aber alles, was an Ordnung in dieser Welt des Wirrsals besteht, eine Nachwirkung von jener Vollkommenheit ist, und wie alles Menschenleben überhaupt nur möglich wird, wenn wir die göttlichen Gaben in unsere eigene Pflege nehmen. So bindet er die Ordnung des Staates und damit den Staatsmann an die Weltordnung, das heißt aber zugleich an die Idee und den Gott. So läßt er plötzlich im Bilde das sichtbar werden, wohin die Dialektik mühsam ein Stück des Weges bereitet, weist ihr ein fernes Ziel, das in ihr selbst nicht zu finden ist. Als „Spiel" wird er eingemischt in den Ernst der Dialektik (268 D 8), wenn wir dem Eleaten glauben sollen. Man wird sich manchmal fragen müssen, ob nicht mehr Spiel in der Dialektik und mehr Ernst im Mythos ist — spielender Ernst etwa da, wo der Eleat es ungewiß läßt, worüber in dem goldnen Zeitalter die Menschen sich mit einander und mit den Tieren unterhielten, ob über Philosophie oder über das, wovon die Märchen erzählen; könnte man dies entscheiden, so wüßte man, ob die Menschen in jener Weltzeit wahrhaft glücklich waren. Auch hier also ist directio voluntatis ein notwendiges Element des platonischen Mythos.
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Zwei Mängel unserer Erörterung, sagt der Eleat, hat der Mythos aufgewiesen. Erstens einen großen: wir haben bisher den König oder Staatsmann verwechselt mit dem Hirten der Menschenherde, wie er in der gottbeherrschten Weltperiode war, das heißt aber: wir haben den Sterblichen mit dem Gott verwechselt. Der zweite Fehler ist kleiner: wir haben den Bezirk seines staatlichen Wirkens nicht scharf abgegrenzt, die Weise seines Wirkens nicht bestimmt. Da nämlich noch andere als der Herrscher Anspruch darauf machen, die Herde zu „nähren", so müssen wir statt ,, Herdenzucht" lieber einen Ausdruck wählen wie „Herdenpflege" (άγελαιοκομική), der das pflegende Dienen (θεραπευτική) und die Fürsorge (έτπμελητική) deutlich macht. Unter solchen scheinbar nebensächlichen Änderungen verbirgt Piaton Wichtiges. Im Euthyphron sprach er zuerst von der „Pflege" der Götter (θεραπεία 12 Ε) und änderte dann nachdrücklich Pflege in „Dienst" (υπηρετική 13 D). Pflege aber hieß dort soviel wie „besser machen" (gerade darum ließ es sich auf Götter nicht anwenden); denn keine Pflege ist zum Schaden des Gepflegten. So wird klar, was diese Änderung in der Definition des Staatsmanns bedeutet: sie ruft noch einmal den Kampf in die Erinnerung, den der Thrasymachos (III 2) geführt hat um die Frage, ob der Herrscher zum Schaden der Beherrschten herrschen dürfe. Nachdem das hier noch einmal mit dem einen Wort „Pflege" verneint ist, wird geschieden zwischen menschlicher und göttlicher Pflege. Staatsmännisches Handeln, soll das doch wohl heißen, ist Menschenwerk, es steht andererseits in einem Verhältnis der Abhängigkeit, der Mimesis, zu göttlichem Handeln. Das hatte der Mythos gelehrt10). Jetzt wird es in die Diairesis aufgenommen, also begrifflich gefestigt. Und schließlich wird ausdrücklich gemacht, was in alledem schon eingeschlossen lag: der König wird von dem Tyrannen gesondert als einer, der über zweifüßige Tiere mit ihrer Zustimmung (Ικουσίων), nicht wider ihren Willen, regiert. Eine dialektische Wesensbestimmung, in der Ernst und grotesker Scherz sich unentwirrbar mischen, und in stärkster gegensätzlicher Spannung dazu ein Märchen von einem Jenseits unseres Daseins: das war bisher der Inhalt. Man muß unreif sein wie der junge Sokrates um „die Darlegung über den Staatsmann für vollendet" zu halten (277 A)11). Der Eleat ist anderer Meinung. Aber bevor
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wir in den zweiten Teil des Dialoges eintreten, blicken wir noch auf die Fülle methodischer Winke, die über den ersten ausgestreut waren. Die Technik der Diairesis wird im Bilde eingeschärft. Ein Wesen, das wir gliedern wollen, hat seine natürliche Fuge (διαφνή 259 D 9. διέστηκε 260 C 7). Wenn man richtig einschneidet, so gibt sie nach (τομή ύτιείκουσα 261 Α). Im Phaidros (265 Ε) klingt dasselbe Bild an von dem, der nach dem natürlichen Wuchs der Glieder den Körper zerlegt und keinen gewachsenen Teil zerbricht, wie der schlechte Metzger tut 12 ). Man muß den Schnitt möglichst in der Mitte suchen, nicht ein kleines Stück abschnipseln (λετττουργεϊν 262 Β 5). Denn darauf kommt es an, daß „der Teil zugleich eine sichtbare Form hat" (τό μέρος άμα είδος έχέτω 262 Β), also nicht ein formloser Brocken ist. Und bei der Teilung durch die Mitte hat man mehr Aussicht, solche „Sichten" (Ιδέαι 262 Β) zu treffen. Darum entspricht die Gliederung der Menschen in Hellenen und Barbaren zwar griechischer Einseitigkeit, aber der vorher eingeschärften Norm entspräche eher die Einteilung in Mann und Weib (262 DE). Wichtig ist, daß man kleine Schritte nimmt (264 A. 265 A. 266 D) — die eristische Methode, wie etwa der Philebos (17 A) sie charakterisiert, beruht ja auf dem Überspringen der Mittelglieder; also je mehr Stufen die Diairesis hat, um so besser ist sie. In der Praxis freilich kann man sehr zweifeln, ob hier wirklich die stufenreichste Diairesis mit den gehörnten und den ungehörnten Tieren besser ist als die kürzere mit den gefiederten und den ungefiederten Zweifüßlern und als die kürzeste, in welcher einfach Mensch und Tier sich gegenüberstehen. Denn so sehr „durchdringen sich hier der Geist wissenschaftlicher Methode und der der Satire, das man kaum wissen kann, welche von ihnen zum Vehikel der andern gemacht wird 13 )". Ernst und erheiternd zugleich ist schließlich in dieser terminologischen Fülle die Warnung vor dem festgelegten Terminus: „Wenn du dich vor dem hütest, wirst du dich im Alter reicher zeigen an Einsicht" (621 E), — eine Mahnung gewiß auch über den Dialograhmen hinaus an die Akademie, der Piaton den Weg wies, ohne ihr die Freiheit zu nehmen 14 ). An einer Stelle (262 CD) möchte man fragen, ob, was sich als Methode gibt, über das Methodische hinaus noch einen tieferen Sinn hat: bei dem Einspruch gegen jene Gliederung des Menschengeschlechts in Hellenen und Barbaren, wie sie vielen Griechen in
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Fleisch und Blut übergegangen war — vielen, nicht allen. „Die meisten hier bei euch (in Athen) teilen so ein", sagt der Mann aus Elea, indem er sich und wohl auch seine Heimat deutlich von solcher Ansicht distanziert. Wie ernst der Einspruch von Piaton gemeint sei, wird bis in die neueste Zeit hin und her erörtert16). Schwer denkbar, daß Piaton von dieser Diskussion nichts vorausgesehen hätte; sehr möglich, daß er gleichsam nebenher zum Nachdenken darüber hat anregen wollen; gewiß, daß er es getan hat. Aristoteles riet in einer an Alexander gerichteten Schrift dem werdenden Weltherrscher, sich der Griechen als Freunde zu bedienen, die Barbaren als Feinde zu behandeln1®). Darin braucht kein Widerspruch gegen Piaton zu Hegen, der ja selbst im Staat (V 570 C ff.) an den radikalen Gegensatz zwischen Hellenen und Barbaren festhält. Wohl aber findet sich in der Polemik, wie sie Eratosthenes, der große Universalgeist des I I I ten Jahrhunderts, gegen jene These des Aristoteles geführt hat, eine Übereinstimmung mit dem Politikos, die vielleicht nicht zufällig ist. Eratosthenes tadelt die, die das ganze Menschengeschlecht „zweifach gliedern" in Hellenen und Barbaren. Das klingt bis in den Wortlaut an jene Stelle in dem ersten diairetischen System des platonischen Dialoges an17). Sollte Eratosthenes, „der Platoniker", wie er genannt wurde, die Stelle nicht im Sinne gehabt haben, so steht er doch inmitten dieser selben Erörterung, die die Geister des vierten Jahrhunderts und des Hellenismus tief bewegt hat. Ist also der ganze erste Teil des Politikos mit methodischen Winken Π 1. durchsetzt — von denen dann plötzlich der eine weit über Methode 277 A—2 hinausgeht —, so scheinen wir vollends in Methode aufzugehen, als der Eleat „die Umrisse des Bildes auszufüllen" beginnt. Ein Beispiel oder Gegenbild (-παράδειγμα) soll gegeben werden. Da wird die Frage, was „Bei-spiel, Gegen-bild" ist — im Griechischen etwas was man „daneben zeigt" —, wiederum an einem „Beispiel" geklärt, dem Buchstabensystem, das wir aus dem Sophistes kennen (oben S. 251). Der Lese- und Schreibunterricht geht so vor sich, daß die Kinder zuerst lernen, jeden einzelnen Buchstaben in den kürzesten und einfachsten Silben zu unterscheiden (διαισθάνονται) und „das Wahre darüber zu sagen". In schwierigeren Fällen, wo der Schüler sich zunächst nicht zurechtfindet, wendet der Schreiblehrer folgendes Verfahren an: er läßt das noch nicht Verstandene neben das Bekannte stellen (παραβάλλοντες) und
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in beiden „Verflechtungen" (συμττλοκαί) die gleichen Elemente aufweisen. Hier wird nun eine doppelte Verbindung jener aus dem Sophistes uns bekannten Grundkategorien des „Selbigen" und des „Anderen" sichtbar. Erstens erkennt der Lernende in allen verschiedenen Silben jeden einzelnen der Buchstaben wieder als „unterschieden" (έτερον) von den übrigen und gleichzeitig als identisch mit sich selbst (ταΟτόν). Ein „Gegenbild" aber entsteht dann, wenn ein Etwas als „Selbiges" (ταύτόν) in einem abgetrennten 18 ) „Anderen" richtig erkannt und zusammengebracht wird, so daß eben dadurch eine einzige richtige Ansicht zustandekommt über beide Gegenstände zugleich und über jeden einzelnen von ihnen 19 ). Und nun wieder ein Gegenbild zum Gegenbilde : ganz entsprechend steht es mit dem Alphabet, aus dem wir uns das gesamte Sein, seine „großen und schwierigen Silben", zusammenbuchstabieren, oder — griechisch ist das kein Unterschied — mit den Elementen (στοιχεία) des Seins. Auch dort gilt es denselben Akt des Vergleichens und Wiedererkennens zu vollziehen. Damit wäre der methodologische Exkurs über das Wesen des Paradeigma am Ende 20 ). Aber ehe wir nun zur Webekunst als dem Gegenbeispiel der Politik übergehen, wird im Rückblick klar, daß wir ganz etwas anderes als „nur Methode" gelernt haben. Wir haben wieder von den Elementen des Seins und ihrer Verflechtung gehört und damit von der Methodos des Philosophen (die ganz etwas anderes ist als „Methode"). Kurz, was sich als nur dienendes Glied des Ganzen gab, wirft plötzlich auf dieses Ganze ein völlig neues Licht. Der ontologische Rechtsgrund wird deutlich für die Methode der Diairesis und damit für die Arbeit des Philosophen, und in sehr eigentümlicher Verhüllung werden wir, wo wir es nicht erwarten, über das Wesen des „Staatsmanns" aufgeklärt, der ja hier nicht anders als in der Politeia ein Erkennender, also eine Erscheinungsform des Philosophen selber ist. II 2. Nachdem mittels eines Beispiels die Struktur von Beispiel über279A—283B haupt geklärt worden ist, wird nun endlich das Beispiel gebracht, das uns helfen soll den Staatsmann abzusondern von all denen, die sonst noch Anspruch auf die Sorge für den Staat machen. Das kleine Beispiel für die große Sache ist die Wollweberei (Ιρίων υφαντική)21). Sie sondert sich vom Nageln, Filzen, Zusammennähen. Ihnen allen gegenüber steht die Wollweberei als ein Zusammenflechten (συμπλοκή 281 A 3). Aber ihr muß notwendig
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vorhergehen die entgegengesetzte Tätigkeit: die Wollkrempelei (ξαντική) als ein auflösendes Tun (διαλυτική). Und später nach vielen Unterteilungen — in denen auch der prinzipielle Gegensatz von „Ursache" und „Mitursache" aufgetaucht ist (281 E) — stehen noch einmal scheidende und vereinende Tätigkeiten (διακριτική — συγκριτική 282 Β) nebeneinander: eine vereinende ist das Zusammenflechten der Wollweberei; die scheidenden heben sich deutlich von ihr ab, sind aber als „Mitursachen" doch wieder nahe zu ihr gehörig. Hier ist nun das Einfache rasch gesagt, daß im Schlußteil des Ganzen (III 3 b) die Politik nach dem Vorbild der Wollweberei gesehen wird als die Kunst, die die gegensätzlichen Naturen zusammenwebt. Der Staatsmann ist nicht wie einer, der Lederstücke zusammennäht, Fasern zusammenfilzt, Bretter zusammennagelt, sondern wie einer, der die feste Kette und den lockeren Einschlag kunstvoll verflicht. Aber wie eben vorher der methodologische Exkurs noch ganz etwas anderes war als nur dieses, so geht jetzt das Bedeutungsvolle des Beispiels weit hinaus über das, was nachher ausdrücklich gemacht wird. „Verflechtung": das ist ja die Struktur des Seins selber, wie der Sophistes lehrt, und wie eben jetzt am Beispiel der Buchstaben, Elemente, noch einmal klar geworden war. Mehr als das: durch das All geht bei den frühen Philosophen, im Grunde seit Anaximander, jener systolischdiastolische Pulsschlag, den sie mannigfach bezeichnen 22 ). Die Namen „Scheidung" und „Einung" (διάκριση — σύγκριση) treten, wenn auch noch mit anderen vermischt, bei Anaxagoras auf. Bei Epicharm bilden sie, für uns zuerst, ein Namenspaar in strenger Entsprechung. Und das herrscht bei Aristoteles und in der Doxographie. Denn der späte Piaton hatte es aufgenommen, als ihn sein Weg dazu führte, die Lehren der Vorsokratiker einzubeziehen in seine Denkwelt. Im Sophistes (243 B) verwendet er es mit dem Hinblick auf die früheren Denker. Im Timaios (65 C) heißt es, daß „das Meiste (τά πολλά) durch gewisse Scheidungen und Einungen werde". In den Gesetzen (897 A) ist es die bewegte Seele (die „Weltseele"), die mit Hilfe der körperlichen Bewegung „alles (ττάντα) zuWuchs und Schwund, zu Scheidung und Einung führt". Ähnlich im Philebos (42 C). Soweit reichen die Bezüge, die für Piaton gerade in seiner Spätzeit mit den Worten „flechten, scheiden, einen" verbunden sind. So ist Weberei vielleicht nicht nur
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Beispiel für die staatsmäniiische Kunst, sondern Symbol für das Sein überhaupt 23 ). Und wenn wir vorher gewarnt wurden, unsere gottverlassene Zeit mit der gottgeleiteten, unseren Staatsmann mit dem göttlichen Hirten zu verwechseln, so steht doch das, was hier so scharf kontrastiert wurde, zugleich in dem Verhältnis von Vorbild und Abbild. Ist nicht auch das Webewerk des wahren Staatsmanns ein Abbild der nach dem Gesetz der Proportion „zusammengebundenen" Welt (Tim. 31 Β ff.), des „lebendigen Kleides der Gottheit" 24 ) ? Π 3. Die — scheinbare — Maß-losigkeit des Dialoges führt zu einer 283B—287B n e u e n — scheinbaren — Abschweifung über „Maß" und „Meßkunst". Auch hier scheidet unsere diairetische Methode zwei Weisen, wie Überfluß und Mangel, Groß und Klein „ist": erstens wenn man die Gegenstände aneinander mißt, zweitens wenn man sie am „Wesen des rechten Maßes" (τήν του μετρίου φύσιν 283 Ε 3. irpös τό μέτριου Ε 11. 284 Α 2) mißt. Dort ist man in der Welt des Relativen, hier in der des Absoluten. Auf diese zweite Meßkunst ist, wie sich versteht, das Augenmerk hier gerichtet. Sie ist dort wirksam, wo es um den radikalen Gegensatz von Gut und Schlecht geht, oder — so heißt es hier genau, damit klar wird, daß wir es mit den Gegensätzen unserer eigenen, der menschlichen Existenz zu tun haben — wo es um den Unterschied „der Schlechten und der Guten unter uns geht" (283 Ε 5-6). Dieses „Maßgerechte" ist der zentrale Begriff für alle Künste und so auch für die staatsmännische Kunst, also für unsere eigene Untersuchung über den Staatsmann, und hinter ihr (μετά τοΟτο) steht noch die Erforschung der „königlichen Wissenschaft" (284 Β 5). Sie war am Anfang des Dialoges aufgetaucht als mit der staatsmännischen Kunst und mit der Hausverwaltung auf einer Ebene stehend (259 C). Jetzt wird ein Rangunterschied gemacht, der dann im letzten Teil des Dialoges in dem System der Verfassungen deutlicher werden wird (302 C ff.). Die zweite, die eigentliche Meßkunst hat es mit dem Maß-vollen, dem An-gemessenen (ιτρέττον), dem Sein-sollenden zu tun, mit allem, was in der Mitte zwischen den Extremen angesiedelt ist (284 E). Und hier fügt Piaton, offenbar um das Eigene deutlicher zu machen, eine Polemik ein gegen die Überzeugung „vieler feiner Köpfe" ( 2 8 5 A l ) , daß die Meßkunst sich „auf den Bezirk alles Werdenden (das heißt doch wohl: des gesamten Daseins) erstreckt".
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Unter den feinen Köpfen versteht man mit Recht die Pythagoreer; vielleicht sollte man nicht nur an die fernen, unteritalischen Schulen denken, sondern an pythagoreische Tendenzen, die bis in die Akademie hineingereicht haben26). Und der Hinweis bewegt sich wie jede echte Polemik in zwei Richtungen: indem er einerseits den Blick auf jene Philosophenschule richtet, der Piatons eigenes mathematisch-naturwissenschaftliches Denken, auch sein Denken über das Maß, so viel verdankt, schärft er andrerseits im Kampf gegen sie noch einmal den Gegensatz zwischen den beiden Arten des Meßbaren und der Meßkunst, wie sie vorher geschieden worden sind. Vielleicht soll der Leser mit dem Bück auf den dabeistehenden Sokrates noch eine andere Frage stellen. Der Eleat kennzeichnet in seiner Polemik gegen die „feinen Köpfe" deren Ansicht so: die echte Meßkunst habe es mit „allem Werdenden" zu tun (περί ττάντ' ΙστΙ τά γιγνόμενα 285 A 2). Kurz vorher hatte er davon gesprochen, daß das wahre Maß „das Werden des Maßvollen" voraussetze (-rrpös την τοϋ μετρίου γένεσιν 284 C I . D 6), und noch vorher hatte er die seltsame Formel gebraucht „des Werdens notwendiges Sein" (κατά την της γενέσεως άναγκαίαν ούσίαν 283 D 8-9). Ist es Zufall, daß Piaton immer wieder gerade diese Formeln dem Eleaten in den Mund legt, oder soll sich der Gegensatz von Sein und Werden wie von Wahrheit und Meinen vor dem Leser auftun (Staat VII 534 A. Timaios 29 C) und etwa gar jenes „Werden zum Sein durch Grenze und Maß", das der Philebos (26 D 8) als eine der vier Gattungen oder Formen des Seins aufstellt ? Am Schluß dieses Abschnitts über das Maß steht die Frage: Wozu denn die ganze Erörterung über das Maß (286 B) ? Und die Antwort ist: wegen der Schwierigkeit, die das Verstehen der Webekunst uns machte, und wegen der Schwierigkeit den kosmischen Mythos zu verstehen und — hier greift der Eleat mit einem ausdrücklichen Zitat über die Grenzen des Politikos-Oi&loges hinaus — wegen der Schwierigkeit das „Nicht-Sein" im Sophistes zu verstehen. Um in Zukunft solche Schwierigkeiten zu vermeiden, haben wir die Erörterung über die Meßkunst, das Maß und das An-gemessene unternommen. Die Hauptsache bei alledem sei die Übung in der diabetischen Methode, meint der Eleat. So viel der junge Sokrates und wir von ihm lernen, sollen wir wirklich seiner Wertung durch-
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aus folgen, und sollen wir nicht versuchen auszudenken, wie der zuhörende Sokrates, der alte Sokrates, diese Wertung aufnimmt ? Ist nicht noch wesentlicher das, was inmitten dieses diairetischen Verfahrens als das Ziel dieser Dialektik auftaucht: „das Körperlose, Schönste und Größte, das durch den Logos allein erreichbar ist" (286 A) ? So hatte der Eleat selbst eben vorher gesagt, und er hatte auf das „Maß-gerechte" und das „Geziemende" und das „Sein-sollende" hingewiesen (284 E) und auf „das Genaue-selbst" (αυτό τάκριβές 284 D 2) im Gegensatz zu dem relativen Mehroder-Weniger, auf jene Welt des Ewig-seienden also, zu der Piatons Solirates führt, und auf den Bereich der ethischen Forderungen, für die Sokrates mit seinem Leben und seinem Sterben einsteht. Dort ist das Ziel, wohin Dialektik und Diairesis den Weg bereiten. Im Grunde scheint der Eleat selber zu wissen, daß Dialektik und Diairesis nicht Selbstzweck sind. Was hier über das Maß gesagt wird, heißt es (284 D), genügt für unseren Zusammenhang. Aber einstmals werden wir des jetzt Gesagten bedürfen „zu der Darlegung über das Genaue-selbst, das Wesenhaft-Exakte". Man mag sagen, daß dies ein Hinweis auf den Dialog „Philosophos" sei — den Piaton niemals zu schreiben gedachte — oder eine Vorausdeutung auf den Philebos (64 D ff.), in dem ja „das Gute, Vollkommene" unter seinen Wesenszügen Metron und Symmetria haben wird. Jedenfalls führt die scheinbar maß-lose Abschweifung über das Maß erst recht dorthin, wohin wir uns in dem Abschnitt über das Beispiel und in dem Abschnitt über die Webekunst geführt sahen: zu dem wahren Sein, dessen Erforschung dem wahren Staatsmann, das heißt aber dem Philosophen, obliegt. Doch nicht nur mit diesen philosophischen Hinweisen weist der Politikos über seine eigenen Grenzen hinaus. Für einen Augenblick scheint er sogar ein Wort zur zeitgenössischen Politik zu sprechen. Ganz am Anfang, als der Eleat eben das Gespräch übernommen hat, hören wir aus seinem Munde den scharf geprägten Satz (259 A), auf den er fast am Ende des Gesprächs (292 E) ausdrücklich zurückverweisen wird: „Wer dem, der als König über ein Land herrscht, Rat zu geben stark genug ist, mag er auch selber ein Bürger ohne amtlichen Rang sein, werden wir nicht sagen, daß er die Erkenntnis besitzt, die der Herrschende selber besitzen sollte V Mit diesem Satz hat Piaton sein eigenes Verhältnis zu Dionysios I I
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von Syrakus so scharf formuliert, daß die Zeitgenossen diesen Wink verstehen mußten. In den Jahren zwischen seiner zweiten und seiner dritten Reise nach Syrakus (366—361) wird der Politikos geschrieben sein26). Scheinbar ist unser Dialog maß-los und voller Abschweifungen. Aber gerade dies ist die Weise des platonischen Spätstils, daß durch die von außen gesehen sprunghafte Komposition der Teile ein strenger Gedankenbau hindurchscheint27). Es gehört zur ironischen Verschiebung der Gewichte, wenn jetzt, wo der Dritte III. Teil die Begriffsbestimmung des Staatsmanns wieder aufnimmt, 287 B—311C in Wahrheit die Ergebnisse fruchtbar gemacht werden, die in den Digressionen des mittleren Teiles gewonnen worden waren. Das geschieht freilich sehr mittelbar. Unmittelbar nämlich wird, III i. um den politischen Menschen einzugrenzen, auf das Beispiel der 287 B—291C Webekunst zurückgegriffen, und der dort gemachte Unterschied zwischen Techniken, die,,mit-verursachend" sind, und solchen, die eigentliche „Ursache" sind, wird hier wieder aufgenommen. Aber nun ist es methodisch wichtig, daß wir jetzt den Fanatiker der Dichotomie an die Grenze ihrer Brauchbarkeit kommen sehen, und daß er, anstatt „durch die Mitte zu teilen", gleichsam „das Opfertier gliedweis zu zerlegen" beginnt28). Zunächst marschieren sieben Gruppen von Leuten auf, die Gegenstände herstellen, Rohmaterial, Werkzeuge, Gefäße, Sitzgelegenheiten, Hüllen, Spielwerk, Nahrungsmittel. Sie alle sind Mithelfer am Aufbau des Staates, aber „verursachend" sind sie nicht. Dann kommt (289 C) die Gruppe derer, die von Beruf nicht sowohl Gegenstände herstellen als Handlungen vollziehen. Sie scheiden sich in Sklaven und in solche unter den Freien, die vermittelnde Dienste verrichten, wie Wechsler, Kaufleute, Schiffer, Kleinhändler. Man scheint dem Gesuchten näher zu kommen und bleibt ihm doch noch fern, wenn man auf die Beamtenschaft sieht: auch dort finden sich zunächst solche, die die Rede und Schrift zu vermittelnden Diensten gebrauchen. Von den vermittelnden Diensten zwischen Menschen steigt man hinauf zu solchen zwischen Mensch und Gott, wie sie von Sehern und Priestern geübt werden. Selbst unter diesen ist der Herrscher noch nicht zu finden, mag auch in Ägypten der König aus dem Priesterstande sein, und mag „bei euch" in Athen — der Mann aus Elea spricht ja (290 Ε 5) — der Archon-König Amtspflichten des Priesters und des Richters haben. Eine weite Stufenreihe hat vom F r i e d l ä n d e r , Pia ton III
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Sklaven bis zu diesen Königen hinaufgeführt; aber der „königliche Mann", den wir suchen, steht noch über Priesterkönigen und Namenskönigen. Zuletzt drängt sich ein „Mischvolk" heran; Löwen oder Kentauren oder Satyrn oder auch schwachen und wandelbaren Tieren gleichen sie, und sie wechseln rasch an Gestalt und Leistung — so wie im Bilde der Politeia (IX 588 C) der Mensch als ein vielköpfiges und wandelbares Ungetüm erscheint und wiederum im Sophistes (240 C) vom vielköpfigen Sophisten die Rede ist. In der Tat erkennt man auch jetzt hinter jener Schar „die größten Gaukler unter allen Sophisten". Warum tragen sie hier diesen seltsamen Namen und diese seltsam wechselreichen Gestalten ? Offenbar verhalten sie sich zum Staatsmann-König wie im Sophistes der Sophist zum Philosophen. Offenbar sind sie es, die sich selbst Politiker nennen und von der Menge so genannt werden, und die von „den wahrhaft politischen und königlichen Männern" besonders schwer abzutrennen sind. Das muß jetzt geschehen. III 2. Aber es geschieht nicht auf geradem Wege. Mit neuem Einsatz e n "^ΙΐίΤΐa*** * System der möglichen Verfassungen aufgestellt. Waren e m 291C—293 Ε ®i i Achten Buch des Staates fast zu mythischen Wesenheiten verdichtet, zu „reinen Ausformungen der geistigen Gesamtzustände, die sich bruchstückhaft oder gemischt in den empirischen Staaten ausgeprägt hatten" 2 9 ), so handelt es sich hier um eine klare und einfache Typologie, je nachdem einer oder mehrere oder die Menge am Regiment ist, und je nachdem dieses Regiment auf Gewalt oder auf freiwilliger Zustimmung der Regierten beruht. Das gibt zweimal drei Verfassungen: Monarchie und Tyrannis, Aristokratie und Oligarchie, schließlich die Demokratie in ihren zwei Erscheinungsformen. Ähnlich, nur einfacher, hatte schon Pindar die drei Grundformen des Staates neben einander gestellt und hatte Herodot die persischen Großen über Vorzug und Nachteil der drei Verfassungsformen debattieren lassen 30 ). Xenophon notiert in seinen Erinnerungen inmitten ganz verschiedener Gegenstände, daß Sokrates fünf Verfassungsformen aufgestellt habe: Königtum und Tyrannis, Aristokratie, Plutokratie — die hier zum ersten Mal begegnet — und Demokratie 31 ). Die ersten beiden bilden ein Paar wie bei Piaton und werden nach denselben Indizien unterschieden: nach Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit der Regierten, nach Gesetz-
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mäßigkeit und Ungesetzlichkeit der Regierenden. Bei den drei anderen Yerfassungsformen scheint die Kraft zu solcher Systematik den Xenophon schon verlassen zu haben, und was dieser kurze verfassungspolitische Abschnitt mit „Sokrates" zu tun habe, fragt man sich auch vergebens. Offenbar hat Xenophon dies aus zeitgenössischer Diskussion, vielleicht „sokratischer" Kreise, aufgegriffen, und der Anklang an Piatons Politikos könnte zu der Frage führen, ob etwa Erörterungen der Akademie an Xenophons Ohr gedrungen sind. Aristoteles übernimmt in seine Ethik und in seine Politik das System des Politikos, wenn er auch die Unterscheidung der drei guten Verfassungen von den drei Fehlformen anders begründet32). Auch Polybios beruft sich für seine Klassifikation der Verfassungen auf „Piaton und einige andere unter den Philosophen", so wenig der Politiker-Historiker Piatons letzte Absicht teilt. Bei Piaton ist die Absicht, von der seine Systematik geleitet wird, der kurze Nachweis, daß keine dieser Staatsformen „richtig" sein kann, weil in ihnen die Herrschaft bestimmt wird durch das Kriterium der kleinen oder großen Zahl, der Freiwilligkeit oder Unfreiwilligkeit, der Gesetzmäßigkeit oder Gesetzlosigkeit, des Reichtums oder der Armut, während die richtige Staatsform und der richtige Staatsmann nur durch eins abgegrenzt wird gegen die falschen: durch Episteme. Darum also wurde jenes System möglicher Verfassungen aufgestellt, um zu zeigen: von den Demokratien abgesehen, die schon durch die Zahl der Herrschenden mit Erkenntnis nichts zu tun haben können, kann unter allen Formen sich der „richtige Staat" verbergen. Denn es gibt für ihn nur dieses einzige Kriterium: daß die in ihm Herrschenden „Erkenntnis und Gerechtigkeit gebrauchen, um ihn besser zu machen nach Möglichkeit". Es ist das alte Kriterium seit Thrasymachos, Alkibiades, Gorgias, das dann vollends in der Politeia zum Aufbauprinzip des Erziehungsstaates wird. Fehlt es — und es fehlt so gut wie immer—, so sind die bestehenden Formen mehr oder minder mißlungene „Nachbildungen" jenes einzig richtigen Staats, der, so wenig Genaues hier von ihm gesagt wird, immer noch der im Hauptwerk gebaute Staat der Gerechtigkeit ist. Zuletzt wird nach einer großen Digression (III 2 b), auf die wir j n 2 c zurückkommen müssen, eine Wertordung der „nicht richtigen 302 Β— Verfassungen" entworfen, erinnernd an die Glücksrechnung in 18·
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Buch VIII und IX des Staates. Wie dort der stufenweise Abstand der Verfallsverfassungen von dem wahren Staat und der in ihm herrschenden Freude bis ins Zahlenmäßige errechnet wird, so geht hier die Frage danach, welche von den Formen am schwersten und welche am wenigsten schwer ist für den in ihr Lebenden. Und nun wird weniger gezeigt als gesagt, daß die Gesetzesstaaten um so schlechter seien, je größer die Zahl der Regierenden ist, die gesetzlosen umgekehrt, daß also der Druck des Lebens von der Monarchie über die Aristokratie zur gesetzlichen Demokratie steige, von der gesetzlosen Demokratie aber wiederum über die Oligarchie zur TyTannis. Die richtige Staatsverfassung steht auch hier so außerhalb dieser Reihe wie über allem Menschlichen der Gott — es könnte im Sinne des zuhörenden Sokrates auch heißen: das Vollkommene, das Wahre, das höchste Sein jenseits des Seins. Damit ist noch einmal deutlich geworden, daß die an jener Staatsform Teilhabenden zu sondern sind von dem Staatsmann, den wir suchen. Sie sind nicht Politiker, sondern, wie es mit unübersetzbarem Wortspiel heißt, Stasiastiker, d. h. Parteimänner anstatt Staatsmänner, Parteimänner, welche teilnehmen an einem von Bürgerfehde zerrissenen statt einem wohlgeordneten Gemeinwesen. Nach- und Schein-bildern des wahren Staates stehen sie vor, Ab- und Schein-bilder sie selber; sie sind Nachäffer und Gaukler in größtem Ausmaß und also die größten Sophisten unter den Sophisten. Damit wird auf das vorhin Gesagte (291 A—C) wörtlich zurückgegriffen, und der Kentauren- und Satyrnschwarm wird wieder sichtbar. Jetzt sehen wir, warum sie „Sophisten" genannt wurden; denn der Sophist ist, wie wir in dem Schwesterdialog (Soph. 235 A 1) lernen, „einer von den Gauklern, ein Nachahmer des Seienden". Das also war der Sinn dieses Abschnitts, den wahren Staatsmann zu unterscheiden von allen, die man gemeinhin so nennt, und zwar dadurch, daß man diesen Unterschied auf den Unterschied von Sein und Schein zurückführt. Der ontologische Gegensatz von Sein und Schein ist die Brücke, die das Dialogpaar Sophistes und Politikos zur Einheit verbindet. III 2 b. Nun kommen wir auf die große Ausbiegung zurück, die die Mitte 293 Ε 302 Β bjijje^ j n dem dreigeteilten Mittelteil des dritten Hauptteils. (So voll von geheimer Architektonik nämlich ist dieses Spätwerk mit seinen scheinbar ganz freien Verschlingungen.) Ein befremdliches Wort war mehrmals (293 A 7. C 8) gesprochen worden: wie alle
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anderen Kriterien für die Richtigkeit des einen, richtigen Staates gleichgültig seien, so auch dies, ob die in ihm Gebietenden sich an geschriebene Gesetze halten oder ohne solche Gesetze die Herrschaft ausüben. Das soll höchst paradox klingen und gibt dem Partner Anlaß zu einer erstaunten Frage, die wieder der Ausgang wird für eins der erstaunlichsten Stücke in Piatons gesamtem Werk — für jene Erörterung, die das Verhältnis des wahren Staates zum Gesetz bestimmt 33 ). Das Wesentliche ist dieses: Das Gesetz als ein einfaches ist der Vielfältigkeit des Lebens nicht gewachsen. Es ist ein Notbehelf gegenüber der gesetzesfreien, schöpferischen Herrschaft des wahren Staatsmannes, ebenso wie Gesetze unsinnig wären, wenn sie gegen die Erfahrung des Schiffskapitäns oder des Arztes Einspruch erheben wollten oder gegen alles echte Berufswissen und alle Wissenschaft bis hinauf zur Mathematik. Wenn der wahre Staatsmann gegen das bestehende Gesetz handelt, so tut er „das Wahrste", das was dem wahren Sein am meisten entspricht (300 E). Doch nur an diesem Maßstab gemessen ist das Gesetz minderen Wertes. Gesetz: das ist die „zweitbeste Fahrt", wo die beste nicht möglich ist. Lange Erfahrung ist in ihm verdichtet. Darum muß es herrschen unverbrüchlich und durch die strengsten Strafen umhegt, wenn der wahre Staatsmann fehlt. Das ist die Dialektik von Gesetz und Gesetzes-Freiheit. Zu ihrem höchsten Gipfel aber wird durch alle sprachlichen Mittel sowohl höhnischer als feierlicher Bede, auch dadurch daß der sonst so kurz angebundene Partner nachdrücklicher spricht als irgendwo (299 E), die Erörterung hinaufgetragen dorthin, wo kaum verhüllt das Schicksal des Sokrates mitsamt dem Wortlaut der Anklageschrift vernehmbar wird (299 BC) und in der Antwort des jungen Sokrates ein genauer Anklang an die Verteidigungsrede des alten Sokrates (299 E). Er ist der wahre Staatsmann; denn er hat die Erkenntnis des wahren Seins, von dem die bestehenden Gesetze nur Nachbildungen, ungefähre Abbilder sind. Sein Schicksal ist der unvermeidliche Zusammenstoß des Gesetzesstaates mit dem Manne, der in seiner Existenz das gesetzesfreie Wissen des königlichen Staatsmanns verkörpert. So fällt der Blick — nicht des Eleaten, aber des Lesers — wieder auf den schweigend Zuhörenden, und man übersehe selbst in diesem Spätwerk nicht Piatons dramatischen Willen, sondern erinnere sich, daß nach den Schlußworten des Theaitet Sokrates sich „gestern" der Anklage hat stellen müssen. Seine
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Gestalt ist die Antwort auf die Frage des Dialoges, und diese ganze, letzte, scheinbar wieder vom Wege ablenkende Erörterung dient gerade dazu, dem wahren Staatsmann den ihm gehörigen Rang anzuweisen: hoch über der Erhabenheit des Gesetzes im Bereiche des wahren Seins. Das ist der Sinn dieses Abschnitts innerhalb des Dialoges. Aber darüber hinaus hat er noch einen Ordnungssinn für das platonische Werk überhaupt. Der Politikos steht zwischen Politeia und Nomoi34), also zwischen dem Werk, das dem gesetzesfreien Wirken des wahren Staatsmanns den Raum bereitet, und dem großen Gesetzbuch für das kretische Utopien. Der Politikos weist dem letzten Werk Piatons, von dem damals gewiß schon viele Stücke geschrieben waren, seinen Rang an tief unter den Büchern vom Staat, aber seinen notwendigen Platz als „zweitbeste Fahrt". Von da aus versteht man ebensowohl die feierlichen wie die geringschätzigen Worte, die hier über Gesetzgebung fallen. ΠΙ 3. Nachdem in den mannigfachen Windungen des Gesprächs die 303D—311C Beziehung der richtigen Politeia und des wahren Staatsmanns auf das wahre Sein immer wieder sichtbar geworden ist und am meisten dort, wo man es am wenigsten erwartete, bleibt nun noch übrig zwei Linien zu Ende zu ziehen. Noch fehlt gerade die feinste Scheidung von den übrigen Berufen, die den Anspruch auf diesen III 3 a. hohen Namen machen — damals wie heut! — und die in der Tat 303 D—305 Ε bedeutend und mit ihr verwandt sind: die Feldherrnkunst, die Wissenschaft und Praxis des Rechts (δικαστική) und die mit der königlichen Kunst verbundene Redekunst, wie etwa der Phaidros sie gezeigt hat. Hier nun mündet ein Motiv, das seit früher Zeit in Piaton lebendig war. Schon im Laches (195 C) finden wir den Gedankengang: der Arzt hat das Wissen über Gesund und Krank; ob es aber für jemanden besser sei gesund zu sein als krank, das weiß nicht der Arzt, sondern einer der über ihm steht, und der entsprechend der Fragestellung jenes Frühdialoges der „Mannhafte" heißt. Deutlicher spricht der Euthydem (290 D ff.), der ja eben die „königliche Kunst" schon ganz so benennt wie jetzt der Politikos36). Dort wird ein hierarchisches System der Künste gezeichnet, in welchem jeweils die höhere das „gebraucht", was die niedere „hervorgebracht" hat. Nach diesem Kriterium aber steht die Dialektik über Astronomie und Rechenkunst, die Staatskunst über der des Feldherrn. Denn Dialektik und Staats-
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kunst wissen zu gebrauchen, was die andern ihnen „übergeben". Auch im Alkibiades (125 Β ff.) zeigt Piaton ein gestuftes Herrschaftssystem. Jeder einzelne Beruf ist Herrschaft: über Kranke gebietet der Arzt, über Seeleute der Kapitän; aber über Ärzte, Kapitäne, Chormeister gebietet eine andere Kunst, und zwar, da sie Glieder der Staatsgemeinde sind, offenbar die Staatskunst, deren Name sich dort hinter den Worten „Wohlberatenheit" und „Gemeinsiim" verbirgt. Mit allen diesen Erörterungen hat große Ähnlichkeit, was jetzt im Politikos gezeigt wird. Im Bezirk der musischen Kunst gibt es Lehrer und Lernende; aber über beide muß ein Wissen herrschen, das da sagt, ob jemand überhaupt lernen soll oder nicht. (Man denkt an die Einordnung der „Musik" in das Staatsgefüge der Politeia.) Ebenso herrscht über die Überredungskunst eine Kunst, die entscheidet, ob man überreden soll. (Man denkt an den Sieg über die Rhetorik im Gorgias und an ihre Einverleibung im Phaidros.) Also wie über musische Kunst und alle Lehrgegenstände und wie über die Rhetorik, so herrscht auch über die Kriegskunst, ob man sie nämlich anwenden solle oder nicht, einzig die Staatskunst. (Die Kriegskunst ein Teil der Staatskunst: so hieß es schon im Protagoras (322 Β 5). „Der Krieg ist viel zu wichtig, als daß man ihn den Generälen überlassen dürfte," schrieb Georges Clemenceau.) Auch das richterliche Amt, dessen Pflicht Bewahrung der Gesetze ist, dient der Politik. Im Laches verschwand die gesuchte Kunst in dem fragwürdigen und offenbar nicht angemessenen Namen der Mannheit, im Euthydem blieb die „königliche Kunst" in ihrem Wesen problematisch, der Alkibiades deutete auf die Staatskunst und ließ ihr Wesen in der Schwebe. Inzwischen aber hatte Piaton die Politeia geschrieben. Und jetzt im Politikos hat sich von neuem die Staatskunst gezeigt als auf das wahrhafte Sein, das „Maß", das „wesenhaft Exakte" bezogen. Die Staatskunst ist es, die „alles im Staat aufs richtigste zusammen- III 3 b. webt". Damit ist das Bild von der Weberei wieder aufgetaucht, 305E—^311C das nun zuguterletzt das Wesen der Staatskunst vollends deutlich machen soll. Was und wie flicht sie zusammen, und wie sieht ihr Gewebe aus ? Man ahnt schon, daß da Gegensätze sind, und daß das Gewebe deren Einung werden wird. Das alte Thema von den „Tugenden" wird hier wieder aufgenommen, das wir seit dem Protagoras und der Frühgruppe der aporetischen Definitionsdialoge kennen. Im Protagoras kostete es besondere Mühe, in das
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System der Tugenden die Mannheit, Tapferkeit einzufügen, und Sokrates bediente sich einigermaßen sophistischer Wege, um diese Mannheit auf Erkenntnis zurückzuführen und damit die Einheit der Tugenden in der einen Tugend herzustellen. Der Laches ging von dem Thema Unterricht, Erziehung aus, und die Aufgabe war es dort, der Tapferkeit ihren Platz in diesem Erziehungswerk und in der Gesamtheit der Tugenden anzuweisen. Im Gorgias war die Anerkennung der Sophrosyne neben der Tapferkeit das Kriterium dafür, ob Sokrates' Gegner auch nur die Tapferkeit im somatischen Sinne verstanden habe. Im Staat wird schließlich die Einheit der Tugenden in der einen Tugend Grundlage der staatlichen Erziehung, und schon auf der ersten Erziehungsstufe ist es die Aufgabe der beiden Erziehungswege Musik und Gymnastik, den Gegensatz der natürlichen Kräfte, wie er in der Menschenseele angelegt ist, in Harmonie zu vereinen. Schon bei der Auswahl der „Wächter" wird darauf gesehen, daß in ihrer „Natur" — das Wort wiederholt sich dort immer wieder ( I I 374 Ε ff.) — die vorwärtsstrebende Energie und die bewahrende Ruhe gleichermaßen angelegt sind. Dann wird in der Erziehung dieser Wächter die „Musik" jene Gegensätze zur Harmonie ausbilden, und die Gymnastik wird dazu das ihrige tun. Der Politikos also nimmt dieses Grundthema von den Tugenden wieder auf. Mannheit und zuchtvolles Maß stehen einander auch hier als die zwei Grundtypen gegenüber. Aber auf diesen Gegensatz der Naturen bleibt jetzt der Nachdruck gerichtet, und ein polemischer Schlag fällt gegen die Ansicht, daß alle Arten der Tugend mit einander befreundet seien (360 C 1). Im Gregenteil, die beiden gegensätzlichen Grundtypen können sich so einseitig entwickeln, daß die eine zur sklavischen Feigheit wird, die andere zur kriegerischen Gewaltsamkeit, und beide können den Ruin ihres Landes bewirken. Aufgabe der Staatskunst ist es nun, diesen naturgegebenen Gegensatz nicht etwa zu vernichten, was ja gar nicht möglich ist, sondern die beiden gegensätzlichen Kräfte in einer herakliteischen „Fügung des Wider-spännstigen" zusammenwirken zu lassen für den Bestand des Staates. Das Bild der Webekunst zeigt, wie der politische Mensch diesen Grundgegensatz zur Einheit zusammenwirkt. Hat also, wie es zuweilen gesehen wird, Piaton im Politikos gegenüber den Werken seiner Frühzeit und seiner Höhe wirklich das,
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was man seinen „Idealismus" oder seinen „Intellektualismus" oder seine „Tugendlehre" nennt, aufgegeben zugunsten einer „Temperamentenlehre"36) ? Die so denken, haben eins vergessen: daß hier der Eleat sich mit dem jungen Sokrates unterhält, während der große Erzieher schweigend zuhört. Das Thema Erziehung klingt im Politikos nur hier und da wie von fern an. Aufgabe der staatsmännischen Kunst sei es, die guten Naturen von den schlechten durch prüfendes „Spiel" zu sondern und, nachdem die schlechten ausgeschieden sind, die übrigen den berufsmäßigen Erziehern zu übergeben (308 D). Nur vorübergehend und vergleichsweise wird von der „Musik" gesprochen (304 B). Man denke daran, wie die musische Kunst sich im Staat mit der Gymnastik vereint, um die Wächter zu jener Einheit von Seele und Leib zu erziehen. Im Politikos hingegen stellt der Eleat die Musik „und überhaupt die Arten des handwerklichen Wissens, Könnens" neben einander, so daß man den Eindruck bekommt, Musik sei eines von diesen Handwerken, also etwa Spielen auf einem Instrument oder Übung in einem Rhythmus, weit entfernt von jener musischen Kunst, von der Sokrates im Staat (III 401 D) sagt, in ihr bestehe die eigentlichste Nahrung, weil Rhythmus und Harmonie in das Seeleninnerste dringen und die Seele zur Wohlgestalt bilden. Sind in dem großen Staats-Werk der Philosoph, der Staatsmann und der Erzieher so gut wie eine Person, so unterstehen im Politikos der königlichen Kunst des echten Staatsmanns die vom Gesetz bestimmten Erzieher (308 E). Wer nicht fähig ist, zur Mannhaftigkeit oder zur ruhigen Milde erzogen zu werden, den soll man durch Tod oder Ausschluß aus der Staatsgemeinde beseitigen. Denen, die übrig bleiben, fügt der Staatsmann das Ewige in ihrer Seele durch ein „göttliches Band" zusammen, das Animalische in ihrer Seele durch ein menschliches Band. Was ist dieses göttliche Band ? Die richtige Meinung (άληθη δόξαν 309 C. Ε 6) über das, was schön, gerecht und gut ist. Da klingen von fern die wahren Erkenntnisse des höchsten Seienden an. Aber der zuhörende Sokrates würde doch wohl fragen, ob die „richtige Meinung" genüge, wenn auch der Eleat ein Wort hinzugefügt hat, das die „Festigkeit" (μετά βεβαιώσεως) dieser Meinung betont, oder ob nicht vielmehr ein Wissen gesucht werden müsse, das hoch über richtiger Meinung steht.
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Wie wird nun diese Erziehung bewirkt ? Die von Natur energische Seele wird zur,,Mannhaftigkeit" beruhigt, so daß sie sich auch mit „Gerechtigkeit" verbindet. Die von Natur milde Seele wird „maßvoll" und „verständig". Dies ist das „göttliche Band", durch das die entgegengesetzten Seelenarten mit einander zusammengebunden werden. Jede der beiden nimmt zwei von den vier .Kardinaltugenden' in sich auf, und so verbinden sich die entgegengesetzten zur Einheit. Auch hier würde der zuhörende Sokrates erinnern, daß in seinem Staatsbau die Wächter und gar die Philosophen erzogen werden, indem trotz entgegengesetzter Anlagen die vier Tugenden sich in je einer und derselben Seele zur Harmonie des Gegensätzlichen vereinen. Das „menschliche Band", das der Staatsmann stiften muß, ist die Heirat zwischen den beiden entgegengesetzten Menschentypen, um zu hindern, daß durch immer wiederholte Verbindung Gleichgearteter die Verschiedenheit sich zum Extrem steigere. Auch im Staat und in den Gesetzen stehen die Ehen unter strenger Aufsicht. Aber im Staat geht es nur um die Ehen der „Wächter" — der dritte Stand kann offenbar darin wie auch sonst weithin handeln, wie er will, — und gerade dort, wo die Forderungen an die Erziehung-Bildung so unvergleichlich höher gespannt werden als im Politikos, bleiben die Bestimmungen über die Ehen gleichsam auf der physiologischen Stufe; nicht zufällig wird gerade dort von der „Herde" (ττοίμνιον, άγέλη V 459 Ε) des Wächterstandes geredet, deren Art und Zahl durch richtige Auswahl bestimmt werden müsse. In den Gesetzen (VI 772 Ε ff.) hingegen wird die Verbindung der gegensätzlichen Naturen zu Maß und Symmetrie aus dem Politikos übernommen, nur daß sich in dem großen Gesetzgebungswerk damit noch ein ökonomisches Motiv verbindet: bei der Eheschließung sollen arme vor reichen Gattinnen bevorzugt werden. Der Gast aus Elea also läßt gegen Ende des Gesprächs noch einmal mit starken Gefühlstönen das Webewerk der Staatskunst eindringlich werden, und er bedient sich dafür in seinem Schlußwort der schönen alten Formel „Gemeinsinn und Freundschaft", die uns aus Alkibiades und Politeia vertraut ist 37 ). Hier steht sie noch einmal, umfassender als je, da sie alle, sogar „Sklaven und Freie", in eins zusammenfaßt, als Ausdruck jener heraklitisehen Spannung, die dem Piaton das Wesen des wahren Staates wie des Seins über-
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haupt ist. „Gemeinsinn und Freundschaft" ist das Mittel, mit dem der königliche Weber Eudämonie wirkt nach Menschen- und Staatesmöglichkeit. Eins überhöre man dabei nicht, besonders mit dem Blick auf den zuhörenden Philosophen. Es ist nicht schwer, sagt der Eleat, das Band zwischen den beiden gegensätzlichen Menschentypen herzustellen, wenn sie nur beide über das, was schön und gut ist, eine und dieselbe „Meinung" haben (δόξαυ 310 Ε 7). Zusammenweben muß man beide durch manche Mittel, unter denen das erste die „Gemeinschaft der Meinungen" (όμοδοξίαις 310 Ε 10) ist. So schön und eindringlich dies alles gesagt ist, eins fehlt darin, nämlich das, was sich über richtige Meinung hoch erhebt: Erkenntnis. „Höchst gelungen ist nun auch (wie vorher das Bild des Sophisten, so jetzt) das Bild des königlichen und des staatlichen Mannes, das du vollendet hast." Diesen Satz dankbarer Zustimmung, mit dem der Politikos schließt, weisen die meisten heut dem alten Sokrates zu statt dem jungen38). Dabei ist nicht bedacht, daß der Sophistes mit einem „Vollkommen so!" des jungen Theaitet und der Parmenides mit einem „Höchst wahr!" aus dem Munde des jungen Aristoteles schließt. Wie in diesen beiden Dialogen niemand auch nur daran denken würde, das Schlußwort jemand anderem als dem jungen Manne zu geben, der bisher der jeweils Antwortende gewesen ist, so entspräche der Wunsch, am Ende des Politikos von dem alten Sokrates ein abschließendes Wort zu hören, vielleicht einem modernen Höflichkeitsbedürfnis. Hat aber Piaton etwas ganz anderes gewollt als höflich sein, und würde eine solche Zustimmung des alten Sokrates den Dialog etwa mit einem Klang beschließen genau entgegengesetzt dem, der in Piatons Absicht lag ? Sollen wir nicht das Schweigen des Sokrates wie durchweg so jetzt am Schluß als ein beredtes, als ein fragendes Schweigen verstehen ? Sokrates hat am Anfang des Sophistes und des Politikos ein Gespräch über den Philosophen in Aussicht gestellt, das er mit dem jungen Sokrates führen werde, nachdem der Gast aus Elea zu Ende sei. Wir können das Werk, das Piaton nicht geschrieben hat und wahrscheinlich nie zu schreiben gedachte, nicht vor uns aufbauen. Aber wir sollen ahnen, was dem zuhörenden Philosophen an dem Bilde des politischen Menschen fehlen muß, wie der Eleat es unter der Zustimmung des jungen Sokrates gezeichnet hat: alles das nämlich, was die Politeia von der Erziehung des
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Philosophen-Staatsmanns zu sagen hat. Nimmt man das in Gedanken hinzu, so würde sich zeigen, daß der Philosoph sich durchaus nicht damit begnügt, die Gegensätze der Naturen in das Gewebe des Staates zusammenzuweben, daß er vielmehr als Erzieher die gegensätzliche Spannung in den Seelen der Besten durch Erziehung-Bildung zur Einheit formt und diese Seelen auf das wahrhaft Seiende richtet. In seiner Akademie hat Piaton gewiß an dem Erziehungsideal seiner Politeia festgehalten. Für Syrakus oder Assos wäre ihm die Webekunst des Politikos eine höchst angemessene Forderung der Erziehung und der staatsmännischen Kunst gewesen, wie sie das für irgend einen Staat unserer eigenen Zeit noch immer ist.
28. PHILEBOS Der Philebos trägt in den Handschriften den Untertitel „Über die Freude (Lust), Ethischer Dialog", und so wird er auch von modernen Interpreten oft verstanden1). Dem hat schon der Neuplatoniker Olympiodor scharf widersprochen2). Aristoteles gibt dem Anfang des X . Buches seiner Nikomachischen Ethik den Titel „Über die Freude" mit Recht. Im Philebos aber haben weite dialektische und ontologische Teile nichts oder nur sehr indirekt mit Lust oder mit Ethik zu tun. Der Dialog ist ein Drama, in dem Freude und Erkenntnis um den höchsten Rang streiten und ein Etwas jenseits beider den Preis davonträgt. Vertreter der LustThese sind Philebos und Protarchos. Vertreter der ErkenntnisThese ist Sokrates. Daß Sokrates seine These in ganz anderem Sinne vertritt als die beiden Jungen die ihre, versteht sich von selbst und wird sofort deutlich, da er den Sieg einer dritten These von vornherein als möglich hinstellt, das heißt also: in Aussicht stellt (11 D 11). Mit dem Philebos, so pflegt man es zu sehen, greife Piaton in eine Erörterung ein, die der große Mathematiker und Naturforscher Eudoxos in der Akademie durch seine Lehre über die Freude (Lust) als das Gute in Gang gebracht und gegen die dann Speusippos sich gewandt habe. So hat es vielleicht schon Aristoteles gesehen, da er in seiner Ethik den Philebos gleich nach der Lehre des Eudoxos zitiert. Aber Piaton erörtert — das heißt: bekämpft — die Lust-These schon im Protagoras3) und dann viel heftiger und ausdrücklicher im Gorgias und dann in der Mitte des Staats (VI 505 AB) gerade dort, wo das „Urbild des Vollkommenen" als höchster Gegenstand der Lehre sichtbar wird. Also hat Piaton
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selber die inner-akademische Diskussion zwischen Hedonismus und Intellektualismus mehr noch angeregt, als daß er mit dem Philebos in sie einträte. Und Eudoxos wird über die Frage, welches das höchste Gut sei, ehe er akademischen Boden betrat, weit weniger nachgedacht haben als über Gestirnsphären und mathematische Proportionen4). Aber den Gegensatz der hedonistischen und der intellektualistischen Front sah man ja schon weit früher in dem Gegenüber der Kyrenaiker und der Kyniker gegenwärtig, und wiederum eine Generation vorher hatte ihn Prodikos in der berühmten Allegorie dargestellt: Herakles am Scheidewege zwischen den beiden Frauen, von denen die eine die Tugend ist, während die andere, bald Schlechtigkeit, bald Glück genannt, ihm alle Genüsse des Lebens verspricht5). Noch älter als diese in mythisches Gewand gekleidete Allegorie, die weit in die Zukunft gewirkt hat, ist der echte Mythos vom Paris-Urteil. Ihn hatte Sophokles in dem Satyrdrama Krisis auf die Bühne gebracht, anscheinend die alt-epische Geschichte so vereinfachend, daß er den troischen Königssohn zwischen Athene und Aphrodite, zwischen Vernunft und Lust, die Wahl treffen ließ. Die beiden Wege wiederum, die Prodikos in jener Allegorie sich von einander scheiden läßt, hatte Hesiod ihm in berühmten Versen vorgezeichnet: den glatten und kurzen Weg zur Schlechtigkeit und den langen, steilen zur Tugend. Eine so reiche Tradition sah also Piaton vor sich, und Jahrzehnte lang hatte er an ihr teilgenommen, als er den Philebos schrieb. Man wird schon daraus entnehmen, daß er diese Tradition nicht einfach fortsetzt. Über der primitiven Frage des Anfangs und über der einfachen Antwort: das wahrhaft Gute-Vollkommene ist etwas hoch über dem Geist sowohl wie über der Freude, aber der Geist kommt der Vollkommenheit unvergleichlich näher als die Freude — über jener Frage und dieser Antwort erheben sich Ausblicke und Einsichten, die es deutlich machen, „daß jene gleich anfangs hingestellte Frage keinesweges die einzige, ja vielleicht nicht einmal die Haupttendenz des Gespräches sei" (Schleiermacher)®). Wie wenig die meisten modernen Leser die dialogische Lebendigkeit im Philebos fassen, dafür gibt es ein seltsam deutliches Kennzeichen: die Interpunktionen in unseren Textausgaben. Das Gespräch ist wie vielleicht kein anderes — noch mehr als Sophistes und Politikos — voll von Sätzen, die Sokrates unterbricht, um sie
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nach einem fragenden oder zustimmenden Zwischenwort des Unterredners wieder aufzunehmen. Man müßte dort, wo Sokrates für einen Moment innehält, dieses Unterbrechen je nachdem durch ein Kolon oder ein Komma oder eine Punktreihe bezeichnen, während sich die Herausgeber mit widerspruchsloser Einförmigkeit auf Punkt oder Fragezeichen beschränken7). Hat man dies eingesehen und ein lebendigeres Interpunktionssystem durchgeführt, so wird man sich fragen, ob nicht etwa ganz am Schluß nach den letzten Worten des Protarch: „Ich will dich an das, was noch übrig bleibt, erinnern", besser eine Punktreihe als ein Punkt stünde, um anzudeuten, daß das Gespräch ohne Unterbrechung weitergehen wird, und daß nur gleichsam der Berichterstatter nicht mehr aufnimmt, was dann noch gesagt worden ist8). Der Philebos ist vielleicht doch nicht so „ohne künstlerischen Reiz", nicht so „mühelos in eine methodisch angelegte Abhandlung zu transponieren", wie es vielen scheint9). Das Gespräch ist als Ausschnitt gesehen10). Eine Gruppe junger Leute ist versammelt, am ehesten in einer Ringschule, wie denn das Scherzmotiv des geistigen Ringkampfes das Ganze durchzieht. Sie haben über das beliebte Thema, welches von den menschlichen Besitztümern das beste sei, diskutiert und haben den Sokrates in ihre Diskussion gezogen, derart daß sich zwei gegensätzliche Thesen herausgestellt haben, und da wo es abbricht, wird es noch weitergehen, vielleicht morgen, aber gewiß auch sogleich. Sie haben ihm im Scherz gedroht, sie würden ihn nicht nach Hause lassen, bis die Diskussion ihr Ziel erreicht habe. Daraufgeht der Schluß des Ganzen: „Laßt ihr mich los ?" und zwischendurch (50 D) ein „Wirst du mich loslassen, oder soll es bis Mitternacht weitergehn ?" Die erotische Atmosphäre deutet sich an. „Philebos der Schöne . . . " sagt Protarch am Anfang, als er dessen Stelle einnimmt (11 C 7). „Schöner Philebos", redet Sokrates ihn später einmal (26 B) spöttisch mahnend an, da sich Aphrodite als Stifterin hoher Ordnung erweist und nicht, wie Philebos sie sieht, als Göttin der Lust. Ja, den Namen Phil-hebos hat Piaton gewählt, wahrscheinlich erfunden, um jener Stimmung Ausdruck zu geben11). Sokrates ist der, den wir seit den Frühdialogen, zumal im Umgang mit jungen Menschen kennen12). Daß er am Anfang „eine These vertritt", wäre unsokratisch nur dann, wenn er sie nicht der Prüfung preisgäbe. Dies aber tut er sofort, und bald hilft er sie
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überwinden. So ist der von ihm aufgestellte Satz, das Gute sei Erkenntnis, kein Dogma, sondern vorläufige Basis der Erörterung, die dann verlassen wird, wenn sie ihr teilhaftes Recht und ihre Unzulänglichkeit offenbart hat. Beachtenswert ist auch, daß der gescheite Literarkritiker Dionys von Halikarnass in seiner sehr kritischen Erörterung der platonischen Stilformen gerade den Philebos besonders lobend als Beispiel der Dialoge nennt, in denen Piaton „den sokratischen Charakter wahrt" 1 3 ). Philebos steht ganz bei Seite. Genauer: er scheint bei Seite zu Hegen. Denn man hat doch wohl Anlaß den Protarchos beim Wort zu nehmen, wenn er einen geläufigen Spruch ummodelnd meint, es sei vielleicht am besten den Philebos nicht durch Fragen aufzustören, da er doch „gut gelagert" sei (μή κινείν εύ κείμενου 16C9) 1 4 ). Man fragt nach dem Grunde der Seltsamkeit, warum die Figur, nach der der Dialog heißt, so gut wie gar nicht am Gespräch beteiligt wird. Aufklärend sind die wenigen Ausnahmen. Als die Erörterung von der Vordergrundsaufgabe zu etwas so Fernem und Abstraktem wie dem Problem des Einen-und-Vielen aufgestiegen ist, fragt Philebos ärgerlich, wie das zur Sache gehöre (18 Α—Ε). Und später greift er noch einmal ein (27 E), um emphatisch auszusprechen, daß er die Lust als „grenzenlos" in jedem Sinne meine. Fragt man jetzt, warum Piaton diese Dialogperson überhaupt eingeführt, ja warum er die Schrift nach ihr benannt hat, so wird alles klar. Philebos verkörpert die reine, ihrem Wesen nach „grenzenlose" Lust. Gewiß ist es auch nicht von ungefähr, daß er liegt, während man die Träger des eigentlichen Gesprächs in seiner Nähe stehend oder sitzend denken muß. Philebos selbst „hat verzichtet weiter teilzunehmen" (11 C 8). Lust kann nicht „Rede stehen, Rechenschaft geben". Sie will es auch gar nicht; denn Kämpfen ist kein reines Vergnügen. Läßt sie sich darauf ein, so paktiert sie mit der Gegenmacht, dem Logos, und unterhegt notwendig im Kampfe mit ihm. Reine Hedonik und Dialog schließen einander aus. Jene ist wesentlich ungesprächig, das heißt aber unmenschlich, wie sich denn das Leben der Auster letztlich als das Wunschbild des Hedonikers entpuppen wird (21 C).Man denke an den Gorgias, und daß dort Kallikles, der Prophet des gewalttätigen Ich — das heißt aber nach der Deutung des Sokrates: der Prophet der Lust — unterliegen muß, sobald er nicht gewalttätig i s t , sondern die These des grenzenlosen Luststrebens im Gespräch
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durchkämpft. Damit wird klar, was die schweigende Anwesenheit des Philebos „bedeutet"16). Sie ist nicht das schwächste dramatische Element in diesem Dialoge: schweigend ist immer der starre Widerstand der reinen Hedonik da. Damit ist aber auch klar, warum die These des Philebos durch einen anderen vertreten werden muß ie ). Hinter dem Namen Protarch verbirgt sich nicht etwa eine bestimmte philosophische Hedonik, etwa die des Aristipp oder des Eudoxos17). Vielmehr vertritt Protarch jene durchschnittliche Gesinnung, die der Hedonik geneigt ist, ohne sich doch — im Gegensatz zu Philebos — andern Lebensmächten zu verschließen. Gewiß hat es diesen „Sohn des Kallias" wirklich gegeben. Vielleicht war er wirklich ein Schüler des Gorgias (58 A). Aber auch so müßte dieses Hereinspielen des Gorgias noch in der Sache, d. h. im Thema des Gespräches, begründet sein. Die wahrste Erkenntnis, sagt Sokrates, ist die, die auf das Ewig-Seiende geht. Die ausgezeichnetste, nämlich mächtigste Kunst, sagt Gorgias durch den Mund des Protarchos, ist die Rhetorik als Kunst der bezwingenden Überredung. Die Lust also, die in ihrem eigentlichsten Vertreter nicht am Gespräch teilhat, weil sie nicht teilhaben kann, vermag nur zu diskutieren, indem sie den Weg über die Rhetorik nimmt, wie umgekehrt Lust das Grundprinzip der Rhetorik ist. So hatte schon im Protagoras Sokrates gegenüber der Sophistenschar die Frage des Hedonismus zum Gesprächsgegenstand erhoben (351 Β ff.). Protagoras selbst, der stärkste Geist in dieser Gruppe, hatte unter Sokrates' Führung die Begriffe „gut" und „lustvoll", etwas unsicher zwar, doch von einander geschieden, und dann hatte Sokrates im Gespräch mit ihm die Erkenntnis als entscheidende Kraft gesichert und innerhalb ihrer eine Kunst des Messens und Zählens, bloß um bald darauf unter dem vereinten Beifall aller Weisheitslehrer, auf den er rechnen kann, „lustvoll" und „gut" wiederum zu identifizieren. So nahe also sieht Piaton die Bezirke „Sophistik-Rhetorik" und „Lust" schon seit seiner frühen Zeit. Der Lust und der Rhetorik kommt es letztlich nicht auf Wahrheit an, sondern auf Macht. Wie im Gormas-Dialog Polos ein Schüler des großen Sophisten, Kallikles ein Anhänger des Gorgias und des Polos ist, so wird hier im Philebos die Konsequenz der Hedonik angedeutet, indem Protarchos sich auf den Meister Gorgias beruft. Anders ausgedrückt: das Problem des Gorgias - Dialoges, besser: der Fricdländer, Piaton III
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tödliche Kampf, der dort ausgekämpft wurde, taucht am Rande auf. Also auf den Protagoras und noch viel stärker auf den Gorgias muß man zurückgreifen, um den Philebos im platonischen Werk verwurzelt zu sehen18). Im Gorgias streitet Sokrates gegen die These vom Recht des Stärkeren, derart daß er sie zuerst entlarvt als die Überzeugung vom Primat der Lust und dann diese Überzeugung zerbricht, indem er den Gegner zu dem Eingeständnis zwingt (499 B): Lust ist gar nichts Einheitliches, es gibt edle und gemeine Freuden, es gibt also einen Maßstab, an dem Lust sich zu legitimieren hat: das Gute. Es ist dasselbe Eingeständnis, zu dem er im Philebos seinen Gegner zwingt (14 A). In beiden Dialogen steigt die Erörterung bis zum Juckreiz und was damit verwandt ist hinab (Gorg. 494 D. Phil. 46 A). In beiden ist wichtig die mit Weh gemischte Lust, etwa bei der Löschung des Durstes (Gorg. 496 D. Phil. 31 D ff.); im Gorgias, weil daran der Unterschied gegen das Gute abgelesen werden kann, das solche Vermengung nicht kennt, im Philebos, weil von solchen Mischgefühlen zu reineren Lustarten aufgestiegen wird. In beiden Dialogen erweist sich, daß der unbefangene Sinn des Gegners Rangunterschiede innerhalb des Lustbereiches anzuerkennen bereit ist, bis sein Befangensein in der radikalen These diesen Durchbruch zunächst verhindert (Gorg. 494 Ε f. 499 B. Phil. 14 AB). In beiden Dialogen wird klar, daß es nicht um einen Wortstreit oder um abstrakte Prinzipien geht, sondern um Grundhaltungen des Lebens selber (mos βιωτέου Gorg. 492 D 5. 500 C 4. ßiou Phil. 11 Ε 2). Im Staat wird mit dem gesamten Grundplan des Gorgias auch dessen Hedone-Motiv neu gestaltet. Wir werden erwarten, daß diese Gestaltung wie zeitlich so auch morphologisch auf dem Wege vom Gorgias zum Philebos sei 19 ). Im Staat ist die Lust nicht mehr wie im Gorgias gleichsam Mitte der Gefechtshandlung. Der Kampf ist im wesentlichen schon gewonnen, indem der Staat der Gerechtigkeit gebaut ist. Der Sieg wird vervollständigt durch die Glücksabrechnung im Neunten Buch. Aber wenngleich an die Peripherie gerückt, hat doch das Lustmotiv eine neue Tiefe bekommen. Wie im Staat zentral wird, was im Gorgias noch peripher war, die Erkenntnis, so wird durch den Bezug auf sie auch die Betrachtung der Lust vertieft. Und zwar in doppeltem Sinne. Erstens ist die höchste Lust die des Erkennens. Der Er-
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kennende, der „Philosoph", allein entscheidet über den Vorrang seiner eigenen Lust vor der Lust der Übrigen, weil nur er außer seiner eigenen auch die der anderen kennt, und weil nur er über das Mittel des Urteils, den Logos, verfügt (IX 580 D—583 A). Zweitens aber ist in die Lust selber ein Moment der Erkenntnis hineingekommen: Lust gegen Lust ist nicht nur wie im Gorgias „besser", sondern sie hat jetzt größere oder geringere „Wahrheit" (583 B—588 A). Der Philebos übernimmt die neue Verknüpfung, die hier zwischen Lust und Erkenntnis gestiftet wird. Er führt denselben Kampf wie der Staat dagegen, daß man echte Lust verwechsle mit dem Gleichgewichtszustand zwischen Lust und Weh 20 ). Auch er kämpft zäh für die Anerkennung des Gegensatzes zwischen wahrer und falscher Lust. Er bewahrt, so sehr viel weiter sein Beobachtungsfeld ist, doch selbst eine solche Einzelheit wie die, daß die Wohlgerüche als Beispiel unvermischter Lust vorgeführt werden (584 B. 51 B). Auch er sublimiert die Lust, indem er sie an die höchsten Erkenntnisse heftet. Aber nun sehe man auch die Unterschiede. Im Gorgias hieß der Gegensatz gegen die Hedonik „Gerechtigkeit". Die Politeia bewahrt dieses ethisch-politische Moment, nur daß das Politische jetzt zum Hauptthema wird, und daß das Moment der Erkenntnis, das sich ja schon in der Frage nach der „Gerechtigkeit" verbarg, zu einer bisher unerhörten Selbständigkeit gedeiht: der Aufstieg zu den Ideen erfüllt die Mitte des Staatsbaues. Erst zuletzt gleichsam am Rande wird nach der Lust gefragt (IX 580 D ff.), und von der neu gewonnenen Erkenntnis der Mitte her fallt neues Licht auch auf sie. Im Philebos ist der politische Einschlag unausdrücklich geworden. Der ethische Gegensatz, der im Gorgias ein Kampf auf Leben und Tod war, in der Politeia noch alle Kräfte beanspruchte, scheint seine Heftigkeit verloren zu haben. Aber für einen Augenblick spricht Sokrates doch von der „Gefahr" und der „Unfrömmigkeit", die in einer falschen Entscheidung liege(28A),— seltsam starke Worte, die Piaton ihm kaum in den Mund legen konnte, ohne dabei über allen Abstand der Zeiten die Anklage und die Apologie (28 B. 34 C) gegenwärtig zu haben. Aber das schwindet wieder, und in dem Streit um die Grundhaltungen des menschlichen Lebens spürt man nur noch einen Nachklang der alten Heftigkeit und Lebensgefahr. Dafür wird jene Verknüpfung der 19*
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Lust mit den letzten Seinsfragen, die die Politeia gestiftet hatte, jetzt das eigentliche Thema, und diese Spannung ist es, die mehr als vieles andere den Charakter unseres Dialoges bestimmt: jene eigentümliche Anakoluthie des Ganzen, die im Bau vieler Einzelsätze dieses Spätstils ihre Entsprechung hat 2 1 ); jenes Hinübergleiten, welches bewirkt, daß der „gliedernde" Interpret hier noch mehr überschärfen muß als etwa sonst 22 ); jene sprunghafte und in ihrem Grunde schwer durchsichtige Bewegung zwischen ganz verschiedenen Ebenen. Denn auch jetzt noch hat Piaton es im letzten nicht auf eine Psychologie der Affekte abgesehen. Sondern Lust und Weh, so viele Kraft er an ihre Beobachtung und Beschreibung wendet, sind ihm ein neuer Zugang zu dem, was von je sein eigentliches Anliegen gewesen ist 23 ). E r s t e r Teil. E r s t e s S t ü c k . Der Gegensatz wird sogleich formuliert und dann ausgearbeitet. Die Frage geht nach dem, was „gut" ist, oder, wie es dann bald (14 B) verschärft heißt, nach „dem Gut, dem Guten". Philebos hat es, bevor unser Gesprächsausschnitt einsetzt, bestimmt als „Lust" oder „Freude", Sokrates als „Denken" mit allen möglichen Spielarten des geistigen Vollziehens. Wir kennen diesen Kampf aus der Mitte des Staates (VI 504 DE) und wissen, daß sich in ihm das natürliche Streben des leiblichen Daseins mit dem des geistigen auseinandersetzt. Jetzt stellt Sokrates beide Ansprüche einander gegenüber, scheinbar so sachlich, daß der Gegner zustimmt. Aber in der Art, wie Sokrates formuliert, liegt doch schon etwas wie eine erste Kritik. Die Lustthese stützt ihr Recht auf ihre Allgemeinheit: Lust ist gut für „alles Lebendige" (ττδσι ζφοι$ 11 Β 5)24), die Geistthese im Gegenteil darauf, daß sie eine ausgezeichnete, nicht allen zugängliche Seinsweise als das Gute setzt: Denken ist gut für alles, was im Stande ist daran teilzunehmen (σύμπασιν δσαττερ αυτών δυνατά μεταλαμβάνειν 11 Β 9, vgl. 22 Β 5). Oder noch genauer: Denken in allen seinen Varianten erweist sich als „vorzüglicher und besser"; Sokrates wählt eine rituelle Formel, die wir aus der Gesetzessprache kennen 25 ), also feierliche Rede. Und er gebraucht den Komparativ, also er vergleicht, und erst dann schließt er mit dem Superlativ: „das Förderlichste", so daß diese Entscheidung als Ergebnis eines Vergleiches oder Kampfes fühlbar wird. In dieser Frage nach dem, was „gut" ist, liegt eine gewisse Zweideutigkeit : ist das Gute im menschlichen Leben gemeint oder das
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Gute-Vollkommene überhaupt ? Zunächst scheint man einen weiteren Bezirk im Auge zu haben: „Alles Lebendige" und „alles was fähig ist", das geht sowohl unter das menschliche Leben hinab wie möglicherweise darüber hinauf. Man wird darauf zu achten haben, ob auf solche weiteren Bezirke auch später noch gezielt werden wird. Für jetzt jedenfalls wird der Kampfplatz verengt auf den Bereich des menschlichen Daseins. Es handelt sich um „Haltungen der Seele", und „gut" ist das was dem menschlichen Leben „Eudämonie" verleiht. Ist also dieses die Lust oder die Erkenntnis ? Die Zweideutigkeit in der Frage nach dem Guten reicht noch weiter. Sokrates formuliert den Gegensatz so: „gut" sei nach der Ansicht des Philebos die Freude, nach seiner eigenen das Denken. Und noch einmal formuliert er den Standpunkt des Protarchos so (13 A 8): „gut" (άγαθά) seien alle angenehmen Dinge, und dagegen seinen eigenen: viele angenehme Dinge seien schlecht, und einige seien „gut". Protarchos aber ändert dann, als er die Debatte aufnimmt, wie von ungefähr, das, was bisher „gut" hieß, in „das Gute", als ob da gar kein Unterschied wäre. Sokrates bleibt noch eine Weile bei dem artikellosen, adjektivischen Ausdruck (13 Ε 5), und erst dann, als er die beiden Positionen in ihrer Gegensätzlichkeit einander gegenüberstellt, übernimmt er von Protarch „das Gute" (14 Β 1) und spricht von der Gegensätzlichkeit „des Guten, wie ich es verstehe, und wie du es verstehst"28). Dieses Hinüberwechseln von dem adjektivischen „gut" zu dem nominalen „das Gute" kann kein Zufall sein. Protarch nimmt zu Unrecht ein Schlagwort auf, wie es, spätestens seit man die Politeia las und diskutierte, im platonischen Kreise umgelaufen sein muß. Sokrates widerstrebt eine Weile. Spräche er nicht zu Protarch und der Gruppe der jungen Menschen, sondern etwa zu Glaukon und Adeimantos, so würde er sagen, daß „das Gute" jenseits des Seins und also auch des Erkennens ist (Staat VI 509 B). Den Ringkampf leitet eine wegweisende Bemerkung des Sokrates ein. Es wäre denkbar, daß keine der beiden Thesen richtig sei, sondern daß ein Drittes sich als „das Gute" herausstellen werde. Dann müßten die beiden Gegner dem „Wahrsten" zum Sieg verhelfen. Damit ist klar auf den weiteren Verlauf des Gesprächs im Voraus hingewiesen. Wenn aber richtig ist, was über den Hinweis auf die Transzendenz des „Guten" gesagt wurde, so soll man vielleicht auch einen Hinweis auf die Transzendenz des „Wahrsten"
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schon hier verspüren und auf die Frage, ob das Gute-Vollkommene nicht zugleich das Wahrste ist. Fürs erste aber geht es in den Kampf um die beiden Anfangsthesen. Protarchos zieht sich zurück auf die Namens-(oder Begriffs-)Einheit „Lust". Lust ist Lust; mag sie kommen woher sie will, als Lust kennt sie keinen Unterschied. Sokrates zeigt ihm: Die Farbe oder die Form ist als Gattung je eine Einheit, aber die Arten innerhalb jedes Gattungsbereiches können ganz verschieden von einander sein, weiß oder schwarz, Quadrat und Kreis. Stellte man sich nun auf den Standpunkt des Protarch, so könnte man ebensogut behaupten, das Unähnlichste sei dem Unähnlichsten am ähnlichsten, da sie zur Gattung des Unähnlichen gehören (13 D). Man mag sich einen Eristiker in der Nachfolge Zenons denken oder etwa den Sokrates des Euthydem, wie sie sich belustigen möchten, aus dieser Ähnlichkeit des Unähnlichen scharfsinnige Trugschlüsse zu ziehen. Aber hier weist Sokrates auch nur den Versuch solcher Gleichsetzung kurz ab: Das wäre außerordentlich kindisch! Wie es also Gegensätze innerhalb jeder Gattung gibt, so gibt es entgegengesetzte Freuden, edle und gemeine. Also kann die Lust nicht das Gute sein. Protarchos hatte mit einem „vielleicht" (13 A 6) schon die Gegensätzlichkeit innerhalb des Lustbereiches halb zugegeben, d. h. er hatte sich auf den Standpunkt des unbefangen urteilenden Menschen gestellt. Aber als er sieht, daß er damit sein Prinzip gefährdet, zieht er sich auf dieses zurück, nachdem er es doch mit jenem „vielleicht" schon preisgegeben hatte. Aus der scheinbaren Sicherung lockt Sokrates den Gegner heraus. Indem er sein eigenes Prinzip, die Erkenntnis, zur Untersuchung stellt, ob sich darin Verschiedenheiten, Gegensätze, verbergen, bestimmt er den Andern, mit seiner „Lust" ein Gleiches zu tun. Protarchos ist nun bereit die „Buntheit" (ττοικιλία) der Lust zuzugeben, wenn nur die „Buntheit" der Erkenntnis zugegeben wird. Mit andern Worten: die Lust meint das Erkennen zu ihrer eigenen Wirrnis herabziehen zu können und merkt nicht, daß vielmehr das Erkennen es ist, welches sie zwingt, sich selbst durchsichtig zu werden in ihrer Wirrnis, — vorausgesetzt daß sie menschliche Lust sein will und nicht nur etwas, was „allem Lebendigen" (11 Β 5) gemeinsam ist. So stellt sich der Kampf dar in der Form begrifflicher Auseinandersetzung. Aufs Leben gesehen aber bedeutet das: das rein auf Lust
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gestellte menschliche Dasein ist seinem Wesen nach sinn-los, also eigentlich un-menschlich. Sobald es vor dem Logos verantwortlich wird, muß es sich selbst aufgeben oder — was doch nur eine andere Form der Selbstaufgabe ist — sich auf einer Unsinnigkeit (wie auf einem Schiffe) in Sicherheit bringen (σώξεσθαι έττ( -τίνος άλογίας 14 A 4). So hat die Hedone ihren Anspruch im Grunde preisgegeben. J a sie tat es schon, als sie sich — in Protarchos — dem Logos und Dialogos stellte. Wäre es dem Piaton nur auf das alte Problem in der Ebene des Gorgias oder gar in der Ebene zeitgenössischer Diskussion angekommen, so könnte er nunmehr die Niederlage der Hedone ausdrücklich machen. Aber diese Kämpfe sind im Grunde weit hinter ihm, und sein Ziel liegt jetzt ganz anderswo. So bricht Sokrates die Erörterung, die bis an die „Buntheit" von Lust und Erkenntnis herangeführt worden war, an dieser Stelle ab und deutet nur noch einmal an, was er gleich zu Anfang (11 D 11) als dritte Möglichkeit gesehen hatte: daß das Gute vielleicht ein Etwas jenseits von Lust und von Erkenntnis sei. Diese Frage wird er später aufnehmen (I 2). Für jetzt hebt er die Erörterung mit einem Ruck in eine ganz andere Ebene hinauf. Aber ehe wir ihm dorthin folgen, ist noch einer Arabeske innerhalb des bisher Betrachteten zu gedenken. Als Philebos sich aus dem Gespräch zurückzieht, ruft er „die Göttin selbst" an (12 Β 1. 2). Damit meine Philebos Aphrodite, halte aber Hedone, Lust, für ihren eigentlichen, wahren Namen, so sagt Sokrates, indem er seine eigene tiefste „Furcht" den Götternamen gegenüber ausspricht: Gottesfurcht sollen wir darin hören. Man denkt an den Abschnitt des Kratylos (400 D ff.) über die Götternamen, wie bedeutungsvoll sie sind; man kann auch kaum anders als an den Euthyphron (12 Α ff.) zurückdenken, und was Sokrates dort — im Angesicht seiner Anklage! — über Furcht und Ehrfurcht vor der Gottheit sagt; nur daß jetzt der alte Piaton seinen Sokrates mit noch tiefer verhüllender Ehrfurcht reden läßt. Worauf es ihm zunächst ankommt, ist dies: Lust sei etwas Mannigfaltiges, also durchaus keine Gottheit. Und nun wird das Phänomen der Vielfältigkeit im Wesen der Lust entwickelt. Wo ein so hohes Wort wie „die Göttin" erscheint, und wo das Wesen dieser Göttin umstritten wird, kann es sich keinesfalls um eine bedeutungslose Zierform der Rede handeln. „Gott", das meint — wie wir aus der „Theologie" des
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Staates ( I I 380 D ff.) wissen — ein ausgezeichnetes Sein, welches Buntheit, Vielfältigkeit ausschließt. Mehr als dieses Negative wird für jetzt nicht klar, aber wir werden aufzumerken haben, wo dieses theologische Leitmotiv von neuem erklingt — Theologie in dem Dialog, der angeblich „von der Lust" handelt! Lust ist Lust: auf diese Position hatte Protarch sich zurückziehen wollen, mag das ursprünglicher Starrsinn der Lust sein wie bei Philebos, oder mag bei Protarch etwa eine doktrinelle Meinung dahinter stehen — wenn auch unausgesprochen und nicht streng durchgeführt — : der Satz der kynischen Logik, daß man jedwedes Eine nur „mit seinem eigenen Namen" und mit keinem andern Prädikat bezeichnen dürfe (Aristoteles Met. 1024 b 32). Also Lust ist nicht gut und nicht schlecht, sondern Lust ist Lust. Aber Sokrates hatte den Gegner dort nicht ruhen lassen, sondern hatte ihm die Verschiedenheit innerhalb der scheinbaren Einheit, der Namenseinheit, abgerungen. Statt nun mit der Hauptfrage fortzufahren oder mit dem, was als Hauptfrage erscheint, nimmt Sokrates einen Problemkreis (λόγος) vor, der mit dem eben signalisierten Tatbestand, Verschiedenheit in der Einheit, gegeben ist — ein schwieriges Problem (14 C 4)! Um der gesprächzerstörenden Tendenz zu begegnen, die in der Position des Protarch liegt, steigt man zu einer ganz neuen Ebene hinauf, indem Sokrates die Frage stellt: Kann das Eine vieles sein und das Viele eines ? Und wie ist das möglich ? Der Abstand zwischen dem Kampf um den Vorrang von Lust oder Erkenntnis und dem Problem des Einen und Vielen ist sehr groß, der Zusammenhang insofern fast zufällig, als man von überall her auf dasselbe Problem hätte stoßen können. Und doch gerade darum schließlich nicht zufällig. Denn das Problem des Einen und Vielen ist das Grundproblem des Logos selber. Kein Zufall, daß es im Parmenides (129 B) fast am Anfang der Problemkette steht, mit der dort der junge Sokrates den Eleaten entgegentritt. Protarch will dieses Problem sofort mißbrauchen: wenn der Eine — er nennt als Beispiel sich selber: „ich, Protarchos" — entgegengesetzte Prädikate habe, so sei er Vieles und löse sich in eine Vielheit auf. Hier ist nun das, was wir schon vorher zu bemerken glaubten, deutlich und weithin anerkannt: der Bezug auf die kynische, d. h. für Piaton sophistische, Logik 27 ). Das aber ist, sagt Sokrates, für uns keine echte Schwierigkeit. Und ebensowenig ist es eine solche,
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daß Ein Ding gleichzeitig eine Vielheit von Teilen oder Gliedern ist. Über diese Scheinschwierigkeiten sind wir längst hinaus. Auf der Ebene der frühen Dialoge wäre dieser Gegensatz als Kampf zwischen Eristik und Sokratik ausgefochten worden. Jetzt ist er kaum noch angedeutet. Ganz andere, echtere Schwierigkeiten stehen vor uns. Es handelt sich mit einem Wort nicht um solche Fälle, wo das „Eine" und das „Viele" der Welt des Werdens und Vergehens angehört, sondern um die begriffliche oder ideelle Einheit, und drei Fragen stellen sich: 1. Hat man solche Einheiten (μονάδες) wirklich als seiend anzusetzen ? 2. Wie sind diese echten Einheiten unbeschadet des Immer-undunverändert-Seins jeder einzelnen von ihnen gleichwohl dieses Eine, nämlich Einheit ? Anders gesprochen: wie sind die gesonderten, „Ideen" (Monaden) doch zugleich „Idee" (Monade) ? Oder noch anders: wie ist im Bereich des reinen Seins Einheit und Vielheit vereinbar ? 3. Wie ist die Einheit der Idee mit der Vielheit der Erscheinungsdinge vereinbar, da die Idee sich doch weder selbst zerteilen läßt noch sich selber von sich selber trennt, um in die Vielheit einzugehen28) ? Ein schwerer und vielfältiger Kampf, sagt Sokrates (15 D), geht um diese Fragen. Wo nehmen wir den Anfang ? Bei einer allgemeinen Erfahrung. Es ist eine Eigenheit der Logoi (des Denkens und Sprechens, der Sätze), daß in ihnen das Eine und das Viele sich verbindet. Hier also ist das Ineinander des Einen und Vielen so wenig bestreitbar, daß auf ihm sogar die Möglichkeit alles verantwortlichen Sprechens beruht. So bekommt diese Eigenheit (ττάθοζ) der Logoi das homerische Prädikat „unsterblich und nimmer alternd", also einen Klang voll hoher Bedeutsamkeit. Aber mit solcher Bedeutsamkeit verbindet sich zugleich die Gefahr eristischen Mißbrauchs. Es sind besonders die Jungen, die sich dieses Mißbrauchs schuldig machen (16 AB) •— eine Erfahrung, die ganz ähnlich auch an einer Stelle des Staates (XII 539 B) begegnet —, hier also die Schar, als deren Sprecher Protarchos auftritt, und es ist auch von hier aus gesehen gewiß kein Zufall, daß dieser Protarchos sich nachher als Schüler des Gorgias erweist (58 A). Also jungenhaft, eristisch, rhetorisch ist der Mißbrauch, der richtige Gebrauch hingegen ist „dialektisch". Wieder liegt ein Kampf
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als Möglichkeit hier angedeutet, ohne daß er dramatisch durchgeführt würde. Die Gegenkraft zeichnet sich nur wie im Umriß ab, und Sokrates entwickelt, von ihr ungestört, jenen dialektischen „Weg", den schönsten aber auch schwersten den es gibt, den zu zeigen leicht, zu gehen sehr schwierig ist. Auf diesem „dialektischen Wege" ist alles, was man „Kunst" nennt, entdeckt worden — und man weiß, daß dieser weite Begriff „Techne, Kunst" alle Technik und alle Wissenschaft einbegreift. Wie hoch dieser Weg hinaufführt, lehrt ein mythisches Vorzeichen, mit dem Piaton weit in die Ferne gewirkt hat 2 9 ): der Weg ist Göttergabe, Prometheusfunke, Kunde der Alten, die den Göttern näher wohnten als wir. Alles was ist, so besagt diese Kunde, ist aus dem Einen und dem Vielen, vereint in sich Grenze und Unbegrenztheit. Daß Piaton hier auf keine pythagoreisierende Schrift der Akademie zielt, auch nicht oder nicht nur auf das Buch des Pythagoreers Philolaos, das er selber in Italien gekauft hat, sondern auf die halbmythische Größe „Pythagoras", machen jene feierlichen Worte unverkennbar, mit denen die Lehre von der Vereinung des Gegensätzlichen eingeleitet wird 30 ). Auf diese antithetische Struktur des Seienden gründet sich der dialektische Weg des platonischen Sokrates: man muß in jedem Fall die „eine Idee" ansetzen und aufsuchen, die man für jeden und jedes finden wird, weil sie „darinnen ist" 31 ), und man muß von dort weitersuchen nach der Mehrzahl, und zwar einer bestimmten Anzahl, die jeweils von dem „Einen" umfaßt wird. Dieser selbe Vorgang wiederholt sich bei jeder der Einzelheiten, die in dieser Mehrzahl beschlossen liegen, bis man so schrittweise aber nicht sprungweise vom Einen zum So-und-so-Vielen aufsteigt und ganz zuletzt gleichsam in einem Sprung vom Begrenzten zum Grenzenlosen (άπειρον) gelangt. Umgekehrt führt derselbe Weg vom Unendlichen über bestimmte Zahlen zum Einen32). Als Beispiel dient das Gebiet der Musiktöne — wie im Staat (VII 530 D ff.) — und das der Sprachlaute — wie im Kratylos. Jeweils handelt es sich um ein System, dessen Glieder zahlenmäßig bestimmt sind und in einem notwendigen Verhältnis von Über- und Unterordnung stehen. Der Name „Musik" und „Grammatik" drückt diesen Systemzusammenhang (δεσμός 18 C 8) aus, und die Tatsache „Grammatik" und „Musik" verbürgt, daß es sich hier um Wirklichkeiten handelt. Als Protarchos sich auf den Satz zurückzog: „Lust ist Lust", bestand die
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Gefahr einer Auflösung des Gespräches, und diese Gefahr meldete sich auch weiterhin noch ein und das andere Mal. Aber am Schluß dieses Ersten Stückes ist die Theorie des Logos begründet. Er ist gesehen als deutlichste Offenbarung eines von Pythagoras erkannten, das All durchwaltenden Prinzips: der Verbindung des Einen und des Vielen, der Grenze und des Grenzenlosen. Aus diesem Prinzip und über ihm erhebt sich die Dialektik. Der Bereich der ewigen Formen wird in der „einen Idea" (16 D 1) und der geordneten Vielheit der Ideen sichtbar. Zugleich deutet sich an, daß alles dieses eine durchaus aktuelle, pragmatische Bedeutung hat: der Dialektik steht die Eristik gegenüber, und damit wird als Aufgabe des Philosophen deutlich der Kampf gegen die eristische Sophistik, wie Piaton ihn vom Protagoras an bis in die Dialoge der Spätzeit, Sophistes und Politikos, führt. E r s t e r Teil. Z w e i t e s Stück. Das Gespräch hat sich so weit von I 2 a. seinem Ausgangspunkt entfernt, daß die Frage des Philebos: Was 18D—23 tut das zur Sache? berechtigt ist. Freilich nicht in seinem Sinne. Denn von der Position der reinen Lust aus muß jede Vertiefung des Problems sinn-los, weil freud-los, erscheinen. Sokrates und Protarchos hingegen fassen seine Frage als echte Frage. Dann aber fordert sie die Antwort: über den Vorrang von Lust oder Erkenntnis kann nur entschieden werden durch Einsicht in das Wesen der beiden, d. h. wenn man das gegliederte System der Lust einer- und der Erkenntnis andererseits überschaut. Dieses also müßte hier erwartet werden. Doch die Erwartung wird herabgestimmt. Protarchos zwingt zwar den Sokrates mit scherzhafter Gewalt33) das Gespräch weiterzuführen — als ob es dessen bei Sokrates bedürfte! —; aber er legt ihm zugleich nahe, ob sich nicht die, wie er meint, praktische Frage nach dem besten Besitz des Menschen auf einfacherem Wege entscheiden lasse (19 C 2. 20 A 6). Und Sokrates läßt sich in der Tat bestimmen und gibt den vorgezeichneten Plan wenigstens vorläufig auf, der auch später nur zum Teil, nämlich nur für den Bezirk der Lust, nicht aber für den der Wissenschaft, streng durchgeführt werden wird. Die Aufgabe, das geordnete System der Erkenntnisse aufzubauen, bleibt ein Hinweis weit hinaus über die Grenzen des Dialoges. Das Gespräch selbst sinkt auf die Ebene zurück, auf der es zu Anfang des „Ersten Stückes" stand. Sokrates „erinnert sich" einer Ansicht, die er einmal im Schlaf oder im Wachen gehört hat 34 ). Man erwartet
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etwas sehr Besonderes. Aber man erfährt nur, was früher schon als eine Möglichkeit erschien (14 B): weder Liist noch Erkenntnis sei das Gute, sondern ein Drittes. Um deutlicher zu sehen, wird das Gute als vollkommen, jedes anderen unbedürftig (τέλεον, Ικανό ν) bestimmt. Danach müßte also jede der beiden Lebensformen, wenn sie auf diesen Rang Anspruch machen wollen, sich erweisen als frei von jedem Zusatz der andern. So rein betrachtet besteht keine der beiden die Prüfung. Man denke das Leben der Lust ohne jede Beimischung von Urteilskraft, ohne jede Erinnerung an Vergangenes, also auch an vergangene Freude, ohne jede Berechnung des Zukünftigen, also auch zukünftiger Freude — wie Aristipp die Lust als etwas rein Gegenwärtiges, „Ein-zeitiges" (μονόχρονον) hatte erfassen wollen35) —, ein solches Leben der Lust allein, sagt Sokrates, wird zuletzt zum Leben einer Auster. Aber auch das Leben der Erkenntnis ohne jede Lust und damit zugleich ohne jedes Weh, also ein Leben der „A-pathie", ist nicht erstrebenswert. Ja, die Vernunft erhebt „vernünftigerweise" gar nicht den Anspruch, den doch die Lust erhebt (22 Ε 6 f.). Das Leben der Lust rein gedacht ist ein untermenschliches Leben, das der reinen Erkenntnis etwas Un-menschliches, vielleicht Über-menschliches. Lust bedarf, um menschliche Lust zu sein, eines erkenntnismäßigen Elements, aber auch Erkenntnis bedarf, um menschliche Erkenntnis zu sein, eines Zusatzes von Freude und Weh. Damit also bietet sich ganz von selbst das aus beiden „gemischte" Leben als das gesuchte. Wo sich denn sofort der Kampf um den zweiten Platz anmeldet, d. h. genauer besehen die Frage, ob die Lust oder die Erkenntnis dem guten, d. h. dem gemischten Leben „verwandter und ähnlicher" ist, oder anders, welches von beiden Elementen man als „Ursache" (αίτιον) anzusprechen hat dafür, daß das gemischte Leben das gute Leben ist. Für diesen zweiten Platz meldet Sokrates den Anspruch des Geistes an, während Protarchos auch jetzt für die Lust eintritt. Als im Anfang des Dialoges bei dem Streit zwischen Lust und Erkenntnis noch verhüllt der schlichte Gegensatz des Einfachen und des Vielfachen auftauchte, konnte man nicht ahnen, welche ontologische Höhe er im Ersten Stück gewinnen werde. Im Zweiten läßt Sokrates die Begriffe Mischung, gute Mischung, Ursache der guten Mischung ganz wie von selbst im Verfolg seiner Grundfrage erwachsen, und auch hier ahnt man die ontologische
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Bedeutung nicht voraus, zu der sie alsbald erhoben werden sollen. Gleichwohl streifen schon jetzt ein paar flüchtige Worte auf eine neue Ebene hinauf. Als Protarch sich über die Niederlage seiner „Göttin" Hedone damit tröstet, daß auch der „Geist" des Sokrates nicht den ersten Preis gewonnen habe, da deutet Sokrates rätselnd an (22 C): „Sein eigener Geist freilich nicht. Aber es gebe noch einen höheren, den wahren und zugleich göttlichen Geist". Der also wird hier gleichsam in der Ferne über dem menschlichen sichtbar, und das Gespräch weist ausdrücklich scherzend auf jenen früheren Moment zurück (12 Β 10), da über der Göttin, die Philebos Aphrodite nannte, aber Hedone hätte nennen sollen, eine wahrere Gottheit erschien. Das theologische Leitmotiv erklingt von neuem. Die Spannung des Ersten Stückes zwischen zwei ganz verschiedenen Ebenen wiederholt sich also im Zweiten. Mit der Erklärung, es bedürfe eines anderen Mittels als bisher, um den Kampf um den zweiten Preis zu entscheiden, schwingt sich wiederum die Erörterung auf die höhere Ebene ontologischer Problematik hinauf. J a wenn es nun heißt, man bedürfe anderer Geschosse, manche würden freilich auch dieselben sein, so ist gerade der Rückgriff auf die logisch-ontologische Höhe des Ersten Stückes (11 b) deutlich, und zwar sowohl methodisch wie inhaltlich. Erstens methodisch. „Ich mache mich wohl lächerlich", sagt Sokrates ironisch (23 D), „indem ich so nach Formen (Arten, είδη) erst trenne und dann wieder zusammenzähle". Aber gerade das war ja dort als der dialektische Weg gesichtet worden. Und nachher, als die „vier Formen, Gattungen" (είδη, γένη) des Seins aufgestellt, also voneinander „getrennt" worden sind, wendet Sokrates das Verfahren des Scheidens und Vereinens noch schärfer innerhalb ihrer an. Zweitens aber geht der Rückgriff auch auf das inhaltlich Erkannte. Die beiden Grundformen des Begrenzten (Bestimmten) und des Unbegrenzten (Unbestimmten) werden von dorther übernommen. Auch die Mischung beider fand sich dort schon angedeutet (16 C 10). Nur wird sie jetzt den anderen als dritte Form nebengeordnet mit dem Recht der Erfahrung. Denn im Zweiten Stück hatten sich drei eigenständige Möglichkeiten des Lebens gezeigt, und das gemischte Leben erschien eher bedeutender als die beiden ungemischten Lebensformen (22 A). J a selbst die vierte Seinsform hatte sich angekündigt in der Frage nach der Ursache der Mischung (22 D). Also diese Erfahrungen schießen nun zu dem System der „Vier
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Gattungen" zusammen. Nur in diesen Arten und in keinen anderen kann überhaupt Sein sich zeigen. Denn die Frage, ob es nicht noch eine fünfte gebe, weist Sokrates halb scherzend ab (23 DE), vielleicht damit die Vierzahl um so anerkannter sei, vielleicht auch damit man sie nicht als Dogma nehme 36 ). Neben der „Ursache der Verbindung" dürfe eine „Ursache der Trennung" nicht angesetzt werden. Denn — wie es im Timaios (32 C) heißt — lösen kann nur, wer verbindet. Folgen wir nun der Deduktion dieser „Vier F o r m e n " . Die e r s t e Form, das „Grenzenlose", ist überall dort, wo komparativischer Ausdruck ein „Mehr oder Weniger" anzeigt oder ein Adverb wie „sehr" einen unbestimmten Grad. Die z w e i t e Form, das „Begrenzte", ist überall dort, wo ein „Wieviel", wo Maß und Zahl vorhanden ist — so heißt es kurz, und diese Knappheit wird nachher (25 D 5) als Mangel an Systematik getadelt 37 ). Die d r i t t e Form ist das aus den beiden ersten Gattungen „Gemischte", und zwar so, daß es die Aufgabe der „Begrenzung" ist, aus dem feindlichen Gegeneinander des Grenzenlosen mittels der Zahl etwas Sym-metrisches und Sym-phonisches zu machen. Mischung also ist gerade das Gegenteil eines Gemenges, welches für Piaton vielmehr in die erste Gattung gehören würde. Mischung ist „rechte Gemeinschaft" (όρθή κοινωνία), ist Bändigung alles Unmaßes durch Gesetz und Ordnung. So bietet sich als gemeinsame Bezeichnung für die hier umfaßte Vielheit: „Werden zum Sein durch Grenze und Maß" (γένεσις els ούσίαν έκ των μετά τοΟ πέρατος όπτειργασμένων μέτρων). Die Welt des Werdens also gehört in diese dritte Gattung, aber nicht jedes beliebige ziellose Werden, sondern jenes echte Werden, das auf das Sein hinstrebt, weil es durch Grenze und Maß bestimmt wird 38 ). Aus der ontologischen Sprache unseres Dialoges in die physikalisch-mythische des Timaios übersetzt würde sich also die erste Gattung darstellen als jenes vielnamige „Behältnis alles Werdens", das von Piaton einmal und von seinen modernen Interpreten gewöhnlich „Raum" genannt wird; die zweite Gattung wären die „Formen"; in die dritte Gattung würde alles gehören, was in „diesem All" sinnvoll, d. h. gut und erkennbar ist. Jetzt versteht man vielleicht besser, was Sokrates an der eigenen Behandlung der zweiten Gattung auszusetzen hatte: „Wir hätten vereinigen müssen, aber wir haben nicht vereinigt" (25 D 6. 7)! Wollte man nicht nur an ein paar Beispielen,
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sondern systematisch — d. h. in einem System von Diairesis und Synopsis — das Wesen der „Grenze" darstellen, dann stünde man vor der Aufgabe, so etwas wie ein System der „Ideen" aufzubauen: darauf wird als auf eine unerfüllte, vielleicht unerfüllbare Aufgabe hingedeutet. Schließlich die v i e r t e F o r m : die „Ursache" (αΙτία). Denn in allen früheren fehlte das verursachende (αίτιον), das schaffende (ttoioüv) Element, das als solches führend und herrschend (ηγούμενου) und wirkenskräftig (δημιουργόν) ist 39 ). Das letzte Wort weist auf die mythische Gestalt des Werkers im Timaios, und so sehen wir von dort wieder das ontologische Schema des Philebos physikalisch veranschaulicht und mythisch belebt. Aber wir brauchen nicht nur außerhalb des Philebos nach solcher Belebung zu suchen. Als vorher die Mischung betrachtet wurde, da erschienen (25 Ε ff.) als Beispiele im Reich der Körper die Gesundheit, Schönheit, Kraft, im Reich der Töne die Musik, im natürlichen Leben die Folge der Jahreszeiten, auf dem Felde der Seele die Bändigung von Übermaß (üßpis) und aller Schlechtigkeit durch Norm und Ordnung. Und nun ist es „die Göttin selber, schöner Philebos", welche Ordnung stiftet (26 B). Man muß, zumal wenn hier plötzlich wieder Philebos angeredet wird, an das frühere Geplänkel um die „Göttin" und ihren wahren Namen zurückdenken (12 C), das ja auch nachher (28 B) noch weiter gehen wird 40 ). Wollen wir also diese Stifterin aller Ordnung recht benennen, so heißt sie Aphrodite, aber nicht im Sinne des Philebos, der sie mit seiner Lust gleichsetzt, sondern im Sinne des Sokrates. Nun blicke man auf das Symposion hinüber. Dort läßt der Arzt Eryximachos die Gesundheit im leiblichen Leben, Rhythmus und Harmonie in der Musik, den rechten Wandel der Jahreszeiten aus der richtigen Vereinigung der Gegensätze entstehen. Es sind dieselben Beispiele wie hier (nur die Ordnung der Seele fehlt bei dem Arzte!), und wie hier Aphrodite, so ist es dort Eros, dem die edle Mischung verdankt wird. Freilich ist im Philebos aus der Vereinigung der Gegensätze etwas Tieferes geworden: Bändigung der Unform durch die Form, d. h. Schönheit, Vollkommenheit. Darum also hier die scherzende Anrede „schöner Philebos", darum Aphrodite. Und nun wird zuletzt klar, warum man nicht zum Timaios hinüberzugreifen braucht, um den göttlichen Rang der vierten Gattung lebendig zu sehen, sondern wie man ihn aus den Fingerzeigen unseres Dialoges selber erkennen
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kann. Denn was ontologisch Ursache der edlen Mischung ist, dasselbe heißt mythologisch-theologisch „die Göttin" 4 1 ). E r s t e r Teil. D r i t t e s S t ü c k . Zum dritten Male kehrt die Erörterung auf die Ebene zurück, aus der sie sich zweimal erhoben hatte. Man ist so weit, daß man den Streit um den zweiten Platz nun auskämpfen kann. Ontologie, mag sie noch so weit und so hoch hinauf führen, steigt aus den ursprünglichsten Fragen über das menschliche Leben auf und kehrt wieder zurück in die eine Grundfrage des platonischen „Pragmatismus": wie wir selbst leben müssen. Der Antwort auf diese Frage wird also jetzt das System der Vier Seinsformen dienstbar gemacht. Das Leben, das sich als das höchste erwiesen hatte, das aus Erkenntnis und Lust gemischte, gehört der dritten Seinsform, der „gemischten", an, ist Bändigung des Unbegrenzten durch die Grenze. Lust ist ihrem Wesen nach aller Grenze Feind — die Lust des Lüstlings nämlich. Nicht umsonst tritt an dieser Stelle Philebos in das Gespräch ein, um jede Begrenzung von der Lust abzuwehren und eben ihre Grenzenlosigkeit — im Sinne der Menge und des Grades — für das zu erklären, was sie zum Gut, zum einzigen Gut, mache. Die Gegenkraft also ist keineswegs überwunden, ja sie ist in ihrer Weise unüberwindbar. Ein kurzer aber scharfer Kampf: Sokrates läßt sehen — Philebos freilich sieht es nicht—, daß diese Grenzen-losigkeit auch für das „Weh" gelte und hier eben das sei, was das Weh zum höchsten Übel mache. Damit zeigt sich: grade die Unbegrenztheit verleiht den Freuden jenen Anteil am Guten (μέρος άγαθοΰ) n i c h t , den ihnen auch Sokrates zubilligt, während er ihren Anspruch das Gute zu sein zurückweist. Wenn also hier noch die Frage zu lösen bleibt, was denn gewisse Freuden im Gegensatz zu andern zu etwas Gutem mache, so ist für jetzt Lust und Weh der Gattung des „Unbegrenzten" zugeordnet42). Wohin aber gehört der Geist ? Feierlich wird diese Frage eingeleitet. Man begeht eine „Unfrömmigkeit", wenn man sie falsch beantwortet, und eine nicht geringe „Gefahr" liegt darin. Unfrömmigkeit und Gefahr: will etwa Piaton für einen Moment die Anklage gegen Sokrates nach so vielen Jahrzehnten hereinklingen lassen, damit wir spüren, um welche Entscheidung es in dieser scheinbar so abstrakten Erörterung geht ? Auch das heiter-ernste Gefecht um den richtigen Namen der Gottheit wird von Philebos erneuert (12 B. 28 C). Und nun erinnert Sokrates an die überein-
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stimmende Aussage „aller Weisen": „daß der Geist uns König des Himmels und der Erde ist". Aber das bedarf einer weiteren Ausdeutung, und Sokrates läßt nun den Gegensatz lebendig werden zwischen denen die das All vom Zufall und denen die es von der ordnenden Vernunft durchwaltet glauben. Diesen Kampf hatte Piatons Sokrates schon einmal gekämpft, im Phaidon (96 Α ff.), indem er eine Scheinbiographie seines philosophischen Werdens gab. Dort erfüllt mechanische Welterklärung die erste Periode seines Denkens. Die zweite wird von dem Prinzip des Geistes beherrscht, das dort dem Buch des Anaxagoras allein verdankt wird. Aber Sokrates findet dieses Geist-Prinzip bei Anaxagoras nur unvollkommen durchgeführt und wünscht sich einen Lehrer, der ihm helfen würde, den Geist als Weltursache wirklich zu erweisen. Jetzt im Philebos wird der Kampf zwischen den beiden Welterklärungen durchgeführt. Wofür damals allein Anaxagoras und auch er nur unvollkommen eintrat, darin sieht jetzt Sokrates „alle Weisen" übereinstimmen43). Und so gilt es in diesem Kampfe einzutreten für die Sache des Geistes gegen den Zufallsmechanismus. Damit entfernt sich das Gespräch zum dritten Mal von seiner Vordergrundsaufgabe und erhebt sich zu einer mythischen Physik und Metaphysik, deren Zusammenhang mit jener erst allmählich durchsichtig wird. Dieselben vier Elemente, aus denen unser eigener Leib besteht, kehren in der großen Welt wieder, nur daß sie beim Menschen ganz unvergleichlich geringer sind an Ausdehnung, Kraft und Einheit, wie das Beispiel des „Feuers" am deutlichsten macht. Jedes Element in unserem Körper entsteht und wird genährt und wird beherrscht44) von dem entsprechenden Element im All, nicht umgekehrt. Die Vereinigung der Elemente in uns selbst nennen wir „Leib". Entsprechend ist auch der Kosmos ein Leib, und zwar einer von gleichartiger Zusammensetzung, aus dem der menschliche Leib entsteht, genährt und beherrscht wird. Schon das ist hohe Ordnung, die der Vertreter blinden Zufalls verneint. Da nun aber der menschliche Leib außer jenen elementaren Komponenten zuletzt und zuhöchst dies ist: Seele, Leben, so ist nach allem klar, daß auch der Leib des Weltalls beseelt, belebt ist, und diese Seele des Kosmos muß von vollkommenerer Schönheit sein als die des Menschen (30 A). F r i e d l ä n d e r , Piaton I I I
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Lenken wir, um Klarheit über diese Mischung und ihre Komponenten, vor allem aber über den Geist zu gewinnen, wieder auf die vier Grundformen des Seins zurück, so wird am Menschen und entsprechend am Makrokosmos deutlich: das beseelende, ordnende, heilende Prinzip, „Weisheit und Geist", ist die Ursache (IV), die das Unbegrenzte (I) mit dem Begrenzten (II) zur geordneten Einheit (III) zusammenfügt. Innerhalb dieses Bezirkes von Weisheit und Geist deuten sich wieder Stufen an, die höchsten repräsentiert durch die Namen der Götter. Zeus: das meint HerrscherGeist, und bei den andern Göttern ist es entsprechend, je nach dem wahren Namen den sie führen — wo man denn, außer auf den Götterzug des Phaidros (246 Ε ff. 253 1 f.), in unserem eigenen Dialog noch einmal zurückgewiesen wird auf jenen immer sich wiederholenden Kampf um die wahre Aphrodite. Aphrodite könnte auch hier neben Zeus genannt sein als die Form von „Weisheit und Geist", die aller Schönheit und Ordnung „Ursache" ist. Die Aufgabe ist gelöst. Wie die Lust im Bezirk des „Unbegrenzten", so ist der Geist im Bezirk der „Ursache" angesiedelt. Es wird nicht ausgesprochen, aber wir sehen klar: da er die wirkende Ursache dafür ist, daß das Grenzenlose durch die Grenze gebändigt eine nach Möglichkeit vollkommene Mischung ergibt, so ist sein Herrscherrang über die Lust gesichert. In die Ebene mythischer Physik und Metaphysik mußte man sich erheben, um diese Einsicht zu gewinnen. Wenn also die Raummaße des menschlichen Lebens weit überschritten wurden, so entsinnen wir uns, daß die Möglichkeit solcher Transzendenz sich ganz am Anfang anzudeuten schien in den Worten: „alles was an dem Geistigen teilzunehmen imstande ist" (11 Β 9 f.), und dann als Philebos „die Göttin" anrief und Sokrates die Frage nach ihrem wahren Namen, d. h. nach ihrem Wesen, stellte (12 BC). Höher als Hedone erschien dort Aphrodite, und jetzt ist es der Geist, der das Ganze beherrscht (30 D 8). So verhilft die Einordnung des Menschen in das kosmische Dasein zur Einsicht über beide und zum Handeln, das dieser Einsicht entspricht. Man überhöre diesen „pragmatischen" Ton nicht, wenn innerhalb scheinbar so abstrakter Gedankengänge plötzlich für einen Augenblick Berufe wie Gymnastik und Medizin als Wirkungen des „Geistes" aufklingen (30 Β 2. 3). Überblicken wir, ehe wir in den Zweiten Teil des Dialoges eintreten, zusammenfassend die drei Stücke des Ersten Teiles. Im Ersten
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Stück wurde der Logos begriffen als Grenze mit Unbegrenztheit verbindend. Im Zweiten Stück wurden die vier Grundformen des Seins abgeleitet und ihr Verhältnis zu einander untersucht. Im Dritten wurde der Geist im Bereich der Ursache angesiedelt und damit seine Macht erkannt als Welt und Menschenleben beherrschend. Hat also Piaton die ziemlich primitive Frage über den Vorrang von Lust oder von Erkenntnis deshalb zur Ausgangsfrage gemacht, um sich dann in ironischer Verschiebung der Gewichte hoch darüber zu erheben ?46) Z w e i t e r Teil. E r s t e s S t ü c k . Wir sind noch weit vom Ende des
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verschlungenen Weges. Hatte nicht gerade Sokrates von Anfang an die Einsicht durchgefochten, daß es gute und schlechte, edle und niedrige Freuden gebe, und hatte damit die gegnerische These geschlagen, daß jede Lust gleich der andern sei ? Und jetzt hat er selbst doch wieder „die" Lust eingeordnet in das System der Seinsformen und sie so als Ganzes entwertet. Muß nicht also diese Einordnung als ein nur vorläufiger, wenn auch wichtiger Schritt betrachtet werden ? Und nun entsinnen wir uns: noch vor kurzem (28 A) hatte Sokrates die These des Philebos, daß die unbegrenzte Lust das Gute schlechthin sei, ein letztes Mal zurückgewiesen und hatte dabei angedeutet, daß man jedenfalls nach etwas anderem als gerade der Unbegrenztheit suchen müsse, wenn man sehen wolle, was den Freuden einen Anteil am Guten (μέρος του άγαθοΰ) gebe. Diesen Anteil also haben sie. Wie verträgt sich damit, daß die Lust als Ganzes dem Bereich des Unbegrenzten zugewiesen wurde, als dem, was doch erst durch die „Mischung" mit „Grenze, Begrenzung" einen Wert bekam ? Hatte der erste Teil des Dialoges zu Anfang die Verschiedenheit der Freuden oder Lustarten mit Nachdruck in den Blick gehoben, um dann doch diese Verschiedenheit gegenüber der als Einheit gefaßten Lust absichtlich zu übersehen, so wird jetzt das Problem der Verschiedenheit zum Thema, das seit dem ersten Kampfgespräch zwischen Sokrates und Protarchos am Rande wartete. Daß die Absicht sich vollkommen ändert, darauf werden wir aus- 31B—32D drücklich hingewiesen. Es soll nun für beide Gegenstände der Untersuchung, für die Lust und für die Erkenntnis, nachgewiesen werden, in welchem Raum oder Bezirk (iv φ) und durch welchen Vorgang (ιτάθοζ) sie zustande kommen. Daß man die Lust nicht prüfen könne, ohne zugleich das Weh zu prüfen, wird jetzt aus20*
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drücklich gesagt (31 Β 5), wie Sokrates schon früher (27 Ε 5) im Gegensatz zu Philebos Lust und Weh von selber hatte neben einander treten lassen, ein Nebeneinander, das für die ganze folgende Untersuchung von hoher Wichtigkeit ist 48 ). Jetzt also sollen die Erscheinungsformen von Lust und von Erkenntnis betrachtet werden, nachdem vorher das Wesen der beiden festgelegt worden ist. Und zwar soll das zuerst für die Lust geschehen, womit die Betrachtung der Wissensformen für später (55 C ff.) in Aussicht steht. Für die Untersuchung der Lust aber bleibt die leitende Frage bestehen und wird bald (32 D) ausdrücklich von neuem gestellt: ist Lust als Ganzes zu bejahen, oder ist Lust und Weh bald gut und bald schlecht ? Mit anderen Worten — da doch die Einheitlichkeit der Lust längst zerstört ist — es gilt, im Bereich der Lust die Verschiedenheiten und damit die Rangordnung aufzuweisen. Eine Physio-Psychologie von Lust und Weh, auf die im folgenden immer wieder zurückgegriffen werden wird, macht den Beginn. So sehr aber ganz von frischem gefragt wird in diesem Zweiten Teil des Werkes, so bleibt doch die grundsätzliche Orientierung des Ersten Teils erhalten, und die Frage nach dem Ort (Iv φ 31 Β) von Lust und Weh wird ausdrücklich von dorther übernommen. Wurde aber dort die Lust, wie Philebos sie versteht, und mit ihr das Weh dem Gattungsbezirk des „Grenzenlosen" zugewiesen und damit gleichsam preisgegeben, so werden jetzt Lust und Weh in den Bezirk des „Gemischten" eingeordnet. Damit aber diese „Mischung" — ganz im Gegensatz zu jener Gattung des „Grenzenlosen" — nicht als ordnungsloses Durcheinander erscheine, werden ihr — ähnlich wie früher (25 E) — Gesundheit und Harmonie, Gefüge, Wohlgefüge als die anschaulichsten Charakteristika beigelegt. Wobei man, an den Streit über den „Namen der Göttin" zurückdenkend, sich erinnere, daß Harmonia als „Tochter der goldenen Aphrodite" dem Piaton und seinen Lesern aus Hesiods Theogonie gegenwärtig war 47 ). Die einfachsten Beispiele wie Durst, Hunger, Frost lehren nun: Weh entsteht, wo ein Gefüge aufgelöst wird, Lust, wo das Aufgelöste wieder ins Gefüge zurückkehrt. Diesen leiblich bestimmten Affektionen gegenüber aber gibt es zweitens eine Lust, die rein in der Erwartung (ττροσδόκημα) des Zukünftigen liegt, also ohne körperliche Gegenwart allein in der Seele ihren Ort hat. Nun ist
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es der Unterschied jener leiblichen und dieser seelischen Affektionen, daß dort Lust und Weh notwendig aneinander gebunden sind, während hier jede für sich rein (είλικρινής) und ungemischt (άμεικτοξ) vorkommt. Also schon hier zeigt sich eine Rangordnung innerhalb der Lust: es gibt körperliche und seelische Lustarten, das heißt aber getrübte und reine. Das ist noch sehr vorläufig, und Sokrates weist ausdrücklich darauf hin, daß hier in aller Raschheit ein großer Gegenstand besprochen werde (31 D 9). Bald wird die Analyse erweitert und verfeinert werden. Erst aber biegt die Erörterung ab48), die physiologische Basis sozusagen wird verbreitert über das Gebiet von Lust und Weh hinaus. Wenn Weh die Auflösung des Gefüges, Lust seine Wiederherstellung begleitet, so gibt es einen Zustand zwischen oder außerhalb von Auflösung und Wiederherstellung, einen Nullpunkt also gleichsam zwischen Lust und Weh. Diesem Zustand ist das Leben der reinen Erkenntnis zugeordnet, wie wir schon bei dem früheren, grundsätzlichen Vergleich der beiden Lebensformen sahen (21 D), auf den hier zurückgewiesen wird. Es ist das göttliche Leben, dem so etwas wie Auflösung und Wiederherstellung, also auch Weh und Lust, unangemessen ist. Damit wird dieser Weg, nachdem er zu solchem Ausblick geführt hatte, abgeschnitten mit der Bemerkung, man werde darauf zurückkommen, wenn es zum Vorteil des Gespräches (ιτρόξ λόγον) sei. In der Tat wird das Gespräch sich später (44 C ff.) diese Erörterung nutzbar machen, als es gilt — wie schon in den Hedone-Kapiteln der Politeia49) — gegen die indifferente Mittellage das positive Dasein der Lust abzuheben. Für diesen Kampf also wird hier in der physiologischen Erörterung der Boden bereitet. Aber das ist nicht alles. Von einer absichtlich niedriggelegten physiologischen Basis steigt man zu einem Ausblick empor, an dem das Dasein des reinen Geistes, das göttliche Dasein, jenseits von Lust und Weh in erhabener Ataraxie für einen Augenblick sichtbar wird 50 ). Vorher und gleich wieder nachher ist Gegenstand die Lust. Aber zur rechten Zeit werden wir erinnert, daß der Lust immer noch der Geist gegenübersteht. Und nicht nur gegenüber. Sondern gerade hier, wo innerhalb der Lust zuerst eine Stufung aufgewiesen wird, zeigt sich der reine göttliche Geist über aller Lust, auch noch über ihren höchsten Formen. So ist also diese Abbiegung von der Lust gerade für die thematische Entscheidung (κρίσις 33 A 4) über die
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Lust von höchster Bedeutung. Das wird auch für alles Folgende festzuhalten sein, wenn nun das Gespräch daran gehen wird, in immer erneuten Ansätzen die gestufte Ordnung innerhalb des Bezirks der Lust herauszuarbeiten. 33C—34 C DasPhänomen „Gedächtnis" (μνήμη) oder „Erinnerung" (άνάμνησις) steht im Blickpunkt, als die Erörterung sich von neuem der Lust zuwendet, um das vorher Festgestellte zu klären. Im Grunde wurde „Erinnerung" schon ins Blickfeld gerückt, als vorher (32 C) von „Erwartung" die Rede war. Denn man kann nicht erwarten, an was man sich nicht erinnert. Es gibt, so heißt es jetzt von dem physio-psychologischen Standpunkt her, solche Zuständlichkeiten (παθήματα), die nur den Körper durchdringen, solche, die durch das Körperliche hindurch in die Seele dringen, und solche, die allein die Seele angehen. Im ersten Falle herrscht, auf die Seele gesehen, „Empfindungslosigkeit, Un-bewußtsein" (αναισθησία), im zweiten heißt die gemeinsame Bewegung von Körper und Seele „Empfindung, Bewußtsein" (αίσθηση), im dritten Falle hebt die Seele etwas früher unmittelbar Empfundenes aus der Vergessenheit, dem Unter-bewußtsein, mittels der Erinnerung in das Gedächtnis empor 51 ). Es gibt also, sieht man, gar keine nur körperlichen Lustgefühle im strengen Sinn, sondern jede Lust ist mindestens auch seelische Lust 52 ). Damit werden die Stufen innerhalb der Lust keineswegs eingeebnet. Es wird nur durch eine schärfere Analyse die Verbindung der höheren Lustgefühle mit so hohen und wesentlich geistigen Vollzugsarten wie Gedächtnis und Erinnerung deutlich. (Darf man weiter denken, ohne dem Vorwurf unangebrachten Tiefsinns zu verfallen ? Darf man sagen, daß Sokrates sich hier auf der Ebene dessen hält, was dem Protarch und seinen Altersgenossen — und den jungen Männern der platonischen Akademie — verständlich ist, daß aber Piaton selber an das Problem „Erinnerung, Gedächtnis" nicht rühren konnte, ohne an die Metapsychologie und Metaphysik des Menon und des Phaidon zu denken und wenigstens einige seiner Leser daran zu erinnern 53 ) ? Wenn kurz vorher von „Erwartung" des Künftigen die Rede war und jetzt von der Erinnerung an Vergangenes die Rede ist, so wird man fragen müssen: Kann man Künftiges erwarten, ohne sich an Vergangenes zu erinnern ?) 34 C—35 D Nachdem so der Bezirk von Gedächtnis und Erinnerung in seinem Wert für das Problem der Lust betrachtet worden ist, bricht es
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wiederum ab. Mit der „Lust" wird in einer unvermittelten Weise die „Begier" (καΐ άμα έτηθυμίαν 34 C 7) verbunden, die ebenso durch das Phänomen der „Erinnerung" geklärt werden könne. Die fernere Erörterung des weiten Gebietes der Lust wird hinausgeschoben und nach dem Wesen und dem Ort der „Begier" (τί ττοτ' εστίν και ττοϋ γίγνεται) gefragt. Wir folgen zunächst dieser Erörterung und verlieren dabei ein Doppeltes nicht aus den Augen: erstens müssen wir über das Warum dieser erneuten Abschweifung — oder dessen, was als Abschweifung erscheint — klar werden; zweitens müssen wir aufpassen, wo der hier fallen gelassene Faden, also die Erörterung über das Begehren, wieder aufgenommen werden wird. Jetzt führt die Analyse des Begehrens auf folgendes Phänomen: Durst ist gerichtet auf Etwas und zwar auf Trank, wie Protarchos sagt, auf Füllung dessen, was leer ist, mit Trank, wie Sokrates verschärft. Also hat Begehren das zum Gegenstand, was dem körperlichen Zustand entgegengesetzt ist: Ich will dieses Bestimmte, nämlich Getränk. Auf dieses Entgegengesetzte aber kann der Drang nicht durch Empfindung zielen, die ja auf das Anwesende, sondern nur durch Erinnerung, die auf das Abwesende sich richtet. Damit ist Begehren von den körperlichen Affektionen fort auf die Seite der Seele gezogen und mit dem Gedächtnis untrennbar verbunden, dessen Rang als eine fundamentale Funktion der Seele eben klar geworden war (33 C ff.) 54 ). Damit ist denn auch der Herrscherrang der Seele im Gesamtgeschöpf erwiesen. Der Abschnitt über das „Begehren", dieses mit Lust und Weh zwar nicht identische, aber mit beiden verschlungene Phänomen, ist nach rückwärts und vorwärts eigentümlich assoziativ verbunden 56 ), nach rückwärts durch die Funktion des „Gedächtnisses", nach vorwärts, wie sich zeigen wird, dadurch, daß hier das Gespräch zuerst die im folgenden festgehaltene und so bedeutsame Wendung auf die „Mischung" von Lust und Weh nimmt 56 ). Aber dieser Abschnitt hat in sich eine eigene Abgeschlossenheit und einen eigenen Sinn, der deutlich wird durch Richtung und Ziel. „Begierde" ist, wie man weiß, etwas vergleichsweise Niedriges, das begehrliche Seelenroß das schlechtere im Phaidros, die begehrliche Seelenform die unterste im Staat. Aber selbst so etwas Geringes wie Durst ist nicht einfach Leere, so wie es bei oberflächlicher Betrachtung Vorher erschien (31 Ε 6 ff.) 57 ). Dort waren Hunger und
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Durst ein Un-Gleichgewicht und damit verbunden eine Un-Lust des Körpers. Jetzt hat sich gezeigt, daß Durst etwas Seelisches ist, verbunden mit etwas so Hohem wie Gedächtnis. So führt die Analyse des Begehrens eben dorthin, wohin vorher die Analyse der Lust geführt hatte. Nicht einmal begehren kann der Körper allein, selbst dazu ist Seele nötig und zwar eine so hohe Äußerung der Seele wie „Gedächtnis". Auf den Herrscherrang der Seele in dem Gesamtgeschöpf (άρχή τοΰ ζφου παντόζ) also zielt dieses. In der zweiten Dialoghälfte wird, wie wir sahen, die Rangordnung der Lustarten im Blickfelde stehen. Um im Bereich der Lust ein Höher und ein Tiefer aufzufinden, muß man — so scheint es — in der Gesamtform „Mensch" ein Herrschaftsgefüge anerkannt haben. Dafür dient dem Piaton sonst der Begriff der Selbstbeherrschung (Staat IV 430 E. Ges. I 626 E). Jetzt wird die Analyse der im Zusammenhang des Ganzen bedeutenden „Begierde" demselben Ziel dienstbar gemacht. So führt hier ein Stück beschreibender und zergliedernder Psychologie eben dorthin, wohin kurz vorher die mythische Physik und Metaphysik des Alls führte. Wir sahen: die sozusagen tektonische Bedeutung des Abschnittes über das Begehren war es, den Blick hinzuwenden auf die „Mischung" der Lust- und Unlustarten, wie sie im Leben mannigfach begegnen. Aber dieses Problem der „Mischung" wird erst nach einer längeren Zeit (46 B) eigentlicher Gegenstand genauer psychologischer Analyse. Für jetzt bleibt es, wenngleich ab und zu auftauchend, noch im Hintergrund und dient zunächst dazu, ein anderes Problem auf die Beine zu bringen: kann man die Prädikate 35D—40Ε wahr (richtig, echt, άληθήξ) und falsch (trügerisch, ψευδής) auf die Arten von Lust und Weh anwenden ? Gibt es an ihnen Wahrheit und Falschheit, so wie „Meinungen" wahr und falsch sein können ? Darüber entspinnt sich ein Kampf, den Protarchos mit einer für unsern Dialog bemerkenswerten Zähigkeit führt, bis er zugeben muß, daß er einen ihm von außen, d. h. von einer bestimmten Hedone-Lehre — gewiß der des Aristipp 58 ) — gewiesenen Standpunkt vertrete (όπερ άκούω λέγω 38 A 5). Nicht mit Unrecht werden wir dadurch an seinen Widerstand zu Anfang des Gesprächs erinnert. Es ist im Grunde derselbe Widerstand. Denn Protarchos will, daß Lust immer Lust sei, im Wachen, im Traum, im Wahnsinn (36 E), und daß nur die mit der Lust sich verbindende „Meinimg" wahr oder falsch sein könne (37 E). So bliebe Lust von aller
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Unterschiedlichkeit frei und damit eigenständig, während dem Sokrates daran liegt, die entschiedenen Gegensätze in der Lust selber aufzuweisen und damit die Lust einem Gesetz außerhalb ihrer zu unterstellen. Sokrates bemüht sich aufzuzeigen: wie „Meinen", unbeschadet dessen daß es immer „Meinen" bleibt, doch richtig oder falsch sein kann, so nimmt auch Lust und Unlust mannigfache Qualitäten in sich auf; sie kann groß und klein, kann schlecht, kann richtig sein. Alles das gibt Protarchos zu, d. h. alle diese Unterschiede liegen in dem gewöhnlichen Verständnis von Lust und Unlust. (Und fügen wir hinzu, wenn man sie zugesteht, zumal wenn man zugesteht, daß es „schlechte" Lust gibt, so hat man schon die stärkste Bresche in die Einheit der Lust gelegt, hat eine Instanz außerhalb ihrer anerkannt.) So empfindet man es als eine in der Sache nicht gerechtfertigte Starrheit und künstliche — wenn auch heute noch verbreitete — Konstruktion, daß Protarchos die Qualitäten Wahr und Falsch von der Lust ausschließt und der mit der Lust jeweils verbundenen „Meinung" zuweist (37 E) 59 ). Aber auch so muß er zugeben, daß es für die Lust einen Unterschied macht, ob sie „mit richtiger Meinung und Erkenntnis" verbunden idt oder „mit Irrtum und Sinnlosigkeit" 60 ). Dem „Sinn" seinen Platz innerhalb des Bereiches der Lust zu sichern, darauf kommt für Sokrates alles an, und so lenkt die Untersuchung ein in das Phänomen des Irrtums, wie es der Theaitet mit dem Gleichnis von der wächsernen Prägemasse zu klären begonnen hatte. Ähnlich heißt hier die Seele ein Buch, und Aktivitäten der Seele werden einem Schreiber und einem Maler oder Zeichner verglichen, die gemeinsam ein illustriertes Buch herstellen. Erinnerung an Vergangenes und Wahrnehmung von Gegenwärtigem vereinen sich, um in das Buch Sätze, Gedanken (λόγους) zu schreiben, wahre oder falsche, und Bilder zu malen oder zu zeichnen, also anschauliche, nicht begriffliche Gegenstände, die auch wahr oder falsch sein können 81 ). So sieht man, wie Irrtum entstehen kann: erst schon dort, wo Wahrnehmung mit Erinnerung zusammentrifft, dann wo die Eintragung ins Buch geschieht. Nun aber wird das Ganze erweitert, indem die Zeitdimension ausdrücklich hinzutritt: alles dies bezieht sich nicht nur auf Vergangenheit und Gegenwart, sondern ganz ebenso auch auf die Zukunft. Solche Leiden und Freuden, die sich auf die Zukunft beziehen, sind Erwartungen, Hoffnungen;
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und hier (39 D) werden wir zurückgewiesen auf das früher Gezeigte (32 C): solche Erwartungen sind rein seelische Freuden und Leiden im Gegensatz zu den körperlich-seelischen, die sich auf Gegenwärtiges oder Vergangenes beziehen. Die Möglichkeit des Irrtums braucht hier nicht gesichert zu werden wie im Theaitet und Sophistes. Sie anzufechten lag nicht im Problemkreis des Philebos. Vielmehr: Meinen bleibt zwar Meinen, aber man kann diesesMeinen richten auf etwas, was nicht war, nicht ist, nicht sein wird. Dann haben wir falsche Meinung. Überträgt man das hier Gewonnene auf Lust und Weh, so bleibt Lust zwar immer Lust, Weh immer Weh, aber sie können sich richten auf etwas, was nicht war, nicht ist und — besonders häufig, in der Weise der Erwartung — auf etwas, was nicht sein wird. Ebenso steht es mit Furcht (φόβος), strebendem Mut (θυμός) und dergleichen Affektformen. Sie alle können falsch sein und — was nicht ausdrücklich gesagt wird, weil es sich von selbst versteht — richtig sein. Zwei seltsame Abbiegungen in dem Abschnitt über die richtigen und falschen Lust- und Wehgefühle haben wir bisher außer Acht gelassen. Die Eintragungen in das Seelenbuch betreffen vergangene oder gegenwärtige Eindrücke. Dann aber gibt es in der Seele körperfreie Hoffnungen und Befürchtungen, die auf Zukünftiges 39 E—40 Α gehen. Als dies klar geworden ist, stellt Sokrates plötzlich mit scharf akzentuiertem und in der Tat ganz unerwartetem, neuem Einsatz den ethischen Unterschied auf zwischen dem gerechten, frommen und in jedem Bezug guten Menschen und dem ungerechten und durchaus schlechten Menschen und nennt jenen noch dazu „gottgeliebt", diesen das Gegenteil davon. Dann geht es weiter, als ob dieser Ausblick ins Ethisch-Religiöse gar nicht gewesen wäre. 40 Ε—41Α Die zweite Abbiegung geschieht ebenso plötzlich. Sokrates stellt den Gegensatz hin zwischen schlechten und guten Meinungen und macht klar, daß wir darunter unwahre (täuschende) und richtige Meinungen verstehen. Soll das ein ethischer oder ein logischer Gegensatz sein ? Bei Sokrates kann man nicht zweifeln, daß beides gemeint ist, beides in einem. Als er denselben Gegensatz auf Freuden und Schmerzen übertragen will, widerspricht Protarch heftig und läßt sich nicht zur Zustimmung bewegen: spreche man von schlechter Lust, so sei damit durchaus nicht ihre Falschheit, sondern ganz etwas anderes gemeint. Womit Sokrates sich zu-
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frieden gibt und die Erörterung der „falschen" Lustarten fortsetzt, während die Untersuchung über „schlechte" Lustarten auf später verschoben wird, „wenn wir dann noch darüber zu reden geneigt sind". Von diesem Versprechen wird nachher (45 Α ff.) etwas eingelöst werden. Warum aber hier das Abbiegen vom Wege ? Es muß doch der gegenwärtigen Aufgabe dienen und dient ihr, wenn man sich klarmacht, daß die schwierige und ungewohnte Frage auf die „falschen" Lustarten geht. Schlechte Lust ist etwas was jeder kennt, Lust hingegen „falsch" zu nennen ist eine sonst nicht gebräuchliche Betrachtungsweise. Also diese von der gebräuchlichen abzuheben ist die Absicht. Aber was ist eigentlich damit gewollt ? Faßt man diese Abbiegung, in der wir stehen, mit der eben vorher aufgewiesenen zusammen, so wird deutlich, daß Sokrates auf etwas Radikaleres zielt: auf eine letzte Konvergenz von Richtig und Gut, von Falsch und Schlecht. In den positiven Bereich gehören wie von selbst die „Tugenden", in den negativen ihr Gegenteil. Und der eine Bereich ist „gottgeliebt", der andere — fügt man von selbst hinzu — „gottverhaßt". Man kann kaum anders als hier das Spiel des Dialoganfangs über den echten Namen der Gottheit wieder auftauchen sehen (12 BC) und später das „Eine Gute" (15 A. 20 D) und dann den göttlichen Geist (22 C) und mit mehr Systematik in dem Gefüge der vier „Gattungen" die vierte Gattung, das Schöpferische, das Verursachende, die Wirkenskraft (27 B), und schließlich die Übereinstimmung der Weisen, daß der Geist Himmel und Erde beherrscht (28 C). Das ist die ontologische, kosmologische, metaphysische, theologische Linie des Philebos hoch über der knabenhaften Frage des Dialogbeginns. Noch immer bezweifelt Protarchos das Vorhandensein falscher 41A—42 C Lustarten; der Ringkampf — sagt Sokrates scherzend zu dem Jungen — muß also weitergehen. Zwei Voraussetzungen werden aus dem Früheren entnommen. Erstens hatte die Analyse des „Begehrens" gezeigt (34 C ff.), daß rein körperliche Lust- oder Wehgefühle in die seelische „Wahrnehmung" eindringen können, während die Seele für sich allein gleichzeitig nach dem Entgegengesetzten „begehrt". Zweitens hatte sich weit früher, im ersten Teil des Gesprächs, ergeben (27 E), daß Lust und Weh eines „Mehr oder Minder" fähig sind und mithin dem Bereich des „Unbegrenzten" angehören. Wie nun im Bereich des Gesichtssinnes die Entfernung über die wirklichen Größen täuscht, so — ja noch viel
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mehr — muß bei den Affektionen, wo man Lust neben Weh, Lust neben Lust, Weh neben Weh stehen sieht, dadurch und durch die verschiedene Entfernung das Urteil über die Größe mannigfach gefälscht werden. Also eine neue Art von Fälschung wird jetzt deutlich. Waren es früher (37 A) die wahren oder falschen „Meinungen", deren Analogie auf Lust- und Unlustgefühle den Charakter des Wahren oder Falschen warf, so sind es jetzt diese Gefühle unmittelbar, die durch die Entfernung und das vergleichende Nebeneinander gefälscht werden können. Konnte man früher die Prädikate Wahr und Falsch immer noch auf die begleitenden „Meinungen" abschieben, so haften sie hier unweigerlich an den Affektionen selber. 42C—43D Wieder wird ein neuer Ansatz genommen (τούτων έξης), um an einem anderen Phänomen noch deutlicher zu machen, wo und wie sich „wahre" und „falsche" Affektionen zeigen. Sokrates greift zurück auf die früher (31 D ff.) gelegte physiologische Basis. Schmerzgefühle entstehen, wenn das Körpergefüge gestört wird, Lustgefühle wenn es wiederhergestellt wird. Dazwischen hegt ein neutraler Zustand, in dem weder das eine noch das andere geschieht. Und dabei kann man die sich herandrängende Meinung der „Herakliteer", daß es solche Ruhestände überhaupt nicht gebe, ganz auf sich beruhen lassen. Denn es geht hier gar nicht um diese Zustände selbst, sondern um ihre seelische Apperzeption, und da ist gewiß, daß ganz schwache Bewegung überhaupt nicht apperzipiert wird, sondern daß nur die stärkeren Bewegungen spürbare Lust- oder Wehgefühle verursachen. Drei Lebensformen (βίοι) werden damit sichtbar: das lustvolle, das schmerzvolle, das indifferente Leben. 43D—44D Auf dieser Gliederung wird noch nicht sogleich weitergebaut. Sondern sie wird — und damit biegt das Gespräch wiederum ein wenig ab — verteidigt gegen die Theorie einer ganz bestimmten, aber unbestimmt bezeichneten, naturphilosophischen Richtung, die statt dreier nur zwei Lebensarten anerkennt, positive Lust nämlich leugnet und den Zustand der Indifferenz als lustvoll erklärt. Sie sind Feinde des Philebos, d. h. der reinen Hedonik. Und ihre Theorie widerspricht der eben gewonnenen Einsicht. Aber nicht nur dazu, um diese Einsicht am Gegensatz zu klären, dient das Eingehen auf ihre These. In gewisser Weise, sagt Sokrates, sind sie unsere Bundesgenossen. Sie ahnen etwas. Es ist eine
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gewisse „Herbigkeit" (δυσχέρεια) in ihrem Wesen, die ihnen die „Gewalt der Lust" verhaßt macht. Offenbar haben sie sich über das was Lust ist dort orientiert, wo die Lust am stärksten ist, und darin müssen wir ihnen folgen®2). Blicken wir voraus. Das Gespräch wird sich in ausgedehnter Analyse zuerst den „gemischten" Lustarten, dann den „reinen" zuwenden. Nur die reinen sind „wahr"; denn Wahrsein heißt wirküch und ganz das sein, was der Name meint. Also eine Lust, die mit Weh gemischt ist, trägt genau besehen den Namen Lust zu Unrecht. Nun ist es offenbar so, daß jene anonymen Denker sich an den stärksten Lustarten orientiert und sie für unrein befunden haben. Darin sind sie gegenüber Philebos im Recht, wie sich sogleich erweisen wird. Aber indem sie positive Lust überhaupt leugneten, haben sie übertrieben, und darin tritt Sokrates ihnen entgegen63). So dient diese seltsame kleine Seitenbewegung des Gesprächs dazu, die beiden großen nun noch folgenden Gesprächsabschnitte über die Lust im voraus anzulegen. Nicht zufällig setzt Sokrates sich noch einmal (51 A) mit jenen Rigoristen auseinander, dort wo er das Gespräch über die gemischen Lustarten abgeschlossen hat und nun zu den reinen hinüberlenkt. Die Erörterung über die gemischten Lustarten nimmt also ihren 44 D—50 Ε Ausgang dort, wo die Lust am stärksten ist. Denn dort — so scheint es dem Protarch, d. h. so scheint es der naiven Ansicht der Dinge •— wird man am ehesten erfahren, was Lust eigentlich ist. Nun zeigt sich: die Lüste sind stärker im Leben der Kranken, ζ. B. der Fiebernden, als der Gesunden, stärker nämlich dort, wo die vorausgegangene Begier stärker war, und sie sind stärker im Leben des Vernunft- und Zügellosen als im Leben des Zuchtvollen, der jedes „Allzusehr" abweist. Also an einer „Schlechtigkeit" (Mangelhaftigkeit) des Leibes und der Seele hängt die Stärke von Lust und Weh. Damit sind die stärksten Lustgefühle von vornherein ihres Ranges entkleidet. Aber die Frage nach Gut und Schlecht, die ja schon vorher einmal gestreift worden war (40 Ε ff.), ist in dem Dialog, so sehr sie überall im Hintergrunde steht, nicht eigentlich thematisch, sondern die nach Richtig und Falsch. So wird jetzt etwas anderes an jenen Zuständen ins Auge gefaßt: es handelt sich gerade bei den stärksten Lustformen, ζ. B. wenn der Rrätzebehaftete sich juckt, nicht um reine Lust, sondern um Mischung von Lust und Unlust. Damit steht das Problem der
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Affektionsmischungen, das schon früher (35 BC) auftauchte, ausdrücklich zur Untersuchung. In scharfer Diairesis werden die drei möglichen Mischungen aneinandergereiht. Es gibt Mischungen: 1. von körperlicher Lust und Unlust, 2. von seelischer Lust und Unlust, 3. von körperlicher und seelischer Lust und Unlust. Bei der ersten Mischung ist der Fall möglich, daß die Unlust überwiegt (so bei der Krätze) oder die Lust (so beim Geschlechtsakt). Die dritte Mischung ist früher analysiert worden, als man das Phänomen des Begehrens untersuchte (34 C ff.). Bleibt also noch die zweite, die im Leben vorkommt, aber vor allem in der Kunst. Und nun gibt es ein großes Stück Psychologie des Kunstwerks, wie man heute etwa sagen würde (48 A—50 Β), gerechtfertigt durch die Dunkelheit des Gegenstandes, und weil man durch diese Analyse belehrt sich in anderen, komplizierten Fällen leicht zurechtfinden kann. Man wird aber wohl ahnen dürfen, daß hier der Dramatiker Piaton, indem er sich über Tragödie und Komödie ausspricht, sein eigenes, beide überhöhendes Werk im Sinne hat, und gewiß ist — weil er es selber sagt — daß er durch die Dichtung hindurch auf „des Lebens gesamte Tragödie und Komödie" (50 B) blickt. Also das Leben selbst ist eine Mischung von Lust und Unlust, „auch wenn man noch so sehr in die entgegengesetzte Richtung strebt" (50 Β 6), also auch wenn man Philebos ist. Im einzelnen sei wieder auf die Schärfe der Einteilungen hingewiesen. Unsinnigkeit und Ungeschicklichkeit84) gibt es in drei Bereichen (τριχή τέμνειν 48 D 4) — wir kennen sie seit dem Großen Alkibiades — : in Besitz, Leib, Seele. Die Unwissenden sind von zweierlei Art (διαφετέον δίχα 49 A 7), entweder stark oder schwach, und danach ist die Unwissenheit entweder schädlich und hassenswert oder komisch. Und nun zeigt die Analyse, daß wir über unschädliche Mängel lachen, also Lust empfinden, aber dieses Lachen entspringt einer Mißgunst (φθόνος), und diese Mißgunst ist ein Wehgefühl. Um dem „Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen" (Schiller) oder platonisch gesprochen der Gefühlsmischung beim Anschauen der Tragödie auf den Grund zu kommen, müßte man ausgehen von der Verblendung des Mächtigen, die schädlich und hassenswert ist. Aber das wird nicht durchgeführt, und ebensowenig werden die andern gemischten Affekte untersucht.
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Vielmehr steigt die Erörterung zu den ungemischten Freuden hinauf. Aber zurückblickend können wir sagen, daß auch die gemischten nur scheinbar nebeneinandergeordnet sind. Es ist ein weiter Abstand von der mit Weh vermischten Lust des Krätzebehafteten, der sich juckt, bis zu den Gefühlen, mit denen man im Theater dem Bühnenspiel zuschaut, und wiederum zu denen, mit denen wir die Tragikomödie des Lebens distanziert betrachten oder mitspielend an ihr teilnehmen. Ein Aufstieg ist es von dem physiologischen Bereich zu dem ästhetischen und von dort zu dem der menschlichen Existenz. Von den gemischten Lustgefühlen wendet sich die Betrachtung zu 50 Ε—52 Β den reinen. Auch hier finden wir die alte physiologische Basis. Überall wo eine Leere nicht fühlbar und nicht schmerzhaft, die Füllung aber wahrnehmbar und lustvoll ist, haben wir ungemischte Lust: bei den einfachen geometrischen Gestalten, den klaren Farben, den reinen musikalischen Tönen, den schönen Düften. Das was allen diesen eigen ist und was etwa Kreis oder Kugel vor einem Organismus, was einen Einzelton vor einer Melodie auszeichnet, ist dies, daß ihre Schönheit nicht in der Beziehung auf etwas liegt (ττρός έτερον)66), sondern daß sie immer an sich ihrem Wesen nach (αύτάς καθ' αύτάς) schön sind. Man merkt der Formel an, wie nahe wir hier an dem sind, was Piaton sonst das Eidos nennt. Schon in dieser Gruppe gibt es Wertunterschiede. Der Bereich der Düfte ist „weniger göttlich", offenbar darum, weil er weniger „Grenze" hat als die andern Bereiche. Dann aber werden hinzugefügt — und diese Hinzufügung ist doch wohl als eine Überordnung, die ganze Reihe auch hier wieder als ein Aufstieg zu sehen — die Freuden der Erkenntnis (ras ττερί τά μαθήματα ήδονάς 51 Ε). Denn Wehgefühle gibt es dabei nicht, und was man so nennen könnte — sei es vorher aus dem Mangel des Nichthabens oder nachher aus dem Mangel des Vergessenhabens —, das ist nicht unmittelbar (ού φύσει), sondern beruht auf Erwägung, zählt also wieder nicht mit. Diese Freuden sind nur für sehr wenige da (των σφόδρα όλίγων), und schon dadurch bezeichnen sie ein Äußerstes in der Reihe, um so mehr wenn man an den Anfang des Gesprächs (11 B) zurückdenkt, in dem ja die Lust sich auf ihre Geltung „bei allem Lebendigen" berief. Aus der Analyse der Lustarten wird nun das Fazit gezogen in drei kurzen Erörterungen, die nach der Weise dieses platonischen Spät-
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stils unvermittelt nebeneinanderstehen®®) und es uns überlassen ihren Zusammenhang aufzuklären. 52C—53C 1. Geschieden sind die reinen und die unreinen Freuden. Die unreinen, wenngleich starken Freuden gehören — auf die Seinsformen des ersten Dialogteils (I 2) bezogen — zur Gattung des Unbegrenzten, die reinen hingegen besitzen Maßgerechtigkeit (έμμετρία)67). So zeigt die Einordnung in die Seinsformen noch deutlicher, welche Gegensätze, Wertgegensätze in dem angeblich so einheitlichen Bereich der Lust bestehen. Die „Wahrheit" der Lustarten stand in Frage. Ein Beispiel klärt zum Schluß über diese Wahrheit auf. Wenig reines Weiß ist weißer und schöner und wahrer als viel gemischtes Weiß, und ebenso ist wenig reine Lust lustvoller und schöner und wahrer als viele Lust, die mit Weh gemischt ist. Man überhöre den ethischen Imperativ nicht, der aus dieser Analyse erklingt! 53C—55A 2. Eine Gruppe „gescheiter Leute" hat den Grundsatz aufgestellt: Freude (Lust) ist Werden; ein Sein der Freude gibt es also nicht. Gehört diese Folgerung noch jenen „gescheiten Leuten" oder ist sie schon platonisch ? Sind mit ihnen die Kyrenaiker gemeint oder die Megariker oder wer sonst ? Dies und noch mehr wüßten wir gern. Entscheiden läßt es sich nicht®8). Für den Philebos kommt auch gar nichts darauf an, sondern Piaton greift offenbar aus zeitgenössischer Diskussion eine These auf, weil sie dazu geeignet ist, seine eigene Erörterung auf eine ganz neue Ebene zu erheben, ähnlich wie Aristoteles in der Nikomachischen Ethik (1152 b 12 ff. 1153a 15 ff.) sich derselben These bedient, um seinen EnergeiaBegriff abzuheben von dem, was man gewöhnlich „Werden" nennt. Piaton sieht eine Anzahl von Gegensätzen sich gegenüberstehen : das An-sich das Um-wessen-willen das Bezweckte, das Ziel das Gute, Vollkommene
das, was eines anderen begehrt das Um-eines-andern-willen das Bezweckende, Zielende das Werden und Vergehen.
In diese Tafel der Gegensätze eingeordnet steht das Sein auf der Seite des An-sich, das Werden auf der Seite des Begehrenden. Also ist nur das Sein ein Gut, die Lust ist keines. Auf die Lebenswahl gerichtet heißt das: man muß von den drei Lebensformen, die früher (43 D) aufgestellt wurden, die dritte Form wählen, das
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Leben weder der Lust noch des Wehs, sondern das des Denkens, des nach Möglichkeit reinsten Denkens. Dieser zweite Gedankengang ist anders gerichtet als der erste. Er sieht — wenigstens scheinbar — wieder die Lust als eine Einheit. Er ist dazu da, um mit dem Seienden, dem Ziel, dem Gehebten, dem Guten den Blick in eine Richtung zu wenden, die wir im „Fortgang des Gespräches" (53 Ε 9) noch nehmen werden. Jetzt aber ist zu sagen, daß der Zusammenhang dieser zweiten Erörterung mit der eben vorhergehenden ersten gesucht werden muß. Dort waren ausdrücklich Reinheitsgrade innerhalb des Lustbereichs statuiert. Hier erscheint alle Lust als eine Einheit. Aber offenbar ist das nicht mehr jener längst überwundene Gegensatz, der früher zwischen Sokrates und Philebos-Protarchos ausgefochten wurde. Sondern hier sind es zwei verschiedene Aspekte derselben Sache. Eine Einheit, die das Siegel des Werdens und damit das minder Wertvollen erhält, ist die Lust gegenüber dem Guten, der Vollkommenheit. Aber das hindert nicht, in der Lust selber Wertstufen anzuerkennen, Stufen hinauf zum Sein. Und wenn die Lust jetzt Werden (γένεσις) heißt, jedes Werden aber um eines Seins willen „wird" und Werden-ins-gesamt um eines Seins-ins-gesamt willen wird, so entsinnen wir uns aus dem ontologischen Teil des Dialoges (26 D), daß dort das Reich der „Mischung" mit dem Namen „Werden zum Sein" (γένεση eis οΰσίαν) eindringlich bezeichnet wurde. Keinen richtigeren Namen kann man den höchsten Formen der Lust geben. 3. Die dritte Erörterung hat es nun wieder ausdrücklich mit der Verschiedenheit innerhalb des Lustbereichs zu tun. Wenn es edle Lust nur als Lust der Seele gibt, so werden wir von der Lust selber auf die Seele gewiesen. Dann aber kann man nicht so blind sein zu übersehen, daß es noch anderes außer Lust in der Seele gibt: die Tugenden und die Erkenntnis. Man könnte das noch verschärfen. Wenn als die höchste Form der Lust die das Lernen und Forschen begleitenden Freuden (μαθημάτων ηδονή) anerkannt wurden, wie sollte nicht dieses Lernen und Forschen selbst etwas noch Höheres sein ? Die Freude selber also, wenn man sie nur stufenweise bis zu ihrer höchsten Form hinaufverfolgt, führt uns eben dorthin, wo wir an den Bereich der Erkenntnis rühren. Diese drei kurzen Erörterungen, die auf die Analyse der Lustarten folgen, stehen unvermittelt neben einander und haben doch, wie F r i e d l ä n d e r , Piaton III
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zu erwarten, ein gemeinsames Ziel. Die erste sondert aus der Fülle der Lustarten die schönen, reinen, wahren Freuden und weist damit auf Schönheit, Reinheit, Wahrheit als Weisen des Seins. Die zweite erkennt in der Lust selbst einen Stufenweg des Werdenszum-Sein und weist damit auf das Sein, das jenseits des Werdens ist. Die dritte weist von der Freude des forschenden Erkennens auf das Erkennen selber. Aus der Analyse der Lust erhebt sich das Sein und das Erkennen des Seins, also das, worauf die nun folgende Unterhaltung gerichtet ist. II 2. Zweiter Teil. Zweites Stück. Die Erforschung von „Geist und 55 C 59 Ε Erkenntnis" wird einen weit kleineren Raum einnehmen als die der Lust. Ist das wirklich nur deshalb, weil das platonische Gesamtwerk weithin dieser Frage der Erkenntnis gewidmet ist ? Oder ist nicht vielmehr — seltsam ironische Fügung! —· die Erforschung der Lust selber eben dieses: Forschung, also Erkenntnis ? Begann der Dialog nicht mit „dem Guten" ? War er nicht erfüllt von Logik und Ontologie ? Das Verfahren der Diairesis, die vier Formen des Seins, die Frage, in welche dieser Klassen die Lust und in welche der Geist gehört — ist das nicht alles eben dies: wissenschaftliche Forschung ? Man kann über die Lust nicht ernsthaft reden, ohne daß die Erkenntnis herrschend wird. Beschränkt man sich auf die Lust, so wird man wie Philebos zum Schweigen gedrängt. II 2 a. Noch schärfer als in dem vorigen Abschnitt herrscht in diesem das 55 C—58 A Yej.fajjj.gjj d e r Diairesis. Auch der Gegensatz gegen die Eristiker wird in unserem Zusammenhang und gerade bei Gelegenheit einer solchen Diairesis abermals ausgesprochen (57 D). Die erste Gliederung ist die — sachlich schon im Protagoras (320 D ff.) begegnende —in Wissenschaften die einem praktischen Tun (δημιουργικών 55 D) und solche die der Erziehung, Bildung (περί τταιδείαν καΐ τροφήν) dienen. Die praktischen Wissenschaften gliedern sich in solche die auf erfahrungsmäßiger Treffsicherheit beruhen, wie die Musik69), und solche die sich mathematischer Strenge bedienen, wie die Baukunst. Die Zahlenlehre selber gliedert sich in angewandte und reine. Also wie drüben bei den Lustarten so ist hier bei den Wissenschaften eine Stufenfolge nach dem Prinzip der Reinheit (56 D. 57 AB). Und wie über der angewandten Zahlenlehre und Meßkunst (μετρητική) jeweils die reine oder philosophische steht, so über dieser die Dialektik, die als Wissenschaft des ewig und un-
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veränderlich Seienden die wahrste Erkenntnis (άληθεστάτη γνώσις) besitzt. Als das System der Wissenschaften, wenngleich sehr im Umriß, II 2 b. aufgebaut worden ist, erhebt sich die Gegenkraft. Gorgias spricht 5£ durch den Mund des Protarchos aus, daß die „Kunst des Überredens" von allen Künsten die „beste" sei, die beste im Sinne der größten Macht. Und noch einmal deutet sich hier einer von jenen Kämpfen an, die Piaton, als er seinen Gorgias schrieb, mit Leidenschaft durchkämpfte, während er sie jetzt von Sokrates leicht schlichten läßt. Es handelt sich, sagt der Weise, um ganz verschiedene Dinge. Der Anspruch des Redemeisters geht auf praktischen Nutzen, wir hingegen suchen die Wahrheit, und ganz ebenso wie drüben bei den Lustarten (58 C, vgl. 53 Α f.) kommt es uns nicht darauf an, welche Wissenschaft (Kunst) die stärkste, sondern welche die genaueste und wahrste ist. Überhaupt geht die Frage nicht nach einem begleitenden Umstand wie Nutzen oder Ruhm. Sondern die Entscheidung muß aus der eigensten Struktur des Fragenden genommen werden: „In unserer Seele ist eine Kraft das Wahre zu lieben" (58 D). Das heißt: ihrem Wesen nach — wie es sich in unserem Fragen offenbart — ist die Seele strebend auf das Wahrhaft-Seiende gerichtet70). Aber auch das wäre nicht vollständig, wenn man es nur als theoretisches Denken selbst der höchsten Art faßte. „Das Wahre zu lieben und — fügt Sokrates im selben Atem hinzu — alles um dieses Wahren willen zu tun": das ist der sokratische „Pragmatismus" gegenüber dem Streben nach Nutzen und Macht, auf das die Rhetorik zielt, und auf der andern Seite gegenüber einem nur theoretischen Dasein. Am Schluß dieses Zweiten Stückes wird noch einmal knapp und scharf sein ontologisches und epistemologisches Ergebnis formuliert. Gesichert steht es jetzt da gegen den Angriff des Gorgias; aber etwas von Gorgias' Streben nach Nutzen und Macht ist in jedem von uns — auch sich selbst schließt Sokrates nicht aus (59 Β 10) —, und eben darum hatte Piaton den Angriff führen und zurückweisen lassen. Von dieser Gefahr befreit steht jetzt das Reich des Denkens und das Reich des Seienden vor uns, jedes in drei Bezirken übereinander gestuft und die Bezirke des Denkens auf die des Seins genau bezogen: die praktischen Fertigkeiten und unser auf sie gerichtetes „Meinen"; die werdende und vergehende Natur und das auf sie gerichtete wissen21·
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schaftliche Forschen: das wahre-wirkliche Sein und das reine Denken des Geistes. Die Analyse hat auf Seiten der Lust wie auf Seiten der Erkenntnis das Material bereitgestellt, und da wir längst wissen, daß das gute Leben ein aus beidem gemischtes ist, so fehlt jetzt nur noch, daß die Mischung selber vollzogen werde. So stellt es sich dar auf der Vordergrundebene, man könnte das Wort wagen: auf der Spielebene, des Dialoges. Was ihm zuletzt und eigentlich fehlt, ist etwas ganz anderes. Sein erster — ontologischer — Teil hatte nachgewiesen, wie die Welt des Werdens-zum-Sein eine Mischung ist aus den beiden Seinsformen des Begrenzten und des Unbegrenzten. Sein zweiter — empirisch-pragmatischer — Teil hatte nachgewiesen, wie das gute Leben eine Mischung ist aus Erkenntnis und Lust. Der erste Teil hatte hinaufgeführt dorthin, wo der Geist in seiner weitesten Bedeutung als höchste Seinssphäre und Ursache der Mischung sichtbar wurde. Der zweite Teil führte dorthin, wo die Dialektik als die Wissenschaft des reinen Seins über allen Wissenschaften sichtbar wurde. Das Schlußstück muß die Einheit dieser noch getrennten Gedankenketten schaffen. III 1. Dritter Teil. Daß die Mischung, auch nachdem die Bestandteile 59 E—64 Β bereitgestellt worden sind, noch ein schwieriges und wichtiges Werk ist, zeigt das einleitende Gebet an die Götter des Mischens und die Vorsicht mit der man zu Werke geht. In der Tat, was ist denn unter dem Symbol „Mischung" zu verstehen als eben die Wirklichkeit unseres eigenen Lebens, wie wir es zu führen haben ? Zuerst wird die wahrste Erkenntnis, die des Wahrhaft-Seienden, und die wahrste Freude, eben die Freude an dieser wahrsten Erkenntnis, in den Mischkrug getan. Dann kommen auf der Seite der Erkenntnis zu der reinen Mathematik die höchsten praktisch anwendbaren Wissenschaften und schließlich alle Kenntnisse, aber — wohlgemerkt! — nicht schlechthin, sondern nachdem die höchsten vorhanden sind. (Ist diese Bedingung nicht erfüllt, so können Wissenschaften uns sehr wohl schädlich sein. Heutiger Wissenschaftsbetrieb!) Auf Seiten der Lust nicht alle, sondern zuerst die „wahren" Freuden, dann die „notwendigen" und dann mit Auswahl diejenigen, die mit Gesundheit des Leibes und der Seele vereinbar sind. Die Entscheidung wird den Freuden und Erkenntnissen selbst anheimgestellt und fällt so aus, daß die Freuden um ihrer selbst willen alle Erkenntnisse für wünschens-
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wert erachten, während die Erkenntnisse sich gegenüber den Freuden wählerisch verhalten. Aber um die Mischung zu vollenden gehört noch ein Drittes hinein, „Wahrheit", die das Werdende und Seiende erst zu wahrhaft Werdendem und Seiendem macht. Was meint dieser dritte Bestandteil ? Sagen wir, daß mit den Wissenschaften schon Wahrheit, wenn auch in verschiedenen Abstufungen, gegeben war (61 E), und daß auch die Freuden nach dem Prinzip der Wahrheit ausgewählt wurden (62 E). Aber es genügt nicht, daß das menschliche Dasein erkennt und sich freut und durch beides Anteil an der Wahrheit hat. Es muß vielmehr selbst Wahrheit haben, um wahrhaft zu sein. Man darf wohl sagen: es muß selbst Wahrheit sein. Und vielleicht — das wird nicht ausdrücklich — kann es erst so, als wahres Dasein, wahre Erkenntnis haben und wahre Freude haben. Noch immer handelt es sich um das menschliche Leben, das im ganzen zweiten Hauptteil des Dialoges auf seine Mischungselemente hin betrachtet worden war. Diese Mischung aus Erkenntnis und Lust war von jener Mischung des Begrenzten mit dem Unbegrenzten, wie sie die Ontologie des ersten Dialogteils aufwies, zunächst nicht berührt worden. Dennoch kann die eine Mischung nicht unabhängig von der andern sein. Die Einheit muß hergestellt, das Sein des richtigen Lebens in die Grundformen des Seins überhaupt eingeordnet werden. In der Tat sieht man, wie allmählich der weitere Aspekt durch den näheren hindurchscheint. Wir sind auf die schönste und in sich einträchtigste (άστασιαστοτάτην 63 Ε 9) Mischung aus, hieß es, und wollen herauszufinden versuchen, was im Menschen u n d im All gut (oder: das Gute) ist und welche G e s a m t g e s t a l t (Ιδέαν) dieses Guten man wie mit Seherblick e r a h n e n muß 71 ). Und dann: was der Logos fertig hingestellt hat unter dem Symbol der Mischung ist gleichsam eine unkörperliche Ordnung (Kosmos), die über einen beseelten Leib schön herrschen soll. Das erinnert an den Gorgias (505 E), wo die „Ordnung" (κόσμος) in der Seele besprochen wird, und wo dann auch bald der große „Kosmos" im Hintergrund auftaucht (507 E). Es erinnert auch an den Timaios, wo der Kosmos ein „beseeltes vernünftiges Wesen" (ζωου έμψυχου Iwouv 30 Β) heißt und dann vom „Leibe der Welt" (τό toü κόσμου σώμα 32 C) die Rede ist. So blickt man an unserer Stelle durch den kleinen auf den großen Kosmos. Und weiter: jetzt können wir wohl mit Recht sagen, daß
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wir im Vorhof und am Eingangstor d e s G u t e n (έπΐ τοις του άγαθοϋ προθύροι; 64 C) stehen 72 ). Dadurch ist vollends der Blick durch das menschliche Leben hindurch (61 A) über dieses hinaus geweitet. Dann wird weiter gefragt nach dem, was in der Mischung den höchsten Rang habe (τιμιώτατον), und was man in hervorragendem Sinne als deren Ursache (αίτιον) bezeichnen könne (64 C). Wo man denn daran zurückdenkt, daß im ontologischen Teile der Geist als Ursache über den andern Gattungen des Seins erschien. Und zuletzt sind wir ausdrücklich bei der „Mischung überhaupt" und ihrer „Ursache" (συμπάσης μείξεως τήν αΙτ(αν 64 D) angekommen, sodaß nun endgültig die Betrachtung des besten Lebens in dem ontologischen Horizont des ersten Dialogteils steht. Welches also ist die „Ursache" von „Mischung" überhaupt, nachdem das aus Lust und Wahrheitserkenntnis gemischte Leben des zweiten Dialogteiles und die aus dem Unbegrenzten und der Grenze gemischte Seinsart des ersten Dialogteiles gleichsam zur Deckung gebracht worden sind ? Anders gesprochen: was bewirkt, daß Mischung gut ist, d. h. geordnet ist, d. h. i s t ? Wohl gemerkt, nicht um ein ordnungsloses Gemenge 73 ) handelt es sich, sondern um Mischung in ausgezeichnetem Sinne. Was also im Sinne der Ursache solche Mischung hervorbringt, ist Maß (μέτρον) und Verhältnismäßigkeit (σύμμετρος φύσις = συμμετρία). Damit aber h a t „das Gute", dem wir auf der Spur sind, sich in „das Schöne" verwandelnd geflüchtet. Denn Maßgerechtigkeit und Symmetria, das heißt: Schönheit. Oder wie Sokrates verdeutlicht: „Schönheit und Tugend" — damit man nämlich Schönheit nicht auf das „ästhetische Phänomen" vereinzelte, so wenig wie Tugend auf das „ethische". Hier aber h a t man wie im Symbol an eine Grundtatsache gerührt: wir können das Gute überhaupt nicht in „ e i n e r F o r m " auffangen (μια: Ιδέα τό άγαθόν θηρεϋσαι). Darum also war vorher vom Ahnen die Rede (μαυτευτέον), darum standen wir „im Vorhof des Guten". Wir konnten es nicht anders erwarten, wenn wir an das Urbild des Guten im Staat dachten. So wie wir dort anstatt seiner selbst nur seinen Sprößling zu Gesicht bekamen, so werden wir uns hier begnügen müssen es (gleichsam durch ein Prisma zerlegt) in drei Formen anschauend zu ergreifen: als Schönheit, Verhältnismäßigkeit, Wahrheit 7 4 ). I n das Innere des Hauses zu dringen, wo das Gute-Vollkommene selber wohnt,
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bleibt uns verwehrt. Transzendenz bleibt Transzendenz; aber wir ahnen sie. Nun wir so hoch gestiegen sind, setzt der Ringkampf zwischen Erkenntnis und Lust wieder ein, „welche von ihnen dem Guten näher verwandt und geehrter ist unter Göttern und Menschen" (65 A 8 ff.). Die Frage ist im Grunde längst gegen die Lust entschieden. Also nicht auf das Ja oder Nein kommt es letzten Endes hier an. Sondern da der Geist an den drei Erscheinungsformen des Seins geprüft wird, ergibt sich ein neuer Einklang. Erstens: Geist ist der Wahrheit verwandt oder gar eins mit ihr. Damit tritt er, dessen Erhabenheit uns schon in der Ontologie des ersten Dialogteils sichtbar geworden war, endgültig in den Kreis des Agathon. Geist ist zweitens verwandt mit Maßgerechtigkeit und Verhältnismäßigkeit. Alle Form, Formbestimmtheit, Ordnung also wirkt der Geist. Und damit gehört er drittens zur Schönheit. Daß hingegen Lust in alledem zum Gegenteil gehört, weiß der junge Protarch aus eigener Erfahrung: Lust ist, je stärker, um so mehr zum Betrug geneigt; Lust ist maß-los; Lust ist oft häßlich und versteckt sich aus Scham. Muß man hier nicht weder an den Kampf um die falsche und die echte Aphrodite zurückdenken, der den ersten Dialogteil als bedeutungsvolles Ziermotiv durchzog ? Zuletzt werden noch einmal in fünf Stufen die höchsten Seinsformen, Erkenntnisformen und Lustformen, über die wir Klarheit gewonnen haben, in ein System geordnet76): 1. Der Bezirk des Maßes. Alle „Grenze", alle Form hat hier ihren Ort76). 2. Der Bezirk des Ebenmäßigen (Symmetron), Schönen, Vollkommenen. Das Miteinander, die Vielheit in der Einheit, die Welt des Begrenzten hat hier ihren Ort. 3. Geist und Denken. Die Wahrheit-Wirklichkeit hat hier ihren Ort, Wahrheit in dreifachem Sinne: als Richtigkeit des Denkens, als „Erschlossenheit des Seins" (Heidegger) und als Wahrhaftigkeit des menschlichen Daseins. 4. Die Erkenntnisse in der Seele, von den Einzelwissenschaften hinabsteigend zu den Künsten und Fertigkeiten und von dort zu den richtigen Meinungen77). 5. Die reinen Freuden der Seele, auch hier ein Abstieg von den Freuden, die mit reiner Erkenntnis, zu denen, die mit den klarsten Wahrnehmungen verbunden sind. Auch die vorher (63 Ε 4-5)
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III 3. 66 D—67 Β
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erwähnten Freuden, die mit Gesundheit, Selbstbeherrschung und der Gesamt-Tugend verbunden sind, mögen hier ihren Platz haben. Daß man dieses Fünf-Stufen-System nicht als Dogma in ein Lehrbuch eintragen darf, wäre bei Piaton gewiß, auch ohne die gelegentliche Bemerkung: „du wirst nicht weit von der Wahrheit entfernt bleiben" (66 Β 6). Aber sichtbar werden noch einmal die höchsten Bezirke des Seins, des Geistes und der Freude in ihrer gestuften Ordnung. Seinen letzten menschlichen — „existenziellen" — Sinn aber erhält dieses System durch die überall darin enthaltene ethische Forderung: So sollst du sein! Als wir dieses System durchmessen haben, rundet sich der Dialog zum Ganzen, indem noch einmal auf den Ringkampf des Anfanges zurückgegriffen, der Sieg verkündet und der Vorrang philosophischer „Ahnung" vor den Behauptungen der lustergebenen Menge ausgesprochen wird 78 ). Wenn also am Schluß das Gespräch von seinen Höhen auf die Ebene des Anfangs „zurücksinkt", so geschieht das nicht nur um eines formalen Abschlusses willen. Sondern es wird damit gesagt: alle Ontologie und Metaphysik kehrt in den „Pragmatismus" des täglichen Lebens zurück, aus dem sie sich erhob. Die ebenso einfache wie für jeden entscheidende Frage „wie soll ich leben V leitet mit Notwendigkeit empor zur Erforschung der Seinsarten und in den Vorhof des Agathon. Aber dieser Aufstieg hat nur dann Sinn, wenn man von oben wieder zurückkehrt mit einer Antwort auf die Frage, von der man ausging.
GRUPPE Β MYTHOLOGIE U N D NOMOTHESIE
29. TIMAIOS Der Timaios wird vielleicht immer das unvergleichlichste Werk Piatons bleiben, wie er die längste Zeit als sein Hauptwerk gegolten hat1). Solche Mischung von priesterlicher Würde und groteskem Scherz, von höchster Abstraktion und breitester Empirie, von Mathematik und Phantastik war weder vorher da, noch ist sie je wieder erschienen. Wenn man aber fragt, wozu heute, da die wissenschaftliche Erfahrung so viel weiter, die wissenschaftliche Hypothese so viel strenger geworden ist, der wissenschaftliche Mythos tauge, so könnte man sich vielleicht die Worte durch den Kopf gehen lassen, mit denen Boeckh im Jahre 1807 seine Schrift über die Weltseele im Timaios beschloß2): „Kein Geborener hat die keusche Artemis je geschaut, und nicht einem Aktäon sondern Vielen hat sie das Haupt gehörnt; doch bis die nackte Natur dem sterblichen Auge zu erscheinen nicht errötet, warum nicht wolltest du ihr Bild, abgespiegelt in göttlicher Männer Geist, mit Lust und Genuß beschauen V Aber man muß heute wissen, daß solche poetisierende Ansicht der Dinge nicht ausreicht. Keine wahre Naturwissenschaft kann bestehen, ohne um ihre eigene Geschichte zu wissen. In dieser Geschichte aber gibt es wohl kein einzelnes Schriftwerk, das so tief und so weit gewirkt hat wie der Timaios. Die Geschichte seiner Wirkung zu schreiben, wäre eine große Aufgabe, zu der sich historische mit naturwissenschaftlicher und medizinischer Forschung verbinden müßte. Zu derselben Zeit, als Boeckh jene Worte schrieb, wurde der Timaios im Kreise um Schelling sehr ernst genommen: Der Hofmedikus Windischmann in Mainz übersetzte ihn als „ächte Urkunde wahrer Physik" (1804), und einige Zeit darauf (1826) verfaßte der Breslauer Professor der
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Medizin Lichtenstädt ein Buch über Piatons Lehren auf dem Gebiet der Naturforschung und Heilkunde3). Goethe las beide Bücher und spricht in seiner Geschichte der Farbenlehre von Piaton mit Worten, die auch hier im Folgenden immer wieder gebraucht werden könnten: „Noch willkommener tritt uns bei Plato jede vorige Denkweise gereinigt und erhöht entgegen." Sonst war das X I X t e Jahrhundert dem Timaios nicht gerade günstig. Ob die Physik des X X sten bei ihrer Überwindung der im X V I I ten durch Gassendi neu begründeten Atomistik dem Timaios verpflichtet ist, wäre zu fragen. Daß erstaunliche Analogien bestehen, ist früher (Band I Kapitel 15) gezeigt worden: die mathematische Form der Atome; ihre Zersprengbarkeit; die Zugehörigkeit je einer mathematischen Atomform zu einem bestimmten Element; das Prinzip der elementaren Unscharfe. Daß Piaton beabsichtigt hat, eine Trilogie — Timaios, Kritias, Hermokrates — zu schreiben, nicht eine Tetralogie, in der eine umgearbeitete Politeia vorausgegangen wäre, gilt es zunächst zu zeigen. Denn allerdings könnten die ersten Seiten des Timaios zu solcher falschen Auffassung verleiten4). Was bedeutet die seltsame Zusammenfassung des Gesprächs vom Staat, das gestern stattgefunden habe: die Beschränkung fast nur auf die „natürlichen" Grundlagen dieses Staates (κατά φύσιυ 17 C 10, φύσιν 18 A 4 ) , die Beschränkung des Unterrichts auf die vorbereitenden Gegenstände, Gymnastik und Musik, das vergleichsweise ausführliche Verweilen bei der Gemeinschaft des Besitzes und der Frauen, das Abbrechen da, wo die philosophische Erziehimg, also der eigentliche Kern unserer Politeia, beginnen müßte ? Daß Piaton hier die ursprüngliche Fassung unserer Politeia rekapituliere, die sich eben von hier aus im Umriß wiedergewinnen lasse, ist eine jetzt wohl von niemandem mehr vertretene Annahme5). Wenn wir irgend etwas von Piatons Staatsutopie zu begreifen meinen, so ist es doch dies, daß nicht einer mehr oder minder praktischen, mehr oder minder phantastischen Konstruktion einer Staatsmaschinerie erst später die „Ideenlehre" als Seele eingefügt wurde, sondern daß um das Eidos als Seele der Leib dieses Staates erwächst. Aber ein anderer Irrtum ist es, wenn man den Sokrates scheinbar genau beim Worte nimmt und meint, Piaton habe als erstes Stück einer geplanten Tetralogie den Staat in neuer Bearbeitung vorlegen wollen. Daß er diese undankbare Arbeit je geplant habe, wird
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vollends unglaublich, wenn man sich diesen zweiten Staat vorstellt, der die Maschinerie des ersten bewahrt hätte ohne die Seele. So aber wie es jetzt steht, ist alles sinnvoll. Piaton fingiert am Beginn seiner Trilogoie, es habe ein Gespräch über den Staat stattgefunden. Das ist nicht jenes, welches Sokrates mit Glaukon und Adeimantos (am 19. Thargelion) im Hause des Kephalos geführt hat, auch nicht der Bericht, den er tags darauf (also am 20.) — in dem vorliegenden Werke vom Staat — irgendwelchen unbekannten Zuhörern von dem gestrigen Gespräch abstattet. Sowohl der andere Umfang dessen, was Sokrates über den Staat gesagt haben will, wie der ganz andere Tag, an dem er es gesagt haben will (der Tag vor den Panathenäen, also etwa der 27. Hekatombaion), machen es augenscheinlich, daß Piaton einen anderen, kürzeren Bericht über das frühere Gespräch fingiert oder — weit eher — ein ganz anderes kürzeres Gespräch fingiert, das mit anderen Teilnehmern über den Staat geführt worden sei®). Genug, nach dem knappen Bericht soll es so scheinen, als sei in der Hauptsache von dem äußeren Staatsbau die Rede gewesen. Warum von den Philosophenherrschern, der höheren Erziehung, der Idee des Guten nichts verlautet, würden wir ganz nur dann verstehen, wenn Piaton die Trilogie und nicht nur ihr erstes Stück und den Anfang des zweiten vollendet hätte. Aber schon das Erhaltene scheint darauf hinzuweisen, daß in dieser Trilogie nirgends der Weg der Erkenntnis zum höchsten Eidos gezeigt werden sollte, sondern daß dieses allein in der Form des Mythos gegenwärtig ist. Deshalb, so möchte man glauben, mußte auch der Erkenntnisweg des Staates hier im Dunkel bleiben7). „Einer, zwei, drei. . . der Vierte aber, der gestern unter den Zuhörern war, ist heut nicht mehr hier; er ist unwohl geworden." Was soll dieses Anfangsmotiv8) ? Man meint, Piaton habe sich damit den Weg frei gehalten, die geplante Trilogie in eine Tetralogie zu erweitern. Soll sich nicht im Gegenteil die Trilogie gleich am Anfang ganz deutlich abzeichnen, in der Timaios, Kritias und Hermokrates die Sprecher sind ? Einen Hermokrates-Tfi&log soll man nach dem Kritias noch erwarten, aber nichts mehr darüber hinaus. Dem dient dieser namenlose „Vierte". Schon um den Bericht über die sokratische Staatskonstruktion und dann um diese Trilogie in sich aufzunehmen, dazu gehört Kraft — und wieviel mehr, sie zu schreiben! — das soll
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doch wohl die „Schwäche" deutlich machen, die den Vierten jetzt fern hält. Wie Cicero in der ausdrücklichen Nachfolge Piatons sein Werk De re publica mit einem Gespräch über ein astronomisches Thema eröffnet und mit dem Weltbild des Scipio-Traumes beschließt, so — nur ursprünglicher — dient hier der Rückblick auf die Staatsutopie vor der Konstruktion des Weltalls dazu, Staat und Kosmos zu verbinden. Aber warum hat Piaton dem Vorgespräch des Timaios auch noch die Vorgeschichte des .Kniias-Mythos eingefügt und zwar den langen Weg der Überlieferung über Solon zurück zu den ägyptischen Priestern, dann die geographischgeophysischen Grundlagen dieses Mythos und einen kurzen Vorausblick auf den Krieg zwischen Atlantis und Urathen und schließlich die Erdumwälzungen, die jene Vorzeit von der jetzigen Weltperiode trennen ? Das scheint auf den ersten Blick an dieser Stelle seltsam. Aber die Seltsamkeit würde doch ins Unbegreifliche gesteigert, wenn man annähme, Piaton habe dies erst dann an seinen jetzigen Platz gestellt, als ihm feststand, daß er den Kritias nicht vollenden würde. Vielmehr hat solche ausführliche Vorbereitung nur dann einen Sinn, wenn das, was sie vorbereitet, nun auch wirklich nachfolgt9). Und wenn man noch genauer sieht, daß die Vorbereitung absichtsvoll verteilt ist, daß Uratlantis am Anfang des Timaios beschrieben wird, Urathen am Anfang des Kritias, so ist der Wille deutlich, die beiden Schriften miteinander zu verzahnen. Doch würde es auch wiederum nicht genügen, dies allein als technischen Kunstgriff des erfahrenen Baumeisters zu werten. Vielmehr wächst aus der gemeinsamen Wurzel der Staatsutopie der Doppelmythos: einerseits das Weltgebäude als „größere Politeia" (Proklos); als die im Weltraum sich entfaltende „Idee des Guten"; als hoher Erziehungsgegenstand, der zu jener Idee emporführt; als Bild, das schon im Schlußmythos des Staates den Raum für das Jenseitsschicksal der Seele hergibt, — andererseits Urathen als Hineingestaltung ins Zeitliche und Verbildlichung dessen, was als ErziehungBildung hinauf zum reinen Sein der Staat gebracht hatte. Warum die Weltschöpfung des Timaios mythisch sein mußte, welche Vorformen es für solche mythische Kosmogonie bei Piaton selbst und anderwärts gab, welchen Platz diese Schöpfung innerhalb der platonischen Mythologie einnimmt, darüber ist in dem Kapitel „Mythos" gesprochen worden10). Den Bau des Weltalls,
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wie er im Timaios vorliegt, durch eingehende Interpretationen nachzuzeichnen, würde ein Buch für sich erfordern. Aber wenigstens einige Grundzüge des Werkes müssen hier klar gelegt werden. Z w e c k u r s a c h e u n d m a t e r i a l e U r s a c h e . Der Timaios ist 42E—48E nicht etwa eine naturphilosophische Abhandlung, die nachträglich in einen Dialog umgeformt worden wäre. Man wird dem platonischen Werke nicht gerecht, wenn man vergißt — was wir doch immer wieder tun! — daß Sokrates es war, der dem Pythagoreer gestern die Aufgabe gestellt hat und heut einer der Zuhörer ist. Sokrates zuhörend: man weiß, wie Wesentliches das im Parmenides, Sophistes und Politilcos bedeutet. Im Timaios bedeutet es vielleicht noch mehr, da Sokrates selbst am Anfang einen Rückblick auf seinen Staatsbau gibt und Kritias auf den folgenden Dialog vorausblickend sagt (27 A): er werde von Timaios die Menschengeschöpfe übernehmen und von Sokrates die gemäß dem Erziehungssystem des Staates besonders ausgebildeten Menschen. Muß man nicht auch, um Sokrates' zuhörende Gegenwart richtig einzuschätzen, an den Wunsch zurückdenken, den er im Phaidon (99 C) ausspricht: er wolle bei jedem in die Schule gehen, der ihm die Welt nach dem Prinzip des Guten und Sein-sollenden aufbaue ? Anders gesprochen: der Forderung, die Piaton im Phaidon an sich selber stellt, hat er im Timaios genügt. Schon im Phaidon hat er deutlich die verschiedenen Ursachen erfaßt, mittels derer Welterklärung geschehen kann: die eine ist die eigentlich so zu nennende Ursache (τό αίτιον), genauer die Zweckursache oder das Prinzip des „Guten und Sein-sollenden" (τό αγαθόν καΐ δέον); die andere ist das, „ohne was das Verursachende nicht verursachend sein könnte" (άνευ οδ τό αίτιον ούκ άν ποτ' είη αίτιον), die materiale Ursache. Er hat eingesehen, daß alle bisherige „Physik" nur mit dieser zweiten rechne, die ihm selber nicht genügt. Aber da sie die Bedingung hergibt, unter der die Zweckursache allein wirksam wird, so muß Piaton, ehe er den Mythos vom Weltenbau zu dichten begann, erkannt haben, daß die Dinge, mochten sie auch nach der Idee des Besten geordnet sein, doch diese Idee nicht rein repräsentierten. Er konnte darüber nicht im Unklaren sein, daß finale und kausale oder teleologische und mechanische Erklärung hier zusammenwirken müssen11). Als die beiden Ursachen im Phaidon einander gegenübertraten, war ihr Gegensatz dazu da, um die Entscheidung des sokratischen Lebens wahrhaft klarzumachen,
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und darüber hinaus fiel nur für einen Moment der Blick auf das Universum. Dem Universum ist der Timaios gewidmet, und nur zu Anfang fällt der Blick auf den Staatsbau, das heißt auf das menschliche Leben. Aber die Verzahnung von Physik und Ethik, von kosmischer Struktur und menschlicher Existenz, deutet sich in beiden Werken an. Das ist es, was die Anwesenheit des Sokrates im Timaios bedeutet. Sie bedeutet noch mehr. Unmöglich durfte Piaton die beiden Erklärungsprinzipien, Zweckursache und materiale Ursache, nebeneinander an den Anfang stellen, so wie etwa Aristoteles im Ilten Buch seiner Physik ein Kapitel (II 3) über die Ursachen hat, ,,wie viele und von welcher Art sie sind". Piaton hätte ihnen ja damit Gleichberechtigung gegeben, während er doch in Wahrheit ganz wie früher im Phaidon nur eine wirklich schöpferische Ursache anerkennt, daneben — wie es jetzt mit neuer Terminologie heißt — „die Mitursachen (συναίτια 46 C), die der Gott als Dienende gebraucht, während er das Bild des Besten nach Möglichkeit vollendet". Also begann er und konnte nur beginnen im Geiste der Teleologie. Aber durchdringen mußte das Prinzip der mechanischen Kausalität irgendwo. Faßt man die Stelle ins Auge, an der es geschieht, so wird man bald zugestehen, daß es nirgends besser geschehen konnte als da, wo er die Seele im menschlichen Haupt ansiedelte und mit den körperlichen Sinnen gleichsam an die Fuge des Seelischen und des Leiblichen geriet. Hier ist auch die Fuge mechanischer und teleologischer Naturerklärung. Wie kunstvoll dies gefügt ist, das verdient eine Betrachtung. Timaios stellt die Schöpfung der lebendigen Wesen, Tiere und Menschen, dar. Die unsterbliche Seele des Menschen erhält ihren Platz in dem der Kugel, also der vollkommenen Form, angenäherten Kopf, dem der übrige Körper mitsamt den Gliedern als Bewegungsmechanismus dient12). Das an Rang erste Organ des Kopfes ist das Auge, und hier gibt nun Timaios eine ausführliche psycho-physische Theorie des Sehaktes, der er eine ausführliche Theorie des Spiegelbildes nachschickt. Damit ist er unversehens tief hineingeglitten in den Bereich der „Mitursachen" (45 Β—46 C). Dann macht er halt, und als erfolge hier die Selbstbesinnung, spricht er grundsätzlich über die beiden Formen des „Verursachenden". Aber damit nicht genug. Denn um dieses Grundsätzliche zu verdeutlichen, gibt er nun die Betrachtung
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nach dem Prinzip des „Besten" für den Gesichtssinn, aus dem er die Philosophie erwachsen sein läßt, und fügt dem Gesicht das Gehör hinzu, das er als den Vermittler von Harmonie und Rhythmus in seinem Wert für Ordnung und Zusammenhang der Seele würdigt. Die mechanisch-kausale Erklärung des Gehörs wird erst viel später mit den anderen Sinneswahrnehmungen folgen (67 B). Für jetzt hat er nach dem Hineingleiten in die mechanische Kausalität und nach der ersten Besinnung eine um so reiner teleologische Betrachtung gebracht. Nachdem man so beides nebeneinander gesehen hat, folgt erneut und verschärft die Besinnung über die Prinzipien, über das Werk des Geistes und die Wirkung der materiellen Notwendigkeit (47 E), in deren Bereich die Betrachtung nun für eine längere Weile ganz hinübertritt. So kunstvoll und fest hat Piaton dies gefügt, damit wir das unlösbare Aufeinander-Angewiesensein der beiden Erklärungsprinzipien und doch die Herrschaft des Geistes miterleben. Parmenides hatte mit jener tief in der Sache gegründeten Inkonsequenz, ohne welche dieser großartig konsequente Denker eher ein Inder als ein Grieche wäre, neben seine Ontologie eine Physik gestellt, neben die Wahrheit den Bereich des Scheinens und Meinens. Diesem zweiten Teil des parmenideischen Gedichtes entspricht in der reicheren platonischen Schöpfung, die doch immer wieder parmenideische Denkstrukturen durchscheinen läßt, der Timaios. Wie Parmenides die Welt aus dem Lichten und dem Dunklen, das ist letzten Endes dem Seienden und dem Nichtseienden, gemischt sah, so läßt Piaton das Werden zustande kommen aus dem Seienden, welches das Eidos ist, und jenem letzten Endes überhaupt nicht Seienden, welches seinem völlig unbestimmten Wesen (oder Nicht-Wesen) entsprechend viele Namen hat und unter anderem auch „Raum" genannt wird. Und wiederum ist es im Grunde nichts anderes, wenn „diese Welt gemischt aus dem Zusammentritt von Geist und blinder Notwendigkeit geboren wird". Hier aber, wo Piaton den Blick auf den Bereich der Ananke richtete und ihr den Rang unterhalb des Geistes anwies, trat die ältere Physik ihm wieder nahe, die er den Sokrates im Phaidon hatte von sich weisen lassen. Es ist zwar eine ehedem weit verbreitete, aber durchaus irrtümliche Ansicht der Dinge und Schätzung der Personen, daß der große Piaton sich hier mit seinem großen Antipoden Demokrit auseinandersetze 13 ). Demokrit
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war für Piaton einer in der Reihe der Physiker, und das, was Piaton vor Augen sah und neu gestaltend in seinen Denkbereich einbezieht, ist nicht eine einzelne Doktrin, sondern ist die gesamte ältere Naturphilosophie einschließlich der medizinischen Prinzipienlehre14). Ordnender Geist und blinde, träge Notwendigkeit bewirken zusammen im Timaios den Weltenbau. Daß Anaxagoras sich von allen anderen Physikern durch das Prinzip des „Geistes" unterscheide, und daß er doch wiederum nicht verstanden habe dieses Prinzip recht zu gebrauchen, erklärt Sokrates im Phaidon (77 Bf.). Parmenides gibt dem unerschütterlichen Sein den Namen Ananke und läßt sie als halb mythischen Dämon über der scheinhaften Kosmogonie herrschen. Daß „alles nach Notwendigkeit geschehe", ist eine Lehre, die auch dem Heraklit und dem Anaxagoras zugeschrieben wird, bis sie dann der eine erhaltene Satz des Leukippos belegt. Ja es scheint, als habe Empedokles seine beiden weltbauenden Mächte „Liebe" und „Streit" — wie er jene auch Harmonia oder Freude oder Aphrodite, diesen auch Groll benennt — anderwärts als Charis und „die schwer erträgliche Ananke" einander entgegenstellt15). Es bedarf keines Wortes, daß Piaton hier nicht verschiedene Lehren übernommen und addiert hat. In der Agathon-Rede des Symposions (195 C) läßt er die Urzeit der Welt, das chaotische Durcheinander, von Ananke beherrscht sein, die Weltperiode, in der wir leben, von Eros. Mit welchem Sarkasmus Piaton den Poeten und Schönredner dieses Weltbild entwerfen läßt, dafür braucht man nur dessen Charakteristik der jetzigen Weltperiode zu betrachten: in ihr herrsche „Friede und Freundschaft"! Und dies genau in der Mitte des Griechenlands Kräfte zerstörenden Peloponnesischen Krieges! Im Timaios spricht Piaton mit hohem Ernst. Nicht nach einander herrschen die beiden Weltmächte, sondern zusammen bewirken sie den Weltbau. Der Blick in die Natur wie in die Geschichte zeigte ihm dem Eidos gegenüber ein Etwas, welches bewirkte, daß die Dinge niemals so wurden wie das ewige Muster. Sprach er mit ontologischer Strenge, so stellte er dem Seienden das Nicht-seiende entgegen. Ließ er im Mythos den Weltbau entstehen, so waren es jene dämonischen Kräfte der alten Physiker, die ihm dienen mußten. 33B—34A K o s m o g o n i e : das ist die Form, unter der erst die alten Schöpfungsmythen und dann alle „Physiologen" seit Thaies das Welt-
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wesen begriffen, mochten sie das Mechanische dieser Ausscheidungen und Zusammenballungen auch in der Sprache anzeigen oder mochten sie einer schattenhaften Ananke oder einem nicht viel leibhafteren (oder geisthafteren) Nus das Werk übertragen. Diesen Prozeß der Entgöttlichung rückgängig zu machen, darin hat Piaton — wie er es im Staat und in den Oesetzen ausspricht — eine seiner größten Aufgaben erblickt. So stellt er sich zwar scheinbar ganz in jene Reihe, aber mit dem einen und freilich entscheidenden Unterschied, daß bei ihm der Demiurg nach dem höchsten Vorbild die Welt zu einem „wahrnehmbaren Gotte" (92 C 7) formt, „dem Unsterblichen das Sterbliche einwebend" (41 D 1). In der Paradoxie der Worte deutet sich das Außer-ordentliche dieser hohen Weltordnung an. Die Kugelform des Universums ist seit Anaximander wohl Gemeingut der Naturphilosophen mit Ausnahme der Atomisten; bei Parmenides dringt sie von der Physik gar in die Ontologie vor, sodaß das reine Sein „einer Kugel vergleichbar" wird. Anaximander sah auch die Erde schon in der Mitte des Weltalls schweben, als eine Scheibe freilich, nicht als Kugel. Die Erdkugel in der Mitte des kugelförmigen Universums wird dem Parmenides und den Pythagoreern zugeschrieben. Piaton hatte dieses Welt- und Erdbild schon in den Mythos des Phaidon hineingenommen. Jetzt im Timaios deutet er es als vollkommene, zweckhaft schöne Schöpfung. Von der Kosmogonie wendet sich Piaton zu den Elementen, um dann im zweiten Teil des Werkes mit einer Plötzlichkeit, die man schwer versteht, von den Elementen noch einmal auf den Kosmos als Ganzes zurückzukommen (55 CD). Mit einem Wortwitz und keinem guten, der aber die Heftigkeit seiner Ablehnung umso mehr einprägt, und den er im Philebos (17 B) wiederholt, wendet sich Piaton dagegen, daß es eine unendliche Zahl von Welten gebe (55 CD). Die Doxographie nennt als Vertreter dieser These den Anaximander, Anaximenes, Xenophanes, Archelaos, Diogenes, Leukipp, Demokrit, als Vertreter des Einheitsgedankens den Thaies, Pythagoras, Parmenides, Empedokles, Anaxagoras. Dabei kann man dahingestellt lassen, wie viele ganz verschiedene Ansichten der Welt sich jeweils hinter gleichlautender Formel verbergen. Aber schon dieser Überblick beweist, wie wenig Sicherheit man hat, auch hier wieder eine Beziehung gerade auf Demokrit zu vermuten 16 ). Mit größerem Recht wird man annehmen, daß Piaton F r i e d l ä n d e r , Platon I I I
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in einem alten Schulstreit der Physiker Partei ergreift. Er tut es freilich nicht, um nun fortan als ein Name neben andern in der Liste dieser Kämpfer aufgereiht zu werden. Die Einzigkeit der Welt folgt für ihn aus ihrer Ähnlichkeit mit dem vollendeten Lebewesen (τω τταντελεϊ ζφω 31 Β). So hat diese Einzigkeit für ihn eine tiefe systematische, zuletzt religiöse Notwendigkeit, und mit hohem Nachdruck kommt er noch einmal darauf zurück in den Schlußworten des Timaios von dem „größten und besten, schönsten und vollendetsten, einen, eingeborenen Himmel dort oben" 17 ). Eine Einzelheit haben wir bisher übergangen: Bei jenem plötzlichen Abbiegen (55 CD) zu der Frage: Eine Welt oder unendlich viele Welten ? heißt es wiederum plötzlich: Eine oder fünf Welten ? um die Fünfzahl wenigstens als erwägenswert erscheinen zu lassen. Irgend jemand muß eine solche These aufgestellt haben. Timaios billigt sie nicht, lehnt sie aber nicht mit jener Bestimmtheit ab wie die von der unendlichen Vielheit. Auf die Vollkommenheit ist der Gedanke gerichtet. Man braucht sich nur verschiedene Arten vorzustellen, wie solche fünf Welten in einem regelmäßigen Figurenkosmos angeordnet sein können, um annähernd zu verstehen, was hier gemeint ist. Auf den Gegensatz gegen eine unendliche Zahl von Welten kommt alles an, und gegen die wird mit aller Schärfe gekämpft zugunsten der Einzahl — und selbst die Fünfzahl wäre immer noch besser als die Unendlichkeit 18 ). 34B—37C P s y c h o g o n i e . Aber das Weltall, wie es bisher konstruiert worden 41D—44D ig^ wäre nicht vollkommen ohne „Seele", die das Ganze durchdringend beseelt. „Weltseele" — wie nicht Piaton selber, aber die Späteren sagen — das ist ein Begriff oder eine Konstruktion, die dem modernen Menschen besonders fremdartig klingt und schon in Piatons eigner Nachfolge Widerspruch und lebhafteste Diskussion erregte. Die Welt hat Seele, hat Leben, Lebendigkeit; denn das heißt ja ψυχή eigentlich, und der Glaube an die Unsterblichkeit der Menschenseele hängt ganz wesentlich an der Überzeugung, daß „Leben" nicht sterben kann. Es ist nicht so wie bei den meisten modernen Naturbetrachtern, die in einer ganz materiellen Weltmaschine plötzlich lebendige Wesen entstehen sehen, man weiß nicht wie, sodaß der Grashalm und die Raupe wie ein Wunder in der Welt der mechanischen Sonnensysteme erscheint 19 ). Piaton sieht die Welt als ein Gesamtwesen, das nicht nur einen vollkommenen Körper hat, sondern einen durchaus von
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Seele, Leben durchdrungenen Körper. Diese Seele selbst ist als ein vollkommenes Etwas gestaltet. Man muß an jene Stelle des Phaidon zurückdenken, da Piatons Sokrates eine Geschichte seines geistigen Werdens gibt (96 Äff.). Auf die materialistische Stufe folgt die radikale Wendung, die das Buch des Anaxagoras bringt mit der Erkenntnis, daß der „Geist" als Ursache alles nach dem Prinzip des „Besten" ordnet. Und dann folgt drittens die schwere Enttäuschung, da Sokrates sieht, daß Anaxogoras das geistige Prinzip nicht wirklich durchführt, sondern überall mit materialen Erklärungen auskommt. Sokrates aber kennt aus der Erfahrung des eigenen menschlichen Daseins den Gegensatz der zwei Ursachen: hier die wahre Ursache, dort ein Etwas, „ohne das" jene wahre Ursache „nicht" wirken könnte. Er möchte bei jedem in die Schule gehen, der ihm die Welt nach dem Prinzip des „Besten" aufgebaut zeigen würde. Seine „zweitbeste Fahrt" ist die Flucht in die Begriffsforschung, wie er mit ironischem understatement sagt. Jetzt im Timaios hört Piatons Sokrates, der Entdecker der Eidos-Welt, dem Pythagoreer zu, wie dieser die Seele in sein Weltbild einordnet. DerSchöpfergott hat die Körperwelt gestaltet als mathematisch vollkommenes Gebilde. Dann — in mythischer, keiner wirklichen Zeitfolge—füllt er diese Körperwelt mit Seele-Leben von der Peripherie bis zum Zentrum 20). Folgen wir dieser Konstruktion der Seele nicht in allen schwierigen Einzelheiten sondern in einigen Hauptzügen, und bedenken wir, daß Timaios gar nicht „Weltseele" sagt, sondern einfach „Seele", sodaß die Frage sich ganz von selber stellt, wie sich denn meine eigne Seele zu dieser Gesamtseele verhält, wie sehr oder wie wenig sie ihr gleicht, und ob ihre Aufgabe nicht darin besteht, sich diesem Bilde der vollkommenen Seele wenigstens von fern anzunähern. Timaios läßt den Weltenbaumeister die Seele des Ganzen mischen (35 A): erstens aus dem ungemischten und immer in derselben Weise sich verhaltenden Sein; zweitens aus dem teilbaren Sein, wie es im Bereich der Körper ins Werden kommt. Das würde genügen; aber damit die Schwierigkeit der Mischung und die Unentmischbarkeit um so eindringlicher werde, läßt er drittens zu diesen beiden Elementen noch die Mischung aus beiden hinzumischen oder, wie es anders ausgedrückt werden kann (35 A 3-4), die Mischung aus dem Selben (Identischen) und dem Anderen (Verschiedenen). Halten wir hier inne und vergleichen wir. Im 22·
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Phaidon (78 C ff.) scheidet Sokrates „das Sein, das sich immer in gleicher Weise verhält" — das sind die ewigen Formen — von dem „zusammengesetzten Sein" — das ist die Welt der vergänglichen Gegenstände. Die Seele aber sieht die ewigen Formen vermittelst des Denkens, das den ewigen Formen verwandt ist; sie sieht das Vergängliche mittelst der leiblichen Sinne. Also nur das dritte (künstliche) Mischungselement des Timaios fehlt im Phaidon·. die beiden ersten Bestandteile sind mit genau wörtlichem Anklang dort schon vorhanden. Was aber im Phaidon aus Sokrates' Munde deutlich wird, die Ideenerkenntnis der erkennenden Seele, wird im Timaios in eine allgemeinere Form gebracht, weil der Pythagoreer und nicht Sokrates spricht. Der Leser jedoch kann gar nicht anders als sich an die wörtlich anklingende Phaidowstelle erinnern, und er darf gewiß sein, daß die Sätze des konstruierenden Pythagoreers von dem zuhörenden Sokrates in dessen eigenem Sinne weitergedacht werden; darf dessen um so gewisser sein, wenn er sich erinnert, wie im Sophistes (238 A) wieder mit genauem Anklang sowohl an die Phaidon- wie an die Timaiosstelle der Gast aus Elea den „Ideenfreunden" die Überzeugung zuschreibt, daß die Seele mit dem reinen Denken in ihr auf das Wahrhaft-Seiende gerichtet ist, „das, wie ihr sagt, sich immer auf gleiche Weise verhält". Ein Wesentliches fehlt noch in unserem Bericht über die Gesamtmischung : das pythagoreische oder pythagoreisch scheinende Zahlenelement. Dieses also wird der Mischung hinzugefügt in der Form der „zweiten Tetraktys", die die Alten in der Form eines Lambda anzuordnen pflegten: 1 2 4 8
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In die Abstände zwischen diesen Zahlen werden je zwei mittlere Größen eingeschaltet, je eine „harmonische" und eine „arithmetische" Mitte. Nach diesem kunstvoll berechneten Zahlensystem werden die Gestirnsphären bewegt. So streng also ist die Gesetzmäßigkeit innerhalb der Weltseele, des Weltlebens.
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Ob diese mathematische Symbolik zugleich eine musikalische ist, darüber wird bis heute lebhaft gestritten. Für Aristoteles und für Plutarch ist die musikalische Komponente geradezu das Wesentliche in der platonischen Konstruktion21). In unserer Zeit haben Frank und Cornford jedes musikalische Element verneint. Im Gegensatz zu ihnen setzt sich Ahlvers für das Vorhandensein der Weltharmonik im Timaios ein und beruft sich dabei auf die Werke von Thimus und Hans Kayser. Ich bin weit entfernt davon, ein eigenes Urteil sachlich begründen zu können. Aber das Ergebnis, wie Ahlvers es formuliert, „daß der platonische Kosmos durchwaltet ist von musikalischen Gesetzen", entspricht so durchaus dem, was der Staat lehrt, daß man im Timaios eine Weltharmonik vermissen würde, wenn sie nicht darin wäre. Wie Piatons geistiges Auge eine Sphärenwelt sah, so muß sein geistiges Ohr eine Sphärenharmonie vernommen haben. „Astronomie und Musik", sagt Sokrates dort im Staat, wo er die Erziehung der künftigen Philosophen-Herrscher auf die Höhe führt (VII530 D), „sind verschwisterte Wissenschaften, wie die Pythagoreer sagen, und wir, lieber Glaukon, stimmen darin mit ihnen überein". Also die Musik6 ist nicht nur zusammen mit der Gymnastike der Erziehungsbereich für die jungen Bürger des idealen Staates; schon dort ist die Musiki „die herrscherlichste, wirkendste Nahrung der Seele" (III 401 D). Musik aber in ihrer Gipfelform gehört mit Mathematik und Astronomie zusammen. Wie die Astronomie, so forscht diese höchste musische Kunst danach, „welche Zahlen zusammenklingend sind und welche nicht, und weshalb dies in beiden Bereichen so ist" (VII 531 C). Diese höchst schwierige Forschung ist nützlich für die Suche nach dem Schönen und Guten: der dialektische Weg liegt vor uns (VII 532 B), und die Musik e ist eine der Wissenschaften, welche die Ideenforschung vorbereiten. Im Schlußmythos endlich wird die Musik der Sphären vernehmbar, da auf jedem der Sternenkreise eine Sirene je einen Ton von sich gibt und diese Töne zu der e i n e n Weltharmonie zusammenklingen. An diese Züge des platonischen Staatsbaues also muß man zurückdenken, wenn man mit Sokrates der Psychogonie des Pythagoreers Timaios zuhört. In vielem Einzelnen geht sie über das hinaus, was Sokrates im Phaidon und im Staat ausspricht. Aber von dem, was noch höheren Ranges ist als das Reich der Sterne und der Töne, hat der Pythagoreer nichts zu sagen. Nicht als wäre, wie manche
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meinen, für Piaton dieses Reich der ewigen Formen in seiner Spätzeit verblaßt: durch Sokrates' Gegenwart im Timaios wird es lebendig symbolisiert. 31B—33B E l e m e n t e u n d E l e m e n t a r - P o l y e d e r . Darüber ist im Ersten PJKTV
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Band eine Untersuchung vorgelegt worden (Kapitel XV). Dreierlei mindestens müßte bei solcher Forschung jeweils gefragt werden: 1) wie Piaton die älteren Theorien zusammenfassend „reinigt und erhöht" (mit Goethe zu sprechen); 2) ob etwa und wiefern Piatons Theorie durch moderne Theorie verständlich wird; 3) ob Piaton auf moderne Theorien gewirkt hat. 1) Piaton sieht die gesamte Spekulation der Früheren über die Elemente vor sich, und indem er sie zusammenfaßt, formt er sie neu nach mathematischem Prinzip 22 ). Feuer und Erde sind die Urelemente, aus denen er nach dem Gesetz der Proportion die andern konstruiert (31 Β ff.). So hatte Parmenides zwei Grundwesenheiten einander gegenübergestellt, von denen er die eine „Feuer" benannte, die andere „Nacht, dichte und schwere Gestalt", und Aristoteles läßt ihn geradezu Feuer und Erde zu Ursubstanzen machen, aus denen alles übrige, wie Luft und Wasser, durch „Mischung" entsteht 23 ). Piatons Ausgangsstellung ist grundsätzlich die gleiche, der Ersatz physikalischer Mischung durch mathematische Proportion zeigt seinen eigenen Willen oder vielleicht besser gesagt das Pythagoreische seines Denkens. Die Vierzahl der Elemente fand man bekanntlich alle Zeit bei Empedokles vorbildlich formuliert, nur daß sie dort von Anfang an gegeben war, während Piaton sie mathematisch konstruierend ableitet. So faßt er auch die empedokleische Philia, die bei ihm deutlich anklingt, schärfer und tiefer als Empedokles selbst, nämlich als das mathematische Formgesetz, nach welchem das All „zur Einheit mit sich selbst gelangend unlösbar bleibt für jeden andern als allein für den, der es zusammengebunden hat" (32 C)24). Im Gegensatz zu Empedokles läßt Piaton die Elemente ineinander übergehen. Wasser verfestigt sich anscheinend zu Erde, und Stein löst sich auf in Hauch und Luft, brennt als Feuer empor, verdichtet sich wiederum zu Luft, Wolke und Nebel, und diese wieder zu Wasser, sodaß der Kreislauf des Werdens geschlossen erscheint. Diese Vorstellung — die sich nur dadurch in einem späteren Abschnitt modifiziert, daß das wirkliche Element Erde als unauflösbar erscheint (54 C)25) — hat ihre bekannten Vorläufer. Mit wört-
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lichem Anklang läßt ein Bericht — der freilich warnend lehrt, wie der Timaios die Doxographie färbt — über Heraklits Lehre Wasser sich zu Erde verfestigen und aus dem Wasser alles andere durch „Verdampfung" entstehen 26 ). „Der Weg hinauf und hinab ist einer und derselbe", lehrt Heraklit (und wahrscheinlich hat er nach seiner Art hinzugefügt: „und nicht derselbe"); echtes Symbol für ihn ist der Kreis, auf dessen Linie „Anfang und Ende gemeinsam sind" 27 ). Aber die „Verdichtung" der Luft zu Wolken, die Wandlung des Wassers in Hagel und Schnee war auch dem Anaximenes und Anaxagoras, der Kreislauf von Luft zu Wind, Wolken, Regen, Kälte und von dort wieder zu Wind und Luft dem Epicharm wichtig, und das Formschema: dieses wird zu jenem, wenn . . . begegnet bei Piaton ebenso wie in den doxographischen Berichten über die alten Physiker. Aber bei aller Übereinstimmung stellt sich Piaton der gesamten älteren Elementenspekulation doch wieder gegenüber. Für Heraklit war zuletzt trotz aller Wandlung der Urstoff „Feuer", für Anaximenes, Archelaos, Diogenes „Luft", für Empedokles waren die vier Elemente streng voneinander geschieden. Piaton denkt auch hier radikaler als sie alle. Die Elemente werden ihm aus starren Substanzen zu Qualitäten einer nur in solchen Modi sich darstellenden Grundsubstanz — Substanz die zugleich auch Raum und Energie ist. Darin ist der Gegensatz zu Empedokles am stärksten, aber nicht viel weniger stark der zu den anderen. Nur etwa auf Anaximander hätte Piaton sich für die Einheit und absolute Unbestimmtheit seines Urstoffes berufen können 28 ). Aber die Spannung, auf die es ihm ankam, zwischen solcher radikalen Bestimmungslosigkeit des letzten Grundes und dessen ebenso entschiedener Organisierung konnte er so nirgends finden. Der physikalische Mythos ließ ihn als Ausdruck dieses strengen Formgedankens die ihm ganz eigene Korpuskulartheorie ersinnen 29 ). Damit stellte er sich in die Reihe der Denker, die die Welt aus kleinsten Stoffteilen erbauten. Keineswegs hatte er es allein mit Leukipp und Demokrit zu tun; sein Agon galt ganz gleichermaßen dem Anaxagoras, dem Empedokles 30 ). Mit den Atomisten im engeren Sinne verbindet ihn die Neutralität des Grundstoffes (obgleich schon hier auf etwas ganz anderes gezielt wird). Aber ihre Atome waren unendlich zufällig geformt, das heißt in Piatons Sinne ungestalthaft, und die blinde Notwendigkeit
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konnte es für ihn am wenigsten fertigbringen, aus diesem Ungeordneten einen Kosmos zu schaffen. Empedokles bot ihm die vier Elementarpartikel, deren strenge Sonderung .Piatons Klarheitswillen entgegenkam. Aber letzte Substantialität besaßen sie für ihn nicht, sondern sie bestanden als Qualitäten von einem Etwas jenseits ihrer. Anaxagoras sah den Geist als Beweger und das Bewegte als ein unendlich mannigfaltiges und unendlich teilbares Kontinuum. Auch bei Piaton bewegt der „Werker Geist" (Νοϋς δημιουργόξ), aber sein weltschaffendes Tun ist nicht ein unbestimmtes Scheiden und Vereinen, sondern ist Formen nach den Gesetzen der Mathematik: ό öe6s άεΐ γεωμετρεϊ. Es ist bekannt, daß Piaton hier vier der fünf regelmäßigen Polyeder, der „Platonischen Körper", in seine Korpuskulartheorie eingliedert, um die mathematische Regelmäßigkeit der Elementarkörper anschaulich zu machen. Weit entfernt also, sich mit einem einzelnen seiner Vorgänger auseinanderzusetzen, sieht er ihre Theorien der Elemente und Atome zusammen und denkt sie weiter in einer Konzeption, die, so mythisch-phantastisch sie auch erscheinen mag, doch genau besehen wie eine Vorahnung der neuesten Atomtheorie wirkt. 2) Es ist früher (Band I Kap. XV) versucht worden anzudeuten, wie die platonische Konstruktion an moderne Theorien der Physik wenigstens anklingt und dadurch uns recht eigentlich erst verständlich oder sinnvoll wird, so wenig dabei die Gefahr verschwiegen wurde und übersehen werden darf, wie leicht man Modernes zu Unrecht in das weit Zurückliegende hineinlesen kann. Piatons Elementar- und Korpuskulartheorie war wahrscheinlich herrschend im Mittelalter bis in die Renaissance hinein; sie wurde unverständlich, als in der Nachfolge Gassendis und Newtons die Atomistik des Leukipp und Demokrit herrschend wurde, und ist erst wieder sinnvoll geworden, als diese Atomtheorie durch die moderne Entwicklung der Physik abgelöst wurde. Für folgende Grundthesen der modernen Physik finden sich bei Piaton unverkennbare Analogien : Nach Prout sind die Elemente auf ein Grundelement reduzierbar; nach Dalton gibt es so viele Atomformen, wie es Elemente gibt; nach Rutherford und Bohr haben die Atommodelle mathematische Form — so verschieden wieder Piatons Polyeder von diesen astronomischen Modellen sind — und sind die Atome zersprengbar; nach Heisenberg greift das Prinzip der ,,elementaren Un-
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schärfe" in alle Naturgesetze ein und führt auf ein unvorstellbares Substrat, das allen Naturvorgängen zuletzt zu Grunde liegt. 3) Hat die platonische Elementar- und Korpuskulartheorie auf die moderne Entwicklung gewirkt ? Die Frage kann nur gestellt, muß aber auch gestellt werden. Um sie zu beantworten, müßten sich Physik und Geschichtsforschung verbinden. Z i r k u l a r b e w e g u n g des G a n z e n . L e e r e r R a u m . Die 4 Elemente oder anders gesagt die 4 stereometrischen Atomformen werden von der Zirkularbewegung des Alls umfaßt (58 A). Bewegimg muß sein; denn die Elementarkorpuskeln sind verschieden; Verschiedenheit aber und Bewegung gehören so genau zusammen wie Gleichheit und Ruhe. Damit kehrt Timaios zu dem zurück, was er früher über die vollkommene Kugelform des Alls gesagt hatte (33 B). Die vollkommene Zirkidarbewegung, so heißt es jetzt, faßt alles zusammen und läßt keinen leeren Raum übrig. Diese Negierung des Leeren geschieht plötzlich und sehr kurz. Später wird sie noch einmal aufgenommen und verdeutlicht (79 B): es gibt keinen leeren Raum, in den irgend eins der sich bewegenden (Korpuskeln) eintreten könnte. Man hat in dieser Ablehnung des Leeren wie so oft im Timaios eine Polemik gegen Demokrit oder, sagen wir besser, gegen Leukipp und Demokrit gesehen. Auch hier ist damit nicht erfaßt, worauf Piaton eigentlich zielt. Daß es leeren Raum gebe, ist wohl vulgäre Meinung, die der Augenschein nahe legt. Der Kampf gegen diesen Augenschein, die Leugnung des Leeren als des Nichtseienden ist für die Eleaten ontologische Forderung, für Anaxagoras Ergebnis seiner Anschauung von der Kontinuität alles Seins, während die eigentlichen Atomisten das Leere nötig haben, um ihre Atome darin bewegen zu können. Piaton folgt also mit der Bestreitung des Leeren dem Parmenides, Zenon, Melissos, Anaxagoras, Empedokles. Ja, bei Licht besehen leugnet er gar nicht das Leere schlechthin 31 ). Wie sollte er nicht bemerkt haben, was schon Aristoteles gegen ihn einwendet, daß die Lehre von den regelmäßigen Polyedern die Annahme kleinster Zwischenräume erfordert ? Sie müssen nur kleiner sein als das kleinste Polyeder, sodaß kein im praktischen Sinne leerer Raum entsteht, das heißt Raum, den irgendein Polyeder einnehmen könnte, ohne ihn einzunehmen. Und selbst wenn man solche minimalen Zwischenräume annehmen muß, so kann niemand sagen, ob sie wirklich ,,leer" im strengen Sinne sind oder gefüllt mit jenem
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tingeformten X, für das die modernen Darsteller der platonischen Physik den Namen „Raum" vorziehen, während Piaton es mit vielen Namen benennt, unter denen „Raum" nur einer ist. Ein Leeres von selbständigem Dasein im Sinne der Atomisten würde für Piaton bedeuten, daß hier dem Geist sein Werk der „Überredung" an der Ananke mißlungen wäre. Das Mindestmaß ungeformten Raumes zwischen den Polyedern hält gleichsam dauernd den Ursprung des Gestalteten aus dem Chaos, des Werdenden aus dem Nichtseienden gegenwärtig, und indem Zerfall und Neuformung der Polyeder sich immerwährend vollzieht, wird von den Dreiecken als Körperinneres eingeschlossen, was eben noch Zwischenraum gewesen war. 45B—46C S i n n e s e m p f i n d u n g e n . Die platonische Theorie der Empfin61C—68 D ( j ^ g g j j berührt sich mannigfach mit älteren Lehren, geht freilich in ihrer Absicht, die Erscheinungen „bis zur Seele" (μέχρι της ψυχήξ 45 D 2. 6 4 B 5 . 65 A 5. 67 Β 3) durchzuführen, also durch die Mechanik hindurchzudringen zum Orte des Geistes, wohl über 45B—46C alle früheren hinaus. Den S e h v o r g a n g denkt Piaton sich so (45 Β ff.): das reine Feuer aus dem Auginneren verbindet sich mit dem gleichartigen Element draußen; dieser Sehstrahl kommt in Berührung mit irgendeinem Gegenstand und gibt die Bewegungen, die so entstehen, dem ganzen Körper bis zur Seele weiter. Nicht unähnlich in ihrem Wesen, nur stofflicher, erscheint die demokritische Deutung: ein Abfluß vom Gegenstand und ein anderer vom Auge treffen sich in der Mitte, die zusammengedrückte Luft wird an dieser Stelle geprägt, und das Prägebild scheint dann hinein in das Feuchte des Auges, also wie eine Art Spiegelbild. Man könnte denken, daß Piaton Demokrits These vergeistige. Aber man darf nicht übersehen, daß Empedokles zeitlich beiden vorangeht und sachlich zwischen beiden steht. Zu Piaton stimmt er darin, daß auch er das Auge wie einen Filter ansieht, der die dichtere Materie festhält und nur die feinste, das Feuer, nach außen läßt. Dem Demokrit geht er mit der Theorie der „Abflüsse" voran 32 ). Auch hier also ist es nicht wahrscheinlich, daß Piaton sich mit einer einzigen Lehre polemisch auseinandersetzt, zumal wenn man dazu nimmt, daß Alkmaion den Sehvorgang aus dem Feuer und dem Wasser des Auges, dem Leuchtenden und dem Durchsichtigen, herleitet, und daß eine Theorie der Sehstrahlen auch dem Pythagoras und dem Parmenides, wenn auch etwas undeutlich mun-
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kelnd, zugeschrieben wird33). Platon sah schon mannigfache Deutungen vor sich, denen er seine eigene, vergeistigte entgegenstellt. Vor allem aber: Platon sieht in dem Gesichtssinn den Ursprung der „Welt-Anschauung" (47 AB): Gott hat uns die Sehkraft gegeben, damit wir die Himmelsbewegungen zu Gesicht bekommen. Ohne diese Bewegungen besäßen wir nicht den Begriff der Zeit. Die Naturforschung, also gerade das, was Timaios hier lehrt, hat dort ihren Ursprung. Und daraus wiederum sieht Timaios die Philosophie erwachsen: „Kein größeres Gut als sie ist gekommen noch wird je kommen dem sterblichen Geschlecht geschenkt von den Göttern". Das klingt, wenn man die Anwesenheit des Sokrates nicht vergißt — und man darf sie nicht vergessen — wie eine Huldigung an den zuhörenden Philosophen und sein Werk. Wenn schließlich Timaios die ethische Aufgabe, die die Astronomie uns Menschen stellt, darin erblickt, daß wir den „unverwirrten" (άταράκτοΐξ) Bewegungen der Gestirne die „verwirrten" (τεταραγμένας) Bewegungen unsres Innern nach Kräften angleichen, so darf man doch, muß man doch, an den Phaidon (79 D) zurückdenken: Die höchste Aufgabe der Seele ist es, zeigt Sokrates dort, daß sie mittels des Denkens das reine Sein zu Gesicht bekommt und dadurch ihrer eigenen „Wirrnis" (τοϋ πλάνου) ledig wird. Nicht als wären dem späten Platon die ewigen Formen vor der Astronomie verblaßt oder gar von ihr verdrängt worden. Wir denken in seinem Sinne die erhabene Astronomie, wie Timaios sie lehrt, von der Ideenforschung überhöht, für die Sokrates mit seinem Leben und Sterben einsteht. Berühren wir kurz Piatons Kapitel von den Farben. Hier ins 67 C—68 D Einzelne zu gehen ist schwierig und wäre doch unter anderem darum wichtig, weil in dem Kampf, den Goethe gegen Newton, den die „Farbenlehre" gegen die „Optik" führt, Piatons Ansichten einen bedeutenden Platz haben34). Goethe spricht von ihnen in seiner Geschichte, der Farbenlehre mit besonderer Verehrung, spricht unter anderem von der Schwierigkeit, das griechische Begriffspaar συγκρίνειν und διακρίνειν in eine moderne Sprache angemessen zu übertragen, und gibt dann eine deutsche Übersetzung der unter Aristoteles' Namen erhaltenen Abhandlung Über die Farben. Mit welchem scharfen Auge und welcher lebendigen Teilnahme Platon seit Jahrzehnten in dem Bezirk der Farben verweilt, zeigen
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vor allem der Menon und der Phaidon. Im Menon (76 CD) beruft sich Sokrates, um deutlich zu machen, was eine Definition ist, auf die Farbenlehre des Empedokles. Da gibt es „Abflüsse" (οατορροαί) und „Poren" (πόροι), in die die Abflüsse „ihren Weg nehmen" (πορεύονται), wenn sie hineinpassen, oder nicht, wenn sie „zu groß oder zu klein" sind. So ist also „die Farbe ein Abfluß von Körpern, der mit dem Gesichtssinn zusammenpassend (όψει σύμμετρος) und darum wahrnehmbar ist". Wörtlich daran anklingend beginnt das Farbenkapitel des Timaios mit dem von den Körpern „abfließenden" (απορρέουσαv) Licht, das in den Gesichtssinn „hineinpaßt" (όψει σύμμετρος), während andere Partikeln nicht hineinpassen, weil sie „bald zu groß, bald zu klein" sind. In einer ganz anderen Sphäre bewegt Sokrates sich, wenn er im Schlußmythos des Phaidon ein Bild der wahren Erde, der „Erde selbst", entwirft, die in den reinen Äther hinaufragt, und im Gegensatz zu ihr das beschreibt, was wir die „bewohnte Erde" nennen, die in eine Höhlung des Erdkörpers eingesenkte Schicht. Jene wahre Erde ist vor unserem Wohnplatz auf dem Boden der Höhlung vor allem ausgezeichnet durch die Farben, die viel glänzender und reiner sind als die Farben bei uns. Ein Purpurrot und eine Goldfarbe und ein Weiß, das viel weißer ist als Alabaster und Schnee, gibt es dort oben und andere Farben, die schöner sind', als wir sie je gesehen haben. Wenn auch nur ein Abglanz davon, ist doch selbst unsere bewohnte Erde ein durchaus farbiges Gesamt. Die Oberfläche der wahren Erde aber ist „ein Schauplatz seliger Betrachter". Daran wird man zurückdenken, wenn das Farbenkapitel des Timaios mit dem Gegensatz der menschlichen und der göttlichen Natur schließt: Gott kann die Vielheit in die Einheit zusammenmischen und die Einheit wieder in die Vielheit auflösen; von den Menschen aber ist keiner dazu fähig, noch wird er je dazu fähig sein. Zwischen dem Anklang an den Menon, mit dem das Farbenkapitel des Timaios beginnt, und dem Anklang an den Phaidon, mit dem es schließt, breitet sich die Einzelanalyse der Farben aus: die Grundfarben, die Kontraste, die Mischungen, die Wirkung auf das menschliche Auge. 67A—C Auch über das Gehör hatten die Früheren sich sehr verschieden ausgesprochen. Nach Empedokles schlägt die bewegte Luft gegen das Feste und bringt dadurch einen Ton hervor, nach Alkmaion
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hören wir vermittels des leeren Raumes im Ohre, Diogenes und wohl schon Anaxagoras lassen den Ton durch die bewegte Luft des Ohres bis zum Gehirn gelangen. Ähnlich, wie es scheint, Diokles der Arzt, der außerdem noch mit der abschließenden und vielleicht schallverstärkenden Wirkung der umgebenden Hirnschale rechnet 35 ). Piaton scheidet schärfer zwischen Erzeugung des Tones und Zustandekommen der Gehörempfindung, er führt den Weg weiter als die anderen, nämlich vom Kopf in die Leber hinein — jenes Organ, durch das die vernünftige Seele mit der begehrlichen in Beziehung ist — und er läßt die Bewegung sich wiederum „bis in die Seele" erstrecken. Denn wie bei dem Gesichtssinn ist bei dem Gehör das uns Menschen gesteckte Ziel dieses: Harmonie und Rhythmus zu erfassen und das, was in unserer Seele unharmonisch und unrhythmisch ist, jener hohen Ordnung anzugleichen. Geschmack und Geruch erklärt Piaton vermittels der Äderchen 65C—67A (φλέβες) des betreffenden Organs, durch welche die Absonderungen eindringen. Dem entspricht im allgemeinen die Vorstellung von den Poren, durch die Empedokles das Wahrnehmen überhaupt zu erklären versucht, im besonderen die Deutung des Geschmackssinnes durch Diogenes38). Um die Erscheinungen W a r m und 61 D—62 A K a l t zu erklären, hatte Anaxagoras jenes mit dem Lockeren und Feinen (μανόν καΐ λεπτό ν), dieses mit dem Dichten und Dicken (πυκυόν καΐ -παχύ) gleichgesetzt. Die Atomisten ließen die heißen Körper aus schärferen (όξυτέρων), feinteiligeren (λετττομερεστέρων) und gleichgelagerten Atomen entstehen. Von Demokrit insbesondere wird noch berichtet, daß er durch das Trennende und Scheidende (διακριτικά καΐ διαιρετικά) die Empfindung (συναίσθηση) der Wärme, durch das Vereinigende und Zusammenballende die der Kälte entstehen ließ. Piaton (61 D ff.) hebt die Feinheit (λετττότης) der Seiten, die Schärfe (όξύτης) der Winkel, die Kleinheit der Teilchen, die Geschwindigkeit der Bewegung hervor und läßt durch das Scharfe und Schneidende (σφοδρόν καΐ τομόν) des Eindringens, das Scheidende (διακρίνουσα) und Zerkleinernde des Einwirkens die Empfindung „Warm" entstehen. So stellt er sich mit seiner Deutung in die Reihe der vorher Genannten und ist doch bewußter als sie darauf gerichtet, nicht nur die objektive Grundlage, sondern gleichzeitig auch den subjektiven Vorgang der Empfindung zu deuten, was z.B. bei der anschaulichen Analyse der Kältezustände noch deut-
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licher wird 37 ). Bemerkenswert ist schließlich, daß das Problem von 64C—65 Β L u s t und S c h m e r z im Timaios und in der Doxographie bei den Sinnesempfindungen abgehandelt wird. Mit dem, was wir etwa von Empedokles, Anaxagoras, Diogenes hören, haben Piatons sehr viel reichere und feinere Analysen wenig Berührung. Wenn er ebenso wie Diogenes die Lust als einen Vorgang „der Natur entsprechend", den Schmerz als einen solchen „wider die Natur" faßt, so geht er doch sonst ganz eigene Wege und führt auch hier die Phänomene „bis zur Seele" durch 38 ). 81E—90D H e i l k u n d e . Ähnlich wie bei der Platonischen Physik müßten sich mit der Interpretation des Textes folgende Fragen verbinden: 1. Wer waren Piatons Vorgänger 1 2. Was ist sein Eigenes ? 3. Seine Nachfolge in der Antike, im lateinischen, griechischen und arabischen Mittelalter, in der Renaissance und so fort. 4. Wie sieht Piatons Heilkunde aus, wenn man sie von der modernen medizinischen Wissenschaft her betrachtet — und umgekehrt ? Hier kann höchstens über die beiden ersten Fragen einiges wenige gesagt werden 39 ). Man begreift, daß Piaton sich einer medizinischen Theorie anschloß, die wie seine eigene Physik auf der empedokleischen Elementenlehre fußte. Philistion von Syrakus, den er —dem Zweiten Brief (314 E) nach—persönlichkannte, war in jener Zeit Vertreter, vielleicht Hauptvertreter, einer solchen Theorie, und daß Piaton ihm gefolgt sei, weit hinaus über die Grenzen dessen, was uns die Überlieferung nachzuweisen erlaubt, ist heute die verbreitete Meinung 40 ). An ihr wird etwas Richtiges sein, so sehr man nach unsern Erfahrungen auf dem Gebiet der platonischen Physik auch hier davor warnen muß, das Ein-Quellenprinzip zu übertreiben. Auch Menekrates mit dem Beinamen Zeus und im wesentlichen auch Diokles legten die vier Elemente zu Grunde 41 ). Und es wird zwischen Empedokles und Philistion noch manchen älteren Vertreter dieser Lehre gegeben haben 42 ). Nicht umsonst weist ja Timaios in dem ersten Satz dieses Kapitels darauf hin, daß über den Ursprung der Krankheiten allgemeine Übereinstimmung bestehe. Noch wichtiger ist eine andre Erwägung: Piaton schreibt nicht ab, sondern er denkt zusammen. Philistion entnahm den vier Elementen die vier „Kräfte" (δυνάμει), die immer mit ihnen gleichzeitig gedacht wurden, Warm und Kalt, Feucht und Trocken, und ließ die erste seiner drei Krankheitsformen aus dem Zuviel oder
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Zuwenig einer dieser Kräfte entstehen. Auch der Timaios kennt diese Gegensätze, aber er kennt außer den zwei Paaren auch „Leicht und Schwer und allen möglichen Wechsel". Diese Fülle der Gegensatzpaare aber hatte echt pythagoreisch Alkmaion aufgestellt und hatte aus der „Gleichberechtigung" dieser Kräfte (Ισονομία των δυνάμεων) die Gesundheit, aus der „Alleinherrschaft" (μοναρχία) einer Einzelkraft die Krankheit hervorgehen lassen, wie Piaton mit einem ähnlichen politischen Bilde von dem „Übergriff" (πλεονεξία) der Einzelkraft spricht und von „Unruhen, Empörungen" (στάσεις) die solcher Übergriff im Gefolge hat 43 ). Wie Piaton hier Philistion und Alkmaion verbindet, so ersetzt er die dritte Krankheitsform des Philistion, die durch äußere Einwirkungen hervorgerufenen Krankheiten (παρά τά έκτός), durch etwas ganz anderes: sie hat bei ihm wiederum drei Arten je nachdem bald in Luft (ττνεϋμα), Schleim (φλέγμα) oder Galle (χολή) die Ursache liegt. Das Gemeinsame dieser drei Arten ist dies, daß die Krankheit entsteht oder schlimm wird, wenn die Stoffe im Körper eingeschlossen bleiben, während ihre Ausscheidung aus dem Körper (διεξόδους 84 D 3, Ιξω ττορευθηναι Ε 4, ίξω του σώματος 85 Α 2) Gesundheit oder Erleichterung bewirkt. Nun hat das Pneuma im System des Philistion einen besonderen Rang. Durch „gute Lüftung des Körpers" (δταν εύττνοή) ist dessen Gesundheit bedingt. Piatons Ätiologie der Lungenentzündung hat man längst mit der des Diokles verglichen und auch hier Philistion als den eigentlichen Lehrer Piatons vermutet44). In diesem Lehrstück also ließe sich Piatons Verfahren so kennzeichnen: er habe Schleim und Galle aus einer Zweisäftetheorie von jener Art, die in vielen — man meint, den „knidischen" — Schriften des hippokrateischen Korpus herrscht, hineingenommen in das System des Philistion46). Aber nun erfahren wir, daß die alte indische Medizin „Wind, Galle und Schleim" als die drei „Fehler" für die Entstehung der Krankheiten verantwortlich machte48), — und werden damit vielleicht auf Zusammenhänge geführt, über die heute kaum die ersten Worte gesprochen sind47). Ob man danach den Piaton als Eklektiker und nicht vielmehr als „Synoptiker" zu bezeichnen vorzieht, wird davon abhängen, ob man ihn in die Geschichte der Medizin einordnet oder einen um die Theorien dieser Wissenschaft aufs ernsteste bemühten Naturphilosophen in ihm sieht. Bedenke man die wenigen Zeilen,
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die er über die Epilepsie schreibt (85 AB), und vergleiche man damit die Schrift Von der heiligen Krankheit, mag Hippokrates selbst oder einer seiner frühesten Schüler sie verfaßt haben 48 ). Dort wehrt sich der Mediziner nachdrücklich gegen den volkstümlichen Namen „heilige Krankheit": sie sei nicht göttlicher und nicht heiliger als irgend eine andere. Der verkehrte Name könne nur den verbreiteten Aberglauben stärken, wonach magische Mittel gegen dieses Leiden anzuwenden seien, während es doch ganz naturgemäß dadurch entstehe, daß Schleim außer Blut und Luft ins Gehirn dringe. Piaton übernimmt durchaus die natürliche Ätiologie, nur daß er außer dem Schleim noch die „schwarze Galle" für den Ursprung der Krankheit verantwortlich macht. Sein Eigenes aber ist, daß er gegen Hippokrates nachdrücklich an dem volkstümlichen Namen festhält und ihm einen neuen Sinn gibt: mit Recht heiße sie „heilige Krankheit", weil durch Schleim und Galle „die göttlichsten Kreisbewegungen" (ττερίοδοι) im Kopfe verwirrt werden. Schon vorher kam die Zirkularbewegung, die ja für das gesamte Naturbild des Timaios so bedeutend ist, in den medizinischen Kapiteln vor (82 Cff.): Der normale Weg der Ernährung führe vom Blut zum Fleisch und zu den „Neura" (Sehnen und Nerven sind noch ungeschieden), von dort zu den Knochen und schließlich zum Mark. Die Störung oder gar Umkehrung dieses Weges sei die Ursache eines Krankheitstypus, wenn „die Ordnung der naturgemäßen Kreisbahnen" (τάξις των κστά φύσιν περιόδων 83 Α) nicht mehr eingehalten wird, wo dann die Schwere des Leidens davon abhänge, ob diese Umkehrung bis ins Mark greift oder nur bis in die Knochen oder ins Fleisch. Aus welcher ärztlichen Theorie dies entnommen ist, bleibt wohl noch aufzuklären. Aber im Kleinsten und im Größten hört man platonische Klänge. Platonische Physik ist unverkennbar in der „reinsten Gattung der Dreiecke", die durch die Knochen ins Mark dringen (82 D). Und die naturgemäße und die naturwidrige „Periodos" erinnert nicht zufällig an die Weltperioden im Mythos des Politikos, die Periode der göttlichen Herrschaft und die der Steuerlosigkeit und Gottesferne, ein Zeichen, daß Piatons erhabenster Aspekt des Makrokosmos auch seine Vorstellungen vom menschlichen Körper bestimmt. Was im Anschluß an den Aufbau des menschlichen Körpers über die Krankheiten gesagt wird, gipfelt wie von selbst in den Krank-
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heiten der Seele, die Piaton an das umgeformte System des Philistion anbaut (86 Β ff.). Hier verschlingt sich Psychiatrie und Ethik. Und als nun in einer Gegenbewegung (άντ(στροφον 87 C) auf die Krankheiten die Therapie folgt, wird das Bild des Menschen, bei dem Leib und Seele in Gleichmaß, Symmetrie ist, das vollkommene Menschenbild aufgerichtet. Eine neue Denk- und Ausdrucksform, die sonst dem Timaios fehlt, herrscht an dieser Stelle: das „Sollen" (δεϊ, -iov). Jenes Wunschziel „soll" erreicht werden. Mittel dazu ist möglichst gemeinsame und möglichst vollkommene Bewegung von Leib und Seele. Möglichste Vollkommenheit bedeutet möglichst weite Annäherung an die Selbstbewegung des Alls, die kosmische Bewegung: das ist für den Körper die Gymnastik (89 A), für die Seele der Einklang mit der Bewegung des Alls (90 CD). Nun wird auch klar, was jenes „Sollen" eigentlich bedeutet. Durch die Ananke ist Unvollkommenheit in der Welt. Einen Teil dieser Unvollkommenheit zur Vollkommenheit umzuschaffen hat der Mensch in seiner Gewalt; mehr als das: dieses ist — wie in den Gesetzen noch einmal deutlich werden wird (X 905 C ff.) — seine welthafte Aufgabe. So dient denn auch das letzte, sehr phantastisch-groteske Kapitel von den Tieren dazu, um im Bilde der Seelenwanderung zu zeigen, was dem Menschen bevorsteht, wenn er jene Aufgabe nicht erfüllt. Wie aber zuletzt alle Unvollkommenheiten doch nur Flecken an einem Vollkommenen sind, so schließt das Ganze mit einer Lobpreisung des Kosmos, die an den Schöpfungsbeginn zurückerinnert.
Überblicken wir noch einmal das ganze Werk von dort ab, wo wir die Verschlingung der beiden „Ursachen", auf der seine Komposition beruht, fallen gelassen hatten (S. 335). Die Theorie der Wahrnehmungen hatte an die Stelle geführt, wo Seelisches vom Leiblichen bestimmt, Teleologie von mechanischer Kausalität gekreuzt wird (47 E). Der ganze Mittelteil des Dialoges läuft in den Bahnen dieser Kausalität. Es ist vor allem die Lehre von den Elementen als dem Gebiet der Natur, wo die Herrschaft der Ananke am stärksten, die Wirkung des Geistes eben gerade noch erkennbar ist. Daran schließt sich die kausale Komponente der Wahrnehmung, nachdem deren teleologische Komponente schon vorher abgehandelt worden war. Mit einem Rückblick auf die F r i e d l ä n d e r , Piaton I I I
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beiden Arten der „Ursache" schließt dieser Teil (68 E — 69 A), wie er mit ihrer Analyse begann. Der erste Teil war abgebrochen worden, als sich bei dem Zusammenbinden von Leib und Seele erwies, daß man der Wahrnehmungsphänomene mit einer einzigen Ursache nicht Herr werde (47 B). Der Mittelteil hatte die kausale Wahrnehmungslehre immer wieder „bis zur Seele" geführt. Nun wird im dritten Teil dort fortgefahren, wo der erste abbrach (69 A). Der menschliche Leib wird weitergebaut, „damit" er der Seele als sterbliches Fahrzeug diene. Das charakteristische Wörtchen „damit" herrscht von jetzt ab wieder, freilich so, daß der materiellen Kausalität ihre unentbehrliche, wenn auch untergeordnete Stelle verbleibt. Man wird diese phantastische Biologie erst dann richtig begreifen, wenn man die theoretischen Grundlagen kennt, auf denen Piaton gebaut hat. Aber klar ist schon jetzt, welchen Raum in diesen teleologischen Konstruktionen das grotesk-ironische Spiel hat. Zwischen Zwerchfell und Nabel binden die schaffenden Götter den Teil des begehrlichen Seelendrittels, der nach Speise und Trank verlangt, fest an die Krippe, möglichst weit entfernt von dem Denkorgan, damit er ihm möglichst wenig Verwirrung und Lärm mache (70 E). Die Leber machen sie zu einem Spiegel dessen, was in der Seele vorgeht, und die Milz zu einem Schwamm, um den Spiegel der Leber immer glänzend zu erhalten (71 Β ff.). Die Gedärme sind vielfach gewunden, damit die Nahrung in ihnen lange Zeit verweile, und damit nicht das ganze Menschengeschlecht, zu immer neuem Essen und Trinken gedrängt, unphilosophisch und unmusisch werde (73 A). Piaton sagt gleichsam durch das Medium dieses Spiels hindurch, daß in vollkommenem Ernste über das Damit nur der Schöpfer Gott selbst würde Auskunft geben können. Aber zugleich empfängt dieses Spiel seinen Sinn durch die ernsteste ethische Forderung, die es an uns stellt. Sei denn hier noch einmal daran erinnert, was dem Ganzen fehlen würde, wenn nicht Sokrates Zuhörer wäre, der diese Forderung in seinem Leben und seinem Sterben erfüllt. Ein wissenschaftlich abhandelnder Naturphilosoph würde ganz anders als Piaton im Timaios verfahren. Er würde an den Anfang stellen — und man kann dabei an die Physik des Aristoteles denken — die Lehre von den Prinzipien, also von den Ursachen, würde daran die Elementenlehre reihen und nun etwa die Welt aufbauen. Wir haben gesehen, warum Piaton so nicht begann;
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und wenn man jetzt das Ganze überblickt, so wird noch deutlicher, wie der Bereich der Ananke in die Mitte gerückt ist und eingeschlossen wird von dem Bereich der Zwecke, in dem das „Mitverursachende" durchaus nur eben durchscheint ohne den Anspruch auf gleichen Rang. Mit der Schöpfung des Kosmos und mit einem Preis auf ihn endet das Ganze. Innerhalb dieses Kosmos werden die Geschöpfe gezeigt, die ewigen und die sterblichen, und abermals beginnt es mit dem Vollkommensten, der vernünftigen Seele, und ihrem körperlichen Sitze, dem Haupt, und endet mit der Vollkommenheit: der vollendeten Bewegung, die dem menschlichen Geist wieder zu erreichen als Aufgabe gesetzt ist. In der Mitte aber sinkt diese Vollkommenheit ab bis dorthin, wo mit jenem vielnamigen Durchaus-Unbestimmten das schlechthin Widervernünftige, Ordnungslose und Ungöttliche erreicht ist. So bleibt es rings umgeben von einer nach der Peripherie immer wachsenden Vollkommenheit. Schon in seinem Aufbau ist der Timaios ein Abbild des Kosmos, den er deutend nachdichtet 49 ).
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30. KRITIAS Die phantastischen Grundlagen für den Atlantis-Mythos, also für das, was Kritias in dem nach ihm benannten Dialog fabulieren soll, hat Piaton in den Anfang des Timaios hineingenommen1). Dort erfahren wir, daß Kritias jene uralten Zustände und Geschehnisse von seinem Großvater an dem Apaturienfest — dem Täuschefest — hat erzählen hören. Wir sind darauf vorbereitet, daß der Bericht auf den Vorbericht folgen wird. Da läßt Piaton den Kritias plötzlich die (angeblich) geplante Ordnung des Ganzen ändern: erst soll Timaios sprechen; denn die Weltschöpfung müsse am Anfang stehen. Eine Überraschung ist das, aber eine durchaus sinnvolle, durch die die beiden so weit auseinander liegenden Themen des Timaios und des Kritias — mythische Naturphilosophie und mythische Geschichtsphilosophie — miteinander verflochten werden2). Gewiß sind kleine Unebenheiten entstanden, als Piaton diese so nicht ursprünglich geplante Verflechtung vornahm, und zu einem letzten Ausgleich ist es nicht gekommen. Dadurch, daß der Sizilier Hermokrates je ein paar Worte spricht, wird ja auch noch der dritte Dialog der geplanten Trilogie, den Piaton nicht einmal begonnen hat, andeutend vorbereitet. Es ist bekannt, daß Kritias einer der Dreißig war, und von Hermokrates geben die Historiker Thukydides und Ephoros ein klares geschichtliches Bild, von dem Manne, der der Vorläufer Dionysius des Ersten war. Bei Thukydides hält er zwei Reden: von „ganz Sizilien" spricht er; er dringt auf das Bündnis „aller, die mit einem Namen Sikelioten heißen", gegen die von Karthago und von
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Athen drohende Gefahr; er sieht die Schwäche der Athener darin, daß sie weit von ihrer eigenen Heimat entfernt solchen Angriffskrieg wagen; sie sollten aus den Perserkriegen die rechte Lehre gezogen haben! Danach kann man von fern ahnen, wofür dieser Hermokrates im dritten Dialog der Trilogie einzutreten bestimmt war. Piaton gestaltete seinen Mythos von Atlantis und der Invasion der Atlantier nach dem Vorbild des Perserkrieges; aber zugleich standen ihm vor Augen die Großmacht Karthago, die das westliche Mittelmeer weithin beherrschte, und Athens verhängnisvoller Angriff gegen Syrakus. Das mußte sich in dem Hermokrates-Dialoge unverkennbar andeuten, so wenig wir ahnen können, was Piaton plante. Geplant aber hat er diesen Schlußdialog der Trilogie so gewiß, wie er den Philosophos nie zu schreiben gedacht hat. Es kann auch kein Zufall sein, daß er als Hauptsprecher in zwei eng verbundenen Dialogen zwei Männer wählte, die in den Bürgerkriegen ihrer beiden Heimatstädte den Tod fanden. Hat er damit unter anderem andeuten wollen, welches Schicksal ihm selber gedroht hätte, wenn er nicht der praktischen Politik Athens fern geblieben wäre ? Daß er sich nicht für die Dreißig Tyrannen erklärte, als er seinen Verwandten Kritias zum Sprecher eines Dialoges machte, braucht man nicht zu beweisen — mögen heutige Platon-feindliche Historiker oder Soziologen diesen Fall ausgenutzt haben oder nicht. In der Apologie (32 CD) hat er deutlich genug ausgesprochen, was er von dieser Oligarchie hielt, die den Sokrates umgebracht hätte, wenn ihr Regiment lange genug gedauert hätte. Die Geschichte von Atlantis ist früher in ihrem Wesen als Mythos betrachtet worden. Wie genau Piaton die geographische Lage des Atlantis-Kontinents durchdacht und das phantastische Stadt- und Landschaftsbild im Geiste vor sich sah, zeigen die Kapitel „Piaton als Geograph" und „Piaton als Städtebauer" 3 ). Jetzt muß noch das Herauswachsen des Mythos aus dem platonischen Werk deutlich werden. Die phantastische Urgeschichte Athens begreift man genetisch, wenn man auf den Preis Athens zurückblickt, dem Sokrates im Menexenos seine so un-sokratische Preisrede gewidmet hatte. Die erste Hälfte sowohl dieser Rede wie des Kritias haben denselben Grundplan eines Enkomions: Ruhm des Landes und seiner Bewohner, Ruhm der Staatsverfassung, Ruhm der Taten.
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Bis ins Einzelne geht diese Übereinstimmung, die zuweilen auch eine Berichtigung des früher Gesagten ist. Das Land ist „gottgeliebt" (θεοφιλής) und Zeugnis dessen sei der Zwist (ipis) der darum streitenden Götter: diesen tiefinneren Widerpruch ließ Piaton damals als Stachel wirken (Menex. 237 C). Jetzt (109 B) spricht er es nachdrücklich aus: die Götter haben nicht im Zwist (οΰ κατ' Iptv) sondern durch des Rechtes Lose das ihnen Liebe zu ihrem Anteil gewonnen (τό φίλο ν λαγχάνοντες). An beiden Orten wird dann das attische Land der ganzen übrigen Erde (ή πδσα γή Men. 237 D 4, πδσα γη Kr. 110 Ε 3) gegenübergestellt, die Fruchtbarkeit wird gerühmt und jeweils ein „starker Beweis" (μέγα τεκμήριον) für die Überlegenheit Attikas beigebracht. Zu zweit wird im Menexenos die Verfassung Athens als Regierung der Besten erwiesen (238 C), im Kritias der Bau der platonischen Politeia vorausgesetzt und an die Wohnstätten des Landes, Akropolis und umliegende Ebene, geheftet. Zu dritt folgen hier wie dort die vielen Heldentaten des Staates (πολλά καΐ καλά εργα Men. 239 Α, μέγαλα καΐ Θαυμαστά Ιργα Tim. 20 Ε, ττολλά καΐ μεγάλα Ιργα 24 D, vgl. Krit. 112 Ε); im Menexenos ist das Perserreich der wichtigste, im Kritias das Atlantidenreich der einzige Gegner. Wie dort (Men. 239 D ff.) die Perser als Vorkämpfer ganz Asiens und im Begriff Europa sich zu unterjochen von den Athenern zum Stehen gebracht werden, so setzt hier (Tim. 24 E) Athen der Macht, die gegen ganz Europa und Asien von draußen aus dem Atlantischen Meere heranzieht, ein Ende. Zur Seemacht mußte Atlantis werden gegenüber der Landmacht Athen, und nicht Salamis sondern Marathon mußte das geschichtliche Vorbild der mythischen Entscheidungsschlacht abgeben, weil Piaton in den Geschichtsmythos hinein seine Überzeugung formte: die Lage am Meere macht eine Stadt heillos unfähig zum Erwerb der Arete (Gesetze IV 704 D). Alles in allem wird hier noch einmal klar, wie dem ideenhaften Athen ein ideenhaftes Nichtgriechenland, um nicht zu sagen „Orient", gegenübergestellt wird. Das Gleiche war vorher schon aus der Komposition des Mythos selber und aus dem Bilde von Stadt und Land der Atlantier erkannt worden. Ein weiter Abstand trennt Ur-Athen und Atlantis von der Preisrede im Menexenos. Aber in ihr, die J a und Nein aufreizend miteinander verflicht, hat der Geschichtsmythos — so seltsam das klingen mag — wenigstens eine seiner Wurzeln. Auch die Mythen sind
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ja zugleich Kritik an dem Gegenwärtigen und Wunschbild dessen, was sein soll, oder Schreckbild dessen, was in der Zukunft droht. Und so folgen alle späteren Utopien Piatons Vorbild, beginnend mit Thomas Morus und endend — für jetzt — mit George Orwells Nineteen Eighty-Four.
31. GESETZE Gesetzgebung gehört für die Griechen und für Piaton zu den höchsten menschlichen Aufgaben 1 ). Diotima nennt (Symp. 209 D) neben Homer und Hesiod den Lykurg und Solon um ihrer Werke, ihrer geistigen Kinder willen, die ihnen Ruhm und Gedächtnis für alle Zeit eingebracht haben. Und wenn Piaton hier die größten Gesetzgeber und die größten Dichter auf eine Stufe stellt, so gelten dem Greise die Gesetzbücher gar als das Maß, an dem auch alle Dichtung zu messen sei (Ges. I X 858 E), und seine eigenen als das Beste, was man den Knaben zum Auswendiglernen geben könne ( V I I 811 CD). Freilich, zu dem, was für Piaton Überlieferung der Familie, des Standes ist, steht in einer grundsätzlichen Spannung jenes tief wurzelnde Mißtrauen gegen das geschriebene Wort, ein Mißtrauen, das ihn davor bewahrte, selbst in der Gesetzgebung den höchsten Ernst eines wahrhaft ernsten Menschen niedergelegt zu glauben2). Was sich hier als Spannung durch seine Aussagen zieht, ist zuletzt die Spannung zwischen dem Solon in ihm und dem Sokrates in ihm. Nach Syrakus berufen konnte er nicht nur Philosoph, er mußte auch Gesetzgeber sein. Aber er gab seinen Gesetzen „Vorsprüche" (προοίμια) bei, wie wir aus einem seiner Briefe erfahren3). Das heißt: schon die Gesetzgebung für Syrakus, mag er von ihr viel oder wenig niedergeschrieben haben, war seinem Willen nach auch ein Werk der Erziehung. Die solonische Kraft in ihm strebt mit der sokratischen zu gemeinsamem Handeln. Es kann nicht anders sein, als daß in das Spätwerk der Gesetze, in welchem der Verfasser mit besonderem Nachdruck die „Vorsprüche" als eigenste Erfindung beansprucht ( I V 722 D ff.), von Geist, Stoff und Form
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seiner syrakusanischen Entwürfe manches, vielleicht vieles, eingegangen ist 4 ). Daß so auch dieses staatliche Tun nicht unmittelbare Wirklichkeit wurde, sondern zum Kunstwerk kristallisierte, entspricht einer tiefen Gesetzmäßigkeit in seinem Leben. Gewiß sah er es zuweilen als seine Not, „immer nur Wort zu bleiben und nie Hand an eine Tat zu legen" (Brief VII 328 C). Aber mehr stand es ihm an, das Schicksal zu bejahen, das auch diesem Werk die höhere Wirklichkeit und Dauer im Worte gab. Was als Gesetzgebung von Syrakus immerdar hätte unzulänglich bleiben müssen und verloren gegangen wäre, steht nun vor der Nachwelt als Schlußwerk in der Reihe der geistigen Schöpfungen Piatons. Auch so blieb ihm ja sogar die Wirkung auf die eigene Zeit nicht ganz versagt; und welche Wirkung es auf hellenistisches und römisches Recht und, mittelbar oder auch unmittelbar, auf späteres Recht gehabt hat, bleibt noch zu erforschen5). Das Gespräch von den Gesetzen hat als symbolisch bedeutsamen Raum die Insel Kreta, das mythische Urland griechischer Gesetzgebung, aus dem alle spätere und also auch die platonische ihre Würde bezieht®). Der Weg, den die drei alten Männer zurücklegen, von Knossos zur Berghöhle des Zeus, ist derselbe Aufstieg, den Minos einst gemacht hat, ein Symbol dafür, daß „aller große griechische Nomos gefüllt ist von dem lebendigen Odem der großen Gesetzgeber"7). Kleinias und Megillos vertreten die beiden dorischen Staaten Kreta und Sparta, denen die neue Gesetzgebung tief verpflichtet ist, und über die sie doch hinausschreiten muß. Als Piaton Jahrzehnte vorher im Kriton die Gesetze Athens in Person das Wort nehmen ließ, da erinnerten sie an die „Vereinbarung", die zwischen den Gesetzen eines Staates und seinen Bürgern besteht, und machten klar (52 E): Sokrates hat immer Spartas und Kretas Gesetzgebung aufs höchste gerühmt und hat doch durch seine eigene lebendige Existenz bewiesen, daß er Athen und also auch Athens Gesetze allen anderen griechischen Staaten vorziehe. So ist in dem Spätwerk ein Athener Führer des Gesprächs, weil nur Athen diese geistige Schöpferkraft hat: das wird klar, als am Anfang (I 642 Β ff.) der Spartaner und der Kreter sich vor dem Athener-Gast zur Huldigung vereinen (I 641 Ε ff.) 8 ). Daß dieser so wenig einen bestimmten Namen hat wie die Gestalten in Goethes Natürlicher Tochter, kann nicht verwundern. Keineswegs war es nur die Ferne von Athen, die den Sokrates einzuführen
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verbot; mehr noch die Ferne des Ganzen von dem, wofür Sokrates bei Piaton einsteht 9 ). Daß Athen fern ist und daß Sokrates fehlt, ist beides gleichermaßen symbolisch. Sich selbst einzuführen wäre für Piaton gegen sein tiefstes Gesetz gewesen. Es wäre ja auch offenbar falsch gewesen10). Denn es gibt Momente, in denen Piatons Athener sich weit herabläßt in der „Rücksicht auf die allzu Vorbedeutungssüchtigen" (VII 813 D) oder in der Art, wie er dem Volksglauben nachgibt bis zu Geisterstimmen und Dämonen, die am Platze haften 11 ). Wiederum kommt von Piaton selbst das Höchste gar nicht ins Spiel. E r hat ja immer noch den Ideenstaat, den er einst den Sokrates gründen ließ, als den ersten vor Augen (V 739 Α ff. VII 807 B). Sein Gesetzesstaat ist durchaus der zweite an Rang, wenn auch als zweiter so einzig wie jener als erster (ή μ(α δευτέρων 739 Ε 4)12). I n Piaton ist immer noch die sokratische Kraft näher der Mitte als die solonische, die er auch in sich trägt, aber sein gesetzgebender Athener hat von jener weit weniger als von dieser. Buch I 624 A—632 D
Der Kampf um den Sinn der Gesetzgebung
„Gott" ist das erste Wort des Dialoges. Der Athener spricht es, und zweimal wird es vondemKreterwiederholt, mit dem Unterschied, daß der Athener es im höchsten Sinne meint, während es im Mund des Kreters eher wie „ein Gott" klingt, den man Zeus oder Apollon nennen kann. Zeus ist der Urgrund der kretischen Gesetzgebung nach kretischem Glauben. Im Laufe des Gespräches, dort wo die Verfassungsform gegründet werden soll, und ehe die eigentliche Gesetzgebung beginnt (IV 712 B), wird „Gott" zum Ordner des Staatswesens herbeigerufen. Und gegen Ende des Werkes im X t e n Buch (893 B), wo es sich um die Überzeugungen über das Weltall und das Dasein der göttlichen Mächte handelt und die Religionsgesetze vorbereitet werden, wird noch einmal „Gott" angerufen, damit er den Glauben an das göttliche Dasein unter unseren Bürgern sichern helfe. Die Sophisten hatten den Nomos entgöttlicht. Seine neue Vergöttlichung hat Piaton sich zur Aufgabe gemacht. 624 A—626 D Der Athener eröffnet das Gespräch mit einem Griff mitten hinein in das „Gesetz" oder die „Satzung" der Kreter. Und sogleich wird deutlich, wie weiten Sinn „Gesetz" hier überhaupt hat, wenn als seine Eigentümlichkeiten in Kreta Speisegemeinschaften, Turn-
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schulen und die Besonderheit des Waffengebrauchs hervorgehoben werden. Die Frage aber geht nach dem Woraufhin (κατά τί), nach dem Sinn dieser Einrichtungen. Auf den Krieg habe ihr Gesetzgeber alles abzielen lassen, antwortet der Kreter Kleinias, wie an den herrschenden Zuständen jedermann leicht ablesen könne. Das aber verallgemeinert er sogleich zu einer eigenen und, wie er meint, tieferen Einsicht in das Wesen des Staates überhaupt. Das Verhältnis von Staat zu Staat ist ständiger, unerbittlicher Krieg. Friede ist ein bloßes Wort, in der Tat herrscht das bellum omnium contra omnes, und zwar nicht nur — wie bei Hobbes und Spinoza — als Urzustand, sondern wesenhaft (κατά φύσιν) als Dauer. Diese Einsicht habe, sagt Kleinias, den kretischen Gesetzgeber beseelt, und er selbst läßt nicht den geringsten Widerspruch merken, wenn er als dessen Grundüberzeugung ausspricht: Überlegenheit der Waffen verbürge allein, daß man von Besitz und Einrichtungen Vorteil habe, und alles Eigentum der Besiegten werde Besitz des Siegers. Der Athener schärft das noch. Die Wesensbestimmung eines guten Staates sei also diese: er müsse so geordnet sein, daß er die anderen im Krieg besiege. Für diesen Grundsatz gewinnt Kleinias ohne Mühe den Megillos, der darin die Meinung „aller Spartaner" ausgesprochen findet. Aber der Athener verfolgt diese gegnerische These weiter. Nicht nur zwischen Staat und Staat, auch zwischen Dorf und Dorf, Haus und Haus, Mann und Mann bestehe derselbe Kriegszustand, ja selbst innerhalb des Menschen13). Hatte der Athener vorher (626 B) den Kleinias gerühmt, wie gut er durch die Einzelheiten auf das Wesen der Gesetzgebung durchzuschauen (διειδέναι) verstehe, so gibt Kleinias ihm mit einem Preis auf Athen und seine Göttin diese Huldigung wieder: er habe die Erörterung auf ihr „Prinzip" zurückgeführt und damit noch deutlicher gemacht, daß Sieg im Kampfe Ziel des allgemeinen Strebens sei. Der Athener hat seine Partner dorthin geführt — oder verführt —, 626 D—627 C wo das Prinzip des siegreichen Kampfes sich zuspitzt zum Kampf im Menschen und zum Sieg über sich selbst. Aber wo Kleinias erfreut die höchste Steigerung seiner eigenen These sieht, eben dort ist der Punkt, von dem aus sie erschüttert wird. Sieg-übersich-selbst, Selbst-beherrschung (κρείττω ίαυτοϋ είναι) ist in diesem Abschnitt der leitende Begriff. Man versteht leicht, daß diese damals vielgebrauchte Wendung in sophistischem Gefecht
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gern mißbraucht wurde: wer Selbst-Überlegenheit besitze, müsse auch Selbst-unterlegenheit haben (Staat IV 430 E). Solches eristische Wortgefecht klingt hier eben nur an. Hatte nicht Piaton im Staat (430 Ε ff.) diese Begriffsformel „Selbst-beherrschung" ergriffen, um gerade mit ihrer Hilfe und im Kampf gegen jene Eristik das wahre Herrschaftsgefüge innerhalb des Einzelmenschen und der Staatsgemeinschaft deutlich zu machen? So wehrt sich jetzt der Athener dagegen (627 B), mit Kleinias auf die eristische Ebene hinunterzusteigen, sondern mit Nachdruck weist er darauf hin: nicht tun Finessen des Ausdrucks handle es sich, sondern um etwas ganz Grundsätzliches: was an den Gesetzen „von Natur" richtig oder fehlerhaft ist. Wenn bei dem einzelnen Menschen Selbst-beherrschung dieses heißt, daß das bessere Element über das schlechtere siegt, so kann man in demselben Sinne bei Gemeinschaften bis zum Staat hinauf von einem Sieg über sich selbst sprechen. (Man merkt: der Parallelismus von Einzelmensch und Staat ist wie in der Politeia so auch hier leitend.) Damit hat aber Kleinias, fast ohne daß er es wahrnahm, zugegeben, daß nicht der Sieg schlechthin, sondern der Sieg des Besseren oder, wie der Athener die Vieldeutigkeit des griechischen,,besser" verdeutlichend einschränkt, der Sieg des Gerechten das Ziel des Staates sei. 627 C—629 Α Immer noch ist der gegnerische Hauptsatz nur eingeschränkt, nicht überwunden. Der Blick wird gerichtet auf die engste Gemeinschaft, eine Familie ungleicher, „gerechter und ungerechter" und also feindlicher Brüder. Nun wird ein „Richter" hinzugedacht. Der kann entweder die Ungerechten ausrotten oder die Guten zu Herrschern der Schlechten machen oder drittens — und das wäre das Höchste — dauernde Versöhnung stiften zwischen den feindlichen Brüdern und durch dauernde „Gesetze" ihre Freundschaft begründen. So muß auch im größten Kreise, der Staatsgemeinde, der Gesetzgeber seinen Blick nicht auf den Krieg nach außen richten, sondern auf den Innenkrieg, den Bürgerzwist. Ihn nicht aufkommen zu lassen oder ihn möglichst rasch zu stillen muß sein Wille sein. Und die höchste Form wäre nicht der Sieg der einen Partei, sondern die Versöhnung der Streitenden. Damit ist die gegnerische These gefallen. Nicht der Krieg ist „das Beste"; selbst der Sieg gehört nicht zu dem „Besten", sondern nur zu dem „Notwendigen". Ziel der Gesetzgebung kann nur sein: innerer Friede und Eintracht (φιλοφροσύνη).
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Der friedliche Kampf zwischen den Greisen — aber doch Kampf! — 629 A—632 D wird noch grundsätzlicher weitergeführt auf dem Hintergrund eines Gegensatzes zwischen den Dichtern Tyrtaios und Theognis, von denen Tyrtaios kriegerische Tüchtigkeit über alles preist, Theognis den im Bürgerzwist treuen Mann mit Gold aufwiegen möchte. Der Bürgerzwist stellt höhere Forderungen an den Mann als der Krieg. Im Krieg kommt man mit Tapferkeit aus, also mit einem Teil der Arete und dazu dem geringsten; Bürgerzwist verlangt außerdem auch Gerechtigkeit, Maß, Vernunft, kurzum die „gesamte Arete". Auf sie also, man kann auch sagen die „höchste Arete" oder die „vollendete Gerechtigkeit", muß das Absehen des Gesetzgebers gerichtet sein. Also haben Lykurg und Minos, die von Gott Beratenen, ihr Gesetzgebungswerk mit dem Blick nicht auf „einen Teil der Arete" getan, sondern auf die ganze14). Drei Stufen möglicher Gesetzgebung sondern sich. Auf der ersten macht man — und so ist es „heut" üblich — jeweils die einzelnen Gesetze nach dem Bedürfnis16). Auf der höheren nimmt man den Ausgang bei einer Arete, noch dazu der geringsten, und läßt auf sie die Gesetzgebung abzielen: so denken Kleinias und Megillos ihre Gesetzgeber wirkend. Die höchste fordert der Athener und meint — mit gehöriger Ironie —, man müsse sie bei genauem Zusehen in Kreta auffinden können. Gesetzgebung ziele auf Eudämonie, anders gesprochen sie wolle „alle Güter" bereiten. Nun gibt es zwei Arten „Güter", „menschliche" — die seit Solon gepriesenen vier 16 ): Gesundheit, Schönheit, Körperkraft, Reichtum — und „göttliche" — die sokratisch-platonischen Tugenden: Vernunft, Sophrosyne, Gerechtigkeit, Tapferkeit. Jene „hängen an diesen" (ήρτητοα), jene ohne diese sind keine Güter, wer hingegen diese hat, hat auch jene. Dieses Gütersystem — schon im Euthydem (278 Ε ff.), und Menon (78 C ff.) war seine Schichtung entwickelt worden — ist wesenhaft „vor" (έμπροσθεν) aller Gesetzgebung. Darum muß auch der Gesetzgeber es voranstellen. Alle seine Verordnungen müssen „darauf blicken", in diesem System wiederum die menschlichen Güter auf die göttlichen und die göttlichen auf den „Führer Geist", den göttlichen Geist, der für einen Augenblick als Ziel des Ganzen in den Blick tritt (631 D 5) — der Geist, heißt es im Philebos (28C), der, „wie alle Weisen übereinstimmend sagen, König Himmels und der Erden ist". Auf dieses System der Tugenden und auf den Führer Geist wird am Ende des Gesamt-
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werks (XII 963 A) zurückverwiesen. Dies also ist der Rahmen, der das Ganze zusammenhält. Die Gesetze selbst müssen beginnen mit Ehe und Zeugung, Ernährung, Erziehung und müssen enden mit Bestattung und Totenehre. Es ist also der Lebenszusammenhang, der ihre Ordnung bestimmt. Und auch innerhalb dieser Grenzen ist die Ordnung nicht rechtssystematisch sondern menschlich. Die Menschen, die nun geboren und erzogen worden sind, sehen wir in ihrem Verkehr (έν όμιλίαις). Wir sehen sie als natürliche Menschen, befangen von Lust und Weh, von Begierden und der Liebe leidenschaftlichem Eifer. Wir sehen sie in Zorn und Furcht und inneren Verwirrungen und Erregungen (παθήματα). Wir sehen sie erwerben und ausgeben, sehen sie dabei Verbindungen eingehen und wieder lösen. In aller dieser Bewegtheit der Menschen und der Umstände, die noch gesteigert wird durch glückliche und unglückliche Zufälle, durch Krankheit, Krieg, Armut und deren Gegenteil, ist es Aufgabe des Gesetzes, die Menschen zu überwachen, die Norm ihres Handelns zu bestimmen, das was gerecht und schön ist zu ehren und das Gegenteil zu strafen. Und am Schluß des Ganzen, nach den Totenehrungen, die das vollendete Leben krönen, folgt noch die Einsetzung der Gesetzeswächter. In ihnen gewinnt der Geist — offenbar der „Führer Geist", von dem kurz vorher die Rede gewesen war — menschliche Gestalt, er bindet alles zusammen und erweist es als im Gefolge von seelischer Zucht (Sophrosyne) und Gerechtigkeit stehend (632 D). Was ist das für eine Gesetzesordnung, die hier in kühnen Maßen und großen und zuweilen dunklen Worten hingestellt wird (631 B. 632 D) ? Ihr hättet nachweisen müssen, sagt der Athener (632 D), daß in den Gesetzen des Minos und Lykurg, nämlich wenn deren Anspruch auf göttliche Eingebung soll bestehen können, alles dieses enthalten sei: uns andern ist das keineswegs sichtbar. Man muß die Ironie dieser Worte hören, muß erfassen, daß die hier erhobene Forderung — „Auch jetzt noch erwarte ich diesen Nachweis von euch" — nicht erfüllt wird noch werden kann, um zu begreifen, was dieses umstrittene Bild eines Gesetzgebungswerkes will17). Es blickt nach rückwärts und nach vorwärts. Indem es jene gepriesensten Gesetzgebungen als unzulänglich erweist, wenn man sie nämlich vom „Führer Geist" aus beurteilt, gibt es zugleich ein allererstes Bild, wie ein geistbestimmtes Gesetzgebungswerk sein
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müßte. In der Tat wird Piaton die später folgende Gesetzgebung so ordnen — und gegen Ende (XII 958 CD) auf diese Anordnung noch einmal zurückschauen —, daß sie den menschlichen Lebenszusammenhang von der Zeugung bis zum Tode als Erzieherin begleitet, vielmehr von der Zeit schon vor der Zeugung bis über den Tod hinaus; daß sie alle übrigen Bestimmungen im Sinne einer Erziehung eingliedert zwischen diese Grenzen; und daß sie an den Schluß des Ganzen die Wächter setzt, die diese Gesetze zu hüten haben (XII 963 A). So sehr unterscheidet sich die Ordnung des platonischen Werkes einerseits von der Zufälligkeit, die in dem Gesetz von Gortyn herrscht, wie von der begrifflichen Systematik des römischen und danach vieler modernen Rechte: Piatons Gesetzgebung will Erziehung des lebenden Menschen sein. Dieses erste Umrißbild eines Gesetzgebungswerkes beschließt einen Kampf. Daß es wirklich ein Kampf war, wenn auch in noch so milden Formen, sagte der Athener ausdrücklich (629 A). Aber um was wird gekämpft ? Um den Sinn von Gesetzgebung überhaupt. Gegen wen ? Nicht gegen solche, die nur jeweils nach Gelegenheit Gesetze machen, sondern gegen einen immerhin hohen Begriff wirklich bestehender Gesetzgebung. Ihn verkörpern Kreta und Sparta, darum weil ein einheitlicher Richtungssinn in jedem einzelnen ihrer Gesetze ist. Daß überhaupt ein solcher darin ist, rühmt Piaton an ihnen. Nur genügt ihm dieser Sinn nicht. Er wird sein Gesetzgebungswerk errichten über dem kretischen und dem spartanischen. Dem dient dieser Kampf. In dem Kampfe um die reine Staatsidee, in der Überwindung eines Staatsgesetzes, das nur auf Tapferkeit gestellt ist, also auf „einen Teil der Tugend" und nicht auf die „ganze Tugend", erkennen wir einen alten tiefen Gegensatz, wie sublimiert auch immer, wieder. Wenn der Kreter den Krieg aller gegen alle als den Naturzustand erklärt, Frieden für einen bloßen „Namen", Sieg für das einzig Wirkliche und die Habe des Besiegten iür das Eigentum des Siegers, ist das nicht zuletzt die These des Naturrechtes, wie Kallikles im Oorgias (483 E) sie formuliert: gerecht sei, daß der Bessere (Stärkere) „mehr habe" als der Geringere, und Ungerechtigkeit „werde genannt" (λέγεται) der Wille mehr zu haben als die Vielen ? Oder nach der Formulierung des Glaukon im Staat (II 359 A): Abschluß des allgemeinen Kriegszustandes, des Zustandes, in dem jeder dem andern Unrecht tue, sei ein Vertrag, und dessen Inhalt sei das
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Gesetzliche und Gerechte; vielmehr: dessen Inhalt „habe man Gesetz und Recht benannt" (όνομάσαι). Nur daß der Satz der Nomoi gleichsam noch radikaler ist. Der Krieg wird durch einen Vertrag gar nicht beendet. Er besteht in Wahrheit fort, wird nur durch den täuschenden Namen des Friedens zugedeckt 18 ). Und weiter: wenn die Gesetze der Spartaner und Kreter von dem Ideal der Tapferkeit beherrscht sind, so denke man daran, daß Kallikles die Gier-nach-mehr und die Tapferkeit verband (Gorg. 490 A. 491 B), und daß der Kampf des Sokrates sich auch dort gegen die Vereinzelung einer „Tugend" richtete, die dann eben keine „Tugend" ist. Muß dieser Herrschsüchtige auch sich selbst beherrschen ? so lautete, dem Gegner unverständlich, dort die Entscheidungsfrage des Sokrates (491 B). Und auch hier, in den Nomoi liegt der Wendepunkt des Gespräches dort, wo der „Sieg über sich selbst" dem Kleinias noch die schönste Bestätigung seines Grundsatzes scheint, während der Athener darin schon die Umwandlung der gemeinhin sogenannten Tapferkeit in eine höhere Tapferkeit sichtet. Vergessen wir über dem Vergleich mit dem Gorgias nicht den Thrasymachos, oder das Erste Buch der Politeia19). Dort vertritt Thrasymachos das Prinzip schrankenloser Pleonexie — die sich so leicht unter dem Namen der Tapferkeit verstecken kann —, und den entscheidenden Gegenstoß führt Sokrates, indem er zeigt (351 C ff.): eine Stadt, ein Heer, selbst eine Räuberbande, überhaupt jede Gemeinschaft kann nur handeln, wenn in ihr Gemeinsinn und Freundschaft und deren Ursache, nämlich „Gerechtigkeit", herrscht. Ebenso steht es mit dem einzelnen Menschen, dessen Seele ja eine Politeia ist. So spricht der Sokrates aus Piaton. Der „athenische Gast" aber, man könnte auch hier wieder sagen: der Solon in Piaton, macht aus der „Gerechtigkeit" eine Gesetzgebung, die die Gegensätze innerhalb der Gemeinschaft zu dauerndem Frieden versöhnt (διαλλάξας 628 A 1), nicht mit dem scheinhaften Namen des Friedens den fortbestehenden inneren Krieg zudeckt. Das Thrasymachos-Gespräch ist im großen Bau der Politeia dazu bestimmt, den Sieg darzustellen, der über die staatsfeindliche Macht — nicht einmal, sondern immer wieder — errungen werden muß, damit die Gründung des Staates bestehen kann. Das Anfangsgespräch der Nomoi hat in der stilleren Weise des platonischen Altersstiles im Grunde dieselbe Aufgabe: auch hier kann echte
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Gesetzgebung erst ihren Anfang nehmen, nachdem ihr Sinn sich im Kampfe gegen das falsche Prinzip durchgesetzt hat. So sehr ist selbst das Spätwerk noch Dialog, mag man auch immer wieder dem Vorurteil begegnen, daß Piaton diese Form schon längst nur noch als Erinnerung an die eigene Vergangenheit weiterschleppe. Der Agon, der den Anfang des Ersten Buches füllt und in einem 634C5—
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Sieg der neuen Gründung über die dorische Staatsidee gipfelt, zieht sich episodenhaft auch noch durch das Folgende. Kritik soll an Kreta und Sparta geübt werden. Da greift der Athener rühmend ein dorisches Gesetz auf, das der Jugend und ebenso den alten Männern vor den Ohren der Jugend jedes Urteilen über die bestehenden Gesetze verbietet, und beansprucht unter der Zustimmung des Kreters für sich und die beiden andern das Recht einer freundlichen und vorsichtigen, dabei aber heilsamen Kritik. Wo die Mißgunst ausdrücklich verbannt wird (μή φθόνω), die Haltung nicht die des Tadlers (επίτιμων), sondern die des Suchenden (άττορών) ist, bedeutet Kritik nicht Zerstörung, sondern den Versuch über das Beurteilte hinaus, aber in seiner Richtung, zu dem Höheren vorzudringen. Der Athener tadelt an der dorischen Gesetzgebung, die doch den Kampf gegen Schmerz und Furcht in die Mitte der Erziehung stellt, daß sie übersehen habe, ein Gleiches mit dem Kampf gegen die Lust zu tun. Aber bevor er nun seinen eigenen, höchst sonderbaren Vorschlag macht, nämlich das Weintrinken als Erziehungsmittel zu verordnen, entspinnt sich wieder ein Kampf um bestehende Bräuche. Der Athener macht auf die Gefahren selbst so vorzüglicher Institutionen wie der Ringschulen und Speisegemeinschaften Spartas aufmerksam, die der Sitz von revolutionären Umtrieben und von Päderastie sein können. Der Spartaner nimmt das übel und rächt sich, indem er über die Zügellosigkeit der attischen Trinkgelage und Dionysosfeste spottet. Der Athener pariert mit überlegener Ruhe: Man könne wiederum auf die lockeren Sitten der spartanischen Frauen weisen. Aber mit aller solcher Kritik an Bestehendem fördere man nichts. Denn nicht das stehe zur Frage, ob beliebige Menschen, sondern ob die Gesetzgeber selbst etwas taugen oder nicht. Das heißt doch wohl: nicht an Erfolg oder Mißerfolg im einzelnen muß die Kritik sich heften, sondern an das Prinzip der Gesetzgebung. F r i e d l ä n d e r , Piaton III
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638AB— Noch ein drittes Mal gibt es einen leichten Zusammenstoß. Der rtj-t Λ ° Athener scheint den Völkern, bei denen es keine Trunkenheit gibt, etwas ablernen zu wollen, was man bei den Spartanern nicht lernen könne. Darauf rühmt sich spartanischer Stolz: die schlagen wir alle mit den Waffen. Aber das ist ja wieder jene „Mannheit", die wir zu Anfang des ganzen Werkes in ihre Schranken gewiesen sahen. Und so warnt denn auch hier der Athener vor der Überschätzung des Sieges, ja nach einer Weile (641 C) sogar vor den Gefahren des Sieges: Sieg hat oft Unbildung im Gefolge. Auf Bildung aber kommt es an, die ja zuletzt eins ist mit dem Gleichgewicht der Tugenden. So stellt sich aufs neue Bildung gegen Kraft, man kann auch sagen: attisches gegen dorisches Wesen. 642 A—643 Α Und wie der dorische Widerstand hier schon schwächer geworden ist, so ergibt er sich bald völlig dem Athener. Es ist ein eindrucksvoller Moment im dramatischen Verlauf des Werkes20), als der Athener das seltsame Gesprächsthema, die Trunkenheit als Erziehungsmittel, sich ausweiten läßt zur „Bildung überhaupt" (ττοαδείας της ττάσης). Wollen wir vor dieser Weite des Gegenstandes zurückschrecken ? Da vereinigen sich Megillos und Kleinias, während sonst meist der eine für beide das Wort führt, zu einem entschiedenen Nein. Sparta und Kreta neigen sich huldigend vor Athen, und besonders wichtig sind die Worte des Megillos: „Die von den Athenern vortrefflich (άγαθοί) sind, sind es in außerordentlichem Grade. Denn sie allein sind ohne Zwang und aus eigenem Wüchse, durch göttliche Schicksalsgabe, wahrhaft (αληθώς) und nicht nur scheinhaft (ττλσστώς) vortrefflich". Man denke an den Schluß des ganzen Werkes voraus (XII968 Ε ff.), wo die beiden Dorer sich darin einig sind: alle staatsgründende Kraft Kretas, mag der Athener sie noch so sehr rühmen, sei ohne dessen geistiges Mitwirken zum Scheitern bestimmt. Was heißt das alles ? Nur in den dorischen Staaten gibt es eigentlich staatsbildende Kräfte und gibt es einen Richtpunkt für alles staatliche Tun. Also an Kreta und Sparta muß sich die Neugründung ausrichten. Aber sie muß zugleich über sie hinaus, indem sie der Erziehung, wie sie dort angestrebt wird, das Einseitige abstreift und so erst echte Bildung daraus schafft. Diese Überwindung kann nur ein Athener bringen, ein Angehöriger jenes Staates, der zwar als Staat weit unter Kreta und Sparta steht, dessen Fähigkeit zu geistiger Schöpfung aber in seinen höchsten Einzelnen
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unerreicht ist. Nur ein Athener vermag den geistigen Gehalt der dorischen Gründungen zu durchdringen, zu reinigen, zu erhöhen. Das geschieht im Ersten Buch der Gesetze, und am Schlüsse des X I I ten klingt dieser Anfang nach. Das ganze Werk also steht unter diesem Aspekt. In Piatons Politeia folgen die fehlerhaften Verfassungen, nachdem der Bau des wahren Staates beendet ist, weil sie nur als dessen Verfehlungen verständlich sind, er aber sich nicht als Stufe über ihnen, und sei es auch über der besten im Reich der Erfahrung, erhebt: er ist von völlig eigener Art. In den Nomoi haben wir es nicht mit dem reinen Staat zu tun, sondern nur mit einem sehr vorzüglichen auf dieser Erde. Weil er das ist, kann und muß er über den geschichtlichen Staaten und aus ihnen erwachsen. Darum geschieht dieses Herauswachsen und diese Überwindung am Anfang.
Die Erprobung der Tugenden als Grundlage der Staatsgründung
6321) Ct649 Β
T a p f e r k e i t . — Das Gespräch der drei alten Männer begann632D—635E nicht zufällig bei der „Mannheit", und wenn auch der einseitige, „dorische" Aspekt, als habe die rechte Verfassung sich auf dieses eine Ziel zu richten, überwunden wird, so festigte sich gerade dabei die Überzeugung, jede echte Gesetzgebung müsse aufgebaut sein auf einer klaren Einsicht in das System der Güter: der menschlichen und der göttlichen, d. h. der Tugenden bis empor zum „Herrscher Geist". Mit dieser neuen Einsicht kehrt das Gespräch an den Anfang zur Mannheit zurück, die demnach jetzt nur als e i n e „Tugend" im System der „Tugenden" gesehen werden soll. Eine Erörterung also wie die im Vierten Buch des Staates finden wir gleichsam umgewandelt in den Stil der Gesetze. Dieser neue Stil zeigt erstens eine außerordentliche Erweiterung des Umfangs, beruhend, zum Teil wenigstens, auf einer Durchflechtung mit mannigfachen Gedankenzügen, von denen wir den wichtigsten, den Kampf zwischen Athen und Sparta-Kreta, verfolgt haben. Dabei bleibt zweitens die Erörterung bruchstückhaft: statt der vier „Tugenden" werden hier nur „Mannheit" und „Selbstzucht" besprochen. Inzwischen hat der lebendige Zufall das Gespräch auf anderem Wege weitergeführt, so daß erst wir Nachrechnenden die 24*
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Unvollständigkeit bemerken. Und drittens wird die systematische und begriffliche Behandlung auch im einzelnen ersetzt durch eine solche, die sich von den lebendigen Begebenheiten tragen läßt: die Erörterung über die Sophrosyne wächst sich aus zu einer beispielhaften Erörterung über das Erzieherische das im Weingenuß liegt, über den Eintrag, den völlige Enthaltsamkeit der Erziehung tut. Die Erörterung über die Tapferkeit soll als Musterbeispiel durchgeführt werden (632 Ε 4). Die dorischen Institutionen sind anscheinend darauf aus, diese Kraft zu üben. Aber nicht nur wirkt sie vereinzelt, wie sich zeigte, zuungunsten aller anderen Kräfte; sie wird auch nicht einmal vollständig geübt, sondern nur soweit sie ein Kampf gegen Furcht und Weh ist. Jene verborgenere Tapferkeit, die sich gegen Sehnsucht und Lust bewährt — wir kennen sie aus dem Laches und dem Vierten Buch des Staates — wo ist sie ? Sie fehlt! Eine vollkommene Gesetzgebung aber müßte (εδει 635 C 4) dafür sorgen, daß Tapferkeit nicht „lahm" (χωλήν 634 A 2) bleibe. 635Ε—650Β S o p h r o s y n e . — Danach wird der Übergang zur zweiten Arete gemacht, zur Besonnenheit, Selbstzucht. Aber seltsam: das was deren Wesen ausmacht, siegreicher Kampf gegen die Verführung der Lust, das ist ja eben schon als die eine Seite der Tapferkeit deutlich geworden. Manche Erklärer haben denn auch an dem „logischen Fehler", daß hier ausdrücklich ein starker Übergang zu etwas ganz Neuem gemacht wird, und daß doch tatsächlich die Erörterung im alten Geleise bleibt, gebührenden Anstoß genommen und darin ein Zeichen späterer Überarbeitung sehen wollen 21 ). Gehen wir auf das System der Tugenden im Staat zurück, so heißen die Anfechtungen, in deren Überwindung Mannheit sich als solche bewährt, „Lust und Weh, Furcht und Begier" (430 AB). Sophrosyne aber ist die Beherrschung gewisser Lüste und Begierden (430 E), so daß beide Tugenden, unbeschadet dessen daß Piaton sie als Glieder des Ganzen auch wieder voneinander sondert, sich bis zur Vertauschbarkeit überschneiden. Das ist kein Wunder. Denn gerade diese beiden sind ja für das allgemeine Verständnis einander am stärksten entgegengesetzt, so daß Piaton seit seiner Frühzeit die Aufgabe darin sieht, die beiden im Sinne einheitlicher Menschenbildung auszusöhnen. Die Mittel sind verschieden: im Staat das gegliederte System der Tugenden, von dem sich schon im Protagoras eine Vorform abzeichnet; im Politikos die Webe-
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kunst des königlichen Staatsmannes; in den Gesetzen dieses mit Recht bemerkte, mit Unrecht gerügte „unlogische" Verfahren, daß er erst der Tapferkeit jene Züge leiht, die das volkstümliche Bewußtsein der Sophrosyne lieh, dann mit ganz neuem Einsatz von der Sophrosyne spricht, als hätte er nicht dem Kampf gegen die Lust eben schon den Namen „Mannheit" gegeben. In wie genauer Übereinstimmung er die beiden „Tugenden" sieht, das entnehme man aus dem Folgenden noch einmal. Zwei Arten von Furcht werden dort (646 Ε ff.) nebeneinander gestellt: wir fürchten Übel, etwa Gefahr; und wir fürchten böse Nachrede. Jenes ist Furcht im engeren Sinne, dieses ist Scheu oder Scham (αΙδώς). Jene muß man meiden, diese suchen. Dort bewährt man sich im Kampf mit der Gefahr, hier im Kampf mit der Lust. Dort steht Tapferkeit gegen Feigheit, hier Sophrosyne gegen Schamlosigkeit. Der Parallelismus kann nicht schärfer durchgeführt sein. Statt die Sophrosyne systematisch zu betrachten, wie es im Staat 635E—650B geschah, wird hier — auch dies bezeichnend für den Unterschied der beiden Werke — eine Institution gezeigt, die jene Tugend zu prüfen bestimmt ist: das sind die Symposien als Mittel staatlicher Erziehimg. Ein allerdings sehr seltsames Mittel und doch für einen Athener so seltsam nicht, wie es den Heutigen zunächst scheint 22 ). Man bedenke: die spartanischen Speisegemeinschaften waren offenbar von jeher als solches Erziehungsmittel gemeint. Sie werden darum von Piaton in seine Gründung übernommen (IV 780 D ff.), ja er läßt sogar die Frauen teilnehmen, im vollen Bewußtsein einer befremdlichen Neuerung. Sparta verbot den Wein. Aber in Athen durchdrang komastisches Wesen das Volk, wofür nur an die Vasen, an die Feste, an den Ursprung von Tragödie und Komödie erinnert sei. Und wenn Theognis (499 f.) sagt, daß das Feuer die edlen Metalle ausweise, der Wein den Sinn des Mannes, so hat das über die Adelsgesellschaft von Megara hinaus weithin gegolten. Als politische und menschenbildende Wirklichkeit ist das hellenische Symposion gar nicht zu überschätzen, und Piaton hat hier nur etwas weithin Geltendes übernommen und auf seine ethische Bedeutung ernsthaft geprüft. Daß er mehr Worte darüber macht, als uns vielleicht gerechtfertigt erscheint, liegt von der Altersrede abgesehen an der beispielhaften Bedeutung der Institution. Lust und Weh, so heißt es dort, wo die Betrachtung der Sophrosyne beginnt (I 636 D), seien wie zwei fließende Quellen.
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Ob man mit Maßen aus ihnen schöpfe oder auf unvernünftige Art, das entscheide über Glück oder Unglück im Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft. Auf diese Affekte also habe man das Hauptaugenmerk zu richten, wenn man über Gesetze Betrachtungen anstelle — wie ja schon vorher (I 631 E) in dem Aufriß jeder künftigen Gesetzgebung klar geworden war, welche Bedeutung Weh und Lust, Begehren und Liebesleidenschaft für alles menschliche Miteinander und damit für die Gesetzgebung haben. Hier nun handelt es sich um Sophrosyne, um Beherrschung der Lust. Die zum staatlichen Erziehungsmittel gemachte Trinkerei dient dazu, die Sophrosyne zu prüfen und zu üben 23 ). So leuchtet schließlich ein, warum Piaton diese Institution in seinen Gesetzesstaat aufgenommen hat, an der sich die Lust entfesseln und die Sophrosyne bewähren kann. Nicht zufällig steht genau in der Mitte des Abschnittes, der von der Trinkerei handelt, ein großes Bild: der Mensch als Marionette, die sich die Götter, wir wissen nicht ob zum Spielzeug oder zu irgendeinem ernsten Zweck, gemacht haben (I 644 D). Das Bild ist ein neuer anschaulicher Ausdruck für jenen Tatbestand, den Piaton in dem ebenso volkstümlichen wie tief paradoxen Worte von der „Überlegenheit über sich selbst" symbolisiert sah, und der ihm von höchster Bedeutung war für seine sogenannte „Psychologie" und „Ethik". In immer neuen Bildern hat er ihn anschaulich gemacht. Zeigte der Phaidros (246 Α ff.) den Wagenlenker Geist im Kampf mit den Rossen Mut und Gier, die Politeia (IX 588 Β ff.) den „inneren Menschen" gegenüber dem Löwen und dem vielköpfigen Ungetüm, so wird im Spätwerk die Puppe Mensch hin und her gezogen von den verschiedensten Drähten und Fäden. Ein Draht ist golden, „Vernunft" oder „der Staatsgemeinde allgültiges Gesetz" — das also eine Verwirklichung der Vernunft ist—; die andern sind von der verschiedensten Art, einige darunter hart und eisern: das sind die Triebe, Lüste, Begierden. Und die Aufgabe des Menschen besteht darin, einzig dem Zug des goldenen Drahtes, dieser „schönsten Führung", zu folgen 24 ). Man wird nicht nur die formbildende Kraft des Dichters bewundern, die sich über Jahrzehnte um immer neue Gestaltung bemüht. Man wird zugleich nicht ohne Bewegung gerade an dem Vergleich ablesen, wie sehr der Wert des Menschen in den Augen des alten Piaton gesunken ist: „Der Mensch ist ein künstliches Spielwerk in der Hand des Gottes, und dieses ist wahrhaftig noch das Beste an ihm" (VII 803 C). Freilich,
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nur der Blick auf den Gott, auf das höchste Sein und Mehr-als-Sein, rechtfertigt solche Sprache. Blickt man, vom menschlichen Gefährten gemahnt, wieder auf das Menschengeschlecht, so muß man doch zugeben, daß es „nichts Geringes ist und einer gewissen ernsten Bemühung wert" (804 B) — ohne die Piaton die Gesetze nicht geschrieben hätte! 2 5 ) I n diesem ganzen, nach Piatons Altersart mannigfach verschlungenen Gewebe ist noch ein merkwürdiger Einschlag aufzuzeigen. I n jener sehr betonten Episode (I 642 Α ff.; s. oben S. 370), wo die beiden Dorer dem Athener huldigen, spricht dieser ausführlich und grundsätzlich über das Wesen der Bildung — „was sie ist und welche Wirkungskraft sie h a t " (643 A) —, um eindringlich zu machen, daß die Symposien ein wichtiges Stück staatlicher Erziehung leisten müssen, und daß darum so überraschend breit von ihnen die Rede ist. Aber über dieses Allgemeine hinaus muß man noch eines besonderen Zuges gedenken. Wie die Symposien sinnvoll einzurichten sind, das kann man nicht klar und hinreichend auseinandersetzen, ohne von der „Musik" zu handeln, und dies wiederum ist nicht möglich ohne den ganzen Bereich der Erziehung (642 A). Was soll hier die Musik ? Das bleibt zunächst als ein Rätsel stehen. Aber im Zweiten Buch wird von den Sängerchören und von der musischen Bildung überhaupt die Rede sein, und diese Erörterung ist zu Anfang (642 A) und zu Ende (II 673 Ε ff.) und auch zwischendurch (666 A. 671 Α ff.) ziemlich locker mit dem Thema der Trinkerei verknüpft. Kein Redaktor hat hier verschiedene Entwürfe zusammengearbeitet 26 ). Piaton selbst verschlingt diese Gegenstände in seiner Darstellung künstlich — und nicht ganz fugenlos — miteinander, wie sich schon für das griechische Leben selbst Symposion, Musik und Erziehung mannigfach durchdrangen.
Wein Erziehung Musik So liegt also das Zweite Buch mit dem Ersten in kunstvollem Verbände und steht dabei doch wieder auf sich. Das drückt sich in einer formalen Kleinigkeit aus: Wenn auf den „Anfang der Erörterung" (κατ' αρχάς των λόγων) zurückverwiesen wird, so kann damit der Anfang des Zweiten Buches gemeint sein (II 671 A 2 I I 664 Ε 3), aber gleich danach auch eine Stelle des Ersten (II 671 A 7 ~ I 640 C).
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Das Zweite Buch sondert sich einigermaßen deutlich in zwei ziemlich gleich große Teile; der erste (bis 664 B) geht über die Erziehung im allgemeinen, der zweite wendet diese Gedanken auf eine Institution an: den dreigegliederten Männerchor 27 ). In welchem Sinne wir Erziehung zu verstehen haben, darauf kommt der Athener immer wieder zurück (I 643 Α ff. I I 652 Ε ff. 659 C ff.) 28 ). Piaton hält hier von dem Begriffe einerseits alle praktische Ausbildung fern als „banausisch und eines freien Mannes nicht würdig" (644 A), andererseits aber auch die wissenschaftliche Bildung bis hinauf zur Dialektik, wie wir sie aus der Mitte des Staates kennen (τταιδεία Staat VII 534 D 8). In den Gesetzen ist „Paideia" nach griechischem Sprachgefühl einerseits mit dem „Knaben" andererseits mit dem „Spiel" (παΐζειν, παιδιά) verbunden. Erziehen heißt den Knaben in Spiel und Ernst (643 Β 6) dorthin führen, daß er das liebt, was er als Mann einst in der Form vollendeten Tuns wird ausüben müssen (643 D). Erziehung zeigt dem Knaben den Weg zur Arete, sie erweckt in ihm das Verlangen, ein vollkommener Bürger zu werden, der sich auf rechtes Herrschen und Dienen verstehen wird (643 E). Erziehung ist also auf jene Vorform der Arete gerichtet, die dem Knaben zukommt. Damit ist klar, daß sie sich nicht des Verstandes, sondern der Affekte bedienen muß. Die jugendliche Seele muß Lust und Neigung, Unlust und Abneigung in rechter Weise empfinden lernen, damit später, wenn sie „denLogos aufnimmt", ein Einklang ζ wis chen ihrer bereits gewonnenen Gewohnheit und ihm sich einstellt — der Einklang, den wir Arete nennen (II 653 B). „Wenn der Logos kommt", so hieß es genau entsprechend schon im Staat (III 402 A). Auch dort handelte es sich um die musische Erziehung, d. h. um die Nahrung der jugendlichen Seele, welche sich gewöhnen soll an dem Schönen sich zu freuen und es in sich aufzunehmen, das Häßliche zu tadeln und zu hassen. Auch dort ist das Mittel dieser Bildung „Musik" und daneben Gymnastik. Beachten wir aber sogleich einen Unterschied. Was ist der Logos im Staat \ Die mathematischen Wissenschaften und die Dialektik. Davon sind in der Gesetzen nur Spuren zu finden. Die jungen Leute müssen eine elementare Rechen-, Meß- und Sternkunde lernen (817 Ε ff.). Der Mathematikunterricht soll praktisch anschaulich sein „wie bei den Ägyptern". Der astronomische Unterricht, wenn es überhaupt dazu kommt, soll die Ordnung im Sternensystem
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demonstrieren. Wie weit ist das alles entfernt von dem, was etwa Piaton und Theaitet bei Theodoras von Kyrene gelernt haben, oder was Eudoxos in der Akademie lehrte! Ganz am Ende des Werkes (XII 965 B) finden wir einen Hinweis, daß die Wächter eine „exaktere Bildung haben müssen, als sie bisher beschrieben worden ist". Sie müssen lernen auf die „eine Idea" zu blicken, sie müssen über die Götter ein Wissen haben, und dazu dient — wie in der Theologie des Zehnten Buches gezeigt worden war — das doppelte Wissen von den Gestirnen über uns und von der Seele in uns. Wie knapp angedeutet das alles ist verglichen mit dem Bildungsweg der Politeia, ergibt sich schon daraus, daß Philippos von Opus das Fehlende in der Epinomis nachzubringen für nötig hielt. Und in der Tat meint der Logos, den die Seele später in sich aufnehmen soll, jene Wissenschaften gar nicht in erster Linie. Sondern gemeint ist „das rechte Wort, das durch das Gesetz gesprochen wird, und das die angesehensten und ältesten Männer auf Grund ihrer Erfahrung als wahrhaft richtig bejahen" (II 659 B). Also nicht wissenschaftliche Erkenntnis ist der Logos hier, und sei es auch eine in die Mitte des Staates eingeordnete Erkenntnis, sondern die im Gesetz verkörperte Ordnung und Weisheit des Staates selber. In der Politeia war das Erkenntnissystem der Kern, ohne den der Staat eine leere Schale bliebe, während der Kern auch ohne Schale bestehen kann und gleichsam jeden Augenblick aus der Schale zu brechen bereit ist. In den Gesetzen gibt es diesen Gegensatz kaum noch. Denn Piaton meidet jetzt bewußt, was die Allmacht seines gemäßigten Idealstaates stören könnte. „Wenn der Logos kommt" — das weist also in Politeia und Nomoi zwar gleichermaßen auf Ordnungssysteme, aber doch auf solche von verschiedenem Rang: dort auf die mathematischen Wissenschaften und die Dialektik samt ihren Gegenständen, hier auf die Gesetzgebung. Damit ist auch die vorbereitende „Musik" hier und dort nicht ganz in gleicher Weise angesehen 29 ). Die Politeia hat ihre Institutionen schon zu klären angefangen. Ihnen muß die Dichtung dienen. Darum die Kritik der Mythen, die Zurückdrängung der „nachahmenden" Dichtung, die Aussonderung der edlen Rhythmen und Tonarten. Die Nomoi haben solche vorgezeichnete Bahn hier noch nicht. Sie gehen von ursprünglichen Erfahrungen aus. Alle jugendlichen Wesen haben den Trieb, sich mit Körper und Stimme unaufhörlich zu bewegen. Ordnung in diesen
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Bewegungen, d. h. Rhythmus und Harmonie, haben nur die Menschen, zugleich ein freudiges Wahrnehmen solcher Ordnung. Und nun ist es gerade diese Lustkomponente, die — ganz in der Richtung des Philebos — nicht etwa bekämpft, sondern als ein Urtrieb des Lebens selbst zur Grundlage gemacht wird. „Notwendig muß, wer an etwas Freude hat, sich dem angleichen, woran er Freude hat". Das erinnert an den Satz des Staates, daß jemand dem gleich werden müsse, wobei er Hebend verweilt 30 ). Und je ursprünglicher und allgemeiner hier in den Gesetzen die Erfahrung gefaßt ist, um so mehr leuchtet ein, wie ungeheuer viel die Freude für die Bildung der Knaben bedeutet. Freude bestimmt jetzt und immer das Urteil über Musik. Dann aber kommt alles darauf an, daß nicht die zufällige Lust als das schlechthin Willkürliche jede Gültigkeit des Urteils vernichte. Darum muß hier — worauf von je Piatons Absehen ging — die gewöhnliche Meinung bekämpft werden, als könne etwas zugleich schlecht und angenehm sein (656 A); darum muß nicht die Freude von Hinz oder Kunz, sondern die der Besten und Gebildetsten das Maß abgeben (658 E); darum müssen die Dichter „gezwungen werden", auf jene echte Hierarchie der Güter — wie sie schon in der Gütertafel des Ersten Buches (631 B) mit Nachdruck verkündet wurde — ihre Dichtungen zu gründen (661 Α ff.) und in ihnen die Konvergenz des gerechtesten und des lustvollsten Lebens sichtbar werden zu lassen, welche am Ende der Politeia (IX 580 Β ff.) gegen die gemeine Auffassung sichtbar gemacht wird. So ursprünglich Piaton die Lust, die Freude faßt, so hoch er sie erhebt, und so sehr er ihre Konvergenz mit anderen Wertmessern sucht, — schon daß es solche anderen gibt, ist Beweis dafür, daß die Kunst nicht allein von ihr aus zu begreifen ist. 667 B—669 D Neben die neue Betrachtung der Freude tritt eine neue Betrachtung der Mimesis. Mimesis war im Staat das Mittel gewesen, mit dem dort der Kampf gegen die Dichter geführt wurde 31 ). Nach-bildung: das bedeutete Wahrheitsferne. Wie aber die Lust für den späten Piaton positiven Wert gewinnt, so die Mimesis. „Musik" und die anderen „abbildlichen Fertigkeiten" (είκαστικοα τέχνοα) haben dies gemein, daß sie ihrem Wesen nach auf etwas ganz anderes aus sind als nur auf Lust, wie es vorher schien. Sie wollen ab-bilden, und zwar richtig abbilden. Sie wollen also Wahrheit. Wie Piaton in seiner frühen Zeit nur das schlechthin Flüchtige an der „Lust" ins
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Auge faßte und dann im Philebos ihren Wahrheitsgehalt anerkannte, so sah er an der Mimesis im Staat den Abstand von der Wahrheit und sieht jetzt ihre notwendige Beziehung auf die Wahrheit. Eine reine Kunsttheorie wie bei Aristoteles wird mit dem Begriff Mimesis weder dort noch hier formuliert. Dort half er den Kampf gegen das gleichzeitige Drama führen; hier schützt er die staatliche Dichtung davor, dem reinen Beheben zu verfallen, und scheidet zwischen Richtig und Falsch. „Richtige Musik" ist nicht eine solche, die auf Lust ausgeht, sondern die die Ähnlichkeit mit der nachgebildeten Sache, zuhöchst mit dem Schönen, erreicht 32 ). Also muß die schönste Dichtung nicht nur erfreuend sein, sondern „richtig". Wie bei jedem Werk der bildenden Kunst die erste Frage heißt: was ist dargestellt ? die zweite: ist es richtig ? die dritte: ist es gut (εΰ) dargestellt ? — so hat die „Musik" als höchste der Künste die schwerste Aufgabe: Wort, Melos und Bewegung müssen zum Gegenstand stimmen und müssen untereinander stimmen; denn ein Eines bilden sie nach (669 E). Hier setzt der Kampf ein gegen Mischung und Auflösung. Einordnung der „Musik" in die neue Gründung: diese Aufgabe war schon in der Politeia nicht möglich gewesen ohne Kampf, Kampf gegen die Dichter. Auch ihn nimmt, das Spätwerk auf und führt ihn in immer neuen Ansätzen durch das Zweite Buch. Der Neuerungssucht im Dichterischen, die dem Belieben des verein- 656 C—657 Β zelten Künstlers entspringt, wird entgegengestellt das Festhalten Ägyptens an den einmal als schön erkannten Bewegungen und Melodien. Bekämpft wird die „Theatrokratie" (III 701 A), die 659A—660D Massenherrschaft der Theaterbesucher, die, statt ihre Freude veredeln zu lassen, das Gegenteil tun, nämlich ihren Geschmack den Dichtern aufzwingen. Hier gesellt sich zum Vorbild Ägyptens das der dorischen Staaten, und auf die andere Seite tritt zu Sizilien und Italien Athen. Bekämpft wird bei den Dichtern das Virtuosen- 669 D—670 A tum, das sie einerseits dazu führt, alle Kunstmittel zu häufen und zu mischen, andererseits das Gesamtkunstwerk aufzulösen zu Gunsten einseitiger Fertigkeiten. Einer letzten Eigentümlichkeit ist zu gedenken, wichtig für das, was der späte Piaton unter Erziehung versteht, wichtig auch für den Gesamtbau der Gesetze. War es nicht seltsam, daß gleich zu Anfang des Buches Erziehung mit chorischer Kunst (χορε(α) geradezu gleichgesetzt wurde, und daß ein etymologisches Spiel
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(χορόξ—χαρά 654 A 4. 5) die Ableitung des Chors von der Freude beglaubigen mußte ? Chorische Kunst aber vereint Gesang und Tanz (654 B) oder genauer: Gebärde, Melos, Gesang, Tanz (654 E). Bald wird Rhythmus und Harmonie an diesem Gesamtkunstwerk schärfer ins Auge gefaßt (655 A). Gegen Ende des Buches hören wir noch einmal, daß die chorische Kunst als Ganzes mit der Erziehung als Ganzem ein und dasselbe sei (672 E). Hier aber zeigt sich der Sinn dieser absichtsvollen Gleichsetzung, die offenbar die Einheit des Erziehungsweges und -zieles scharf bezeichnen soll. Denn was an der chorischen Kunst Körperbewegung ist, erweist diese Kunst als eine Vorstufe der Gymnastik. Musik und Gymnastik also überschneiden sich hier, und da wir vom Tanz sprachen, haben wir die Hälfte der Gymnastik schon abgehandelt (673 B). Es ist wie im Ersten Buch mit Tapferkeit und Sophrosyne. Während wir noch in der ersten zu stehen meinten, hörten wir schon von der zweiten. Gymnastik und Musik standen für das durchschnittliche Bewußtsein getrennt von einander, auf Leib und Seele verteilt. Piaton gab ihnen im Staat ein gemeinsames Telos, bezog beide auf die „Seele" (s. S. 82). Ein anderer Ausdruck dieser Gemeinsamkeit ist die merkwürdige Überschneidung hier im Zweiten Buch der Gesetze. Die eine Hälfte der Gymnastik, heißt es, haben wir schon abgehandelt. Die andere wollen wir versuchen „im Anschlüsse daran, in der Fortsetzung" (έφεξής 673 D 8) abzuhandeln. Das geschieht nicht jetzt, sondern erst im Siebenten Buch, wo auf unsere Stelle des Zweiten zurückgegriffen und der „Anschluß" ausdrücklich betont wird (έξή$ 796 Ε 4. 8)33). So wie das Werk jetzt vorliegt, d. h. doch wohl so, wie Piaton es schließlich gewollt hat, weist das vorbereitende Gespräch ausdrücklich hinein in den systematischen Bau der Gesetzgebung. Ein „Schlußstrich" wird am Ende des Ilten Buchs gezogen — sollte also sogar von der Bucheinteilung etwas auf Piaton selber zurückgehen? Der Schlußstrich signalisiert das Ende der Abhandlung von der Musik, würden wir erwarten. Statt dessen ist hier am Ende des Buches vom Weintrinken die Rede, und der Schlußstrich wird „unter die Erörterung vom Weine" gezogen. Es ist die paradoxe Verschlingung anscheinend so verschiedener Gegenstände wie Wein und Musik, auf die vorher (S. 375) hingewiesen wurde. Ist es vielleicht eine Ironie des späten Piaton, daß
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wir glauben am Ende des Buches über die Musik zu sein und statt dessen belehrt werden, daß wir am Ende der Abhandlung über den Weingenuß sind, so daß wir erinnert werden, wie eng die beiden Themen verschlungen sind — im Leben wie im Ersten und Zweiten Buch der Gesetze? Und doch, wie weit voneinander entfernt!
Über Ursprung Erhaltung und Verfall der Staaten Mit sprunghaft neuem Einsatz beginnt das Dritte Buch: Welches Buch ΙΠ ist der Ursprung — Anfang und Prinzip (αρχή) — der Staatsordnung überhaupt ? Anstatt des Seienden und Sein-sollenden wird jetzt das Werden in der Zeit betrachtet, freilich auch wieder deswegen, um uns über Seiendes undSein-sollendeszu belehren. Man denke zurück an das Zweite Buch der Politeia. Dort wie hier erwächst die Staatsgemeinde aus unscheinbaren Anfängen. Dort wie hier wird das Prinzip aller späteren Staatsbildung scheinbar eingebaut in diesen frühesten Beginn oder in ihm aufgezeigt. Dort wie hier wird der Urzustand mit einer heiteren Ironie beschrieben, im Staat (372 ff.) mehr von der Seite vegetativen Behagens, in den Oesetzen von der Seite geistiger und sittlicher Einfalt, die noch jedes Wissens entbehrte. Und in beiden Werken erwächst folgerichtig aus solchem Dasein alles Spätere. Aber nun sehe man auch die Unterschiede. Das Ziel nämlich ist ein ganz anderes und damit auch die Richtung alles dessen, was auf dieses Ziel hinstrebt. Dort ist das Ziel der wahre Staat, hier Sparta, dort eine ideenhafte, hier eine geschichtliche Wirklichkeit. Darum wird hier Zeit und Ort der Gründung bestimmt — nach der letzten Flutkatastrophe, hoch oben in den Bergen —, und der Sprecher sieht ein Damals vor sich (683 C 8) und berichtet in den Zeitformen der Vergangenheit. Dort hingegen fehlt die Vergangenheit ebenso wie der bestimmte Ort; man sieht die Vorgänge in der Gegenwart (369 A), geprägt mit dem Siegel der Notwendigkeit oder des Wesensgemäßen (oben S. 70 f.), auf weite Strecken sogar in der Zukunft (370 Ε ff.). Hier tritt zu den allgemeinen Erwägungen der geschichtliche Zeuge — Homer—, dort ist der reine Logos verantwortlich, aber auch fähig, das Notwendige aufzuzeigen 34 ). In vier Stufen läßt der athenische Gast das geschichtliche Werden 677 A—680D der Staaten vor sich gehen. Die erste ist die Bergsiedlung kulturloser Hirten, fern von den verderblichen Wirkungen des Meeres,
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weit getrennt von der nächsten Siedlung und ohne die Möglichkeit sie zu erreichen, ohne innere Fehde und äußeren Krieg, ein Leben in Einfalt ohne Bosheit und ohne Erkenntnis. Ihre Staatsform — oder wohl eher Yorform eines Staates — ist das patriarchalische Regiment
(δυναστεία
6 8 0 Β 2,
ττατρονομούμευοι
6 8 0 Ε 3),
wie
Homer es dem Kyklopenvolk zuschreibt. (An die Menschenfresserei Polyphems sollen wir wohl hier nicht denken). Einzelne Familien dieser Art vereinen sich nach der Weise von Vogelschwärmen, also durch einen Naturvorgang, zu einer Gemeinschaft, dem „allergerechtesten Königtum"; dieses soll wohl als die erste in der Reihe 680D—681Dder eigentlichen Staatsformen gelten 35 ). Auf der zweiten Stufe verschmelzen mehrere solcher Siedlungen zu einer „Stadt". Ackerbau wird herrschend statt der Weidewirtschaft, die Vereinigung verschiedener Volksbestandteile, die verschiedene Bräuche haben, fordert einen Ausgleich und damit eine erste Gesetzgebung. Aristokratie oder Königtum heißt diese Staatsform je nach der Verschiedenheit des vom Gesetzgeber verordneten Regiments. Auf der 681D—682 Ε dritten Stufe gibt es alle möglichen Formen von Staatsgemeinden und Verfassungen. Die Stadt liegt nun in der Ebene auf einem niedrigen Hügel. Die Städte sind einander näher, Krieg entsteht — der trojanische Krieg ist das große Beispiel — und innerer Zwist 682 Ε—693 D bei der Heimkehr der Krieger. Auf der vierten Stufe sieht man die dorischen Staaten im Peloponnes: Sparta, Argos und Messenien. Hier sind wir vollends im geschichtlichen Bereich; Megillos gehört ja einem dieser drei Staaten an, der in unsere eigene Gegenwart hineinragt, und eine ganz bestimmte Frage erhebt sich, aus der wir offenbar das Wichtigste lernen sollen für unser eigentliches Anliegen. Trotz der stärksten Eide, mit denen in jeder der drei neuen Gründungen Herrscher und Beherrschte die Verfassung beschworen und von Staat zu Staat sowohl die Fürsten untereinander wie die Völker untereinander sich Hilfe zugeschworen haben, hat von den dreien nur Sparta Bestand gehabt mit seinen alten Gesetzen. Wie erklärt sich dieses Befremdliche (685 A) ? Hier müssen wir Antwort finden auf die Frage, welche Satzungen den Staat erhalten und welche ihn verderben (683 B). Blicken wir zurück! Das Gespräch hatte im Ersten Buch seinen allerersten Anfang genommen bei den dorischen Bräuchen, hatte ihren Wert und ihren Mangel sichtbar gemacht und war kämpfend über sie hinaufgestiegen zu Institutionen — Symposien und Sän-
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gerchören —, die man hyperdorisch nennen könnte. Mit ganz neuem Einsatz läßt das Dritte Buch die dorische Verfassung als vierte aus den drei früheren entstehen, und wir werden nun aus Bestand und Verfall der drei peloponnesischen Staaten zu lernen suchen über das Wesen der Staatsordnung überhaupt. Hier wird die neu einsetzende Linie des Dritten Buches ausdrücklich verknotet mit der der ersten beiden Bücher: wir waren abgebogen, und jetzt sind wir zur kretischen und spartanischen Verfassung zurückgekehrt (682 Ε ff.). Warum, so muß man fragen, geht das Dritte Buch nicht wie das Erste sogleich von den dorischen Normen aus ? Wozu der langsame Aufstieg durch die drei Vorstufen ? Was ist damit gewonnen, da doch Piaton solche Forschungen niemals wie ein heutiger Historiker oder Soziologe um des geschichtlichen Verlaufes selbst willen unternimmt ? Man muß sogar feststellen, daß das, was die vierte Stufe von der dritten trennt, etwas ganz anderes ist, als was die erste von der zweiten, die zweite von der dritten trennte. Bei den ersten handelte es sich um Unterschiede der Siedelungsweise, die begleitet waren von Unterschieden der Verfassung. Von der dritten zur vierten ändert sich die Siedelungsform nicht oder so gut wie nicht 36 ). Der einzige grundsätzliche Unterschied liegt im Institutionellen: in der Schwurbindung zwischen Herrschenden und Beherrschten und zwischen den Staaten. Man schreitet, wie man sieht, nicht gleichmäßig von Stufe zu Stufe. Noch einmal also: wozu überhaupt die drei Vorstufen ? Hier kommt ein viel erörtertes Problem in den Weg — vielleicht zu Hilfe ? „Niemals", sagt der Athener (683 E), „ist ein Königtum oder sonst irgend eine Herrschaftsform aufgelöst worden (κοπΈλύθη) durch andere Kräfte als durch sich selbst. Haben wir das nicht eben vorher (νυνδή, όλίγον εμττροσθεν), als wir auf diese Erörterung gerieten, so angesetzt ? Und jetzt sollten wir es vergessen haben?" Uber das „kurz vorher" gibt es die verschiedensten Meinungen der Erklärer; denn nichts dergleichen ist ausdrücklich gesagt worden 37 ). Braucht es aber ausdrücklich gesagt zu sein ? „Wir haben es angesetzt." Man fragt, worauf diese Worte sich beziehen können. Vorher wurde gesucht, wohin die Entwicklungsgeschichte der Verfassungen zielt. Sollten beide Fragen einander gegenseitig beantworten ? Wo haben wir es angesetzt — wenn nicht in eben jener Entwicklungsgeschichte ? Und wo findet diese
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Geschichte ihren Sinn — wenn nicht eben in dem Gesetz, daß Herrschaftsformen niemals von außen, immer nur von innen aufgelöst, gewandelt, zerstört werden ? In Piatons Staat erwuchs die einzig wahre Verfassung vor den Augen gleichsam des reinen Logos mit Wesensnotwendigkeit aus den kleinsten naturhaften Ursprüngen, die auch in der vollendeten noch gegenwärtig dauern. Der Verfall bricht genau dort ein, wo das Gesetz des Ursprungs verletzt wird. Im Spätwerk erwächst vor dem geschichtlichen Blick, welcher im Werden das Sein, in der Geschichte die Physis sucht, aus kleinstem naturhaft-geschichtlichem Ursprung in Stufen des Wachstums der Dorerstaat, eine hohe aber keineswegs vollkommene Form, die als Ganzes früh verfallen ist, nur in einem Teil sich bewahrt hat. Ihr haben wir das Gesetz sowohl ihres Bestandes wie ihres Verfalls abzufragen, wenn wir unsere eigene Gründung über sie hinausheben wollen (688 BC). Ehe aber der Athener seine eigene Ansicht vorbringt, wird ein falsches Urteil abgewiesen, das sich in solchem Falle allzu leicht einstellt und sich etwa in die Form kleidet: hätten sie nur genügende Kraft gehabt, ihre eigene Freiheit zu bewahren, zu beherrschen wen sie wollten, unter allen Menschen zu tun was sie begehrten, so hätten sie noch heut Bestand. Was liegt in diesem gewöhnlichen Urteil ? Nicht umsonst taucht neben dem „Wollen" das „Begehren" immer wieder auf 38 ) und die große Macht, die man unter Hellenen und Barbaren ausüben möchte. So wird der im Thrasymachos, Alkibiades, Gorgias ausgekämpfte Kampf in der Ferne sichtbar 39 ). Auch der Lysis klingt nach, wo der Vater den Sohn lieb hat, aber gerade darum seinen begehrlichen Wünschen widerstrebt. Man hat hier wie öfter in Piatons Spätwerk den Eindruck, daß ein Stück Kampfdialog skizzenhaft angedeutet wird, welches auf den früheren Stufen der Dialogkunst im Zusammenstoß zweier Partner lebendig geworden wäre. Unter dem gewöhnlichen Urteil also, Mangel an Macht habe den Zusammenbruch verschuldet, erspäht und bekämpft der Athener die Begier-nach-mehr, den Willen-zur-Macht, die These des Kallikles und richtet demgegenüber die Vernunft (φρόνηση, νοϋς) auf als das, um was man wirklich beten müßte (687 E). Dieser angedeutete Kampf ruft einen wirklichen auf, den am Anfang des ganzen Werkes um das Ziel des Staates geführten. Es war im Grunde derselbe Kampf wie
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hier, nur in einer anderen Verhüllung. Dort hieß es, daß die Ordnung Spartas und damit überhaupt des besten Staates auf die e i n e Tapferkeit ausgerichtet sei. Hier heißt es, daß der Mangel an Macht die zwei anderen dorischen Gemeinwesen gestürzt habe — woraus also zu folgern wäre, daß nur die Macht Sparta erhalte. Im Ersten Buch wurde der Kampf abgeschlossen durch die neue Tafel der Werte, die sich hinaufstaffelte bis zum „Führer Geist". Hier wird ausdrücklich darauf zurückverwiesen (688 AB). Und zurückverwiesen wird auf das, was im Zweiten Buch über die Affekte gelehrt worden war. Denn zur Einsicht und zum Geist gesellt sich hier „die mit Liebe und Begehren verbundene Meinung (δόξα), die der Einsicht und dem Geiste folgt". Das Gegenteil also muß es gewesen sein, was die Dorer zu Fall brachte und überhaupt Staaten zu Falle bringt: Un-wissenheit (άμαθία 688 D 1. Ε 4). Diese wird näher bestimmt nicht als Mangel an theoretischer Einsicht, sondern — die Affektenlehre bleibt maßgebend — als „ein Mißklang zwischen Lust oder Weh und der vernunftgemäßen Meinung" (την διαφωνίαν λύπης καΐ ήδονης τφό$ την κατά λόγον δόξαν 689 Α 7). Wie wichtig es ist diesen Einklang zu erreichen, wie gefährlich der Mißklang, das zeigt ein Bild, welchem die aus der Politeia bekannte Homologie von Staat und Einzelseele zugrunde liegt: Dem, was in der Einzelseele Lust und Weh empfindet, entspricht in der Staatsgemeinde die breite Masse des Volkes. Und wie eine Staatsgemeinde sinnlos ist, wenn das Volk den Regierenden nicht gehorcht, so der einzelne Mensch, wenn in ihm die Sprache der Vernunft sich zwar vernehmen läßt, aber sich nicht durchsetzen kann. Aus alledem ist für jede künftige Ordnung der Schluß zu ziehen, daß man zu Regierenden nur solche aufrufen darf, in denen dieser Einklang besteht; der höchste und schönste Einklang erhält mit Recht den Namen: höchste Weisheit (869 D 6). War also die Ursache des Verfalles für Messenien und Argos der „Mißklang" bei den Herrschenden, so muß sich nun der Blick nach Sparta richten. Dort ist dem Volk die übergroße Macht des Einzelnen erspart geblieben. Der Gott hat ihnen das Doppelkönigtum geschenkt, dazu den Rat der Alten (Gerusie, Senat) und die vom Volk gewählten Ephoren. Diese Teilung der Gewalten hat ihnen den Bestand gesichert, und von dort muß — an dem gehäuften „Muß" (εδει, δει 693 Β) wird deutlich, daß es sich nicht nur um F r i e d l ä n d e r , Piaton III
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Feststellung von einmal Gewesenem handelt — muß man für jede neue Gründung lernen, wie der Gesetzgeber kein ungemischtes Regiment (άρχάς άμείκτους 693 Β 3) einsetzen darf, wenn das Ziel erreicht werden soll, das man „Zucht" oder „Vernunft" oder „Freiheit" oder „Freundschaft" nennen kann, und das unter verschiedenen Namen nur eins ist (693 CD). Wie viel Polybios für seine Betrachtung der römischen Verfassung von Piaton gelernt hat und wie viel von beiden Montesquieu, ist bekannt 40 ). 693D—698 Α Die Lehre, die die spartanische Verfassung gibt, wird ergänzt durch Einblicke in die Geschichte Persiens und Athens, der beiden Mutterformen aller Staatsverfassungen: man kann sie Monarchie und Demokratie nennen. Nun zeigt eben die Geschichte Persiens und Athens, daß die beiden Formen miteinander gemischt sein müssen, um nicht jene Freiheit, Freundschaft, Vernunft zu verfehlen. Gemischt waren sie in Persien unter Kyros. Aber die mangelnde Erziehung der künftigen Herrscher — das Wort Erziehimg wird in mannigfachen Abwandlungen fast zum Leitwort des Folgenden 41 ) — hat das tyrannische Element immer stärker werden lassen. Daraus lerne der Gesetzgeber (σκεπ-τέον 696 A 4), wie wichtig es ist, die Hierarchie der Güter und der Ehrungen und Entehrungen zu beachten, die wir aus der Güter- und Ehrentafel des Ersten Buches (631 ff.) kennen — das Wort „ehren" und seine Verwandten beherrschen für eine Weile das Gespräch 42 ). Athen war noch zur Zeit der Perserkriege durchaus nicht aller Herrschaftskräfte entbehrend und ist erst allmählich zu jener zügellosen Freiheit entartet, die zugleich mit Furcht und Ehrfurcht auch die „Freundschaft" zerstörte. Dieser Verfall der staatlichen Normen aber steht in genauester Wechselbeziehung zu dem Verfall der Musik: von der strengen Scheidung der geheiligten Gattungen ist man zur Auflösung aller bindenden Norm gekommen; das Urteil der Gebildeten ist abgelöst worden durch das des Theaterpöbels, Aristokratie durch — Theatrokratie. Persien und Athen stehen zu Sparta in einem ähnlichen Verhältnis wie in der Politeia die schlechtesten unter den verfehlten Verfassungen, Demokratie und Tyrannis, zum wahren Staat. Dort erinnert die Schilderung der Tyrannis ab und zu, die der Demokratie auf eine ganze Strecke bis in den Wortlaut hinein an das Perserreich und das Athen der Gesetze*3). Wenn in diesem Athen der Verfall nicht der Institutionen, sondern der Musik dargestellt
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wird, so muß man an die Politeia zurückdenken: an die tiefsinnige Erkenntnis des Musiktheoretikers Damon, wie in der Musik kein Wechsel eintritt, ohne daß das Staatsgefüge mit bewegt wird (Staat IV 424 CD); an den Beginn des großen Verfalls, der zunächst vor allem ein Verfall der Musik ist (VIII546 D); an den Hieb (VIII 568 B), daß die Tragödie — die euripideische ist gemeint — zu der demokratischen und tyrannischen Staatsform passe. Und so ist ganz im allgemeinen zu sagen: indem das Dritte Buch der Gesetze aus kleinem Anfang den bisher vollkommensten, den dorischen Staat erwachsen läßt, dann dessen Verfall zeigt und zuletzt den Verfall der gemäßigten Monarchie und Demokratie in die maßlose, beschreibt es eine Kurve ähnlich jener größeren, die die Politeia vom Zweiten bis zum Neunten Buche zurücklegt. Man muß diese Ähnlichkeit erfassen, damit die Unterschiede sich zeigen: im Hauptwerk eine idealtypische Konstruktion, wenn auch unter der Form von Werden und Vergehen; in den Gesetzen das geschichtliche Wachstum benannter historischer Staaten, mag auch genug Konstruktion sich in diese Hülle kleiden. Dort ist die Konstruktion selbst allumfassend, hier dient das geschichtliche Bild dazu, die Einsicht in den Bau des Folgenden zu klären. Und wirklich wird nun am Schluß des Dritten Buches (702 A) alles Vorhergehende — nicht nur die eben abgeschlossene geschichtliche Untersuchung, sondern ausdrücklich auch die Gespräche des Zweiten und des Ersten Buches, die vom Dritten so gut wie getrennt ihren eigenen Weg genommen hatten 44 ) -— dies also wird zusammengefaßt und einem gemeinsamen Sinn unterstellt. Es diene der Einsicht, welches Dasein das beste sei sowohl für den Einzelnen wie für den Staat — wo denn die ursprüngliche Frage nach dem „Guten" und der alte Parallelismus von Staat und Einzelnem deutlich ist. Hier aber ist ein Angelpunkt des ganzen Werkes. Buch i n 702B-E
Die neue Gründung Wie könnte man wohl das Gesagte erproben ? fragt der Athener. Da deckt der Kreter den beiden anderen auf, was er bisher mit Absicht, scheint es, zurückgehalten hat: den Plan einer gerade jetzt bevorstehenden Stadtgründung auf Kreta, zu dem „durch 25·
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glückliches Zusammentreffen" die bisher geführten Gespräche so gut zu passen scheinen. Und er fordert die beiden anderen auf, mit ihm gemeinsam im Gespräch die neue Stadt zu gründen. Auf das Urteil mancher Kritiker 46 ), die diesen Zufall nicht natürlich genug finden, hätte Piaton vielleicht spöttisch erwidert, daß man sich lieber überlegen solle, warum er sich — hier wie anderswo — eines solchen Zufalls bediene. Es wäre ihm doch wirklich bequem genug gewesen, die neue Gründung gleich auf der ersten Seite seines Werkes einzuführen. Aber dann wäre nicht deutlich geworden, daß es einen Anstieg gibt zu dieser Gründung empor, den Anstieg durch die dorischen Gründungen, den Anstieg, der im Raumbild des Dialoges durch die Wanderung zur Zeusgrotte auf dem Ida symbolisiert wird. Andererseits wäre nicht deutlich geworden, daß die Gründung, so sehr sie Piatons großes Spätwerk erfüllt, doch nur ein Beispiel ist für etwas Allgemeineres und gleichsam nicht die einzige Antwort, wenn auch eine sehr eindringliche, auf die Grundfrage, die er gestellt und auf die er in den drei ersten Büchern schon mancherlei geantwortet hat: die Frage nach dem besten Dasein von Staat und Mensch. Andererseits wieder kann doch der Sinn allgemeiner Gespräche über den besten Staat, auch kritischer Beschäftigung mit vorhandenen Staatsformen, nur der sein, daß sie irgendwann einmal für eine echte Staatsgründung zum Nutzen gedeihen (eis χρείαν 702 Β 6). Allgemeines Staatsdenken und besondere Gründung — der von Piaton ausdrücklich bezeichnete (702 D 3) Doppelzweck des ganzen Werkes — müssen in einer glückhaften Stunde (κατά καιρόν 702 Β 7) einmal zusammentreffen: das symbolisiert dieser von Piatons Weisheit geordnete „Zufall". Daß schon in den ersten Büchern die Vorstellung, wie wir als Gesetzgeber zu verfügen haben, mannigfach anklingt (νομοθετήσομευ 666 A3), daß andererseits das Erziehungswesen der kretischen Kolonie später (VII 812 Ε f.) jene Chöre einbezieht, die im Zweiten Buch gleichsam für eine noch unbestimmte Gründung verordnet worden sind, kann schließlich nicht verwundern. Denn von den ersten Worten ab ist Piaton selbst Gesetzgeber und sind es mithin auch seine Gestalten. Es ist ja mehr als wahrscheinlich, daß das Erziehungswesen in seinem Geist eine Einheit war, aus der er einen Teil in den Vorbau hineinnahm, während er das Übrige der eigentlichen Gesetzgebung für seine kretische Kolonie vorbehielt 46 ).
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Die Bedingungen der neuen Gründung
389 Buch IV 704A-715E
Vergesse man nie, daß Piaton die neue Gründung erdichtet, nicht 704A—707D über eine geschehene berichtet! So muß der Leser überall nach dem Wozu fragen, auch wo Piaton über den „Hinblick" nichts aussagt — was er doch oft genug tut 4 7 ). Der Name der Kolonie wird der Zukunft überlassen. Später nennt er sie Stadt der Magneten, indem er an eine echte Überlieferung Kretas anknüpft 4 8 ). Daß er sich dazu erst im Verlauf der Niederschrift entschlossen habe, ist möglich, aber nicht sehr glaublich. Auch später meint er ja keinen eigentlichen Eigennamen: „die Stadt der Magneten oder nach wem ihr der Gott den Namen geben mag" (XII 969 A 6). Vielleicht vermeidet er zu Anfang jeden Hinweis auf diese Magneten, um die Vorstellung nicht an einen bestimmten P u n k t zu fesseln. Denn die Lage, die er seiner Gründung nun gibt, entstammt offenbar keiner geographischen Wirklichkeit, sondern einer philosophischen Absicht. Eine Utopia ist diese Stadt auf Kreta, wenn auch weniger wirklichkeitsfern als Atlantis und Ur-Athen. Die erste Frage heißt: soll die neue Gründung am Meer liegen oder im Binnenland ? Es ist die Entscheidungsfrage. Eine Seestadt wäre „unheilbar" (704 D 3). Nun verlegt Piaton sie achtzig Stadien (16 Kilometer) weit ins Innere, beschenkt sie aber dafür mit einem guten Hafen. Der gebirgige Boden trägt zwar alles was man nötig hat, wiederum ist er rauh und trägt nicht reichlich. Also ganz genau hat Piaton seiner Stadt die natürlichen Gaben gemischt 49 ). Die „wahre Polis", wie sie im Staat gebaut wird, liegt überhaupt nicht auf dieser Erde. Von der Physis bestimmt sind wohl im allgemeinen menschlichen Sinne ihre Bewohner, nicht aber sie selbst. Denkt man sie irgendwo, so müßte sie hafenlos sein. Aber nicht einmal das wird gesagt, und nur wenn man nachrechnet, merkt man, daß ihr die Flotte fehlt. Seiner kretischen Kolonie hingegen hat Piaton schon in ihrer Ortslage ihr menschliches Schicksal bestimmt. Weil er sie auf ein festes „Ziel" hin ausrichtet, auf die Arete, und zwar — wie es im Rückblick auf den Kampf des Ersten Buches ausdrücklich heißt (705 Β ff.) — auf die gesamte Arete und nicht auf einen Teil, etwa die Tapferkeit, darum hebt er hier die alte Feindseligkeit der athenischen Aristokratie gegen die „gräßliche Flotte" in die Höhe grundsätzlicher Besinnung und rückt die Stadt vom Meere ab. Aber auf der anderen Seite gibt er
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ihr doch einen Hafen und setzt sie dadurch wiederum den Gefährdungen aus, denen er sie eben entzog. Sie ist von vornherein nicht vollkommen, sondern steht unter einer Fülle fördernder und gefährdender Bedingungen. 707 Ε—709D Zu diesen Bedingungen gehört auch die noch unbekannte Zusammensetzung der Siedler. Und hier ist es, wo die Bedingtheit sich für einen Augenblick so steigert, daß die Wirkenskraft des Gesetzgebers zu nichts wird. Man bedenke, was es heißt, wenn Piaton eben dort, wo er seine Gesetzgebung beginnen will, den Athener mit großem Nachdruck aussprechen läßt: „Kein Mensch ist überhaupt Gesetzgeber, sondern Gesetzgeber sind uns alles in allem Zufälle und mannigfache Schicksale auf mannigfache Art." So wird der Gott als Lenker aller Dinge erhöht und mit ihm Zufall und rechte Stunde (709 Β 7)'. Sie lenken, und wenn der Mensch im Sturm das Steuer mitergreifen kann, so ist das schon etwas Großes. Der Mensch eine Puppe am Draht: so hieß es früher, und daß er eine Puppe der Götter ist, das sei noch das Beste an ihm. Jetzt sinkt gar die so hochgeehrte und von Piaton als die letzte Aufgabe seines Lebens betriebene Gesetzgebung fast zu einem Nichts, und was ihr eine Würde gibt, ist dieses, daß sie ein wenig helfend zugreifen kann 60 ). 709D—712 Α Die Lage, die Zusammensetzung der Siedler, dann weithin Tyche und Kairos überhaupt: das waren die Bedingungen, unter denen die neue Gründung steht. Und diese Bedingungen führen zu der letzten: Wie ist überhaupt eine solche neue Gesetzgebung möglich ? Welche Bedingung verlangst du, Gesetzgeber, um deine Gesetzgebung am besten ins Werk zu setzen ? Welches sind die günstigsten Voraussetzungen eines solchen Verfassungswandels bis zu den Wurzeln hinab ? Man bemerkt leicht, daß hier der Gedanke bei etwas Allgemeinerem verweilt als bei der kretischen Siedlung51). Und man erkennt bald, daß hier wiederum ein Zug der Politeia sich in das Spätwerk hinübergewandelt hat. Man entsinnt sich der drei Wogen, die dort an der großen Wendestelle einbrachen (S. 93). Die dritte Woge, das war die Frage nach der Möglichkeit der neuen-Gründung (V471 C). Und die Antwort auf diese Frage hieß, daß solcher Wandel einen anderen Wandel voraussetze; daß dieser andere nicht leicht sei, aber durchaus möglich; daß er sich leichter bei einem als bei zweien, leichter bei zweien als bei mehreren vollziehe (473 BC). Und dieser bedingende Wandel, das sei die
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Vereinigung von Herrschermacht und Weisheitsstreben. Der Kernsatz der Politeia gibt die Bedingung ihrer Möglichkeit. Und später (VI 502 BC) wird noch einmal auf dasselbe zurückgegriffen: wenn möglich, dann das Allerbeste; schwer, aber nicht unmöglich; wenn nur e i n e r zulänglich ist und eine Stadt hat, die ihm gehorcht. Nun sehe man unsere Stelle der Gesetze (709 D ff.)! Wie soll die Stadt beschaffen sein, um am geeignetsten zu sein für den Wandel52) ? Sie soll einen Tyrannen zum Herrscher haben, einen Tyrannen allerdings, der jung, von gutem Gedächtnis, lernbegierig tapfer, glänzend ist und dazu Selbstbeherrschung übt: das sind Eigenschaften, die Piaton von Dion rühmt und für die Philosophenherrscher seines Staates fordert53). Nun muß glücklicher Zufall diesen „zuchtvollen Tyrannen" (τύραννος κόσμιος 710 D 7) mit einem Gesetzgeber zusammenführen. Dann hat der Gott sein Mögliches getan, um einer Staatsgemeinde wohlzutun. Weniger günstig liegt es schon, wenn zwei Herrscher von solcher Art da sind, also wie beim spartanischen Königtum, ungünstiger noch ist die Demokratie und am ungünstigsten die Aristokratie; denn in ihr gibt es die meisten Dynasten. Schwer ist es, doch durchaus möglich 54 ). Wenn aber der unwahrscheinliche Fall eintritt, dann ist das ein unendliches Glück für den Staat 55 ). Und dieser Fall wird zum Schluß (711 Ε f.) noch einmal in einen Satz geprägt, dem man die Verwandtschaft mit dem Kernsatz der Politeia auf den ersten Blick anmerkt: „Wenn mit Denken und mit Selbstzucht die größte Macht in einem Menschen in eins zusammentrifft, dann erwächst für die beste Staatsverfassung und die ihr entsprechenden Gesetze die Möglichkeit; sonst aber wird sie nimmer kommen." Vergleichen wir die beiden Entscheidungsmomente von Staat und Gesetzen noch genauer! Der des Staates ist dort, wo die Bewegung — unter dem Bilde der größten Woge — auf die höchste Ebene hinaufträgt. Den Gesetzen fehlt ein solcher Stufenbau mit Notwendigkeit. Denn die Gesetzgebung liegt gleichsam in einer einzigen Ebene. Und darum ist der entsprechende Platz für den Kernsatz dort, wo die eigentliche Gesetzgebung beginnen will. Der Satz selber ist bemerkenswert umgeformt. Vermieden ist das Wort Philosoph56), das Entscheidungswort der Politeia, das, kaum ausgesprochen, zum höchsten Aufstieg emporträgt. Im Spätwerk
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ist es ersetzt durch die Worte „Vernunft und zuchtvolle Haltung" (φρονείν καΐ σωφρονεΐν), die sich mehr im Bezirk erfahrungsgemäßer Wirklichkeit halten, zumal die Sophrosyne vorher (710 A) ausdrücklich auf ihre volkstümliche Bedeutung beschränkt wird und nicht ohne Ironie jene Vertiefung abstreift, die Piaton ihr seit dem Charmides verliehen hatte. Und wenn statt des Aufschwungs der Politeia die Nomoi sich bescheiden, so haben die dazwischenliegenden Jahrzehnte dem Piaton die Fülle der Erfahrung gebracht, wie sie sich in jener neuen Stufenfolge der Verfassungen ausspricht: Tyrannis, Monarchie, Demokratie, Aristokratie. Nicht die Wertung dieser Formen hat sich bei ihm geändert 57 ). Rein darauf ist der Blick gerichtet, welche von ihnen am besten taugt für den besonderen Zweck der Verwirklichung. Und dabei ist die sehr eigentümliche Paradoxie in den Ausdrücken Tyrannenstaat (τυραννουμενη ττόλις 709 Ε 6) und Tyrannenseele (τυραννουμένη ψυχή 710 A 1) zu beachten. Der Tatbestand, den Piaton in der Politeia (IX 577 DE) mit diesen Worten bezeichnet, meint den äußersten Gegensatz zu aller Arete, zumal aller Sophrosyne. E r hat die Ausdrücke mitsamt dem Parallelismus von Polis und Einzelseele in sein Spätwerk übernommen 58 ). Aber er hat sie eigentümlich rückwärts verschoben zu der volkstümlichen Bedeutung des Wortes Tyrannis — Tyrannis als überlieferungsfreie, nicht durch den heiligen Nomos gehemmte Machtherrschaft — und er hat mit dem paradoxen Wort von dem „zuchtvollen Tyrannen" aufmerksam machen wollen auf diese Verschiebung. 712B—714 Α Aber die Umbildung des Kernsatzes der Politeia geht noch weiter. Wir treten also, heißt es, an die Gesetzgebung heran. Dabei wird der Gott zum Helfer herbeigerufen, wie er schon das erste Wort des ganzen Gespräches war, und die Frage geht sogleich darauf: Welche Verfassung verordnen wir der neuen Stadt % Eine der altüberlieferten Formen wie Demokratie oder Königtum ? Und da erweist sich: Sparta und Knossos sind keiner dieser Formen einzuordnen, sondern sind eine aus jenen segensreich gemischte Verfassung — eine Einsicht, die sich schon in der geschichtlichen Betrachtung des Dritten Buches herausgestellt hatte — und sind eben deshalb echte Staatsordnungen, während die gewöhnlich so genannten Verfassungstypen nichts weiter sind als Staatsgemeinden, in denen der eine Teil eine Zwingherrschaft übt, der andere Knecht ist, und die je nach der Artung des Zwingherrn ihren
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Namen haben. Unser Staat muß also anders sein. Nur nach e i n e m Herrn muß er benannt werden: nach dem Gott. Ein Blick auf den Kronosmythos gibt dieser Einsicht eine mythische Weihe. Dann steht der Kernsatz der Politeia in einer letzten und höchsten Verwandlung vor uns (713 E), feierlich wie ein Orakespruch: „Für Staatsgemeinden, in denen nicht ein Gott herrscht, sondern irgendein Sterbling, gibt es keine Flucht aus Mühsal und Verderben." Aber wie wenig selbst der alte Piaton es mit irgendeiner mystischen Theokratie hält, lehrt der folgende Satz: wir sollen das Regiment führen im Gehorsam gegen das, „was an Unsterblichem in uns ist", also gegen den ,,Führer Geist" (I 631 D), der auch hier aufklingt, da in etymologischem Spiel, tiefernstem Spiel, das Gesetz als das „vom Geist Gesetzte" bezeichnet wird 59 ). Nachdem das Gesetz zu solcher Würde emporgestiegen ist, und 714A—715 Ε bevor die eigentliche Gesetzgebung beginnt, steht episodisch ein Kampf gegen das Niedere, einer jener nur noch angedeuteten Kämpfe der Spätzeit. In Gegensatz zu den echten Herrschern, die dem Geist folgen, werden die begehrlichen gestellt, deren Seele ständig nach Genuß und neuer Begierde trachtet 60 ), wie ein durchlöchertes Gefäß, das nicht festhalten kann, womit es sich immer wieder füllt. Wort und Bild erinnern an Gorgias und Staat und stellen jene Lebensform der „Lust" vor unser Auge, als welche Piaton dort das hochgepriesene Dasein des Machtmenschen entlarvt hatte. So wenig man verkennen kann, wie der alternde Philosoph der Hedone neue Seiten abgewinnt, so wenig darf man dabei übersehen, daß das Wesentliche unwandelbar bleibt. Schon im Thrasymachos61) sind es die Menschen der Lust und der Gewalt, die den gefährlichen Satz des Naturrechts formuliert haben: Gerechtigkeit sei der Vorteil des Stärkeren. Und damit sind sie nicht nur hinter unserer im Anfang gewonnenen Überzeugung zurückgeblieben, daß die Gesetze auf die „gesamte Arete" ausgerichtet sein müssen, sondern sogar hinter der dort überwundenen dorischen Denkweise, die alle Gesetzgebung auf den Krieg abzielen läßt. Recht betrachtet handelt es sich bei jenen gar nicht um Staatsgesetze, sondern um Parteigesetze. Und sie selbst sind — mit unübersetzbarem Wortspiel — nicht Politen sondern Stasioten (715 B), ein Wort, in dem Parteiung und Bürgerzwist liegt, und das um so stärker in seinem Gegenwort die Gemeinschaft aufleuchten läßt. Man begreift, warum der alte Kampf des Thrasy-
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machos hier noch einmal erneuert wird. Dort folgt der Aufbau des wahren Staates, hier beginnt die neue Gesetzgebung. Der Formtrieb wandelt sich, aber er erlischt nicht. Buch IV Vorspruch 715E-734E 715E—725B Der Athener sieht im Geist eine Versammlung der neuen Ansiedler vor sich und spricht zu ihnen im feierlichen Tone der Verkündigung. Er beginnt mit dem Gott, der nach dem alten, orphischen Worte Anfang und Ende und Mitte von allem Seienden innehat, und der auf rechtem Wege nach eingeborenem Wesen seine Bahn kreisend vollendet62). Das hohe Bild ewigen geordneten Seins steht vor den Hörern und, wie seit dem Gorgias (507 Ε f.), wird der Kosmos der Gerechtigkeit und der Gestirnbahnen als einer gesehen, dessen Störung Dike straft83). Der Gott, heißt es bald darauf (716 C), ist aller Dinge Maß, viel mehr als nach dem berühmten Wort des Protagoras irgendein Mensch. Wie vorher der Kernsatz der Politeia umgebogen war in den Satz von der Herrschaft des Gottes, so wird hier der homo-mensura-Satz höchst erstaunlich in den Deus-mensura-Satz verwandelt. Warum ? Weil jener Satz vor dem Geiste Piatons stand als die Formel für alle auflösenden Bestrebungen, die wie im Vorangehenden so auch hier noch ein letztes Mal von ihm befehdet werden. Und dieser Gegensatz zwischen Ordnung und Wirrnis wird an menschlichen Beispielen gezeigt. Als Zerstörer aller Ordnung steht — ungenannt, aber schwer zu verkennen — noch ein letztes Mal Alkibiades dae4), hier mit dem abschließenden Urteil, daß ,,er sich selbst und sein Haus und seinen Staat von Grund aus zerstört hat". Losgerissen vom heiligen Feuer zerstörst du in Freveln Prächtig ein irrender Brand dich und die Größe Athens85). Ihm gegenüber steht der Mensch, der dem Gott ähnlich und darum lieb ist. Denn „der Ähnliche ist dem Ähnlichen lieb, wie die alten Weisen sagen", so hieß es im Lysis (214 C) und im Gorgias (510 B); hier im „Vorspruch" der Gesetze wird das Ähnlich-sein kühn und feierlich auf das Verhältnis des Menschen zur Gottheit übertragen. Und der Deus-mensura-Satz, an den im Theaitet (162 C) ein erster Anklang vernehmbar war, wird jetzt eindringlich deutlich: der Gott ist das „Maß"; wer ihm ähnlich ist, der ist maß-haft; wer
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ihm lieb ist, der ist eingeordnet in die große Ordnung der Welt. Damit aber ist — wozu schon der Euihyphron in seiner aporetischen Weise eine Vorbereitung gewesen war — die Gottesverehrung neu gegründet, nämlich in Maß und Ordnung, die ja, wie der Philebos deutlich macht, Namen für das Vollkommene sind. Dem guten Menschen steht Eusebeia an, dem Unreinen ist sie nichts nütze. Nun kann verfügt werden, wer zu ehren sei: die olympischen Götter, dann die andern Götter, Dämonen, Heroen, schließlich die Eltern, denen im Leben und über den Tod hinaus fromme Verehrung gebührt. Damit sind wir also bei der Gesetzgebung angelangt. Und doch sind wir in gewisser Weise noch nicht in ihr. Denn wir werden auf die Gesetze selbst verwiesen, die erst nachher beginnen sollen (718 Β 2. C 2), und die offenbar von den gegenseitigen Beziehungen der Menschen handeln (A 6 ff.). Jetzt sind wir noch in einem Bereich, über den zwar der Gesetzgeber Wichtiges zu sagen hat, der sich aber der Form des Gesetzes nicht eigentlich fügt (B 5 ff.). Ein seltsamer Zwiespalt; es ist nicht leicht, darüber mit ein paar Worten zu sprechen (C 4). Wirklich wird sich erst nach manchen Umwegen klären, um was es sich handelt: was eben begonnen hat, gehört zu den „Vorsprüchen", die für Piaton ein höchst wichtiges Mittel sind, um seine gesetzgeberische Aufgabe zu erfüllen. Ihr Wesen gilt es aufzuklären. Gesetzgebung ist Erziehung. „Der Gesetzgeber wird in seiner ganzen Gesetzgebung zu bewirken suchen, daß die Menschen durch Lehre geneigt gemacht werden zur Arete" (718 D). Die Gesetze im strengen Sinne, so wird sich zeigen, können für sich allein diese Aufgabe nicht erfüllen, und darum müssen die „Vorsprüche" helfen. Darauf will Piaton hinaus. Merkwürdig, wie er einsetzt: bei den Versen des Hesiod, daß der Weg zur Vollkommenheit lang und rauh sei. Als Motto für das ganze Gesetzgebungswerk könnten diese Verse dienen. Aber nicht darauf kommt es jetzt an, sondern das Thema von der Dichtkunst taucht von neuem auf. Wurde vor kurzem (700 Α ff.) die Musik wegen ihres tiefen Verfalles bekämpft, so spricht jetzt der Athener für den Dichter (719 Β 9), ja bald spricht durch seinen Mund der Dichter selbst (D 7). Mit jener aus Ion und Phaidros uns bekannten Ironie, in der sich die alte Bezauberung durch die Poesie und der unvermeidliche Kampf gegen sie in Piaton seltsam mischen, wird das
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Manische und darum Verantwortungslose des dichterischen Daseins herauf beschworen86). Als „Nach-bildender" ziele der Dichter nicht auf das Wahre, welches notwendig e i n e s ist, sondern er lasse über dieselbe Sache zweier- oder dreierlei Verschiedenes sagen: das entschied im Staat (III 394 E) den Kampf gegen die Mimetiker. Hier ist es umgekehrt die Dichtung, die den Gesetzgeber zwingen will, sich von ihr abzuheben. Er soll über jede Sache nur eines sagen und nichts mehr oder minder Allgemeines, so wie er vorher begonnen hatte (719 D, vgl. 718 A), sondern seine Verordnungen müssen zahlenmäßig genaue Angaben enthalten. Schienen der anordnende Gesetzgeber und der mahnende Hesiod sich zu begegnen als Führer zur Arete, so hat jetzt die Dichtung, indem sie sich auf sich selbst besann, die Gesetzgebung von sich abgehoben und sie — sehr ironisch paradox — zur Strenge ermahnt. Allein damit hat Piaton erst die eine Seite sichtbar gemacht. Auch seine Gesetzgebung — so wird sich zeigen — muß über dieselbe Sache nicht nur eines, sondern ein Doppeltes sagen, das freilich in ganz anderem Sinne doppelt sein wird als die Doppelreden der Dichter. So setzt alsbald die Gegenbewegung ein am Bilde zweier Arzttypen: Der „Arzt der Sklaven" gibt nur kurze „tj-rannische" Verordnungen, so wie es ihm auf Grund praktischer Erfahrung richtig scheint. Der „Arzt der Freien", der selbst ein Freier und Freigesinnter ist, hat wahrhaft wissenschaftliche Einsicht und ein anderes Verfahren: er berät sich mit dem Kranken und ordnet nicht eher an, als bis er ihn von der Richtigkeit des Weges überzeugt hat 67 ). Nach diesem Bilde werden an dem Beispiel der Ehegesetzgebung — mit der jede eigentliche Gesetzgebung anfangen muß — die zwei Möglichkeiten gezeigt: hier das „einfache" Gesetz68), welches in aller Knappheit und Schärfe anordnet, dort das „zwiefache", das dieser Anordnung die begründenden Gedanken (διανοηθέντα 721 Β 7) hinzufügt, in unserem Beispiel dem Befehl zur Eheschließung die Einsichten Diotimas in den Zusammenhang von Zeugung und Unsterblichkeit 69 ). Nur diese zweite Form der Gesetzgebung ist die für uns richtige und mögliche. Denn nur sie erzieht, d. h. nur sie- macht die Seelen geneigt, den Befehl in sich aufzunehmen. Kein anderer Gesetzgeber hat sie bisher geübt (722 Β 5. Ε 2). Bei uns aber soll jedes Gesetz aus Vorspruch und Spruch bestehen, wie das bei dem Nomos der Musik von jeher zur Regel gehörte.
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Es ist Mittag geworden, die Wanderer machen Rast an einem schönen Ruheplatze. Und hier nun geschieht etwas Merkwürdiges: „Den ganzen Vormittag haben wir nichts anderes getan als über Gesetze uns besprochen. Aber erst jetzt fangen wir an, wirkliche Gesetze zu formulieren; alles frühere waren nur Vorsprüche von Gesetzen." Der neue Plan also, der alles Folgende beherrschen wird, wirkt rückwärts. Nicht nur künftig wird jedes Gesetz seinen Vorspruch haben. Auch im ganz Großen wird alles bisher Gesagte zum Vorspruch des gesamten Gesetzgebungswerkes. Und im besonderen erhält jetzt nachträglich seine feste Bestimmung als Vorspruch das, was im zufälligen Lauf des Gespräches über die Ehrungen der Götter und der Vorfahren aufgetaucht war. Die Gesetzgebimg — oder, wie wir jetzt gelernt haben, der Vorspruch — hatte begonnen mit der Verehrung, die wir den göttliehen Mächten und nach ihnen den Eltern schulden. Das wird jetzt fortgesetzt. Ehren muß man auch die eigene Seele (726 A 6), ehren den eigenen Leib (728 D), Ehrgefühl statt Geld den Kindern hinterlassen (729 Β 1), ehren die Verwandtschaft (C 5) und Freundschaft (C 8), das Gesetz des Heimatstaates (D 4) und schließlich die Fremden (E 2) und vor allem die Bittflehenden (730 A 5), deren Verletzung der sie schützende Gott am schärfsten straft an dem Verletzer. Es ist freilich eine seltsame Reihe, deren Sinn man nicht durchschaut, ehe man sich nicht die Tradition klargemacht hat, in der sie steht 70 ). Erst die Götter ehren, nach den Göttern die Eltern, das sind von jeher „die heiligen Gesetze", die „ungeschriebenen Gesetze", die „ungeschriebene Sitte", die „Gesetze des Triptolemos". Zur Verehrung der Eltern tritt anderes hinzu: den Freunden wohltun, dem Fremden mit Ehrerbietung begegnen. Euripides verbindet (Frg. 853): die Götter, die Eltern, die gemeinsamen Gesetze von Hellas. Piaton denkt in uralten Formen, wenn er diese menschlichen Grundsatzungen als Vorspruch an den Beginn seiner Gesetzgebung stellt. Man erkennt sofort, daß er die überlieferte Reihe erweitert, und zwar sehr wunderlich erweitert, indem er zwischen die Eltern und die Freunde so verschiedene Dinge stellt wie die Seele, den Leib, die Jugend. Bald sieht man auch, daß er den überlieferten Begriff des „Ehrens" völlig umgestaltet hat. Es wird zu fragen sein, ob jene Erweiterung nicht auf dieser Umformung beruht.
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Der Athener denkt sich wieder wie vorher vor versammeltem Volke71), an das das ganze Fünfte Buch als einheitliche Rede gerichtet ist. Nach den Göttern und den Eltern soll man zweitens „seine Seele ehren" oder sich selbst ehren in seinem eigentlichen Wesen 72 ). Damit das verständlich wird, muß man „Ehre" in einer neuen Tiefe ansiedeln, und man denkt daran, mit welchem Nachdruck früher in den beiden Gütertafeln (I 631 E. I I I 697 B) als Aufgabe des Staates hingestellt wurde, daß er Ehren zu erteilen und zu entziehen richtig verstehe. Schon die Frömmigheit oder Götterverehrung hatte vorher einen neuen Sinn bekommen. Die Götter zu ehren vermag nur der, der sich selber gut macht. So ist also dort schon vorbereitet, was hier in das Wort Ehre, Auszeichnung, Würde (τιμή) neu hineingelegt wird. Man kann nicht auszeichnen durch lobpreisende Worte oder Geschenke, als hänge man jemandem, ζ. B. sich selber, einen äußeren Schmuck um. Dann schädige, entwürdige, entstelle ich vielmehr, anstatt echte Ehre und Würde zu erweisen73). Dieses tue ich, indem ich dem Besseren folge und das Schlechtere nach Möglichkeit veredle. So wird die Ehrung der Götter und die Ehrimg der eigenen Seele gleichsam auf einen Generalnenner gebracht. Mich selbst muß ich umschaffen nach dem Vorbild des Besseren, damit Ehre keine Unehre wird. Nun begreift man, warum Ehre ein „göttliches Gut" heißt (727 A 3). Ein Gut: das würde auch anerkennen, wer sie mißversteht. Die Wahrheit, das Seiende muß in diesem Begriff den höchsten möglichen Ausdruck bekommen 74 ). So ist der Gesetzesstaat, ohne daß er diesen Namen trägt, eine echte „Timo-kratie" — eine reinere als im Staate die höchste unter den Verfallsformen, die diesen Namen ausdrücklich getragen hatte 75 ). Eine genaue Einzelerklärung müßte aufweisen, wie Piaton nach der Auszeichnung der Seele die des Leibes versteht als dessen, was „zu ihr gehört", was also der Seele, d.h. „mir selber", untergeordnet ist — wo denn weder die Leibesverächter zu ihrem Rechte kommen noch die, die den Leib als höchstes Gut verherrlichen. Sie würde in der Haltung gegenüber der Jugend aufzuweisen haben, wie der seit Juvenal so oft wiederholte und auch mißbrauchte Gedanke, der Alte müsse Ehrfurcht vor dem Jungen haben, hier zuerst als Paradoxon ausgesprochen wird, und wie sich die Erfahrung des Phaidros, jede Erziehung sei zugleich Selbsterziehung, damit verbindet. Sie würde zu suchen haben, welche neue Färbung
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Piaton der uralten Satzung vom Schutz des Fremden verleiht, indem er sie einschmilzt. An diese platonisch umgeformte Reihe der Ursatzungen schließt 730 B—731D sich ein Abschnitt, „wie der Mensch geartet sein müsse, um am schönsten durch das Leben zu kommen". Denn auch dies läßt sich nicht durch eigentliche Gesetze regeln, da doch vielmehr unsere Gesetze den so gearteten Menschen nötig haben, damit er ihnen „im Zügel gehe". Man muß sehen, daß diese Liste wünschbarer Eigenschaften aus dem Staat sich hinübergewandelt hat in das Spätwerk. Wie dort (II 374 Ε ff.) die künftigen Wächter, so müssen hier die künftigen Bürger die Gegensätze Mannesmut und Selbstbeherrschung in sich vereinen. Im Staat galt es die Wächter so zu wählen, daß sie für den Kampf nach außen wie für den Frieden nach innen gleichermaßen taugen, und daß aus der energischen und zugleich beherrschten Art der „philosophische" Trieb sich entwickele (375 E). Im Spät werk fallen diese Begründungen ab, die von der ständischen Gliederung des wahren Staates bedingt sind. Jetzt muß der Bürger mutvoll sein zum Kampf gegen die unheilbaren Vergehen und friedvoll zur Nachsicht gegen die heilbaren und — nach der alten sokratischen Überzeugung — unfreiwilligen. Also die Eigenschaften, die die Gemeinschaft fördern, werden ausgewählt. Und so ist es überall. Gerechtigkeit, Maß, Einsicht — die alten Tugenden — soll man haben, aber nicht für sich selbst behalten, sondern an andere weitergeben. So ringt man „neidlos" (άφθόνως) strebend um Arete und fördert damit zugleich die staatliche Gemeinschaft, während der „Neidische" in diesem Wettkampf um das hohe Ziel ihr die Kräfte mindert 76 ). In demselben Sinne wie diese Tugenden wirkt die Wahrheit, Wahrhaftigkeit (730 C); sie macht den Menschen vertrauenswert, während ihr Gegenteil ihn vereinsamt. Daß Piaton mit diesem Wort „Wahrheit" sonst — ontologisch — die Wirklichkeit des Seienden benennt, würde man hier in diesem „ethischen" Zusammenhang nicht hören, wenn es nicht in feierlichen Worten hieße, daß sie „aller Güter Führerin ist für Götter und für Menschen". So klingt das Höchste eben noch an, um verspürt zu werden, während die eigentliche Bewegung sich auf nicht so hoher Ebene, dafür mit reichster Erfahrungsweisheit, vollzieht. Waren alle diese Forderungen so aufgestellt, daß sie die Gemein-731D—732D schaft fördern, so wird ihnen nun angefügt die Warnung vor dem
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gemeinschaftsschädigendsten aller Übel: der Eigenliebe77). Eigenliebe steht entgegen der eben gepriesenen Wahrheit und Gerechtigkeit. Sie führt zu der ärgsten Torheit: man glaubt zu wissen, wo man nicht weiß; und aufs Praktische gesehen führt sie zu der höchsten Verkehrtheit im Tun: man handelt, wo man nichts versteht, und läßt andere nicht handeln, die etwas verstehen. Aber auch auf das, was in etwas weiterem Abstand vorausging, hat man diese Warnung vor der Selbstliebe zu beziehen: auf die Forderung, daß man seine Seele d. h. sich selbst ehren müsse. Forderung und Warnung grenzen sich gegenseitig ein. Selbstliebe ist die falsche Art der Selbstehrung. 732D—734E Der große Vorsprach schließt ab, indem er alle die letzten Betrachtungen, was der Mensch betreiben und wie er sein müsse, als die „göttlichen" zusammenfaßt und nun noch die „menschlichen" daran fügt. Lust und Weh und Triebe sind wesenhaft menschlich, und wenn eine erziehende Gesetzgebung ihnen auswiche, ginge sie gleichsam über die Köpfe der Menschen hinweg. Dies aber ist vermieden, als durch den Vergleich zweier Lebensformen feststeht, daß das Leben, welches auf leibliche und seelische Arete zielt, zugleich lustvoller ist als das entgegengesetzte. Schönheit und Richtigkeit und Tugend und Ruhm vereinigen sich mit der Lust zu jener Vollkommenheit, die der Grieche Eudämonie nennt. Wir treffen hier wiederum auf ein Problem, das seinem Wesen nach in Piatons Anfänge zurückreicht, seine stärkste Ausprägung im Schlußteil der Politeia gefunden hat: in der Glücksabrechnung zwischen dem Leben des königlichen und des tyrannischen Mannes78). Wie immer verliert, was aus der Politeia in das Spätwerk eingeschmolzen wird, seine Stufen und seinen ausgesprochenen Bezug auf die höchste philosophische Erkenntnis. Stand dort der Philosophenkönig dem Tyrannen gegenüber, getrennt durch die Zwischenformen, wurden dort Lust und Streben des Philosophenkönigs auf das wahrhaft Seiende und seine Erkenntnis bezogen, so ist von alledem hier nicht die Rede. Zwei Reihen von Lebensformen bieten einander die Stirn: auf der einen Seite das Leben der Zucht, der Vernunft, der Tapferkeit, — und der Gesundheit; auf der anderen Seite alle Gegensätze. Körperhöhe Gesundheit neben den „Tugenden": mit Absicht ist die philosophische Strenge geopfert. Und rein aus der Erfahrung wird nun vor allem an der zuchtlosen und der kranken Lebensform aufgewiesen, wieviel mehr
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Schmerz sie bringen als die entgegengesetzten. Damit sind wir soweit, daß die eigentliche Gesetzgebung beginnen kann, und auch das ist nicht gleichgültig, an welche Stelle das Spätwerk seine Glücksabrechnung setzt. In der Politeia stand sie fast am Ende des Ganzen, zurückgreifend fast auf den Anfang, also peripher. Hier steht sie am Ende des Vorspruchs als notwendige Ergänzung, ohne die alles übrige für Menschen untaugüch wäre, als letzte Überredung, bevor die Gesetzgebung eigentlich beginnt.
Die Besiedlung6 Die Beamten Das Gesetzbuch
BuchV 735A - XII Ende
In die geschlossene Masse der Gesetzgebung kann hier noch weniger eingedrungen werden als vorher in die geschlossene Masse der Naturerklärung im Timaios. Ähnlich wie dort müßten sich mit einer genauen Interpretation des Textes folgende Fragen verbinden: 1. Wer waren Piatons Vorgänger? 2. Was ist Piatons Eigenes ? 3. Wie hat Piaton auf das griechische und das römische Recht gewirkt und, direkt oder indirekt, auf spätere Gesetzgebung 1 4. Wie sieht Piatons Gesetzgebung aus, wenn man sie von moderner Jurisprudenz her betrachtet — und umgekehrt ? Die letzte Frage ist hier noch schwerer zu beantworten als die entsprechende im Timaios, weil es für die Naturwissenschaften nationale Grenzen kaum gibt, während Recht und Gesetz in den verschiedenen Ländern der heutigen Erde ganz verschieden sind. Nach dem „Vorspruch" folgt in dem bekannten musikalischen Wortspiel „das Gesätze", das sind die Gesetze des Staates. Wie ein Gewebe aus fester Kette und lockerem Einschlag zusammengewebt ist, so der Staat aus den Regierenden und den Regierten 79 ). Das Bild der Webekunst dient im Politikos (III 3 b) der ethischpolitischen Aufgabe des Staatsmanns, die gegensätzlichen Naturen innerhalb der Staatsgemeinschaft zu einer Einheit zu verbinden, statt sie sich bekämpfen zu lassen. In den Gesetzen macht dasselbe Bild die organisatorische Aufgabe des Staatsgründers anschaulich, die Einheit von Regierenden und Regierten herzustellen trotz ihrer natürlichen Verschiedenheit. Damit ergeben sich zwei Ansichtsseiten (είδη) der Staatsordnung: 1) welches sind die Regierungsbehörden ? 2) welche Gesetze sollen den Regierenden übergeben werden 80 ) ? Doch ehe mit der ersten Antwort begonnen wird, muß die eigentliche Besiedlung vorausgehen. So ordnet sich alles Folgende: F r i e d l ä n d e r , Piaton III
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Die Besiedelung: V 735 Α bis V Ende. Die Beamten: VI Anfang bis 771 A. Die Gesetze: von dort bis zum Ende des ganzen Werkes. Buch VII
Die Erziehung Da das Gesetzbuch in seiner Anordnung dem menschlichen Lebenszusammenhang folgt (s. S. 366 f.), so sucht und findet man die umfangreichen Erziehungsvorschriften im Anschluß an die Ehegesetzgebung, und auch sie selber wieder folgen dem Aufwachsen der Kinder, beginnend schon vor der Geburt81). Die Pflege ist zunächst rein körperlich: Bewegung. Sehr früh setzt die Regelung der Affekte ein, die nicht unterdrückt, sondern zur Mitte hin gebildet werden müssen. Mit dem sechsten Jahre beginnen die eigentlichen „Lehrgegenstände" (794 C. 795 D), noch immer wie im Staat Gymnastik und Musik, nur daß jetzt jene den Leib, diese die Seele bildet. Damit kehrt das Spätwerk — wie so oft — zu der volkstümlichen Ansicht der Dinge zurück, die im Staat einer höheren hatte weichen müssen (S. 369 f.). Die Gymnastik gliedert sich wie im Zweiten Buche in Tanz auf der einen, Ring- und Faustkampf auf der andern Seite. Aber nach wenigen verstreuten Bemerkungen heißt es (796 D): die früher (II 672 E) versprochene Behandlung der Gymnastik sei damit am Ziel82). Dann geht es an die Musik. Zwar ist hier der Athener ausführlicher und prägt wirkliche Gesetze (799 Ε ff.). Aber auch hier wird auf das früher (in Buch II) geführte Gespräch zurückgewiesen (797 A. 798 D): auf die Lehre von der Mimesis. Auch hier werden (799 A) wie im Zweiten Buch (II 656 D) die Ägypter mit ihrer von Urzeiten her unveränderlichen Kunst als Muster aufgestellt, nur daß jetzt die Unveränderlichkeit auch unserer heiligen Gesänge ausdrücklich zum Gesetz wird83). Erwägt man, daß die eigentliche Gesetzgebung systematisch geordnet ist, daß aber bei der Gymnastik fast nur ein Gerüst übrig bleibt, weil fast alles Inhaltliche schon vorher besprochen war, daß auch von der Musik vieles im voraus behandelt worden ist, so bietet sich der Schluß von selbst: Piaton hat aus dem geschlossenen Ganzen seiner Erziehungslehre — sei es das sie fertig vor seinem Geiste, sei es daß sie schon auf dem Papiere stand — Teile abgelöst und in den dialogischen Eingang des Werkes vorausgenommen84).
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Was aber bedeutet das ? In Piaton sind das Dialogische und das Gesetzgeberische, man kann auch sagen das Sokratische und das Solonische, zwei ursprüngliche Kräfte. Wie die dialogische Kraft schon früh mit den anderen Kräften in ihm, der des Mythendichters, des Redners, des Staatsbildners, sich kämpfend ins Gleichgewicht setzt, so in dem Spätwerk mit der des Gesetzgebers. Man kann nicht erwarten, daß diese Vereinigung des vielleicht Fremdesten zu vollkommener Harmonie gedeihe. Wie etwa im Gestein nur Teile sich zu Kristallen bilden, während andere kristallinisch oder amorph bleiben, so ist in die starre Masse der Gesetzgebung vom Fünften bis ins Zwölfte Buch nur hier und da der lebendigere Dialog hineingedrungen: dialogisch ist die Erziehungslehre des Siebenten, die Frage der Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit im Neunten85), die Theologie des Zehnten Buches, zuletzt am Schluß des Ganzen die Einrichtung des nächtlichen Staatsrates, der der Träger dieser neuen Theologie wird — also Gegenstände von radikaler Wichtigkeit für das Ganze, durch die der alte Piaton sich am stärksten zum Gespräch aufgefordert sah, weil er dort noch immer zu lösende Probleme oder zu bekämpfende Gegenkräfte sah. Aber indem er so durch den geschlossenen Bezirk der Gesetze hier und da einen Weg legte, führte er nur fort, was er mit den Gesprächen der ersten Bücher begonnen hatte. Gleichsam zufällig beim Nächsten beginnend, bei Brauch und Gesetz der Spartaner und Kreter, hatte er sich und dem Leser Zugangswege zu jenem Bezirk geschaffen. Den Baustoff dazu aber hat er, wie wir sahen, zu einem Teil wenigstens aus der Gesetzgebung selbst entnommen86).
Die Theologie Am Ende des IXten und am Anfang des Xten Buches stehen Gesetze über Gewalttat an Person und Habe. Das X I te Buch beginnt mit Eigentumsverletzung. Das ist ein einheitlicher Zusammenhang87). Er wird unterbrochen durch das locker eingeknüpfte Xte Buch: hier steht, zuerst als Mahnrede (παραμύθιον) 885 Β 3), dann als Vorspruch (887 A 3) bezeichnet, das große dialogisch geführte Hauptstück über die Götter88), verbunden mit dem was vorhergeht, indem Verletzung von Heiligtümern, Tempelraub, unter den Gewalttaten als besonders frevelhaft hervorgehoben wird. Daß er mit Heftigkeit und Ingrimm redet, sagt der 26*
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Athener ausdrücklich (887 C. 907 BC), auch daß man versuchen müsse diese Heftigkeit zu bändigen. Niemand, der das Dasein der Götter glaubt, so beginnt er, hat jemals aus freiem Entschluß (έκών) — die Erörterung über Freiwilligkeit geht im I X t e n Buche voraus — irgend etwas Unfrommes getan oder Gesetzloses geredet. Damit hat er den Zusammenhang von Götterglauben und Gesetzlichkeit sogleich behauptet, und am Schluß sieht er sich als Sieger über die streitlustigen Gegner, denen die Überlegenheit im Kampfgespräch den Mut zu bösem Tun stärken, das Unterliegen auf den rechten Weg des Handelns helfen könne (907 BC). Dreierlei ist es nun, was am Anfang als die zu überwindende Überzeugung, am Ende (907 C) als die überwundene hingestellt wird: erstens daß Götter nicht seien, zweitens daß sie sich nicht um Menschen kümmern, drittens daß man sie durch Opfer und Gebet leicht umstimmen könne. In ganz ähnlichen Ausdrücken und ganz gleichem Zusammenhang hatte schon im Staat (II 365 D ff.) Adeimantos die Meinung Vieler formuliert und den Sokrates zu ihrer Überwindung aufgerufen, so daß man einen alten Kampf im Spätwerk neu erstehen sieht 89 ). Vergessen wir sogleich auch den Unterschied nicht! Im Staat wird zwar die Zersetzung der Normen bekämpft, es werden auch die Dichter bekämpft als die gefährlichsten Träger der falschen Theologie, und in diesem Kampfe werden neue „Grundformen des rechten Redens von den Göttern" aufgestellt. Aber es wird nicht eigentlich, wie im Spätwerk ausdrücklich und ausführlich geschieht, die Begründung der Feinde aufgespürt und umgestürzt und dann aus der Einsicht in die Seele und dem Aufblick zu den Sternen der rechte Glaube an die Götter geschöpft. Warum ist nichts davon im Staat? Offenbar weil in dessen Mitte die Seele selbst durch die Wissenschaften, auch die Astronomie, sich zum Ideenreich und zum „Guten, Vollkommenen" erhebt. Was die Theologie für das Spätwerk, das ist der dialektische Weg für die Politeia. Jene ist „für die Gesetze insgesamt der schönste und beste Vorspruch" (887 Β 8), dieser ist die Mitte des Staatsbaues selber. Verwandtschaft und Verschiedenheit der beiden Werke kann man hier ablesen. Damit die Schwere des Kampfes einleuchte, muß der Kreter sie zuerst unterschätzen und selbst den Versuch machen, um es kurz zu sagen, mit dem kosmologischen Gottesbeweis und dem Beweise ex consensu gentium. Aber so einfach, sagt der Athener, ist die
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Sache nicht. Es ist auch zu einfach, zu „dorisch" gleichsam, zu glauben, daß nur die Zügellosigkeit der Triebe zu dem götterfeindlichen Leben hinziehe. Wer weiter blickt weiß, daß hier ein irregeleiteter Erkenntnisdrang (άμαθία) am Werke ist. Zwei Kräfte sind schuld an dieser Mißleitung. Einmal die Alten, die Dichter mit ihren Geschichten von Welt- und Götterentstehung und Götterkampf, auf die sich die Menschen berufen, wenn sie ihre Eltern mißhandeln. Man sieht, wie hier die Euthyphron - Linie sichtbar wird, die wir im Staat beim Kampf gegen die Dichter verfolgten (S. 64). Aber dieser Kampf wird hier nicht mit Stärke geführt: ,,es ist nicht leicht sie zu rügen, da die uralt sind" (886 D). Der eigentliche Kampf gilt den „Jungen und Klugen", die das All entseelen und entgöttlichen. Und hier zeigt sich auch der Grund, warum der Athener mit solcher Heftigkeit stritt. Er hat die alte gute Zeit vor Augen, in der die Unerschütterlichkeit häuslicher Gottesdienste von frühester Jugend auf dem Kinde den Glauben an die Götter einprägt, und er sieht diese Ordnung zerrüttet durch die neue Gescheitheit. „Der alten Satzung mit dem Wort zu Hilfe zu kommen", das wird nachher der Kreter als die Aufgabe des Gesetzgebers bezeichnen 90 ). Gegen die drei Sätze wird nacheinander der Kampf geführt. Der 888D—899D e r s t e K a m p f geht gegen den reinen Atheismus, von dem übrigens vorher der Athener gesagt hatte, er habe es nie erlebt, daß jemand diesen Unglauben sein ganzes Leben hindurch bis ins Alter wirklich bewahrt habe (888 C). Was hat es mit ihm auf sich ? Um das zu verstehen, wird weit ausgeholt. „Alle Dinge" (πάντα τά πράγματα) — dies das erste Wort, wie es das erste Wort bei Anaxagoras (όμοΰ πάντα χρήματα) und bei Protagoras (πάντων χρημάτων) war — „die werden und geworden sind und sein werden" — „alles wird", hieß es fast zu Anfang bei Heraklit (Frg. 1), „ist geworden, ist, wird sein" bei Parmenides (Frg. 8, 20) und Melissos (Frg. 1. 2) — „sind von N a t u r " : wir stehen mitten in der Physis-Spekulation der Vorsokratiker. Nun ist das Eigentümliche, daß hier nach der Meinung gewisser kluger Leute die „Natur" mit dem „Zufall" und zugleich mit der „Notwendigkeit" zusammengestellt wird, — es ist also die blinde Willkür-Notwendigkeit wie im Timaios (48 A), nicht etwa das Naturgesetz —, während auf die Gegenseite die „Techne", das zweckvolle Hervorbringen des Künstlers oder Handwerkers tritt 9 1 ). Die „Natur" ist danach von „Kunst" ganz ent-
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leert und ebenso von „Geist" und von „Gott". „Kunst" ist der Natur gegenüber eine nachträgliche, menschliche und geringfügige Angelegenheit. Zur Kunst gehört auch Gesetz und Sitte. Und schließlich sind selbst die Götter ein Erzeugnis der Kunst und Vereinbarung. Jetzt ist man weit genug, um den alten sophistischen Gegensatz — der im Gorgias bekämpft wurde — zwischen dem Naturrecht und dem Recht der Konvention in seiner Tiefe zu erfassen: Natur meint hier das Vernunft-lose und Gott-lose, dem kein wahrhaft Vernunft-volles und Göttliches gegenübersteht (890 A). Die Entseelung und Entgöttlichung der Natur: das war — auf das Ganze gesehen — das Werk der alten Naturphilosophie (των ττερϊ φύσεως ζητημάτων 891 C) gewesen. Die sophistische Zersetzung menschlicher Norm war die letzte Folgerung daraus. Und nun ist es die Aufgabe, die Piaton sich hier setzt, wie es überhaupt seine Lebensaufgabe ist, diese Entwicklung nach Kräften rückgängig zu machen, d. h. Gesetz und Kunst wieder in die Natur zu gründen und damit die Natur neu zu vergeistigen (890 D). Der letzte Ursprung aller jener sinnlosen Meinung (ττηγή άνοήτου δόξης 891 C) ist, daß man das Wesen der „Seele" verkannt h a t : man hat sie aus den stofflichen Elementen nachträglich entstehen lassen, anstatt daß man in ihr das Allerursprünglichste, die Ursache von „Werden und Vergehen" erkannt hätte. Eine Analyse der „Bewegung" zeigt deren zehn Formen, darunter als höchste die, die sich selbst und alles Seiende wandelt und bewegt, der „Anfang" oder „Ursprung" aller Bewegung (895 AB). Das aber ist die „Seele" (895 E), und Seele ist damit das Uralt-Erhabenste von allem (των πάντων ττρεσβυτάτη 896 Β), und das Seelenhafte, also Geist, Kunst, Gesetz, ist „vor" dem Harten und dem Weichen. Seele ist Ursache von Schön und Häßlich, Gerecht und Ungerecht; Seele waltet auch im Kosmos, dessen Bewegung von verwandter Art ist „mit der Bewegung und dem Umschwung und den Berechnungen des Geistes" (897 C). Am Anfang des naturphilosophischen Forschens hatte der Satz des Thaies gestanden: „Alles ist voll von Göttern". Der Weg des Denkens war die Entgöttlichung, Entseelung, Entgeistung des Alls. Auch Anaxagoras hatte sie nicht aufheben können; ja es schien, als ob seine Entdeckung des Geistes, der die Natur beherrscht, nur dazu herhalten mußte, um desto grausamer die Sonne zum „feurigen Klumpen", die Sterne zu „Stein und
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Erde" zu entwürdigen (XII 967 BC, vgl. Apologie 26 D). Erst Piatons neues Seelenwissen vermag die alte Physiologie umzuschmelzen — wovon der Weltenmythos des Timaios das großartigste Zeugnis abgibt. Hier in den Gesetzen aber steht als Symbol dieses Sieges am Ende des letzten Kampfes wiederum der Satz des Thaies: „Alles ist voll von Göttern" (899 Β 9). Wir wiesen darauf hin, welche Homologie im allgemeinen zwischen dem Zehnten Buch der Gesetze und dem Kernstück der Politeia besteht. Jetzt ist noch der Punkt aufzuweisen, wo die Annäherung am größten ist. In der naturphilosophischen Betrachtungsweise, die am Problem der „Bewegung" sich vorantastet, steigt man zuhöchst empor zu der Frage, welches Wesen die „Bewegung des Geistes" habe (897 D). Die Frage ist schwer, heißt es sofort. Und gleich darauf noch schärfer: mit menschlichen Augen können wir den Geist überhaupt nicht zu Gesichte bekommen. Es ist vielmehr zu besorgen, daß wir wie beim Blick in die Sonne am hellen Mittage Nacht auf uns herabziehen. Darum ist es sicherer auf ein Abbild (είκών) zu sehen anstatt auf die Sache selbst, nach der die Frage ging. Man denkt sofort an die Mitte der Politeia: die Frage nach dem Guten-Vollkommenen wird, kaum daß sie gestellt ist, abgelenkt auf dessen Sprößling, von der Sonne auf das Sonnenhafte; im Höhlengleichnis steigt der Gefesselte zum Licht empor, aber er ist zuerst geblendet und muß sein Auge an Schatten und Abbilder (είδωλα) gewöhnen, dann an die Dinge selbst, an den Sternenhimmel und erst zuletzt an die Sonne. Die Sprache ist dort dialektisch und mythisch, hier in den Gesetzen naturphilosophisch, der Standpunkt also weniger hoch, der Umblick dafür breiter. Aber gezielt wird letztlich auf dasselbe. In der naturphilosophischen Sprache der Gesetze ist die Kugelbewegung des Kosmos Abbild der Bewegung des ewigen Geistes. Gemeinsam ist dem Geist und dem Kosmos, daß „in derselben Art und Weise und an demselben Platz und um dasselbe und auf dasselbe hin und nach e i n e m Gesetz und e i n e r Ordnung beide sich bewegen" 92 ). Sei hier nur kurz die Episode des Gesprächs gestreift, in der der 896E—899B Athener eine Mehrheit und für einen Augenblick eine Zweiheit von „Seele" anerkannt wissen will: wohltuende Seele und ihr gegenüber Seele, die das Übel in der Welt hervorbringt. Dieser selbe Gegensatz erweist sich als Gegensatz von Seelenkraft, die sich mit Vernunft paart und so alles zum Rechten lenkt, und
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Seelenkraft, die sich mit Unvernunft verbindet und damit Ursache aller Unordnung ist. Plutarch verweist in seiner Schrift Über die Weltseele im Timaios auf diese Stelle der Gesetze und gleicht kühn genug die Seele, die aller Unordnung Ursache ist, mit jener vielnamigen „Materie" des Timaios. Auch an den Mythos des Politikos erinnert Plutarch: an den Wechsel der Weltperioden, in denen der Gott das Steuer der Welt lenkt, und derer, in denen die Welt blindem Schicksal gehorcht. In der Tat klingt das Naturphilosophisch-Theologische jener Mythen an dieser Stelle der Gesetze auf, wo es Piatons Ziel ist, gegenüber den Vertretern der materialistischen Naturauffassung die kosmische Ordnung zu erweisen. Ob in diese Theologie von Kampf und Wechselherrschaft des Guten und des Bösen iranisches Gut eingeschmolzen ist, darüber streitet man bis heute 93 ). Von Zoroaster wußte Piaton schon, als er den Alkibiades schrieb (122 A), und gewiß hat er später noch viel dazu gelernt, als Eudoxos in der Akademie lehrte, und als ein Chaldäer ihr angehörte. Wie wenig oder gar nichts aber in dieser Theologie der Gesetze als wirklich fremdes Gut erweisbar ist, das lehrt schon der eben erwähnte Streit und lehrt das echt platonische Ziel in dieser Episode des Gesprächs: die göttliche Ordnung. 899D—905C Der z w e i t e K a m p f wird geführt gegen die These, daß die Götter sich um die menschlichen Dinge nicht kümmern. Sie stützt sich noch immer wie in der Rede des Adeimantos auf eine scheinbare Erfahrung: das Heil der Schlechten, das Unheil der Guten. Sie wird zuerst bekämpft mit der einfachen Erwägung, daß sie den Göttern einen Mangel zuschreibe. Dann aber steigt der Gedanke tiefer. Die Trennung von Natur und Kunst war ja im ersten Kampf gange überwunden worden. Der Gott ist der größte Künstler, der sich wie jeder gute Künstler um das Höchste wie um das Geringste bemüht. Der Kosmos ist ein Kunstwerk und damit ein einheitlicher Gestalt- und Sinnzusammenhang — ein Zusammenhang übrigens und eine Notwendigkeit, die den menschlichen Willen nicht aussondern einschließt. In diesem einheitlichen Zusammenhang, in welchem der Einzelne dem Ganzen und dessen selig vollkommenem Sein (εύδαίμωυ ούσία 903 C) dient, haben nun auch Lohn und Strafe ihren notwendigen Platz. Sie werden untergeordnet der großen Naturgesetzlichkeit des Wandels (μεταβολή)94). Das „Recht" ist es, das die Gleichen zu den Gleichen und die
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Ungleichen zu den Ungleichen führt. So erscheinen Lohn und Strafe im Diesseits oder Jenseits nicht mehr als ein Zufall oder ein Mythologem, sondern sie sind der Sonderfall eines allbeherrschenden Gesetzes. Hier wird ins Kosmische ausgeweitet, was schon im Kriton (53 D) und noch in den Gesetzen (728 B) mit dem Blick auf den menschlichen Bereich ausgesprochen wurde: daß der Schlechte zu Schlechten komme, und daß darin seine Strafe bestehe. Der d r i t t e K a m p f ist nach alledem einfach und kurz. Die These, 905C—907Β daß die Götter sich von den Verbrechern durch Geschenke bestechen lassen, schreibt ihnen ein Verhalten zu, das sie tief unter menschliche Herrscher stellen würde, da sie doch die höchsten Regenten sind, „die unerschütterlich des ganzen Himmels walten" βε). Noch ein letztes Mal fällt der Blick auf das Weltall als den ewigen Kampfplatz zwischen Gut und Schlecht, auf dem wir Menschen mitzukämpfen haben als Helfer der Götter — ein Zusammenhang, der auch im Timaios das Hereinragen der moralischen Welt in den Mythos von der Natur rechtfertigt (S. 353). Menschliches Unrecht ist ganz ebenso wie Krankheit oder Seuche eine kosmische Störung. Die jedem Ding gesetzte Grenze ist überschritten, Pleonexie ist der gemeinsame Name, gelte es Menschenseele oder Element, und so würde denn jene dritte These, gegen welche der letzte Kampf geht, besagen, daß die Hüter des Kosmos solche Störung der großen Ordnung nicht züchtigen, die verletzte Grenze nicht wiederherstellen wollen. „Gerades Recht aber ist es", so sagt der Kritias (106 B), „den Mißtönenden einzuordnen in die Harmonie" (τον ιτλημμελουντα Ιμμελη ττοιεϊν). Hat man diese Einordnung des Ethisch-Politischen in das Kosmische begriffen, die Piaton hier vollzieht, so wird man die Maßregeln einer strengen Inquisition, die er nunmehr in das Gesetzbuch aufnimmt (907 D ff.), wenn auch nicht billigen, so doch wenigstens begreifen. Es ist ein tiefernster, gewaltsamer Versuch, „dem Gott zu Hilfe zu kommen". Und wenn man davor erschrecken mag und soll, so wird man immerhin gut daran tun zu bedenken, daß Piaton für seinen Gesetzesstaat Verfügungen trifft, die er für Syrakus oder Athen so wenig angeordnet hätte wie den Sängerchor der Greise oder die kriegerische Ausbildung der Frauen. Undenkbar auch, daß ihm dort, wo er mit so erschreckender Genauigkeit die verschiedenen Formen der Asebie von einander
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abhebt und die entsprechenden Strafen verordnet, nicht der Asebieprozeß des Sokrates vor Augen gestanden hätte. Drei Gefängnisse will Piaton unterschieden sehen; das erste liegt in der Nähe des Marktes (908 A 1—2). Im Phaidon (59 D 3—4) lesen wir, daß das athenische Gerichtsgebäude in der Nähe des Gefängnisses steht. Das Gerichtsgebäude der Elf Männer aber stand am athenischen Staatsmarkt 9e ). Also aus seinem Athen hat Piaton die Einrichtung jenes ersten Gefängnisses in die kretische Phantasiegründung übernommen. Dabei konnte er wiederum nicht anders als an das Gefängnis denken, in dem sein Meister gefangen lag und starb; er konnte nicht seinen eigenen Phaidon vergessen haben, als er die Gesetze schrieb. Wie aber steht dann die Asebie-Gesetzgebung, die sein Athener hier für die kretische Gemeinde fordert, zu dem geschichtlichen Asebie-Prozeß gegen Sokrates ? Im Vten Buch der Gesetze (739 Äff.) läßt Piaton seinen Athener drei Verfassungen unterscheiden: die höchste ist die des vollkommenen Kommunismus — wenn nicht der namenlose Athener spräche, sondern Sokrates, so würde es heißen: die höchste Verfassung ist die, in der die Philosophen Herrscher sind. Die zweithöchste bauen wir hier in Worten auf; die dritthöchste werden wir diesem Bilde entsprechend auf Kreta gründen. Wo aber wäre Athen einzuordnen ? Gewiß tief unter diesem dritthöchsten Staate. In der vollkommensten Verfassung gibt es keine geschriebenen Gesetze. Am wenigsten kann es dort so etwas wie Asebie geben, wo die Einzelgötter der Überlieferung nur im Mythos genannt werden, und wo die philosophische Erkenntnis das höchste Sein in der Transzendenz sichtet. In Athen ist die Gesetzeshandhabung in Sachen der Asebie so wirr, daß eine Folge dieser höchsten Verwirrung der Justizmord an dem gerechtesten Manne ist. Vielleicht ist also Piatons Asebie-Gesetzgebung unter anderm auch darum so erschreckend, damit man sehe: in diesem kretischen Gesetzesstaat wäre ein Justizmord, wie Athen ihn an Sokrates beging, unmöglich. Und Sokrates, möchte man denken, würde auf Kreta einer der Gesetzeswächter sein oder ein Mitglied des frühmorgendlichen Rates.
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Die Gesetzeswächter und die frühmorgendliche Rats Versammlung
411 Buch
960 B—969 D
Die große Ankündigung in Buch I (oben S. 366) nennt am Schluß der Gesetzgebungsskizze die Wächter, die über den Gesetzen zu wachen haben (632 C). In ihnen soll sich der „Führer Geist" als höchstes Ziel und Zusammenhalt des Ganzen verkörpern. Sie sollen Gewähr leisten, daß alle Gesetze die Richtung nehmen auf Selbstzucht und Gerechtigkeit, nicht auf Reichtum und ehrgeiziges Streben. Das heißt also: die echte Rangordnung der Werte wird erst durch die Spitze des Ganzen verbürgt. So sind denn vom VI. Buch an, in dem zuerst die Beamten eingesetzt werden und dann die Gesetzgebung beginnt, eine Fülle von Hinweisen auf die Gesetzeswächter über das Ganze ausgestreut87): auf die Schwierigkeit ihrer Auswahl, ihre Verpflichtungen, ihre Amtsdauer, auf die Gelegenheiten, wo es ihnen zusteht, allein oder mit Priestern oder weltlichen Beamten Anordnungen zu treffen oder Strafen zu erteilen. Vieles wird ihnen überlassen, was die Gesetzgebung nicht festlegen kann. Aber man muß nach dem, was in Buch I über diese Wächter angedeutet worden ist, noch mehr als solche Fülle der Einzelheiten erwarten. Und wirklich, nachdem mit den Bestimmungen über Begräbnis und Totenehren das Gesetzgebungswerk sein organisches Ende erreicht hat (XII 960 Β 5), steht am Schluß des XII. Buches die Institution, die das „Unverkehrbare" aller jener Gesetze verbürgt (960 D 4-6). Doch wenn man genauer zusieht, so sind es gar nicht die „Gesetzeswächter", die diesen höchsten Rang innehaben, jene 37 Männer, deren schon zahlenmäßig seltsame Zusammensetzung (1 + 17 -f-19) einmal im VI. Buch (752 Ε f.) genau konstruiert worden war. Mag Piaton es ursprünglich so gewollt haben oder mag das eine Unebenheit der letzten Redaktion sein: noch über diesen Wächtern steht die „nächtliche Ratsversammlung", die in den Stunden zwischen Morgengrauen und Sonnenaufgang zusammentreten muß (951 D). Ihr gehören die 10 ältesten aus dem Kollegium der Gesetzeswächter und dazu noch eine Reihe anderer Männer, die die höchste Auszeichnung verdienen, und solcher, die um ernster Studien willen im Ausland gereist sind. Schließlich wird durch eine Anzahl jüngerer Männer in den Dreißigen für den Nachwuchs gesorgt.
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Es ist seltsam, aber gewiß kein Zufall, daß in diesem schließenden Abschnitt des Gesamtwerkes, nachdem das zusammenhängende Gesetzbuch den Raum vieler Seiten gefüllt hat, ein letztes Mal plötzlich die Rede sich dialogisch formt. Nur im Gespräch kann die Notwendigkeit dieser Institution aufgewiesen werden. Denn was die Ratsmitglieder lernen müssen, „kann man nicht leicht ausfinden noch sich von einem andern sagen lassen". Und wann und wie lange sie jedwedes lernen sollen, „darüber etwas in schriftlichen Verordnungen (έν γράμμασιν) niederzulegen, wäre vergebliche Mühe" (968 D). Man kann nicht verkennen, daß das alte platonische Ungenügen an der Starrheit des Geschriebenen nach so vielen Gesetzesbüchern am Schluß noch ein letztes Mal durchdringt ®8). Man darf auch nicht übersehen"), daß die „Gesetzeswächter" denselben Namen tragen wie die Wächter der Politeia, die ja auch vor allem „Gesetze zu hüten" haben (φυλάξαι νόμους VI 484 Β). Man denke an die Mitte des Hauptwerks, wo der Lehrgang der zum Herrschen Bestimmten vorgezeichnet, auch genau angegeben wird, wie viele Jahre sie bei jeder Beschäftigung zu verweilen haben (VII 539 Dff.). Was die Mitte der Politeia erfüllte, davon ist am Schluß der Gesetze ein Nachklang. Achten wir auf die führenden Gedankenmotive, die Piaton uns in diesem schließenden Dialogstück mit besonders oft wiederholten Stichworten einprägt. Der frühmorgendliche Rat, der „Anker" des Staatsschiffs, ist „Retter, Bewahrer" des Ganzen (σφζειν, σωτήρ, σωτηρία). Damit diese „Rettung, Bewahrung" gelingt, muß man „das Ziel, den Endzweck" (τέλος, τον σκοπών) zu Gesicht zu bekommen suchen. Nicht auf ein Vielerlei muß man zielen, sondern auf „Eines, das Eine" (£v, τό Iv) muß man suchend blicken. Das ethische Ziel ist eines; ausdrücklich wird hier (963 A) auf das Erste Buch zurückgegriffen (I 628 Cff.), so daß das ganze Gesetzeswerk von diesem Motiv umrahmt wird. Die vier Tugenden sind eins, nämlich Tugend. Auf „eine Idea" also muß man aus dem Bereich des Vielen und Ungleichen fähig sein das Auge zu richten (965 C 2). Das Schöne-und-Gute ist nicht Vieles, sondern ist Eines (966 A). Also das ist die „eine Idea", zuletzt identisch mit dem, was in der Mitte des Staates (VII 540 A) das Gute-Vollkommene heißt. So wird hier, gleichsam am äußersten Rande des Gesetzeswerkes, die Idee, die Transzendenz für eine
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kurze Weile gesichtet, während man sich sonst so gut wie ganz innerhalb der erfahrungsmäßigen Wirklichkeit und der alten athenischen und dorischen Frömmigkeit bewegt hatte 1 0 0 ). Es ist auch sehr bemerkenswert, wie dieser Blick auf die „eine Idea" hier gewonnen wird: man möchte sagen in der allereinfachsten Weise, indem Piaton zurückgreift auf die frühen Dialoge, den Protagoras und seinen Kreis und dann auf das IV. Buch des Staates, das Problem des Einen-im-Vielen, das Verhältnis der e i n e n Tugend zu den unterschiedenen Einzeltugenden, die, abgesehen davon, daß sie Tapferkeit und Gerechtigkeit und Besonnenheit und Einsicht sind, doch auch dies Eine sind, nämlich Tugend (965 Cff.). Was hier ontologisch-metaphysisch in starken Andeutungen eingeprägt wird mit unverkennbarem Rückblick auf die Mitte des Staates, das setzt sich ins Theologische fort mit dem ausgesprochenen Rück weis auf das X. Buch der Gesetze (966 C ff.). „Seele ist das Erhabenste und Göttlichste im Bereich des Seins und Werdens." (Die beiden Begriffe werden in einer für Piaton paradoxen Weise verknüpft, wie wir das „Werden zum Sein" aus dem Philebos (26 D), „des Werdens notwendiges Sein" aus dem Politikos (283 D) kennen.) „Geist" ist der Ordner des Weltalls. Und hier, wo das Göttliche in Seele und Weltall sichtbar wird, setzt für einen Augenblick der Kampf gegen die ein, die an Stelle ordnender Vernunft nur blinde Notwendigkeit sehen wollen, und der alte Zwist zwischen Philosophie und Dichtung wird vernehmbar, dessen wir uns aus dem letzten Buch des Staates erinnern. Ja, wie dort wörtliche Zitate aus dem Mimenbuch des Sophron umherzuschwirren scheinen (das Piaton der Tradition nach in Sizilien gekauft hat), so wäre es seltsam, wenn nicht auch hier der Vergleich der Philosophierenden mit den Hunden, die sinnloses Gebell von sich geben, aus demselben Sophron dem Piaton in der Erinnerung gehaftet hätte 1 0 1 ). Daß mit den „Philosophierenden" jene Anhänger eines mechanistischen Materialismus gemeint sind, und daß Piaton gegen sie und für die Dichtung Partei nimmt, muß man sich klar machen, damit man seine oft mißverstandene Haltung gegenüber der Poesie nicht verkenne! Wie der frühmorgendliche Rat nicht völlig in die Institution der Beamtenschaft und die Konstitution der Gesetze eingeordnet werden kann, sondern etwas jenseits ihrer ist, so geht die Aufgabe
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die den Räten hier zugewiesen wird, daß sie auf die „eine Idea" blicken müssen, über den geistigen Umkreis hinaus, der dem Spätwerk sonst eigen ist. Wir sahen vorher (S. 407), wie die Theologie des Zehnten Buches im allgemeinen an derselben Stelle steht, die in der Mitte des Staates der Aufstieg zum Reich der Ideen einnimmt. Diese Theologie, gegründet auf Sternen- und Seelenkunde, wird in die Hand der Gesetzeswächter gelegt (966 Β ff.). Aber einen Augenblick steigt über Seelen- und Sternenkunde die Suche nach der „einen Idea" auf. Um dieses hohe Ziel zu erreichen, ist eine strengere Schidung notwendig, als sie bisher, vor allem im Ersten und Zweiten Buch, umrissen worden ist. So knapp mit diesen Worten (964 D 4. 965 C 1) auf höhere Mathematik und Dialektik hingedeutet wird als die Wege zu dem höchsten Ziel, hier ist doch der Punkt, der gleichsam nachträglich dem ganzen ungeheuren Gesetzgebungswerk die Richtung weist, indem er es transzendiert. Das ist der Sinn der Institution — wobei das Institutionelle hier beiseite bleiben darf. Und es ist kein Zufall, daß am Schluß des Gesamtwerkes noch einmal das Höchste des platonischen Wirkens sich in der Form des Dialoges ausspricht, eines Dialoges, der für einen Augenblick sogar etwas wie echten Kampf enthält. Denn eben dort, wo der Athener auf die „eine Idea" hingewiesen hat, will der Kreter das so Gesichtete mit einem „Möglich!" (ίσως) in der Schwebe lassen. Dem Athener geht solche Ungewißheit gerade in diesem Moment so gegen den Strich, daß er scharf verbessert: „Nicht möglich, sondern wirklich (ούκ ίσως άλλ' όντως) gibt es keinen sichereren Forschungsweg für irgendeinen Menschen" (965 C). Wenn also nach so vielen Büchern zusammenhängender Gesetzgebung die „eine Idea" auftaucht, und wenn Piaton als Abschluß seines letzten Werkes ein Stück Dialog gibt, weil man von diesen Dingen nicht mehr „in festgelegter Schrift" handeln kann, so zeigen sich, wie leicht und leise auch immer, die alten Kämpfe und Überwindungen. Immer noch siegt der Sokrates in Piaton über den Solon in ihm, die starre Schrift wird zum Dialoge sublimiert, über das Gesetz aber erhebt sich die Idee.
RECHENSCHAFT ÜBER DIE ANORDNUNG Man darf sagen, daß das, was jahrzehntelang als „die platonische Frage" den Blick auf Piaton selbst fast verhüllte — wie die homerische Frage den Blick auf Homer —, uns heute nicht mehr befängt. Sowohl über die Echtheit der Schriften wie über die zeitliche Ordnung kann es aufs Große gesehen kaum noch erhebliche Meinungsverschiedenheiten geben. Wenn es demnach nicht mehr erlaubt ist, auf Grund einer angeblichen Entwicklung platonischer Lehren oder Denkformen die Dialoge immer wieder umzuordnen, so verdanken wir das den Leistungen der Sprachbeobachtung, die mit L. Campbell (1867) anfing. Er hat die Spätdialoge in eine Gruppe zusammengeordnet: Sophistes, Politikos, Timaios, Kritias, Philebos, Gesetze. Später haben Blass und Janell beobachtet, daß in eben diesen Dialogen der Hiat vermieden ist 1 ). Beide Beobachtungen gehören in eins zusammen. Denn gewisse typische Ausdrucksformeln hat Piaton in seiner Spätzeit eben darum gewählt und andere vermieden, weil er das Prinzip der Hiatvermeidung von Isokrates übernahm. Die Beobachtungen Campbells sind dann von Dittenberger, Schanz, Ritter, Lutoslawski, v. Arnim fortgesetzt und auf das Gesamtwerk Piatons ausgedehnt worden. Die letzte Strenge hat diesen Beobachtungen Arnims sprachstatistische Methode gegeben. Denn trotz mancher Einwände gegen sie bleibt es dabei: sie ist gerade darum so wertvoll, weil ihre Ergebnisse nicht neu sind, weil sie also das mit Notwendigkeit zu Erwartende wirklich leistet 2 ). Daß es der Arnimschen Formel gelungen ist, die Bücher des Staates — wohlgemerkt außer Buch I! —, die Bücher der Gesetze, die Gruppe Sophistes, Politikos, Philebos, die Gruppe der aporetischen Frühdialoge zusammenzubringen, sollte auch dem grundsätzlichen Gegner zu denken geben! Freilich gilt es nun sogleich, das so Errechnete nicht zum Dogma erstarren zu lassen. Das lineare Bild, in dem jeder Dialog seinen
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Zeitpunkt vor oder nach einem anderen hat, leidet unter der Armut an Dimensionen, da doch das platonische Gesamtwerk weit mehr wie ein Gestaltenkosmos vor uns steht. Innerhalb seiner nun treten dem Auge, das sich auf Form und Gehalt der Schriften gleichermaßen richtet, Gruppenverwandtschaften entgegen, und wenn dabei die Eigenart des Sehenden nicht auszuschalten ist, so ist das kein Einwand, wo wir uns vor einer geistesgeschichtlichen Aufgabe finden. Die jeweils verschiedene Festigkeit solcher Dialoggruppen wird zu bestimmen sein. Die Sprachstatistik kann von sich aus die großen Perioden des Schaffens nicht voneinander sondern, auf die niemand um der Deutlichkeit des Gesamtbildes willen wird verzichten wollen. Desto mehr wird immer wieder zu prüfen sein, wieviel die Gliederung in Perioden und in Gruppen dem Verständnis hilft, und wieweit sie ihm schadet. So -ward man die in diesem Buche gewagte Gruppierung der platonischen Werke in ihrem Wert nicht überschätzen dürfen, wird aber doch das eine zugeben müssen, daß sie wenigstens im Ansatz sinnvoller ist als der Verzicht auf jede Gruppenordnung überhaupt, sinnvoller also, als wenn man etwa die rein lineare Ordnung einfach übernähme3). Die Linie in einen Gestaltraum zu verwandeln, über dem Eidos des einzelnen Werkes das der Gruppe, über diesem das der Periode, über diesem das des Gesamtwerkes aufsteigen zu lassen: dieser Versuch muß gewagt werden. In der Mitte des gesamten Werkes steht der Staat. Es gibt wenige Schriften der früheren Zeit, die nicht in irgendeiner Weise in ihn münden, wenige der späteren, die nicht in ihm den Ursprung haben oder sich auf ihn zurückbeziehen. Den Anspruch, neben ihm zu stehen, können nur Symposion und Phaidon erheben, während etwa Gorgias und Menon durchaus als seine Vorbereiter deutlich sind. Symposion und Phaidon hingegen weisen neben dem Erkenntniswege des Hauptwerks die beiden anderen Wege, die zum Eidos führen: den Weg der Liebe und den Weg des Todes. So kommt in dieser Dreiheit der Symbolwert zu seinem Recht, welcher der Periodisierung erst ihren eigentlichen Wert gibt. Aus diesem Grunde haben wir auch den Theaitet zur dritten Periode gezogen, obgleich die Sprachstatistik ihn aufs engste mit der Politeia zusammenbringt4). Man wird sich schwer entschließen, eine Periodengrenze zwischen ihm und dem Paar Sophistes und
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Politikos einschneiden zu lassen, das doch im Personenbestande und nicht nur darin, den Theaitet fortsetzt. Auch seinem Wesen nach möchte dieser mehr zu Parmenides, Phaidros und dem übrigen Spätwerk gehören. Die ihm eigentümliche Spannung zwischen der aporetischen Gesamtbewegimg und der „Episode" vom Philosophen kehrt etwa im Phaidros wieder als Spannung zwischen Liebe und Rhetorik, im Parmenides als Spannung zwischen den Aporien des ersten und der Dialektik des zweiten Teiles, im Sophistes als Spannung zwischen den Diairesen und dem ontologischen Mittelstück. Solcher sprunghaften Bewegung gegenüber entfalten sich die Werke, die wir der mittleren Periode zurechnen, in genau geordneten Stufenfolgen. So wäre denn, wenn wirklich Theaitet und Staat „gleichzeitig" sind, ein Punkt deutlich, an dem die hier versuchte Periodisierung mehr systematischen als chronologischen Sinn hat. Die beiden Gruppen, in die wir das Spätwerk gliedern, sind durchaus systematisch, nicht chronologisch, gemeint. Es wäre möglich, daß Timaios und Kritias, da sie an die Politeia anknüpfen, dem Politikos vorausgehen. Das ist nicht zu wissen und ist auch unerheblich. Die Arbeit an den Gesetzen ging über viele Jahre, und man wird nicht glauben, daß Piaton vorher alle übrigen Werke abgeschlossen hatte. Nun zurück an den Anfang! Schon immer hat sich die Gruppe der aporetischen Definitionsdialoge herausgehoben. Die Sprachstatistik stimmt durchaus mit dem, was wir aus der Kunstform und der Problembewegung erschließen müssen. Die Begegnung, die Fragestellung, die Begriffsbestimmungen, der aporetische Schluß, die Spannung zwischen spitzigster Dialektik und blühendem Geschehen: das ist dieser Gruppe besonders eigen. Einen engeren Kreis wiederum bilden die vier Dialoge, die nach dem Wesen je einer Arete fragen: Laches, Thrasymachos, Charmides, Euihyphron. Es ist formal gesprochen das Problem des Einen-und-Vielen, das jeden einzelnen von ihnen und ihren Zusammenhang bestimmt. Man kann auch sagen: das Problem der Diairesis. Dieses Problem wirkt im Verborgenen, und nur weil sich Piaton über dessen Wesen im klaren ist, kann er mit so unfehlbarer Sicherheit jedes dieser Gespräche in die Aporie hineinsteuern. Innerhalb der Vierergruppe meint man eine Entfaltung zu spüren. Im Euthyphron tritt das Eidos F r i e d l ä n d e r , Piaton III
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ausdrücklicher hervor, während Piaton es in den drei andern noch zurückzuhalten scheint, um die Spannung nicht vorzeitig zu lösen. Daß der Lysis sich dieser Gruppe anschließt, beweist die Sprachstatistik ebenso wie der Blick auf die Gesamtform. Die Beziehung zum Symposion widerspricht dem nicht. Der Lysis stellt auf der Ebene der aporetischen Frühdialoge die Lebensmacht dar, die Piaton in der Mitte des Gesamtraumes zum Symposion, im Spätwerk zum Phaidros gestalten wird. Seiner Form und seiner Fragestellung nach gehört ferner der Große Hippias hierher. Die Sprachstatistik widerspricht. Es muß vorläufig dahingestellt bleiben, ob ein Glied der besprochenen Gruppe wirklich in die zweite Periode übergreift, ob hier die Statistik in die Irre führt oder wie sonst dieser Widerspruch zu lösen ist. Dem Protagoras haben wir schon in der Überschrift eine Sonderstellung innerhalb dieser Gruppe gegeben. Seine Verwandtschaft mit den aporetischen Arete-Dialogen ist ebenso deutlich, wie daß er jeden einzelnen von ihnen übergreift. Er schließt sie zusammen, indem er ein erstes System der „Tugenden" aufbaut, so wie der Staat im Vierten Buche einen ähnlichen Zusammenschluß erzielt. Der Protagoras leistet freilich noch viel mehr als nur dieses. Mit dem grundsätzlichen Kampf der Redeformen, mit dem Gegensatz von echter und falscher Erziehung klingt er dem Euthydem und dem Oorgias vor. Seine Fülle an Gestalten, Formen und Beziehungen kann je nachdem dazu führen, ihn vergleichsweise spät anzusetzen, indem man den Piaton von einfachsten Bildungen zu immer reicheren aufsteigen läßt, oder ihn an den Anfang zu stellen, wenn man den Piaton mit einem möglichst umfassenden und allseitigen Werk in die Literatur möchte eintreten sehen6). Die Sprachstatistik führt zu dem seltsamen Ergebnis, daß er nur mit dem Ion, aber sonst mit keinem anderen Dialog in naher Verwandtschaft steht. So setzt Arnim ihn ganz an den Anfang. Auch die Problementwicklung ist auf einer früheren Stufe als im Laches, und man müßte wenigstens zu zeigen versuchen, warum denn Piaton im Protagoras eher halt macht mit der Analyse der „Mannheit", wenn er den Laches schon geschrieben hatte. Aber bleibe dies unsicher, und bedeute die Stellung, die wir dem Protagoras geben, vor allem dies, daß er gegenüber den vier apore-
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tischen Arete-Dialogen die sie verbindende Einheit darstellt. Auch hier ist also unsere Anordnung eher systematisch als chronologisch gemeint. Gruppe Β ist zunächst mehr darum gebildet worden, um Gruppe A klar herauszustellen. Aber dann erwies sich, daß eine echte Gemeinschaft sie zusammenhält. Der Hipparch läßt durch die Existenz des „Gewinnhebenden" die des „Erkenntnisliebenden" hindurchscheinen. Der Ion spannt den Gegensatz des Dichters und des Philosophen, der Kleine Hippias an dem Gegensatz von Täuschung und Wahrheit den des Sophisten und des Philosophen. Der Theages gibt einen Blick auf die dämongesetzte Grenze des hebenden Erziehens. So unbeschwert durch Sonderprobleme wird die Existenz des Philosophen, des Dichters, des Sophisten sonst nirgends ergriffen wie in dieser Gruppe B. Über das zeitliche Verhältnis beider Gruppen ist durch ihre Sonderung voneinander nichts ausgesagt. Wenn der Hipparch von Piatons Hand ist — und es gibt keinen Beweis dagegen — , so ist er gewiß eine seiner frühesten Schriften. Den Ion pflegt man auch so zu beurteilen, und die Sprachstatistik stimmt wenigstens nicht dagegen. Der Kleine Hippias kommt bei Arnim an einen unerwartet späten Platz. Das mag also fraglich bleiben. Beim Theages machen wir uns auf den Widerspruch derer gefaßt, die ihn für unplatonisch halten, weil er ihnen unheimlich ist. Von den Werken der mittleren Periode klingt die Politeia in vielen Dialogen der Frühzeit vor, der Liebesweg des Symposion im Lysis. Aber auch der Todesweg des Phaidon fehlt auf der Frühstufe nicht. Denn so wenig in der Apologie das Agathon schon ausdrücklich wird, so kann doch der am Werk der Reife geschulte Blick seine Nähe nicht übersehen. Genauere zeitliche Einordnung der Apologie will nicht gelingen. Die Einheit der Tugenden, die immer wieder in ihr anklingt, ist beherrschendes Thema vom Protagoras und den aporetischen Definitionsdialogen bis in die Politeia hinein. Irgendwo auf dieser Zeitlinie muß die Apologie anzusiedeln sein, vielleicht nach dem Euthyphron·, denn der Euthyphron richtet den Blick auf den Prozeß, dem die Apologie ganz gewidmet ist — oder gewidmet zu sein scheint — , und der Euthyphron klärt das Wesen der Frömmigkeit durch das, was sie n i c h t ist, während in der Apologie dieselbe Frömmigkeit als die Mitte der sokratischen Areta sichtbar wird. So möchte der immer 27·
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wieder auftauchende Wunsch, in der Apologie Piatons erstes Werk sehen zu dürfen, geringe Aussicht auf Erfüllung haben. Aber wenn wir so die Apologie irgendwo zwischen Euthyphron und Gorgias vermuten, so sei doch noch einmal betont, daß ihre Einordnung in die Gruppe C weit mehr typologisch als chronologisch gemeint ist. Die Apologie steht im platonischen Werk zuerst so allein wie der Moment, den sie darstellt, im sokratischen Leben. Und doch ist sie nicht ohne Verwandte. Denn auch den Menexenos füllt fast ganz eine Rede des Sokrates, vor deren Masse der umgebende Dialog zu beinahe nichts wird. Daß Sokrates sich der ihm fremden, ja feindlichen Redeform bedient, das schließt die beiden Werke zur Gruppe zusammen, in der sie freilich sogleich gegensätzliche Pole bilden. Denn in der Apologie stellt sich der Philosoph mit einer Unmittelbarkeit selbst dar wie nirgends sonst, während er sich im Menexenos versteckt wie kaum sonst wieder. Zur Apologie gehört der Kriton. Auch wenn man sich lange bemüht, von dieser altüberlieferten Zusammenstellung loszukommen, wird man sich immer wieder auf sie zurückgeführt finden. Hat man aber die Apologie als Selbstdarstellung des Philosophen, den Menexenos als dessen Verkleidung in ihrer -rrccMv-rovos άρμονίη erfaßt und den Kriton zur Apologie gesellt, so wird man sich vielleicht auch nicht weigern, dieserGruppe den Euthydem und den Kratylos zuzurechnen. Auch hier versteckt sich Sokrates, wenngleich nur auf Strecken, hinter einer ihm im Tiefsten fremden Denkform: im Kratylos der Etymologie, im Euthydem der Eristik. Und durch die beiden unsokratischen Denkformen leuchtet echt Philosophisches hindurch wie im Menexenos und vollends in der Apologie durch die Sokrates-fremde Form der öffentlichen Rede. Euthydem und Kratylos lüften in überlegenem Spiel immer wieder für Augenblicke den Schleier von dem verhüllten Bilde und lassen durch alle Eristik und Etymologie hindurch sehr viel mehr von dem Ziel des Philosophen ahnen als irgendeine Schrift der Gruppe Α und B. Der Gorgias gehört einer neuen Stufe an. Denn daß hier ein erstes Mal „der Logos zum Stehen kommt", unterscheidet diese Schrift von allen, die wir ihr vorangesetzt haben. Das ist es auch, was — von aller Sprachstatistik noch abgesehen — verbietet, ihr selbst dramatisch so reiche Werke wie Protagoras und Euthydem
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nachfolgen zu lassen. Der Gorgias übernimmt aus dem Protagoras den Kampf gegen die Rhetorik, aus dem Thrasymachos den Kampf gegen die Ungerechtigkeit. Er radikalisiert beide Kämpfe, indem er Sophistik und Ungerechtigkeit, Sokratik und Gerechtigkeit verschmilzt. Und die Kräfte der Gründung sind nun so stark, daß sie sich nicht mehr in Kampf und Kritik erschöpfen, sondern daß nach der Überwindung der Gegenmacht das Neue gezeigt wird und zuletzt im Mythos das Siegel des wahren Seins empfängt. Die Verschiedenheit gegenüber allem Früheren ist so stark, daß nichts dagegen einzuwenden wäre, wenn man die Gruppe D als eine besondere Periode den drei ersten Gruppen folgen lassen wollte, so wie wir früher in dem Kapitel über Piatons Mythen (Band I Kapitel IX) den Mythos des Protagoras und des Gorgias zwei verschiedenen Perioden zugeordnet haben. Ob man so oder so verfährt, ist nicht sehr erheblich. Indem hier die Gruppe D als die letzte und höchste der ersten Hauptperiode eingeordnet wird, scheint deren Richtungssinn am deutlichsten sichtbar zu werden. Der Große Alkibiades erwächst aus der Gruppe der elenktischen Gespräche, aber er wächst zugleich über sie hinaus. Denn das Wesen des Menschen als eines Erkennenden und das Wesen des Staates in seiner schwer zu fassenden Einheit gegensätzlicher Strebungen wird in ihm gesichtet. Wie der Kampf zwischen Sokrates und Alkibiades das noch eingefaltet enthält, was später im Kampf mit Gorgias, Polos und Kalükles auseinandertritt, so bildet der Dialog die Vorstufe zum Gorgias, und in noch weiterer Ferne taucht der Staat auf, der das im Alkibiades Angedeutete vollendet. So scheint dieser in glücklichster Weise die Lücke zu schließen, die ohne ihn zwischen dem Gorgias und den früheren Werken klaffen müßte. Daß der Menon zum Gorgias gehört, lehrt die Sprachstatistik und ist auch sonst oft verspürt worden. Durch die Frage, ob die Staatsmänner erziehen können, und durch den Jenseitsmythos sind beide Dialoge verbunden. In der neuen Färbung, die das Urteil über die großen Staatsmänner Athens im Menon empfängt, erblickt man doch wohl mit Recht eine Rückbeziehung auf den Gorgias. Wie der Alkibiades die Aporetik der Frühstufe aufnimmt und ins Positive wendet, so sieht der erste Teil des Menon geradezu wie ein aporetischer Definitionsdialog der ersten Gruppe
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aus. Aus dem Protagoras wächst in den Menon hinein die Frage, „ob Tugend lehrbar ist", und damit die Frage nach dem Zusammenhang von Lehrbarkeit und Erkenntnis. Der Euthydem hatte den Gegensatz von auflösender Eristik und wahrer Dialektik ins Bild geformt mit jener ironischen Wendung, daß scheinbar die Eristik den Sieg behielt, und hatte die echte Erkenntnis als königliche Kunst sichtbar werden lassen, deren Wesen sich dann freilich in der Aporie verlor. Der Menon überwindet diese Aporie, indem die Transzendenz des Erkennens im mythischen Bilde erscheint, und er überwindet das eleatisch-eristische Gegenüber von Wissen und Nichtwissen, indem die Doxa sich zwischen diese Pole fügt. Alkibiades und Menon überwinden also beide die Aporetik der früheren Gruppen, indem sie sie aufnehmen und verwandeln, der Menon freilich in viel größeren und entschlosseneren Maßen. Noch einmal und aufs kühnste wird später im Theaitetos ein aporetischer Dialog dreistufig hingebaut und durch den „Exkurs" vom Philosophen, der der ersten Stufe eingefügt wird, im Tiefsten verwandelt. Betrachten wir noch einmal die vier Gruppen Α bis D in ihrem gegenseitigen Verhältnis, so wird man sagen dürfen: Gruppe A und Β können etwa gleichzeitig sein. Sehr möglich aber, daß Β im Hipparch und Ion die frühesten Schriften Piatons enthält. Gruppe C greift über die Spätgrenze von Α und Β mit dem Menexenos, der auf' etwa 386 datiert ist, wahrscheinlich stark hinaus, während Apologie und Kriton wie sachlich so doch wahrscheinlich auch zeitlich in die Nähe des Euthyphron gehören, der als aporetischer Definitionsdialog in die Gruppe Α einzureihen ist. Gruppe D wird mindestens mit Gorgias und Menon später sein als fast alle Schriften der Gruppen Α, Β und C. Eine absolute Chronologie der Schriften wird hier nicht versucht. Denn keine noch so entschieden ausgesprochene Meinung kann darüber hinwegtäuschen, daß wir nicht wissen, wann Piaton zu schreiben anfing, und ob seine Reisen irgend welche Einschnitte in seiner Produktion bedeuten. Bekannt ist die Anekdote, wie Sokrates Piatons Lysis liest und über die Erfinderei des jungen Mannes den Kopf schüttelt6). Das Altertum teilte also die heut weithin geltende Meinung nicht, daß Piaton erst nach dem Tode des Meisters sokratische Dialoge zu schreiben angefangen habe. Wilamowitz hat diese These um
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den Preis durchbrochen, daß er den Ion, den Kleinen Hippias, den Protagoras als reine Satiren von den Schriften mit philosophischem Gehalt abtrennte. Nur so glaubte er mit diesen Dialogen über 399 hinaufgehen zu können. Daß solche Absonderung unmöglich ist, hat unsere Interpretation gezeigt. Mag es also für viele etwas Befriedigendes haben, Piatons Schaffen in der neuen Dialogform erst nach dem Tode des Sokrates beginnen zu lassen7); daß es wirklich so gewesen ist, läßt sich nicht erweisen. Tür das Gegenteil sprechen außer der antiken Anekdote folgende Erwägungen. Daß der Kleine Hippias vor 399 datiert werden müsse, hat Wilamowitz 8 ) so begründet: kein Sokratiker konnte nach 399 den Sokrates, wenn auch unter noch so durchsichtiger Hülle, die Unsittlichkeit vertreten lassen, wie es im Kleinen Hippias geschieht. Mit einer zweiten Erwägung, die in dieselbe Richtung weist, sei diese „Rechenschaft" abgeschlossen. Billigt man die hier befolgte Anordnung der Frühdialoge wenigstens im allgemeinen, so stehen die Werke, die durch den Tod des Sokrates sichtlich bestimmt sind, keineswegs am Anfang 9 ). Es ist aber schwer, auszudenken, wie Piaton dazu gekommen sein könnte, nach 399 mit Dialogen wie Ion, Laches, Charmides zu beginnen, um sich erst später mit Euthyphron, Apologie, Kriton, Oorgias dem Tode des Meisters zu nähern. Sinnvoller scheint alles zu werden, wenn wir mit den ersten Schriften noch in das Ende des 5. Jahrhunderts hinaufgehen. Dann würde das Jahr 399 — auf das Werden nicht der Form, sondern des Lebensgefühls gesehen — den großen Einschnitt bedeuten. So verstünde man eher, warum auch auf die Dialogdichtung Piatons das Wort des Aristoteles zutrifft: άττεσεμνύνθη.
ANMERKUNGEN
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Abgekürzte Zitate
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Abgekürzte Zitate
429
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430
Abgekürzte Zitate
Ueberweg = Friedrich Ueberweg, Untersuchungen über die Echtheit und Zeitfolge Platonischer Schriften (Wien 1861). Ueberweg-Praechter = Friedrich Ueberweg und Karl Praechter, Grundriß der Geschichte der Philosophie. I. Altertum12 (Berlin 1926). Vorsokr. = Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. 6. Auflage herausgegeben von Walther Kranz (Berlin 1951—52). Vorländer-Metzke = Karl Vorländer, Geschichte der Philosophie9. Band I, neu bearbeitet von Erwin Metzke (Hamburg 1949). Wilamowitz = Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Piaton I , I I (Berlin 1919. 2 1920). Zeller Π 1 = Eduard Zeller, Die Philosophie der Griechen Π l 4 (Leipzig 1889). Π l 5 (1922).
ANMERKUNGEN ZU KAPITEL 20: SYMPOSION Seite 1—28 *) N e u e r e A u s g a b e n u n d Ü b e r s e t z u n g e n : Hug-Schöne, Leipzig 1909; Kurt Hildebrandt, Ph. B. 81,1919; Otto Apelt, Ph. B. 81, 1926; R. G. Bury, Cambridge 1932; Johannes Sykutris, Athen 1934; Juan David Garcia Bacca, Mexico 1944; Guido Calogero2, Bari 1946; M. Meunier, Paris 1947; Leon Robin 4 , Piaton Bud6 IV 2, Paris 1949; Edgar Salin, Basel 1952. I n t e r p r e t a t i o n e n : J . Hirschberger, Wert und Wissen im platonischen Symposion, Philos. Jahrb. der Görresgesellschaft XLVI (1933) 201 ff.; Gerhard Krüger, Einsicht und Leidenschaft (Frankfurt 1939); Jaeger Π 244ff.; Ernst Hoffmann, Über Piatons Symposion, Heidelberg 1947; Hermann Koller, Sie Komposition des Platonischen Symposions (Zürich 1948) mit vielen seltsamen Konstruktionen; Gauss II/2, 81 ff.; Geffcken 95ff.; Lesky493f. — B i b l i o g r a p h i e : Shorey 542ff.; Leisegang 2441 ff.; Geffcken, Anm. 82; Sykutris a. 0 . 252ff.; Gigon 13. 17; Rosenmeyer 189f. 2
) Bruns 328 ff.
3
) Bury, op. cit. p. XXIf., findet darin, daß nur eine Auswahl der Reden gegeben wird, 1. ein literarisches Mittel, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, 2. möglicherweise eine Beziehung auf „another author". Das erste Argument ist nicht falsch, doch nicht ganz zureichend. Das zweite ist das verbreitete Verfahren, auf ein X außerhalb zu beziehen, was man aus der Sache selbst nicht erklären kann. *) Der Bericht, den Apollodor gibt, ist um das Jahr 400 zu datieren: HugSchöne, Einleitung § 7; Bury p. LXV; Robin p. XXff.; Leisegang 2441. 5 ) Die Nebenüberlieferung μανικό; statt μαλακός steht in den meisten Ausgaben. Richtig Robin. άεΐ τοιούτος εΐ bezieht sich nicht auf den Beinamen, sondern auf das was folgt, μαλακός als Beiname war vielleicht nicht ganz selten. So hieß auch Apollonios von Alabanda: P-W I I 140. Robin verweist mit gutem Grunde auf Phaidon 59 AB, wo Apollodor zwar nicht μαλακός heißt, aber seine Charakteristik zu jenem Beinamen paßt. — Seltsamerweise nennt Wilamowitz Π 356 das Vorgespräch eine „Widmung an Apollodor".
«) Vgl. L. v. Sybel, Piatons Symposion (Marburg 1888) 115. ') Ähnlich gliedert die Änderung der Körperlage zu Beginn des Protagoras (310 C. 311 A) und des Phaidon (60 B. 61 CD) ein Gesprächsstück ab. Vgl. Olympiodori in Piatonis Phaedonem Commentarii ed. Norvin (Leipzig 1913) p. 7,12. Die Tischordnung wird anschaulich in der Zeichnung bei Sykutris 31. 8
) Friedländer-Hoffleit, Epigrammata (Berkeley, Los Angeles 1948) 108f. ΓΤοηαλομήχαν' "Ερως klingt in der Diotima-Rede (203 D) an: "Ερως άεί Tiuas πλέκω ν μηχαυάς. Vgl. Wilamowitz, Glaube der Hellenen I I 180ff.; W. Kranz, Platonica, Philologus 102, 1958, 81.
432
Anmerkungen zu Kapitel 20
·) Die Interpreten pflegen nach der einen oder der anderen Seite Partei zu nehmen. Im ersten Sinne interpretieren ζ. B. Hug, Wilamowitz, im zweiten L. v. Sybel, Nietzsche (Philologica ΙΠ, Leipzig 1913, 261), Hüdebrandt. Die zweite Art ist fruchtbarer als die erste. Im Sinne Piatons erscheint mir keine von beiden. In der Richtung unserer Interpretation: vieles bei Robin, Stenzel, Krüger. Man lese auch die schöne Darstellung von Reinhardt 53 ff. 10 ) Band I 2 171 f. Reinhardt 63. Vgl. die Kritik von de Yries 275f. u)
Vgl. Wilamowitz I 362. — Das Ordnungsschema stammt ursprünglich aus dem Götterhymnus (man denke an das Proömium der Theogonie). Rednerisch begegnet es in Isokrates' Busiris und Helene. In der Theorie lebt es bei dem Rhetor Menander fort (Spengel, Rhetores ΠΙ 333), der sich allerdings eben auf das Symposion beruft. 12 )
Jachmann 304 will in der Nachfolge Badhams von diesem begründenden — und wieviel begründenden! — Satz nur die Worte θειότερον γάρ im Texte belassen. 13) Daß Xenophon, Symposion 8, 32 mit wörtlichem Anklang dem Piaton folgt, ist doch wohl die einfache und richtige Erklärung, so sehr man zugeben mag, daß das Motiv bei Piaton nicht zum erstenmal begegnet. Dies zu Francois Lasserre, Museum Helveticum I, 1944, 174. Dort ältere Literatur. 14 )
Das Οττεροατοθνήσκειν wird ja von Sokrates selbst aufgenommen: 207 B.
15 ) Der doppelte Eros hat sein Vorbild wohl nicht bei Euripides (Hug, Wilamowitz 1362 = I 2 365), der von den δίδυμα τόξα oder den δισσά πνεύματα des einen Eros spricht und damit auf den Erfolg, nicht auf das Wesen zielt. Eher wäre an die doppelte Eris des Hesiod zu denken, die den Piaton dazu geführt hätte, zwei Kultnamen der Aphrodite als gegensätzliche Formen ihres Wesens und damit des Eros zu begreifen. 18 )
Friedemann 52.
17 )
διά βίου μένει άτε μονίμω συντακείς. Einige Übersetzungen seien zitiert: Schleiermacher: „bleibt zeitlebens, denn mit dem Bleibenden hat er sich verschmolzen". Boll: „bleibt sein Leben lang treu, weil er sich mit etwas Dauerndem verbunden hat". Hildebrandt: „beharrt sein lebelang, weil er mit dem Beständigen verbunden ist". Salin: „bleibt er zeitlebens, da mit Bleibendem verschmolzen". Jowett: „the love . . . is life-long, for it becomes one with the everlasting". Calogero: „riman tale per tutta la vita, come congiunto e saldato a una realtä che non muta". Robin: „est, pour la vie, constant dans son amour: c'est en effet avec quelque chose de constant qu'il se fond". Garcia Bacca: „es firme de por vida, puesto que se fundiö en uno con lo firme". Sykutris: σταθερός μένει έττΐ ζωής, συγχωνευμένος δττως είναι ·μέ κάτι σταθερών. 18 )
Vgl. D. Gr. Α. I 38 f. Π 26 f.
Anmerkungen zu Kapitel 20
433
19 ) Ohne die „Päderastie" ist in der Tat weder griechische Gymnastik, Körperschönheit, pindarische Dichtung, Plastik, Nationalgefühl, Mythos, Religion zu begreifen, noch die griechische Philosophie. Von moderner Literatur sei nur Weniges hier zitiert: Grote I I 206ff.; Erich Bethe, Die griechische Knabenliebe, Rhein. Mus. 62, 1907, 438ff.; Shorey 544. 20 ) So möchte ich auch 182 Ε άλλ' ότιοΰν διώκων καΐ βουλόμενος διοπτράξασθαι ττλήν τοΟτο φιλοσοφίας (trotz Vahlen, Ges. philol. Sehr. I 389) für richtige Überlieferung halten, freilich nicht φιλοσοφίας (mit Schöne) als appositiven Akkusativ zu τοΟτο ziehen, sondern „diesen Bezirk geistigen Strebens" verstehen, womit die edle Knabenliebe bezeichnet wäre. Robin setzt ein Komma zwischen τοϋτο und φιλοσοφίας und zieht φιλοσοφίας zu όνείδη. Aber das müßte doch wohl, um nicht mißverständlich zu sein, παρά φιλοσοφίας heißen. 21
) Vgl. Ludwig Edelstein, The Role of Eryximachus . . . , Transactions American Philological Association LXXVI, 1945, 85ff. W. Kranz, Platonica, Philologus 102, 1958, 74ff. 22
) Die überscharfe Disposition begegnet in manchen Schriften des Hippokratischen Corpus, z.B. in Περί των έν κεφαλή τρωμάτων. 23
) Vgl. besonders Symp. 187 CD mit Staat EU 403 A—C und Tim. 47 DE.
24
) Vgl. Friedemann 58.
25
) έπαινεϊν μέν οΰν δει ιτάντας Θεούς 180 Ε gegenüber καΐ τό έρδυ καΐ ό "Ερως ού ττας Ιση καλός ούδέ άξιος έγκωμιάζεσθαι 181 Α. Da Piaton έπαινος und έγκώμιον hier überall ohne Bedeutungsunterschied gebraucht (anders als Aristoteles, Rhet. 19), so muß der Widerspruch anerkannt und nach seinem Grunde gefragt werden. —• Die mannigfachen Emendationsversuche siehe bei Robin. 26
) Vgl. Band I 2 189f. Robin p. LVIIff. Die Bedeutung des Empedokles für den Mythos ist vielleicht noch geringer als Bignone, Empedocle (Torino 1916) 579 sie einschätzt (der sich übrigens sehr vorsichtig ausdrückt: puö far pensare, mi pare possa recollegarsi). — Das Motiv der wegen ihres Hochmuts auseinandergeschnittenen Urmenschen hat seine Analogie (und vielleicht seinen Ursprung) in der Tiersage: Die Flunder hat ihren flachen Bauch bekommen, weil sie zur Strafe für ihren Hochmut von Gott auseinandergerissen wurde: Oskar Dähnhardt, Natursagen Π Ι 1 (Leipzig, Berlin 1910) 35. Was vielleicht Ursprung des Aristophanes-Mythos war, klingt nach als Vergleich: άτε τετμημένος ώσττερ αϊ ψήτται 191 D 4. 27
) Man kann für manche Stileigenheiten etwa an den Mythos im Protagoras (320 Cff.) erinnern, zu dem man Norden, Agnostos Theos 368 vergleiche. — Die in dieser Rede besonders zahlreichen Athetesen, wie sie etwa in den Ausgaben von Schanz und von Hug angenommen werden, beruhen meist auf der Verkennung des wiederholungsreichen Stils. 28
) Aristoteles Politik Π 4, 1262 b 11. F r i e d l ä n d e r , Piaton III
28
434
Anmerkungen zu Kapitel 20
29 ) Daß mit Agathons Rede ein neuer Akt beginne, ist die Ansicht L. v. Sybels, Piatons Symposion 21. Ebenso Friedemann 55, der mit Aristophanes „die drei höheren Reden das große Spiel beginnen" läßt. Garcia Bacca faßt die vier ersten Reden als Teil I, die des Agathon und Sokrates als Teil I I zusammen. Piaton hat gewiß Agathons Rede so geformt, daß Sokrates an sie die seinige anfügen kann. Aber darum gehört doch Agathon mit seinen Vorrednern auf die gleiche Ebene, während wie immer Sokrates eine neue ersteigt. — Was über die Anordnung der fünf ersten Reden geäußert worden war, rezensiert Bury p. L U I f . und lehnt sowohl die Ansicht einer nach der Wichtigkeit aufsteigenden Linie (so z.B. Susemihl) ab wie die einer Gruppierung nach Paaren (so Reinhardt 55). Vgl. Calogero 11 ff.; Robin XXXVI. L X X f f .
) Grausamen Spott sieht in der Zeichnung des Agathon Wilamowitz I 358 = I 2 360. Auf der andern Seite nehmen Friedemann 56 und Hildebrandt 11 den Agathon viel zu feierlich, nämlich so feierlich, wie er selbst sich nimmt. Vgl. Robin L X V ff.; Krüger 80f. 80
31 ) Zu Diotima s. Band I2 157ff., 342 Anm. 13. W. Kranz, Platonica, Philologus 102, 1958, 74ff. — Robin Χ Χ Π sagt über Diotima viel Richtiges aber überschätzt das Gesellschaftliche: „ . . . c'enserait fini de la cordjalite du banquet.. . sans manquer ä la courtoisie . . . " Ahnlich F. M. Cornford, The Unwritten Philosophy (1950) 71: „By a masterpiece of delicate courtesy . . . " 82 ) Calogero a. 0 . : „Tutti gli altri μεταξύ sono posizioni statiche, inter mediari; l'eros έ funzione dinamica, mediazione." Wenn Krüger 152 formuliert, Diotimas Lehre „habe den Sinn einer Entgötterung der Welt", so möchte man das Gegenteil für richtig halten. 33
) Vgl. Band I 2 190f.
) 208 Β 3 haben die Ausgaben meist Creuzers Konjektur άδύνατον (statt άθάνατον) aufgenommen. P. Maas, Textkritik, Einl. in die Altertumsw. I 2 (1927), 16, nennt die Stelle als Beispiel einer alten Korruptel und einer evidenten Besserung. Beides ist ein Irrtum, άδύνατον gibt zwar rhetorisch einen stark wirksamen Abschluß, ist aber philosophisch völlig leer, während άθάνατον noch einmal — paradox — auf den Untergrund der ganzen Erörterung durchgreift, nämlich auf das άεΐ είναι (207 Β 8): „das Unsterbliche freilich hat an dem Immer-sein auf ganz andere Weise teil, nicht indem es danach strebt, sondern indem es immer i s t . " — Auch die von F. A. Wolf herangezogene Stelle des Aristoteles De anima Π 4, 415 a 29 sqq. kommt immer wieder auf das άεΐ δ ν zurück: ίνα του άεΐ καΐ του θείου μετέχωσιν . . . έκείνου ορέγεται.. . έκείνου ενεκα πράττει. . . τοΰ άεΐ καΐ τοΰ Θείου.. . ταύτό και ε ν . . . Robin hat im Text richtig άθάνατον, im Kommentar schwankt er zwischen beiden Möglichkeiten. Für die Änderung ζ. B. auch Bickel, Rhein. Mus. 92, 1944, 148; G. Müller, Studien zu den piaton. Nomoi (1951) 172 („wunderbareKonjektur Creuzers"); dagegen: R.Hackforth, Plato's Phaedo (Cambridge 1955) 21. 34
Anmerkungen zu Kapitel 21
435
3S
) 209 C 5 ist πολύ μείζω κοινωνίαν τη ζ των παίδων richtig; παίδων ist nicht mit Marianne Koffka, Hermes 59, 478 (vgl. P. Maas a. 0.), durch γάμων zu ersetzen. Das was vorher die Seele κυεϊ ist φρόνηση und άρετή (209 A 3). Der έγκύμων strömt über von λόγοι περί αρετής (Β 8). Er zeigt das, α πάλαι έκύει (C 3), und τό γεννηθέν, das also auch άρετή sein muß, ziehen sie gemeinsam auf. Wenn jetzt die παίδων κοινωνία verglichen wird, so ist das durchaus ein scharfer Gegensatz zum Vorigen, um so mehr als es sich ja dort um mann-männliche, also kinderlose Verhältnisse handelt, γάμων zurückzuweisen genügt schon der Gedanke, daß es ja kinderlose Ehen gibt, daß aber eine Ehe geschlossen wird έπΐ παίδων άρότω. Also die κοινωνία παίδων steht der κοινωνία άρετης gegenüber. Daß das Wort παίδων, nachdem es einmal im eigentlichen Sinne gefallen ist, nun nachträglich im uneigentlichen wuchert, ist die Laxheit lebendiger Rede. Vgl. Euripides Phoin. 16 (Laios έξαιτεϊ) παίδων % οίκους άρσένων κοινωνίαν. Piaton Νόμοι 772 D els παίδων κοινωνίαν. Wilamowitz Π 359: [της των παίδων]. „Die eingeklammerten Worte sind unerträglich" ·— aber doch nur, weil Wilamowitz das vorhergehende τό γεννηθέν mit „ihre Kinder" übersetzt hat, statt es neutral und singularisch zu lassen. 86
) Undenkbar, daß Piaton mit den Worten ουκ οίδ' εϊ olos τ ' άν είης (201Α 2) „die Grenze des Sokratischen andeute". So Stenzel 225. Ähnlich F. M. Cornford, a. 0 . 1950, 75 und Krüger 175 f. Diotima spricht die Worte durch den Mund des platonischen Sokrates; sie sind der stärkste Ausdruck seiner Ironie, seines eigensten „Nichtwissens". Vgl. Band I 2 157ff. 37
) Stenzel 243 f. sieht treffend, wenn auch einseitig, den Alkibiades als Vertreter des Phthonos, der Eifersucht. 3S
) Vgl. Bury p. LX.
3β
) Vgl. Band Π 2 1 2 4 .
40
) Vgl. Shorey, Unity 82, Anm. 626.
ANMERKUNGEN ZU KAPITEL 21: PHAIDON Seite 29—54 *) N e u e r e A u s g a b e n u n d Ü b e r s e t z u n g e n : R. D. Archer-Hind 2 , London 1894; L6on Robin, Piaton Bude IV l 4 , Paris 1949; Otto Apelt 3 , Ph. B. 147, 1923; John Burnet, Oxford 1925; Franz Dirlmeier, München 1950; R. Hackforth, Cambridge 1955; R. S. Bluck, London 1955; Manara Valmigli 1 ', Bari 1956; Romano Guardini, Der Tod des Sokrates, Berlin o. J . — I n t e r p r e t a t i o n e n : Heinrich Barth, Die Seele in der Philosophie Piatons, Tübingen 1921; Shorey 169ff.; Robin, Pensee 337ff.; 349ff.; Gauss I I / l , 14ff. — B i b l i o g r a p h i e : Shorey 523ff.; Geffcken Anm. 87; Leisegang 243Iff.; Rosenmeyer 186f. 2
) Es ist bezeichnend, daß Bonitz 294 „sich mit Übergehung von allem, was auf die künstlerische Komposition des Dialoges sich bezieht, ausschließ28*
436
Anmerkungen zu Kapitel 21
lieh auf Vergegenwärtigung des lehrhaften Inhalts beschränkt". (Siehe aber dann doch Bonitz 313.) Anders wiederum Wilamowitz I 1 3 5 3 = I 2 356: „So eng alles sich berührt, es sind doch verschiedene Stoffe, die dieser Dialog unter sich und mit der Erzählung vom Tode des Sokrates vereinigt, und trotz aller Kunst dürfte die Verschmelzung nicht ganz gelungen sein. Aber . . . vielleicht sollte der Verstand nicht mäkeln". Ähnlich Shorey 169. Demgegenüber mit Recht Schleiermacher Π 3, 9: „Allein teils sieht wohl jeder, daß da« Mimische auch in keinem andern Gespräche . . . so ganz in den Gegenstand verwachsen und innig mit ihm eines ist als hier . . . " 3
) Burnet, Notes 1.
4 ) Frederick J . E. Woodbridge, The Son of Apollo (Boston, New York 1929); Karl Kerenyi, Unsterblichkeit und Apollonreligion, Zum Verständnis von Piatons Phaidon. Die Antike X, 1934, 46ff. 5 ) Vor allem Pythien I, V und VIII. Pythien V 65: Apollon δίδωσι Μοϊσαν οίς άν έθέλη, όπτόλεμον άγαγώυ i j ττρατπδας εϋνομίαν im Doppelsinn des νόμος. β ) Mythobiographie: Α. Westermann, ΒΙΟΓΡΑΦΟΙ, Braunschweig 1845, 383ff.
') Über die Doppeldeutigkeit von φρουρά (62 Β) als praeaidium und custodia siehe Burnet z.d. St., der Archer-Hinds gleichfalls doppeldeutige Übersetzung , ,in ward'' anführt und Belege für beide Deutungen sammelt. Vgl. auch Frank 29Iff. Hingegen wollen Hackforth, Bluck und Robin nur die Bedeutung custodia gelten lassen; so auch Vorsokr. I® 414. — Wahrscheinlich ist es so: φρουρά ist ursprünglich (a) vor allem militärisch (vgl. φρουρός, φρουρεΐυ) und meint den vorgeschobenen Posten, von dem aus jemand „Ausschau" hält. Eine solche militärische φρουρά kann zugleich auch (b) passivisch sein, wenn der Wachtposten von Feinden umringt wird (κύκλω φρουρούμενος ϋττό πάντων •πολεμίων Staat 579 Β). Im Sinne von (a) oder von (b) oder von beiden ist der Gebrauch des Wortes in der pythagoreischen Tradition: bei Cicero, Cato Maior 20, 73: vetatque Pythagoras iniussu imperatoris, id est dei, de praesidio et statiom vitae decedere; bei Philolaos, Vorsokr. 44 [32] Β 15: καΐ Φιλόλαος δέ ώσπερ Ιν φρουρςχ ττάντσ ύττό τοΟ θεοϋ ττεριειλήφθαι λέγων . . . „Gefängnis" paßt dort nicht eigentlich. Im Munde des Sokrates im Phaidon erhält der pythagoreische Satz eine neue Nuance (c): „Gefängnis". Dann gewinnt diese Umdeutung (c) die Oberhand in der Tradition, ohne daß die ursprünglichen Bedeutungen (a) und (b) verlorengehen. — Anders W. Kranz, Welt und Menschenleben im Gleichnis, in: Wirtschaft und Kultursysteme (Erlenbach-Zürich 1955) 175ff. — Wie hier drei Bedeutungen von φρουρά verschmelzen, so in dem pythagoreischen σώμα σημα die zwei Bedeutungen „Grabmal" und „Kennzeichen". Vgl. Wilamowitz Π 363. 8
) Vgl. Heidegger, Sein und Zeit 261: „Das fragliche Sein zum Tode kann offenbar nicht den Charakter des besorgenden Ausseins auf seine Verwirklichung haben . . . Damit entzöge sich das Dasein gerade den Boden für ein existierendes Sein zum Tode."
Anmerkungen zu Kapitel 21
437
8a)
Cicero Tuscul. Disput. I 30, 74: Tota enirn philosophorum vita, ut ait idem (Socrates), commeniatio mortis est. Eine lange Reihe spätantiker Zitate findet man in dem Kommentar des Johannes Davisius z. d. St. (ζ. B. Oxford 1805,67). — Montaigne, Essais 119: Que philosopher c'est apprendre k mourir. Hugo Friedrich, Montaigne (Bern 1949) 330: „ . . . in der Spätantike und im Mittelalter eine der Definitionen der Philosophie". e)
Daraus ergibt sich, daß Bonitz zu formalistisch gedacht hat, als er diesen ersten Beweisgang von den eigentlichen „Unsterblichkeitsbeweisen" vollkommen absonderte. Richtig demgegenüber (in gut Kantischer Formulierung) Zeller I I 1 4 825: „Der Unsterblichkeitsglaube wird zuerst als eine allgemeine Voraussetzung des philosophischen Strebens, ein Postulat des praktischen Bewußtseins aufgezeigt." Die drei Ebenen der Erörterung sind von Zeller ebenda antreffend bezeichnet. 10 )
Damit ergibt sich auch, daß die sehr naheliegende Kritik dieses Beweises (ζ. B. Wilamowitz I 1 329 = I a 332) nur seine Dogmatisierung treffen würde, nicht das was er im Sinne Piatons allenfalls bedeutet hat. So aufschlußreich es übrigens ist, wenn Wilamowitz in dem griechischen Worte ψυχή von Homer an das „Leben" aufweist, so viel das Denken auch hier der Sprache verdankt, so kann man doch die „Fehlschlüsse" Piatons nicht von dort aus verständlich machen. Von Fehlschlüssen darf überhaupt nicht in dem Sinne gesprochen werden, als täusche sich Piaton über die Tragkraft der Beweise, die er von Sokrates vorbringen läßt. Wie wenig das der Fall ist, zeigt eindringende Interpretation. u
) Vorsokr. 31 [21] Β 115.
12 )
Diese „assoziationspsychologischen" Entdeckungen Piatons sind es, die für Gomperz Π 356 vom Pkaidon schließlich übrigbleiben! 13 ) Über diese viel erörterte Stelle siehe Ross 22 ff. und Dorothy Tarrant, Plato Phaedo 74 A—Β, Journ. Hell. Stud. 77, 1957, 124ff. „Gleich" ist hier nicht nur im mathematischen Sinn gemeint. Zwei Steine oder Hölzer können gleich und ungleich erscheinen ζ. B. in Form, Struktur, Farbe. Ross denkt an die Wirkung der Perspektive. Das ist eine Möglichkeit unter vielen. — Warum Piaton mit dem Begriff „gleich" beginnt ? Ein Grund ist die Weite der damit bezeichneten Erfahrung, ein anderer die — scheinbare — Einfachheit. Daß Piaton es nötig findet, den Schritt zu dem αύτό τό ίσον über die Stufe der αύτά τά ίσα zu machen, ist in dem Relationscharakter von „Gleichheit" begründet. 14)
Bonitz 306 hat an sich recht, daß die beiden Beweisgänge als integrierende Hälften in einen einzigen Beweis zusammengefügt werden. Aber er hat nicht recht dies zu dogmatisieren, als wäre es Piaton mit dieser Zusammenfügung letzter Ernst. Die Worte, die auf άποδέδεικται 77 D folgen, zeigen das Gegenteil. 15)
66 D (τό σώμα) θόρυβον παρέχει καΐ ταραχή υ και έκττλήττει... 66 Ε αυτή τη ψυχή θεατέου αύτά τά πράγματα . καΐ τότε . . . ήμϊν εσται ού
438
Anmerkungen zu Kapitel 21
έτηθυμοΰμεν . . . φρονήσεως . . . — 79 CD (ή ψυχή) ελκεται ΰπό τοΰ σώματος... καΐ αυτή ττλανδται καΐ ταράττεται... όταν δέ γ ' αύτη καθ' αυτήν σκοττή . . . καΐ τοϋτο αυτής τό ττάθημα φρόνησις κέκληται. 16
) Die Frage, ob Piaton auf dieser Stufe drei Unsterblichkeitsbeweise gibt, oder ob die ersten beiden in einen zusammenzunehmen sind, oder ob alle drei nur einer sind, ist viel erörtert worden (Bonitz 303 ff. Vgl. Archer-Hind, Introduction § 2). Ich glaube, diesen Streit durch den Nachweis beigelegt zu haben, daß Pia ton in Wahrheit überhaupt keinen Unsterblichkeitsbeweis gibt, sondern zuerst zwei Hälften, die sich doch nicht ernsthaft zu einer Einheit verbinden lassen, dann einen Näherungsbeweis, der doch nicht ernsthaft als ein Beweis gefaßt werden kann. 17
) Daß Piaton die Affekte in einem Vierersystem vor sich sah, ist bekannt: Laches 191 D, Symp. 207 E, Staat 429 D, Theait. 156 B. Daß er im Phaidon 83 B, wo er das System zweimal vorführt, einmal substantivisch, einmal verbal, das erste Mal καΐ φόβον, das zweite Mal ή λυττηθή weggelassen hätte, etwa um systematische Strenge zu meiden, ist möglich. Sicher ist es keineswegs. (Dies gegen Burnet, Jachmann 248, Bickel, Rhein. Mus. 92, 124ff.) Zu bemerken ist, daß die PtowZow-Handschriften nicht nur in der Zahl der Affekte differieren, sondern auch in der Reihenfolge, und zwar sowohl in der substantivischen wie in der verbalen Reihe. 18
) Nimmt man die Beziehung von 84 Β auf 70 A so genau, wie sie genommen werden muß, so sind die Wörter οϊχηται διαπτομένη in 70 A ß platonisch. (Dies gegen Schanz, Wilamowitz I I 339, Jachmann 241 ff.) Andererseits kann die Doppelung οϋδαμοΰ ετι ή in 70 A 2 neben καΐ ούδέυ ϋτι οΰδαμοϋ ή in 70 Α 6 schwerlich platonisch sein. (Dies gegen Burnet und Robin.) Denn davon ist doch wohl sonst keine Spur, daß Piaton etwa den Kebes durch wiederholungsreiche Rede hätte charakterisieren wollen. Also sind die 5 letzten Worte wahrscheinlich aus 84 Β 8 in 70 A 6 eingedrungen. le
) August Boeckh, Über die Bildung der Weltseele im Timaios (1807), Kl. Sehr. Π Ι 109 ff. Frank 287, 337. Robert S. Brumbaugh, Plato's Mathematical Imagination, 1954, 220ff. Daß Demokrit die Seele als Harmonie des Körpers bezeichnet habe, geht aus Vorsokr. 68 [55] A 167 nicht hervor. Damit schwindet wieder eine angebliche Beziehung Piatons auf Demokrit. Vgl. hierzu Arthur Ahlvers, Zahl und Klang bei Piaton (Bern 1952), Kap. IV „Die Pythagoreer oder Demokrit ?" 20
) Aristoteles hat in seinem Dialog Eudemos den platonischen Beweis umgebildet. Siehe Jaeger, Aristoteles 38 f. 21
) Hermann Bonitz, Index Aristotelicus s. ν. μεταφορά und μεταφέρειν.
22 ) Vgl. Kranz, Wortindex zu den Vorsokratikern unter γίγνεσθαι, γένεσις, φθείρεσθαι φθορά, όλλύναι usw. Zu erinnern ist an die Übereinstimmung der platonischen Formulierung mit der des Aristoteles; vgl. Phaidon 95 Ε 9, 96 A 9 f. mit Physik Β 3, 194 b 16 ff.
Anmerkungen zu Kapitel 21
439
23 ) Nomoi XII966 Dff. Vgl. Jaeger, Aristoteles 165 über die geschichtliche Fortwirkung dieses Aspektes. 23a
) „Change of tone (almost magisterial, even if there is a touch of humour in it) as Socrates begins to set forth Platonic doctrine", Bluck a.O. 114Λ „What Plato did was what Descartes did. He tried to arrive at an idea which seemed indubitable — clear and distinct. Then he developed the implications of that idea. I t is the method of geometry to which both Plato and Descartes contributed", E. Boodin, Mind 38, 1929, 495. 24
) 100 Β ύττοθέμενος είναί τι καλόν αύτό καθ' οώτό καΐ άγαθόν καΐ μέγα και τδλλα ττάντα. Hier setzt die Umbiegung der Marburger Schule an, daß die Idee selbst die Hypothesis ist (Natorp 151). Im Wortlaut Piatons hat das keine Begründung. 25
) 100 D είτε παρουσία είτε κοινωνία είτε δττη δή καΐ όπως προσγενομενη. Die Erörterung von Wilamowitz Π 2 348 erhellt diese Stelle ausgezeichnet. Gerade darum bleibt fraglich, ob die Änderung in ττροσγένοιτο notwendig ist (trotz der Zustimmung von L. Reinhard, Anakoluthe bei Piaton 74). „Piaton hilft sich", sagt W. Läßt sich vorschreiben, wie Piaton sich half? Und konnte er das dritte, unbestimmte „Hinzutreten", wofür er keinen Namen hatte, nicht so anfügen, wie es in unserem Texte steht, d.h. mit dem Partizipium, dessen Geschlecht bestimmt wurde durch den vorangestellten Artikel ή und die beiden Substantiva auf -Ια Τ 2β
) Eine gute Übersicht über die (in der Hauptsache) drei Wege, auf denen das Verständnis des (scheinbar oder wirklich) autobiographischen Abschnitts versucht worden ist, gibt Hackforth 127 ff. 27 ) Auf dem Immer liegt der Nachdruck. Darum kann es nicht richtig sein, wenn Rohde, Psyche 269, sagt: wie es scheint, habe die Seele an einer Idee, der Idee des Lebens, nicht anders teil als sonst die Erscheinungen an ihren Ideen. Daß die Entwicklungsgeschichte, in die Rohde die mannigfachen Äußerungen der Dialoge über die Seele umsetzt, nicht bestehen kann, wird heute kaum noch bezweifelt werden. Das Platon-Kapitel gehört überhaupt zu den schwächsten Stellen des Rohdeschen Werkes. •—• Robin a. 0 . p. LVH findet mit Recht hier une anticipation de la doctrine de la „communion des genres". 2β
) Gewiß wird ihr Natorp 158 nicht gerecht, der ja ersichtlich auf die naturphilosophische Ebene zurückfällt, wenn er zum Vergleich die „Summe der Vitalenergie" heranzieht. Ahnlich Archer-Hind a.O. ρ. ΧΧΙΠ. Die Gegengründe des Straton exzerpiert Olympiodor, In Piatonis Phaedonem Commentaria ed. Norvin (Leipzig 1913) 221 ff.; F. Wehrli, Die Schule des Aristoteles, Heft V, Straton von Lampsakos (Basel 1950), Fragm. 120—127. Moderne Kritiken siehe bei Natorp 138ff.; Archer-Hind X X I I I ; Robin LXVHIff.; Hackforth 16ff. 161ff.; Bluck 18ff. 188ff. 28
) Reinhardt 94ff.
440
Anmerkungen zu Kapitel 22
8 0 ) Erich Frank, Wissen, Wollen, Glauben, besonders die so betitelte Abhandlung, S. 342ff. 31
) Band I 2 193ff.
) Es ist also in Wahrheit genau umgekehrt, wie eine verbreitete dogmatisierende Piaton-Auffassung will. Vgl. z.B. de Ridder, L'idee de la mort en Gröce (1896) 122: Piaton est, par son principe meme, force d'admettre une sorte de metempsycose. II 6tait par lä meme oblig6 de retomber dans les contradictions et l'arbitraire . . . Comment concevoir la purification progressive de l'äme Ϊ Comment graduer les £preuves et les chätiments ? Comment imaginer etc. Demgegenüber Singer 52: Die Reinigung selber im Geist des Sokrates ist die Welt- und Seelenkraft, die sich hier in Bildern und Lehren vielgestaltig ausspricht. 32
) Dazu Robin a.O. p. X mit einer etwas seltsamen Polemik gegen die „verbreitete Interpretation" dieser Szene. 3S
ANMERKUNGEN ZU KAPITEL 22: STAAT Seite 55—129 *) Hierzu siehe Band I I 2 Kap. 3. Dagegen F. Dornaeiff, Piatons Politeia Buch I, Hermes 76, 1941, 111 ff. „Buch I wird bei den Frühdialogen behandelt" — ja, denn es hat die Form eines Frühdialoges —, „und die Erörterung des Staates beginnt mit dem Zweiten Buch" — nicht bei mir. — Keine Entscheidung möglich: Shorey, Plato, The Republic (Loeb Ed.) I p. X X V . — Neuere Ausgaben und Ü b e r s e t z u n g e n : Jowett and Campbell, Oxford 1894; J . Adam, Cambridge 1902; Shorey, Loeb Edition, New York 1930; Otto Apelt7, Ph. B. 80, 1941; E. Chambry-A. Dies, Piaton Bude VI—VII, Paris 1940—1948; I . M. Paton-M. Fernando Galiano, Madr. 1949. — I n t e r p r e t a t i o n e n : R. L. Nettleship, Lectures on the Republic, London 1897 (letzter Neudruck: 1958); Barker, Kap. 8—10; Jaeger Π 270ff.; R. G. Hoerber, The Theme of Plato's Republic, Saint Louis, Missouri 1944; Gauss Π/2, Kap. ΙΠ—V; Ν. R. Murphy, The Interpretation of Plato's Republic, Oxford 1951; Stanka 146ff.; Sinclair 143ff.; W. Ch.Greene, The Paradoxes of the Republic, Harvard Studies in Class. Philol. 63, 1958, 199ff. — B i b l i o g r a p h i e : Shorey 557f.; Geffcken Anm. 93; Leisegang 2450ff.; Rosenmeyer 188f. ) Vgl. νArnim 73; Dorothy Tarrant, Plato as Dramatist, Journ. Hellen. Stud. 75, 1955, 85. Zur Symbolik des Raums sagt Proklos sehr Nachdenkenswertes: Prodi in Piatonis Rem Publicam Commentarii ed. Kroll I p. 17. 2
) W. Müri, Das Wort Dialektik bei Piaton, Museum Helveticum I, 1944, 162 sieht in Staat I 354 B, also „in denjenigen Sätzen, die das erste Buch des Staates mit den folgenden verknüpfen", „den ersten Beleg für die Be3
Anmerkungen zu Kapitel 22
441
nennung einer platonischen Schrift, des sog. Thraaymachos, als eines διάλογο*". *) Band II 2 58 und 284, Anm. 15. 5
) Pohlenz 209 und νArnim 73 ff. zeigen, daß hier „eine leise Änderung des Bauplans", eine „Kompositionsfuge wenigstens dem bewaffneten Auge sichtbar geblieben ist". Denn Glaukons Kritik am Anfang von Buch I I ist nicht ganz berechtigt. β
) Π 2 241 f. Vgl. H. Maier, Sokrates 243ff. Freilich wird, wenn man die Reihenfolge erfaßt, in der diese Reden innerhalb des platonischen Werkes gelagert sind, manches sich anders darstellen. — Das Verhältnis der drei Werke Thrasymachos, Gorgiaa, Politeia zu klären hat mir Friedrich Klingner in den Jahren gemeinsamer Arbeit geholfen. 7
) Pol. I I 361 Ε κάν άγροικοτέρως λέγηται ~ Gorg. 486 C εΐ τι καΐ άγροικότερον είρήσθαι. Pol. στρεβλώσεται, δεδήσεται, έκκαυθήσεται τώφαλμώ, τελευτών πάντα κακά παθών άνασχινδυλευθήσεται καΐ γνώσεται ότι ούκ είναι δίκαιον άλλα δοκεϊν δει έθέλειν. ~ Gorg. 473 C έάν . . . στρεβλώται καΐ έκτέμνηται Kod τούς οφθαλμούς έκκάηται καΐ άλλας ττολλάς καΐ μεγάλας καΐ παντοδαπάς λώβας . . . λωβηθείς • . . άνασταυρωθη. 8
) IX 577 Ε ήκιστα ττοιήσει α άν βουληθη — Gorg. 466 D ούδέν γάρ ιτοιεϊν ών βούλονται.
9
) Ζ. Β. 378 C πολλοϋ δει γιγαντομαχία* τε μυδολογητέον αύτοΐς καΐ ποικιλτέον. Vgl. damit Euthyphron 6 BC οία λέγεταί τε ΐπτό των ποιητών καΐ Οπό των άγαθών γραφέων τά τε άλλα Ιερά ήμϊν καταπεποίκιλται, καΐ δή καΐ τοις μεγάλοις Παναθηναίοις ό ττέττλος μεστός των τοιούτων ποικιλμάτων ανάγεται εις τήν άκρόπολιν. 10
) Band I 2 125 ff. — Hierzu Jacques Maritain, Creative Intuition in Art and Poetry, New York 1955, 64.
11
) Über Mimesis siehe Hermann Koller, Die Mimesis in der Antike, Bern 1954, und dazu die Kritik von Gerard Else, 'Imitation' in the Fifth Century, Class. Philol. 53, 1958, 73ff.
12
) Vgl. Aristoteles Polit. 12,1252 a 24ff. Dazu W. L. Newman, The Politics of Aristotle Π, 1887, 103 f. Auch in der von Piaton angeregten Erörterung bei Aristoteles beherrscht der Begriff φύσις die Darstellung. — Die Bedeutung, die die Physis als Leitwort in diesem Abschnitt bei Piaton hat, ist beobachtet worden von Krohn, Der platonische Staat 59 ff. Aber Krohn interpretiert φύσις falsch als „spezifische Seelenenergie" und baut auf seine gute Beobachtung die These von einer naturalistischen Phase der platonischen Philosophie, als Piaton die „Ideenlehre" „noch nicht" gefunden hatte. — Zum Zusammenhang von φύσις und ούσία vgl. z.B. Kratylos 386 Dff. Das liegt schon in der Richtung von Aristot. Metaph. IV 4. — χρεία 369 C 2. 10. 371 D 4. (προσ)δεΐσθαι 371 A 14. Β 1. 373 C. 5. 6. ένδεής 369 Β 7. δει 369 Ε 2. 370 C 7. 371 A 4 . 373 Β 2 usw.
442
Anmerkungen zu Kapitel 22
13
) Taylor 273: we must not take the description . . . as meant to convey any speculations about the beginnings of civilization. Vgl. Cornford, Cosmology 27; Koyre, Introduction 125. 14
) Vgl. zu diesem Abschnitt durchweg Woldemar Graf Üxkull-Gyllenbrand, Griech. Kulturentstehungslehren, Archiv f. Gesch. d. Philosophie 36, 1924. — „Das falsche Ideal eines Naturstaates abweisen" soll die platonische Schilderung nach Zeller H l 4 , 893. Demgegenüber ist zu verweisen auf Adams ausgezeichnete Anmerkung zu 372 C, die nicht umgestoßen, nur ergänzt werden kann: The πρώτη ττόλις is not of course Plato's ideal republic . . . but it is nevertheless the foundation on which his city is b u i l t . . . . it remains on the whole, and as far as it goes, a not unpleasing picture of the life of the lowest stratum in Plato's city and is nowhere expressly cancelled or abolished.—Was ich im Text,,den breiten Strom des Nachdenkens" nenne, ist verengt oder vernachlässigt, wenn man eine bestimmte „Quelle" für Piatons Konstruktion sucht, und sie entweder in Antisthenes findet (Hypothese Zellers u. a.) oder in Demokrit (Reinhardt, Hermes 47, 492. Pohlenz, Hermes 53, 418. Ueberweg-Praechter 270) oder in einer verlorenen Komödie (Wilamowitz I I 214ff.). — Bemerkenswert bleibt eine wörtliche Übereinstimmung, die Reinhardt a. 0 . 504 zwischen einem Demokrit-Zitat bei Philodem, Vors. 68 [55] Β 144 und Staat 373 AB aufgewiesen hat: der Ursprung musischer Kunst gehört in eine Zeit beginnenden Überflusses, in der nicht mehr für das Nur-Notwendige zu sorgen war. Möglich, daß dieser Gedanke auf Piaton Eindruck gemacht hat, als er den Demokrit las. Ebenso möglich aber, daß Demokrit und Piaton dies in einer gemeinsamen Quelle fanden: vielleicht in Damons Arecypagitikos. (Dies soll nicht mehr als eine gute Möglichkeit sein.) Über Damon siehe Anm. 19. 15
) Krohn, Der platonische Staat 12, sieht hier die Zeichen veränderten Bauplans. Richtig Adam zu 376 E ; Hirner a.O. 316ff.
16
) Vgl. Band I 200f., 240 = I 2 183f., 220.
17
) „The man who coined the word 'theologia' was Plato. St. Augustine rightly praises him as the true father of theology and Meister Eckart calls Plato 'der große pfaffe'." W. Jaeger, Humanism and Theology, 1943, 45f.
18
) Vgl. Steinhart V 159; Susemihl Π 121. Adam 1115 zu 379 Β: „Read in the light of Book VI, the theology of this and the following chapters gains, no doubt, in significance and depth." Aber dann folgt die seltsame Einschränkung: „In point of fact, Plato might have written the end of Book I I I even if he had never thought of the Ideas at all." 18
) Damon: Vorsokr. 37 [25a]. Wilamowitz, Griech. Verskunst, 1921, 59ff.; H. Ryffel, Eukosmia, Museum Helvet. 4, 1947, 23ff.; W. D. Anderson, Damonian Theory in Plato's Thought, ΤΑΡΑ 86, 1955, 88ff.; F. Lasserre, Plutarque De la musique, Bibl. Helvet. Romana (Olten, Lausanne, 1954), ch. VI: Damon d'Athenes; Lesky 285f. •—· Auf Damon geht vielleicht zurück, was Staat 397 BC über die μεταβολαί von Harmonien und Rhythmen
Anmerkungen zu Kapitel 22
443
gesagt ist. Vielleicht auch Staat 373 AB über den Ursprung der Musenkunst; vgl. Anm. 14. 20
) Πανταχού περιφερόμενα (402 C 4). Vgl. damit 476 Α πανταχού φανταζόμενα, wo davon die Rede ist, wie die είδη durch die κοινωνία mit den πράξεις und σώματα überall als Abbilder gesehen werden und jedes Eine (476 A 7) als Vieles erscheint. 21
) Über diese είδη ist sehr viel hin und her geredet worden. Adam (Anm. zu 402 C) nennt sie „a harbinger of the ideal theory of VI and VII — a sort of half-way house between the Socratic λόγοι and Plato's Ideas", wobei man das Entwicklungsgeschichtliche dieser Formulierung beiseite lassen muß, dann aber etwas Richtiges finden wird. — Am ähnlichsten ist Charmides 159 Α άνάγκη γάρ που ένοϋσαν (seil, τήν σωφροσύνην) είπερ 2νεστιν αΐσθησίν τινα παρέχειν. Vgl. damit Staat 402 C 5 ένόντα εν οίς ενεστιν αϊσθανόμεθα. 22 ) Daß die Stelle 402 DE nicht nur biographisch zu verstehen ist (Wilamowitz Π 192), lehrt Symp. 210 Β 8. 23
) Gorgias 464 B—465 C. Vgl. Band II 2 235. An den Gorgias ist bei dieser Stelle längst erinnert worden: Steinhart V 173, Susemihl Π 138, Adam zu 405 C. 24
) Diese Ironie wird oft verkannt. Siehe z. B. Koyr6 148: „Notre cit6, desormais, est achev6e. Elle est telle qu'elle doit etre." Ahnlich Adam und Shorey z. d. St. 25
) Zu 424 C: Ernst Robert Curtius, Kritische Essays zur europ. Literatur, 1950, 153. 26
) Es versteht sich, daß diese Absicht eine von denen war, die mißverstanden werden mußten, um die Hypothese der Chorizonten zu stützen. Gegen Krohn hat schon Hirmer, Entstehung und Komposition der Politeia (Jahrb. f. kl. Phil. Suppl. 23) 611 Richtiges gesagt. 27
) Siehe Anm. 19.
28
) Arnim 150, Shorey 79.
29 ) Über die Tugenden in der älteren ethischen Spekulation Einiges bei Adam zu 427 E. Besonders wichtig ist Aischylos Sieben 610 und dazu Jaeger, Antike IV 163 und E. Wolff, Piatos Apologie (N. ph. U. VI) 77. 30
);Vgl. Band II 2 223 und D. Gr. Α. Π 63 ff.
31 ) Adam I 239 bemerkt: „This has not been said in the Republic" — sieho aber 370 A 4 — „nor (so far as I know) in any of Plato's earlier dialogues (if we except Ale. 1127 C), so that είρήκαμεν refers to ordinary conversation." Richtiger: Piaton gestaltet als einen Rückweis auf frühere Äußerungen des Sokrates, was in dem literarischen Werk Rückweis auf einen anderen Dialog ist. Nicht nur ist das System der staatlichen Tugenden im Alkibiades vor-
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Anmerkungen zu Kapitel 22
bereitet, sondern der Alhibiades wird im Staat geradezu „zitiert", so wie nur irgendwo Piaton in einem Dialog einen andern „zitiert". Vgl. D. Gr. A. I 23ff., Π 62ff. und Band Π 2 223f. 32 )
Über die Stufen der Gerechtigkeit spricht einsichtig Hirzel, Dialog 1237.
33 )
Vgl. Barth 14. Gut ist dort auch die Polemik gegen die „hölzerne Auffassung", d. h. die um Sinn und Zusammenhang unbekümmerte Dogmatisierung von Piatons Seelentrichotomie. S 3 a ) Gauss Π/2, 160 polemisiert gegen meine Darstellung; aber um das zu tun, läßt er den Piaton ,,Frauengymnasien fordern". 34 ) Ich lasse diese Zeilen stehen, wie sie standen, trotz der Kritik von deVries 65. 34a ) Siehe Hans-Georg Gadamer, Piatos dialektische Ethik (Leipzig 1931) 52 ff. 86 ) Stenzel, Studien 49, versucht das 454 Α und 476 Α Gemeinte von der Diairesis der späteren Dialoge methodisch zu trennen. Aber man kann nicht bestreiten, daß hier 1. das dichotomische Verfahren geübt wird (άνδρες — γυναίκες, φαλακροί — κομηται, σκυτοτομεϊν — μή σκυτοτομεϊν), 2. derselbe Gegensatz von Eristik und Dialektik da ist wie im Philebos 16 Ε (vgl. Stenzel, Zahl und Gestalt 13), 3. Piaton nur darum die zu bekämpfende Meinung auf falsche Diairesis zurückführen kann, weil er sich über Wesen und Wichtigkeit der richtigen vollkommen klar ist. In den Spätdialogen nimmt das Verfahren eine ironisch gesteigerte Form an, aber es handelt sich nicht um etwas vollkommen Neues. Das gegliederte System der IdeenFormen ist schon im Kratylos durch das System der Buchstaben symbolisiert. Es ist letztlich schon in dem Problem des Einen-und-Vielen seit dem Protagoras und der Gruppe der aporetischen Definitionsdialoge vorhanden. Vgl. Shorey 50f. 3e ) Auf die Komödie hat man vielfach verwiesen (vgl. Adam). Aber man muß deutlich machen, daß Piaton nicht an sie denkt, sondern an dieselbe Volks- und Lynch-Justiz, die wir ζ. Β in den Acharnem abgebildet finden. 37 ) φύσις 485 A 5. 486 Β 3. D 10. 487 A 3. δει 485 D 3.486 Β 3. Es ist dieselbe Verbindimg wie bei den Ursprüngen der Polis. Vgl. Anm. 12. 38 ) „Unnütz", „Sterngucker und Schwätzer" 487 D 5. 489 A 1. C 6. D 4. D 7 — Spottworte der Generation am Ende des V. Jahrhunderts: Bekker, Piatonis Opera I 170; Adam Π 12. Euripides Frg. 913 in erweiterter Fassung bei Bruno Snell, Euripides-Fragmente, Wiener Studien 69, 1956, 91. 39 ) Erschreckend ist, wie gründlich der Welthistoriker unsrer Epoche, Arnold J . Toynbee, die „Paradoxic" — wie er richtig sagt — des Philosophen-Herrschers mißversteht. Toynbee beruft sich für das Verständnis Piatons auf — Machiavelli, und findet in den „brutalen Worten" des italienischen Theoretikers der Machtpolitik das Mittel, um Folgendes aufzu-
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spüren: „a sinister feature in the strategy of the philosopher-king which Plato discreetly keeps in the background," (Abridgment of Vols. I—VI p. 543), oder wie es in der ursprünglichen Fassung (Vol. VI p. 256) noch böser heißt: „which Plato almost disingenuously slurs over." Die radikale Verschiedenheit des Ideenstaates, der „als Vor-Bild am Himmel aufgerichtet ist" (Staat I X 492B) selbst von dem besten irdischen Staat entgeht Toynbee so ganz, daß er fortfahren kann: „If the philosopher finds that he cannot get his way by charm, he will throw away his philosophy and take to the sword" oder ursprünglich: „If the philosopher-king finds himself at a point at which he is no longer able to gain his end by exercise of charm or bluff, he will throw away his copy-book of moral maxims and proceed to enforce his will." Nun mag man der Idee die Wirklichkeit vorziehen, man mag (und wer sollte das nicht immer wieder tun ?) einem Marc Aurel sich näher fühlen als dem idealen Philosophen-Herrscher, man mag behaupten: „the philosopherking is doomed to fail". Was der verantwortliche Historiker n i c h t darf ist dies: den Piaton mit hinterhältigen Taktikern verwechseln und dabei völlig vergessen, was Philo-sophie für Piaton bedeutet. — Wenn Toynbee solchen Mißgriff begeht, so sind die Angriffe anderer Soziologen und Historiker — Fite, Winspear, Crossman, Popper, Rüstow — gegen Piaton weniger erstaunlich. Siehe hierzu Ronald B. Levinson, In Defence of Plato (1953). Vgl. auch Gauss Π/2, 124ff. Gauss glaubt freilich eine „Scheidung des Bleibenden von dem Vergänglichen" in Piatons Denken vornehmen zu müssen und sieht „in seinen politischen Schriften mehr oder weniger eine Konzession an die Zeitbedürfnisse und damit an die ,philosophia cotidiana'." Vgl. demgegenüber m. Band I, Kap. 1; E. Lledö Inigo, Philosophos Basileus, Revista de Filosofia 19, Madrid 1960, 37 ff. 40
) 492 E. Adam I I 76 hat recht, παρά τήν τούτων παιδείαν zu fassen als „gegen die Erziehung, die die Masse übt", nicht, wie es meist geschieht, als „gemäß der Erziehung". Aber wiederum nicht richtig faßt er άλλοϊον: „different from the many". Vielmehr kann άλλοΐον γίγνεσθαι nur = άλλοιοΟσθαι sein; vgl. Symp. 189 D 7. Staat X 598 A 9. Theait. 160 A 3 . Das ist ζ. B. richtig gesehen in der Übersetzung von H. Müller, — wo wiederum das παρά falsch aufgefaßt ist. Dem Richtigen im ganzen ist Schleiermacher nahe: „Es hat auch keine Not, daß jemals sollte neben der Anleitung her, die diese geben, eine andere Richtung zur Tugend in einem Gemüt ausgebildet werden können." Man muß nur das „neben" in seinem grundsätzlichen Sinne fassen und „die andere Richtung zur Tugend" ist zu matt gegenüber dem Wandel des ήθος selber, den Piaton meint. 41
) μεγάλης πόλεως St. ~ πόλει οΰση μεγίστη Alk. 104 Α. εύειδής καΐ μέγας St. ~ κάλλιστος τε καΐ μέγιστος Alk. πλούσιός τε καΐ γενναίος St. ~ νεανικωτάτου γένους . . . των πλουσίων Alk. 42
) άμηχάνου Ιλπίδος St. ~ έπΐ τίνι έλπίδι ζής Alk. 105 Α. καΐ τά των 'Ελλήνων καΐ τά των βαρβάρων ίκανόν εσεσθαι πράττειν St. ~ ού μόνον έν "Ελλησιν άλλα καΐ έν τοις βαρβάροις Alk.
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Anmerkungen zu Kapitel 22
13 ) Meautis, Revue de Philologie 5, 1931, 97ff. Vgl. auch Jacob Bernays, Phokion (Berlin 1881) 32 ff. 44
) Vgl. Adam z. d. St.
44a
) Vgl. Band I 2 126 und 336 Anm. 19.
« ) Band Π 2 244. 48
) I n dem Spiel der beiden Composita άττο- und παραλείπει ν und in dem έκών, das zu απολείψω tritt, ist ein Stück des oben fixierten Problems angedeutet. 47
) I n 536 C 7 steht ein ausdrücklicher Verweis auf 412 C. 537 Ε 4 ist ein unausdrücklicher aber wörtlicher Verweis auf 424 D 3. 48
) Singer 141. Vgl. die umfassende Darstellung von Heinrich Ryffel, Μεταβολή πολιτειών. Der Wandel der Staatsverfassungen, Bern 1949. Ferner Karl Vretska, Platons Demokraten-Kapitel, Untersuchung seiner Form, Gymnasium 62, 1955, 407 ff. 4e
) Vgl. 586 Β mit Gorgias 493 Α ff.
50
) Vgl. Band Π 2 24f.
51
) Vgl. Band I 2 188f., 195.
52
) W. Jaeger, A New Greek Word in Plato's Republic, Eranos 44, 1946, 123ff., konjiziert in 590 Β 1 όργωδες statt όφεώδεζ. Aber όφεώδες δράκοvτώδες) beschreibt genau, was in 588 Ε 6 allgemeiner τά irepl τόν λέοντα hieß (Schleiermacher). Vgl. Adam I I 365f. gegen die Konjektur όχλώδεζ (Nettleship). 6S ) vgl. ζ. B. Gorg. 516 AB mit Staat 589 Β und Gorg. 507 D mit Staat 591 AB. 64 ) Zu erinnern ist noch an das θηρίον Τυφώυος πολυπλοκώτερον im Phaidros 230 Α. Offenbar stammen ja die Köpfe des Tieres in der Politeia von Typhon. Vgl. Hesiod Theog. 824ff. 56
) Vgl. Boeckh, Philolaos 133ff. Susemihl 133ff. Adam zu 588 A. Robert S. Brumbaugh, Plato's Mathematical Imagination, Bloomington 1954,151 ff. 5e
) „Bedeutungslose Spielerei": Schleiermacher Π Ι 1, 607. Dagegen deutet Schneider in der Praefatio seiner Ausgabe Bd. Π Ι p. X X X X I sqq. den Zusammenhang so: einem Tag Glück im Leben des Tyrannen entspreche ein J a h r im Leben des Königs usw. Susemihl H 242ff. übernimmt das und fügt den Bezug auf die Zahlenspekulation im VJLLL. Buch hinzu: an die großen Zeitabschnitte, wie sie dort hervortreten, würden jetzt die kleineren geknüpft, und es werde gelehrt, daß nicht bloß die Dauer der Verfassungen, sondern auch das innere Heil derselben stufenweise immer stärker abfalle. — Brumbaugh a. Ο. 153ff. vergleicht die 9 Seelenstufen in Phaidros 248 C ff.
Anmerkungen zu Kapitel 23
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57 ) Vgl. 612 Β mit Π 367 D, 363 A, 359 Cff.; 612 C 7 mit 361 B; 612 Ε mit Π 365 C und I 352 B; 613 D mit I I 361 E. 6S ) 613 A 7 ή καΐ άττοθανόντχ gehört eigentlich in diesen Abschnitt nicht herein. ss
) Es ist erstaunlich, wie wenig Anstoß die Interpreten hier nehmen. Wirklich lautet es ganz anders in den Gesetzen X 899 D ff. 905 B. — G. J . de Yries 175: „Hier is veel conformistische ironie." Dort auch Hinweis auf Nettleship, Lectures on the Republic 10 352f. — Gauss II/2, 232ff. scheint mich mißzuverstehen: nicht an dem „Lohngedanken" nehme ich Anstoß, sondern ich kann diesen allzu irdischen Lohn unmöglich aus Sokrates' Munde von Piaton völlig ernst gemeint nehmen. Ich glaube auch nicht, daß ,,P. F. anders geurteilt hätte, wenn er seinen Kant besser gekannt hätte", sondern daß Gauss vielleicht anders geurteilt hätte, wenn er Piatons Ironie, die Mischung von Ernst und Scherz, klarer erfaßte.