Platon: Band 2 Die platonischen Schriften 9783111443225, 9783111076829


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German Pages 690 [704] Year 1930

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Inhalt
Abgekürzte Zitate
Periode I: Aufstieg
Gruppe A. Der Protagoras Und Die Hauptgruppe Der Ap0retischen Definitionsdialoge: Arete • Philia • Kalon
Gruppe B. Umkreis Kleiner Fruhdiäloge: Philosoph Sophist Dichter
Gruppe C. Selbstdarstellung Und Verkleidungen Des Philosophen
Gruppe D. „Der Logos Kommt Zum Stehen"
Periode II: Mitte
Periode III: Spätwerk
Gruppe A. Dialektik
Gruppe B. Mythologie Und Nomothesie
Rechenschaft Über Die Anordnung
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Platon: Band 2 Die platonischen Schriften
 9783111443225, 9783111076829

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PLATON II DIE PLATONISCHEN SCHRIFTEN VON

PAUL FRIEDLÄNDER

BERLIN UND LEIPZIG 1930

WALTER DE GRUYTER.& CO. vormals G.J.Göschen'sche Verlagshandlung -J.Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp.

DIE PLATONISCHEN SCHRIFTEN VON

PAUL FRIEDLÄNDER

BERLIN UND LEIPZIG 1930

WALTER DE GRUYTER & CO. 7ormals G.J. Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit Sc Comp.

In demselben Verlag erschien 1928 von demselben Verfasser: Piaton I, Eidos Paideia Dialogos.

Printed in Germany

INHALT

Seiie

GRUPPE A. DER PROTAGORAS UND DIE HAUPTGRUPPE DER APORETISCHEN DEFINITIONSDIALOGE: ARETE PHILIA KALON. 1. PROTAGORAS 2. LACHES 3. THRASYMACHOS 4. CHARMIDES 5. EUTHYPHRON 6. LYSIS 7. DER GROSSE HIPPIAS

1 37 50 67 81 91 105

PERIODE I: AUFSTIEG

GRUPPE B. UMKREIS KLEINER FRUHDIALOGE: PHILOSOPH SOPHIST DICHTER. 8. HIPPARCH 117 9. ION 128 10. DER KLEINE HIPPIAS 137 11. THEAGES 147 GRUPPE C. SELBSTDARSTELLUNG UND VERKLEIDUNGEN DES PHILOSOPHEN. 12. APOLOGIE 156 13. KRITON 172 14. EUTHYDEM 178 15. KRATYLOS 196 16. MENEXENOS 219 GRUPPE D. „DER LOGOS KOMMT ZUM STEHEN". 17. ALKIBIADES 18. GORGIAS 19. MENON

233 246 276

PERIODE II: MITTE 20. SYMPOSION 294 21. PHAIDON 321 22. STAAT 345 Einbou des Thrasymachos-Dialoges 345 Reden des Glaukon und Adeimantos 348 Ursprünge der Staatsgemeinde 359 Erziehung der Wächter 363 a) Musik Gymnastik und Gerechtigkeit 363 b) Die Logoi 364 c) Harmonie und Rhythmus. Die Eros-Linie der Politeia . . 366 d) Gymnastik. Arzt und Richter 369

Seite

Abschluß des — vorläufigen — Staatsbaues Die Suche nach der Gerechtigkeit und ihrem Gegenteil Die drei Wogen Der Kernsatz der Politeia und der siegreiche Kampf um seine Bewährung Die Erziehung der Philosophen und ihre Einordnung in das Staatsganze Der Verderb Der letzte Anstieg Die mythische Linie des Werkes Die Daseinsform der platonischen Politeia

371 374 379 382 389 394 397 408 412

PERIODE III: SPÄTWERK GRUPPE A. DIALEKTIK. 23. THEAITETOS 24. PARMENIDES 25. PHAIDROS 26. SOPfflSTES 27. POLITIKOS 28. PHILEBOS

415 460 485 505 538 557

GRUPPE B. MYTHOLOGIE UND NOMOTHESIE. 29. TIMAIOS 30. KRTTIAS 31. GESETZE Der Kampf um den Sinn der Gesetzgebung Die Erprobung der Tugenden als Grundlage der Staatsgründung Musik Uber Ursprung Erhaltung und Verfall der Staaten Die Gründung Die Bedingungen der neuen Gründung Vorspruch Das Gesetzbuch Die Erziehung Die Theologie Die Gesetzeswächter

599 621 623 626 635 641 646 654 655 661 669 670 672 679

RECHENSCHAFT ÜBER DIE ANORDNUNG

682

ABGEKÜRZTE ZITATE Apelt = Platonische Aufsätze. 1912. v. Arnim = Piatos Jugenddialoge und der Phaidros. 1914. Ast = Piatons Leben und Schriften. 1816. Band I = Verf., Piaton I, Eidos Paideia Dialogos. 1928. Bonitz = Platonische Studien. 3. Auflage 1886. Cousin = Oeuvres de Piaton, trad. par Victor Cousin, I—Xm. 1822—1839. D. Gr. A. I H = Verf., Der Große Alcibiades. I 1921, II 1923. Difes = Autour de Piaton. 1927. Frank = Plato und die sogenannten Pythagoreer. 1923. Friedemann = Piaton, Seine Gestalt. 1914. Gomperz II — Griechische Denker, Band II. 2. Auflage 1903. Towett = The Dialogues of Plato translated by B. Jowett, I—V. 1924. Natorp1) = Piatos Ideenlehre. 1. Auflage 1903, 2. Auflage 1921. Pohlenz = Aus Piatos Werdezeit. 1913. Raeder = Piatons philosophische Entwicklung. 1905. Ritter I H = Piaton. I 1910, E 1923. Schleiermacher = Piatons Werke. 2. Auflage 1817—1826. Shorey = The Unity of Plato's Thought. University of Chicago, 1903. Singer = Piaton der Gründer. 1927. Socher = Uber Piatons Schriften. 1820. Steinhart = Piatons sämtliche Werke, übersetzt von Hieronymus Müller, mit Einleitungen begleitet von Karl Steinhart, I—EX. 1850—1873. Stenzel = Piaton der Erzieher. 1928. Susemihl I II = Die genetische Entwicklung der Platonischen Philosophie. I 1855, II 1857, 1860. Taylor = Plato, The Man and his Work. Second Edition 1927. Ueberweg-Praechter = Die Philosophie des Altertums. 12. Auflage 1926. v. Wilamowitz1) I II = Piaton I IL 1. Auflage 1919. Z Auflage 1920. Zeller II 1 * = Die Philosophie der Griechen, II 1. 4. Auflage 1889'). ') Wenn keine Indexzahl beigefugt ist, ist die erste Auflage gemeint. ') Wo die Ton E. Hoffmann besorgte 5. Auflage gemeint ist, wird das besonders gesagt.

Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern; Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz, Auf ein heiliges RätseL

ERSTE PERIODE: AUFSTIEG GRUPPE A DER P R O T A G O R A S UND DIE H A U P T G R U P P E DER A P 0 R E T I S C H E N D E F I N I T I O N S D I A L O G E : A R E T E • P H I L I A • KALON

1. P R O T A G O R A S

S

okrates tritt in einen Kreis beliebiger Menschen, die fast Rahmenschattenhaft bleiben. Ein namenloser „Gefährte" fuhrt für sie 9 e s P r 5 c h das Wort. Nur gesellschaftlich und nur sinnlich ist die Weise, ~~ wie er an die Neigung des Sokrates zu Alkibiades rührt. Sokrates hält sich scherzend in demselben Bereich. Sonst müßte er erwidern, daß für ihn die Frage, ob der Gegenstand seiner Liebe bärtig sei oder nicht, wahrhaftig keinen Unterschied mache. Rein gesellschaftlich scheint auch die Neugier, aus der nach Sokrates* Begegnung mit Protagoras gefragt wird. Denn wäre eine tiefere Teilnahme da, so würde man von der Ankunft des berühmten Mannes am dritten Tage doch wohl schon wissen, da der lerneifrige Jüngling Hippokrates am Abend vorher davon gehört hat, Sokrates noch früher davon wußte (310 B). Also eine erste Annäherung an das, was später den Gegenstand bilden wird, gibt das Rahmengespräch. Aber Ernsteres und Wichtig eres klingt auch schon hinein. Die paradoxe Wertung, daß Alkibiades hinter Protagoras zurückstehe, der Schöne hinter dem — Schöneren, weil nämlich das Weise schön ist, diese Ironie weist auf eine echte Stufung. Nicht Alkibiades ist der Niedrigere. Aber die leidenschaftlich geliebte Schönheit ist Stufe unterhalb und hinauf zu der noch leidenschaftlicher geliebten „Weisheit". So verbirgt sich auch hinter dem leichtfertigen Liebesgerede Tieferes. Erziehung wird weiterhin durchaus das Thema sein und zwar der Gegensatz zwischen sophistischer und sokratischer Erziehung. Nun ist dieser Gegensatz nach Piaton vor allem dadurch bedingt, daß Sokrates und nur er liebend erzieht. So spielerisch das Liebesmotiv hier zu Beginn gefaßt ist, es wird nur an dieser Stelle des Dialoges ausFrledlflndar, Piaton.

1

2

Periode I. Gruppe A.

drücklich. Aber wenn Sokrates dabei dem Alkibiades nachrühmt, er sei ihm „zu Hilfe gekommen" (309 B), so wird weit hineingewiesen in das Hauptgespräch. Es sind, solange man nur auf die Gedankenentwicklung sieht, Zwischenspiele, sobald man das philosophische Drama als Ganzes faßt, höchst wichtige Punkte, an denen das Gesprach zu zerfallen droht und durch das Eingreifen des Alkibiades vor dem Zerfall gerettet wird (336 B. 348 B). In der bunten und zahlreichen Schar ist ein geheimes Einverständnis zwischen Sokrates und diesem Schüler, das sich äußert als gemeinsamer Wille zum philosophischen Dialog. Worauf dieses Einverständnis beruht, das deutet sich hier im Rahmengespräch an, wenn man durch das Gesellschaftliche und Sinnliche des Liebesgeredes hindurchblickt in die tieferen Schichten. VorIm Vorgespräch, mit dem der Bericht des Sokrates beginnt, wird 110 A?-3*14 C Neugier zum leidenschaftlichen Eifer — der junge Hippokrates weckt den Sokrates in der Nacht, weil er durch Protagoras „weise" werden will —, das freundliche Eingehen des Sokrates auf Scherze und Wünsche zu gütiger und überlegener Führung, die den unklar Schwärmenden sehr bald einzugestehen zwingt, daß er nicht weiß, um was es sich eigentlich handle (313 C 2). Dabei klärt sich auch für uns der Gegenstand, und es zeigt sich, daß ewig wichtige Dinge auf dem Spiele stehen. Schon im Rahmengespräch war mit dem Namen Protagoras die „Weisheit" (309 C) aufgetaucht. Jetzt sondert sich ein zwiefaches Lernen: der Fachunterricht, der, beim Arzt oder Bildhauer, auf die Ausübung einer Kunst gerichtet ist (¿Tri rexvq), und der auf Erziehung abzielende Unterricht (¿m Tiaibeia), bei dem der Zögling zu etwas Anderem als der Lehrer bestimmt ist. Der Sophist will offenbar das Zweite, Höhere. Aber was ist der Sophist? Damit erhebt sich die Frage, die noch den späten Dialog Sophistes beherrscht, und bei der immer die Frage nach dem Philosophen im Hintergrunde steht. Der Sophist trägt die Weisheit im Namen. Aber Weisheit ist nichts, wenn man nicht angeben kann, „worin" jemand weise ist. Und diese Frage nach dem Worin findet keine Antwort. Ist es nur darum, weil der Jüngling nicht zu suchen versteht, oder sollte gar der Sophistik ein solcher Gegenstand (ti) fehlen? Hat sie also ihren Rang über jenem technischen Wissen um so gefährlichen Preis erkauft? Nur im Bilde wird noch etwas deutlicher, um welch ein bedenkliches Wesen (idvbuvoq 313 A2. 314 A2) es sich handelt.

1. Protagoras.

3

Handler oder Krämer mit geistiger Nahrung ist der Sophist — auch dies begegnet noch im Spätwerk (223 C ff.), und der bei Piaton immer wiederholte Makel, daß der Sophist Geld nimmt, weist in die gleiche Richtung. Man muß schon ein Seelenarzt (nepi Triv yuxnv iaTpiKo? 313 E 2) sein, um über den Wert jener "Ware Bescheid zu wissen, zumal da man sie nicht, wie doch die Leibesnahrung, sachkundig prüfen lassen kann vor dem Genuß, sondern sie in eben derselben Seele heimträgt, zu deren Nahrung sie bestimmt ist. Hippokrates merkt nicht, daß der Seelenarzt am Werke ist, und daß er selbst bei ihm in die Lehre gehen sollte statt bei dem Sophisten. Dem Leser aber erscheint hier an einem Beispiel und im Vollzuge jene sokratische Erziehung, die wir immer als Gegenspiel der sophistischen sehen müssen. Der Hauptdialog wird den kämpfenden Sokrates zeigen, hier im voraus steht der erziehende, nachdem das Rahmengespräch schon auf den liebenden hingedeutet hatte. Wie Raum und Zeit nicht nur den Vorgang auf das lebendigste verdeutlichen, sondern wie sie symbolhaft das geistige Geschehen begleiten, ist in anderem Zusammenhang aufgewiesen worden 1 ). Man erinnere sich an die Enge des Schlafraums, in dem der eine sitzt, der andere liegt, und dann an den freieren Hof, auf dem die beiden im Gespräch hin- und hergehen, an das Dunkel der Nacht, an das werdende Licht, und wie es zugleich geistig zu tagen beginnt. Von hier bis dorthin, wo das Gespräch mit den Sophisten anfängt, Zwischenfuhrt ein erzählendes Zwischenstück. Sie gehen zum Hause des 3 1 4 c a C 3 1 6 j Kallias und haben ein Gespräch, über dessen Inhalt wir nichts erfahren. Aber sie bleiben so lange vor der Türe stehen, bis der Logos zu seinem Ende gekommen ist. Sokratisches Gespräch darf nicht „unvollendet" (¿TeXn?) bleiben, während der Sophist dort abbricht, wo es ihm beliebt. Dieser Gegensatz wird nachher im Kampfgespräch mit Protagoras lebendig und tritt auch etwa im Gorgias hervor, da Kallikles nicht weiter antworten will und Sokrates ihn mahnt, den Logos nicht „unvollendet" im Stich zu lassen (505 D)2). Im Protagoras spricht sich eigentümlich schillernd sogleich die Gegnerschaft aus, als der Pförtner die beiden nicht einlassen will, ') Bandl 186.

2

) Vgl. auch Theait. 193E ^KaaTO? auräiv (i. e. tiiiv \6ywv) uepinevei diroT€Xe) Bekanntlich ist es ein alter Streit der Piatonforscher, ob die hedonistische These im Protagoras ernst gemeint und also eine „hedonistische Epoche" in Piatons Entwicklung anzusetzen sei. C. F. Hermann 462 hat sich dafür entschieden und starke Nachfolge gefunden, so bei Zeller und noch bei Uberweg-

1. Protagoros.

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Dialog zeigt die Antwort des Protagoras — es scheine ihm nicht bloß für die jetzige Erörterung sondern auch für das ganze übrige Leben sicherer zu sein, Gut und Angenehm voneinander zu sondern — einerseits das Gefühl, daß es hier um eine höchste Entscheidung geht, andrerseits in dem Worte „sicherer" (äCÄ TOU) gehört notwendig dazu1). Also ist noch eine Ergänzung erfordert : Liebe ist gerichtet auf das Gute und Liebe (?veKa T O U ¿faöoG Kai tpiXou). Hier ersteigt das Gespräch die höchste Ebene. Denn sobald das Ziel in den Blick genommen ist, bekomme ich eine ganze Reihe einander übergeordneter Zwecke bis zu einem „höchsten Lieben" (npaiiov cpiXov), das nicht mehr um eines anderen willen lieb ist, von dem alle anderen Dinge die man „lieb" nennt nur „Abbilder" sind oder wie ein bloßes Wort gegenüber einem Wirklichen. In ihm endet (TeXeuxaiffiv 220 B 3) alles was man sonst Neigung (i bichrXeiJuv Kai xauvörriroi; öaaiac; ävaXaßoi irUZiuv T I P Xö-fi" tai cuariAXuiv Taucivöv ¿TTO(CI Kai ÄTOX|UOV. Das stammt aus Lysis 210 E OÖTIU xpii, ili'lmtöeaXe;, rot? itaibiKoT; bxakifeaQai, x a i m v o ö v T a Kai auaxiXXovxa äXXä firi diffirep cii xauvoövTa Kai biaepöirTovra.

17. Alkibiades.

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möchte ein „Liebhaber des Demos" werden und so zu Grunde gehen (132 A). So beginnt der Dialog mit einer Spannnng zwischen dem Vergangenen und der Gegenwart und endet mit einer Spannung zwischen dieser und dem Zukünftigen. Zwischen der Spannung des Anfangs und der des Schlusses bewegt sich der eigentliche Dialog, und auch in dieser Bewegung ist etwas, was über alle Menschengestaltung Piatons in einem wenigstens hinausgeht. Man nehme die Erörterung mit einem der Jünglinge wie etwa Charmides oder den Kampf mit den Sophisten und Politikern wie etwa im Gorgias, so nimmt die Dialektik des behandelten Problems ihren Weg, mag man schließlich in der Äporie steckenbleiben, oder mag die These des Gegners besiegt sein. Aber der Partner selbst? Gewiß ist am Schluß Charmides dem Sokrates noch etwas mehr zugetan, Kallikles etwas kleinlauter als am Anfang. Aber gewandelt sind sie keineswegs, jener nicht, weil er gleich von vornherein kein Widerstreben verspürt, dieser nicht, weil er sich überhaupt nicht wandeln kann. Im Alkibiades hingegen haben wir das eine Mal den gefährdetsten Menschen in dem gefährdetsten Alter, und wir sehen ein einziges Mal, wie jemand sich wandelt in dem Räume eines platonischen Werkes 1 ). Am Anfang ist Alkibiades zugleich gereizt über die „Belästigung" (èvoxXeîç ne 104 D) und neugierig auf das was Sokrates eigentlich will, halb trotzig ablehnend, halb schon zugewandt. Im Fortgang wechselt er sprunghaft zwischen Stolz und Niedergeschlagenheit, bis zuletzt sein Stolz im Augenblick völlig gebrochen scheint. „So muß man also, mein Freund, knechtisches Dasein fliehen?" „Durchaus, mein Sokrates". „Merkst du nun, wie es mit dir steht? Wie es dem Edlen geziemt oder nicht?" „Mir ist, als merkte ich es nur zu gut!" Damit hat sich auch die trotzige Ablehnung ins Gegenteil verkehrt. „Wir beide", sagt er selbst, „haben die Gestalt getauscht, die deine ich, du die meine. Denn es ist nicht anders: ich werde dich wie dein Pfleger geleiten von heut ab, und du wirst dich von mir geleiten lassen". Sokrates bestätigt ') M. Croiset in der Einleitung zum Piaton der ColL Budé I2 51 sieht das freilich nicht: on n'y trouve point de péripéties proprement dites. Croiset hält zwar (ohne den Stand der wissenschaftlichen Kontroverse zu kennen) den Dialog für echt. Aber seine Zeitbestimmung (au temps du séjour à Mégare) ist willkürlich und seine Deutung nicht eben tief. Die Bemerkung zur Perserrede (cette connaissance d'ailleurs bien superficielle, il faut l'avouer, des choses de la Perse) enttäuscht im Lande der Lettres Persanes.

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Periode I. Gruppe D.

das: „Du Edler, so wird also meine Liebe sein -wie die der Störche: junge Liebe hat sie bei dir flügge gemacht und wird nun von dieser wieder gepflegt werden 1 )." Solcher Wandel aber, der ohnegleichen ist im platonischen Werk, steht nicht zufällig neben der Gesprächsfuhrung, sondern mit ihr in engstem Bezüge. Sokrates hatte vor Alkibiades dessen unbändigen Stolz und unbändiges Streben enthüllt. Nun beginnt das GeI. spräch, in dessen erstem Teil der Meister den Jüngling zu über106C-118C z e U g e n SU cht, daß er nichts wisse, und gleichzeitig zu klären beginnt, worauf wahrhaft politisches Tun sich richte. Als der erste 11. Schritt gemacht wird, besteht Alkibiades darauf, daß er besser 106C-109A a j s ¿ i e Athener wisse, was ihnen fromme (106 D), Sokrates aber zeigt ihm, daß er dieses „besser" ganz und gar nicht bestimmen 12. könne. Als der zweite Schritt gemacht wird, anstatt des „Besseren" l 0 9 A - 1 1 3 C n u n d a s „Gerechte" in die Erörterung eintritt, meint Alkibiades — hier der rechte Typus eines werdenden Politikers — eine Diskrepanz zu sehen in dem was man ausspricht und in dem was man meint (109 C 1—3). Wenn sich also im folgenden zeigen wird, daß er über Gerecht und Ungerecht nicht Auskunft zu geben weiß, so ist das kein nur begriffliches Versagen. Sondern unmittelbar erweist sich die Einheit von Nichtwissen und unrechtem Handeln. Sokrates klärt ihm sein Nichtwissen auf, mehr noch, daß er eben das Nichtwissen nicht wisse. Und das bestätigt sehr naiv und deshalb so ergötzlich Alkibiades selber. Er ist immer im Recht gewesen, hat nie seit seiner Kindheit an seinem Recht gezweifelt und zweifelt auch jetzt nicht, daß er recht daran getan hat, nicht zu zweifeln (110Ä ff.). So bestätigt die naive Selbstäußerung das Urteil des Sokrates. I 3. Der dritte Schritt, das ist der Nachweis, daß Gut und Schön und H3C1—118 C Nützlich ein und dasselbe seien, daß man also nicht auf eine Diskrepanz dieser Begriffe jene Unsicherheit gegenüber dem Gerechten stützen dürfe, die vorher an Alkibiades sichtbar wurde. Sehr bewundernswert ist es, wie Sokrates hier den Schüler sich auf sich selbst besinnen heißt, indem er ihn bei seiner Ehre packt. ') Die Lehrer der höheren Schule seien gebeten, sich selbst durch W. Kranz, Piaton im Gymnasium (Neue Wege zur Antike VIII) 8, nicht abschrecken zu lassen, sondern die Kanon-Würdigkeit des Alkibiades immer neu zu prüfen. Das 4ttciv npö? t4 hoXitikö irpiv iraibeu8f|vai — ist das nicht eben heut wieder die Gefahr?

17. Alkibiades.

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Wenn es sich um Tapferkeit handelt, da gibt es diesen Gegensatz nicht zwischen Gut und Schön oder zwischen Nützlich und Respektabel: „Nicht leben möchte ich als ein Feiger" (115D). So ist es die Ehrliebe des Jünglings, die in all jenem ehrsüchtigen Streben Sokrates als das Echte und Edle erkennt, und an der er ihn aus seiner ethischen Verwirrung und Verbildung herauszuführen sucht. Und bald darauf bricht denn wenigstens dem Sokrates gegenüber der Hochmut zusammen, und der Gedemütigte muß seine Hilflosigkeit bekennen (116E). Die Notwendigkeit der „Pflege seiner selbst" (émuéXeta éauiou), das ist es, was die Mitte des Gespräches vor allem in der „Königsrede" an dem ironisch schillernden Bilde spartanischer und persischer Fürstenerziehung deutlich macht. Hier hütet Sokrates den Zögling vor dem Hinuntergleiten unter sich selbst. Außer Kyros und Xerxes billige Alkibiades niemandem irgendeinen Wert zu, hatte Sokrates am Anfang des Ganzen (105 C) gesagt, und jetzt, da Alkibiades es sich mit seinen Antagonisten glaubt leicht machen zu können, muß Sokrates ihn erst zur Höhe seines eigenen Stolzes erheben und ihm zeigen, daß er nicht an irgendwelchen Marktpolitikern, sondern allein an Spartas und Persiens Königen sich zu messen habe. Im dritten Teile, wo sich nun die „Pflege seiner selbst" zu allerhöchst in der Selbsterkenntnis zeigt, ist Alkibiades durchaus der fugsam Antwortende. Nur noch einmal wird seine Stimmung deutlich, da er angesichts einer vorerst nicht lösbaren Aporie wie im ersten Teile seine Verwirrung und Beschämung bekennt (127 B). Dieser Gegensatz aber des ersten und des dritten Teiles ist kein Zufall oder kein Nachlassen der charakterisierenden Kraft1). Des Schülers Hochmut ist gebrochen, er ist sich selbst vor dem Überlegenen in seiner Nichtigkeit durchsichtig geworden, und seine Beschämung und Fügsamkeit liegt auf dem geraden Wege, der von dem heftigen Widerstreben des Dialogbeginns zu der Hingabe des Dialogschlusses folgerichtig fuhrt. Zugleich ist das ruhig sachliche Hinhören und Antworten die Voraussetzung, unter der Sokrates dem Partner erst die Problematik des Staatsgefuges und der Selbsterkenntnis kann sichtbar werden lassen. Denn in diese beiden Richtungen geht der Dialog in seinem letzten ') Damit möchte ich das, was D. Gr. A. 121 oben gesagt wurde, verbessern.

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Periode L Gruppe D.

Teil auseinander. In der ersten Gedankenreihe wird die Aufgabe des politischen Handelns erforscht bis dorthin, wo scheinbar in unlösbarem Gegensatz das zentripetale Prinzip der Homonoia und das zentrifugale der Idiopragie sichtbar werden. Dieser Widerspruch aber soll von dem Weiterdenkenden so geschlichtet werden, daß die beiden Prinzipien nicht nur in Gedanken sondern in der Tat zu einer „Harmonie des Widerspänstigen" auszugleichen als die große Aufgabe des wahren Staatsmannes sichtbar wird. In der zweiten Gedankenreihe wird die „Pflege seiner selbst" als „Selbsterkenntnis" bestimmt, das „Selbst" als „Seele" gedeutet, welcher ihr Rang über dem Leibe gesichert wird und erst recht über dem, was den Leib als äußerer Besitz umgibt. Die Erkenntnis weist sich aus als Erkenntnis des Göttlich-Vernunftvollen in der Seele, die wahre Liebe als Liebe zur Seele und Weg zu dieser Erkenntnis. Und wiederum sieht man das Problem des Staates und der Erkenntnis nur scheinbar unvermittelt nebeneinanderstehen. In Wahrheit streben beide zusammen, indem jene bisher noch ungeschlichtete Divergenz der Staatsziele geschlichtet werden müßte und könnte durch den Wissenden, ebenso wie die hier gemeinte Selbsterkenntnis den Menschen nicht vereinzelt, sondern ihn gerade zu seiner wahren staatlichen Aufgabe führt. Weisen wir hier auf eine eigentümliche Formverwandtschaft zwischen unserm Dialog und dem Hipparch hin, den wir hoffentlich nicht ohne einige Wahrscheinlichkeit als eine der frühesten Schriften im platonischen Werk in Anspruch nehmen. Beide Dialoge nämlich stellen in die Mitte eine lange Rede des Sokrates, die von den Erklärern in ganz gleicher Weise als platonfremde Ausbreitung historischer oder völkerkundlicher Gelehrsamkeit mißdeutet wird, weil man in beiden Fällen die ironischen Spiegelungen und das übermütige Spiel mit jenen Wirklichkeiten übersieht. Der Hipparch gibt ein phantastisches Bild von den Erziehungswegen des Peisistratiden: wie er mit Eifer aber mit sehr unsokratischen Mitteln, Dichtung und lehrhaften Epigrammen, seine Athener zur „Gerechtigkeit" erzieht, wie er sich in einen Wettbewerb mit dem „Erkenne dich selbst" des delphischen Wortes einläßt, wie er schließlich ungeachtet seiner pädagogischen Bestrebungen den aus ähnlichen Bestrebungen handelnden Verschworenen zum Opfer fällt. Der Alkibiades gibt ein phantastisches Bild von Reichtum und Erziehung, wie sie am spartanischen und besonders am persischen

17. Alkibiades.

239

Königshof verbunden seien, und lehrt, wie wenig ein vornehmer Athener an einen Wetteifer auch nur denken könne. Im Hipparch ist es eine Welt, die sich zwar über der „Gewinnsucht" — dem Thema des Dialoges — erhebt, aber doch in sich selbst unzulänglich ist und nach wahrer Erziehung ruft. Im Alkibiades erhebt sich die geschilderte Wirklichkeit — eine Wirklichkeit wie in den Lettres Persanes, nicht wie in einer wissenschaftlichen Ethnographie! — über dem Dasein des hochstrebenden Jünglings, und der mit ironischer Phantastik geschilderte Zustand treibt aus sich die Forderung hervor, die Sokrates der Perserkönigin in den Mund legt: „Es ist gar nichts auszudenken, worauf dieser Mann bei seinem Beginnen sich verlassen könnte, es sei denn auf sorgsame Pflege und Weisheit. Denn einzig dies ist der Rede wert unter den Hellenen." Wenn nun so die beiden Dialoge unverkennbare Verwandtschaft des Baues zeigen, so ist doch auch hier die größere Reife des Alkibiades unverkennbar. Der Hipparch erörtert den Begriff der Gewinnsucht vor der mittleren Rede in ergebnisloser Gesprächsfuhrung, und nach der Rede setzt sich das Gespräch in ganz gleicher Weise ohne Ergebnis fort, derart daß es in sich selber zurückkehrt. Der Alkibiades hingegen hat den ersten und dritten Teil scharf abgehoben. Im ersten Teil demütigt Sokrates den Stolzen, zerstört seine falschen und gefährlichen Meinungen, beginnt das wesentliche Ziel des wahren politischen Wirkens, die „Gerechtigkeit", aufzuklären. Im dritten zieht er den Gedemütigten freundlich an sich heran und geleitet ihn zu der Grundfrage staatlicher Gemeinschaft und zu einer ersten Einsicht in das Gefüge des Menschen. Im Hipparch sichtet das Mittelstück eine Ebene über der des eigentlichen Gesprächs, zu der also dieses erhoben, ja über die es hinausgehoben werden muß. Im Alkibiades sichtet die Königsrede gleichfalls eine Ebene über der Nicht-Erziehung, wie der Jüngling sie meint; aber zugleich wird mit den Begriffen „sorgsame Pflege und Weisheit" die Bewegung in den dritten Teil hinübergeleitet und damit das eigentliche Ziel des Dialoges in den Blick gerückt: die sokratisch-platonische Bildung. Wir haben mit alledem den Dialog wohl auch schon einzupassen gesucht in das platonische Gesamtwerk. Aber mehr noch lag uns daran zu zeigen, wie er sich von allem Vergleichbaren in diesem Gesamtwerk unterscheidet. Dieser Unterschied erwies sich als ein

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Periode I. Gruppe D.

Darüberhinaus vor allem an Gespanntheit menschlichen Daseins. Es gibt unter den kleineren Dialogen Piatons keinen, in dem der gefüllte Augenblick, alles Vorher und Nachher in sich einbeziehend, mit so unwiderstehlicher Gewalt sich darstellt. Wird man daraus folgern, das ein anderer den Piaton übertroffen habe? Oder ist es nicht vielmehr Piaton, der sich und seine frühere Leistung in diesem Dialoge selbst übertrifft? Verdeutlichen wir schließlich die Stellung des Alkibiades im platonischen Gesamtwerk. Wir haben daran erinnert, daß unser Dialog als elenktisches Begegnungsgespräch zwischen Sokrates und einem jungen Menschen der Charmides-Gruppe nahe steht. Mit ihren Vertretern berührt er sich in seinem Anfang und in seinem Schluß. Im Anfang des Charmides Lysis Alkibiades wird zuerst auf sehr übereinstimmende Art, wenn auch mit verschiedener Tönung, edle Geburt und Schönheit des Partners gezeigt. Dann setzt die Bewegung des Gesprächs bei ihm selber an, bei der Sophrosyne des Charmides, der Freundschaft zwischen Menexenos und Lysis, dem Plan des Alkibiades vor das Volk von Athen zu treten. Und der Schluß des Dialoges weist im Charmides Laches Alkibiades gleichermaßen auf den neu geschlossenen Bund von Meister und Schüler. Aber freilich: als nun das Gespräch zu seinem eigentlichen Gegenstande kommt, sondert sich der Alkibiades von der genannten Gruppe mit ihrer definitorischen Form und ihrer Aporetik. Wohl hat auch in ihm der Dialog aporetische Momente genug. Aber die große Bewegung ist von ganz anderer Art, so nämlich, daß sich gegen die feindliche Kraft, die als das Tyrannische aus Alkibiades hervorblickt, das Eigene des sokratisch-platonischen Staats- und Erziehungsprinzipes durchsetzt, wie es in viel weiteren Kreisen und in viel schärferem Kampf gegen die tyrannische Gefahr der Gorgias entwickelt 1 ). Gorgias und Alkibiades berühren sich im Ansatz des Gesprächs. Alkibiades will auftreten, um den Athenern „Rat zu geben", er will in der Ekklesie den Demos „überreden". Gorgias stellt an den Anfang, da er nach dem Wesen der Rhetorik gefragt wird, ihre ') Die Ubereinstimmungen zwischen Gorgias und Alkibiades sind früher aufgewiesen worden: D. Gr. A. 134ff. Einiges ist dort noch nicht zu seinem Recht gekommen, so die Ubereinstimmung im Schlüsse. Auch in den Zusammenhängen ist hier noch manches verdeutlicht, dafür sind einzelne Gemeinsamkeiten jetzt übergangen worden.

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17. AlkibiadeB.

Fähigkeit Richter und Volksversammlung zu „überreden" (452 E), und Sokrates formuliert danach ihr Wesen, indem er sie „Wirkerin der Überredung" (ireiöouq brmiouptös 453 A) nennt. In beiden Dialogen wird dann der Bezirk, in dem dieses Überreden sich geltend mache, als der „des Gerechten und des Ungerechten" bestimmt und damit das wesentliche Ziel ins Auge gefaßt. Nun freilich nimmt der Gorgias seinen eigenen Weg, das Wesen der Rhetorik aufzudecken, und erst auf seiner zweiten Ebene, dem Gespräch zwischen Sokrates und Polos, zeigt sich sein Parallelismus mit dem Alkibiades-Dialog von neuem. Denn Polos will die Rhetorik von jeder Beziehung zum Gerechten befreien. Er erkennt nicht Gerecht und Ungerecht als bestimmend für das Wesen eines Tuns an, sondern Nutzen und Schaden. Worauf Sokrates ihn mit dem Nachweis bekämpft, daß es (in der Tiefe, auf die Sokrates zielt) keinen Unterschied zwischen Häßlich und Schlecht gebe, daß nichts Ungerechtes nützlich sein könne. Im Alkibiades entspricht (auf der Stufe I 3) die These des Alkibiades, daß es sich im Staatsleben nicht um Gerecht und Ungerecht, sondern um Nützlich und Schädlich handle, und ganz ähnlich weist gegen ihn Sokrates auch hier die Einheit von Gut und Schön, also auch von Gerecht und Nützlich nach 1 ). Das dritte Gespräch im Gorgias, zwischen Sokrates und Kallikles, hat noch einmal ein großes Stück seiner Bewegung mit unserm Dialoge gemeinsam. „Du beginnst dich mit den Staatsangelegenheiten zu beschäftigen," sagt Sokrates (515 A) zu Kallikles, wie er es zu Alkibiades sagt. „Aber bevor wir das tun", heißt es hier wie dort (Alk. 109 D. Gorg. 514 B), „müssen wir uns fragen, ob wir uns auf die Kunst verstehen, und von wem wir sie gelernt haben." Darauf folgt im Gorgias die vernichtende Kritik an Perikles und den andern athenischen Staatsmännern, die ihr Volk nicht erzogen haben, im Alkibiades ein Stück später (in II) der sehr ähnliche, nur verhülltere Vorwurf gegen Perikles. Und am Schluß fuhren die beiden Dialoge überraschend genau auf denselben Punkt. Denn im Gorgias wird in weiter Kurve und mit dem Eintauchen in den Jenseits-Mythos die Glücksrechnung zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten aufgemacht, im Alkibiades kurz aber scharf die Eudämonie auf die Seite der Arete, das Unglück ') VgL D. Gr. A. I 36f. und oben S. 236.

FriedlSnder, Piaton.

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Periode I. Gruppe D.

auf die der Tyrannis gestellt. Dann schließt der Gorgias: „Erst gilt es die Ärete zu üben, zur Kalokagathie zu gelangen. Dann wollen wir an die Politik gehen. Denn schandlich ist es, uns in unserer Unerzogenheit aufzuspielen, als ob wir irgend etwas wären." Und ganz ähnlich der Alkibiades: „Riete mußt du erwerben und nicht nach Willkürherrschafit streben. Bevor man aber Arete hat, ist es besser, von dem Überlegenen beherrscht zu werden." Man braucht nur die Anfangs- und die Schlußpunkte beider Dialoge zu fixieren, und schon ist deutlich, daß der Gorgias die Problematik und Problembewegung des Alkibiades voraussetzt. Er weitet sie aus, indem er zu objektiven Sachverhalten und Kultursystemen, wie sophistischer Rhetorik und bewußtem Immoralismus, auseinanderwachsen und von besonderen Personen vertreten werden läßt, was in dem früheren Werk noch in der einen Gestalt des Alkibiades als dessen persönliches Sein eingeschlossen war. So erweist sich, wenn wir zusammenfassen, die menschliche Bewegung unseres Dialoges der Charmides-Gruppe verwandt, obgleich in gespannter Dramatik über sie hinausgewachsen. Die Gedankenstrukturen hingegen, die sich mit dieser menschlichen Bewegung durchschlingen, sind als Vorform des Gorgias aufs deutlichste erkennbar. Zuletzt ist das Verhältnis des Alkibiades zur Politeia zu klären. Wie wir ehedem ausführlich gezeigt haben, bleibt im Alkibiades der Konflikt zwischen den zwei im Staat wirkenden Bestrebungen, der zentripetalen des Gemeinsinnes (qpiXia, öpövoia) und der zentrifugalen, daß „jeder das Seinige tue", ungeschlichtet in der Aporie stehen, während in der Politeia auf der Versöhnung dieser beiden gegensätzlichen Strebungen das Gefüge des Staates ruht 1 ). Auch hier läßt sich der Ausblick erweitern. Der erste Teil des Alkibiades rückt in die Mitte sehr bald den Begriff der Gerechtigkeit. Unwissenheit über Gerecht und Ungerecht in dem doppelten Sinne gedanklicher und praktischer Unsicherheit, das ist es, was Sokrates an seinem Schüler entdeckt und zu überwinden sucht. Ebenso beginnt der Staatsbau mit dem Kampf um das Wesen der Gerechtigkeit und mit der Uberwindung des tyrannischen Ideals, das keimhaft aber unverkennbar schon in dem jungen Alkibiades angelegt ist und in ihm von dem Meister bekämpft wird (105 A ff. ») D. Gr. A. 123ff. ü 62ff.

17. Alkibiades.

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134 C). Im Schlußteil des Alkibiades fuhrt die „Sorge für sich selber" erst zu jener ungelösten Aporie über die Struktur der Polis, auf der zweiten Stufe zumEinzelmenschen, dessen Struktur — Leib und Seele, das Herrschende und das Dienende in der Seele — im Akt der Selbsterkenntnis deutlich wird. Das Wesen des Staates bleibt in der Aporie stehen, die Aufklärung über den Menschen bleibt im Vorläufigen, ohne die Sphäre des An-sich (aÜTÖ t ö aüxo 129 B. 130 D) mehr als ganz von fern in den Blick zu bringen. Alles dieses kehrt in der Politeia wieder, nur freilich in größten Maßen, in unvergleichlicher Vertiefung, in festester Verbindung. Die Gerechtigkeit wird der Unterbau der Polis. Die Aporie der Staatsstruktur wird gelöst, indem gerade das scheinbar Widerstrebende zusammengebogen und auf den Ausgleich zentrifugaler und zentripetaler Strebungen der Zusammenhalt gegründet wird. Zum Anblick der Idee steigt der Mensch aus der Höhle empor. Die Strukturen des Staates und des Einzelnen stehen nicht mehr nebeneinander aufgereiht, sondern sind jene konzentrische Verbindung eingegangen, durch die das Wesen der platonischen Politeia mehr fast als durch irgend etwas anderes bestimmt ist. Erst so ist der Alkibiades als Vorform des platonischen Hauptwerkes deutlich. Wir sehen in ihm die Bewegung sich vollziehen, die von den aporetischen Definitionsdialogen zur Gründung des platonischen Reiches im Gorgias und zu seinem Ausbau in der Politeia hinüberfuhrt1). ') Schlußbemerkung. Daß das Echtheitsproblem nicht in seiner Breite von neuem erörtert worden ist, wird jeder billigen. Nur auf wenige neue Angriffe gegen die Echtheit ist hier zu erwidern. — W. Jaeger, Aristoteles 169, athetiert den Dialog, weil er ihn gipfelnd findet „in der umständlich und ziemlich schulmäßig entwickelten These, daß die delphische Forderung f v u > 6 i o auT öv nur durch die Selbstanschauung des voOs im Spiegel der Gotteserkenntnis zu verwirklichen sei". Dieselbe Zurückführung aller ethischen Fragen auf die Gotteserkenntnis vertrete auch die Epinomis, und so sei der Alkibiades offenbar ein Versuch eines Platonschfilers, die Probleme der platonischen Frühzeit „in einem dogmatisch festen Prinzip zu verankern: in der Mystik der spät-platonischen Nus-Lehre". Aber Jaeger hat sich hier durch eine Interpolation täuschen lassen. Denn vom Spiegel der Gotteserkenntnis ist nur die Rede in den Worten 133 C 8 ff., die bekanntlich in unsern Platon-Handschriften fehlen, und deren Unechtheit durch die Exegese allem Zweifel enthoben wird. (Alter und Herkunft der Interpolation wage ich nicht zu bestimmen. Zum Bild vgL Oden SalomoB 13: „Siehe, unser Spiegel ist der Herr, öffnet die Augen und erblickt sie in ihm und erfahret, wie euer Angesicht ist." Vgl. auch Goethe, Vermächtnis altpersischen Glaubens „.. .Uns und Engeln reiner Gottesspiegel".) Daß das „theologische" Element, welches von der uninterpolierten Überlieferung geboten wird, 16*

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Periode L Gruppe C.

zu weittragenden Schlüssen und chronologischen Ansätzen nicht verwertet werden kann, ist D. Gr. A. II 14 ff. zu zeigen versucht worden. Das dürfte bestehen bleiben, auch wenn 133 Ä ff. im einzelnen etwas anders interpretiert werden muß (s.u.!). Die Beziehungen auf Persien, die Jaeger a. O. 133f. mit den orientalischen Neigungen der späteren Akademie zusammenbringt, dürften in der Zeit bald nach dem Kyros-Zuge ebenso möglich sein wie in Piatons letztem Jahrzehnt Es handelt sich genau besehen gar nicht um „orientalischen Einfluß". Sondern persische Zustände werden in graziösem Spiel vergegenwärtigt, für das der Ausdruck „die Parallele der platonischen vier Tugenden mit der Ethik Zarathustras" viel zu schwer, zu sehr geistes- und dogmengeschichtlich beladen ist. Er ist auch nicht einmal richtig. Denn nicht um die Ethik Zarathustras handelt es sich, sondern um persische Sitte, in der die fia-feia Zuipodorpou nur ein Gegenstand unter mehreren ist. Zu gedenken ist zweitens des Angriffs, den E. Hoffmann, Vortr. d. Bibl. Warburg, 1923—24 (Teubner 1926) 56f. gegen den Dialog geführt hat. Hoffimann findet dort ein Rezept: „Schau in eine Freundesseele, dann schaust du in deine Seele, und damit schaust du Gott." „Das ist so einfach, wie einem andern in die Pupille sehen." Das „Prestissimo eines Sechsachteltaktes" liegt aber recht besehen gar nicht in jenem Gleichnis, sondern in der Interpretation Hoffinanns, die, wie das ja der Grundfehler vieler Platon-Interpretationen ist, nicht die Gestalten hinter den Worten sieht. Es handelt sich nämlich nicht um Hinz oder Kunz, in dessen Seele man nach jenem Gleichnis blicken soll, sondern um Sokrates. Ob das einfach oder leicht ist, ob nicht vielmehr „Arbeit und Mühe, Erziehung txnd Weg" in jener Forderung liegt, bitte ich Hoflmann noch einmal zu überlegen, wozu freilich nötig ist, daß man den ganzen Dialog und nicht nur das Gleichnis betrachtet. Vielleicht ist doch die „Flüchtigkeit" nicht bei dem Verfasser des Dialoges, dessen Thema ja geradezu das ist, was Hofimann vermißt: ¿iriniXeia iauroO. Willmandie Alkibiades-Stelle an etwas wirklich Trivialem messen, so lese man ihren Reflex in den Magna Moralia 1213* 13ff. Vgl. dazu Walzer, Neue philol. Unters. VII232, wo das Urteil durch Jaeger bestimmt ist. (Die andern Argumente Hoffmanns wiederholen nur längst Gesagtes und Widerlegtes. Zu dem Nebeneinander von 6cö; und bai^öviov vgl. Band I 41 f, 47. Härder, Uber Ciceros Somnium Scipionis 14 Anm. 2, wiederholt E. Hoffmanns Argument von der angeblichen Vergröberimg.) Drittens hat Pavlu, Nachtr. zum pseudoplat. Alk. I, Mitt. des Ver. Klass. Philologen in Wien 1929, 21 ff., die beiden Stellen über Daidalos im Euthyphron 11 Bff. und Alkib. 121 A verglichen, um die zweite als schlechte Nachahmung der ersten zu erweisen. Im Euth. bezeichne Sokrates sich scherzend als Glied der Daidalidenzunft, im Alk. allen Ernstes als Nachkommen des Daidalos. Aber a) sind beide Stellen ganz gleich scherzhaft, b) ist die Zugehörigkeit zur Steinmetzenzunft an beiden Stellen genau gleichermaßen genealogisch ausgedrückt: TOO fmexipou irpofövou AaiMXou Euth., TÖ ruaerepov &vaf|nov, Ta? |iév f|jiépae(kvuto ¿opTá( áiroKaXeiv, xa ii xútXa Xafiirdba;. Vgl. p. 114. (Fehlt unter den Fragmenten bei Diels.) Wenn nur íoprdi; stünde, könnte es aus dem Anfang des platonischen DialogeB herausgesponnen sein; Xa>mdba; spricht für die Echtheit der Nachricht. *) Schleiermacher II 1, 8 . . . . der Eingang des Protagoras, man möchte sagen fast wörtlich, hier wieder a u f g e n o m m e n . . A u f w e i s der Ubereinstimmungen bei Pohlenz 129 ff.

18. Gorgias.

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wie dort ist der Vorstoß auf diesen sophistischen Bereich gerichtet, der im Protagoras mehr als Erziehungssystem, im Gorgias mehr als rhetorisch-politisches Wirken gesehen wird. Im Protagoras wird dann der Dialog auf die Frage nach dem Wesen der Arete abgedrängt, während im Gorgias das Was der sophistischen Beredsamkeit Gegenstand bleibt. Wer diese Formverwandtschaft erfaßt, für den klingen mit dem Vorgespräch des Gorgias Erinnerungen an Dinge herein, die früher ausgeführter da waren, hier nur eben wie von fern gehört werden sollen. Da ist zuerst der Gegensatz von Rede und Dialog. Gorgias hat eine Epideixis gehalten. Kallikles spricht zu Sokrates die Hoffnung aus, der Meister werde sie wiederholen oder fortsetzen. Hingegen Sokrates legt ihn sofort fest auf Rede und Antwort. Der Vortrag könne ja später kommen. (Ja später, wenn der Anspruch der Rhetorik vernichtet ist! so wie im Jon (530 D) Sokrates den Prunkvortrag des Sophisten auf später verschiebt.) Nun, Gorgias kann auch im Gespräch als Antwortender seinen Mann stehen. Aber das ist für ihn nicht eine Annäherung an das sokratische Prinzip, sondern nur eine andere Form der Epideixis, also gleichsam das gespenstische Gegenbild der sokratischen Dialektik. Die Kämpfe, die im Protagoras bis zur drohenden Auflösung alles Gespräches durchgekämpft wurden, klingen hier nur noch nach. Aber daß sie nachklingen, muß man beachten. Und an den früheren großen Sophistendialog mit seinen Spannungen wird man besonders erinnert, wenn Gorgias ganz dasselbe Programm wie dort Protagoras verkündet: er könne Reden halten von unübertrefflicher Länge und Antworten geben von unübertrefflicher Kürze (449 BC. Protag. 334 E). Das sind bei den Sophisten keine inneren Gegensätze, sondern zwei Pole derselben Allgewandtheit. Zweitens klingen herein die Definitionsirrtümer von früher. Als Polos seine und des Meisters Redekunst nach ihrem Wesen bestimmen soll, kommt trotz allerlei Anleitung durch Beispiele dieses heraus: sie sei „die schönste der Künste" (448C). Auch Gorgias merkt nicht, was Sokrates daran auszusetzen hat — wo denn, wie so oft, die mangelnde logische Schulung einen tieferen Mangel aufdeckt: daß ihm an der Sache weniger liegt als an dem Putz, den sie ihm selber bringt —, und so muß Sokrates ihm den Unterschied klarmachen zwischen Wesen (xi? fixvri) und Beschaffen-

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Periode L Gruppe D.

heit (noia TI? Ttxvn), der schon im Euthyphron und Großen Hippias

— sogar terminologisch (oücria — 7rä0os) — erfaßt worden war. HauptSokrates wendet sich an Gorgias als den berufsmäßigen Vertreter gesprach j e r rhetorischen Kunst und fragt ihn nach dem Gegenstand des 449 A—461 B Wissens und Erziehens, dessen er sich rühmt (nepi Ti TWV OVTUJV Ii. Tirrxävei oucra; 449 D). Gorgias kann noch glauben, daß es auf 449 A—454 B s e i n e n Ruhm abgesehen sei, und wenn es ihm Sokrates nicht aus-

drücklich verwehrt hätte, würde wohl die Antwort eine Preisrede auf seine Kunst sein, wie sie im Kleinen Polos gegeben hat, wie sie im Protagoras-Dialoge Protagoras gibt. Gorgias ahnt nicht, daß schon als er dem Sokrates sich fugte, dieser sein Gesetz ihm auferlegte, und daß die Rhetorik ihren Anspruch vor der Philosophie wird zu rechtfertigen haben. Gorgias nennt als das Was ganz allgemein und viel zu weit „das gesprochene Wort" (irepi XÖTOUS), worin sich ebensosehr ein Mangel an begrifflicher Schärfe wie ein übertriebener Anspruch anzeigt. Sokrates hilft klären. Daß die Rhetorik nicht nur reden sondern denken und reden («ppoveiv Kai X£feiv) lehrt, bringt er heraus und bewahrt damit das Wort, zu einem leeren Schall zu werden. Dann hilft er den zu weiten Bezirk — in diabetischem Verfahren — zweifach einschränken. Zunächst scheiden jene Künste aus, für die das Wort nur minder wichtige Begleitung eines Tuns ist. Aber auch da wo es herrscht, muß der Rhetorik gegenüber vielen andern Künsten — unter denen die mathematischen Wissenschaften sind — ein noch engerer Platz abgegrenzt werden von ihrem „Worüber" (Ttepi TI) her. Als ob Gorgias seiner Kunst, was sie an Raum verliert, an Kraft wiedergewinnen wollte, bestimmt er den Gegenstand als „das Größte und Schönste", womit er auf höherer Stufe in den Fehler des Polos zurückfällt und wie jener mit dem Mangel an logischer Schulung zugleich seine Eitelkeit verrät. Und doch weisen gerade diese anscheinend so leeren Worte mit einer eigentümlichen dramatischen Ironie in das Folgende hinein. Nachdem nämlich Sokrates das Fehlerhafte in der letzten Antwort des Gorgias kritisiert hat, kommt wortreicher als nötig das „Überreden" und zwar in staatlicher Versammlung (ÖCTTU; fiv TTOXITIKÖ? crüXXoYoq YifvnTai) heraus. Da ist das Politische als Feld der Rhetorik gesichtet, und ihre Wichtigkeit steigt noch, indem sie zur Ursache der eigenen Freiheit und der Herrschaft über andere gemacht wird (452 DE). Man merkt, wie das Thema des späteren Dialoges hier eben auf-

18. Gorgia».

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taucht. Sokrates zieht knapp zusammen: sie ist „Wirkerin der Überredung" (itei0oOq örmioupto? 453 Ä)1). Abermals erweist sich, daß dies zu weit ist. Abermals geht die Frage nach dem Worin, bis schließlich Gorgias ihren Gegenstand als das „Gerechte" und „Ungerechte" bestimmt (rcepi TOUTUJV ä ¿cm ÖIKAIA TE Kai aöiica 454 B). Damit hat die Rhetorik ihren Anspruch bekannt, den höchsten im Sinne des Sokrates, höher als irgend jemand, z. B. Gorgias, ahnen kann. Den Anspruch, den nur eine ganz andere Kunst als die seine in Wirklichkeit erheben könnte. Diesem Anspruch gegenüber muß Sokrates sein Amt, Grenze zu 12. setzen, weiterfuhren. Er stellt mit Gorgias — wiederum d i a i r e - 4 5 4 0 - ^ tisch — den Unterschied fest zwischen Erkennen, Gelernt-haben, Wissen (emairmn, ne^aöriKevai), das die Dinge so wie sie sind zu Gesicht bekommt, und Hinnehmen auf Treu und Glauben (iricrns, T r e m ( T T e u K e v a i ) , das je nachdem richtig oder irrig ist. Danach ergibt sich, daß jene Uberzeugung (neiöiu), die die Rhetorik wirkt, nur gläubiges Hinnehmen ist, nicht die Gewißheit des Eingesehenhabens, schon darum, weil eine Menge in kurzer Zeit über so wichtige Dinge zu belehren gar nicht möglich ist (455 A). So ist der Bezirk der Rhetorik im doppelten Sinne eingeschränkt. Einmal in der Breite; denn sie hat es nicht mit den Sachgebieten des Lebens zu tun, für die vielmehr jeweils die Fachleute zuständig sind. Zweitens in der Tiefe; denn auch in dem was ihr noch bleibt, auf dem Gebiet von Gerecht und Ungerecht, hat sie kein Wissen. Was also bleibt ihr? Aber jetzt, wo die Rhetorik so an Kraft und an Umfang verloren 13. zu haben scheint, erhebt sich unerschüttert gegenüber noch so 4 5 5 starker Dialektik die Wirklichkeit des staatlich-geschichtlichen Lebens mit den großen Namen Themistokles und Perikles, die durch das Wort Gewaltiges gewirkt haben. Und getrieben von Sokrates breitet Gorgias noch einmal als das Wesen der Rhetorik aus: die Macht (öüvams 455 D 7. 456 A 8. C 5), die diese Kunst über allem Sachverständnis (z. B. des Arztes oder des Handwerkers) im Leben des Einzelnen und des Staates hat. Mit solcher Macht freilich meldet sich auch die Gefahr des Mißbrauchs. So *) Daß dies nicht etwa eine Definition des wirklichen Gorgias ist, sondern eine Etappe in Piatons Strategie, sagt richtig Mutschmann, Hermes 53, 440; auch daß die Form schon bei der Definition der Medizin als iifieia? brmioupföi; im Charmides vorliegt.

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Perlode I. Gruppe D.

fühlt Gorgios, der die Rhetorik vertritt, aber im übrigen einer durchaus bürgerlichen Moral ergeben ist, sich gedrungen, in demselben Zuge, nachdem er die Macht erhoben hat, vor Mißbrauch zu warnen und die Verantwortung für solchen Mißbrauch dem Mißbrauchenden aber nicht der Rhetorik, dem Schüler aber nicht dem Meister zuzuschieben. 14. Vom Leben her gesehen die Gefahr, vom Logos her gesehen der : -461B Widerspruch, der hier verborgen liegt, wird nun von Sokrates gezeigt und damit gegen die Stellung des Gorgias der entscheidende Stoß gefuhrt. Aber wie um die Bedeutung dessen was nun folgen soll zu steigern, einigt sich Sokrates mit Gorgias vorher, daß es ihnen nur auf die Sache ankomme und keine personliche Empfindlichkeit im Spiele sein dürfe. Gorgias stimmt ein wenig gezwungen zu und braucht die Unterstützung desumgebendenKreises, um das Gespräch weiterzuführen, das eben jetzt seiner Niederlage zusteuert. Ausjallem, was Gorgias von seiner Kunst gesagt hatte, zieht Sokrates die zugespitzte Folgerung: der Nichtwissende (der Rhetor) übt im Kreise von Nichtwissenden (der Masse) stärkere Überzeugungskraft als der Wissende (der Fachmann) ( Ö OÜK EIÖIII? dpa TOÖ ETFCÖTOQ ¿v OVK tiböffi iri9aviüTepo? larai 459 B). Die Fragwürdigkeit der Rhetorik kann nicht schärfer aufgewiesen werden als in dieser Formel, der doch Gorgias, wenn auch mit leiser Beklemmung ( T o u T o ^ v T a ö e d f 6 aufißaivti) zustimmen muß. Nun war aber vorher als das eigentliche Feld der Rhetorik „Gerecht und Ungerecht" anerkannt worden. Wie also: erstreckt sich das Nicht-zu-wissen-brauchen, das Nichtwissen des Rhetors auch auf Gerecht und Ungerecht, Schön und Häßlich, auf jene Wirklichkeiten also, die das Leben bestimmen? Man sieht, daß es streng folgerecht wäre, auch hier die Sachkenntnis von der Rhetorik wegzuschieben. Aber so weit geht Gorgias nicht, der die Macht der neuen Kunst mit einer überlieferten Moralität vereinigt, anders ausgedrückt, der von Piaton bestimmt ist, Vertreter jener verbreiteten, mit der überlieferten Moralität in scheinbarem Einverständnis stehenden Redekunst zu sein. Und so behauptet er denn, von Sokrates getrieben, auf dem Felde von Gerecht und Ungerecht die Notwendigkeit des Wissens. Der rednerisch Gebildete (¿»iTopitcöc) w e i ß das Gerechte. Dann aber ist er gerecht. Dann aber handelt er auch gerecht. Also kann er nicht Unrecht tun.

18. Gorgias.

253

Doch hier ist der Punkt, wo Sokrates ihm seinen Widerspruch nachweist. Wie vertragen sich die beiden Positionen: die eine, daß der rednerisch Gebildete niemals Unrecht tue; die zweite, daß ein Mißbrauch nicht auf das Schuldkonto der Rhetorik zu setzen sei sondern des Einzelnen? Gegen diesen Aufweis eines Widerspruches ließe sich einiges einwenden. Man könnte — mit Thrasymachos — den „Rhetor im strengen Verstände" (TÖV TW äxpiße! Xoyiu pritopiKÖv) hervorkehren. Dann würde von ihm jenes Nicht-Unrecht-tun-können gelten und von dem Rhetor im ungenauen Verstände, der dann eigentlich nicht Rhetor wäre, das Unrecht-tun-können. Freilich ließe sich nun wieder ernstlich fragen, worauf denn Rhetorik ihren Anspruch gründe, allein nur über Recht und Unrecht zu wissen, während sie doch in allen übrigen Dingen das Wissen preisgebe. Und es würde sich erweisen, daß sie diesen Anspruch nimmer begründen kann. So würde denn schon diese Erörterung hinausfuhren auf eine Scheidung zwischen der Rhetorik des Gorgias und jener wahren Rhetorik, die am Schlüsse des Dialoges auftaucht und die mit der Philosophie eins ist. Daß diese Polarität in dem von Sokrates aufgewiesenen Widerspruch beschlossen liegt, wird in einem weit vorgeschrittenen Stadium des Dialoges noch einmal deutlich (508 C), als Sokrates hierher zurückblickt und sagt: Gorgias habe zugegeben, „wer in richtiger Weise rhetorisch gebildet sein wolle, müsse gerecht sein und wissen auf dem Felde des Gerechten". Der Ton liegt auf dem „richtig". Ersichtlich würde Piaton, wenn er den aufgewiesenen Widerspruch zu lösen versuchte, schon in den Aufbau hineinkommen. Aber noch ist die gegnerische Position längst nicht genug entwickelt und darum längst nicht genug bekämpft. So bricht Sokrates hier ab: „Wie es sich damit verhält, beim Hunde, mein Gorgias, langen gemeinsamen Gespräches bedarf es, um darüber hinreichend ins Klare zu kommen 1 )." Der Gorgias-Schüler Polos greift ein. Die Selbstdarstellung der Rhetorik wird radikaler. Der Dialog tritt auf seine zweite Stufe. l ) xaOxa önr) noxi ¿x€l ist mit Bonitz auf den noch ungelösten Widerspruch zu beziehen. Was gegen diese Interpretation Gercke in der Einleitung zu Sauppes Kommentar S. XX einwendet, ist nicht recht verständlich. Was ist denn das letzte Ergebnis, wenn nicht eben der Aufweis des Widerspruches?

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Periode I. Gruppe D.

Die Selbstdarstellung der Rhetorik in Gorgias hotte eine Inkon-

461B—481B sequenz. In allen Dingen begnügt sich Rhetorik mit dem Schein

und siegt durch den Schein. Nur auf dem Gebiete „Gerecht und Ungerecht" sei Wissen erforderlich. Das stimmt weder mit der Wirklichkeit noch läßt es sich irgendwie aus ihrem Wesen begründen. Die Inkonsequenz beruht darauf, daß überlieferte Bindungen die Reinheit der Selbstdarstellung trüben, sowohl im Leben wie im Denken. In Polos, dem Jüngeren, der die Bindungen der älteren Generation nicht mehr hat (461 C 7), wird die Rhetorik zur reineren Äußerung über sich selbst kommen, und dadurch, daß Polos den Anspruch eines Wissens über Recht und Unrecht aufgibt, wird noch stärker als auf der ersten Stufe das ethische Problem Gegenstand werden. Wieder spielt in die Erörterungen hinein jener Gegensatz zwischen sokratischer und sophistischer Form. Schon zu Anfang, da Polos mit einer Rede —einer überstürzten, anakoluthischen Rede 1 ) — einsetzt (wie er ja schon zu Beginn des Ganzen durch eine Rede aufgefallen war) fordert Sokrates als Bedingung von ihm, daß er die Makrologie draußen lasse (461D), und zwingt ihn sich dem Gespräch zu fügen. Polos übernimmt die Rolle des Fragenden, vielleicht weil er gleich dem Thrasymachos (Staat 1336 C) fragen für leichter hält. Und nun ist ein ergötzliches Spiel, wie er nicht methodisch zu fragen weiß, und wie Sokrates seine Fragen leitet, also auf dem Wege über Polos die Fragen an sich selber stellt2). Polos zeigt deutlich, daß er den Grundzug im sokratischen Gespräch, das methodische Fortschreiten, (tö nepaivtaGai töv X o t o v 454 C), nicht begreift. Denn er macht als Fragender denselben Fehler, den er schon im Vorgespräch begangen, den dann auch Gorgias begangenhatte (449E. 451D). Und wiederumist der logische Fehler zugleich ein ethischer ^Indern Polos zu unrechter Zeit und wiederholt fragt, ob Rhetorik nicht „etwas Schönes" sei (462 C. 463 D), verrät er, daß er das noTov von dem ti nicht unterscheiden könne, und offenbart er zugleich seine Eitelkeit, der es mehr auf das Berühmtwerden als auf die Einsicht ankommt. Wenn der Sophist die sokratische Form leichthin an sich nimmt, die doch nur in der Hand des Meisters ein edles Instrument ist, und sie ') Vgl. t . Wilamowitz II 372f. L. Reinhard, Anakoluthe bei Piaton 86f. *) In 462 D hat Burnet die von Hirschig berichtigte Personenverteilung anzunehmen versäumt.

18. Gorgias.

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nicht zu gebrauchen versteht, so antwortet Sokrates damit, daß er seinerseits einmal die sophistische Form der langen Rede usurpiert und diese Ausnahme ausdrücklich mit der Unfähigkeit des andern zu philosophischem Gespräch begründet (465 E). Es ist der besondere Humor der Sache, daß er gerade in dieser rhetorisch-sophistischen Form die vernichtende Einordnung von Rhetorik und Sophistik in das System der Afterkünste vollzieht Der Kampf um die Form geht als ein leises Geplänkel weiter durch dieses ganze Gespräch. Eine lange Rede des Polos wird als gegen die Abrede gerügt (471D) von Sokrates, der gleich darauf wieder derselben langen Rede sich bedient. Selbst Fragen des Polos sind offenbar als rhetorisch in Frage gekleidete Behauptungen, nicht als prüfende Fragen im sokratischen Sinne gemeint, worauf Sokrates den Partner hinweist, während dieser hinterdrein den Charakter seiner Fragen anders erscheinen lassen will (466 A-C). Und statt zu beweisen, lacht Polos den Gegner aus oder will ihn gruseln machen (473DE), oder er beruft sich auf die allgemeine Ansicht oder auf die Anwesenden; nach der scherzenden Deutung des Sokrates: er will eine Abstimmung herbeifuhren, wobei Sokrates seineUnfähigkeitimparlamentarischenBrauchunddasUnpassende des Verfahrens für wirkliche Erkenntnis ironisch hervorhebt (473 E. 475 E f.). Noch eine wichtige Einzelheit der Formbildung. An jener Stelle, wo Polos sich mit der sokratischen Methode nicht zu helfen versteht, greift Gorgias wieder ein und das Gespräch geht eine Weile zwischen ihm und Sokrates, bis dieser in seiner großen Rede der Sophistik einen vorläufigen Platz anweist, der, wenn er genau erwiesen werden könnte, sie vernichten würde. Daß Gorgias von neuem einbezogen wird, ist nicht nur ein Mittel, um die Hilflosigkeit des Polos noch eindringlicher werden zu lassen. Sondern im Formsymbol deutet sich an, daß hier die Ebene des ersten Gesprächs die des zweiten durchdringt. Die beiden Ebenen sind also bei Piaton nicht so voneinander geschieden, wie eine schematische Betrachtung es leicht scheinen lassen kann 1 ). In die Frage nach ') Selbst eine so gate Analyse wie die von Bonitz und gerade sie. Bonitz hat gewiß recht gegen diejenigen, die zwischen der Gorgias- und der Polosstufe nicht glaubten scheiden zu müssen (vgl. bes. Bonitz 41 ff.). Und doch muß auch seine allzu starre Grenzsetzung wieder gemildert werden.

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Periode I. Gruppe D.

der Wirkung der Rhetorik und n a c h ihrem Verhältnis zur Gerechtigkeit greift tief ein die Frage n a c h ihrem Wesen, n 1. Diese Frage also wird zunächst neu gestellt. Sie kommt zu ver3-466A. blüffender, wenn auch sehr vorläufiger Lösung in jener Rede des Sokrates, die die Rhetorik als Schmeichel- oder Äfterkunst festlegt innerhalb eines diairetisch gegliederten Systems von Künsten, die den Leib und die Seele zu fordern beanspruchen und doch nur Abbild eines Systems von Künsten Sind, die den Leib und die Seele wirklich fordern (464 B - 465 D)1). So tritt sie auf als Schattenbild eines Teiles der Politik (ttoXitiktii; noptou eibujXov 463 D). Damit ist ihre Unwirklichkeit und ihre Teilhaftigkeit charakterisiert, und die ernsthaften und eigentlich wertvollen Geschäfte, echte Politik Gesetzgebimg Rechtspflege, erscheinen auf der anderen Seite, ihr gegenüber. So sieht die von allen notwendigen Beziehungen auf „Gerechtigkeit" entleerte Rhetorik aus —vor Sokrates! Auf den Gegner freilich m a c h t diese Entwertung keinen Eindruck. Sie wird ja nur behauptet, nicht dialektisch gewonnen. Nur so, als eine vorläufige Antwort auf die Frage der ersten Stufe, darf sie hier stehen. Auch wird sich d a s Prinzip, n a c h dem die Tafel der Künste und Afterkünste geordnet ist, erst auf der dritten Ebene des Dialoges im dialektischen Kampfe klar entfalten: der Gegensatz zwischen dem Guten und der Lust (ߣXTiUXQ geht Vgl. 358 B 4 mit 354 B 4.

22. Staat.

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Gegenkräfte, die Sokrates niederzuringen (KaraTraXaicrai 362 D 8) hat, in zwei großen Reden des Brüderpaares zusammen. Je weniger die beiden das was sie sagen als ihre eigne Meinung sagen, um so schärfer tritt in ihren Reden die furchtbare Zersetzung der menschlichen Norm vor Sokrates hin, der sie allein heilen kann. Wir erinnern an den Inhalt dieser Reden, fragen dann, wie sie herausgewachsen sind aus Piatons früherer Schriftstellerei, und untersuchen zuletzt, wie durch sie der Bau des Werkes in dem sie stehen weithin bestimmt wird. R e d e d e s Glaukon. Die Rede des Glaukon ist dreiteilig. Dern358B-362C erste Teil trägt an der Spitze den Satz: dem Wesen nach, „von Natur", sei Unrecht tun gut, Unrecht erfahren schlecht. Das wird noch gesteigert: das (von Natur) Beste ist es, straflos Unrecht zu tun, das (von Natur) Schlechteste, Schlimmste ist es, Unrecht zu erfahren ohne die Kraft, sich dafür rächen zu können. Dieser ursprüngliche Zustand, so wird in einer Genealogie der geltenden Moral (teveais Kai oucria Tri? öiKaioauvri?) nachgewiesen, ist dadurch verdorben worden, daß die Menschen sich aus Schwäche auf einen mittleren Zustand geeinigt haben (vo^oug Ti9€a6ai Kai auvGnKas), den man „das Gerechte" nennt (övonäcmi): man läßt das „Unrecht", und dafür läßt es der andere auch. Wer aber die Kraft hätte diese Konvention zu zerreißen, der wäre verrückt, wenn er es nicht täte. Der zweite Teil weist nach und erläutert den Nachweis an dem Beispiel des Gyges mit seinem Zauberring: Wer gerecht handelt, tut es nur aus Schwäche. Freiwillig handelt eben niemand gerecht, sondern nur gezwungen (oubeis ¿KUUV MKCUO?). (Damit ist der schärfste Widerspruch gegen den sokratisch-platonischen Satz von der Unmöglichkeit freiwilligen Unrechttuns formuliert. Anders gesprochen: die sokratisch-platonische Paradoxie ist der Widerspruch gegen jene gewöhnliche Meinung.) Denn jeder glaubt, daß die Ungerechtigkeit mehr nütze als die Gerechtigkeit, also daß jene „gut" sei. Der dritte Teil unterbreitet dem Urteil und Richterspruch (Kpicnf>£ äpa xpövou aÜTili ^¿TTCJTIV, oöb' i a n v iv T I V I X P ^ V W ( 1 4 1 D 5 ) . „Zeit" muß hier und dort etw a s Anderes bedeuten. In der ersten Thesis ist gemeint der Zeitablauf, in dem Werden und Vergehen stattfindet. In der Synthesis ist zeitliche Unterschiedenheit Symbol für die Tatsache, daß Tävavria oüx ¿s, tä i^xpova alwvluui;, tö Y«vvr|Tä d^evvi'iTuu!;. Entsprechend von der Seite des Menschen: Procl. in Tim. I 202, 26 biön Kai 6 ävöpuuiro? (iiKpöi ¿an KÖ£i£Kp(6r).

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27. Politikos.

bol für das Sein überhaupt. Und wenn wir vorher gewarnt wurden, unsere gottverlassene Zeit mit der gottgeleiteten, unseren Staatsmann mit dem göttlichen Hirten zu verwechseln, so steht doch das, was hier so scharf kontrastiert wurde, zugleich in dem Verhältnis von Vorbild und Abbild. Ist nicht auch das Webewerk des Staatsmanns ein Abbild der nach dem Gesetz der Proportion „zusammengebundenen" Welt (Tim. 31 B ff.), des „lebendigen Kleides der Gottheit"1)? Die scheinbare Maß-losigkeit des Dialoges fuhrt zu einer neuen n 3. Abschweifung über „Maß" und „Meßkunst". Auch hier schei- 283 B - 2 8 7 B det unsere diabetische Methode: es gibt zwei Weisen, wie Uberfluß und Mangel, Groß und Klein „ist", erstens wenn man die Gegenstände aneinander mißt, zweitens wenn man sie am „Wesen des rechten Maßes" ( T T I V T O Ü (aeTpiou qxicriv) mißt. Dort ist man in der Welt des Relativen, hier in der des Absoluten4). Auf diese zweite Meßkunst ist, wie sich versteht, das Augenmerk hier gerichtet. Sie ist v/irksam dort, wo es um den Unterschied der Guten und der Schlechten geht (283 E 5). Mit dem Maßvollen, dem Ge') Man muß, wenn man bis hierher gefolgt ist, an das Weltgewebe denken dessen Bedeutung im Glauben der Völker Robert Eisler, Weltenmantel und Himmelszelt, nachgewiesen hat. Dem Piaton war der Zas des Pherekydes bekannt, der zur Hochzeit mit der Chthonie ein qpäpoq macht (iroiKfXXci), und so gut wie sicher auch die orphische Kore iaroupfoOaa Kai ¿cpatvouaa TÖV BIDKOOHOV TUIV oupaviuuv (Kern, Orph. Frg. 192—194, vgl. auch 33). Bei Pherekydes kommt auf die eingewebten oder eingestickten Bilder viel an (wie überhaupt bei dem „Weltenmantel"), aber ebenso ursprünglich ist das Symbol des Webens selber. Es würde zu Piaton (dessen Politikos Eisler nicht einbezieht) passen, wenn man annähme, daß er dieses uralte Bild sich anverwandelt hätte. — Shorey, Class. Philol. IX (1914) 349 spricht von the Aristophanic image und verweist auf Lysistrate 586. Aber der Vergleich überzeugt nicht. — Das platonische Motiv findet man wieder bei Diotogenes dem Pythagoreer ircpl ßamXeia? (Stob. IV 1,265 W-H): ä |a£v fap nöAi? iroXXiiiv xal iuaq>€p aüvraEiv Kai äpMovfav fic^t^aTai. Vgl. Campbell, Introd. XXV ff. s ) Die Worte 283 D 8, 9 K a r ä t ^ v r f | ? Ytve'creiui; dva-ficatav ouolav sind absichtlich rätselnd. So richtig Campbell. Aber seine Deutung according to the otherwise impossible existence of production (ähnlich Taylor 399) befriedigt nicht. T^vcoif und oücta sind paradox miteinander verbunden — paradox für eine Platon-Orthodoxie — man denke an Philebos 26 D T^veai? €(? oöalav. Es ist dieselbe Paradoxie wie in 283 E 5 ÖVTUJI; TITvi Kai rö&e irepl ra&Tä raOTa Karavo^aiunev.

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) Auch später (41 C, 47 C) wird auf diese Analyse des „Begehrens" zurückgegriffen, als es sich darum handelt, Beispiele für die „Mischung" von Lust und Unlust beizubringen.

28. Philebos.

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verbunden mit etwas so Hohem wie Gedächtnis. So fuhrt die Analyse des Begehrens eben dorthin, wohin vorher die Analyse der Lust gefuhrt hatte. Nicht einmal begehren kann der Körper allein, selbst dazu ist Seele nötig und zwar eine so hohe Äußerung der Seele wie „Gedächtnis". Auf den Herrscherrang der Seele in dem Gesamtgeschöpf (äpxn TOU ZuiourcavTÖg)also zielt dieses. In der zweiten Dialoghälfte steht im Blick, wie wir sahen, die Rangordnung der Lustarten. Um im Bereich der Lust ein Höher und ein Tiefer aufzufinden, muß man — so scheint es — in der Gesamtform „Mensch" ein Herrschaftsgefüge anerkannt haben. Dafür dient dem Piaton sonst der Begriff der Selbstbeherrschung (Staat 430 E. Ges. 626 E). Jetzt macht er die Analyse der im Zusammenhang des Ganzen so bedeutenden „Begierde" demselben Ziel dienstbar. Und es ist wohl zu beachten, daß hier ein Stück beschreibender und zergliedernder Psychologie eben dorthin fuhrt, wohin kurz vorher die mythische Physik und Metaphysik des Alls führte. Wir sahen: die sozusagen tektonische Bedeutung des Epithymia- 35C—40E Abschnittes war es, den Blick hinzuwenden auf die „Mischung" der Lust- und Unlustarten, wie sie im Leben mannigfach begegnen. Aber dieses Problem der „Mischung" wird erst nach einer längeren Zeit (46 B) eigentlicher Gegenstand genauer psychologischer Analyse. Für jetzt bleibt es, wenngleich ab und zu auftauchend, noch im Hintergrund und dient zunächst dazu, ein anderes Problem auf die Beine zu bringen: kann man die Prädikate wahr (richtig echt aXriöns) und falsch (trügerisch ipeuöiig) auf die Arten von Lust und Weh anwenden? Gibt es an ihnen Wahrheit und Falschheit, so wie es Wahrheit und Falschheit an der „Meinung" gibt? Darüber entspinnt sich ein Kampf, den Protarchos mit einer für unsern Dialog bemerkenswerten Zähigkeit führt, bis er zugeben muß, daß er einen ihm von außen, d. h. von einer bestimmten Hedone-Lehre, gewiesenen Standpunkt vertrete (cnrep dicouu) Xetu) 38 A 5). Nicht mit Unrecht werden wir dadurch an seinen Widerstand zu Anfang des Gesprächs erinnert. Es ist im Grunde derselbe Widerstand. Denn Protarchos will, daß Lust immer Lust sei, im Wachen, im Traum, im Wahnsinn (36 E), und daß nur die mit der Lust sich verbindende „Meinung" wahr oder falsch sein könne (37 E). So bliebe Lust von aller Unterschiedlichkeit frei und damit eigenständig, während dem Sokrates daran

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Periode III. Gruppe A.

liegt, die entschiedenen Gegensätze in der Lust selber aufzuweisen und sie damit einem anderen Gesetz zu unterstellen. Sokrates bemüht sich aufzuzeigen: wie „Meinen", unbeschadet dessen daß es immer „Meinen" bleibt, doch richtig oder falsch sein kann, so nimmt auch Lust und Unlust mannigfache Qualitäten auf: sie kann groß und klein, kann schlecht, kann richtig sein. Alles das gibt Protarchos zu, d. h. alle diese Unterschiede liegen in dem gewöhnlichen Verständnis von Lust und Unlust. (Und fügen wir hinzu, wenn man sie zugesteht, zumal wenn man zugesteht, daß es „schlechte" Lust gibt, so hat man schon die stärkste Bresche in die Einheit der Lust gelegt, hat eine Instanz außerhalb ihrer anerkannt.) So empfindet man es als eine in der Sache nicht gerechtfertigte Starrheit und künstliche — wenn auch heut noch verbreitete — Konstruktion, daß Protarchos die Qualitäten Wahr und Falsch von der Lust ausschließt und der mit der Lust jeweils verbundenen „Meinung" zuschiebt (37 E)1). Aber auch so muß er zugeben, daß es fur die Lust einen Unterschied macht, ob sie „mit richtiger Meinung und Erkenntnis" verbunden ist oder „mit Irrtum und Sinnlosigkeit""). Unterschiede innerhalb der Lust aufzuspüren, darauf kommt für Sokrates alles an, und so lenkt die Untersuchung ein in das Phänomen des Irrtums, wie es der Theaitet mit dem Gleichnis von der wächsernen Prägemasse zu klären begonnen hatte. Ahnlich heißt hier die Seele ein Buch oder eine Wachstafel; in ihr seien ein Schreiber und ein Maler. Geschrieben und gemalt werde, wenn Erinnerung mit Wahrnehmung zusammentreffe; dieses Zusammentreffen ') Irrtümlich macht Stenzel 261 die These des Protarchos 38 A zur Meinung Piatons. — A. Bremond, Les Perplexités duPhilèbe, Revue néo-scolastique 1911, 472 beglückwünscht den Protarchos wegen seines Widerstandes. Aber ist es wirklich ein principe irréfutable: le plaisir ne peut pas se tromper, n'étant pas cognitif, und nicht vielmehr ein Vorurteil? Auch die übrigen perplexités Bremonds beruhen vielleicht darauf, daß er als dogmatisch nimmt und zu widerlegen sucht, was dialektisch gemeint ist. *) Daß hier und in der Partie 48 C ff. an drei oder vier Stellen hintereinander gegen die Ubereinstimmung der Handschriften von fast allen Herausgebern ävoia in üitvoia verändert wird, ist gegen jede Wahrscheinlichkeit. C.F.Hermann hat als einziger mit Recht Widerspruch erhoben. Da er auch Bury nicht überzeugt hat, so muß man seine Ansicht wohl noch schärfer fassen. Nicht „promiscue" sind Ävota und äfvoia gebraucht, sondern der Gattungsbegriff als der stärkere wird gesetzt, wo der Artbegriff genügt hätte. Vgl. Tim. 86 B büo b' àvotaç T^vt], xà nèv navlav, TÔ bè ànaOiav ( = ä f v o i a v ) . vielleicht muß man auch bedenken, welche Bedeutung der NoOç im Dialoge hat, damit man die övoia richtig werte.

28. Philebos.

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selbst, dieser Zustand, sei es, der malt oder schreibt und je nachdem richtige oder falsche Meinungen (Worte) und Bilder schreiben und malen kann1). Man sieht also, wie Irrtümer entstehen können: erst schon dort, wo Wahrnehmung und Erinnerung zusammentrifft, dann wo die Eintragung ins Buch und auf die Wachstafel geschieht. Dann aber wird das Ganze erweitert, indem die Zeitdimension ausdrucklich hinzutritt: alles dies bezieht sich nicht nur auf Vergangenheit und Gegenwart, sondern ganz ebenso auch auf die Zukunft — wodurch, wie man wohl hinzufügen muß, auch die Irrtumsmöglichkeiten erweitert werden. Die Möglichkeit des Irrtums braucht hier nicht gesichert zu werden wie im Theaitet und Sophistes. Sie anzufechten lag nicht im Problemkreis dieses Dialoges. Vielmehr: Meinen bleibt zwar Meinen, aber man kann dieses Meinen richten auf etwas was nicht war, nicht ist, nicht sein wird. Dann haben wir eine falsche Meinung. Uberträgt man das hier Gewonnene auf die Lust, so bleibt Lust zwar immer Lust, aber sie kann sich richten auf etwas was nicht war, nicht ist, und — besonders häufig, in der Weise der Hoffnung — auf etwas was nicht sein wird. Ebenso steht es mit Furcht (cpoßos), strebendem Mut (öujiöq) und dergleichen Äffektformen. Sie alle können falsch sein und — was nicht ausdrücklich gesagt wird, weil es sich von selbst versteht — richtig sein. Damit ist zuerst einmal deutlich gemacht, was denn die Rede von richtigen und falschen Lustgefühlen meint — und sogleich biegt der Weg eigentümlich ab. Schlechte Meinungen sind falsche Meinungen. Schlecht an einem Meinen ist eben dies, daß ') Man muß ganz s c h a r f die W o r t e und ihren Parallelismus verfolgen. W e r schreibt? Nicht n (jvrinri, sondern f| nvi'juri Tai; ata8ria£cri auiairlirrouaa ei? xaimSv. Und damit r| nvr)nr| nicht von den alo6r|0£i