Platon und die Geschichte

Tübinger Antrittsvorlesung. Gegenüber dem mündlichen Vortrag (im November 1960) ist die hier veröffentlichte Fassung um

344 95 602KB

German Pages 42 [50] Year 1961

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Platon und die Geschichte

  • Commentary
  • e-ink optimized
  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Konrad Gaiser

Platon und die Geschichte

KONRAD

PLATON

GAISER

UND

DIE

GESCHICHTE

Fr. Frommann Verlag Günther Holzboog Stuttgart - Bad Cannstatt 1961

© Fr. Frommann Verlag Günther Holzboog

Stuttgart-Bad Cannstatt 1961

PLATON

UND

DIE

GESCHICHTE

Tübinger Antrittsvorlesung!

I. »Platons Verhältnis zur Geschichte — das ist das entscheidende Problem, so paradox es auch klingen mag!* Mit diesen Worten hat Werner Jaeger schon vor mehr als dreißig Jahren auf das Thema, das hier behandelt werden soll, nachdrücklich hingewiesen. Er dachte dabei an die objektiv gegebene Stellung Platons in der Geschichte: an das Verhältnis Platons zur geschichtlichen Umwelt und zum zeitlich Früheren, zugleich aber auch an die geschichtliche Wirkung des platonischen Philosophierens. Denn bekanntlich sieht Jaeger in Platons Verhältnis zur Geschichte einen Vorgang, der sich seither immer wieder, in mehr oder weniger bewußtem Anschluß an das platonische Beispiel, ereignet hat und den zu vollziehen auch der heutigen Zeit erneut aufgegeben ist. Er spricht hier von ‚Bildung‘ oder ‚Kultur‘ und definiert diese geradezu als produktive Aneignung der Tradition, als Erneuerung des geschichtlich Ursprünglichen, als Synthese geschichtlich gegebener Elemente zu einer neuen Form, in der die Geschichte ihre Erfüllung findet. Als ,paradox' kann die Hervorhebung des geschichtlichen Aspekts der platonischen Philosophie zunächst deshalb erscheinen, weil man gewohnt ist, in Platon vor allem den Verkünder der überzeitlichen Ideen zu sehen, der nur das dauernd Bestehende, nicht das geschichtlich Besondere für wesentlich und für zuverlässig erkennbar hält. Es

ist jedoch kaum zu bezweifeln, daß wir dazu berechtigt und darauf angewiesen sind, die Verwurzelung Platons in der Geschichte zu untersuchen

und

zur

Grundlage

unseres

Platonverständnisses

zu

machen. Die Forschung hat in dieser Hinsicht während der letzten

Jahrzehnte

viel zusammengetragen

und

ausgewertet:

Platons

Ver-

hältnis zu Sokrates, zur Sophistik, zu den früheren Denkern, zu den

Dichtern,

besonders

zu Homer

und

den Tragikern,

zur herkömm-

lichen Religion, sodann vor allem zur griechischen Polis, hauptsäch-

lich Athen, aber auch zu ganz Griechenland und andererseits zum Orient — alle diese Beziehungen sind oft historisch untersucht und dargestellt worden.’ Nun läßt sich aber die Frage nach der geschichtlichen Stellung Platons

gleichsam auch von innen her erfassen, wenn man das eigene ‚Ge-

schichtsbild‘ Platons, sein Geschichtsbewußtsein und seine Geschichtsdeutung, zu ermitteln versucht, also danach fragt, wie Platon selbst

über die geschichtliche Stellung seiner Philosophie und über das We-

sen der Geschichte dachte. Durch diese Wendung des Problems wird nun freilich die Paradoxie, von der Jaeger gesprochen hat, noch größer. Jedenfalls scheint bisher noch keine Untersuchung ganz konsequent in diese Richtung geführt zu haben‘, und zwar hauptsächlich aus zwei Gründen. Ein erstes Hindernis ergibt sich aus der geläufigen Auffassung, daß den Griechen überhaupt ein ausgeprägtes Geschichtsbewußtsein gefehlt habe und daß sie daher auch noch keine eigentliche Geschichtsphilosophie hervorgebracht hätten.’ Daran ist sicher richtig, daß die zeitlich-geschichtliche Bedingtheit des Daseins für griechisches Denken nicht so fundamental wichtig ist wie für das moderne Bewußtsein. Die griechische Zeitvorstellung war im wesentlichen zyklisch, also durch den Gedanken der periodischen Wiederkehr bestimmt; auch Thukydides wollte durch seine Geschichtsschreibung im Grunde das stets Wiederkehrende und dauernd Geltende festhalten. Das moderne Geschichtsbewußtsein ist dagegen charakterisiert durch die Erfahrung,

daß geschichtliche Ereignisse einmalig und unwiederholbar und nur aus ihrer eigenen Zeit heraus zu verstehen sind. Diese einfache Gegenüberstellung ist nun freilich noch viel zu allgemein. Bei genauerem

Zusehen zeigt sich, daß sie gerade auch für Platon nicht wirklich zutrifft und daß von echt geschichtsphilosophischem Denken bei Platon sehr wohl die Rede sein kann.* Denn die übliche Ansicht — die Grie-

chen hätten das geschichtliche Leben so unhistorisch erlebt und betrachtet wie die Ordnung der Natur — ist für Platon jedenfalls eher umgekehrt richtig: er versteht schon den gesamten Kosmos als lebendiges und bewußt tätiges, grundsätzlich dem Werden und Vergehen unterworfenes Wesen. Der zweite Grund dafür, daß das platonische Geschichtsdenken nur schwer zugänglich ist, liegt in der Form der platonischen Darstellung. Schon die allgemeine Darstellungsform des Gesprächs macht es unmöglich, die Gesamtauffassung Platons unmittelbar zu erkennen. Im besonderen aber ist es die Form des Mythos, in der geschichtliche Zu-

sammenhänge bei Platon behandelt werden; und hier stößt man auf

eine so unauflösbare Verbindung von Spiel und Ernst, Dichtung und Überlegung, Konstruktion und Empirie, daß man sich scheut, nach bestimmten geschichtsphilosophischen Gedanken zu fragen. So ist es verständlich, daß etwa Werner Jaeger eine bewußt geschichtstheoretische Orientierung noch nicht bei Platon findet. Zu Beginn seines bekannten Werkes über Aristoteles schreibt Jaeger: „Aristoteles ist der erste Denker, der zugleich mit seiner Philosophie seine geschichtliche Selbstauffassung begründet und damit eine neue... Form des philosophischen Bewußtseins geschaffen hat. Der Schöpfer des geisteswissenschaftlichen Entwicklungsgedankens faßt auch seine eigene Leistung als das pragmatische Ergebnis einer rein auf dem Gesetz der Sache beruhenden Entwicklung auf“.” Wahrscheinlich hat nun aber Jaeger hier, im Blick auf Aristoteles, etwas durchaus Platonisches gesehen —das nur deshalb bei Aristoteles leichter und deutlicher zu erkennen ist, weil die aristotelischen Schriften, als Schulschriften, unmittelbarer von diesen Dingen sprechen als die für ein breiteres Publikum bestimmten platonischen Dialoge. Es ist anzunehmen, daß auch schon Platon innerhalb der Schule über die geschichtliche Stel-

lung der eigenen Philosophie sowie über den Gesamtverlauf der Ge-

schichte gesprochen hat, und zwar hier grundsätzlicher und systematischer als in den uns erhaltenen literarischen Werken.” — An den vielen Stellen im platonischen Gesamtwerk, die für unsere

Frage wichtig sind, läßt sich zunächst beobachten — und dies ist auch mehrfach schon festgestellt worden —, daß Platon mit den geschichtlichen Tatsachen ziemlich großzügig, ja scheinbar willkürlich umgeht: daß seine Darstellung ebensoviel eigene Gestaltung wie vorgegebene Überlieferung oder konkrete Erfahrung enthält und daß er über das

eigentlich Geschichtliche, das einmalige Ereignis in der Zeit hinausdrängt. Dem geschichtlichen Werden und Vergehen scheint er nur einen gleichnishaften Charakter zuzuerkennen. Er geht mit den geschichtlichen Erscheinungen um wie ein Dichter mit der Sprache: er gebraucht das Vorhandene und bildet es wohl auch neu, um durch Auswahl und Anordnung, durch Gestaltung und Verbindung etwas auszusagen, das nicht eigentlich in den verwendeten Elementen selbst liegt.” So ergibt sich der Gesamteindruck, daß das platonische Geschichtsdenken der gewöhnlich geforderten historischen Sachlichkeit und Objektivität ermangelt und den Sinn für die Eigenart des geschichtlich konkret Gegebenen vermissen läßt — daß aber dieses Geschichtsdenken doch, in anderer Weise, sinnvoll und ‚begründet‘ ist. Vielleicht gelingt es bei dem Versuch, diesen noch unsicheren Eindruck genauer zu bestimmen, die tiefere Sachgemäßheit der platonischen Geschichtsbetrachtung aufzudecken.

II.

1. Den Gesamtentwurf der platonischen Geschichtsdeutung läßt am besten der Mythos des Dialogs «Politikos» erkennen, in dem von der periodischen Aufeinanderfolge zweier Weltzeitalter die Rede ist. Der gesamte Kosmos — so erzählt und erklärt hier der philoso-

phische Gesprächsführer — kreist nicht immer in der gleichen Richtung, so wie wir es jetzt am Himmel sehen. In bestimmten, sehr

großen Zeitabständen findet eine Umkehrung der Bewegungsrichtung statt. (Die mythischen Erzählungen von einer Umkehrung der Gestirnbewegungen enthalten eine schwache Erinnerung an das letzte derartige Ereignis). Es gibt also im ganzen zwei verschiedene Weltzeit-

alter. In dem einen, das jetzt vergangen ist, aber in Zukunft wieder einmal sein wird, hat der göttliche ‚Erzeuger‘ und ‚Ordner‘ des Kosmos selbst das Steuer in Händen: er lenkt den Kosmos in seiner geordneten Bahn. Im gegenwärtigen Zeitalter aber steht der Kosmos nicht mehr unmittelbar unter der Herrschaft des Gottes: dieser hat das Steuer losgelassen, der Kosmos dreht sich, wie ein Kreisel der eigenen Schwerkraft überlassen, in der anderen Richtung. Zunächst vollführt er die Kreisbewegungen nach wie vor in geordneter Weise, allmählich aber ‚vergißt‘ er — wie Platon sagt — die göttliche Ordnung, die Bewegungen werden unregelmäßig, alles gerät ins Wanken und die gesamte Weltordnung droht sich aufzulösen. Bevor jedoch alles in dem Chaos, das vor der Weltschöpfung war, endet, greift die Gottheit ein und übernimmt wieder die Herrschaft für eine bestimmte Zeit. Bei der Umkehrung der Bewegungsrichtung gibt es schwere Naturkatastrophen auf der Erde, sodaß die Menschheit bis

auf geringe Überreste zugrundegeht.

Auffallend ist an dieser Beschreibung zunächst, daß die Darstellung des Geschichtsverlaufs in den Rahmen einer universalen Kosmologie gestellt ist. Der periodische Wechsel des Gesamtgeschehens ist beschrieben als das ‚Nachschwingen‘ eines noch weiter reichenden, ursprünglichen kosmogonischen Prozesses: die einmal geschaffene Ordnung der Welt droht sich wieder aufzulösen und muß durch den göttlichen Weltgeist (Nus) immer wieder neu gesichert werden. Hinter dieser Kosmologie steht eine bestimmte Seinslehre, für die hauptsächlich die Annahme kennzeichnend ist, daß alles auf zwei grundverschiedene Prinzipien zurückgeführt werden kann." Das eine Prinzip wird im «Politikos»-Mythos als göttlich, ordnungstiftend und lebenerhaltend beschrieben, das Gegenprinzip tritt, wie ausdrücklich bemerkt wird, in der körperlich-stofflichen Beschaffenheit der Welt

in Erscheinung und verursacht die Tendenz zur Unordnung und Ver-

nichtung.

Die ganze Darsteilung der Weltperioden beruht also auf allgemeinen philosophischen Voraussetzungen, sodaß das Problem, um das es uns

geht, deutlich sichtbar wird. Die Anwendung der wahrscheinlich auf einem ganz anderen Felde gefundenen Prinzipien auf die geschichtliche Welt wirkt spielerisch-konstruktiv, und es bleibt zunächst unsicher, ob das Ganze einen bestimmten geschichtsphilosophischen Sinn hat. Diese Unsicherheit wird noch größer, wenn man sieht, wie Platon den Wechsel im menschlichen Dasein beschreibt: Während jener anderen Kosmoszeit — so heißt es hier im «Politikos»-Mythos —

leben auch die Menschen nicht so wie jetzt, sondern ‚umgekehrt‘: als

erwachsene, grauhaarige Leute entstehen sie aus der Erde heraus und entwickeln sich allmählich zum kleinen Kind. Unter der göttlichen Aufsicht leben sie sorglos, ohne gesellschaftliche Ordnungen; der ganze Rhythmus des Lebens verläuft in pflanzenhafter Regelmäßigkeit. Während der gegenwärtigen Weltperiode sind die Menschen dagegen, wie der Kosmos im ganzen, sich selbst überlassen. Daher nun die Notwendigkeit, künstliche Ordnungen zur Erhaltung des Lebens einzurichten, und entsprechend der allgemeinen Tendenz des Weltzerfalls die Gefahr, daß die richtigen Ordnungen nicht gefunden oder nicht eingehalten werden.

Was soll mit alledem gesagt sein? Die Darstellung ist mythisch-bildhaft, enthält aber auch gedankliche Elemente. Bei der Auslegung muß also beides gleichermaßen berücksichtigt werden. Zunächst wäre nun wohl zu beweisen, daß die übliche Deutung dieser platonischen Erzáhlung nicht ganz zutreffend ist. Ziemlich allgemein wird nàmlich die Auffassung vertreten, die beiden Weltzeitalter seien nicht eigentlich zeitlich-geschichtlich zu verstehen; es handle sich vielmehr um die formale Umsetzung eines an sich zeitlosen Sachverhalts in ein geschichtliches Nacheinander; der eigentlich gemeinte Sachverhalt sei der platonische Dualismus von Ordnung und Unordnung, Form und Materie, Einheit und Vielheit, Sein und Nichtsein." Die Beschreibung wird also im wesentlichen so verstanden, als ob im Wechsel der Weltzeitalter immer wieder auf eine Periode der Ordnung eine Periode der Auflösung folge, wobei, wohlgemerkt, die zeitliche Dimension

Auflösung

nicht so sehr sachlich, sondern gemeint wäre.

womöglich

nur darstellerisch-formal

Genau betrachtet ergibt sich jedoch ein anderes Bild. Vor allem ist festzustellen, daß sich die beiden Zeitalter nicht einfach wie Ordnung und Unordnung gegenüberstehen. Sie unterscheiden sich vielmehr voneinander wie gleichförmiger Zustand und fortschreitende Ent-

wicklung. Dabei ist allerdings in der Entwicklung, also im gegenwärtigen Zeitalter, offensichtlich eine Tendenz der Auflösung am

Werk. Doch ist weiter zu beobachten, daß bei der Beschreibung dieses Zeitalters nicht nur von zunehmender Auflösung und Unordnung die Rede ist. Im Blick auf die Geschichte der Menschheit wird da-

neben eine ganz andere Tendenz

Menschen — so heißt es genwärtigen Weltperiode Feuers und das Bebauen benen Anfänge konnten

sichtbar. Die Götter haben den

im platonischen Text? — zu Beginn der gedie Anfänge der Kultur, den Gebrauch des des Landes, gezeigt. Aufgrund der so gegedie Menschen alle weiteren Künste von sich

aus finden. (Man denkt dabei besonders an die Einrichtung politi-

tischer Ordnungen). In dem damit angedeuteten Anwachsen der menschlichen Gestaltungsfähigkeit und Erkenntnis ist ein dem allgemeinen Zerfall entgegengesetzter ‚Aufstieg‘ nicht zu verkennen. Dazu stimmt, daß jene andere Zeit der unmittelbaren göttlichen

11

΄

Erkenntnis

Göttliche Lenkung

Herrschaft nicht einfach als eine Zeit des guten und glücklichen Daseins geschildert wird. Vielmehr wird gesagt," man wisse nicht, ob sich die Menschen während jener Zeit um die philosophische Erkenntnis bemühen oder nur der Befriedigung niederer Bedürfnisse leben; daher lasse sich auch nicht entscheiden, ob sie glücklicher sind als die jetzt Lebenden. Aus diesem ironischen Hinweis geht, ebenso wie aus den Bemerkungen über die Kulturentstehung, hervor, daf$ Platon das Fortschreiten zur philosophischen Erkenntnis als Charakteristikum der gegenwärtigen Geschichtsperiode ansieht. In dem ganzen ‚Mythos‘ zeichnet sich demnach eine eigenartige Gesamtkonzeption ab: die Vorstellung, daß auf ein Weltzeitalter des gleichförmig-ungeschichtlichen, geregelten Zustandes eine Zeit zunehmender Spannung und Differenzierung folgt, in der die Entwicklung

gleichzeitig zum allgemeinen Zerfall und zu immer höherer Erkennt-

nis hin fortschreitet. Gewisse mythisch-spekulative Lehren von einem einfachen Wechsel guter und schlechter Weltzeitalter kennt Platon

offenbar, aber er formt 516 vollständig um. So die orientalisch-persi-

schen Lehren von der abwechselnden Herrschaft eines guten und eines

12

bösen Gottes und auch die Lehre des Empedokles von dem Hin und

Her zwischen Philia und Neikos, zwischen der durchgeistigten Einheit des Kosmos und dem ungeordneten Zustand der stofflichen Elemente." Es 1st unverkennbar, daß das platonische Gesamtbild, diesen einfachen Vorstellungen gegenüber, wesentlich klarer auf die ge‚schichtliche Wirklichkeit, jedenfalls auf die Eigenart der gegenwärtigen geschichtlichen Entwicklung abgestimmt ist; und es ist kaum anzunehmen, daß der zeitlich-geschichtliche Sinn aus dem philosophischen Mythos im «Politikos» eliminiert werden darf. 2. In gleicher Weise könnten nun auch andere Mythen Platons auf ihren geschichtsphilosophischen Sinn hin befragt werden, sodaß die einzelnen Züge des überall einheitlich zugrundeliegenden Geschichts-

bildes noch deutlicher hervortreten würden. Im «Tzmaios» und «Kri-

tias» etwa — um nur noch auf die wichtigste Entsprechung zum «Politikos»-Mythos hinzuweisen — gibt Platon durch die mythische Erzählung von einem früheren, vor 9000 Jahren gegründeten Staat der Athener und einem inzwischen im Meer versunkenen Inselreich Atlantis?* zu erkennen, daß es auch in dem engeren Kreis des politischen Daseins eine Art ewiger Wiederkehr gibt: daß auch das einzelne Volk und Land dem Kreislauf von einem geschichtlichen ‚Leben‘ zum anderen unterworfen ist. Auch hier wird der Wechsel — wenngleich in kürzerem Rhythmus und regional beschränkt — durch Naturereignisse wie große Überschwemmungen und übermäßige Hitze herbeigeführt, die die menschliche Kultur immer wieder fast ganz vernichten; und auch hier wird dabei zwischen der einen und der anderen geschichtlichen ‚Verkörperung‘ eine längere unbestimmt blei-

bende, geschichtslose Übergangszeit angenommen."

Die Verbindung von Spiel und Ernst, von Erfindungen der poetischen Phantasie und historisch-geographischen Tatsachen, ist freilich in dem ganzen Bericht von Ur-Athen und Atlantis womöglich noch enger als im «Politikos»-Mythos. Daß diese Verbindung nicht leicht aufgelöst werden kann, geht aus der wechselvollen Geschichte der

13

Auslegung des Berichts, besonders in neuerer Zeit, nur zu deutlich hervor. Platon selbst gibt am Beginn der Erzählung im «Timaios» andeutungsweise zu erkennen, daß das Ganze als Dichtung zu ver-

stehen ist. Zunächst bemerkt Sokrates im Gespräch, die bisherigen Dichter seien der Aufgabe, die nun von den philosophischen Gesprächsteilnehmern übernommen und bewältigt werden soll, nicht

gewachsen gewesen. Und dann wird bei der ausführlichen Herleitung des angeblich von Solon stammenden Berichts erwähnt, die Geschichte von Ur-Athen und Atlantis könnte zu einem großen, den Werken Homers und Hesiods mindestens gleichkommenden Gedicht gestaltet

werden.? (Die Hinweise darauf, daß das platonische Werk die große

griechische Dichtung fortsetzen und ersetzen soll, werden also nur in

indirekter wiederum

Form

vorgebracht:

sie sind

offenbar

‚dichterisch‘ gestaltet). Andererseits

absichtlich

selbst

berücksichtigt Platon

bei der Darstellung jedoch auch echt wissenschaftliche Forschungen und Hypothesen sowie Beobachtungen, Erfahrungen und Überliefe-

rungen der verschiedensten Art. So muß vor allem auch die ganze Theorie von den periodisch wiederkehrenden Naturkatastrophen als ernsthafte wissenschaftliche Hypothese aufgefaßt werden: sie soll das Phänomenen der Kulturentwicklung, besonders die bei den einzelnen Völkern verschiedene Dauer und Schnelligkeit des Verlaufs verständlich machen.”

Die Möglichkeit einer solchen Verbindung von Dichtung und Wissenschaft ergibt sich für Platon grundsätzlich aus der Seinsart der dargestellten Gegenstände. Es handelt sich um die Welt der Erscheinungen, des Werdens und Vergehens, in der die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und wahren Seinsverhältnisse immer nur abbildhaft erkannt werden können. Sowohl die Dichtung als auch die Wissenschaft hat nun aber die Aufgabe und die Möglichkeit, im Sinnlichwahrnehmbaren das eigentlich Wesenhafte und Seiende aufzuweisen. Bei der Deutung des von Platon Erzählten gilt es also vor allem zu beachten, daß mit der ausdrücklich hervorgehobenen? „Wahrheit“

14

des Berichts nicht einfach die historische Tatsächlichkeit gemeint ist. Zwar scheint Platon gerade darauf Wert zu legen, daß das Ganze sicher überliefert und gut verbürgert ist, aber dies ist eben der spielerisch-dichterische Ausdruck für eine ‚Wahrheit‘, Sicherheit und Sachgemäßigkeit anderer Art: Platon deutet nämlich auf diese Weise an, daß die Erzählung auf das allein wahrhaft Seiende bezogen, im Blick auf die wahren, maßgebenden Ursachen gestaltet ist. So kann zunächst festgestellt werden, daß Platon in Urathen und Atlantis zwei verschiedene Ausprägungen des einen, wahren ‚Idealstaates‘ sieht. Die beiden wesentlichen Komponenten der ıdealen Ordnung — Freiheit und Herrschaft (Demokratie und Monarchie) — treten hier auseinander, sodaß beide Staaten, der griechische und der nichtgriechische, der Gefahr einer übertriebenen Einseitigkeit und damit der Maßlosigkeit und Entartung ausgesetzt sind. Auf einen Prozeß des zunehmenden Substanzverlustes wird jedenfalls bei Atlantis deutlich hingewiesen; doch gilt Entsprechendes grundsätzlich auch für Athen." Untersucht man nun diese geschichtlich-dynamische Dimension der Erzählung, so findet man (hier ebenso wie im «Politikos»-Mythos) nicht nur eine Tendenz des Zerfalls, sondern zugleich auch eine aufsteigende Entwicklung, nämlich die fortschreitende Annäherung an die philosophisch-theoretische Erkenntnis der wahren Welt- und Staatsordnung. Schon innerhalb jener früheren Zeit der athenischen Polis scheint das menschliche Wissen (auf Grund der ersten, gottgegebenen Anfänge der Kultur) zugenommen und sich

weiterentwickelt zu haben." Im ganzen werden den damaligen Athe-

nern aber doch noch mehr die ethisch-praktischen Tugenden nachgerühmt — was wohl darauf hinweist, daß der Aufstieg zur ganz bewußten, prinzipiellen Erkenntnis, wie sie die philosophische Dialektik vermittelt, erst in der gegenwärtigen Geschichtsperiode möglich geworden ist.? Weiterhin kann man vermuten, daß sich die periodische Wiederkehr im Kreislauf der Polis-Geschichte innerhalb des gesamtkosmischen Weltzeitalters (das im «Politikos»-Mythos beschrieben wird) abspielt.

15

„A

», Philosophie

Göttliche

Lenkung

NY “

/

/

Gegenwärtiges

Ὡς

m

“͵



Zerfall ^—

Und in der Tat ist der platonischen Darstellung im «Timaios» und «Kritias» zu entnehmen, daß der Staat der Ahener während der Zeit jenes früheren geschichtlichen Daseins noch nicht so weit von dem geordneten, gottnahen Gesamtzustand (der am Beginn eines ganzen Weltzeitalters noch herrschen soll) entfernt war, wie es in der Gegenwart der Fall ist.” Die ‚urathenische‘ Staatsordnung ist also nicht einfach die Verwirklichung des Idealzustandes, und ihre Beschreibung kann nicht ohne weiteres als die mythisch-bildhafte Darstellung des Idealstaates er-_ klàrt werden. Vielmehr scheint es Platon gerade auch darauf anzukommen, daß Entstehungsart und Beschaffenheit des guten Staates im Lauf der Entwicklung von Zeit zu Zeit verschieden sein müssen. Zu Beginn der Entwicklung — während jener früheren Zeit des athenischen Staates und ähnlich wiederum am Anfang der gegenwärtigen Geschichtsperiode — wird das Gute, wie Platon in mythischer

16

Ausdrucksweise sagt, durch die Hilfe und Lenkung der Götter ver-

wirklicht. Jetzt aber kommt alles darauf an, ob sich die philosophi-

sche Erkenntnis des göttlichen Maßes, trotz der allgemein zunehmenden Auflösung, noch auf das gesamte Leben auszuwirken vermag. Die richtige Ordnung des staatlichen Lebens beruht also in jedem Fall und zu jeder Zeit auf dem göttlichen Grund aller Ordnung und Arete. Aber diese Ursache wirkt zuerst unmittelbar und sicher, ohne bewufstes menschliches Begreifen, später dagegen je länger je mehr nur noch mittels der menschlichen Erkenntnis — sofern sich diese überhaupt noch allgemeine Geltung verschaffen kann. Die ganze Erzählung von Urathen und Atlantis ist also weder historisch-faktisch ernst zu nehmen, noch ist sie als bloßes Spiel der Phantasie aufzufassen. Hier wird nicht etwa der zunächst rein theoretisch ausgedachte Idealstaat — in anderer Weise ‚utopisch“ — in eine mythische Ferne projiziert. Mit der Erklärung, daß Platon etwas eigentlich zeitlos Bestehendes aus methodisch-didaktischen Gründen künstlich in Bewegung versetze, ist es auch hier nicht getan.” Vielmehr erhält auch dieser platonische ‚Mythos‘ sein Gepräge im wesentlichen durch ganz bestimmte geschichts-philosophische Vorstellungen. Wenn Platon sie nicht unmittelbar gedanklich-systematisch ausspricht, sondern dichterisch darstellt, so hat dies vor allem darin seinen Grund, daß er nicht nur die Bedingungen einer geschicht-

lichen Verwirklichung des guten Staates theoretisch zu klären ver-

sucht, sondern zugleich auf die richtige Ordnung ,erzieherisch' hinwirken will. Diese psychagogisch-paideutische Wirkung aber erwartet Platon eben von einer Dichtung, die der philosophisch-dialektisch erkannten Wahrheit nicht widerspricht, sondern sie voraussetzt und in bildhafter Form vor Augen führt.” III. Die bisher erreichten Ergebnisse gilt es nun noch etwas genauer zu fassen, und zwar ist erstens zu fragen nach dem Geschichts-Bewußt-

17

sein Platons (oder nach der geschichtlichen Betrachtung der eigenen Philosophie), zweitens nach seiner Geschichtsdeutung (oder nach der philosophischen Betrachtung des Geschichtsverlaufs). 1. In den beiden mythisch-geschichtlichen Darstellungen, die wir 1n den Blick gerückt haben, fanden sich Hinweise darauf, daß Platon den Aufstieg zur philosophischen Erkenntnis als bezeichnenden Zug der ganzen gegenwärtigen Geschichtsperiode ansieht: Die ersten Menschen unseres Weltzeitalters kannten nur die einfachsten, lebensnotwendigen Künste; jetzt aber — dies zeigt die platonische Darstellung im ganzen — ist die Möglichkeit eines prinzipiellen Verständnisses des gesamten Seinszusammenhangs und Weltgeschehens erreicht. An mehreren Stellen läßt sich bei Platon der Gedanke einer Steigerung des menschlichen Wissens, einer Entwicklung der Kunstfertigkeit und des Erkenntnisvermögens nachweisen. Immer wieder erklärt er, daß es alle Künste, bei den einfachsten handwerklichen Techniken angefangen, mit der Verwirklichung und Erkenntnis von Maß und Zahl, Form und Proportion zu tun haben.” Auf diesem inneren Zusammenhang beruht für ihn aber nicht nur die Verwandtschaft aller Künste untereinander und ihre sachliche Rangordnung, sondern auch die analoge Aufeinanderfolge im Lauf der Geschichte." Die Entwicklung beginnt mit den gewóhnlichen handwerklichen Künsten, führt weiter zur politisch-gesetzgeberischen Techne und schließlich zur exaktesten ‚Mefskunst‘, zur philosophischen Dialektik, die übrigens wiederum in der góttlichen Weisheit des Weltbaumeisters ihr Vorbild und ihren Grund hat. So ist etwa auch die eigenartige Bemerkung im «PhiJebos» zu verstehen, daß alles, was jemals auf dem Gebiet einer Techne herausgefunden worden ist, durch die Methode der philosophischen Dialektik offenkundig gemacht werden konnte; als eine Gabe der Götter sei diese einst unter die Menschen geworfen worden, zur Erleuchtung, wie das Feuer durch Prometheus.? Platon sieht also in seiner eigenen philosophischen Erkenntnis, seiner ,Ideenlehre', die folgerichtige Weiterführung und eine gewisse Erfüllung aller früher

18

erreichten Künste und Einsichten, und zwar offenbar deshalb, weil es ihm gelungen ist, die Gesetzmäßigkeiten und Normen, nach denen sich jede Kunst zu richten hat, mit Hilfe der Mathematik in allgemeinster Form genau zu erfassen, ontologisch zu erklären und folgerichtig auf ein einziges, höchstes, göttliches ‚Maß‘ zurückzuführen. Außer der aufsteigenden Entwicklung des menschlichen Wissens

herrscht nun aber in der Welt auch — und zwar gleichzeitig — die ganz andere Tendenz des Zerfalls. Diese allgemeine Konzeption bestimmt vor allem auch die großangelegte Geschichtsdarstellung im dritten Buch der «Nomoi». Dort wird ausdrücklich bemerkt, daß die

geschichtliche Entwicklung sowohl zu immer größerer Arete als auch

zu immer größerer Kakia fortschreite.”' Als höchste Arete gilt dabei offenbar die bewußte philosophische Erkenntnis und Verwirklichung der Lebensordnung, die in einer höchsten göttlichen Norm ihren Grund hat, während die Kakia dadurch entsteht, daß dieses allein richtige Maß nicht erkannt und so die rechte Ordnung verfehlt wird.” Aus der Gleichzeitigkeit der beiden Tendenzen ergibt sich mit Notwendigkeit, daß die philosophische Erkenntnis zu einer Zeit erreicht wird, in der andererseits auch die Auflösung der sittlich-politischen Ordnungen und Bindungen schon weit fortgeschritten ist. Diese Auffassung spricht — vielleicht mehr oder weniger geschichtlich ausgeprägt — aus allem, was Platon über die Situation der Philosophie ın der Welt sagt. Man braucht nur an die Verurteilung des Sokrates zu erinnern, wie sie Platon in der «Apologie» und im Siebenten Brief darstellt; oder an die platonischen Äußerungen zu der Frage, ob der

im Logos aufgewiesene Idealstaat verwirklicht werden kann.” Hier

wird überall eine starke Spannung zwischen der philosophischen Erkenntnis und der tatsächlichen Verkehrtheit und Unordnung der Lebensverhältnisse sichtbar. Dieser Zwiespalt läßt nun aber nicht, wie vermutet worden ist,* auf ein Dilemma zwischen der historischen Einsicht Platons und seinem ethisch-praktischen Wollen schließen, sondern eher auf jene klar durchdachte geschichtsphilosophische Konzeption. Man ist versucht, das Wort im Fünften Brief, daß Platon zu

19

spät für sein Vaterland geboren sei,” neben das bekannte Wort He-

gels zu stellen, nach dem die Eule der Minerva ihren Flug erst in der Dämmerung beginnt. Jedenfalls ist deutlich, daß Platon seine eigene Philosophie im Zusammenhang des geschichtlichen Geschehens sieht. Er scheint angenommen zu haben, daß seine Zeit zwar nicht am Ende des gesamtkosmischen Geschehens steht, aber doch in das Endstadium einer Teilperiode des gegenwärtigen Weltzeitalters gehört. Das Bewußtsein, wesentliche Fortschritte in der philosophischen Erkenntnis mitzuerleben und vielleicht unmittelbar vor einer gewissen Vollendung des menschenmöglichen Wissens überhaupt zu stehen, spricht besonders deutlich aus einigen Fragmenten früharistotelischer Schriften, in denen Aristoteles offenbar noch das geschichtliche Selbstbewußstsein der platonischen Akademie wiedergibt. So wird überliefert, Aristoteles habe den alten Philosophen vorgeworfen, daß sie geglaubt hätten, die Philosophie schon selbst vollenden zu können, er selbst aber — so schrieb Aristoteles — sehe, daß in wenigen Jahren große Fortschritte gemacht worden seien und daß deshalb in kurzer Zeit die höchste philosophische Erkenntnis so gut wıe endgültig erreicht sein werde.” 2. Die maßgebenden Prinzipien, in deren genauerer Erkenntnis Platon seine besondere geschichtliche Aufgabe und Leistung sieht, sind für ıhn zugleich auch die letzten Beweggründe des geschichtlichen Geschehens im ganzen und ım einzelnen. Die Refelexion auf die Geschichtlichkeit der Philosophie und die philosophische Deutung der Geschichte sind also, höchst bewußt, aufeinander bezogen. Versuchen wir nun, unsere zweite Frage aufnehmend, dem Sinn der platonischen Geschichtdeutung noch etwas näher zu kommen. Wie schon im Blick auf den «Politikos»-Mythos zu erkennen war, ordnet Platon das geschichtliche Dasein der Menschen in weiteste Zusammenhänge ein. Der moderne, enger gefaßte Begriff der ‚Geschichte‘ ist ihm fremd: er sieht die Natur, den Kosmos ebenso ‚geschichtlich‘ wie das

20

menschliche Leben, denn Seele und Bewußtsein hat für ihn der Gesamtkosmos nicht weniger als der einzelne Mensch.

Überblickt man die platonischen Schriften, so ergibt sich, daß Platon stets drei Bereiche unterscheidet:

den

Gesamtkosmos,

das Land

oder

die Polis und den einzelnen Menschen. Das geschichtliche Geschehen

oder der Verlauf des Lebens geht in allen drei Bereichen in analoger

Weise vonstatten. Die verschiedenen Lebensprozesse sind einander wie konzentrische Kreisbahnen zugeordnet: überall der periodische Wechsel von diesseitigem und jenseitigem Leben, von Geburt, Tod und Wiedergeburt, überall der Wechsel zwischen einer Zeit des gleich-

bleibenden Zustandes und einer Zeit der Differenzierung, Entscheidung, Entwicklung und zunehmenden Spannung. Dabei ist grundsätzlich zu bemerken, daß Platon die verschiedenen Lebensrhythmen

eigenartig mathematisch berechnet und zusammenordnet. Dies ıst der

Sinn der vielbehandelten ‚geometrischen Zahl‘, auf deren Nichtbeachtung Platon im achten Buch der «Politeia» den Zerfall des Philosophenstaates zurückführt: es handelt sich um nichts anderes als um eine mathematische Koordinierung der Lebensperioden von Mensch, Polis und Kosmos. Der Grundgedanke scheint dabei zu sein, daß sich die verschiedenen Prozesse zueinander wie Tag, Monat und Jahr verhalten, daß also die Dauer des menschlichen Lebens gleichsam einen Tag im Jahresrhythmus des kosmischen Geschehens ausmacht. Ein ganzes Weltzeitalter, wie es im «Politikos» beschrieben ist, würde danach 36000 Jahre dauern." Jedenfalls kommt es Platon hier besonders darauf an, daß der Mensch, zum Unterschied von Pflanzen und Tieren,? den zeitlichen Rhythmus seines Lebens durch das Studium

der Natur und der Seinszusammenhänge jetzt selbst herausfinden und

bewußt verwirklichen muß, daß ihm dies aber andererseits doch nicht dauernd móglich ist, weil sich in der Natur selbst unaufhaltsam, je länger je mehr, Unregelmäßigkeiten einstellen. Der Widerspruch und die Spannung, die grundsätzliche Verschieden-

heit der beiden Entwicklungstendenzen, die so im gesamten Weltgeschehen und Geschichtsverlauf sichtbar werden, führt Platon auf

21

den Gegensatz zweier Urprinzipien zurück: auf die göttliche Ursache

der Formgebung und die dieser widerstrebenden Ursache des gestalt-

los-chaotischen Zerfließens, von denen schon im Anschluß an den «Politikos»-Mythos die Rede war. Für die gegenwärtige Weltperiode rechnet Platon, wie sich uns ergeben hat, mit einer zunehmenden Intensivierung des unaufhebbaren Gegensatzes in der Welt und im menschlichen Dasein. Auch in dieser Hinsicht ließe sich also zeigen, wie die platonische Philosophie die Nachfolge der griechischen Tra-

gödie übernimmt ?? (wobei zu bemerken wäre, daß Platon den eigent-

lich tragischen Gegensatz im Grunde aufhebt, indem er nur die eine Seite dem Góttlichen und dem Sein, das Gegenprinzip aber dem Nichtsein zuordnet). Hier kommt es uns jedoch mehr darauf an, daß von der dualistischen Prinzipienlehre her verständlich wird, in welchem Sinne Platon den entscheidenden Bereich des geschichtlichen Geschehens in dem mittleren Bereich zwischen Sein und Nichtsein, Ideenwelt und Erscheinungswelt sieht, wo Form und gestaltloser Stoff sich gegenseitig durchdringen und auseinanderstreben. Platonisch gesprochen handelt es sich hier um den Bereicb der Seele; und aus der Zwischenstellung des Seelischen als der entscheidenden Instanz in allem geschichtlichen Leben” ergeben sich in der Tat die wesentlichen Züge des platonischen Geschichtsdenkens. Zum Beispiel kann Platon in diesem Zusammenhang die verschiedenen Bewegungsformen und Bewegungsarten, die im geschichtlichen Geschehen vorkommen, prinzipiell erklären. Die Kreisbewegung wird, weil sie einheitlich und in sich geschlossen ist, mit der Vernunft und mit dem Prinzip aller Ordnung und Einheit in Zusammenhang gebracht, die geradlinige Bewegung dagegen auf das Körperliche und weiter auf das Prinzip der Unbegrenztheit und Vielheit zurückgeführt." So aber wird es möglich, Kreislauf und fortschreitende Entwicklung, Kontinuität und Neubeginn, Wiederkehr und Vergänglichkeit in der Geschichte — entsprechend dem Zusammenwirken von Geistigem und Körperlichem in dem mitlleren Bereich des Seelischen — systematisch zu erklären,

und zugleich läßt sich so auch der Zusammenhang von Freiheit und

22

Notwendigkeit,

Vorherbestimmung

und

Verantwortung

im Leben

des Einzelnen wie auch der Polis begründen.” Platon unternimmt also, aufs ganze gesehen, den Versuch, die geschichtlichen Erscheinungen und den Gesamtverlauf der Geschichte auf die in ihnen wirkenden Ursachen zurückzuführen, und zwar letztlich auf die Gründe alles Seienden und Werdenden überhaupt.

Aus dem prinzipiell gleichen Begründetsein aller Dinge ergibt sich

auch die Möglichkeit, alle zeitlich-geschichtlichen Vorgänge vom allgemein-kosmischen Geschehen bis zum einzelnen Menschenleben in

analoger Weise zu verstehen und aufeinander zu beziehen. IV.

Dies alles sieht nun freilich recht gedanklich oder gar schematisch aus. Ist nicht die platonische Geschichtsdarstellung auch bildhaft und dichterisch? Allerdings, und zwar notwendigerweise, wie sich aus dem bisher Gesagten erkennen läßt. Eben wegen seiner ‚Zwischenstellung‘ läßt sich das Eigentümliche des geschichtlichen Werdens und Vergehens nicht rein im Logos erfassen wie die Ideen selbst. Vielmehr ist das geschichtliche Leben der Doxa zugeordnet, jenem Mittleren zwischen der sinnlichen Wahrnehmung und dem reinen Denken; und daher ist die Geschichtsdarstellung auf beides angewiesen, auf die Anschbaaung ebenso wie auf das gedankliche Rechenschaftgeben. Eine Geschichtsbetrachtung, die sich nur an die Erscheinungen hält, ist für Platon unzulänglich — schon allein deshalb, weil der Mensch nie die Gesamtheit der Phänomene in sich aufnehmen kann, erkennbar und wahr jedoch nur das Ganze ist. Weil sich das geschichtliche Geschehen aber andererseits nicht losgelóst von den wechselnden Erscheinungen

betrachten läßt, kommt es zu dem platonischen Versuch, bei der bild-

haften Darstellung des geschichtlichen Lebens im Veränderlichen immer nach Möglichkeit die wesensmäßigen Zusammenhänge, die Be-

ziehungen zu den Ideen und Ursachen hervortreten zu lassen. Die platonischen Erzählungen geschichtlicher Begebenheiten und Zusammenhänge sind so verstanden nicht nur Spielerei und Spekulation.

23

Zwar hat Platon die von ihm selbst aufgestellte Forderung, daß bei allen Erklärungsversuchen „die Phänomene zu wahren““ seien, nicht

streng erfüllt. Dies ist bei der Geschichtsdeutung nicht anders als bei der mathematischen Erklärung der Planetenbahnen im «Timaios», für die diese Forderung im besonderen gelten sollte. Aber umso deut-

licher spricht aus der platonischen Darstellung hier wie dort die Überzeugung, die bis heute für das wissenschaftliche Denken auf allen Gebieten gilt, daß nàmlich in allem Einzelnen das Ganze, das Gesetz,

die Norm aufzusuchen ist und daß auf diesem Weg der einzelne Fall

erst wirklich erkennbar wird. Vielleicht kann man sogar behaupten: wenn Wissenschaft in der Bemühung besteht, die Phänomene auf allgemeinere Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen und wieder daraus abzuleiten, und wenn es Platon gelungen ist, die geschichtliche Erschei-

nungen und Zusammenhänge nicht nur auf eine Vielzahl einzelner

Relationen und Motive, sondern auf ganz allgemeine Gründe folgerichtig zurückzuführen, hat er die Geschichte als Wissenschaft im ganzen überhaupt erst endgültig begründet. Die empirische, kritische Geschichtsforschung, die Thukydides schon so meisterhaft betrieben hatte, kennt auch Platon durchaus.“ Aber er sieht hier die Gefahr, daß vordergründige und untergeordnete Ursachen überschätzt und so die wirklich maßgebenden Beweggründe verdeckt werden. So sind für Platon etwa machtmäßige Überlegenheit und Unterlegenheit an sich keine wesentlichen, eindeutigen Momente des geschichtlichen Lebens. Schon im «Gorgias» verurteilt er bekanntlich Perikles und die anderen führenden Staatsmänner des fünften Jahrhunderts, weil sie die Athener nicht besser, sondern schlechter gemacht hätten; und in den «Nomoi» führt er aus, daß Staaten nicht untergehen, weil es ihnen an Macht und Größe fehlt, sondern wenn sie das rechte Maß, das in der Seinsordnung begründete innere Gleichgewicht der Kräfte verlieren. Die ‚Idee des Guten‘ gilt also bei Platon auch für das geschichtliche Leben und für die Geschichtserkenntnis als hóchstes Prinzip.

Platon verallgemeinert und vertieft die Frage des Thukydides nach den 24

‚wahren Ursachen‘ des geschichtlichen Geschehens. Er sucht die histo-

risch-pragmatische Darstellung und Erklärung ten, indem er grundsätzlich über den Bereich scheinungen hinausfragt. Wo er die Methode anwendet, geschieht es nicht in vollem Ernst,

gleichsam zu überbieder geschichtlichen Erder historischen Kritik sondern, wie etwa bei

der Atlantis-Erzählung, spielerisch — damit die Vorläufigkeit dieser

Art der Vergewisserung gegenüber der philosophischen Wahrheitsfindung nur umso deutlicher sichtbar werde. So ist Platons Verhältnis zur Geschichtsforschung im ganzen ähnlich wie das zu der Naturerklärung eines Anaxagoras oder Demokrit: wo die früheren Denker von Ursachen sprechen, sieht er nur ‚Mitursachen‘; zu der eigentlichen Ursache führt nach seiner Auffassung erst die sokratische Frage nach dem Guten. Das bedeutet nun aber nicht, wie immer wieder zu hören ist, daß die platonische Geschichtsdarstellung moralisch-pädagogisch zu verstehen

wäre. Denn

‚das Gute‘ ist offenbar nichts anderes als jenes aller-

exakteste ‚Maß‘, der göttliche Grund der Ordnung und des Seins, das Prinzip der Einheit, dessen Wirkungsweise Platon vor allem mit Hilfe der Mathematik untersucht hat. Das wesentliche der platonischen Geschichtsbetrachtung besteht also vielmehr darin, daß sie einbezogen ist in eine umfassende Seinswissenschaft und Prinzipienlehre. Nur in diesem Zusammenhang ist für Platon geschichtliche Erkenntnis möglich; und diese grundsätzliche ‚Wissenschaftlichkeit‘ 1st es auch, die den erzieherischen Wert der Geschichtsbetrachtung gewährleistet. Darin zeigt sich nun aber auch nicht etwa ein übertriebener Rationalismus. Platon selbst dürfte sich über den Entwurf-Charakter, das Hypothetische seiner Darstellung stets im klaren gewesen sein. Er rechnet damit, daß sich in der Welt, in der wir uns als Menschen aufhalten, das Prinzip der Unbestimmtheit und des unberechenbaren Zufalls stärker auswirkt als jenes andere Prinzip der Ordnung und der Vernunft.

25

V. Versuchen wir nun, zum Schluß, die eigene Situation mit in den Blick

zu bekommen. Das moderne Geschichtsbewußtsein ist anders als das platonische. Geschichte und Geschichtlichkeit sind absolute Größen geworden; die Vorstellung der fortschreitenden Entwicklung drängt den Gedanken der ewigen Wiederkehr immer mehr zurück. Unsere

geschichtliche Erfahrung ist um vieles reicher. Unser Geschichtsbild 1st

offener, da jegliche Art der mythischen Umschlossenheit, auch die Begrenzung durch Schöpfung und Weltende, der Säkularisierung durch das rationale Denken nicht standhalten konnte. Unser Geschichtsdenken ist noch stärker reflektiert als das platonische, denn jede echte Geschichtsauffassung ist sich heute ihrer eigenen Geschichtlichkeit und Zeitbedingtheit aufs stärktse bewußt. Die moderne Geschichtsforschung wird bestimmt durch einen neuenSinn für das geschichtlich Individuelle und Konkrete. Die Philosophie, der auch heute noch die Frage nach dem Sinn und dem Wesen der Geschichte im ganzen aufgegeben ist, geht aus von der Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz. Dies alles trennt uns aber wohl nicht nur von Platon, sondern läßt uns die Anfänge der Geschichtsphilosophie im platonischen Denken zugleich auch als bedeutsam und richtungweisend erscheinen. — Zunächst wäre darauf hinzuweisen, daß wesentliche Züge des modernen Geschichtsbewußtseins bei Platon schon im Ansatz vorhanden sind. Dabei ist weniger wichtig, daß die von Platon stammenden Vorstellungen und Kategorien im einzelnen bis heute zur Erklärung geschichtlicher Sachverhalte brauchbar sind. Die Richtigkeit der Vorstellung etwa, daß die Steigerung des menschlichen Wissens und die unaufhaltsam zunehmende Gefährdung des Lebens zeitlich zusammengehören, wird uns heute nur zu deutlich vor Augen geführt. Es geht vielmehr um das Ganze des platonischen Geschichtsbildes. Mit der Entdeckung, daß die geschichtliche Entwicklung notwendigerweise ambivalent ist, daß Aufstieg und Dekadenz der Kultur miteinander zusammenhängen, erschließt Platon, wie wir gesehen haben, produk-

26

tive Möglichkeiten des Geschichtsverständnisses und der geschichtlichen Selbsterkenntnis. Vor allem wird es ihm auf diese Weise möglich, die eigene philosophische Erkenntnis im Zusammenhang der

Kulturentwicklung geschichtlich zu sehen. Zwar führt er das geschicht-

liche Geschehen auf allgemeine sachliche Zusammenhänge und übergeschichtliche Gründe zurück. Aber mit der Reflexion auf die Geschichtlichkeit der Philosophie selbst erhält doch offensichtlich auch der geschichtliche Augenblick, die besondere geschichtliche Situation für den Menschen eine fundamentale Wichtigkeit. An dieser Stelle führt das platonische Geschichtsdenken über die Grundvorstellung der ewigen Wiederkehr, der zyklischen Periodizität des Geschehens hinaus; und in dieser Hinsicht kann Platon als Vorläufer der modernen, am stärksten durch Hegel repräsentierten Geschichtsphilosophie angesehen werden. Freilich scheint die in diese Richtung führende Bewegung mehr noch von der biblischen Geschichtsvorstellung auszugehen (nach der sich im geschichtlichen Schicksal und im Gang der Geschichte der Wille Gottes bekundet und verwirklicht). Von

entscheidender Bedeutung ist jedenfalls, daß bei Platon der Ansatz zu einem radikal geschichtlichen Denken aufgehoben wird durch die

— nun nicht mehr primitive, sondern ganz bewußte — Zurückführung des Geschichtsprozesses auf übergeordnete, umfassende Urformen und Ursachen. Ob es für das moderne Denken möglich ist

und vielleicht auf die Dauer

lebensnotwendig

wird, die Absolut-

setzung der Historizität in analoger Weise zu überwinden, kann hier nicht erörtert werden. Doch ist vielleicht die einfache Beobachtung bemerkenswert genug, daß sich im griechischen Denken die radikalen Folgerungen des modernen Geschichtsbewußtseins schon ankündigen, daß es Platon aber gelungen ist, die auseinanderbrechende Einheit der Welt- und Selbsterkenntnis noch einmal im Logos zusammenzuhalten und neu zu begründen.”

Noch deutlicher zeigt sich eine Verbindlichkeit des platonischen Philosophierens vielleicht an der Methode der platonischen Geschichtsbetrachtung — an jenem Einordnen des Einzelnen in das allgemeinere

27

Ganze, jenem Aufzeigen der einfacheren Vielfalt der Erscheinungen, das sich als lich bezeichnen ließ. Von geschichtlichen jeder Mensch und jedes Volk auch heute wußt, geleitet. Es kommt

Gesetzmäßigkeiten in der grundsätzlich wissenschaftGesamtvorstellungen wird noch, bewußt oder unbe-

also alles darauf an, ob und wie sich das

wahre Bild der Geschichte finden läßt. Nun gilt aber immer noch uneingeschränkt, daß die bloße Empirie keine Erkenntnis vermittelt: die Geschichte enthält in sich selbst keine eindeutigen Normen und Verlaufsformen, man kann alles und nichts aus ihr herauslesen. Dies

ist der Grund, weshalb wir auf die platonische Art der Geschichtsbetrachtung nicht verzichten können. Platonisch ist jedoch nicht das

einfache Transzendieren, die Aufhebung und Verdünnung des geschichtlichen Lebens zu bloßen Vernunftnotwendigkeiten. Vielmehr wird bei Platon gerade das Bemühen sichtbar, die geschichtliche Welt

in ihrer Eigenart, in ihrer eingeschränkten Verstehbarkeit, zu be-

greifen, geschichtliche Erfahrung in weitestem Umfang aufzunehmen und auf den geschichtlichen Lebensvollzug nach Möglichkeit gestaltend einzuwirken. Whe schwierig es freilich ist, den platonischen Versuch heute zu erneuern, ist klar genug zu sehen. Die platonische Verbindung der dichterischen und der denkerischen Erkenntnis- und Darstellungsweise ist kaum jemals wieder erreicht worden, ebensowenig wie die Verbindung der theoretischen Forschung mit der praktisch-politischen Ausbildung in der platonischen Akademie. Es fällt uns schon schwer zu erkennen, daf es die Natur- und die Geisteswissenschaften sowie die empirische Geschichtsforschung und die Geschichtsphilosophie mit der gleichen Geschichte oder Geschichtlichkeit zu tun haben. Als geradezu aussichtslos mag es uns daher erscheinen, wenn Platon versucht, die physikalischen und die geschichtlichen Vorgänge in einer systematischen Bewegungslehre zusammenzudenken. Andererseits hat jedoch immerhin die moderne Physik auch dem Gedanken einer dynamisch-geschichtlichen Beschaffenheit des raumzeitlichen Universums wieder einen bestimmten Sinn gegeben. Von hier aus erhält die Ab-

28

sicht Platons, mit Hilfe der mathematischen Wissenschaften eine allgemeine, auch das geschichtliche Geschehen und das politische Leben mit umfassende Seinswissenschaft aufzubauen, eine bemerkenswerte Aktualität.” Es liegt nahe, nun noch einmal auf die zu Beginn erwähnte humanistische Forderung, wie sie vor allem Werner Jaeger programmatisch vertreten hat, zurückzukommen. Heute sei, so hören wir, gerade auch das humanistische Verständnis der griechischen Kultur nur auf dem Wege der Erfassung ihrer geschichtlichen Eigenart und individuellen Erscheinungsform zu erreichen; und zwar komme es dabei besonders auf die Tatsache an, daß Platon im Zusammenhang der griechischen Kulturentwicklung den Vorgang der ‚Bildung‘ (im Sinne der produktiven Erneuerung der Tradition und des geschichtlich Ursprünglichen) so vollzogen hat, wie er heute in anderer, doch im wesentlichen durchaus vergleichbarer Situation nachzuvollziehen ist. Nun läßt sich aber aus der Feststellung der einmaligen geschichtlichen Realitát oder auch aus einer gewissen geschichtlichen Wirkung einer Sache ihre dauernde Maßgeblichkeit und Gültigkeit nicht ohne weiteres ableiten; und andererseits ist offenbar auch mit gefühlsmäßigen Bekenntnissen zum ‚Humanismus‘ noch nicht viel getan. ** Wollte man jener Forderung Jaegers heute eine allgemeine Begründung geben, so müßte diese, wenn sie überhaupt möglich ist, vor allem geschichtsphilosophischer Art sein. Dabei wäre man aber eigenartigerweise eben auf die Grundsätze der platonischen Geschichtsdeutung angewiesen. Denn Platon hat auf seine Weise die Einheit im Wechsel der Zeiten, die Kontinuität und Tradition in der Entwicklung, zugleich aber auch die Möglichkeit eines Verlustes der Tradition und die Schwierigkeit ihrer sinnvollen Weiterführung gesehen und ontologisch erklärt. Platon hat also wohl nicht nur den bis heute immer wieder notwendigen Vorgang der menschlichen ‚Bildung‘ tatsáchlich vollzogen, sondern zugleich auch, wenigstens im Entwurf, dessen geschichtsphilosophische Begründung vorausgenommen.

29

HINWEISE

UND

BELEGE

. Gegenüber dem mündlichen Vortrag (im November 1960) ist die hier veröffentlichte Fassung um einige Abschnitte erweitert. Für wertvolle kritische Anregungen bin ich besonders Herrn Professor

Dr. H. GUNDERT sowie Frl. Dr. I. SCHUDOMA zu Dank verpflichtet. Eine genauere interpretatorische Darlegung der hier nur angedeuteten Grundzüge der platonischen Ontologie und Prinzipienlehre (Theologie) versuche ich in meiner Habilitationsschrift «Platons ungeschriebene Leh-

ren. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der platonischen Schule». . W. JAEGER,

«Platos Stellung im Aufbau

der griechischen Bildung»,

Die Antike 4, 1928, jetzt in: ‚Humanistische 2. Aufl. 1960, S. 117-157 (vgl. bes. S. 154f).

Reden

und

Vorträge‘,

.Die neueste Literatur verzeichnet im einzelnen der Forschungsbericht von H. CHERNISS, Lustrum 4, 1959 (Góttingen 1960), bes. S. 31-57

(‚The Relation of Plato to the Influence of Others‘). Einen guten Ein-

druck von der umfassenden Berücksichtigung des geschichtlich Gegebenen

bei Platon gibt jetzt auch das Werk von G. R. MORROYW, «Plato’s Cretan City. A Historical Interpretation of the Laws», Princeton/New Jersey

1960.

. Als wichtigste Vorarbeiten sind die folgenden drei Untersuchungen zu

nennen. Die aus der Schule Julius Stenzels stammende Dissertation von G. ROHR («Platons Stellung zur Geschichte» 1931) vermittelt immer noch die beste Einführung in die philosophische Problematik des Themas, das nur im Zusammenhang mit dem Ganzen der platonischen Seins- und Wissenschaftslehre verstanden werden kann. Der kurze Aufsatz von R. G. BURY («Plato and History», Class. Quat. 45, N. S. 1,

1951, 86-93) enthält berechtigte Ansätze zu einer systematischen Verbindung der einzelnen geschichtsphilosophischen Äußerungen in verschiedenen platonischen Dialogen. In der Abhandlung von R. WEIL («L' „Archeologie“ de Platon», Paris 1959) wird durch den aufschlußreichen Vergleich mit den Methoden der griechischen Historiker die

31

eigenartige, Spiel und Ernst vereinigende Methode der platonischen Geschichtsbetrachtung und -darstellung verdeutlicht. — Ganz unberücksichtigt geblieben ist bisher vor allem die Frage, ob und wie Platon die eigene Philosophie geschichtlich gesehen und eingeordnet hat. Andererseits sind auch die in den Dialogen zum Ausdruck kommenden Vorstellungen über den Gesamtverlauf der Geschichte noch nicht genügend von den allgemeineren ontologischen Voraussetzungen her erklärt wor-

den, von denen das platonische Geschichtsdenken ausgeht.

.Zur

Verbreitung

dürften haben

auch

des

Schlagwortes

die entsprechenden

(vgl. «Vom

Nutzen

von

den

Äußerungen

und Nachteil

‚unhistorischen

Nietzsches

der Historie»:

Das

Griechen‘

beigetragen Volk

der

Griechen „hatte sich in der Periode seiner größten Kraft einen unhisto-

rischen Sinn zäh bewahrt“). Aus der Fülle übereinstimmder Urteile seien nur die folgenden aus jüngster Zeit herausgegriffen: R. BULTMANN («Geschichte und Eschatologie», Tübingen 1958): „Der griechische Historiker stellt die Frage nach dem Sinn der Geschichte nicht, und konsequenterweise entstand in Griechenland keine Geschichtsphilosophie“ (S. 17), , ... ist im Griechentum die Geschichtlichkeit des menschlichen Seins nicht gesehen worden, sowenig die Geschichte als selbständiges Thema erfaßt wurde“ (S.105, vgl. S. 19, 24f, 68, 135); K. LOWITH («Mensch und Geschichte», erstmals in: ,Gesammelte Abhandlungen. Zur Kritik der geschichtlichen Existenz', Stuttgart 1960, S. 152—178, vgl. bes. 5. 153—157): „Die Griechen waren tief beeindruckt von der ewigen Ordnung, der Größe und Schönheit der sichtbaren Welt, kein klassischer Denker ist aber je auf den Gedanken verfallen, diesen wohlgeordneten ewigen Kosmos mit den vergänglichen prágmata der menschlichen Geschichten in einer Weltgeschichte zusammen zu denken... Der Grund für dieses Fehlen eine Philosophie der Geschichte ist... die klare Einsicht, daß es vom einmalig Zufallenden und Wechselnden nur Bericht oder ‚Historie‘, aber kein wahres Wissen geben kann* (S. 155). . Selbstverständlich kommt hier alles darauf an, wie der Begriff der ‚Geschichtsphilosophie‘ bestimmt wird. Nun ist keineswegs zu bestreiten, daß das philosophische Nachdenken über die Geschichte durch den Einfluß der alttestamentlichen Religion (Prophetie, Messianismus) und des christlichen Glaubens (besonders bei Augustin) ein neues Gepräge und eine neue Tiefe erhalten hat (vgl. dazu E. FRANK, «Saint

32

Augustine and Greek Thought»,

1942, und «The Role of History in

Christian Thought», 1949, jetzt in: ‚Wissen, Wollen, Glauben. Ges. Aufs.‘, Zürich 1955, S. 161—191; M. ELIADE, «Le mythe de P? éternel retour», Paris 1949, deutsch: «Der Mythos der ewigen Wiederkehr», Düsseldorf 1953, S. 151ff; R. BULTMANN a.O. 68ff; Κα. LOWITH

a. O. 157). Nicht einzusehen ist aber, weshalb der Begriff der ,Geschichtsphilosophie‘ auf diese besondere Art des Geschichtsdenkens eingeschránkt werden

daß die Annahme

soll. Es ist ja nicht etwa philosophisch entschieden,

einer nicht umkehrbaren,

einmaligen Entwicklung,

eines immanent-teleologischen Sinnes der Geschichte oder wie absoluten Bedeutung der Geschichtlichkeit ‚richtiger‘

andere

Grundvorstellung

platonischen

Denken

wird

der periodischen man



trotz

Wiederkehr.

der

einer sonstist als jene

Gerade

vorwiegend

dem

zyklischen

Gesamtvorstellung und trotz der Annahme einer ontologisch-erkenntnis-

theoretischen Defizienz des geschichtlichen Geschehens — den Sinn für die Eigenart der geschichtlichen Entwicklung nicht absprechen kónnen. „Was die Frage nach dem Sinn der Geschichte anbetrifft, so müßte

auch eine Geschichtsphilosophie als solche anerkannt werden, die Grund

zu haben glaubte, ihn zu verneinen^ schichtsphilosophie», 1934, jetzt in:

ihrer

Bedeutung

für

die

Gegenwart‘,

(W. NESTLE, «Griechische Ge‚Griechische Weltanschauung in

Stuttgart

1946,

S. 334—372,

bes. 5. 335). Im Grunde kann doch wohl kein Zweifel darüber bestehen daß den Griechen ein starker Sinn für das Geschichtliche eigen war (vgl. W.

SCHADEWALDT,

«Die

Anfänge

der

Geschichtsschreibung

bei

den

Griechen», 1934, jetzt in: „Hellas und Hesperien. Ges. Schr. z. Antike u. z. Neueren Literatur‘ S. 395—416 und B. SNELL, «Die Entstehung des geschichtlichen Bewußtseins», in: ‚Die Entdeckung des Geistes‘ 1955°,

203—217) und daß sie immer wieder neu über die geschichtliche Entwicklung nachgedacht haben (vgl. W. NESTLE a. O.). Darüber hinaus kann man aber bei Platon auch von ‚Geschichtsphilosophie‘ sprechen, weil hier das Nachdenken

über das geschichtliche

Geschehen

einerseits

einbezogen ist in eine zutiefst philosophisch begründete Welterklärung und weil hier andererseits auch die Bedeutung

der Geschichte für den

Menschen und sogar für das Philosophieren selbst ganz bewußt erkannt ist. SI

. W. JAEGER, «Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung». 2. Aufl. Berlin 1955, S. 1. Ebenso äußert sich neuerdings O.

33

GIGON: ,Wie hat sich die griechische Philosophie zu ihrer eigenen Geschichte gestellt? Ohne Übertreibung kann man sagen, daß dies Problem in seinem vollen Sinne zum ersten Mal bei Aristoteles erscheint“ («Die Erneuerung der Philosophie in der Zeit Ciceros» in: Recherches

sur la Tradition

Platonicienne, Entretiens

III, Vandoevres

Genf

1955,

25—59, bes. S. 27; vgl. O. GIGON, «Die Geschichtlichkeit der Philosophie bei Aristoteles» in: Arch. di filos. 1954, 129—150, bes. S. 136: »... daß Aristoteles der Schöpfer der antiken Philosophiegeschichte

ist“). — Allgemein könnte man wohl behaupten, daß das geschichtsphilosophische und ‚philosophiegeschichtliche‘ Interesse bei Platon ursprünglicher und auch stärker differenziert ist als bei Arıstoteles; dies hat darin seinen Grund, daß unsere Welt für Aristoteles im ganzen ewigunveränderlich, für Platon dagegen dem Werden und Vergehen unterworfen ist (vgl. bes. «Timaios» 41 A f und Aristoteles Frg. 18 5. 85 ROSS). Jedenfalls aber müßte sich bei genauerer Untersuchung zeigen,

daß die Auffassung von der Geschichtlichkeit der philosophischen Erkenntnis bei Platon und bei Aristoteles wesentlich verschieden ist. Auch hier gilt, daß

Platon

‚zurückführt‘

analysiert und zusammenfaßt.

und begründet,

wo

Aristoteles nur

Zur ,aristotelischen Prinzipienlehre als

Analyse der in Überlieferung und Sprache liegenden Voraussetzungen“ zuletzt richtungweisend: W. WIELAND, «Das Problem der Prinzipienforschung und die Aristotelische Physik», Kantstudien 52, 1960/1, 206—

eo

219. Vgl. auch u. Anm. 29.

Jedenfalls läßt sich beobachten, daß das Nachdenken über die Geschichte in den späten, lehrhafteren Dialogen Platons am stärksten zum Ausdruck kommt (Politikos — Timaios / Kritias — Nomoi). Zur Unter-

scheidung der mündlichen Lehrvorträge Platons innerhalb der Akade-

mie von den literarisch veröffentlichten Dialogen: H. J. KRÄMER, «Arete bei Platon und Aristoteles» Abh. d. Heidelb. Akad. d. Wiss. 6, 1959.

. Vgl. G. ROHR

a. O. $.70ft, 111, 122ff: „Platon findet im besonderen

historischen Fall eine Erfüllung und Bestätigung des setzes, das aber auch nur hier allererst erfaßt wird“ NER, «Vom geschichtlichen Denken der Griechen», 5. 53—58; R. WEIL a. Ο. S. 54 (dort der Vergleich

allgemeinen Ge(5. 72); H. BOGHeidelberg 1948, mit der Sprache,

der übrigens mit der platonischen Erkenntnislehre in Zusammenhang gebracht werden kann: Epist. VII 342 Bff).

34

10. «Politikos»

269 C—274E.



Neuerdings

hat

H.

HERTER

(«Gott

und Welt bei Platon. Eine Studie zum Mythos des Politikos», Bonner Jahrb. 158, 1958, 106—117) diesen Mythos untersucht und durch seine

Erklärung die hier wiedergegebene Auffassung im wesentlichen vorweggenommen. Auch HERTER betont, daß dem ganzen Mythos ein chronologisch-geschichtlicher Sinn nicht abgesprochen werden kann.

11. Die hier auftauchenden Probleme der Kosmologie und Prinzipienlehre

sind nur in dem größeren Zusammenhang der platonischen Spätphilosophie überhaupt zu klären (vgl. etwa J. STENZEL, «Metaphysik des Altertums», Handbuch der Philosophie, Abt I, 1931, bes. S. 147—159). Hier geht es uns nur darum, die geschichtsphilosophisch wichtigen Züge

hervorzuheben. Die Frage, ob die Angaben über eine erste Entstehung

des Kosmos wörtlich zu nehmen sind oder ob Platon nur den dauernden Zustand der Veränderlichkeit der Welt verdeutlichen will, war schon bei den Schülern Platons umstritten. Daß der Demiurgos als überweltlicher Nus verstanden werden kann, bestreitet zu Unrecht J. H. M. M. LOENEN, «De Nous in het systeem van Plato's philosophie», Amsterdam 1951. Das erzeugende, ‚demiurgische’ Prinzip wirkt sich nach platonischer Lehre auf den verschiedenen Stufen der Realität (Idee —

Seele — körperliche Erscheinung) immer wieder neu in analoger Weise

aus: als Kraft der Vereinigung bewirkt es überall Ordnung, mit der Ordnung aber Sein (Bestándigkeit), Arete (Tüchtigkeit) sowie Erkennbarkeit und Erkenntnisfähigkeit. Der hier und im «Timaios» andeutungsweise beschriebene Demiurgos unseres Kosmos ist am ehesten, wenn eine begriffliche Erfassung überhaupt erlaubt ist, als der dynamische Aspekt der Ideenwelt zu erklären: denn das Ganze der Ideenwelt läßt sich (in seinem Verhältnis zum sichtbaren Kosmos) einerseits als ın sich ruhende maßgebende Form (Paradeigma) und andererseits, als wirkende Potenz (Demiurgos) verstehen. In analoger Weise wirkt als höchstes Prinzip das ‚Gute‘ oder das ‚Eine‘ selbst. 12. Die bisherigen Auffassungen

33. Bei genauerem

Zusehen

verzeichnet H. HERTER a. O. 113 Anm. — so bemerkt HERTER mit Recht —

„erweisen sich die beiden Perioden lange nicht als so konträr, wie man fast immer annımmt“. Die entgegengesetzte Ansicht, nach der das zeit-

liche Moment in der platonischen Darstellung nur einen formalen Sinn hätte, findet sich auch in sonst vorzüglichen Abhandlungen: bei K.

REINHARDT,

«Platons

Mythen»,

1927,

119f,

jetzt in ‚Vermächtnis

35

der

Antike‘,

hrsg.

von

C.

Becker,

1960,

273;

P.

FRIEDLÄNDER,

«Platon» I? 216; G. ROHR a. O. 99 und zuletzt H. J. KRAMER a. O. 221. — Es ist im Grunde richtig, wenn man bemerkt, daß die beiden gegensätzlichen Mächte (Eidos und Materie, góttlicher Nus und blinde Ananke) nach platonischer Auffassung nicht nacheinander, abwechslungsweise herrschen, sondern zugleich. Aber ihr Zusammenwirken geschieht für Platon doch nicht zu jeder Zeit in gleicher Weise; und durch diesen Wechsel ihres gegenseitigen Verhältnisses (Trennung und Verbindung) kommt für Platon die geschichtliche Entwicklung zustande. 13. «Politikos» 274 Cf, vgl. HERTER

a. O. 114.

14. «Politikos» 272 B-D, vgl. HERTER

a. O. 115.

15. Zum Einfluß persisch-iranisch-indischer Weltalterlebren: W. JAEGER, «Aristoteles» 134—139 mit Nachtr. d. 2. Aufl. S. 438; J. KERSCHENSTEINER, «Platon und der Orient», Stuttgart 1945, S. 169ff, bes. 171 Anm. 2 (wo mit Recht die Annahme einer eigentlichen Abhängigkeit Platons zurückgewiesen wird); M. ELIADE a.O. 164—168, 175—178.

Zu Empedokles: DIELS—KRANZ, Fragmente der Vorsokratiker® Nr.32B 17, 26, 35, 128. Die periodische Hin- und Herbewegung

zwischen Ordnung

und Unordnung

betrifft bei Empedokles

offenbar

die gesamte Realität; die Prinzipien selbst gewinnen abwechslungsweise

die Oberhand.

Bei Platon

dagegen

besteht zwischen

den

Prinzipien

immer das gleiche Kräfteverhältnis, nur nicht der gleiche Modus der gegenseitigen Durchdringung. Die Gleichzeitigkeit der beiden Entwicklungstendenzen — Aufstieg und Zerfall der Kultur — hat vor Platon vielleicht schon, jedoch ohne ontologische Begründung, Demokrit gelehrt: vgl. DIELS-KRANZ, Vorsokratiker Nr.68 B5 Ende. — Sicher ist, daß die Verbindung von Depravations- und ,Evolutions'- Theorie nicht erst stoisch (Poseidonios von Apameia), sondern schon platonisch ist. Poseidonios scheint den platonischen Gedanken einer fortschreitenden Differenzierung der ursprünglichen gottnahen Einfachheit des Lebens erneuert zu haben,

während in der engeren Tradition des Platonismus das geschichtsphilosophische Moment bald ganz zurücktritt und Nomos», 1955, 5. 248ff, 290f).

36

(vgl. C. ANDRESEN,

«Logos

16. Im «Timaios» (21 E—26E) wird eine vorläufige Skizze des ganzen Berichts gegeben. Der unvollendet gebliebene Dialog «Kritias» sollte die ausführliche Darstellung enthalten. Wahrscheinlich. findet sich. manches

von dem hier nicht mehr Ausgeführten sinngemäß in der Geschichtsdarstellung des dritten Buchs der «Nomoi»: dem Verhältnis von UrAthen und Atlantis entspricht dort die Gegenüberstellung von Athen und Persien.

17. Vgl. «Kritias» 112 A: Die dritte Überschwemmungskatastrophe vor Deukalion, also vor dem Beginn der gegenwärtigen Periode der griechischen Geschichte sei besonders schwer gewesen. Damals also sind wohl

der urathenische Staat und die Insel Atlantis untergegangen. Das heißt aber, daf$ zwischen der damaligen Katastrophe und der Flut am Be-

ginn

der gegenwärtigen

Periode

eine längere

Zwischenzeit

anzusetzen

ist, die durch eine weitere Katastrophe in zwei Abschnitte geteilt wird.

Da der Abstand von der urathenischen Zeit bis zur Gegenwart nach den platonischen Angaben 9000 Jahre beträgt, ıst vermutlich, entsprechend den orientalischen Lehren, mit einem Rhythmus von jeweils 3000 Jahren zu rechnen: 3000 Jahre geschichtliches Dasein und 2 X 3000 Jahre geschichtslose Zwischenzeit bis zur nächsten geschichtlichen ‚Ver-

körperung‘.

18. «Iimaios»

19 D

und

21 Cf.

19. Die ‚Katastrophentheorie‘ läßt sich, von rein mythischen Vorformen abgesehen, auf Xenophanes zurückführen (DIELS-KRANZ, Vorsokra-

tiker* Nr.21

A

33: Überschwemmungen

führen

immer

wieder

zur

Vernichtung und zum Neubeginn des Lebens; vgl. Frg. B 18 über den Aufstieg der menschlichen Kultur, dazu UXKULL-GYLLENBAND,

«Griechische Kulturentstehungslehren», Berlin 1924, S. 3 f). Die Erwähnungen dieser Theorie bei Platon und Aristoteles sind aufgezählt bei H. J. KRAMER a. O. 220 Anm. 150 (außer der wichtigen Stelle bei

W.D. ROSS, Aristotelis Fragmenta, Oxford 1955, S. 76 f). Wissenschaftlichen Charakter hat auch das in der Erzáhlung von Atlan-

tis erwähnte geographische Weltbild («Timaios» 24 E f); vgl. P. FRIEDLANDER. «Platon» I? 260—283 (‚Platon als Geograph‘). Die Anspielungen auf historisch-geographische Gegebenheiten sind sehr vielfältig und schwer abzugrenzen (vgl. die verschiedenen neueren Deutungen bei H. CHERNISS a. O. S. 79--- 83).

37

20. «Tımaios»

20D,

21 D, 26 F.

21. Dies wird mit Recht hervorgehoben bei P. FRIEDLANDER,

I? 214—216

«Platon» (vgl. III? 357f), wo die Beschreibung der allmählichen

Entartung von Athen (Demokratie) und Persien (Monarchie) im dritten

Buch

der «Nomoi»

als Parallele zur Atlantis-Geschichte

erkannt

ist

und ausgewertet wird: „So ist also Atlantis die ideisierte Monarchie, d.h. eine zentralisierte Fürstenmacht, in der doch Gemeinschaft und Gesetz die Herrschenden bindet, Urathen die ideale Demokratie, d. h. ein auf die Gemeinschaft der Bürger gebautes Staatswesen, in dem doch das Prinzip der Herrschaft vertreten wird durch die ständische Stufung und das jeden auf seine Aufgabe verpflichtende Gesetz. Keime des Zer-

falls tragen beide Staatsformen in sich...“ (S. 216).

22. Bei der Beschreibung des ägyptischen Staatswesens, dem der frühere athenische Staat geglichen haben soll, wird eine bestimmte Aufeinanderfolge der Wissensgebiete und Wissensarten angedeutet. Diese Abfolge ist auch im Sinne einer geschichtlichen Entwicklung zu verstehen: „So wurde das auf den Kosmos Bezogene alles bis hin zur Seherkunst und zur gesundheitsfördernden Arztkunst von diesem Göttlichen her für die menschlichen Verhältnisse herausgefunden; und so wurden auch die übrigen, sich anschließenden ‚Lehrgebiete‘ (mathémata) in Besitz

genommen“

(Timaios 24 B f). Gemeint

ist offenbar

die allmähliche

Differenzierung, Spezialisierung und Technisierung des menschlichen Wissens — eine Entwicklung von der ursprünglich-ganzheitlichen Intuition zum Fachwissen. Mit dieser Entwicklung ist nun zwar einerseits ein gewisser Abstieg gegeben, denn mit der Technisierung ist der Verlust der unmittelbaren Sicherheit, die Möglichkeit einer falschen Anwendung des Wissens verbunden. Aber andererseits ist dabei doch auch eine aufsteigende Richtung nicht zu verkennen: jenes Fortschreiten zur bewußteren, genaueren und grundsätzlicheren Erkenntnis, das schließlich, mit dem philosophisch-dialektischen Denken Platons, zu einem neuen Erfassen des Welt-Ganzen führen wird. Vgl. «Philebos» 16 B-E. 23 . Von da her ist auch die vieldiskutierte Frage zu beantworten, weshalb

vor der Erzählung von Urathen und Atlantis, bei der Rekapitulation des Gesprächs über den Idealstaat («Timaios» 17 C-19 A), nicht von der

Philosophenherrschaft gesprochen wird. Vgl. P. FRIEDLANDER, ton» III? 330 f.

38

«Pla-

24. Vgl. dazu Anm. 33).

P.

FRIEDLANDER,

«Platon»

I? 213

und

216

f (mit

25. Platon bemerkt mehrmals, daß eine Besserung im politischen Leben nur noch durch eine „göttliche Fügung“ (theia tyche), durch besonders glückliche Umstände eintreten könne (vgl. bes. Epist. VII 326 B, 327 E, 337 E, VIII 353 B). — Wegen der grundsätzlichen Entsprechung zwischen der unmittelbar gottgegebenen und der durch die philosophische Erkenntnis der göttlichen Norm ermöglichten Ordnung kann Platon sagen, daß die Politiker der Gegenwart die frühere, mythisch-ursprüngliche Herrschaft des Kronos „nachahmen“ müßten («Nomoi» IV 713 Ef). Doch ist deutlich, daß dies nur auf Grund theoretischer Einsicht und ge-

schichtlicher Erfahrung (vgl. «Nomoi» III 692 B f) möglich ist.

26. So

E.

S. 37

GEGENSCHATZ,

ff.

«Platons

Atlantis»,

Diss.

Zürich

1943,

bes.

27. Vgl. dazu H. G. GADAMER, «Plato und die Dichter», Frankfurt/M. 1934, H. GUNDERT, «Enthusiasmos und Logos bei Platon» Lexis 2, 1949, 25-46, bes. 33 f, H. FLASHAR, Der Dialog Ion als Zeugnis Platonischer Philosophie, Berlin 1958, H. GORGEMANNS, Beitráge zur Interpretation von Platons Nomoi, Zetemata 25, 1960. 28. Besonders 25 E

deutlich:

«Politikos»

283 B—285 B und

«Philebos» 17 A ff,

ff.

29. Vgl.

bes. «Nomoi» III und das offenbar aus einer platonisierenden Frühschrift des Aristoteles stammende Fragment bei W. D. ROSS, S. 76f; außerdem: «Menexenos» 328 B ff, «Politeia» II, «Symposion» 209 A ff (wo überall der sachlich-ontologische und der historische Aspekt unauf-

lösbar verbunden sind). — Die Geschichte der Philosophie in einem engeren Sinne (das Fortschreiten von der Erfassung der Stoff-Ursache

zur Erkenntnis der Form- und Zweck-Ursache, von der Erklärung der mechanischen Gesetzmäßigkeiten zur philosophischen Theologie und Prinzipienlehre) beschreibt Platon an den folgenden Stellen (an denen

also die geschichtliche Betrachtungsweise des Aristoteles im ersten Buch der «Metaphysik» vorbereitet ist): «Phaidon» 96—100 (dazu W. THEILER, «Zur Geschichte der teleologischen Naturbetrachtung», Zürich

1924, S. 2), «Nomoi» X 889 ff, XII 966 D—967 E.

39

30. «Philebos» 31. «Nomoi»

16 C. III 676 A, 678 B.

32. Daß das Gute als das „Ausgeglichene“ oder „Angemessene“ (métrion) zu verstehen ist, wird im dritten Buch der «Nomoi» immer wieder betont. Vgl. dazu «Nomoi» IV 716 C: „Gott ist das Maß aller Dinge“. 33. «Politeia» V — VII, «Nomoi»

V 739 A—740 A.

34. So auch G. ROHR

a. O. 106: „Als praktischer Mensch, als Staatsgründer oder Staatsprophet ist Platon unhistorisch, muß er unhistorisch sein“.

35. Epist. V 322 B f. (Die Echtheit des Briefs ist unsicher). 36. W. D. ROSS, Aristotelis Fragmenta S. 37 (Protreptikos Frg. 8, aus Cicero, Tusc. 3, 28, 69): Itaque Aristoteles veteres philosophos accusans qui existimavissent philosophiam suis ingeniis esse perfectam, ait eos aut

stultissimos aut gloriosissimos fuisse, sed se videre quod paucis annis magna accessio facta esset, brevi tempore philosophiam plane absolutam fore. Vgl. S. 34 Frg. 5, S. 38 Frg. 8.

37. Diese für die platonische Geschichtsphilosophie wichtigen Ergebnisse der Interpretation von J. ADAM («The Republic of Plato» II, 1921,

bes. S. 298 f) übernimmt auch R. G. BURY (S. 87):

,... we have

a. O. und bemerkt dazu

these three objects of study —

the individual,

the State, and the Universe — set before us as exhibiting similar quali-

ties and planned on identical lines: the differences between them are those of magnitude, not of structure. We shall expect, then, that, muta-

tis mutandis, the same causes will operate in all three alike whether to produce good or to produce evil...* — Allgemein zur Mathematisierung der Geschichte bei Platon auch R. WEIL a. O. 46 ff. 38. «Politeia» VIII 546 A. 39. Darüber grundlegend H. KUHN, «The true Tragedy. On the Relationship between Greek Tragedy and Plato» (Harvard Studies in Class. Philol.

40

52,

1941,

1—40

und

53,

1942,

37—88).

40. R. G. BURY

a. O. 87: „...Plato, for whom

‚all history is the history

of soul‘. It is so because the material of History, whether human actions

or natural

events,

all ultimately

proceeds

from

the activity of Soul,

which as the Self-movent is the primary Cause of all motion, all life, all change.“

41. Diese

Grundzüge

der

platonischen

Lehre

von

der

Bewegung

(wobei

räumliche und zeitliche Verlaufsformen nicht getrennt werden können) lassen sich vor allem im zehnten Buch der «Nomoi» feststellen (893 B ff).

42. Über Vorherbestimmung und menschliche Verantwortung spricht Platon hauptsächlich im Schlußmythos der «Politeia», wo zugleich die Zusammenhänge des kosmischen Geschehens sichtbar gemacht werden (vgl. dazu J. STENZEL, Platon der Erzieher, 1928, 179—190). 43. „sözein ta pbainómena" : Simplicius, Kommentar zu Aristoteles De caelo (293 a 4), Commentaria in Aristotelem Graeca Bd. VII (ed. HEIBERG) S. 488, 18; vgl. W. KRANZ,

Rhein. Mus.

100, 1957, 124—129.

44. Dies geht aus der Untersuchung von R. WEIL (s. o. Anm. 4) hervor. Vgl. G. ROHR

a. O. 115 ff, 126 f über Platons Verhältnis zu Thuky-

dides. — Über Platons Bewertung der Macht: J. VOGT, «Dämonie der Macht und Weisheit der Antike» (1950), jetzt in ‚Orbis. Ausgew.. Schr. z. Gesch. d. Altertums! 64—86, bes. 76—78 (vgl. auch S. 47--- 63). — Grundsätzlich ergibt sich für Platon die Ambivalenz der ‚Macht‘ daraus, daß sowohl das Gute (Prinzip des Seins, Nus) als auch das Schlech-

te (Prinzip des Nichtseins, Ananke) als wirkende ‚Kraft‘ zu verstehen ist.

45. Platons geschichtsphilosophische Absicht war dagegen, die ursprünglich magisch-mythische Vorstellung der ‚ewigen Wiederkehr‘, aus einem fortgeschrittenen geschichtlichen Bewußtsein heraus, mit dem Gedanken der ‚Entwicklung‘ zu verbinden und so zu erneuern. Vgl. M. ELIADE, «Der Mythos der ewigen Wiederkehr» (s. o. Anm. 6) S. 180: „In einem gewissen Sinn kann man sogar sagen, die griechische Vorstellung von

der ewigen Wiederkehr sei die letzte Variante des archaischen Mythos von der Wiederholung einer archetypischen Handlung, ganz wie die platonische Ideenlehre die letzte und ausgearbeitetste Version der Vorstellung vom Archetypus wäre.“

41

46. G. ROHR

a. O. 126: „Platon mochte... mit intuitiver Schaukraft die ‚Geschichte‘ als Macht spüren und fürchten, wenn sie sich verabsolutierte und aus sich Erfahrungen, Erkenntnisse und Gesetze herausstellte, die sich dem Primat der Ethik entzógen und widersetzten. Der Neuzeit blieb es vorbehalten, diese Entwicklung bis zum Extrem zu vollziehen und... die Rollen des prinzipienspendenden Ideenbereichs und des

empirisch-stofflichen

Anwendungsbereichs

zu vertauschen

und

wie eine Religion auf der Basis geschichtlicher Erfahrung

mieren."

so etwas

zu prokla-

47. Vgl. W. SCHADEWALDT, «Die Anforderungen der Technik an die Geisteswissenschaften» und «Natur — Technik — Kunst», Musterschmidt-Verlag, Göttingen (1957 und 1960), auch in: ‚Hellas und Hesperien' S. 867—922. 48. Um eine vergleichbare Problematik schon seit mehr als hundert Jahren F. GOGARTEN, «Theologie und Kirche 50, 1953, «Verhängnis und

bemüht sich die moderne Theologie mit besonderer Eindringlichkeit. Vgl. Geschichte» Zeitschr. f. Theol. und Hoffnung der Neuzeit. Die Säkula-

risierung als theologisches Problem», Stuttgart 1953. Rich.

R. NIEBUHR,

«Auferstehung und geschichtliches Denken», Gütersloh 1960 (New York 1957), J. M. ROBINSON, «Kerygma und historischer Jesus», Zürıich/ Stuttgart 1960, W. PANNENBERG, «Heilsgeschehen und Geschichte», in: Kerygma und Dogma 1959, 3 u. 4.

42