Staatliche Sozialpolitik in Deutschland, Band II: Sozialpolitik in Demokratie und Diktatur 1919-1945 3531149431, 9783531149431

Der erste Weltkrieg unterbricht die "ruhige" Fortentwicklung und Differenzierung der staatlichen Sozialpolitik

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German Pages 608 [600] Year 2006

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Staatliche Sozialpolitik in Deutschland, Band II: Sozialpolitik in Demokratie und Diktatur 1919-1945
 3531149431, 9783531149431

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Eckart Reidegeld Staatliche Sozialpolitik in Deutschland · Band II

Eckart Reidegeld

Staatliche Sozialpolitik in Deutschland Band II: Sozialpolitik in Demokratie und Diktatur 1919 – 1945

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

1. Auflage August 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Frank Schindler Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: Katrin Schmitt Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN-10 3-531-14943-1 ISBN-13 978-3-531-14943-1

Inhaltsverzeichnis

5

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 1

Einleitung 1.1 1.2

2

7 13

Die sozialpolitische Ausgangssituation.............................................................13 Aufbau und Gliederung der Arbeit ...................................................................38

Staatliche Sozialpolitik in der Weimarer Republik (1919-1930)

43

2.1 Die Sozialpolitik in den Krisenjahren der Republik .........................................43 2.1.1 Die ökonomischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen 1919 - 1923 .......................................................................................................43 2.1.2 Demobilisierung und Sozialpolitik ...................................................................53 2.1.3 Um Sozialisierung, Sozialverfassungsfragen und Räteorganisation .................72 2.1.4 Die internationale Dimension der deutschen Sozialreform.............................115 2.1.5 Sozialpolitik von der Inflation zur Stabilisierungskrise ..................................126 2.2 Die Sozialpolitik in den „goldenen zwanziger Jahren“...................................153 2.2.1 Die ökonomischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen ...............153 2.2.2 Grundlinien der Entwicklung der staatlichen Sozialpolitik ............................169 2.2.3 Entstehung und Folgen des Arbeitsgerichtsgesetzes.......................................201 2.2.4 Die Entwicklung und das Schicksal der Arbeitsmarktpolitik..........................218 2.3 Resümee..........................................................................................................248 3

Die Krise der „alten“ und die Wegbereiter der „neuen Sozialpolitik“

259

3.1 3.2 3.3

Die Brüningsche Notverordnungspolitik ........................................................259 Die Sozialpolitik der Kabinette von Papen und von Schleicher......................291 Geistesgeschichtliche Wurzeln und Wegbereiter der „völkischen Sozialpolitik“ ..................................................................................................306 3.3.1 Dystopien, „völkische Rassenhygiene“ und „Eugenik“..................................306 3.3.2 „Werksgemeinschaft“ und betriebliches „Führertum“....................................323 3.4 Resümee..........................................................................................................343 4

Staatliche Sozialpolitik im „Dritten Reich“ 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4

351

Die Entwicklung bis zur Entfesselung des Zweiten Weltkrieges....................351 Die politischen und sozialen Ausgangsbedingungen ......................................351 Grundzüge der „Erb- und Rassenpflege“ .......................................................366 Die Entstehung und Entwicklung der neuen Arbeitsverfassung .....................385 Von der „Arbeitsschlacht“ zum Arbeitseinsatz...............................................407

6

Inhaltsverzeichnis 4.1.5 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6

Die Entwicklung der Sozialversicherungen ....................................................431 Die Zeit des Zweiten Weltkrieges...................................................................466 Die „Erb- und Rassenpflege“..........................................................................466 Die Entwicklung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen.........................475 Die Entwicklung des Arbeitseinsatzes ............................................................483 Die „Reichsversicherung“ im Kriege..............................................................496 Weiterbau am „Großdeutschen Sozialstaat“ ...................................................511 Die Sozialpolitik des „Fremdarbeitereinsatzes“..............................................552

5

Rückblick und Ausdeutung

565

6

Abkürzungsverzeichnis

577

7

Quellen- und Literaturverzeichnis

581

7.1 7.2 8

Verzeichnis der archivalischen Quellen..........................................................581 Verzeichnis der Literatur ................................................................................583

Personenregister

601

Vorwort

7

Vorwort Vorwort

Dieser zweite Band zur Geschichte der staatlichen Sozialpolitik in Deutschland bewegt sich nunmehr ausschließlich im „kurzen“ 20. Jahrhundert (E. Hobsbawm), das nach einer verbreiteten historiographischen „Zeitrechnung“ mit dem Ersten Weltkrieg beginnt und mit dem Niedergang des Kommunismus in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts sein Ende gefunden hat. Die folgenden Seiten berichten aus dem Zentrum und der Zentralzeit dieser Epoche, von der wir uns nun rasch entfernen. Diese Zeit hat auch dem Gegenstand dieser Untersuchung, der staatlichen Sozialpolitik, ihre Züge aufgeprägt. Insbesondere haben die beiden großen Bewegungen jener Zeit, der Sozialismus bzw. Kommunismus und der Nationalsozialismus, ihre Spuren in der Geschichte der Sozialpolitik hinterlassen. Vor diesem Hintergrund treten jene politischen Bestrebungen, Aktionen, Ideologien, Theorien, Rechtsnormen und Institutionen, die auf die „Gestaltung“ der Arbeits- und Lebensverhältnisse der abhängig Beschäftigten bezogen sind, in eine neue Entwicklungsetappe ein. Die staatliche Sozialpolitik läßt in jener Zeit ihren zuvor noch relativ engen Bezug zur „klassischen“ Arbeiterfrage hinter sich, umfaßt neben der Arbeiterschaft zunehmend weitere Schichten und Gruppen in abhängiger und auch „selbständiger“ Beschäftigung und bezieht sich darüber hinaus auf die zahlreichen Opfergruppen der beiden Weltkriege. Auch während der hier betrachteten und analysierten Phase der Gesellschaftsentwicklung ist es geradezu konstitutiv für diesen Politikbereich, daß die letztendlich durchgesetzten Strategien dem Ziel dienen sollen, „gesellschaftliche Spannungen“ auszugleichen, „Klassengegensätze“ abzuschwächen, dem „Umsturz“ vorzubeugen, Konflikte in der Arbeitswelt zu kanalisieren, die Massenloyalität zu sichern. Dabei ist zu beachten, daß sich die staatliche Sozialpolitik namentlich in den Jahren 1933 – 1945 nicht in diesen Zwecken erschöpft, daß diese Blickrichtung gerade auch in diesem Band einer wesentlichen Ergänzung bedarf und daß sie hier auch ergänzt wird. Der in dieser Untersuchung behandelte Zeitraum ist allerdings mit Blick auf die Herrschaftsfunktionen staatlicher Sozialpolitik besonders fruchtbar, da diese Epoche von machtvollen und entgegengesetzten Massenbewegungen durchzogen ist, die konkurrierende Gesellschaftsentwürfe vertreten und im Falle des Nationalsozialismus auch realisieren. Allein schon diese Besonderheit der damaligen Gesellschaftsentwicklung bringt es mit sich, daß die Frage, was die Gesellschaft zusammenhält und was sie auseinandertreibt bzw. die Frage nach der Stabilisierung einer Gesellschaftsordnung für die damals herrschenden Kreise von geradezu brennender Aktualität gewesen ist. Extreme soziale Bewegungen, Kriegsfolgen und ein neuer Krieg sowie katastrophale ökonomische Entwicklungen lassen die Zeit von 1919 bis 1945 ebenso wie die Zeit des Ersten Weltkrieges, dramatische und barbarische Züge tragen. Auch das wirkt in den Bereich der Sozialpolitik hinein. Zu bestimmten Zeiten wird die Sozialpolitik durch einen kalten, am „Sachzwang“ orientierten, mitunter durch einen extrem unmenschlichen Blick auf ihre Adressaten geprägt. Unter den Bedingungen des NS-Regimes werden bestimmte Gruppen und Schichten aus der „rassisch“ definierten Nation und ihren nationalen Hilfssystemen ausgeschlossen, schließlich aus der Solidarität der Gattung entlassen und als „min-

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Vorwort

derwertige Schädlinge“ behandelt. Ein unmenschlicher Blick herrscht auch, wenn der „regierenden Klasse“ und ihren „Helfern“ von der kommunistischen Bewegung der Weimarer Republik „unerbittlicher Kampf“ angedroht wird und die Sozialpolitik des Staates ausschließlich aus der Perspektive eines unumgehbaren und vermeintlich „letzten Klassenkampfes der Weltgeschichte“ beurteilt und abgelehnt wird. Der dramatische und barbarische Gehalt dieser Epoche soll in dieser Darstellung nicht unterdrückt werden, etwa dadurch, daß „lediglich“ abstrakt von Strukturen und Prozessen die Rede ist, daß bestimmte Ansätze und Bewegungen „schöngeschrieben“ werden. Die Maßlosigkeit, der Haß- und Gewaltgehalt auch der sozialpolitischen Parolen, der Texte, der Aufrufe, Reden und Maßnahmen wird nicht geglättet sondern „unverstellt“ wiedergegeben. Die aus heutiger analytischer Sicht teilweise erschreckende, manchmal geradezu fürchterliche Simplizität mancher sozialpolitischer „Denkansätze“ wird nicht verschleiert. Ich hoffe, damit eine Form der „Erzählung“ gefunden zu haben, die dem Geschehen in dem untersuchten Zeitraum angemessen ist. Die Lage und das Handeln der Adressaten der Sozialpolitik und der „Macher“ dieses Politikbereichs wird nicht generell ausgeblendet, indem etwa durchgängig nur der Inhalt sozialpolitischer Gesetze erläutert wird. Die alltagsbzw. mikropolitische Wende der Geschichtswissenschaft und neue, bis zum Zusammensturz des „real existierenden Sozialismus“ schwer erreichbare Archivmaterialien haben diese Orientierung erleichtert. Der Blick auf die politischen Entscheidungsprozesse und auf die Faktoren, die diese Prozesse gestalten, antreiben oder verzögern kann so geschärft werden. Sich heute der Kernzeit des „kurzen“ 20. Jahrhunderts zu nähern, bietet bestimmte Vorteile. Die gegenwärtige geistesgeschichtliche Situation beinhaltet nämlich die Chance, auf die sozialpolitischen Auseinandersetzungen und Formen in analytischer und distanzierter Weise wie auf eine abgeschlossene Geschichtsperiode zu blicken. Die Bemühungen um eine allgemeine „Ausdeutung“ des verflossenen 20. Jahrhunderts haben die entsprechende Orientierung dieser Arbeit nicht unwesentlich gefördert. Dabei wird deutlich, daß das Denken und Handeln der extremen politischen Kräfte von der Vorstellung beherrscht wird, daß Geschichte ein Ziel habe, daß die Gesetze der Geschichte bekannt seien und daß eine bessere, eine geradezu ideale Gesellschaft von Menschen gemacht werden kann. Auch der Weg und die Kraft, die aus Erniedrigung, Mangel, Unterdrückung, Kampf und Gewalt herausführen, scheinen bekannt. Hinsichtlich der Ergebnisse eines solchen Projekts herrscht nicht selten ein geradezu dogmatischer Optimismus. Auf der Seite der politischen Linken bildet ihre parteipolitisch-marxistische Tradition und vor allem die Russische Revolution von 1917 das Beweisstück und den Antriebspunkt dieser Sichtweise. Die aus diesen Überzeugungen, aber auch aus anderen Faktoren resultierenden Aktionen während und nach dem Ersten Weltkrieg haben die sozialpolitische Entwicklung und Auseinandersetzung in der Weimarer Republik geprägt und dem sozialpolitischen Denken eine ganz spezifische „Klangfarbe“ gegeben. Umsturzängste, Streikbewegungen und Unruhen im Ersten Weltkrieg, Massenbewegungen am Ende dieser grausamen Menschenschlächterei haben schließlich das Tor zur Weiterentwicklung der staatlichen Sozialpolitik geöffnet. Das Ergebnis ist der endgültige mit allerlei staatlichen Vorbehalten und Eingriffsmöglichkeiten versehene Übergang zu einer „anerkennenden“ und „gleichberechtigenden“ Sozialpolitik. Wie nie zuvor finden die reformorientierten Kräfte der Arbeiterbewegung ihre Aufgabe in der Mitarbeit in einer Fülle von beratenden, organisierenden, schlichtenden, richtenden und entscheidenden Gremien, in ihrer Expertenrolle für „Arbeiterfragen“, in

Vorwort

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ihrer Funktion als Fürsprecher, Advokaten und Sachwalter der abhängig Beschäftigten. Hinzu tritt die „vernünftige“ Handhabung der nun legalisierten Arbeitskonflikte. Der durch die Eröffnung dieser Formen der Mitwirkung geschaffene „demokratische Sozialstaat“ ruht jedoch auf brüchigen machtpolitischen Fundamenten in einer politisch zerissenen, polarisierten, destabilen, sozial und ökonomisch desolaten Nachkriegssituation, in der Wucher, Schwarzmarkt, Versorgungs- und Lieferungsprobleme weiterhin archaische Formen der Gegenwehr hervorrufen. Gegenüber diesen „materiellen“ Problemen erweist sich der „demokratische Sozialstaat“ als machtlos. Eine umfassende sozialpolitische Diskussion und Publizistik begleitet diese Prozesse. Katastrophische, mitunter sogar apokalyptische Krisendiagnosen und geradezu heilsgeschichtliche Hoffnungen und Sichtweisen aus der damaligen Zeit, wie sie sich im Spartakusbund und in der KPD und darüber hinaus im weiteren Spektrum der Linken der Weimarer Republik finden, sind durchaus geeignet, weitreichende Einsichten in die Sozialpolitik und ihr Wesen zu gewinnen. Das gilt auch für die im rechten politischen Spektrum verbreiteten Ansichten und Ideologien. Neben anderen Faktoren haben diese Weltbilder und Überzeugungen, die vielfach mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit aufgetreten sind, viel zur Härte der Auseinandersetzungen, zur Unduldsamkeit und zur Neigung beigetragen, zur Erreichung spezifischer Endziele auch Gewalt einzusetzen. Daß teilweise formal ähnliche, aber inhaltlich anders ausgerichtete „Mechanismen“ auf der linken und auf der extremnationalistischen Seite des politischen Spektrums wirksam sind, gehört zu den Ergebnissen dieser Studie. Den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben nämlich explizit auch die sozialpolitischen Strategien und Ansichten, die unter dem Nationalsozialismus propagiert und umgesetzt werden. Vom Ziel und von der „wissenschaftlichen“ Fundierung her „kategorial“ entgegengesetzt, meint auch diese Bewegung, Bewegungsgesetze in der Geschichte der Völker und Staaten zu kennen und eine allerdings nach rassistisch-biologistischen Kriterien aufgebaute „neue Gesellschaft“ konstruieren zu können. Als schließlich herrschende, mit bestimmten herkömmlichen Eliten und mit dem Staat verbundene Bewegung ergreifen die entsprechenden Kräfte im NS-Staat die Chance ihre Vorstellungen durchzusetzen und es entsteht die „völkische Sozialpolitik“ mit dem Ziel der Schaffung einer „Volksgemeinschaft“ und eines „gesunden deutschen Volkskörpers“, eine Politik, die sich schon bald in das Geschehen des „Rassen-“ und „Raum-Krieges“ und in die Europabeherrschungs- und Neuordnungspläne einfügt. Beinahe jeder an humanistischen oder christlichen Idealen orientierten Gegenmacht entzogen, sprengt sie alle bis zu diesem Zeitpunkt üblichen Maße und Definitionen staatlicher Sozialpolitik, greift im Zuge des Krieges über die Grenzen des deutschen Nationalstaates hinaus, hat das „Volk“ bzw. vorübergehend auch europäische Völker zum Objekt. Diese werden, je nach der Stellung im rassistischen Kosmos, unterschiedlichen Formen der Ausbeutung, Unterwerfung und Helotisierung unterworfen, ein barbarisches Vorhaben, das eigenständige sozialpolitische Reglements hervorbringt. In allen Phasen und Aspekten findet auch diese Sozialpolitik Mithilfe und Beifall einer „affirmativen Intelligenz“, die selbst der größten Inhumanität „wissenschaftliche“ Dignität verleiht und suggeriert, daß die Wirklichkeit als Umsetzung von Wissenschaft gestaltet werden kann und soll. So wird gerade auch die Analyse der Geschichte der staatlichen Sozialpolitik notwendigerweise zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Wissenschaftsgeschichte. Sie zeigt „Wissenschaftler“, die ihre unzureichend entwickelte Disziplin nicht hinreichend verstehen und sich der Grenzen ihres Wissens nicht bewußt sind und die

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Vorwort

darüber hinaus alle ethischen Maßstäbe hinter sich gelassen haben und die deshalb auch noch die größte Inhumanität als zwingend und objektiv notwendig erscheinen lassen. In diesem Zusammenhang dokumentiert dieser Beitrag eine teilweise maßlose Identifikation mit dem Gedanken und der Praxis des hybriden nationalistischen Machtstaats. Er zeigt, wie „nationale Kränkungen“ und Leidenschaften als Folge des verlorenen Ersten Weltkrieges die historischen sozialpolitischen Debatten befeuert und auch inhaltlich beeinflußt haben. Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, daß auch der Sozialstaatsabbau in der Weltwirtschaftskrise, der wesentlich zur Delegitimation und Zerstörung der Weimarer Republik beigetragen hat, Unterstützung aus den Kreisen der Wissenschaft gefunden hat, namentlich aus bestimmten Kreisen der Nationalökonomie. Insbesondere der Nachvollzug und die Analyse der Geschichte des „demokratischen Sozialstaats“ der Weimarer Republik wirft die Frage auf, was aus dieser Geschichte zu „lernen“ ist. Die Weimarer Republik und ihre „demokratische Sozialpolitik“ sind nicht nur in die Vorgeschichte des „Dritten Reiches“ einzuordnen, beide sind in hohem Maße auch Vorläufer der Bundesrepublik. Dies betrifft nicht nur die Form des Regierungssystems und das Parteiwesen, sondern auch die staatliche Sozialpolitik. Namentlich die Koalitionsfreiheit, die gesetzliche Anerkennung der Verbände von Arbeit und Kapital, das Tarifvertragswesen in seiner gesetzlichen Ausgestaltungsform, die moderne Mitbestimmung und Arbeitsgerichtsbarkeit, der besondere Kündigungsschutz, die Arbeitsmarktverfassung bzw. -verwaltung, die flächendeckend einheitliche Arbeitslosenunterstützung haben hier ihre beispielgebende Ausgestaltungsform gefunden. Sie treten ergänzend neben die Gebiete, die bereits im Kaiserreich entstanden sind und nunmehr weiterentwickelt werden, neben die Knappschafts-, die Arbeiter- und Angestelltenversicherung und den Arbeiterschutz. Die erste deutsche Republik teilt mit der Bundesrepublik auch die Grundzüge der Wirtschaftsverfassung und ihre Bewegung zwischen Konjunktur und Krise. Daraus wiederum resultieren Ähnlichkeiten in den fiskalischen und sozialen Zusammenhängen. Diese zahlreichen strukturellen „Übereinstimmungen“ ziehen analoge Interessenlandschaften und Ähnlichkeiten in den institutionellen Formen der Interessenwahrnehmung nach sich. Es kann deshalb kaum überraschen, daß es in der Weimarer Republik zu Aktions- und Reaktionsformen in der Sozialpolitik kommt, die an jene der Bundesrepublik erinnern. Aus diesen historisch analogen Situationen kann man, obwohl sich Geschichte nie wiederholt, „Lehren“ ziehen und insofern enthält diese Geschichte auch ein regelrechtes „Lehrstück“. Die „Nähe“ von Strukturen, Institutionen und Prozessen der Weimarer Zeit zur Bundesrepublik darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Gemeinsamkeiten beider Zeiträume auch ihre Grenzen haben. Die alles überschattende Realität eines verlorenen Krieges, die Überreste des Wilhelminischen Zeitalters und des alten Obrigkeitsstaates, der antagonistische Verfeindungszusammenhang der europäischen Staaten, alles das und noch einiges mehr fehlt heute und läßt vor allem „Parallelsetzungen“ der einfachen Art „verwegen“ erscheinen. Mit ihren Inhalten und Erklärungen möchte auch dieser zweite Band der Sozialstaatsgeschichte den Blick für die Bedingungen und Möglichkeiten menschlichen Denkens und Verhaltens auf dem Gebiet der staatlichen Sozialpolitik schärfen und für das Krisenpotential der kapitalistischen Moderne sensibilisieren. Er soll vor allem Einblick in die geistigen, sozialen, ökonomischen und politischen Umstände ermöglichen, durch die Freiheit und Humanität unter Druck und in Vergessenheit geraten können. Damit ist zugleich der Standpunkt umrissen, von dem aus insbesondere die Exzesse und Wirrungen des „Zeitalters der Extreme“ (E. Hobsbawm) bewertet werden. Eine moralisch indifferente Darstellung und

Vorwort

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Analyse des hier untersuchten Zeitraums ist angesichts der darin eingeschlossenen Barbarei mit der Verantwortung der Wissenschaft gegenüber ihren „Nutzern“ ebenso unvereinbar, wie das Absehen von Kritik an sozialpolitischen Ansätzen, die möglicherweise noch heute auf eigenartige Weise faszinieren und in den Bann ziehen können. Bereits im ersten Band meiner Sozialstaatsgeschichte spielt der Zusammenhang von Krieg und staatlicher Sozialpolitik eine bedeutende Rolle. Es liegt in der „Natur“ des nunmehr untersuchten Zeitraumes, daß dieser zweite Band noch deutlicher zeigt, in welch bestimmender Weise die staatliche Sozialpolitik Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom „Geist“ und von der direkten oder indirekten Wirkung des Krieges geprägt wird. Zweifellos bahnt sich der „demokratische Sozialstaat“ nicht zufällig bereits im Ersten Weltkrieg an und wird unter dem Eindruck von Kriegsniederlage und kriegsbedingter Revolution „vollendet“. Mit zahlreichen Kriegsfolgen belastet, wird er von der Kriegsfolge Inflation an den Rand seiner Funktionstüchtigkeit gebracht. Es ist schließlich das NSRegime, das auf die integrativen Wirkungen der Sozialpolitik nicht verzichtend, das „Zusammenspiel“ von Krieg und staatlicher Sozialpolitik totalisiert und perfektioniert. Aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs spezifische Lehren ziehend, „verformt“ das NS-Regime bereits ab 1933 diesen Politikbereich und ordnet ihm immer neue Instrumente und Ziele zu. Die staatliche Sozialpolitik wird bereits in Friedenszeiten in ein Hilfsmittel der Aufrüstung, anschließend in ein solches der Kriegführung verwandelt. Dort wo im Ersten Weltkrieg „Improvisation und Versagen“ vorherrschten, ist nunmehr eine relativ planvolle Instrumentalisierung und Vorbereitung zu beobachten, wenngleich es auch jetzt an „störenden“ Faktoren nicht mangelt. Die so entstehende „völkische Sozialpolitik“ des Nationalsozialismus ist auch mit ihren vielgestaltigen biologistisch-rassistischen Denkmustern und Interventionsformen auf den Krieg und Kriegsziele bezogen. Sie soll in besonderer Weise der „menschenökonomischen Unterfütterung“ der NS-Herrschaftspläne dienen. In viel perfekterem und größerem Ausmaß als im ersten Weltkrieg wird die Sozialpolitik des NS-Regimes Kriegsvoraussetzung und Instrument der Unterstützung dieses „Weltbrandes“. Diesem „bösen Spiel“ kann erst mit den militärischen Mitteln der „Anti-Hitler-Koalition“ ein Ende bereitet werden.

Die sozialpolitische Ausgangssituation

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1 Einleitung

1.1 Die sozialpolitische Ausgangssituation Der schon im Ersten Weltkrieg beginnende Bruch mit den Strukturmerkmalen der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“ des Kaiserreichs erfolgt nach der Kriegsniederlage in überstürzter Eile. Die überraschende Tatsache, daß die Grundzüge der „demokratischen Sozialpolitik“ der Weimarer Republik bereits in den Tagen und Wochen nach der Übertragung der Kanzlerbefugnisse auf Friedrich Ebert am 9. November 1918 und dem Ende dieses Schicksalsjahres in der Form grundlegender Rechtsnormen fixiert werden, verweist sowohl auf die innenpolitische Praxis im Ersten Weltkrieg, als auch auf den dramatischen Hintergrund von Kriegsniederlage, Abdankung der Monarchie und Revolution. Hinzu treten sozialreformerische Vorstellungen, die viele Jahrzehnte zurückreichen. Was den Ersten Weltkrieg, diesen zweifelhaften „großen Schrittmacher der Sozialpolitik“1 betrifft, so ist von bleibender Bedeutung, daß aus der Furcht vor dem Zerbrechen der „inneren Front“ die gemäßigte, nach Teilhabe, Anerkennung und Gleichberechtigung mit dem Unternehmertum strebende Arbeiterbewegung in eine Vielzahl von Institutionen des Kriegsstaats und der Kriegswirtschaft einbezogen wurde,2 um in einem möglichst alle Ressourcen nutzenden Krieg3 sich verschärfende innere soziale und politische Spannungen „dämpfen“ zu helfen.4 Da unter den labilen, sich zuspitzenden innenpolitischen Verhältnissen die von den Experten aus der „Gesellschaft für Soziale Reform“ beratenen Militärs und obersten Repräsentanten des Kaiserreichs „Einsicht“ und Nachgiebigkeit in sozialpolitischen Fragen zeigen,5 hinterlässt diese „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan)6 beispielhafte sozialpolitische Innovationen, an die die Akteure der Revolutionszeit anknüpfen können. Dazu zählt z.B. eine Verfügung eines Militärmachthabers zum Tarifvertrag7 und das Hilfsdienstgesetz von 1916,8 das einen weiteren Schritt zur „konstitutionellen Fabrik“ und zur 1 So: Preller, Ludwig: Sozialpolitik in der Weimarer Republik. Kronberg/Ts., Düsseldorf 1978 (Erstmals: 1949), 85. 2 Vgl. als bereits im ersten Band ausgewertete grundlegende Schrift: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften in Krieg und Revolution. Teil I und II. Hamburg 1981. 3 Zur gedanklichen Durchdringung des „Zukunftskrieges“ und seines Wesens in der militärwissenschaftlichen Diskussion vergleiche die Literaturhinweise im ersten Band, Unterkapitel 5.2. 4 Als lesenswert und konzeptionell bahnbrechend soll noch einmal verwiesen werden auf: Kocka, Jürgen: Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914 - 1918. Göttingen 1973. 5 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die folgende allerdings nur schwer zu erreichende Schrift: Dokumente zur Kriegssozialpolitik. Berlin o.J. (1915). 6 George F. Kennan formuliert im amerikanischen Original: „the great seminal catastrophy of this Century“; vgl.: Hillgruber, Andreas: Der historische Ort des Ersten Weltkrieges. In: Funke, Manfred, Jacobsen, Hans-Adolf, Knütter, Hans-Helmuth, Schwarz, Hans-Peter (Hg.): Demokratie und Diktatur. Düsseldorf 1987, 109 - 123, hier: 123. 7 Vgl. als lesenswerte gewerkschaftliche „Primärquelle“: Umbreit, Paul: Der Krieg und die Arbeitsverhältnisse. Stuttgart, Berlin, Leipzig, New Haven 1928, sowie: Dokumente zur Kriegssozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 5), 198 ff. 8 Zu Entstehung und zum Inhalt desselben bekanntlich neben Unterkapitel 6.4 des ersten Bandes: Feldman, Gerald D.: Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914 bis 1918. Berlin, Bonn 1985, 169 ff.

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Einleitung

Schlichtung beinhaltet.9 Hinzu treten „steckengebliebene“ sozialpolitische Projekte, unerfüllte Forderungen der Arbeiterbewegung sowie ein Netz von engen Beziehungen zwischen den Gewerkschaften, dem Unternehmertum und (militär-)staatlichen Stellen. Weder diese noch andere im ersten Band dieser Sozialstaatsgeschichte erörterte Faktoren, die den Weg zu einer „demokratischen Sozialpolitik“ im Sinne einer umfassenden, juristisch abgesicherten Mitwirkung der Arbeiterbewegung an sozialpolitischen Entscheidungen und Verfahren markieren, noch eine Verfassungsreform vom 28. November 1918, die die Perspektive der Parlamentarisierung eröffnet, können die Revolution, das endgültige Zusammenbrechen der „inneren Front“, die Aufkündigung des „Burgfriedens“ von unten verhindern. Vor dem Hintergrund eines militärisch bereits verlorenen Krieges, weiterer Opfer an Leben und Gesundheit, enormer Versorgungsschwierigkeiten sowie weiterer Einflüsse, breitet sich eine nunmehr „aufs äußerste gesteigerte“, eine „fast schrankenlose“ Friedenssehnsucht, eine „allgemeinen Depression“, eine „leidenschaftlichen Erbitterung“, ein grundsätzliches Mißtrauen gegen die Autoritäten auf Seiten vor allem der „großstädtischen Arbeitermassen“ aus. Vor dem Hintergrund der in „radikalen Kreisen“ als völlig ungenügend angesehenen inneren Reformen,10 treten aufständische Matrosen eine allgemeine Revolutionsbewegung los. Im November 1918 schwankt der monarchisch „gekrönte“, von oben legitimierte preußisch-deutsche Machtstaat. Es stürzen schließlich die Throne und der alte Obrigkeitsstaat bricht angesichts von Kriegsniederlage und Revolution zusammen. Nach einer revolutionären Übergangszeit wird er durch einen von unten legitimierten, demokratischen „Volksstaat“ ersetzt.11 Mit dieser wichtigen geschichtlichen „Zäsur“ ist bekanntlich zunächst die Zeit vorbei, in der die Sozialdemokratie eine Randstellung in einem nur begrenzt machtvollen Parlament eingenommen hat und keine wirksamen Möglichkeiten der Beeinflussung der Regierungsbildung und -kontrolle hatte. Von der Rechtsordnung her gesehen ist bald auch die Praxis beendet, durch eine Fülle von „Maßregeln“ Sozialdemokraten und Gewerkschaftsvertreter unbedingt von einer Tätigkeit im mittelbaren oder unmittelbaren Staatsapparat fernzuhalten. Es ist auch die Zeit abgelaufen, in der die Gewerkschaften als „Fremdkörper“, Feind und „Umsturz“ bestenfalls „negativ“ in die bestehende Ordnung integriert waren,12 auf ein vielschichtiges und sehr wirksames System obrigkeitlicher Repression und Diskriminierung trafen, ergänzt durch ein ausgeklügeltes System der Abwehr durch bestimmte Unternehmergruppen und spezielle Verbände. Nunmehr ist zunächst das Tor weit aufgestoßen zur Ausgestaltung eines gewerkschaftlichen Handlungsspielraumes in der Wirtschaftsgesellschaft und im Sozialstaat. Insoweit kann die aus der Revolution hervorgehende „politische Demokratie“ durch eine „soziale Demokratie“ ergänzt werden. Daß es sich hierbei nur um vorübergehende, bald schon wieder eingeengte Möglichkeiten handelt, wird noch ausführlich erläutert werden müssen. 9 Dieser Begriff ist der folgenden bemerkenswerten Schrift entlehnt: Freese, Heinrich: Das konstitutionelle System im Fabrikbetriebe. Eisenach 1900. 10 Vgl. zur sehr „schwierigen“ Volksstimmung jener Tage die Monatsberichte des „Büro für Sozialpolitik“, zu finden im Bayerischen Hauptstaatsarchiv - Kriegsarchiv - Mkr. 14029, sowie im Historischen Archiv der Metallgesellschaft AG/IFG, Mappe 152, Bündel Nr. 7. 11 Vgl. als ausführlichere Darstellung der Sozialpolitik der Kriegszeit: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O. (=Anm.1), 3 - 85 sowie den ersten Band dieser Sozialstaatsgeschichte. 12 Vgl. zur Problematik solcher Epochengrenzen und ihrer Verarbeitung in der Geschichtswissenschaft: Faulenbach, Bernd: Zäsuren deutscher Geschichte ? Der Einschnitt von 1918 und 1945. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, 25(1996), 15 - 33.

Die sozialpolitische Ausgangssituation

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Unter revolutionären Bedingungen nimmt der Vorsitzende der SPD, Friedrich Ebert, seine Tätigkeit auf.13 Gesetzgebende Institutionen sind in dieser verfassungsgeschichtlichen Übergangsperiode der vom 10. November 1918 bis zum 10. Februar 1919 amtierende „Rat der Volksbeauftragten“14 und das „Reichsamt für wirtschaftliche Demobilmachung (Demobilmachungsamt)“. Auf dieses „Amt“, seine Ausgestaltung und Aufgaben einigen sich die in Verhandlungen über eine Arbeitsgemeinschaft stehenden führenden Vertreter der Gewerkschaften und der Unternehmer und setzen es nach heftigen internen Konflikten zu Lasten einer entsprechenden Beauftragung des als nicht geeignet angesehenen „Reichswirtschaftsamtes“ durch. Die Revolutionsregierung sanktioniert schließlich diese Vorentscheidungen und ruft das Amt ins Leben. Es besteht vom 12. November 1918 bis zum 30. April 1919 und wird von dem aus Bayern gebürtigen erfahrenen Leiter der Kriegsrohstoffabteilung des Preußischen Kriegsministeriums, Oberstleutnant Dr. Ing. e.h. Joseph Koeth, geleitet. Dieser „Wirtschaftsdiktator auf Zeit“ hatte sich als „Dauerarbeiter und souveräner Chef“ dieser Behörde allseitigen Respekt verschafft. Die gemäßigte Arbeiterbewegung ist in der teils militärischen, teils zivilen Apparatur der Demobilmachungsbehörde auf verschiedenen Ebenen durch „Vertrauensleute“ vertreten.15 Hinzu tritt das durch den Kaiserlichen Erlaß vom 4. Oktober 1918 geschaffene „Reichsarbeitsamt“, das unter der Leitung des reformistisch orientierten Gewerkschafters Gustav Bauer steht.16 Dieser leitet bis zum 20. Juni 1919 nach der Umbenennung der Reichsämter in Ministerien auch die „Nachfolgebehörde“, das Reichsarbeitsministerium.17 Das „Reichsarbeitsamt“ bzw. das Reichsarbeitsministerium wird als Arbeits- und Sozialbehörde personell und organisatorisch aus dem „Reichswirtschaftsamt“ herausgelöst und zu einer Reichszentralbehörde verselbständigt.18 Damit ist eine Behörde geschaffen worden, die ohne Aussicht auf Realisierung bereits im Jahre 1871, dem Reichsgründungsjahr, gefordert wurde. Seit 1877 debattierte der Reichstag ergebnislos unter verschiedenen Bezeichnungen und bei Zugrundelegung unterschiedlicher Konzeptionen über ein solches Instrument zur „Lösung“ der „Arbeiterfrage“. Erst das Kriegsjahr 1917 brachte Bewegung in die Sache. Die „Arbeiterfrage“ und ähnliche Gebiete 13 Vgl. zum Übergang der Regierungsgewalt und zur Anfangsphase der Weimarer Republik überhaupt: Winkler, Heinrich August: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924. Berlin, Bonn 1984, 45 ff.; einige Dokumente zu diesem „bewegenden“ Vorgang der „Kaiserabdankung“ und Machtübertragung an Friedrich Ebert finden sich im Bundesarchiv (BA); vgl.: BA Abt. Potsdam. 90 No 1 Nachlaß G. Noske, Nr. 2. 14 Vgl. dazu: Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19. Zwei Teile. Düsseldorf 1969, insbesondere die „Einleitung“ im ersten Teil, XV - CXXXI; Matthias, Erich: Der Rat der Volksbeauftragten. In: Kolb, Eberhard (Hg.): Vom Kaiserreich zur Republik. Köln 1972, 103 - 119. 15 Vgl. zu dieser Sonderbehörde: Wachs, Friedrich-Carl: Das Verordnungswerk des Reichsdemobilmachungsamtes. Stabilisierender Faktor zu Beginn der Weimarer Republik. Frankfurt a.M., Bern, New York, Paris 1991, 5 ff., 73 ff.; Rechtsgrundlage ist der „Erlaß über die Errichtung des Reichsamts für die wirtschaftliche Demobilmachung (Demobilmachungsamt)“ vom 12. November 1918; vgl.: RGBl. 1918, 1304. Die Vereinbarung der Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer zur Beantragung der Errichtung des Demobilmachungsamtes bei der Reichsregierung, die auf den 2. November 1918 datiert ist, befindet sich im BA Abt. Potsdam. 90 Le 6 Nachlaß C. Legien, Nr. 29, Bl. 4. 16 Vgl. zur Rechtsgrundlage: RGBl. 1918, 1231. Der Erlaß ist in der Originalausfertigung wiedergegeben bei: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre staatliche Sozialpolitik 1839 - 1939. Stuttgart 1957, 20. 17 Vgl. dazu seine Biographie in: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Biographisches Lexikon. Berlin 1970, 21. 18 Dies geschieht mit dem Erlaß vom 21. März 1919; vgl.: RGBl. 1919, 327; vgl. insgesamt: Berg, Wilfried: Arbeits- und Sozialverwaltung einschließlich Sozialversicherung und Reichsversorgung. In: Deutsche Verwaltungsgeschichte. Band 4. Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus. Stuttgart 1985, 218 240, hier: 219.

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wurden zunächst dem mit Erlaß vom 21. Oktober 1917 gegründeten „Reichswirtschaftsamt“ zugeordnet, bis es auf die dargestellte Weise zur Verselbständigung dieser Sonderbehörde kam. Das „Reichsarbeitsamt“ beginnt schon in der letzten Phase des Kaiserreichs ein sozialpolitisches Arbeitsprogramm zu entwickeln.19 Geradezu wegweisend sind darüber hinaus die Aktivitäten, in die die Verhandlungen über eine Arbeitsgemeinschaft zwischen Gewerkschaftsführern und Unternehmervertretern schließlich münden. Diese führen nach der Einigung über das Demobilmachungsamt zum Abschluß des berühmten Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommens vom 15. November 1918, das mit den Namen der Protagonisten auch als „Stinnes-Legien-Abkommen“ bezeichnet wird.20 Bezeichnend ist die Motivationsgrundlage dieses „Bündnisses“. Es wird von der Industrie vor allem gesucht, um durch die Gewinnung eines starken Bundesgenossen die Wirtschaft vor der drohenden Sozialisierung, vor der Fortsetzung der staatlichen Zwangswirtschaft und vor dem „Untergang“ in der Zusammenbruchsgesellschaft zu retten und um die ungeheuren ökonomischen Umstellungsprobleme meistern zu können. Die Überzeugung von der Unentbehrlichkeit des Unternehmertums, die Angst vor „Revolution und Chaos“, vor unkontrollierten Aktionen der „Massen“, vor gewerkschaftlichen Oppositionsströmungen und die Konkurrenz der überall entstehenden Räte läßt auch den gewerkschaftlichen Instanzen ein solches „Bündnis“ als erstrebenswert und als Chance für die Festigung der eigenen Position in der Zukunft erscheinen. Beide Seiten des „Bündnisses“ eint die Ablehnung, die Demobilisierung ausschließlich oder überwiegend mit herkömmlichen Behörden staatlich durchführen zu lassen. Von der Gewerkschaftsseite wurde die große wirtschaftliche Umstellung am Kriegsende schon in der letzten Kriegsphase als erhebliche Gefahr und herkulische, kaum (allein) zu bewältigende Aufgabe begriffen. Überblickt man die Summe der „Vorschriften“ dieses Abkommens, die zur Richtschnur der kommenden sozialpolitischen Rechtsetzung werden,21 so fällt in besonderer Weise auf, daß der Handlungsspielraum, den die Arbeiterbewegung durch diese Abmachung erhält und mitgestaltet, der Form nach eine Fortsetzung der sozialpolitischen Tradition und der kriegswirtschaftlichen „Arbeitsgemeinschaften“ einschließlich der Anerkennung und Ausgestaltung des Tarifvertragswesens darstellt. Der revolutionsbedingte Verlust der gesellschaftlichen und politischen Stabilität fördert insofern noch einmal die Bedeutung der Verbände von Arbeit und Kapital und schafft ihnen einen erweiterten gesetzlichen Boden. In dem nach dem 9. November 1918 innerhalb von wenigen Tagen ausgehandelten Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommen werden die Gewerkschaften nunmehr auch von den schwerindustriell geprägten Wirtschaftsverbänden als „berufene Vertreter der Arbeiter19 Sehr instruktiv zur Entwicklungsgeschichte des Reichsarbeitsministeriums: Deutsche Sozialpolitik 1918 - 1928. Berlin 1929, 12 ff.; vgl. zu den programmatischen Aktivitäten: Das Arbeitsprogramm des Reichsarbeitsamtes. In: Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, 28(1918)46, 418 - 419. 20 Das Abkommen findet sich z.B. bei: Reichert, Jacob: Entstehung, Bedeutung und Ziel der „Arbeitsgemeinschaft“. Berlin 1919, 21 ff. 21 Es existieren offizielle und offiziöse Zusammenstellungen und Kommentierungen der damaligen und späteren Zeit. Vgl. z.B.: Arbeitsrecht und Arbeiterschutz (einschließlich Militärversorgung). Sozialpolitische Maßnahmen der Reichsregierung seit dem 9. November 1918. Denkschrift für die Nationalversammlung von Reichsarbeitsminister Bauer. Berlin 1919; Arbeitsrecht und Arbeiterschutz (einschließlich Versorgung und Fürsorge für die Kriegsopfer). Die sozialpolitische Gesetzgebung des Reiches nach dem Stande vom August 1924. 4. neubearbeitete Ausgabe 1924. Zwei Bände. Teil 1: Systematischer Teil. Teil 2: Gesetze und Verordnungen. Berlin o.J. (1925); Böhm, Gustav: Arbeitsrecht und Sozialpolitik. Sammlung der einschlägigen Reichsgesetze und Verordnungen. Dritte, erneuerte Auflage. München 1929; vgl. auch die Chronologie der sozialpolitischen Gesetze und Verordnungen bei: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm.16), 543 ff.

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schaft“ anerkannt. Einschränkungen der Koalitionsfreiheit werden als unzulässig bezeichnet. Die wirtschaftsfriedlichen Gewerkvereine (die „Gelben“) sollen sich selbst überlassen und nicht mehr vom Unternehmertum unterstützt werden. Dabei verspricht der Verhandlungsführer und Vorsitzende des „Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes“ (ADGB), Carl Legien, die „Gelben“ wieder zu beteiligen, sobald sich die Situation beruhigt habe. Den Kriegsheimkehrern wird eine „Wiedereinstellungsgarantie“ beim Vorkriegsarbeitgeber gegeben. Eine gemeinsame paritätische Verwaltung der Arbeitsnachweise wird vorgesehen. „Kollektivvereinbarungen“ werden als Instrumente der Festlegung der Arbeitsbedingungen für alle Arbeiter und Arbeiterinnen angesprochen. Hier haben die Industriellen ein Abrücken vom Begriff des Tarifvertrages durchgesetzt, da sich solche nicht für alle Betriebe eigneten. Arbeiterausschüsse für Betriebe mit mindestens 50 Beschäftigten werden vereinbart, ihre Kompetenz wird auf die Überwachung der Einhaltung der Kollektivvereinbarungen beschränkt, d.h. ihnen wird auf Drängen der Unternehmerseite kein Einfluß auf die Wirtschaftsführung zugestanden. Paritätische Schlichtungsausschüsse bzw. Einigungsämter sollen in Kollektivvereinbarungen vorgesehen und ausgestaltet werden. Kompromisse und Ausnahmen zulassend, wird als Höchstmaß der „täglichen regelmäßigen Arbeitszeit“ für alle Betriebe ein Zeitraum von acht Stunden vereinbart. Verdienstschmälerungen aus Anlaß der nunmehr anstehenden deutlichen Arbeitszeitverkürzungen werden verboten. Der „Achtstundentag“ wird jedoch in einem geheimen Zusatzvertrag unter den Vorbehalt der Internationalisierung dieser Arbeitszeitreglung gestellt.22 Die sozialpolitischen „Abmachungen“, die sinngemäß auch für den Angestelltenbereich gelten sollen, sollen die „Geschäftsgrundlage“ für ein ganzes System paritätisch zusammengesetzter freigesellschaftlicher Organisationen sein, zur gemeinsamen „...Lösung aller die Industrie und das Gewerbe Deutschlands berührenden wirtschaftlichen und sozialen Fragen sowie aller sie betreffenden Gesetzgebungs- und Verwaltungs-Angelegenheiten.“23 An der Spitze der arbeitsgemeinschaftlichen Organisation steht die Zentralarbeitsgemeinschaft mit einem paritätisch zu besetzenden Zentralvorstand und Zentralausschuß. Unter der Beachtung des Paritätsprinzips sind als Unterbau der Zentralarbeitsgemeinschaft Reichsarbeitsgemeinschaften der Industrie- und Gewerbezweige vorgesehen, die bis auf die örtliche Ebene „heruntergebrochen“ werden können. Dieses „im besten Sinne“ sozialreformerisch-antirevolutionär gemeinte, weil die Eigentumsverhältnisse und Verfügungsgewalten prinzipiell nicht in Frage stellende Abkommen, erhält auf Ersuchen der Generalkommission der Freien Gewerkschaften am 15. November 1918 die zustimmende Zurkenntnisnahme des „Rats der Volksbeauftragten“. Es wird dort, wo einst im Jahre 1890 die „kaiserlichen“ Februarerlasse publiziert wurden, im „Deutschen Reichsanzeiger und Preußischen Staatsanzeiger“ vom 18. November 1918 mit dem empfehlenden bzw. ersuchenden Zusatz veröffentlich, es in den Reichsbetrieben, den Landes- und kommunalen Betrieben ebenfalls zu beachten. Dieses Institutionengefüge richtet sich, ebenso wie das Demobilmachungsamt, auf die Erhaltung der bürgerlichen Gesellschaft in modifizierter Form und gegen die Perspektive „unvernünftiger“ staatlichbürokratischer Eingriffe als Nachhall kriegswirtschaftlicher Strategien. Solche werden vor allem aus dem „Reichswirtschaftsamt“ befürchtet. Praktisch bleibt die Bedeutung dieser 22 Vgl.: Feldman, Gerald D.: Vom Weltkrieg zur Weltwirtschaftskrise. Göttingen 1984, 100 ff. 23 Vgl. zur Satzung der Arbeitsgemeinschaft vom 4. Dezember 1918 vgl. das Exemplar im Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam: BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 6497, Bl. 5 ff., hier: Bl. 5; ausführlich informiert auf breiter Materialgrundlage: Feldman, Gerald D., Steinisch, Irmgard: Industrie und Gewerkschaften 1918 - 1924. Stuttgart 1985, sowie: Feldman, Gerald D.: Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870 1924. München 1998, bes. 513 ff.

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Nachkriegsarbeitsgemeinschaften sehr bescheiden. Die antirevolutionäre Haltung und Suche nach „Bündnispartnern“, die diesem Dokument und diesen Aktivitäten zugrunde liegt, wird auch durch Nachrichten und Vorstellungen über die russische Revolution bzw. den „Bolschewismus“ verstärkt und kumuliert in einer extremen Furcht vor der „Bolschewisierung“ Deutschlands. Diese psychische Disposition hat auch die Handlungsstrategien der gesetzgebenden Faktoren nicht unbeträchtlich im sozialreformerischen Sinne beeinflußt.24 Von der Gewerkschaftspresse wird das Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommen als „Sieg von seltener Größe“, als „ungeheurer Fortschritt“, als „Magna Charta der deutschen Arbeit“, als „völlige Preisgabe des Herr-im-Hause-Prinzips“, als „glatte Kapitulation“ vor der Koalitionsfreiheit der Arbeiter, als Ablösung des alten Geistes des „Scharfmachertums“ und in anderen ähnlichen Sprachbildern beinahe hymnisch gefeiert.25 Die Unternehmer sehen es eher ausschließlich als Rettungsanker, um „Anarchie, Bolschewismus, Spartakusherrschaft und Chaos“ zu verhindern sowie als „Preis“ für die Einbindung der Gewerkschaften in diese Strategie.26 Die Meinungen zu dem Abkommen und den sich anschließenden Organisationsbestrebungen und Aktionen sind dabei im Unternehmerlager keineswegs einheitlich. Neben grundsätzlichen Vorbehalten gegen diese Form der „Klassenkooperation“ ist es insbesondere die Preisgabe der „Gelben“, die zu deutlichen Vorbehalten führt, obwohl auch auf diesem Gebiet Hintertüren offengehalten und auch intensiv genutzt werden. Insgesamt gesehen hat damit auch die „neue“ Sozialpolitik der frühen Nachkriegszeit zahlreiche Feinde und „falsche Freunde“. Als typisches Dokument einer Politik der „Instanzen“ schwillt die Kritik auf Seiten von Arbeit und Kapital bald unüberhörbar an. Während es den einen „zu weit“ geht, geht es den anderen nicht weit genug. Das Abkommen wird auf der Seite der Arbeiterbewegung im Extrem als „Verrat“ an der Revolution qualifiziert. Vor dem Hintergrund der ablehnenden Auffassungen in der Unternehmerschaft und auf der Grundlage entsprechender Erfahrungen in den Betrieben und in der Gesellschaft keimt bereits im Jahre 1918 die schon in der Kriegszeit geäußerte Idee auf, die erschütterte Autorität des Unternehmers vor allem durch eine „psychologisch gut eingestellte Arbeiterbehandlung“ zu stützen. Das „viel bespöttelte Wort“ des ehemaligen Staatssekretärs im Reichsamt des Innern, Clemens von Delbrück, vom „Kampf um die Seele des Arbeiters“ habe einen tiefen Sinn. Der Unternehmer werde in Zukunft die Beziehungen zur Arbeiterschaft in und außer dem Betriebe ganz besonders sorgfältig und vorsichtig pflegen müssen. Es handele sich dabei sowohl um Verfassungsfragen des Betriebes, wie um psychologische Fragen.27 Typischerweise gehen mit solchen Vorstellungen schon jetzt sozialpolitische Auffassungen einher, die jenseits der Grundlinien des Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommens anzusiedeln sind und auch jetzt von einer Anerkennung und Berücksichtigung der „Kampfgewerkschaften“ nichts wissen wollen.

24 Diese Auswirkungen der russischen Oktoberrevolution von 1917 werden mit Blick auf die ausbleibende durchgreifende Demokratisierung Deutschlands diskutiert und zur Beantwortung der Frage herangezogen, warum die Weimarer Republik dem Nationalsozialismus „erlag“; vgl. dazu insbesondere: Winkler, Heinrich August: Weimar 1918 - 1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. München 1993, bes. 33 ff. 25 Vgl.: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm. 2), 608. 26 Vgl. denselben, ebenda, 609. 27 Vgl. den von Dr. Otto Brandt, Düsseldorf, erstatteten Bericht über die Wirtschaftsjahre 1917/18. Westfälisches Wirtschaftsarchiv (WWA), Dortmund, S 7, Nr. 1046, Bl. 15.

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Auch der auf den 12. November 1918 datierte Aufruf des „Rates der Volksbeauftragten“ an das „deutsche Volk“28 enthält zahlreiche sozialpolitische Aussagen, die zur sozialreformerischen Linie der Nachkriegszeit passen. Er statuiert das unbeschränkte Vereinsund Versammlungsrecht auch für Beamte und „Staatsarbeiter“. Er hebt kriegsbedingte Beschränkungen auf. Dazu zählt das Hilfsdienstgesetz „...mit Ausnahme der sich auf die Schlichtung von Streitigkeiten beziehenden Bestimmungen.“ Die patriarchalischen Gesindeordnungen und „Ausnahmegesetze“ gegen die Landarbeiter werden außer Kraft gesetzt. Die zu Beginn des Krieges aufgehobenen Arbeiterschutzvorschriften werden wieder zu geltendem Recht. Zu den sozialpolitischen Ankündigungen zählt der „achtstündige Maximalarbeitstag“, die Arbeitsbeschaffung, eine Neuregelung über die Erwerbslosenunterstützung, die Ausdehnung der Versicherungspflicht in der Krankenversicherung, die Wohnungspolitik, die Regelung der Heimarbeit, die Sicherung einer „geregelten Volksernährung“. Angekündigt wird das gleiche, geheime, direkte und allgemeine Wahlrecht für Männer und Frauen,29 die „konstituierende Versammlung“. Tatsächlich wird die Umsetzung des Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommens und dieses als „sozialistisch“ bezeichneten Programms nun rasch in Angriff genommen.30 Von besonderer Brisanz erweist sich in diesem Zusammenhang die auf den „Achtstundentag“ bezogene Verordnungsgebung. Bereits bei der Verhandlung des Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommens hatten die Gewerkschaften in diesem Punkte mit der Formulierung von der „regelmäßigen täglichen Arbeitszeit“ Konzessionen gemacht und einer Kompromißformel zugestimmt.31 Die Forderung nach einem „Achtstundentag“ bzw. nach einem achtstündigen „Normalarbeitstag“ hat zu diesem Zeitpunkt bereits eine lange Tradition in der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung. Der „Achtstundentag“ ist seit dem Pariser internationalen Arbeiterkongreß von 1889 regelmäßiger Gegenstand beeindruckender Maidemonstrationen. „Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Erholung, acht Stunden Schlaf“ lautete die populäre Forderung. Es existieren seit dem 19. Jahrhundert in verschiedenen europäischen und außereuropäischen Ländern schon entsprechende Vorschriften und tarifvertraglich vereinbarte oder vom Unternehmer zugestandene Arrangements. Diese sehen typischerweise eine entsprechende Arbeitszeitbeschränkung für bestimmte die Arbeitskraft und Gesundheit schwer belastende Branchen, Tätigkeiten und spezielle Beschäftigtengruppen vor.32 Zu diesem Thema existiert darüber hinaus eine umfangreiche Literatur.33 28 Vgl.: RGBl. 1918, 1303; dieser Aufruf hat eine nicht zu übersehende Ähnlichkeit zu dem Aufruf „An das Deutsche Volk!“, der am 4. November 1918 erging und ebenfalls schon sozialpolitische Versprechen, ein „gleiches Wahlrecht“ in Preußen, Frieden und weitere demokratische Neuerungen enthielt und zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung aufrief. Vgl. das Dokument 116 in: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Band 2. Berlin 1957, 291 f. 29 Diese Ankündigung und die darauf folgende Gesetzgebung beendet vor allem auch die Geltung des reaktionären preußischen Dreiklassenwahlrechts; vgl. dazu die hervorragende Studie: Kühne, T.: Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preußen 1867 - 1914. Düsseldorf 1994. 30 Es sei verwiesen auf die „Verordnung über Arbeiterschutz“ vom 12. November 1918 (RGBl. 1918, 1309), die die kriegsbedingt aufgehobenen Arbeitsschutzvorschriften wieder in Kraft setzt; vgl. desweiteren die an dieser Stelle nicht intensiver besprochene „Verordnung über Erwerbslosenfürsorge“ vom 13. November 1918 (RGBl. 1918,1305) und die Abänderungsverordnung von 3. Dezember 1918 (RGBl. 1918, 1401), sowie die „Verordnung über Arbeitsnachweise“ vom 9. Dezember 1918 (RGBl. 1918,1421). 31 Vgl.: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm. 2), 611. 32 Vgl. dazu: Bauer, Stephan: Achtstundentag. In: Elster, Ludwig, Weber, Adolf, Wieser, Friedrich (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Vierte, gänzlich umgearbeitete Auflage. Erster Band. Jena 1923, 29 - 36. 33 Vgl. denselben, ebenda, 35 f.

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Die Arbeitszeitgesetzgebung Deutschlands, die man auf die Anfänge der Industrialisierung blickend, durchaus mit jenem bekannten „Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken“ vom 9. März 1839 beginnen lassen kann34, entwickelte sich sodann im Rahmen der Gewerbeordnungen als zentraler Teil des gewerblichen Arbeiterschutzes; Angestellte waren nur teilweise miterfaßt.35 Bis zum November 1918 war die Arbeitszeit gewerblicher Arbeiter und Arbeiterinnen aber grundsätzlich nur insoweit gesetzlich beschränkt, „...als dies aus Rücksichten der Gesundheit oder Sittlichkeit nötig erschien. Das Verbot der gewerblichen Kinderarbeit, die Beschränkungen der Arbeitszeit der jugendlichen Arbeiter und der Arbeiterinnen und ihr Ausschluß von bestimmten Beschäftigungen entspringen ausschließlich oder überwiegend solchen Gründen... Die Arbeitszeit der erwachsenen männlichen Arbeiter war nur in einzelnen besonders gesundheitsschädlichen Gewerben auf Grund ... der Gewerbeordnungen beschränkt worden.“36 Die vorkonstitutionelle, insgesamt keineswegs völlig starre und für Ausnahmen uneinsichtige „Notgesetzgebung“ zum „Achtstundentag“ führt zu einschneidenden Änderungen des bisherigen Zuschnitts der Arbeitszeitbeschränkungen. Die „Verordnung über die Arbeitszeit in den Bäckereien und Konditoreien“ vom 23. November 1918,37 die „Anordnung über die Regelung der Arbeitszeit gewerblicher Arbeiter“ vom 23. November 191838 und die „Anordnung zur Ergänzung der Anordnung über die Regelung der Arbeitszeit gewerblicher Arbeiter vom 23. November 1918“, die unter dem 17. Dezember jenes Jahres ergeht und weitere „Aufweichungen“ des „schematischen Achtstundentages“ ermöglichen soll,39 brechen mit dieser Tradition. Diese Arbeitszeitgesetzgebung gilt zudem auch in den Betrieben des Reiches, der Staaten, der Gemeinden, der Gemeindeverbände und in landwirtschaftlichen Nebenbetrieben gewerblicher Art. Durch diese Gesetzgebung wurde nun „...für alle Arbeiter ohne Unterschied des Alters und des Geschlechts die achtstündige Arbeitszeit verbindlich festgelegt. Da vorauszusehen war, daß die plötzliche Durchführung der achtstündigen Arbeitszeit in manchen Fällen große Schwierigkeiten machen würde, wurde den Demobilmachungskommissaren die Befugnis erteilt, Ausnahmen zuzulassen.“40 Diese wichtigen Rechtsquellen, die beiden Arbeitszeitregelungen für Arbeiter, ergehen als Anordnungen des Demobilmachungsamtes. Da nicht nur das Deutsche Reich nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges eine Phase politischer und sozialer Erschütterungen erlebt, auf die mit Sozialpolitik reagiert wird, verbreitet sich die Achtstundengesetzgebung innerhalb kurzer Zeit in

34 Vgl. dazu die „Begründung zum Entwurf eines Arbeitsschutzgesetzes“. BA Abt. Potsdam. 90 He 1 Nachl. Heine, Nr. 232, Bl. 48 f. 35 Von besonderer Bedeutung war das im ersten Band besprochene „Gesetz, betreffend Abänderung der Gewerbeordnung“ vom 1. Juni 1891. Kaiser Wilhelm II hatte bekanntlich zuvor in seinen bekannten Februarerlassen eine Prüfung der bestehenden Vorschriften über die Verhältnisse der Fabrikarbeiter in Aussicht gestellt: „Diese Prüfung hat davon auszugehen, daß es eine Aufgabe der Staatsgewalt ist, die Zeit, die Dauer und die Art der Arbeit so zu regeln, daß die Erhaltung der Gesundheit, die Gebote der Sittlichkeit, die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeiter und ihr Anspruch auf die gesetzliche Gleichberechtigung gewahrt bleiben“. 36 So eine frühe Fassung der Begründung eines „Entwurfs eines Gesetzes über die Arbeitszeit gewerblicher Arbeiter“. BA Abt. Potsdam. 04.01 Vorläufiger Reichswirtschaftsrat, Nr. 739, Bl. 66; eine noch frühere maschinenschriftliche Fassung findet sich in: BA Abt. Potsdam. 06.01 Präsidialkanzlei, Nr. 176; die Begründung findet sich auf Bl. 58 ff. 37 Vgl.: RGBl. 1918, 1329. 38 Vgl.: RGBl. 1918, 1334. 39 Vgl.: RGBl. 1918, 1436. 40 BA Abt. Potsdam. 04.01 Vorläufiger Reichswirtschaftsrat, Nr. 739, Bl. 66.

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verschiedenen Formen auch in einigen anderen europäischen Staaten, „...an sich ein sozialgeschichtliches Phänomen ohnegleichen...“41 Wie alle Ansätze der gesetzlichen Beschränkung der „Despotie des Kapitals“ gegenüber der lebendigen Arbeit, so war auch der „Achtstundentag“ immer schon umstritten. Obwohl er in das antirevolutionäre Ensemble jener Maßnahmen paßt, durch Vermeidung von Arbeitslosigkeit „sozialen Gärstoff“ zu beseitigen und auch in Übereinstimmung mit dem Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommen steht, melden sich erneut bereits im Krieg, als entsprechende gewerkschaftliche Forderungen laut werden, Kräfte und Stimmen aus dem unternehmerischen Lager, die diesen „Normalarbeitstag“ als wirtschaftlich unsinnig und höchst schädlich ablehnen. Für die Nachkriegszeit wird von dieser Seite „arbeiten, arbeiten und noch mal arbeiten“ gefordert. Von der Befürchtung einer „Stockung der Produktion“, von drohenden „schweren Wirtschaftsstörungen“, von einem „Zusammenbruch der Transportverhältnisse“ im Deutschen Reich, von organisatorischen und technischen Schwierigkeiten ist im Jahre 1918 in Eingaben an das „Reichsarbeitsamt“ die Rede.42 In diesem Zusammenhang wird von Unternehmerseite auch auf „kompetenzüberschreitende“ Eingriffe von Arbeiter- und Soldatenräten hingewiesen. Der offensichtlich aktionsbereite Arbeiterund Soldatenrat Solingen etwa fragt im Zusammenhang mit dem „Achtstundentag“ und der Regelung des Lohnausgleichs an, ob die Reichsregierung die „Nationalisierung“ größerer Betriebe im Falle der „Böswilligkeit der Unternehmer“ für richtig halte.43 Solchen Vorstößen der Revolutionsorgane gegenüber verweist das „Reichsarbeitsamt“ auf die Rechtslage, das Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommen, die Zuständigkeit der gewerkschaftlichen Organisationen, der Arbeitgeberverbände, der Demobilmachungsorgane und des „Rates der Volksbeauftragten“. Es verfolgt also keineswegs eine Strategie der Nutzung des in den Revolutionsorganen vorhandenen „Revolutionierungspotentials“. Diese Eingaben und amtlichen Stellungnahmen verweisen auf die revolutionären Hintergründe schon dieser ersten gesetzgeberischen Maßnahmen. Die Rechtsquellen treffen auf eine „Klassenbewegung der Arbeiter“, die sich unmittelbar gegen die Unternehmer und Manager richtet und die das Ziel hat, mitunter die Eigentumsverhältnisse, immer aber die Herrschaftsverhältnisse in der Wirtschaft mehr oder weniger grundlegend zu verändern. Dieses Verlangen kann den Willen nach einem Einfluß auf die industrielle Produktion selbst beinhalten.44 Die Betriebe sind zu dieser Zeit alles andere als das, was sich die Unternehmer und ihre Verbände vom Einfluß der von ihnen anerkannten „vernünftigen“ Gewerkschaften versprechen, sie sind keineswegs „befriedet“. In dieser Situation, den Kräften der „Neuerung“ mehr oder weniger schutzlos preisgegeben, beschließen die unter einem besonderen Druck der Straße und Belegschaften stehenden45 Berliner Mitglieder des „Bundes der Industriellen“ am 7. Dezember 1918 die folgende nicht untypische Resolution: Sie „...treten für früheste Einberufung der Nationalversammlung ein. Von der Regierung fordern sie, daß sie regiert. Nur durch entschlossene Wiederherstellung von Ordnung und 41 Vgl.: Bauer, Stephan: Achtstundentag...a.a.O.(=Anm. 32), 33. 42 Solche Eingaben finden sich z.B. im BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 1791. 43 Ebenda, Bl. 55. 44 So: Oertzen, Peter von: Betriebsräte in der Novemberrevolution. 2., erweiterte Auflage. Berlin, Bonn-Bad Godesberg 1976, 17; vgl. mit instruktiven Schilderungen: Arbeiter- und Soldatenräte im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Wuppertal 1975; vgl. auch: Ullrich, Volker: Die Hamburger Arbeiterbewegung vom Vorabend des Ersten Weltkrieges bis zur Revolution 1918/19. Band 1. Hamburg 1976, 612 ff. 45 Vgl. zur „Politisierung der Straße“ neuerdings: Ehls, Marie-Luise: Protest und Propaganda. Demonstrationen in Berlin zur Zeit der Weimarer Republik. Berlin 1997.

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Sicherheit kann das deutsche Wirtschaftsleben noch in letzter Stunde vor dem drohenden Zusammenbruch bewahrt werden. Von den Führern der Arbeiterschaft, vor allem von den Vertrauensmännern der Gewerkschaften, wird erwartet, daß sie sich trotz der Schwere der Zeit als wirkliche Führer zeigen, daß sie sich nicht beiseite schieben lassen von bisher unorganisierten Fanatikern und jugendlichen Schreiern, die durch unsinnige Forderungen, durch Willkür und Anarchie jede Produktion unmöglich machen.“46 An diesem Aufruf wird deutlich, in welchem Ausmaß bereits die bisherigen betrieblichen Herrschaftsverhältnisse, die patriarchalischen und auch rein kaufmännisch-administrativen Paradigmata der Menschenführung unter Druck geraten sind. Es entstehen nun auch in der Wissenschaft neuartige systematisierte und ausgebaute „...Gestaltungshinweise für die Arbeitsbeziehungen zur Steigerung der Arbeitszufriedenheit und zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität..“47 Aber diese gehen, wie bestimmte Unternehmerkreise, überwiegend nicht vom „Wunschbild“ der Gewerkschaften als Ordnungsmacht aus und sie können deshalb häufig die Gestaltungsmuster der Sozialpolitik der Weimarer Republik nicht bejahen. Als bedeutendste sozialpolitische Rechtsquelle der vorkonstitutionellen Zeit ergeht in Abstimmung mit dem Demobilmachungsamt, vom „Rat der Volksbeauftragten“ erlassen, im „Reichsarbeitsamt“ ausgearbeitet und vom Staatssekretär (Minister) dieser Behörde zuständigkeitshalber gegengezeichnet am 23. Dezember 1918 die „Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten.“48 An der Ausgestaltung dieser „Verordnung“ war auch die „Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands“ beteiligt. Sie spricht den Gewerkschaften als „Vereinigungen von Arbeitnehmern“ und den Arbeitgebern bzw. ihren Vereinigungen das Recht zu, Tarifverträge abzuschließen. Die Tarifverträge werden als unabdingbar qualifiziert. Das „Reichsarbeitsamt“ erhält insbesondere auf Antrag der Vertragsparteien das Recht, Tarifverträge, „...die für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen des Berufskreises in dem Tarifgebiet überwiegende Bedeutung erlangt haben, für allgemeinverbindlich (zu) erklären.“ Trotz erheblicher Mängel bleibt dieser auf Tarifverträge bezogene Teil der Verordnung bis ins Jahr 1928 die gültige Grundlage des sich auf die „Bedingungen für den Abschluß von Arbeitsverträgen“ beziehenden Tarifvertragswesens.49 Eine überkommene, intern nicht unbestrittene gewerkschaftliche Praxis,50 durch die militärische Sozialpolitik ausgestaltet,51 hat damit ihre vorläufige Form erhalten. Alle legalen Formen des Streiks haben damit ihr Ziel in der Regelung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen und ähnlicher Fragen gefunden.52 Diese Bestimmungen brechen mit den „insgeheim“ immer noch in weiten Kreisen der Unternehmerschaft geteilten Auffassungen der Kriegs- und Vorkriegszeit. Diese qualifizierten den Abschluß von Tarifverträgen als „gefährlich“, als Einengung des zweckmäßigen Einsatzes der Arbeiter und als Instrument, das „... die einzelnen Arbeiter unvermeidbar unter die Herrschaft der Arbeiterorganisationen..“ bringe. Sie sahen darin „... wie auch 46 Bund der Industriellen. In: Sächsische Industrie, 15(1918)5, 95. 47 Plumpe, Werner: Industrielle Beziehungen. In: Ambrosius, Gerold, Petzina, Dietmar, Plumpe, Werner (Hg.): Moderne Wirtschaftsgeschichte. München 1996, 389 - 419; hier: 392. 48 Vgl.: RGBl. 1918, 1456. 49 Vgl. dazu: Preller, Ludwig: Staatliche Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm.1), 255 ff. 50 Vgl. dazu: Ullmann, Peter: Tarifverträge und Tarifpolitik in Deutschland bis 1914. Frankfurt a.M., Bern, Las Vegas 1977. 51 Vgl. dazu: Preller, Ludwig: Sozialpolitik…a.a.O.(=Anm. 1), 38. 52 Vgl. dazu auch die Darstellung in: Arbeitsrecht und Arbeiterschutz (einschließlich Militärversorgung)...a.a.O.(=Anm. 21), 11 ff.

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durch Erfahrungen in England und Amerika voll bestätigt wird, schwere Hindernisse der technischen und organisatorischen Fortschritte der deutschen Industrie.“53 Die Bestimmungen vom 23. Dezember 1918 brechen in deutlicher Weise aber auch mit dem Prinzip des revolutionären, des „unbedingten Klassenkampfes“. In höchstem Maße charakteristisch für die Politik der antirevolutionär orientierten Institutionen der Revolutionszeit sind die Bestimmungen der Verordnung vom 23. Dezember 1918 zu den Arbeiter- und Angestelltenausschüssen. In den Betrieben bereits bestehende, äußerst vielgestaltige von Betriebsbelegschaften gewählte und betriebsbezogen tätige „radikale“ Räte, die, wie Arbeiter- und Soldatenräte auch, nicht selten die Kontrolle der Unternehmen, eine wirtschaftliche und soziale Mitbestimmung oder gar eine Sozialisierung der Betriebe erstreben,54 werden in ihrer Existenz und Intention von dieser Verordnung nicht beachtet. Ihr Verhalten und ihre Ziele werden durch die ganz anders gearteten Rechtsvorschriften auch als gegebenenfalls illegal akzentuiert. Dementsprechend werden die weitgehend unabhängig von den traditionellen Gewerkschaften entstandenen „Betriebsorganisationen“ aus freigewerkschaftlicher Sicht auch als ungeeignet qualifiziert, „...die deutsche Volkswirtschaft vor Störungen zu bewahren.“55 „Streikwut“, „sinnlose Eingriffe“ in die Leitung der Betriebe, Lohnbewegungen ohne Rücksicht auf die Lage der Unternehmen werden diesen Betriebsräten bzw. entsprechenden ähnlich agierenden Räteorganisationen nachgesagt. Beim „Reichsarbeitsamt“ gehen fortgesetzt Beschwerden gegen „unbotmäßige“ Arbeiter- und Soldatenräte ein, die gewählte Arbeiterausschüsse ebenso umgehen, wie Vertreter der Gewerkschaften und „zu Recht bestehende tarifliche Abmachungen.“ Diese Räte verlangten eine „plötzliche unvermittelte“ Einführung des Achtstundentages ohne Rücksicht auf die Lage des Betriebes und gegebenenfalls auch der Volksernährung. Sie verlangten entgegen bestehenden Tarifvereinbarungen die plötzliche Abschaffung der Akkordarbeit. Es würden „ungebührliche Lohnforderungen“ gestellt, die die Arbeitgeber veranlaßten, die Schließung der Betriebe in Aussicht zu nehmen, „...weil sie nicht nur nicht rentabel sind, sondern Zubußen verlangen, die in kurzer Zeit zum Ruin des Arbeitgebers führen.“ Die Mitglieder „nationaler Werkvereine“ würden unter Androhung von „Gewalttätigkeiten“ gezwungen, gewerkschaftlichen Organisationen beizutreten. Vielfach würde die Auflösung der Werkvereine und die „...Auslieferung aller Akten und des Vereinsvermögens...“ verlangt. Auch aus den Kreisen der Christlichen und Hirsch-Dunckerschen Organisationen, „die in Arbeitsgemeinschaft mit den freien Gewerkschaften stehen“, kämen Klagen über terroristische Maßnahmen.56 Mit einem solchen Verhalten gelten die entsprechenden Räte geradezu als institutionelle Konkurrenten der etablierten Gewerkschaften und die Generalkommission der Gewerkschaften „...macht die Wahrnehmung, daß an einzelnen Orten bei der Regelung der Arbeitsverhältnisse die Gewerkschaften durch die Arbeiter- und Soldatenräte ausgeschaltet werden oder doch erst nach längeren Verhandlungen zu den

53 So eine Erklärung des „Zentralverbandes der Deutschen Industriellen“ aus dem Jahre 1905; zit. Nach: Merker, Paul: Die Rolle des Tarifvertrages im Gewerkschaftskampf. Teil I. In: Die Internationale, 10(1927)18, 553 - 560, hier: 555. 54 Vgl.: Oertzen, Peter von: Betriebsräte...a.a.O.(=Anm. 44), 83. 55 Die gesetzliche Regelung der Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und des Einigungswesens. In: Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, 29(1919)2/3, 11 - 12, hier: 11. 56 Vgl. ebenda, 11 f.; zu den wirtschaftlichen Aktivitäten der Räte vgl. die Abschrift des Schreibens des Staatssekretärs des Reichsarbeitamtes an den Rat der Volksbeauftragten und den Vollzugsausschuß des Arbeiter- und Soldatenrats vom 29. November 1918. BA Abt. Potsdam. 90 Gi 1 Nachlaß Johann Giesberts, Nr. 56, Bl. 68 f.

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Vereinbarungen über Lohn- und Arbeitsverhältnisse hinzugezogen werden.“57 Mit großer Konsequenz wird im November und Dezember 1918 der Alleinvertretungsanspruch der Gewerkschaften verfolgt und in Rechtsvorschriften verfestigt. Bereits eine im Reichsanzeiger veröffentlichte Bekanntmachung des „gemäßigten“ Vollzugsrats der Arbeiter- und Soldatenräte über Richtlinien für die Betriebsräte vom 23. November 1918 will die Betriebsräte auf soziale Aufgaben beschränken und zur Verständigung und Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften zwingen. Die Sozialisierung der Betriebe dürfe nur von der „sozialistischen Regierung“ systematisch und „organisch“ in Berücksichtigung der gesamten „inneren und außenpolitischen Verhältnisse“ vorgenommen werden. Die Verordnung vom 23. Dezember 1918 kennt dementsprechend keine Mitwirkung der Ausschüsse an der Unternehmensführung, schweigt sich zur „Sozialisierung“ bzw. Betriebsübernahme durch „Räte“ aus, räumt der tarifvertraglichen Regelung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen eine strikte Priorität ein. Die Verordnung vom 23. Dezember 1918 privilegiert mithin die Gewerkschaften und stellt sich ansonsten in die Tradition der schon im Vormärz und im Jahre 1848 diskutierten Arbeiterausschüsse, die ab den 1860er Jahren von sozialreformerisch orientierten Unternehmern bereits eingeführt58 und auch international weit verbreitet waren.59 Aufschlußreich für die Intention und den Wortlaut der Verordnung vom 23. Dezember 1918 ist weniger ein genauer Blick in den Wortlaut der „berühmten“ Gewerbeordnungsnovelle vom 1. Juni 1891, die bekanntlich ständige Arbeiterausschüsse nur anspricht,60 aber nicht detailliert ausgestaltet.61 Aufschlußreicher ist ein Blick in den genaueren Wortlaut der preußischen Berggesetznovelle vom 14. Juli 1905, die nach einem gewaltigen Streik von rund 215.000 Ruhrbergarbeitern erlassen wurde.62 Dort, im neugefaßten § 80 f, ist bereits die von der Sozialdemokratie damals heftig abgelehnte wegweisende „sozialpartnerschaftliche“ Formel enthalten,63 daß es dem Arbeiterausschuß obliege, „...darauf hinzuwirken, daß das gute Einvernehmen innerhalb der Belegschaft und zwischen der Belegschaft und dem Arbeitgeber erhalten bleibt oder wiederhergestellt wird.“ Diese Formulierungen verweisen also auf historische Konflikterfahrungen im Kaiserreich, die auf diese Weise minimiert oder in geordnete Bahnen zurückgeführt werden sollten. Der extrem auf die „Pflege des Betriebsfriedens“ fixierte Sinn solcher Vorschriften war sodann im § 12 des Hilfsdienstgesetzes von 1916 niedergelegt worden. Aufschlußreich und kennzeichnend ist 57 Protokoll der Konferenz der Vertreter der Verbandsvorstände der Freien Gewerkschaften vom 3. Dezember 1918 im Berliner Gewerkschaftshaus. In: Feldman, Gerald D., Steinisch, Irmgard: Industrie und Gewerkschaften, a.a.O. (= Anm. 23) 141 - 150; hier: 144; vgl. auch das Dokument 59 in: Schönhoven, Klaus (Bearb.): Die Gewerkschaften in Weltkrieg und Revolution 1914 - 1919. Köln 1985 (= Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert, Band 1), 539 - 567, hier: 545. 58 Vgl. zur Bekanntmachung des Vollzugsrats über Richtlinien für Betriebsräte: Ritter, Gerhard A., Miller, Susanne (Hg.): Die deutsche Revolution 1918 - 1919. Dokumente. Zweite, erheblich erweiterte und überarbeitete Auflage. Hamburg 1975, 241 - 242; vgl. zu den überkommenen Arbeiterausschüssen: Sering, Max (Hg.): ArbeiterAusschüsse in der deutschen Industrie. Gutachten, Berichte, Statuten. Leipzig 1890; Koch, Heinrich: Arbeiterausschüsse. M. Gladbach 1907; vgl. als sozialhistorische Untersuchung: Teuteberg, Hans Jürgen: Geschichte der industriellen Mitbestimmung in Deutschland. Tübingen 1961; diese Untersuchung endet mit dem Hilfsdienstgesetz. 59 Vgl. für die Niederlande: Eringaard, Jacob C.: Holländische Musterstätten persönlicher Fürsorge von Arbeitgebern für ihre Geschäftsangehörigen. Delft 1896. 60 Das geschieht in den §§ 134 b, 134 d, 134 h. 61 Einige „Gestaltungshinweise“ enthält bestenfalls § 134 h. 62 Vgl. dazu: Vogelsang, Hermann: Die Arbeiter-Ausschüsse im Bergbau. Essen o. J. (1908). 63 Vgl.: Milert, Werner, Tschirbs, Rudolf: Von den Arbeiterausschüssen zum Betriebsverfassungsgesetz. Köln 1991, 36.

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auch ein genauer Blick in die Materialien und Entwürfe, die unter der Reichskanzlerschaft des Zentrumsführers Graf Georg von Hertling entstanden sind. Ein zunächst noch als Reform der Gewerbeordnung geplanter „Entwurf eines Gesetzes über Arbeiterausschüsse und Angestelltenausschüsse in gewerblichen Betrieben,“64 der die sozialintegrativen Bestimmungen des Hilfsdienstgesetzes auf spezifische Weise bewahren soll, enthält Bestimmungen, die in das unmittelbare Vorfeld der Verordnung vom 23. Dezember 1918 gehören. Der Entwurf beinhaltete aber die Vorschrift, daß der Betriebsunternehmer bzw. sein Stellvertreter generell die Sitzungen der Ausschüsse einberuft, die Tagesordnung festsetzt und die Sitzungen leitet. Der Entwurf sah darüber hinaus behördliche Sanktionen für den Fall vor, daß ein Mitglied des Arbeiter- bzw. Angestelltenausschusses seine Tätigkeit zu einer „bestimmungswidrigen Betätigung“ mißbraucht bzw. ein Ausschuß insgesamt seine Befugnisse „fortgesetzt“ derart mißbraucht, „...daß dadurch die ordnungsgemäße Fortführung des Betriebs ernstlich gefährdet oder beeinträchtigt wird...“65 Diese Bestimmungen, die bereits von der nicht grundlosen Furcht vor einer Auflösung der Betriebsdisziplin diktiert worden waren und von der Angst, mit den Ausschüssen den „Umsturz“ zu organisieren, wurden ebenfalls durch die modifizierte Übernahme der „sozialpartnerschaftlichen“ Formel aus der preußischen Berggesetznovelle von 1905 flankiert.66 Diese Bestimmungen atmen noch ganz den Geist der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik.“ In den unmittelbaren Entstehungszusammenhang gehört auch ein Gewerkschaftsentwurf zu einem Arbeitskammergesetz, das die obengenannten Strafvorschriften nicht kennt. Dieser Entwurf, der mit dem alten Regierungsentwurf teilweise identisch ist, wird schließlich der Verordnungsgebung zugrunde gelegt.67 Der partnerschaftliche Traditionsbestand dieser Anfänge und Vorläufer der Mitbestimmungsgesetzgebung findet sich schließlich im § 13 der Verordnung vom 23. Dezember 1918. Mit dieser Verordnung werden die entsprechenden Bestimmungen über ihren ursprünglichen Geltungsbereich hinausgehend verpflichtend gemacht und das Tätigkeitsspektrum wird an die neuere sozialpolitische Entwicklung angepaßt. Nach der Verordnung des Jahres 1918 sind in allen Betrieben, Verwaltungen und Büros „...und zwar nicht nur gewerblicher, sondern auch landwirtschaftlicher und anderer Art, in denen in der Regel mindestens 20 Arbeiter oder Angestellte68 beschäftigt werden, solche Ausschüsse zu errichten. Soweit schon nach dem Hilfsdienstgesetz Arbeiter- oder Angestelltenausschüsse bestehen, haben Neuwahlen stattzufinden. Alle diese Vorschriften gelten auch für die Betriebe, Verwaltungen und Büros des Reichs, der Bundesstaaten, der Gemeinden und der weiteren Kommunalverbände sowie für die Verwaltungen der Träger der reichsgesetzlichen Arbeiter- und Angestelltenversicherung.“69 Ausgenommen sind die Eisenbahnen und die Post. Gemäß § 13 haben die Arbeiter- und Angestelltenausschüsse sowie tarifvertraglich vereinbarte Vertretungen der Arbeiter oder der Angestellten in Anlehnung an den Sprachgebrauch 64 Die Entwürfe sind erhalten in: BA Abt. Potsdam. 90 Gi 1 Nachl. Johann Giesberts, Nr. 67, Bl. 45 ff. und 57 ff.; vgl. in diesem Zusammenhang auch die teilweise von anderen Quellen ausgehende Darstellung bei: Zunkel, Friedrich: Industrie und Staatssozialismus. Düsseldorf 1974, 162 ff. 65 Vgl. die §§ 17, 18 des 2. Entwurfs. 66 Vgl. den § 10 des 2. Entwurfs. 67 So zumindest der Hinweis in: Die gesetzliche Regelung der Tarifverträge...a.a.O.(=Anm. 55),12. 68 Diese Zahl ist bereits vom sozialreformerisch engagierten Unternehmer Heinrich Freese im Jahre 1890 während seiner beratenden Tätigkeit im Staatsrat angeregt worden; vgl.: Freese, Heinrich: Das konstitutionelle System...a.a.O.(=Anm.9), 9; in der Berggesetznovelle von 1905 ist ein Arbeiterausschuß erst ab 100 Arbeitern zwingend vorgeschrieben. Die Verordnung vom 23. Dezember 1918 geht mit dieser Ausgestaltung auch weiter als das Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommen. 69 Arbeitsrecht und Arbeiterschutz (einschließlich Militärversorgung)...a.a.O.(=Anm. 21), 14.

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der Berggesetznovelle von 1905 die Aufgabe „...die wirtschaftlichen Interessen der Arbeiter und der Angestellten in dem Betriebe, der Verwaltung oder dem Büro dem Arbeitgeber gegenüber wahrzunehmen. Sie haben in Gemeinschaft mit dem Arbeitgeber darüber zu wachen, daß in dem Unternehmen die maßgebenden Tarifverträge durchgeführt werden. Soweit eine tarifliche Regelung nicht besteht, haben die Ausschüsse oder Vertretungen im Einvernehmen mit den beteiligten wirtschaftlichen Vereinigungen der Arbeiter oder Angestellten bei der Regelung der Löhne und sonstigen Arbeitsverhältnisse mitzuwirken. Es liegt ihnen ob, das gute Einvernehmen innerhalb der Arbeiterschaft oder Angestelltenschaft sowie zwischen diesen und dem Arbeitgeber zu fördern. Außerdem haben sie ihr Augenmerk auf die Bekämpfung der Unfall- und Gesundheitsgefahren in dem Betriebe, der Verwaltung oder dem Büro zu richten und bei Betrieben, die unter Titel VII der Gewerbeordnung fallen, die Gewerbeaufsichtsbeamten, im übrigen andere in Betracht kommende Stellen bei dieser Bekämpfung durch Anregungen, Beratung und Auskunft zu unterstützen.“ Rund die Hälfte der Verordnung vom 23. Dezember 1918 befaßt sich mit der Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten. Bereits der Aufruf des „Rats der Volksbeauftragten“ hatte die Frage der Konfliktschlichtung behandelt, indem er das Hilfsdienstgesetz zwar aufgehoben hatte, allerdings mit Ausnahme der Vorschriften über die Schlichtung von Streitigkeiten. Das Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommen vom 15. November schließlich wollte die Schlichtung paritätisch ausgestalten und in „Kollektivvereinbarungen“ geregelt sehen. Unter weitgehender Berücksichtigung der Mitwirkung der Verbände von Arbeit und Kapital wird durch die Verordnung vom 23. Dezember 1918 ein ebenfalls paritätisches Verfahren ausgestaltet, in das nunmehr im Gegensatz zu den Vorschriften des Hilfsdienstgesetzes auch Frauen als ständige oder nichtständige Vertreter der Arbeitgeber bzw. Arbeitnehmer einbezogen werden können. Die bereits in der Kriegszeit aufgebauten Schlichtungsausschüsse werden, soweit dies möglich ist, in die neue Ordnung übernommen: „Denn solche Einigungs- und Schiedsstellen wurden für die zahlreichen Lohnstreitigkeiten, die in der Zeit des Übergangs von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft zu erwarten und zum Teil schon ausgebrochen waren, dringend gebraucht, und eine vollständig neue Organisierung hätte zu lange Zeit in Anspruch genommen.“70 Für die Verkehrsanstalten des Reiches werden besondere Schlichtungsausschüsse vorgesehen. Die neuen Schlichtungsausschüsse haben, nach dem Wegfall kriegsbedingter Aufgaben, „nur“ noch die Funktion von Einigungsämtern. Diese Aufgabe sollen die amtlichen Schlichtungsstellen nur dann übernehmen, soweit nicht auf Grund von Tarifverträgen oder sonstigen Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern besondere Einigungs- und Schlichtungsstellen zuständig sind oder beide Parteien gewisse bereits bestehende Gewerbegerichtsinstitutionen der verschiedensten Art anrufen.71 Diese Bestimmungen des § 20 der Verordnung vom 23. Dezember 1918 verweisen auf die geschichtlich im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert entstandenen gesetzlichen Formen und Vorläufer dieser Schlichtungsregelungen,72 die auch in außerdeutschen Staaten verbreitet waren, „Vorbilder“ über die das „Reichsarbeitsamt“ bzw. das spätere Reichsarbeitsministerium wohlinformiert ist.73 In die unmittelbare Vorgeschichte des 70 Ebenda, 15. 71 Vgl. ebenda, 15f. 72 Vgl. den Abschnitt „Vorgeschichte“ der Begründung des „Entwurf einer Schlichtungsordnung“. BA Abt. Potsdam. 90 He 1 Nachlaß Wolfgang Heine, Nr. 205, Bl. 31 ff.; vgl. auch: Berlepsch, Hans-Jörg von: „Neuer Kurs“ im Kaiserreich. Bonn 1987, 117 ff. 73 Vgl. die „Uebersicht über das ausländische Schlichtungswesen“. BA Abt. Potsdam. 90 He 1 Nachlaß Heine, Nr. 205, Bl. 87 ff.

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Schlichtungswesens gehört wiederum die Diskussion um die Arbeitskammern unter Reichskanzler Graf Georg von Hertling.73 Ein Arbeitskammergesetz, das war auch die Auffassung der Freien Gewerkschaften, sollte u.a. die Schlichtungsausschüsse des Hilfsdienstgesetzes in die als problematisch, wenn nicht gar revolutionär antizipierte Nachkriegszeit retten.74 Das Hilfsdienstgesetz und der Gewerkschaftsentwurf zum Arbeitskammergesetz dienen nun auch für die Schlichtungsregelungen als Vorlage.75 Die Schlichtungsausschüsse sollen nicht nur dann tätig werden, wenn sie von den „Klassenkräften“ angerufen werden, sondern auch sobald ihnen Arbeitsstreitigkeiten bekannt werden. Eine wichtige Bestimmung trifft der § 22 Absatz 2: „In wichtigen Fällen kann das Reichsarbeitsamt die Durchführung des Einigungs- und Schiedsverfahrens selbst übernehmen oder sie einer anderen Schlichtungsstelle, insbesondere einer bundesstaatlichen, überlassen. In beiden Fällen müssen bei der Verhandlung und der Abgabe des Schiedsspruchs Vertreter der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer in gleicher Zahl als Beisitzer mitwirken.“ Diese Tätigkeit des „Reichsarbeitsamtes“ bzw. Reichsarbeitsministeriums ist schon bald in „rascher Zunahme begriffen.“76 Die Schlichtungsausschüsse sollen nach dem Willen ihrer Urheber im wesentlichem eine schnelle, konfliktbeendende Einigung zwischen Arbeit und Kapital herbeiführen. Wenn dies fehlschlägt, soll ein Schiedsspruch abgegeben werden. Ein Zwang zur Unterwerfung ist in der Verordnung vom 23. Dezember 1918 noch nicht vorgesehen. Vor dem Hintergrund einer konfliktzerrissenen Zusammenbruchs- und Nachkriegsgesellschaft77 kommt es zu einer bald schon außerordentlich starken Inanspruchnahme der behördlichen, gleichwohl die „Klassenkräfte“ entscheidend beteiligenden Schlichtung. Während für die letzten Tage des Jahres 1918 keine Angaben vorliegen, sind im Kalenderjahr 1919 bei den 264 Schlichtungsausschüssen insgesamt 84.846 Streitsachen anhängig. Davon beziehen sich 33.127 (39%) auf Gesamt- bzw. Tarifstreitigkeiten. Bei 44.627 (53%) Streitsachen handelt es sich um Einzelstreitigkeiten. Das bedeutet: „Da seit dem Kaiserreich keine institutionelle Trennung zwischen Schlichtung und Rechtsprechung bestand, mußten die Ausschüsse auch über arbeitsrechtliche Individualklagen entscheiden.“78 Sie treten damit neben andere überkommene „Gerichtsinsitutionen“, denen diese Aufgaben ebenfalls obliegen. So entscheidet die „Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten“ vom 23. Dezember 1918 große Zeitund Streitfragen der sozialpolitischen Debatten der Vorkriegs- und Kriegszeit in einem auf gesellschaftliche Stabilität bedachten Sinne. Für die in verschiedenen Formen an der Herrschaft beteiligten Kräfte der Arbeiterbewegung verbietet es sich, nunmehr die Tarifverträge als nur widerwillig akzeptierte „Waffenstillstandsabkommen“ in einem Kampf unvereinbarer Interessen und Kräfte zu qualifizieren. Die Arbeiter- und Angestelltenausschüsse kön73 Vgl.: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 1), 78. 74 Vgl. denselben, ebenda, 353. 75 Vgl.: Die gesetzliche Regelung der Tarifverträge...a.a.O.(=Anm. 55), 12. 76 So die den Zeitraum 1918/19 betreffende Aussage in: Arbeitsrecht und Arbeiterschutz (einschließlich Militärversorgung)...a.a.O.(=Anm. 21), 16. 77 Vgl. als Widerspiegelung lediglich eines Teils aller Konfliktformen und -arten die unvollständige amtliche Statistik der Streiks und Aussperrungen bei: Petzina, Dietmar, Abelshauser, Werner, Faust, Anselm: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. Band III. München 1978, 114. 78 Bähr, Johannes: Staatliche Schlichtung in der Weimarer Republik. Berlin 1989, 24; die Statistik entstammt: BA Abt. Potsdam. 90 He. 1 Nachlaß Heine, Nr. 205, Bl. 109.

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nen nicht länger wie zu Zeiten der „Fundamentalopposition“ als „scheinkonstitutionelle Feigenblätter“80, als „Unternehmerpolizei“, als ein „Liebesdienst für das Kapital“81 abgelehnt werden. Unakzeptabel muß auch der Vorwurf der Weimarer Linken sein, daß es sich schon bei dieser Form der „Schlichtung“ um einen „Raub des Streikrechts“ handele. Soviel „Einverständnis“ in den führenden Kreisen der gemäßigten Arbeiterbewegung und eine derartige Identifikation mit „arbeitsgemeinschaftlichen“ Formen, soviel Nähe zur „bürgerlichen Sozialreform“ war nie.82 Das hat natürlich mit der die Verbände anerkennenden und gleichberechtigenden Natur dieser Rechtsquellen zu tun und mit der Tatsache der Mitwirkung an dieser Rechtsetzung und der „Bedrängnis“ durch den „Radikalismus.“ Nicht nur manche Vorkriegsdiskussion ist damit praktisch entschieden. Die nunmehr auch in den „Revolutionsorganen“ und an der Spitze der Ministerialbürokatie tätige Arbeiterbewegung hat damit auch den in der Sozialpolitik der Vorkriegszeit vorherrschenden „Fürsorge-“ und Schutzcharakter und die antigewerkschaftliche Stoßrichtung dieses Politikbereichs überwunden.83 Das Einverständnis und die Mitwirkung an dieser auf zahlreiche Vorläufer, Vorbilder, Vorschläge und Vorgeschichten aufbauenden sozialpolitischen Orientierung fügt sich schon im Jahre 1918 in die Strategie eines vielgestaltigen Kampfes gegen alle mit diesem Ordnungsrahmen unvereinbaren Aktivitäten und Kräfte. Die in der Revolution schwer um ihren Einfluß ringende Mehrheitssozialdemokratie (MSPD) und die Freien Gewerkschaften sehen sich teilweise heftigsten Angriffen der insgesamt wiederum vielgestaltigen „Linken“ ausgesetzt. Diese Angriffe gipfeln bei Teilen der sich bald radikalisierenden Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) und bei dem Spartakusbund, den Revolutionären Obleuten bzw. bei der sich um die Jahreswende gründenden Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) im Vorwurf des „Verrats“ und des „Opportunismus“. Von dieser Seite wird auch das eigentliche, das revolutionäre Gegenbild zur Sozialreform projektiert. In der von Rosa Luxemburg ausformulierten Programmschrift „Was will der Spartakusbund?“84, die auch der KPD als Programm dient und für das Handeln dieser Kräfte von einiger Aussagekraft ist, wird aus der Blut- und Leidensgeschichte des Ersten Weltkrieges und aus der Behauptung, die „Kapitalisten aller Länder“ seien die „wahren Anstifter zum Völkermord“ gewesen, gefolgert, die „bürgerliche Klassenherrschaft“ habe ihr „Daseinsrecht“ verwirkt. „Aus all dieser blutigen Wirrsal und diesem gähnenden Abgrund gibt es keine Hilfe, keinen Ausweg, keine Rettung als den Sozialismus. Nur die Weltrevolution des Proletariats kann in dieses Chaos Ordnung bringen, kann allen Arbeit und Brot verschaffen, kann der gegenseitigen Zerfleischung der Völker ein Ende machen, 80 So August Bebel im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um die Gewerbeordnungsnovelle im Jahre 1891; vgl.: Berlepsch, Hans-Jörg von: „Neuer Kurs“...a.a.O.(=Anm. 72), 313. 81 So Max Schippel 1890; vgl. denselben, ebenda, 312. Abgedruckt ist seine Stellungnahme in: Milert, Werner, Tschirbs, Rudolf: Von den Arbeiterausschüssen...a.a.O.(=Anm. 63), 96 ff. 82 Ein Blick in die Schriften der „Gesellschaft für Soziale Reform“ und auch des „Vereins für Socialpolitik“ kann dies bestätigen. Die verantwortliche Tätigkeit von zahlreichen - auch gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen - Mitgliedern der „Gesellschaft für Soziale Reform“ in den politischen Organen der Nachkriegszeit betont und benennt die: „Ergänzung des Tätigkeitsberichtes 1913 - 1918 für die Zeit bis Frühjahr 1919“ der „Gesellschaft für Soziale Reform“. BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 3446, 125 f. 83 Vgl. grundlegend auch: Mommsen, Hans: Die verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang 1918 bis 1933. Frankfurt a.M., Berlin 1989, 13 ff. 84 Dieses Programm wird zitiert nach: Die deutschen Parteiprogramme, begründet von Felix Salomon. Heft 3: Das Deutsche Reich als Republik 1918 - 1930. 5. Aufl. hrsg. von Wilhelm Mommsen und Günther Franz. Leipzig und Berlin 1931, 2 - 9.

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kann der geschundenen Menschheit Frieden, Freiheit, wahre Kultur bringen. Nieder mit dem Lohnsystem! Das ist die Losung der Stunde. An Stelle der Lohnarbeit und der Klassenherrschaft soll die genossenschaftliche Arbeit treten.“85 Es wird die Abschaffung des bürgerlichen Eigentums und der damit verbundenen Produktionsweise, die „Ausbeutung und Raub“ bedeute und des Handels, der nur „Betrug“ sei, gefordert. An die Stelle der Arbeitgeber und ihrer „Lohnsklaven“ sollten „freie Arbeitsgenossen“ treten. Ein vollständiger „Umbau des Staates“ wird gefordert, eine „vollständige Umwälzung in den wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen der Gesellschaft“, nicht von Behörden, Kommissionen oder einem Parlament „dekretiert“, sondern von den „Volksmassen selbst in Angriff genommen und durchgeführt“. Die überkommenen Organe der bürgerlichen Klassenherrschaft, die Bundesräte, Parlamente, Gemeinderäte, seien durch „eigene Klassenorgane: die Arbeiterund Soldatenräte“ zu ersetzen. Diese bald hunderttausendfach verbreitete Schrift beschwört, daß die „proletarische Revolution“ kein „verzweifelter Versuch einer Minderheit“ sei, die Welt nach ihren Idealen zu modeln. Sie sei eine Aktion der „großen Millionenmasse des Volkes“, die berufen sei „...eine geschichtliche Mission zu erfüllen und die geschichtliche Notwendigkeit in Wirklichkeit umzusetzen.“86 Die Programmschrift des Spartakusbundes vergegenwärtigt ihren Lesern den unerbittlichen Widerstand der „Kapitalisten“. Diese würden lieber das Land in einen rauchenden Trümmerhaufen verwandeln, als freiwillig die Lohnsklaverei preiszugeben.87 Diese mit Gewalt-, Bürgerkriegs-, Tribunal- und Diktaturmetaphern durchsetzte Schrift kennt auch einige „Sofortmaßnahmen“ auf sozialem Gebiet: Die völlige rechtliche und soziale Gleichstellung der Geschlechter, eine „einschneidende soziale Gesetzgebung“, den „sechsstündigen Höchstarbeitstag“, eine sofortige gründliche Umgestaltung des Ernährungs-, Wohnungs-, Gesundheits- und Erziehungswesens „...im Sinne und Geiste der proletarischen Revolution“, Enteignungen, Konfiskationen, Übernahmen durch die Räterepublik. Darüber hinaus wird gefordert: „Wahl von Betriebsräten in allen Betrieben, die im Einvernehmen mit den Arbeiterräten die inneren Angelegenheiten der Betriebe zu ordnen, die Arbeitsverhältnisse zu regeln, die Produktion zu kontrollieren und schließlich die Betriebsleitung zu übernehmen haben... Einsetzung einer zentralen Streikkommission, die mit den Betriebsräten der beginnenden Streikbewegung im ganzen Reich die einheitliche Leitung, sozialistische Richtung und die kräftigste Unterstützung durch die politische Macht der A.und S.-Räte sichern soll.“88 Es gelte, so bekennt dieses Programm des Spartakusbundes, eine Welt zu erobern und gegen eine Welt anzukämpfen. In diesem „letzten Klassenkampf der Weltgeschichte um die höchsten Ziele der Menschheit“ gelte dem Feind das Wort: „Daumen aufs Auge und Knie auf die Brust!“89 Dieses martialische Programm, das eine neuartige Form politischer Herrschaft, ökonomischer Steuerung und gesellschaftlicher Strukturen will, ist die denkbar schärfste Negation des Prinzips des paritätischen Zusammenwirkens von Arbeit und Kapital. Es geht in ihm nicht um eine schrittweise Verbesserung der Lage der abhängig Beschäftigten, sondern um Erlösung, um historische Mission und damit legitimierte Gewaltanwendung. Die Frage, ob eine Lösung des „proletarischen Problems“ auf dem Boden der herrschenden Staats-, 85 Ebenda, 3. 86 Ebenda, 5 87 Vgl. ebenda, 5. 88 Ebenda, 8. 89 Ebenda, 9.

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Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung möglich sei oder nicht, wird von diesem Programm mit einem leidenschaftlichen Nein beantwortet. Damit ist der Standpunkt der Sozialreform verlassen, die sich doch stets auf der Linie einer „...Erträglichmachung des proletarischen Daseins durch Erweichung seiner Härte und Schwere, durch Beseitigung seiner Unsicherheiten...“90 bewege, sei es durch Schutz- und Sicherungsmechanismen, sei es durch die Fähigkeit der Arbeiterbewegung durch selbstgeschaffenes Recht, durch Tarifverträge auf die Lage der abhängig Beschäftigten einzuwirken. Die für die damaligen Gewerkschaftsführer akzeptable Sozialreform beinhaltet keine Verneinung der bürgerlichen Gesellschaft sondern ihre Bejahung und Stabilisierung durch Modifikation ihrer zur „Aufreizung“ Anlaß gebenden Strukturen. Statt auf revolutionäre Gewalt als Umgestaltungsweg, setzt die Sozialreform immer schon auf im Prinzip parlamentarische Verfahren zur Schaffung der Rechtsnormen, auf Verhandlung und Kompromiß in der sozialpolitischen Praxis, auf Institutionalisierung und Moderation von Konflikten in paritätisch besetzten Gremien gegebenenfalls unter Oberaufsicht des Staates als dem „neutralen Dritten“. Statt unversöhnliche und unerbittliche Feindschaft will sie Kooperation der Verbände von Arbeit und Kapital.91 Die Linie einer rein „gewerkschaftlich-staatssozialistisch-sozialreformerischen“ Strategie92 wird in den ersten Nachkriegswochen und -monaten nicht nur durch den zunächst noch unbedeutenden, von der USPD abgespaltenen Spartakusbund in Frage gestellt. Auch in den Massen selbst und in einem großen Teil ihrer nicht dem Spartakusbund zuzurechnenden Funktionäre lebt in den Tagen, Wochen und Monaten der ersten Nachkriegszeit die Idee eines über die „demokratische Sozialpolitik“ hinausweisenden „Sozialismus“, die „sozialistische Verheißung“ und damit auch die Idee der „Sozialisierung“ als große Vision eines besseren Lebens besonders intensiv. Es lebt auch die Auffassung von der Gerechtigkeit der Sache und die Zuversicht, eine bessere Existenzbasis so erreichen zu können. Dies paart sich mit der Überzeugung ganz überwiegend nur Opfer der bürgerlichen ökonomischen und politischen Ordnung zu sein. Dieser Vision gegenüber entfalten die sozialpolitischen Neuerungen und Versprechungen dieser Zeit keine durchgreifende und beruhigende Wirkung. „Große Teile der Industriearbeiterschaft ... hielten mit der politischen Revolution auch die Stunde der sozialen Revolution für gekommen, des Endes der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, deren Auswirkung sie jahrzehntelang am eigenen Leib erfahren und deren Abschaffung ihnen Sozialdemokratie und freie Gewerkschaften ebenso lange als säkulares Ziel vor Augen gestellt hatten.“93 Ausgerechnet die schon im „Kommunistischen Manifest“ von 1848 enthaltene Forderung nach „Aufhebung des Privateigentums“94, der Kern des Gothaer Programms von 1875 und des Erfurter Programms von 1891, die Neuregelung der „Eigentumsfrage“, hatte überhaupt keinen Niederschlag im Handeln der Revolu90 So ein Sprachbild bei: Briefs, Goetz: Das gewerbliche Proletariat. In: Grundriss der Sozialökonomik. IX. Abteilung. Das soziale System des Kapitalismus. I. Teil: Die gesellschaftliche Schichtung im Kapitalismus. Tübingen 1926, 142 - 240, hier: 231. 91 Vgl. dazu exemplarisch die Auffassungen bei: Umbreit, Paul: Sozialpolitische Arbeiterforderungen der deutschen Gewerkschaften. Ein sozialpolitisches Arbeiterprogramm im Auftrage der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands...Berlin 1918. Es ist begrifflich betrachtet mehr als unglücklich, daß die Einsicht in diese Zusammenhänge dazu führt, daß der Sozialpolitikwissenschaftler Eduard Heimann der staatlichen Sozialpolitik ein „konservativ-revolutionäres Doppelwesens“ zuschreibt; vgl.: Heimann, Eduard: Soziale Theorie des Kapitalismus. Theorie der Sozialpolitik. Frankfurt a.M. (1929) 1980, 167 ff. 92 Zum Begriff vgl.: Briefs, Goetz: Das Gewerbliche Proletariat...a.a.O.(=Anm. 90), 232. 93 Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm. 2), 619 94 Vgl.: Marx, Karl, Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei. 24., durchgesehene Auflage. Berlin 1965, 59.

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tionsorgane gefunden, war aber traditionell mit regelrecht chiliastischen Hoffnungen verbunden worden: „Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln - Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel - in gesellschaftliches Eigentum und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion kann bewirken, daß der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen aus einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger harmonischer Vervollkommnung werde. Diese gesellschaftliche Umwandlung bedeutet die Befreiung nicht bloß des Proletariats, sondern des gesamten Menschengeschlechts, das unter den heutigen Zuständen leidet.“95 Diese Tradition politischer Programmbildung und Agitation und der Zusammenbruch des Obrigkeitsstaates, der juristischen, politischen und polizeilich-militärischen Fesseln läßt nun zum Durchbruch kommen, was sich an Unzufriedenheit, Erbitterung, Wut, Enttäuschung und Haß gegen die Unternehmer und ihre Funktionsträger aufgestaut hat. Hinzu tritt die Erinnerung an die unternehmerische Kriegszielpropaganda, die Siegfriedens- und Durchhalteparolen, das Kriegsgewinnlertum gegenüber einer erschöpften Arbeiterschaft, die das Gefühl hat, ihre Arbeitskraft, ihr „Gut und Blut“ für die unmäßigen Ziele dieser „Herrenklasse“ und der verhaßten feudalisierten kaiserlichen Heeresführung hingeopfert zu haben.96 Noch bevor sich die Verhältnisse radikalisieren bzw. die organisierte extreme Linke Einfluß gewinnt,97 entsteht eine regelrechte Sozialisierungsbewegung und zahlreiche Institutionen bekennen sich aus unterschiedlicher Motivation zu diesem „unklaren“ Ziel. Schon am 6. November 1918 erhebt der Vorsitzende der Solinger USPD eine solche Forderung. Vier Tage später verlangen die Berliner Arbeiter- und Soldatenräte eine „rasche und konsequente Vergesellschaftung“ der Produktionsmittel. Die Bezirkskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte des Niederrheins und des westlichen Westfalens schließt sich 14 Tage später einer solchen Forderung an.98 Am 13. November erklärt sich die neue preußische Regierung für die „Vergesellschaftung der dazu geeigneten industriellen und landwirtschaftlichen Großbetriebe.“99 Ein Aufruf der Beauftragten der Arbeiter- und Soldatenräte der „drei größten sächsischen Städte“ äußert sich wenige Tage später in diesem Sinn,100 schließlich kündigt ein Aufruf der sächsischen Regierung vom 18. November 1918 die Vergesellschaftung der dazu geeigneten „kapitalistischen Unternehmungen in Landwirtschaft, Industrie und Handel und Verkehr“ an.101 Der überwiegend aus Anhängern der MSPD zusammenge95 Vgl. das Erfurter Programm der Sozialdemokratie in: Programme der deutschen Sozialdemokratie. Bonn o.J. (1963), 75 - 80, hier: 76. 96 Vgl.: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm. 2), 619 f. 97 Vgl. dazu: Feldman, Gerald D., Kolb, Eberhard, Rürup, Reinhard: Die Massenbewegung der Arbeiterschaft in Deutschland am Ende des Ersten Weltkrieges (1917 - 1920). In: Politische Vierteljahresschrift, 13(1972), 84 - 105, hier: 98 f. 98 Vgl.: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm. 2), 621. 99 Vgl.: Deutsche Tageszeitung vom 14.11.1918, zit. aus: BA Abt. Potsdam. 31.05 Sozialisierungskommission, Nr. 6/2, Bl. 51. 100 Vgl. ebenda, Bl. 56. 101 Vgl.: Schieck, Hans: Die Behandlung der Sozialisierungsfrage in den Monaten nach dem Staatsumsturz. In: Kolb, Eberhard (Hg.): Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Köln 1972, 138 - 164; hier: 144; weitere Hinweise zur Diskussion um die „Sozialisierung“ bzw. „Vergesellschaftung“ finden sich in den Bänden: Quellen zur Geschichte der Rätebewegung in Deutschland 1918/19. Herausgeber: Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Düsseldorf 1968 ff.

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setzte „Allgemeine Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands“, die Sozialisierungsfrage gelangt hier allerdings nur auf Grund des Drucks der Delegierten zur Beratung, faßt einen aus der MSPD-Fraktion eingebrachten Beschluß, die Regierung zu beauftragen „...mit der Sozialisierung aller hierzu reifen Industrien, insbesondere des Bergbaues, unverzüglich zu beginnen.“102 Christliche Gewerkschaften und konfessionelle Arbeitervereine, in der Vergangenheit unbedingte Parteigänger eines zu reformierenden Kapitalismus, schließen sich „Sozialisierungsforderungen“ an. Auch der Einbau der häufig in Opposition zu den Ausschüssen des Hilfsdienstgesetzes entstandenen Betriebsräte in diese Vorstellungen und Forderungen als Organe der Umsetzung der Vergesellschaftung ist keineswegs auf den Spartakusbund und die spätere KPD beschränkt. Schließlich setzt sich, obwohl die eigentliche Regierung, der „Rat der Volksbeauftragten“, in seinem Aufruf vom 12. November 1918 das Eigentum und die Aufrechterhaltung einer „geordneten Produktion“ verspricht, auch in Kreisen des Unternehmertums die Auffassung bzw. Befürchtung durch, irgendeine Form der „Sozialisierung“ sei nicht zu vermeiden.103 Die Vorstellungen zur „Sozialisierung“ hingegen variieren beträchtlich, sind in großem Umfange unklar und sind häufig weit entfernt von jenem zitierten gewaltgeprägten Enteignungs- und Entmachtungsprogramm des Spartakusbundes, von der Errichtung einer „ökonomischen Diktatur des Proletariats“.104 Sie entsprechen allerdings auch kaum den selbstgenügsamen arbeitsgemeinschaftlichen Mitbestimmungs- und Schlichtungsformen der „amtlichen“ staatlichen Sozialpolitik. Mitunter allerdings erfolgen Bekenntnisse zum „Sozialismus“ auch als rein propagandistische und loyalitätsheischende Zugeständnisse an den „Zeitgeist“ und um der Bewegung Kraft und Orientierung zu nehmen. Eine geradezu ungeheure Flut von verschieden ausgerichteten Publikationen und Plänen entsteht und ist der besonderen historischen Situation geschuldet.105 An ihr sind nicht nur Autoren der Arbeiterbewegung, sondern auch solche aus dem Bürgertum beteiligt. Sie schließt teilweise an die vielgestaltige Diskussion um die Zukunft der Wirtschaftsordnung an, die sich im Ersten Weltkrieg angesichts der kriegswirtschaftlichen Planung und der Funktionsmängel der Kriegswirtschaft herausgebildet hatte und die sich um die Übergangs- und die anzustrebende Form der Friedenswirtschaft rankte.106 So „diffus“ die Sozialisierungsbewegung und -diskussion auch ist, unternehmerische und unternehmernahe Kräfte suchen nicht nur den „Schulterschluß“ mit den Gewerkschaften, um Gefahren für die „freie“ Wirtschaft abzuwehren, sie entwickeln bereits im Jahre 1918 eine breite publizistische Ablehnungsfront. Sie plädieren gegenüber allen Formen der Bindung und Planung der Wirtschaft und zumal gegenüber aller „Sozialisierung“, die diesen Namen „zurecht“ trägt, für eine Wiederherstellung der früheren Wirtschaftsfreiheit und führen dafür zahlreiche Gründe an. Sie zeichnen vor allem ein wahres „Unschuldsbild“ der Ökonomie, betonen die Unentbehrlichkeit des Kapitalismus als allein den ökonomischen Zusammenbruch verhindernde und effektive Form der Organisation ökonomischer Prozesse, die schließlich auch den Arbeitern zugute komme und im Zusammenhang mit diesen abwehrenden Stellungnahmen fehlt nicht 102 Zit aus: Der Zentralrat der deutschen sozialistischen Republik 19.12.1918 - 8.4.1919. Vom ersten zum zweiten Rätegkongreß. Bearb. von Eberhard Kolb unter Mitwirkung von Reinhard Rürup. Leiden 1968, 5 f. 103 Vgl.: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm. 2), 622. 104 Vgl. dazu etwa auch: Kluge, Ulrich: Die deutsche Revolution 1918/1919. Frankfurt a.M. 1985, 91 ff.; Winkler, Heinrich August: Von der Revolution...a.a.O.(=Anm. 13), 191 ff. 105 Diese ist teilweise aufgearbeitet bei: Novy, Klaus: Strategien der Sozialisierung. Die Diskussion der Wirtschaftsreform in der Weimarer Republik. Frankfurt, New York 1978. 106 Vgl. dazu: Zunkel, Friedrich: Industrie und Staatssozialismus...a.a.O.(=Anm. 64).

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der Hinweis auf die katastrophalen „Ergebnisse der bolschewistischen Volkswirtschaft in Rußland.“107 Von einem Zusammenbruch der Märkte, von Verelendung, Vertreibung und Verarmung des Wirtschaftsbürgertums, von Hungersnöten usw. ist die Rede. Vor dem revolutionären Hintergrund jener Tage setzt eine geradezu ungeheure Begriffs- und Konzeptverwirrung um „Sozialisierung“ bzw. „Vergesellschaftung“ ein. „Prophetisch“ formuliert ein Vertreter der überkommenen Wirtschaftsordnung: „Will die neue Demokratie nicht neue Kräfte entbinden, die schliefen oder nicht zur Geltung kamen, sondern selbst die vorhandenen gebunden der Staatswirtschaft überliefern, so wird ein künftiges Geschlecht von sozialdemokratischen Arbeitern ihren Vätern fluchen, die ihnen eine Fata Morgana vorspiegelten, um sie in die Wüste zu stoßen.“108 Die Tatsache, daß sowohl die reformistischen Gewerkschaftsführer als auch weite Kreise der bürgerlichen Kräfte mit dem Schreckgespenst des „Bolschewismus“ abwehrend gegen weitreichende Veränderungen in der Nachkriegsgesellschaft argumentieren, ist im Deutschen Reich nicht ohne „Pikanterie“. Seit Anfang 1915 förderte der preußischdeutsche Militärstaat Maßnahmen, die das Ziel hatten, die bereits reichlich vorhandenen revolutionären Tendenzen in der russischen Kriegsgesellschaft zu verstärken und sodann die revolutionären Zustände zu festigen mit vielen Millionen Goldmark. Diese Aktionen gipfelten schließlich in jener Eisenbahnfahrt Lenins und seiner etwa 30 Genossen von der Schweiz nach Petrograd (St. Petersburg). Das Deutsche Reich trieb damit die Geschichte absichtsvoll auf den Untergang des Zarenreiches und auf die „erste siegreiche sozialistische Revolution der Geschichte“, auf die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ von 1917 zu.109 An dieses wahrhaft „weltgeschichtliche Ereignis“, das den Mittelmächten den BrestLitowsker (Diktat-)Frieden vom 3. März 1918 brachte, war von vornherein die Hoffnung geknüpft, nicht nur einen großen Einflußraum im Osten zu bekommen und Rußland wesentlich zu schwächen, sondern auch militärische Kräfte vom Osten mit dem Ziel der Erringung eines „Siegfriedens“, an die Westfront werfen zu können. Die Folgen dieses ganz besonderen Vabanquespiels der damaligen „Eliten“ geben im Deutschen Reich nicht nur den zunächst demokratisch orientierten Räten ihren Namen.110 Sie geben bald auch den Forderungen der am russischen Beispiel und an den Direktiven der „Kommunistischen Internationale“ (Komintern) orientierten Arbeiterbewegung Inhalt und Ausrichtung. Darüber hinaus ist mit dem Jahre 1917 eine neue internationale Konstellation als Rahmenbedingung jeder Sozialreform und jeder Politik überhaupt entstanden. Vor dem Hintergrund entsprechender Forderungen aus der „Revolutionsgesellschaft“ verkünden nunmehr auch die neuen Machthaber im „Rat der Volksbeauftragten“, ein „sozi107 Vgl. die anonyme Flugschrift: Die Ergebnisse der bolschewistischen Volkswirtschaft in Rußland. In: BA Abt. Potsdam. 31.05 Sozialisierungskommission, Nr. 6/2, Bl. 34 f. Dort auch weitere einschlägige befürwortende und ablehnende Flugschriften. Weiteres interessantes Material aus späterer Zeit findet sich ebenda, Akte Nr. 6/1. 108 Soziale oder sozialistische Republik? In: Die Textil Woche (1918)47; zit. aus: BA Abt. Potsdam. 31.05 Sozialisierungskommission, Nr. 6/2, Bl. 56 RS. 109 So einige offizielle Formeln aus der Anschauungsweise dieser Ereignisse in der DDR; vgl. das Stichwort „Große Sozialistische Oktoberrevolution“. In: Wörterbuch der Geschichte. Band I, A - K. Berlin 1984, 427 - 435. Der ganze Vorgang der Förderung der revolutionären Umwälzung ist nunmehr unter Abdruck der wesentlichen deutschen Dokumente wiedergegeben bei: Heresch, Elisabeth: Das Zarenreich. Glanz und Untergang. Bilder und Dokumente von 1896 bis 1920. München 1991, insbes. 184 ff.; vgl. insgesamt zu dem durch diese Vorgänge ausgelösten „Bolschewismus“ bzw. „Antibolschewismus“ in Deutschland: Merz, Kai-Uwe: Das Schreckbild. Deutschland und der Bolschewismus 1917 bis 1921. Frankfurt a.M. 1995. 110 Vgl. dazu auch: Rürup, Reinhard: Demokratische Revolution und „dritter Weg“. In: Geschichte und Gesellschaft, 9(1983), 278 - 301, hier: 291.

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alistisches Programm“ verwirklichen zu wollen und beschließen am 18. November 1918, daß diejenigen Industriezweige, „...die nach ihrer Entwicklung zur Sozialisierung reif sind, sofort sozialisiert werden sollen.“110 Die praktische Konsequenz ist jedoch nur die Einsetzung einer „Sozialisierungskommission“, die am 5. Dezember dieses Revolutionsjahres unter dem Vorsitz des sozialdemokratischen Theoretikers Karl Kautzky zu ihrer ersten Sitzung zusammentritt. Stellvertretender Vorsitzender ist der ehemalige Kriegs- und Flottenpropagandist und Sozialreformer Ernst Francke, der damalige Vorsitzende der „Gesellschaft für Soziale Reform.“ In einem gegenüber der eigenen Theorietradition und gegenüber der Linken höhnisch-zynischen Leitartikel des „Vorwärts“ vom 5. Dezember 1918 wird klargestellt, daß es die Aufgabe der Kommission sein soll, „...beruhigend zu wirken in dem Sinne, daß keine unvernünftigen Experimente zu befürchten sind...“ Die Kommission werde sich bewußt machen müssen, daß zu jeder Sozialisierung eine „konstituierte Nation“, ein „konstituierter Staat“, eine „konstituierte Gesellschaft“ vorhanden sein müsse. Die Ziele des „Sozialismus“ könnten nur in „ernster, geduldiger Geistesarbeit“ erreicht werden. Der Beitrag endet dementsprechend mit dem „Bergarbeiterspruch“: „Zeit lassen!“ Eifrig in ihrer Arbeit behindert wird diese Kommission von Beginn an vom Staatssekretär des „Reichswirtschaftsamtes“, von dem Freigewerkschaftler August Müller, der ein eingeschworener Gegner jeder Sozialisierung ist.111 Auch von der Zusammensetzung her ist dieses Gremium nicht geeignet, eine Umsetzung von Sozialisierungsideen zu forcieren. Sowohl der „Rat der Volksbeauftragten“ als auch das „Reichsarbeitsamt“ werden auf dem Gebiet der „Sozialisierung“ im Jahre 1918 nicht mehr spürbar aktiv.112 Auf diesem Gebiet ergibt sich somit eine wahrhaft erstaunliche Differenz zu den legislatorischen Aktivitäten auf den Feldern der Sozialpolitik, auf denen die Revolutionsregierung auf Vorläufer zurückgreifen und sich der Unterstützung der Reichsbürokratie, der „vernünftigen“ Gewerkschaften, der Unternehmerverbände und sonstiger Kräfte der Sozialreform bedienen konnte.113 Was die Umsetzung und die Details der „Vergesellschaftung“ anbetrifft, sind die Gewerkschaften, die MSPD aber auch die weiter linksstehenden Kräfte erkennbar weitgehend konzeptionslos mit den Auswirkungen ihrer alten Programmatik und Agitation konfrontiert worden. Die „Neue Gesellschaft“ war im Grunde nie von der Ebene der blendenden und verlockenden Metaphorik auf umsetzbare Schritte hin konkretisiert worden.114 Das Wort von der „Vergesellschaftung der Produktionsmittel“ und die Parteiprogrammatik waren Leerformeln, auf die sich zu Zeiten der „Fundamentalopposition“ alle Richtungen des „Sozialismus“ einigen konnten. Schon im Jahre 1912 hatte der spätere wissenschaftliche Mitarbeiter der „Sozialisierungskommission“, Karl Korsch, daraus den weitsichtigen Schluß gezogen: „Die Inhaltslosigkeit der sozialistischen Formel für die Organisation der Volkswirtschaft war und ist solange unschädlich, als die praktische Wirksamkeit des Sozialismus auf die Bekämpfung und Beseitigung von bestehenden Mißständen beschränkt ist. Sie wird schädlich, sobald der Augenblick gekommen ist, wo der Sozialismus irgendwo irgendwie die Regierung antritt und nun aufgefordert wird, die sozialistische Organisation der Volkswirtschaft zu vollzie110 Zit. nach: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm. 2), 626. 111 Vgl.: Winkler, Heinrich August: Weimar...a.a.O.(=Anm. 24), 47; der Leitartikel des „Vorwärts“ findet sich auszugsweise als Dokument 229 in: Dokumente und Materialien...a.a.O.(=Anm. 28), 538 f. 112 Zu den Einzelheiten vgl.: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm. 2), 626 ff. 113 Zu der Konfusion, die die Diskussion der „Sozialisierungsfrage“ auf einer Sitzung des „Vereins für Sozialpolitik“ im September 1919 verursacht vgl.: Die Sozialisierungsfrage im Verein für Sozialpolitik. In: Soziale Praxis,29(1919)1, Sp. 9 - 11. 114 Vgl. dazu: Novy, Klaus: Strategien...a.a.O.(=Anm. 105), 13 ff.

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hen. Würde dieser Augenblick heute irgendwo eintreten, so würde er den Sozialismus unvorbereitet finden; der Sozialismus müßte bekennen, daß er eine ausreichende Konstruktionsformel für die Organisation der Volkswirtschaft noch nicht gefunden hat.“116 Das Schicksal der „Sozialisierungsbewegung“ ähnelt damit jenem der „Rätebewegung“, die ebenfalls keinen positiven Niederschlag in den Rechtsquellen der Revolutionsorgane findet. So bleiben auch die Aktionen auf beiden Gebieten, die „wilden Sozialisierungen“ ebenso wie die Betriebsräte der ersten Nachkriegszeit auf Sand gebaut.117 Diese beiden durch die sozialreformerischen Maßnahmen der ersten Nachkriegszeit noch nicht „erledigten“ Materien werden die sozialpolitische Diskussion der Weimarer Republik noch eine ganze Weile bewegen. Das geschieht allerdings vor einem weitgehend veränderten politischen Hintergrund. Die führenden Kräfte der in der Revolutionszeit schwer um ihren Einfluß ringenden „gemäßigten“ sozialdemokratische Arbeiterbewegung verfolgen die bereits in den letzten Tagen des Kaiserreichs geborene Strategie der frühestmöglichen Wahl zu einer deutschen Nationalversammlung. Sie erwirken einen entsprechenden Beschluß des „Allgemeinen Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands“, der als Wahltermin bereits den 19. Januar 1919 vorsieht.118 Sie verfolgen damit ein Ziel, das auch von bürgerlichen, konservativen und reaktionären Kräften mit der Absicht der Beendigung der Revolution und der Rückkehr zu „Ruhe und Ordnung“ angestrebt wird. Der Vorstand der MSPD lehnt darüber hinaus, wie er dem Vorstand der USPD bereits am 9. November 1918 mitteilt, jede „Diktatur eines Teils einer Klasse“, hinter der nicht die „Volksmehrheit“ stehe, ab.119 Sie muß schon bald nach der Wahl feststellen, daß nunmehr nichts erreicht, durchgesetzt und beschlossen werden kann „...wozu nicht am Ende auch die bürgerlichen Mehrheitsparteien ihre Zustimmung geben.“120 Damit ist gleichzeitig ein „Reformkorridor“ umrissen, in den die großen Hoffnungen, Ideale und Utopien des Sozialismus nicht passen, mögen sie nun, rückblickend betrachtet, Wunschbilder und lediglich schöne „Sprachgestalten“ gewesen sein oder auch nicht. Dies alles ist Ausdruck eines Verhaltens der Revolutionsregierung, die die offensichtliche „Plastizität“ der inneren Verhältnisse nicht ausnutzt, um die von der Arbeiterbewegung errungenen Machtpositionen zu festigen und um der kommenden Weimarer Republik eine festere Basis zu verschaffen. Eine Unterminierung der ökonomischen Basis der besonders gewerkschafts- und demokratiefeindlichen Kräfte durch eine auch ökonomisch machbare Teilsozialisierung in der Grundstoffindustrie oder durch eine Bodenreform,121 eine Etablierung eines relativ machtvollen wirtschaftlichen Rätesystems, eine durchgreifende Demokratisierung der Verwaltung durch Ausnutzung des demokratischen Potentials der politischen Rätebewegung, eine Demokratisierung der Armee und weitere Maßnahmen der dauerhaften Machfestigung unterbleiben während der vorkonstitutionellen Zeit.122 Statt dessen wird im 116 Korsch, Karl: Politische Texte. Hrsg. und eingeleitet von Erich Gerlach und Jürgen Seifert. Frankfurt a.M., Köln 1974, 17 - 21, hier:18. 117 Vgl. in diesem Zusammenhang: Kolb, Eberhard: Rätewirklichkeit und Räte-Ideologie in der deutschen Revolution von 1918/19. In: Kolb, Eberhard (Hg.): Vom Kaiserreich...a.a.O.(=Anm. 14),165 - 184. 118 Dieser Beschluß findet sich in: Der Zentralrat...a.a.O.(=Anm. 102),1. 119 Vgl. dazu den Abdruck eines Briefes an den Vorstand der USPD in: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands abgehalten in Weimar vom 10. bis 15. Juni 1919. Berlin 1919, 11 f. 120 Ebenda, 56. 121 Vgl.: Winkler, Heinrich August: Weimar...a.a.O.(=Anm. 24), 47. 122 Dieses ist auch die Kritik, die aus demokratischer bzw. kritisch sozialdemokratischer Sicht an den Verhaltensweisen der „Revolutionsorgane“ geäußert wird; vgl. schon: Rosenberg, Arthur: Geschichte der Weimarer

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Grunde das alte Kriegsbündnis von „gemauserter“,123 „vernünftiger“ Arbeiterbewegung, alter Bürokratie, Unternehmertum und gemäßigt bürgerlichen Parteien fortgesetzt. Herausforderungen „von links“ in einer wirtschaftlich, politisch und sozial labilen Situation sind nur zu geeignet, dieses Bündnis zu festigen. Hinzu kommt die Kooperation mit und die Konsolidierung der alten Militärmacht. Als im Januar 1919 der „Spartakusaufstand“ von Freikorps unter der Verantwortung des nach dem Ausscheiden der USPD neu in den „Rat der Volksbeauftragten“ eingerückten Mehrheitssozialdemokraten Gustav Noske niedergeschlagen wird,124 ist nicht nur der Graben zwischen den Trägern des Reformismus und des Radikalismus zementiert. Die militärische Macht profiliert sich in dieser „Marneschlacht der deutschen Revolution“125 auch erstmals deutlich wieder als innenpolitischer Ordnungsfaktor. Als Konsequenz all dieser Entwicklungen und Versäumnisse schiebt sich im Grunde schon jetzt eine sozialpolitisch reaktionäre, repressiv-aggressive Traditionslinie126 in den Vordergrund, die sich nur so lange um die „vernünftige“ Arbeiterbewegung zu „kümmern“127 gewillt ist, als sie glaubt, sich nicht anders gegen die „anstürmenden Massen“ und „unvernünftigen Betriebsbelegschaften“ verteidigen zu können. Gegenüber diesen grundlegenden und wegweisenden allgemein- und sozialpolitischen Weichenstellungen, nimmt sich ein anderer Komplex sozialpolitischer Maßnahmen im Jahre 1918 noch vergleichsweise „harmlos“ aus. Dieser verweist aber auf zwei Problemfelder, die die Sozialversicherungen in den folgenden Jahren in die schwerste Krise ihrer Geschichte stürzen werden. Einmal geht es darum, daß die Sozialversicherung in erheblichem Maße mit den Folgen des Krieges belastet wird. Die zu Beginn des Ersten Weltkrieges einsetzende Arbeitslosigkeit hatte die Einnahmen ebenso gemindert, wie die umfangreichen Einberufungen. Die große Zahl der Kriegsinvaliden und Gefallenen hatte nicht nur Trauer, Schmerz und Empörung in die „Heimat“ gebracht, sondern bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen auch schon im Kriege die Zahl der Kranken-, Invaliden- und Hinterbliebenenrenten vermehrt. Die im „vaterländischen Hilfsdienst“, d.h. in der Kriegswirtschaft tätigen Menschen waren bekanntlich in die Versicherung einbezogen worden. Die Anrechnung der Militärdienstzeiten war zu Lasten der Rentenversicherungsträger geregelt worden. Außerordentliche Fürsorgemaßnahmen wie zum Beispiel die Unterstützung des Roten Kreuzes, von Vereinen für „Kriegswohlfahrtspflege“, von Notstandsarbeiten, „Liebesgaben“ an die Kriegsteilnehmer waren mit den Geldern der Sozialversicherung finanziert worden. Die Heilstätten waren teilweise durch die Heeresverwaltung zur Behandlung und Pflege des

Republik. Hrsg. von Kurt Kersten. 14. unveränderte Auflage. Frankfurt a.M. 1961, 27 ff.; explizit die von Reinhard Rürup verfaßte Einleitung zu dem Band: Arbeiter- und Soldatenräte...a.a.O.(=Anm. 44), 7 ff.; natürlich auch: Winkler, Heinrich August: Weimar...a.a.O.(=Anm.24), 33 ff. und zahlreiche andere Autoren der bundesdeutschen Arbeiterbewegungsgeschichtsschreibung. 123 Zu diesem Sprachbild und den mit diesen Erscheinungen verknüpften Hoffnungen vgl. das 5. Kapitel des ersten Bandes. 124 Vgl. zum Ablauf: Miller, Susanne: Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918 - 1920. Düsseldorf 1978, 225 ff.; vgl. in diesem Zusammenhang auch die Sichtweise der Ereignisse aus der Perspektive eines Offiziers: Adjutant im Preussischen Kriegsministerium. Juni 1918 bis Oktober 1919. Aufzeichnungen des Hauptmanns Gustav Böhm. Stuttgart 1977, 127 ff. 125 So in Anschluß an einen damaligen Sprachgebrauch: Rosenberg, Arthur: Geschichte...a.a.O.(=Anm. 122), 61. 126 So eine Begriffsbildung und ein Ansatz bei: Longerich, Peter: Deutschland 1918 - 1933. Die Weimarer Republik. Handbuch zur Geschichte. Hannover 1995, 15. 127 Dies nur als summarischer Hinweis auf die zahlreichen Strategieerwägungen, Unterstützungsformen, Hilfsdienste für und Abkommen mit den gemäßigten Gewerkschaftsführern in den ersten Nachkriegswochen und -monaten ; einige finden sich bei: Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm. 2), 617 f., 756 ff.

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durch den Krieg „versehrten Menschentums“ belegt.128 Solche Einrichtungen erweisen sich schon während und auch nach dem Krieg als nur schlecht oder garnicht benutzbar, da es Schwierigkeiten der Brennstoff- und Lebensmittelversorgung gibt. Diese Unzulänglichkeiten der medizinischen Versorgung sind vor dem Hintergrund einer erhöhten Morbidität und Mortalität, zu der die Tuberkulose und die Grippeepedemie des Jahres 1918 mit 150.000 Toten129 wesentlich beiträgt, von großer tragischer Bedeutung. In reichlichem Maße haben die Sozialversicherungsträger zudem Kriegsanleihen gezeichnet.130 Vor dem Hintergrund dieser Ausgangssituation macht sich die mit dem Ersten Weltkrieg anlaufende Teuerung, die fortlaufende Entwertung des „Geldkapitalbesitzes“, die weitreichende und über die Sozialpolitik hinauswirkende allmähliche „Vernichtung des Rentenbesitzes“, egal ob dieser auf Sparguthaben, Staatsobligationen, Depositen oder Sozialversicherungsbeiträgen aufgebaut ist, in der Lebenshaltung der Sozialleistungsbezieher und anderer Gruppen bemerkbar. „Zulagenverordnungen“ auf dem Gebiet der Rentenversicherung, die bereits im Ersten Weltkrieg erlassen wurden,131 sollen die Verelendung der Rentner durch die Gewährung von Festbeträgen aufhalten. Die auf die Invaliden-, Witwenund Waisenrenten bezogene Regelung vom 3. Januar 1918 wird durch eine Verordnung vom 14. Dezember 1918 auch auf die die Empfänger von Altersrenten erstreckt und ansonsten verlängert.132 Eine ähnliche „Konstruktion“ wird erneut für die Verletztenrenten in der Unfallversicherung geschaffen.133 Diese Vorschriften stehen am Anfang einer ganzen Kette von ähnlich ausgerichteten Maßnahmen der Nachkriegszeit,134 die den Realwertverlust der Geldleistungen wohl verzögern aber nicht ausgleichen können. Geradezu symptomatisch für kommende Auseinandersetzungen ist eine andere Entwicklung auf dem Gebiet der Sozialversicherung. Die bereits im Aufruf des „Rats der Volksbeauftragten“ vom 13. November 1918 angekündigte Ausdehnung der Versicherungspflicht in der Krankenversicherung, die die Einnahmesituation dieses Sozialversicherungszweiges verbessern soll, die aber auch der Inflation Rechnung trägt und durch eine Verordnung vom 22. November 1918 erfolgt,135 führt zu so heftigen hochpolitisierten Auseinandersetzungen mit den Ärzten, die um ihre „lukrative“ Privatpraxis fürchten und sich 128 Vgl. in diesem Zusammenhang etwa auch: Krumeich, Gerd: Verstümmelungen und Kunstglieder. Formen körperlicher Verheerungen im 1. Weltkrieg. In: Sozialwissenschaftliche Informationen, (1990)2, 97 - 102. 129 Vgl. das Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages...a.a.O.(=Anm.119),6. 130 Zu den Inhalten dieses ganzen Absatzes finden sich zahlreiche, auch weitergehende und differenzierende Hinweise in: 1891 - 1991. 100 Jahre Arbeiterrentenversicherung in Bayern. München 1990, 39 ff.; 100 Jahre Landesversicherungsanstalt Oldenburg-Bremen 1890 - 1990. Oldenburg o.J. (1991), 129 ff.; Daniel, Andreas: Die Landesversicherungsanstalt Westfalen 1890 - 1990. Münster 1990, 54 ff.; 100 Jahre Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein. Band I. O.O., o.J. (Lübeck 1990), 64 ff.; Chronik der Landesversicherungsanstalt RheinlandPfalz 1890 - 1987. Speyer 1987, 39 ff.; Ein Weg bis in den Abgrund. Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz. Vom Kaiserreich zum Dritten Reich. Düsseldorf 1990, 34 ff.; 100 Jahre Arbeiterrentenversicherung in Oberfranken und Mittelfranken 1891 - 1991. O.O., o.J., 74 ff. 131 Vgl. die Hinweise in Unterkapitel 6.3 des ersten Bandes. 132 Vgl. die „Verordnung über die Gewährung von Zulagen an Empfänger einer Altersrente aus der Invalidenversicherung“ vom 14. Dezember 1918. RGBl. 1918, 1429; vgl. auch die „Verordnung über die Weitergewährung von Zulagen an Empfänger einer Invaliden-, Witwen- oder Wittwerrente aus der Invalidenversicherung“ vom 12. November 1918. RGBl. 1918, 1310. 133 Vgl. die „Verordnung über die Weitergewährung von Zulagen zu Verletztenrenten aus der Unfallversicherung“ vom 2. Dezember 1918 (RGBl. 1918, 1398). 134 Vgl.: Kleeis, Friedrich: Die Geschichte der sozialen Versicherung in Deutschland. Berlin-Lichterfelde 1928, 232 f. 135 Vgl. die „Verordnung über Ausdehnung der Versicherungspflicht und Versicherungsberechtigung in der Krankenversicherung“ vom 22. November 1918 (RGBl. 1918, 1321).

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als Berufsstand in ihrem Selbstverständnis bedroht fühlen, daß wegen übermäßiger Honorarforderungen ein vertragsloser Zustand droht: „Damit erschien eine ordnungsgemäße Versorgung der Kassenmitglieder ernstlich gefährdet, auch eine übermäßige Belastung der Kassen nahe gerückt...“136 Die Reichsregierung interveniert daraufhin mit einer „Verordnung zur Sicherung der ärztlichen Versorgung bei den Krankenkassen“ vom 23. Dezember 1918,137 die sowohl eine Fortgeltung des alten Vertrages vorsieht, als auch Erhöhungsmöglichkeiten, für die ein konfliktregelndes und -dämpfendes Schiedsverfahren vorgesehen ist.

1.2 Aufbau und Gliederung der Arbeit Auf dem Fundament dieser sozialpolitischen Vorentscheidungen der Zeit bis Ende 1918 erhebt sich der Bau der staatlichen Sozialpolitik der Weimarer Republik, von diesem Bauplan setzt sich ab 1933 die staatliche Sozialpolitik im „Dritten Reich“, setzt sich der „völkische Sozialstaat“ ab. Die damit zeitlich umrissene Epoche der Entwicklung des „demokratischen Sozialstaats“ ist von höchster Komplexität und überreicher Ereignisfülle.138 Der gewaltige Stoff verlangt nach weiterer Aufgliederung und mitunter müssen zusätzliche „Rückblenden“ auf Auseinandersetzungen und Maßnahmen eingefügt werden, die noch nicht oder nicht in angemessenem Umfang Gegenstand der Darstellung waren oder die an der gegebenen Stelle von besonderer erklärender Kraft sind. Ohne solche ergänzenden Rückgriffe wären manche Aspekte der kommenden sozialpolitischen Entwicklungen und Auseinandersetzungen schlicht unverständlich. Auch insofern gilt, daß die staatliche Sozialpolitik der Weimarer Republik nie lediglich das Ergebnis eines bestimmten Kontextes, sondern immer auch einer bestimmten Traditionen ist.139 Das zweite, das auf diese Einleitung folgende Kapitel, das die Entwicklung der staatlichen Sozialpolitik in der Weimarer Republik bis zum Beginn der Reichskanzlerschaft Brünings beinhaltet, zerfällt in zwei Unterkapitel und folgt damit einer inzwischen als „klassisch“ zu bezeichnende Einteilung dieses Entwicklungsabschnitts deutscher Geschichte. Das erste Unterkapitel handelt von den Anfangs- oder Krisenjahren der Republik, von den Jahren 1919 bis 1923. In diesen Zeitraum fallen weitere schwerwiegende, gewaltsame politische Auseinandersetzungen, die Entstehung der Verfassung, die Unterzeichnung des Vertrages von Versailles, Verschiebungen der sozialen und politischen Kräfteverhältnisse, soziale und fiskalische Probleme, Gebietsabtretungen und Gefahren für die Reichseinheit.140 Auch um das Ausmaß, um Sinn, Ziel und Gestalt der staatlichen Sozialpolitik wird (weiterhin) erbittert gestritten. Das zweite Unterkapitel behandelt „das beste Jahrfünft“, die „goldenen zwanziger Jahre“, die Zeit von der Währungs- und Wirtschaftsstabilisierung bzw. von der Konsolidierung bis zur Weltwirtschaftskrise, das heißt, es handelt von den Jahren 1924 bis 1929/30. Es ist die Phase einer innen- und außenpolitisch ruhigeren Ent-

136 Arbeitsrecht und Arbeiterschutz (einschließlich Militärversorgung)...a.a.O.(=Anm. 21), 55. 137 Vgl.: RGBl. 1918, 1454. 138 So im Vorwort seiner Schrift auf die Weimarer Republik bezogen: Kolb, Eberhard: Die Weimarer Republik. 4., durchgesehene und ergänzte Auflage. München 1998, IX. 139 Vgl. dazu etwa: Lorenz, Chris: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie. Köln, Weimar, Wien 1997. 140 Einen knappen Überblick bieten „natürlich“: Conze, Werner, Hentschel, Volker (Hg.): PLOETZ. Deutsche Geschichte. Fünfte, erweiterte und aktualisierte Auflage. Freiburg , Würzburg 1994, 251 ff.

Aufbau und Gliederung der Arbeit

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wicklung, die von einer wirtschaftlichen Erholung und leichten ökonomischen Aufwärtsentwicklung getragen wird.141 Das dritte Kapitel umfaßt einmal die sozialpolitische Entwicklung und die Auseinandersetzungen in der Zeit der Weltwirtschaftskrise und des Zerfalls der Republik. Es ist die Zeit der Präsidialregime (1930 - 1932/33), die mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 ihr Ende findet. 142 Es sind dies wieder Jahre der Radikalisierung des innenpolitischen Kampfes. Es ist die Zeit der Aufgabe der parlamentarischen Regierungsform und der Infragestellung der Republik durch die Kräfte von rechts.143 Diese Eckdaten der zeitlichen Untergliederung der Weimarer Republik stehen jeweils für ganz außergewöhnliche Umschlagpunkte in den ökonomischen, sozialen, monetären, fiskalischen und politischen Zusammenhängen mit weitverzweigten Folgen für die Entwicklung der staatlichen Sozialpolitik. Damit rückt die Darstellung begründet von stärker personenzentrierten Ansätzen ab, wie sie noch in der sozialpolitisch-historischen Literatur der frühen Bundesrepublik zu finden waren.144 So wie sich die Traditionen der „demokratischen Sozialpolitik“ der Weimarer Republik bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen lassen und wie sie ohne diese Traditionen nicht angemessen erklärt werden kann, so gilt dies auch für prägende Grundzüge jener „neuen“ Sozialpolitik, die unter dem NS-Regime praktiziert wird. Das dritte Kapitel dieser Arbeit dient deshalb nicht nur der Darstellung und Analyse der Krise und Agonie des Weimarer Sozialstaats, es stellt auch die immer „ungeduldiger“ zur Anwendung drängenden geistesgeschichtlichen Wurzeln und die Wegbereiter des nationalen bzw. des „völkischen Sozialstaats“ dar. Dies geschieht in der Form von zwei großen „Rückblenden“. Die eine befaßt sich mit bevölkerungspolitischen Dystopien, mit erb- und rassenpflegerischen Ansätzen und mit der „Eugenik“. Die andere „Rückblende“ erläutert und analysiert die „Werksgemeinschaftsdebatte“. Die umfassende Krisensituation in der Zeit der Präsidialdiktaturen verschafft diesen Ideen unübersehbar Auftrieb und Beachtung. Diese Ideen stellen so etwas wie eine zweite, eine explizit nichtkommunistische, häufig extremnationalistisch eingefärbte Negation des „Weimarer Wohlfahrtsstaates“ dar. 145 Die Träger dieser Ideen leisten dabei ihren „theoretischen“, teilweise auch praktischen Beitrag zur NS-Sozialpolitik ganz unabhängig davon, ob sie dieser „braunen Bewegung“ bewußt zuarbeiten, ob sie die141 Zur Ereignisgeschichte: ebenda, 259 f. 142 Vgl. ebenda, 260 ff. 143 Eine derartige Unterteilung der Weimarer Republik liegt schon der Darstellung von Preller zugrunde; vgl.: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm.1); auch die großen Darstellungen zur Arbeiterbewegungsgeschichte folgen diesem Zeitraster, wobei mitunter leichte Abweichungen hinsichtlich der zeitlichen Grenzen zu beobachten sind. Vgl. statt vieler: Winkler, Heinrich August: Von der Revolution zur Stabilisierung...a.a.O.(=Anm.13); derselbe: Der Schein der Normalität 1924 bis 1930. Berlin, Bonn 1986; derselbe: Der Weg in die Katastrophe 1930 bis 1933. Berlin, Bonn 1987. Auch die unverzichtbaren „Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert“ begründet von E. Matthias, hrsg. von H. Weber u. a., folgen diesem Schema. 144 Vgl. vor allem: Heyde, Ludwig: Abriß der Sozialpolitik. 3. und 4., verbesserte und ergänzte Auflage. Leipzig 1923; dieses „Standardwerk“ erlebte noch in der Bundesrepublik zahlreiche Neuauflagen. Das eine eher personenbezogene Historiographie aber durchaus auch ihren Stellenwert haben kann, zeigt vorbildhaft: Berlepsch, HansJörg von: „Neuer Kurs“ ...a.a.O.(=Anm. 72). 145 Dieser Begriff ist dem Titel der folgenden Schrift nachgebildet: Abelshauser, Werner (Hg.): Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat. Zum Verhältnis von Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Industriegesellschaft. Stuttgart 1987. Wegen der vielfachen Konnotationen dieses Begriffes zur Wohlfahrtspflege (d.h. zur Armenpflege) und wegen des Wertgehalts des Begriffsbestandteils „Wohlfahrt“, wird dieser Begriff, der wohl wesentlich als Rückübersetzung des entsprechenden englischen Terminus in den deutschen Sprachraum gekommen ist, von mir gemieden.

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Einleitung

ses Regime überhaupt erleben, sich ihm andienen, in ihm ihre Wirkungschance sehen und ergreifen, ob sie sich später zurückziehen, Formen des unangepaßten Verhaltens, des Verstummens, des Widerstands entwickeln oder sogar zu den Opfern des NS-Regimes zählen. Sowohl das zweite als auch das dritte Kapitel dieser Untersuchung wird durch ein Resümee abgeschlossen und abgerundet. Kurzgefaßt und auf einem höheren Abstraktionsniveau wird am Ende des zweiten Kapitels der Blick noch einmal auf die Eigenarten, Bedingungen, Strukturen und Entwicklungstendenzen der „demokratischen Sozialpolitik“ gelenkt. Einbezogen wird bewußt auch noch einmal die Fundamentalkritik an diesem „gewerkschaftlich-staatssozialistisch-sozialreformerischen Modell“, die von der Seite der „extremen Linken“ geäußert wird. Auf diese Weise kann dieser Sozialstaatstypus noch einmal genauer akzentuiert werden. Für eine solche Einbeziehung spricht auch, daß sozialpolitische Vorstellungen aus der kommunistischen Bewegung der Weimarer Republik im Rahmen der Teilung Deutschlands und Europas nach 1945 unter besonderen Bedingungen und in spezifischer Form Ort und Zeit der Realisierung bekommen haben;146 ein weites Feld, das in diesem Band jedoch nicht betreten werden soll. Die resümierende Betrachtung im Schlußteil des dritten Abschnitts hat eine anderen Funktion. Sie bietet eine akzentuierte und geraffte Fassung der großen Sozialstaatskrise gegen Ende der Weimarer Republik und einen konzentrierten Vorgeschmack auf die Grundstrukturen der Sozialpolitik, die im „Dritten Reich“ realisiert werden und die auch Gegenstand dieser Untersuchung wird. Der Darstellung und Analyse der staatlichen Sozialpolitik im „Dritten Reich“ ist, der grundsätzlich chronologischen Gliederung der Untersuchung entsprechend, das vierte Kapitel gewidmet. Schon die Tatsache, daß die „völkische Sozialpolitik“ des „Dritten Reiches“ eine derartige „Vorgeschichte“ hat, zeigt, daß sie kein „Betriebsunfall“ ist. Der zeitliche „Zuschnitt“ dieses Bandes ermöglicht es darüber hinaus, ein weiteres Mal den Übergang zwischen zwei „Sozialstaatsmodellen“ genauer zu analysieren. Auch diese Entwicklungsphase staatlicher Sozialpolitik wird in zwei Unterkapitel aufgegliedert, in die Sozialpolitik der Friedenszeit und in jene, die während des Zweiten Weltkrieges realisiert wird. Beiden Phasen ist zwar manches gemeinsam, so etwa, daß sie ohne die Gewerkschaftsbewegung auskommen und damit die überkommenen Formen der Konfliktartikulation und -regulierung negieren. Auch auf dem Gebiet der spezifischen „Arbeitsmarktpolitik“ gibt es deutliche Übergänge und Zusammenhänge. Daneben existieren aber auch Einschnitte und spezifische Entwicklungen, die eng mit dem Krieg zusammenhängen und die deshalb eine derartige Einteilung legitim erscheinen lassen.147 Das fünfte Kapitel bezieht sich auf die Ergebnisse der gesamten in diesem Band vorgenommenen Untersuchung. Hier wird vornehmlich die besondere Gestalt und der Wesensinhalt dieser Phase der Sozialstaatsentwicklung in der Kern- und Zentralzeit des von Eric Hobsbawm so bezeichneten „kurzen“ 20. Jahrhunderts verdeutlicht. Mit dem Ersten Weltkrieg erfährt die staatliche Sozialpolitik in Deutschland nicht nur eine zuvor nicht gekannte und praktizierte Ausdehnung, sie erlebt auch eine geradezu „inflationäre“ Tendenz in den sie regelnden rechtlichen Grundlagen. Vor diesem Hintergrund

146 Vgl. auf den Bereich der „sozialen Sicherung“ bezogen: Reidegeld, Eckart: Die Sozialversicherung zwischen Neuordnung und Restauration. Soziale Kräfte, Reformen und Reformpläne unter besonderer Berücksichtigung der Versicherungsanstalt Berlin (VAB). Frankfurt a.M. 1982. 147 Vgl. dazu: Reidegeld, Eckart: Krieg und staatliche Sozialpolitik. In: Leviathan, 17(1989)4, 479 - 526; bes. 502 ff.

Aufbau und Gliederung der Arbeit

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ist keine Darstellung, auch wenn sie das glatte Gegenteil von sich behauptet,148 vollständig. Auch dieser Band ist es ausdrücklich nicht. Allein für die Jahre von 1919 bis 1933 lassen sich problemlos weit über sechshundertfünfzig sozialpolitische Rechtsquellen von reichsweiter Bedeutung an Hand eines leicht erreichbaren Verzeichnisses ermitteln.149 Eine vollständige und an den Rechtsquellen orientierte Arbeit würde sich in der „Zumutung“ der Wiedergabe der Gesetzestitel einschließlich einer extremsten Kurzfassung der Inhalte dieser Vorschriften erschöpfen. Eine Einbeziehung der auf zahlreichen Gebieten zugelassenen oder erforderlichen Landesgesetze oder gar noch der Satzungen der Sozialleistungsträger, würde jede Darstellung sprengen. Eine strikte Orientierung an der zeitlichen Struktur der Gesetzgebung würde den Sachzusammenhang der staatlichen Sozialpolitik zerschlagen und müßte sicherlich zu den ödesten historiographischen Verfahren gezählt werden. Dieser zweite Band ist vielmehr, wie schon der erste, im Rahmen einer chronologischen Grundstruktur auf Sachgebiete konzentriert. Dabei werden mit Blick auf die Arbeiter- und Angestelltenfrage und auf die herrschaftstheoretische Orientierung Schwerpunktbildungen vorgenommen. Raffungen und Dehnungen, die Konzentration auf besonders aussagekräftige sozialpolitische Aktionen sollen der Arbeit Spannung und Lebendigkeit vermitteln. Mitunter steht aber auch die allerdings auf bestimmte Teilgebiete bezogene Darstellung der Abfolge von Rechtsnormen relativ weit im Vordergrund. „Nebengebiete“, wie z. B. das Fürsorgewesen, werden nur dort ausführlicher behandelt, wo die Aussagekraft dieses Politikgebietes für die sozialpolitische Entwicklung von großer Bedeutung ist.150 Die Kriegsopferversorgung steht ebenso am Rande des Interesses,151 wie die Wohnungsbaupolitik und das Siedlungswesen.152 Was bleibt, ist jener Kernbereich der auf die „Arbeitsgesellschaft“ bzw. der auf das Arbeitsleben bezogenen Institutionen und Instrumente: Die Arbeitsverfassung im weiteren Sinne, der Arbeiterschutz, die Arbeitsmarktverfassung, die Sozialversicherungen. Damit entspricht dieser zweite Band der Sozialstaatsgeschichte auch von der inhaltlichen Orientierung her weitgehend dem ersten. Keineswegs ausgespart wird jedoch der engere Bereich der „Erb- und Rassenpflege“. Er stellt einmal einen speziellen Bereich der Sozialpolitik dar, zum anderen verbreiten sich die Erb- und Rassekonzeptionen

148 Vgl. z.B. die Behauptung, „sämtliche Gesetzesquellen“ wiederzugeben bei der ohne archivalische Quellen auskommenden Schrift von: Frerich, Johannes, Frey, Martin: Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Band 1. München, Wien 1993, V; gemeint sind wohl sämtliche Rechtsquellen, denn viele entscheidende Änderungen und Weichenstellungen in der Sozialpolitik dieser Zeit ergehen nicht in der Form eines Gesetzes. 149 Vgl. die Chronologie der Rechtsquellen bei: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm.16), 547 571. 150 Ausführlicher hat dieser Bereich seine Bearbeitung gefunden bei: Sachße, Christoph, Tennstedt, Florian: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Band 2: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871 bis 1929. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1988; dieselben: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Band 3: Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus. Stuttgart, Berlin, Köln 1992. 151 Vgl. dazu: Geyer, Michael: Ein Vorbote des Wohlfahrtsstaates. Die Kriegsopferversorgung in Frankreich, Deutschland und Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg. In: Geschichte und Gesellschaft (1983), 230 - 277; Kleinschmidt, Christian: „Unproduktive Lasten“: Kriegsinvaliden und Schwerbeschädigte in der Schwerindustrie nach dem Ersten Weltkrieg. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1994, Heft 2, 155 - 165; die neuere Kriegsbeschädigtenfürsorge begann „natürlich“ schon während des Ersten Weltkrieges; vgl. z.B.: Zusammenstellung der für die soziale Kriegsinvalidenfürsorge geschaffenen Einrichtungen. Hrsg. im Reichsamt des Innern. Berlin 1915. Seit 1916/17 erscheint, herausgegeben vom „Reichsausschuß der Kriegsbeschädigtenfürsorge“, die Zeitschrift „Die Kriegsbeschädigtenfürsorge.“ 152 Vgl. hierzu immer noch instruktiv: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 1), 67 ff.; 286 ff.; 332 ff.; 384 ff.; 483 ff.

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Einleitung

und die entsprechenden Praktiken in allen möglichen zentral oder eher randständig behandelten Gebieten der „völkischen Sozialpolitik“.

Die Sozialpolitik in den Krisenjahren der Republik

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2 Staatliche Sozialpolitik in der Weimarer Republik (19191930)

„Wir sehen damit heute Männer, wie Legien, Schlicke, Stegerwald, Hartmann, Höfle u.a. neben den führenden Köpfen unserer Industriellen gemeinsam an der Arbeit; damit soll einerseits dem Arbeiter die Förderung seiner Lebensbedingungen gesichert, andererseits aber den Bedürfnissen der wirtschaftlichen Lage der Industrie Rechnung getragen werden. Das Programm der so gebildeten Arbeitsgemeinschaft beginnt mit folgendem Satz: Durchdrungen von der Erkenntnis und der Verantwortung, daß die Wiederaufrichtung unserer Volkswirtschaft die Zusammenfassung aller wirtschaftlichen und geistigen Kräfte und allseitiges, einträchtiges Zusammenarbeiten verlangt, schließen sich die Organisationen der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammen. Das ist neudeutsche Wirtschaftspolitik, das ist Arbeit am deutschen Volk!“1 „Die Regierung will auch Betriebsräte schaffen, aber sie will ihnen die Rolle eines Prellbockes zwischen Unternehmertum und Arbeiterschaft zuweisen. Das Recht, m i t b e s t i m m e n d und k o n t r o l l i e r e n d auf den Produktionsprozeß einzuwirken, versagt sie den Betriebsräten. Das revolutionäre Proletariat dagegen will seine Betriebsräte zu energischen S a c h w a l t e r n d e r p r o l e t a r i s c h e n I n t e r e s s e n und zu W e g b e r e i t e r n d e r s o z i a l i s t i s c h e n W i r t s c h a f t s f o r m machen.“2 „…Sie werden in der Schrift, die Ihnen heute noch zugänglich gemacht wird, finden, auf wie viel Wegen wir bereits marschieren, wie stark unser Einfluß in der heutigen Wirtschaft und auf die Gestaltung der heutigen Wirtschaft bereits ist, und wie sehr wir daraus die Hoffnung schöpfen dürfen, daß wir auf diesem Wege weitermarschieren werden. Nur eins noch will ich herausheben. Nicht der schmalste Weg zur wirtschaftlichen Demokratie ist der über die Staatsmacht. Wirtschaftsdemokratie fordern heißt, in einem demokratischen Staat mitarbeiten! Die Verbundenheit der Gewerkschaftsbewegung mit dem Staat, die Bejahung des Staates, das ist durch unsere Forderung nach wirtschaftlicher Demokratie ganz wesentlich unterstrichen worden.“3

2.1 Die Sozialpolitik in den Krisenjahren der Republik 2.1.1

Die ökonomischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen 1919 - 1923

Auch die ökonomische Nachkriegssituation kann nur im Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen verstanden werden. Zunächst durchlebt die deutsche Wirtschaft einen Prozeß 1 Arbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Deutschlands. Zentralvorstand: Was will die Arbeitsgemeinschaft? BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 6497, Bl. 7. 2 Aufruf des „Vollzugsrats des Groß-Berliner Arbeiter-Rats“ mit dem Titel „An das deutsche werktätige Volk!“ vom August 1919. BA Abt. Potsdam. 31.05 Sozialisierungskommission, Nr. 6/2, unpag. 3 Auszug aus einer Entgegnung des Vorsitzenden des Deutschen Holzarbeiterverbandes, Fritz Tarnow (Berlin), auf einen marxistisch inspirierten Beitrag von Simon Krauß, der die Opposition im Deutschen Metallarbeiterverband vertritt; Protokoll der Verhandlungen des 13. Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands (3. Bundestag des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes). Abgehalten in Hamburg vom 3. Bis 7. September 1928. Berlin 1928, 211.

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tiefgreifender Umstrukturierung, der von Maßnahmen des Demobilmachungsamtes begleitet wird. Zahlreiche kriegsbegleitende und auf den Krieg bezogene Kontroll- und Lenkungsapparate und Vorschriften werden zurückgenommen. Es entsteht dadurch allerdings keine „staatsfreie“ Wirtschaft, eine solche gab es auch vor dem Ersten Weltkrieg nicht. Der Krieg hat vielmehr, auch nach der Rücknahme seiner wirtschaftslenkenden Strukturen, ein neues Niveau des Staatsinterventionismus zur Folge.4 So erweist sich der Erste Weltkrieg auch auf diesem Gebiet nicht als vorübergehende Episode, sondern als eine gewisse geschichtliche Grenze, als Beginn einer neuen Epoche. Einwirkungen des Staates erfolgen in bislang unbekanntem Ausmaß nicht nur über die „Hochflut“ der hier erläuterten sozialpolitischen Initiativen und Maßnahmen. Allen Diskussionen und Auseinandersetzungen, allen kriegs- und nachkriegswirtschaftlichen Eingriffen zum Trotz, bleiben im Ergebnis allerdings die kapitalistischen Grundstrukturen und die damit einhergehenden (Haupt-) Interessen „unberührt“. Die monströs angewachsenen Rüstungskonzerne werden zur Verkleinerung der Anlagen und Belegschaften durch die ausbleibenden Rüstungsaufträge gezwungen. Dies hat tiefgreifende Auswirkungen auf die mit diesen Branchen verbundenen Vorproduzenten und Lieferanten. Entlassungen und Wiedereinstellungen der zurückkehrenden Kriegsteilnehmer vollziehen sich mit teilweise erstaunlicher Geschwindigkeit.5 Zwar kommt es vorübergehend zu chaotischen Zuständen auf den Arbeitsmärkten und in den großen Städten, zu einem Anschwellen aller Formen der Fürsorgearbeit6 mit Massenspeisungen und Wohnungselend, mit Schwarzmarkt und Bewirtschaftungsstrategien.7 Im Zuge einer vorübergehenden Inflationskonjunktur, eines deutschen Nachholbedarfs, einer spezifischen, noch zu erläuternden Beschäftigungspoltik und eines entwertungsbedingten Anreizes für das Ausland, deutsche Waren aufzukaufen,8 kommt es im Deutschen Reich jedoch, nach einer Übergangsphase, in den Jahren von 1919 bis 1922 vorübergehend zu einer vergleichsweise günstigen Beschäftigungssituation. Im Jahre 1922 herrscht sogar Vollbeschäftigung.9 Diese Situation auf dem Arbeitsmarkt beinhaltet allerdings keine „auskömmliche“ Lebenslage der abhängig Beschäftigten. Im Jahre 1923 jedoch steigt die Arbeitslosigkeit, gemessen an der Zahl der arbeitslosen Gewerkschaftsmitglieder, auf 10,2 Prozent an.10 Die Arbeitsmarktsituation Deutschlands steht damit ab 1921 für einige Zeit im 4 Einen guten Überblick über die kriegsbezogenen Eingriffe bietet der: Frankfurter Wirtschaftsbericht für die Kriegsjahre 1914 bis einschließlich 1919 erstattet von der Handelskammer zu Frankfurt a.M. Frankfurt a.M. 1920, 13 ff.; vgl. zum erhöhten Interventionismus des Staates nach dem Ersten Weltkrieg den insgesamt theoretisch nicht uninteressanten Beitrag von: Lapinski, P.: Der „Sozialstaat“. Etappen und Tendenzen seiner Entwicklung. In: Unter dem Banner des Marxismus (1928)4, 377 - 418, hier: 377 f. 5 Vgl. dazu: Schwarz, Egbert F.: Vom Krieg zum Frieden. Demobilmachung in Zeiten des politischen und sozialen Umbruchs im Ruhrgebiet. Frankfurt a.M. 1995, 39 ff.; Knortz, Heike: Wirtschaftliche Demobilmachung 1918/22. Das Beispiel Rhein-Main-Gebiet. Frankfurt a.M. 1992. 6 Vgl. die Hinweise bei: Sachße, Christoph, Tennstedt, Florian: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Band 2. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1988, 68 ff. 7 Mai, Gunther: „Wenn der Mensch Hunger hat, hört alles auf.“ Wirtschaftliche und soziale Ausgangsbedingungen der Weimarer Republik (1914 - 1924). In: Abelshauser, Werner (Hg.): Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat. Stuttgart 1987, 33 - 62. 8 Vgl.: Dix, Arthur: Die gebundene Volkswirtschaft bei und nach Kriegsende. In: Handbuch der Politik. Vierter Band: Der wirtschaftliche Wiederaufbau. Dritte Auflage. Berlin und Leipzig 1921, 133 - 143, hier: 135. 9 Vgl. die Statistik bei: Petzina, Dietmar: Soziale und wirtschaftliche Entwicklung. In: Deutsche Verwaltungsgeschichte. Band 4: Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus. Stuttgart 1985, 39 - 66, hier: 45. 10 Die Grundlagen dieser statistischen Angaben sind allerdings sehr „unsolide“. Eine relativ zuverlässige Arbeitsmarktstatistik fehlt. Alle herangezogenen „Ersatzstatistiken“ sind fragwürdig. Auf die Schwächen der üblichen Statistiken und der daraus entwickelten Thesen hingewiesen zu haben, ist ein Verdienst der folgenden Beiträge: Knortz, Heike: Der Arbeitsmarkt in der frühen Weimarer Republik. Ein Beitrag zur „Vollbeschäftigungsthe-

Die Sozialpolitik in den Krisenjahren der Republik

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Gegensatz zu der Beschäftigungssituation in England und in den Vereinigten Staaten, zu Ländern, die eine Politik der Stabilisierung und „Liquidierung“ der Kriegsschulden nicht durch eine Betätigung des Inflationsmechanismus betreiben.11 Der Prozeß der deutschen Inflation, der mit der Einführung der Rentenmark am 15. November 1923 zum Abschluß kommt, ist von ambivalentem Charakter. Die Wirkung der Inflation ist nicht nur katastrophal, „...sie wirkte in Grenzen auch als Stabilisierungsfaktor, war Teil eines Regelungsmechanismus für soziale Konflikte.“12 Dieser im Grunde seit 1914 anlaufende Entwicklungsgang13 mit seiner Endphase, der „Hyperinflation“, die in den letzten Monaten des Jahres 1922 einsetzt, erspart es Deutschland in die „Weltwirtschaftskrise“ von 1920/21 hineingezogen zu werden. Er erlaubt es zudem, die revolutionäre Unzufriedenheit durch Lohnerhöhungen zu „befrieden“, die im Zuge einer ausgeprägten „Lohn-Preis-Spirale“ dann aber relativ schnell wieder aufgezehrt werden, ein Vorgang, der zu neuen Lohnforderungen und -steigerungen Anlaß gibt.14 So besteht heute im Rahmen einer kontroversen Diskussion die Auffassung, daß die beschäftigte und bezahlte Arbeiterschaft nicht gerade zu den krassen Verlierern der „milden“ Inflation gehört. Einige Beschäftigtengruppen gehören zweifellos zu den Gewinnern der Inflation. Aber, so eine gewichtige Auffassung, „...durch die langsam eintretende Verbesserung der Güterbedarfsdeckung wurde der Arbeiterschaft lediglich die notwendige physische Erholung von der Kriegsverelendung und Kriegserschöpfung gewährt, der Lebensstandard der Vorkriegszeit wurde nicht einmal annähernd wiederhergestellt...“15 Kraß verloren haben sicherlich die Sozialleistungsbezieher, Kapitalrentner, Sparer, Hypothekengläubiger und die Inhaber öffentlicher Anleihen.16 Während der Phase der Hyperinflation haben die „Kosten“ dieser Entwicklung den gesellschaftsstabilisierenden „Ertrag“ dramatisch überstiegen. Das Geld verliert in diesen Monaten zunehmend seine Funktion als Tausch- und Wertaufbewahrungsmittel. In Berlin etwa sieht sich die „Wucherpolizei“, die Abteilung W des Polizeipräsidiums, zu Eingriffen herausgefordert, als eigenartige Geschäftsgebahren der dortigen Kleinhändler zu „lebhaften Protesten des Pubse“ der Inflationsforschung. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (1997)1, 119 - 134; Rouette, Susanne: Die Realitäten der Zahlen. Arbeitsmarktstatistik und Politik zu Beginn der Weimarer Republik. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, (1993)1, 133 - 143; die Kontroverse um die Beschäftigungssituation 1919 - 1923 findet sich zusammengefaßt auch in der insgesamt vorzüglichen Arbeit von: Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenversicherung in der Weimarer Republik 1918 - 1927. Stuttgart 1992, 86 ff. 11 Vgl.: Petzina, Dietmar: Soziale...a.a.O.(=Anm. 9), 45. 12 Kolb, Eberhard: Weimarer Republik. Teil 3. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 43(1992), 699 721; hier: 699; der Verfasser bezieht sich auf Ergebnisse der neueren Inflationsforschung. Vgl. dazu z.B.: Feldman, Gerald D.: Vom Weltkrieg zur Weltwirtschaftskrise. Studien zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1914 - 1932. Göttingen 1984, 55 ff.; Feldman, Gerald D., Holtfrerich, Carl-Ludwig, Ritter, Gerhard A., Witt, Christian (Hg.): Die deutsche Inflation. Eine Zwischenbilanz. Berlin, New York 1982; vgl. auch die Hinweise in der Einleitung von: Ruck, Michael (Bearb.): Die Gewerkschaften in den Anfangsjahren der Republik 1919 - 1923. Köln 1985, 19 f. 13 Der Prozeß der Inflation geht einher mit jenen Störungen in der Noten- und Münzversorgung, die schon im Ersten Weltkrieg beginnen und die dazu führen, daß Städte, Truppenteile, Firmen usw. Not- bzw. Ersatzgeld ausgeben, um Zahlungen leisten und empfangen zu können; vgl. zum Notgeld während des Krieges die zeitgenössische, historisch orientierte Arbeit von Eisenach, Max: Das Kriegsnotgeld. In: Antiquitäten Zeitung, 27(1919)10, 73 - 74; Teil II in Heft 11: 82 - 83; zur späteren Notgeldpraxis: Münch, Georg: Geldnot und Notgeld. In: Vossische Zeitung, 3. Beilage, Nr. 451 vom 23.09.1923. 14 Vgl. zusammenfassend zu den neueren Ergebnissen der Inflationsforschung: Kolb, Eberhard: Die Weimarer Republik. München 1998, 187 ff. 15 Derselbe, ebenda, 192; vgl. zu der insgesamt kontroversen Diskussion auch: Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 83 ff. 16 Vgl.: Kolb, Eberhard: Die Weimarer Republik...a.a.O.(=Anm. 14), 191.

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likums“ Anlaß geben. Obwohl der Kleinhandel zu dieser Zeit verpflichtet ist, sich 24 Stunden an vom Großhandel festgesetzte Preise zu binden, richtet dieser einen ganz besonderen „Kurierdienst“ ein: „Die Markthallen und ebenso die Großhandelsfirmen, die über eine Anzahl Filialen verfügen, stehen mit der Börse laufend in Verbindung, und man sieht halbstündlich in den Hallen Leute aufgeregt durch die Gänge eilen, die den Standinhabern die letzten Kurse zurufen und ihnen sogar, natürlich nach oben abgerundet, die Prozentsätze mitteilen, die aufzuschlagen sind. Die Händler kommen auch prompt nach, und eine Minute später sind bereits die Preisaushänge verschwunden und durch die entsprechenden neuen Aufschläge ergänzt. So ist es durchaus nichts Seltenes, daß in den Markthallen gegenwärtig die Preise am Tage 5 - 6 mal wechseln.“17 Landwirte zeigen sich in der Phase der Hyperinflation wenig geneigt, ihre Produkte, insbesondere wenn es sich um relativ wertbeständige, nicht verderbliche Waren handelt, in größeren Mengen gegen das labile Papiergeld abzugeben. Der Landwirt verkauft unter diesen Bedingungen „...im allgemeinen nur insoweit, als er den Erlös sofort wieder zu Steuer- und Lohnzahlungen, zu Anschaffungen und dgl. verwenden kann.“18 Schon am folgenden Tag können die Umsatzerlöse weitgehend entwertet sein. Die Kopplung der Verkaufspreise an den in der Tendenz immer ungünstiger werdenden, sich aber sprunghaft entwickelnden Dollarkurs, führt zu plötzlichem Geldmangel der Käufer, zu mehr oder weniger unerschwinglichen Preisen bei vorhandener „Warenfülle“ und zu der besonders verbitternden Erfahrung, daß die Preise bei vorübergehend günstigeren Kursen keineswegs oder nur zögernd zurückgenommen werden.19 Zwischen Verkäufern und Käufern „...lauert Mißtrauen und verhaltene Feindseligkeit. Hier und dort, dann und wann bricht ein Gewitter los, erfüllen Blitz und Donner die Hallen.“20 Häufig finden sich in der Presse dieser Zeit der Hyperinflation Hinweise auf „Selbstmorde infolge von Nahrungssorgen“ oder infolge des wirtschaftlichen Ruins bestimmter selbständiger Existenzen.21 Teuerungsproteste als Formen „unorganisierten Verzweiflungskampfes“ und Teuerungsunruhen sind während der gesamten Zeit des Währungsverfalls weitverbreitet. Extreme Erscheinungsformen, wie die Plünderung von Lebensmittelläden, mehr oder weniger willkürliche Konfiskationen von Nahrungsmitteln und Lebensmittelraub sind in dieser inflationären Nachkriegssituation nicht außergewöhnlich. Teuerungsdemonstrationen können in gewaltsamen Aktionen und mit entsprechenden Reaktionen der staatlichen Ordnungskräfte enden.22 Wer kann, kehrt zum Warentausch zurück. Löhne, Gehälter und Sozialleistungen müssen in immer kürzeren Abständen gezahlt und schleunigst ausgegeben werden, um überhaupt noch einen Gegenwert zu erhalten. Schon morgens holen Frauen an 17 Vgl. dazu: Eingreifen der Wucherpolizei. In: Vossische Zeitung. Berlin. Abendausgabe vom 13.09.1923. 18 Volksernährung und Währungsfrage. In: Berliner Börsen-Courier Nr. 445 vom Sonnabend, den 22. September 1923, 1. 19 Vgl.: Sinkender Dollar, steigende Preise. In: Berliner Tageblatt. Abend-Ausgabe Nr. 444 vom 21.09.1923. 20 Wulf, Erich: Erlebnisse in der Zentralmarkthalle. In: Berliner Tageblatt. Morgenausgabe, Nr. 449 vom 25.09.1923; vgl. auch: Lefèvre, Andrea: Lebensmittelunruhen in Berlin 1920 - 1923. In: Gailus, Manfred, Volkmann, Heinrich (Hg.): Der Kampf um das tägliche Brot. Opladen 1994, 346 - 360. 21 Vgl.: Berliner Lebensmittelpreise. Markenfreies Brot 14 - Butter 60 Millionen. In: Berliner Börsen-Courier Nr. 442 vom 20.09.1923; die amtliche Statistik stützt diese „Befunde“ allerdings nicht; vgl. die entsprechende Statistik bei: Petzina, Dietmar, Abelshauser, Werner, Faust, Anselm: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. Band III. München 1978, 136. 22 Vgl. dazu: Geyer, Martin H.: Teuerungsprotest und Teuerungsunruhen 1914 - 1923. In: Gailus, Manfred, Volkmann, Heinrich (Hg.): Der Kampf ...a.a.O.(=Anm. 20), 319 - 345; derselbe: Teuerungsprotest, Konsumentenpolitik und soziale Gerechtigkeit während der Inflation: München 1920 - 1923. In: Archiv für Sozialgeschichte, 30(1990), 181 - 216.

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Fabriktoren den Lohn der Männer ab, um ihn schnell in Waren umzusetzen. Obwohl zahlreiche Druckereien Reichsbanknoten mit immer gigantischeren Zahlen bedrucken, reichen die Barmittel nicht und müssen dort in großem Umfang durch Notgeld ergänzt werden, wenn Unruhen vermieden werden sollen. Ein regelrechtes Inflationstrauma soll ausgehend von dieser Zeit den Handlungsspielraum der deutschen Politik nicht unwesentlich beeinflussen und selbstverständlich spielen die Exzesse des Währungsverfalls eine prominente Rolle bei der Delegitimation der Weimarer Republik und in der Agitation von Kräften, die die politische, ökonomische und soziale Ordnung der damaligen Zeit grundlegend verändern wollen. So liegt z. B. dem von Linkskräften beherrschten Reichsbetriebsräte-Kongreß, der vom 23. bis 25. November 1922 in Berlin stattfindet, eine von der KPD überreichte Schrift vor, die typisch für die Agitation dieser Partei ist. Der „wilde Tanz der Preise“ wird als Treiben einer „kleinen Minderheit“ qualifiziert, welche die Volksmehrheit seelenruhig in Hunger, Kälte, in Dreck und Seuchen verkommen lassen möchte.23 Die Schrift sieht große Teile der Bevölkerung mit „mathematischer Sicherheit“ zum Hungertod verurteilt. Als Ausweg wird eine zu erkämpfende „Arbeiterregierung“ gefordert. Die „Krisenjahre der Republik“ beinhalten zunächst einen überwiegend scheinbaren Anstieg, anschließend vor allem aber einen Zerfall der Macht der Arbeiterbewegung. Die Gewerkschaften erleben in diesem Sinne in der ersten Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eine „Scheinblüte“.24 Während den Freien Gewerkschaften 1918 rund 2,87 Millionen Mitglieder angehören, eine Zahl, die etwas höher als der letzte Vorkriegsstand ist, gehören dieser Gewerkschaftsrichtung 1919 rund 7,34 Millionen und im Jahre 1920 etwas über acht Millionen Mitglieder an. Diese Zahl sinkt im Zuge der Hyperinflation auf rund die Hälfte. Auch die anderen Gewerkschaftsrichtungen machen eine erhebliche und im Verlauf recht ähnliche Entwicklung durch. Der „Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften Deutschlands“ verdoppelt in der Nachkriegszeit seine Mitgliederzahl auf rund eine Millionen Menschen und verliert, beginnend mit dem Jahre 1923, ebenfalls erheblich an Einfluß. Ähnliche Zusammenhänge gelten für den „Verband der deutschen Gewerkvereine“ d.h. für die allerdings weniger bedeutenden Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften.25 Vor die Tatsache der allgemeinen Ausweitung der staatlichen Sozialpolitik und der kollektiven Regelung der Arbeits- und Entlohungsbedingungen gestellt, expandiert auch die „Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“. Beschäftigten die Mitglieder dieses Verbandes 1918 rund 2,5 Millionen Arbeitnehmer, so sind es Ende 1919 bereits rund vier und 1920 acht Millionen abhängig Beschäftigte.26 Zeitlich parallel zu diesen Entwicklungen in den 23 Vgl.: Wie retten wir uns vor dem Untergang? Denkschrift, dem Reichsbetriebsrätekongress überreicht von der Kommunistischen Partei Deutschlands. Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BA). Bestand: Kommunistische Partei Deutschlands. Zentralkomitee (KPD/ZK). I 2/708/118, Bl. 295. 24 So die Begriffswahl bei: Tenfelde, Klaus, Schönhoven, Klaus, Schneider, Michael, Peukert, Detlev J. K.: Geschichte der deutschen Gewerkschaften. Von den Anfängen bis 1945. Köln 1987, 284. 25 Vgl. zu diesen Zahlen und Abschätzungen, die sich auf den Mitgliederstand jeweils zu Ende des Jahres beziehen: Petzina, Dietmar, Abelshauser, Werner, Faust, Anselm: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch...a.a.O.(=Anm. 21), 111; weiteres Zahlenmaterial auch bei: Tenfelde, Klaus, Schönhoven, Klaus, Schneider, Michael, Peukert, Detlev J. K.: Geschichte...a.a.O.(=Anm. 24), 323 ff. ; der freigewerkschaftliche ‘Allgemeine freie Angestelltenbund’ erreicht 1920 mit rund 690.000 Mitgliedern seien Höchststand, um in der Hyperinflation ebenfalls einen Rückschlag zu erleiden. 26 Vgl. die Angaben in der ganz aus der Arbeitgebersicht gefertigten Dissertation: Büren, Herbert: Arbeitgeber und Sozialpolitik. Untersuchung über die grundsätzliche Haltung des deutschen Unternehmertums gegenüber der Sozialpolitik in der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit. I. Band. Köln 1934, 118.

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Arbeitgeberverbänden und in den Gewerkschaften, die bei den Gewerkschaften erhebliche Rückwirkungen auf die Mitgliederstruktur und den Auf- und Abbau des Gewerkschaftsapparats haben, kommt es zu einer dramatischen Bewegung in den Wahlergebnissen der an der „Sozialreform“ orientierten Parteien. Die Wahlen zur Nationalversammlung am 9. Januar 1919 bringen der MSPD 37,9 Prozent und der USPD 7,6 Prozent der Stimmen. Die MSPD erreicht zusammen mit ihren Koalitionspartnern, dem Zentrum (19,7 %) und der Deutschen Demokratischen Partei (DDP, 18,5 %) eine rechnerische Mehrheit von 76,1 Prozent der Stimmen und 78 Prozent der Mandate für eine kompromißhafte Fortführung der neuen sozialpolitischen Ordnung in der Nationalversammlung, die auf Grund des „Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt“ vom 10. Februar 191927 nicht nur für die Verfassungs-, sondern für die Zeit ihrer Existenz, zusammen mit dem „Staatenausschuß“, auch für die „dringende“ Gesetzgebung zuständig ist. Die Gesetzgebung für die Zwecke der Übergangswirtschaft wird diesem Verfahren gegenüber noch einmal vereinfacht.28 Schon die Wahl vom Juni 1920 reduziert das Gewicht dieser „Weimarer Koalition“ ganz erheblich. Die MSPD, die gewaltig verliert, erreicht nur noch 21,7 Prozent und die USPD, die deutlich erstarkt, bekommt 17,9 Prozent der Stimmen. Das Zentrum erhält 13,6 und die DDP nur noch 8,3 Prozent der Stimmen. Damit verliert die „Weimarer Koalition“ auf der Ebene des Reiches bereits zu dieser Zeit ihre parlamentarische Mehrheit; sie wird diese nie wieder erlangen. Nach Beendigung der Inflation, bei den Reichstagswahlen im Mai 1924, fällt das Ergebnis für die SPD mit 20,5 Prozent der gültigen Stimmen noch schlechter aus. Die USPD, die in alter Form garnicht mehr existiert, da sich die Mehrheit schon lange mit der KPD und die Minderheit mit der SPD zusammengeschlossen hat, erreicht gerade mal 0,8 Prozent der Stimmen. Die KPD wächst unter diesen Bedingungen von 2,1 Prozent (im Juni 1920) auf 12,6 Prozent. Mit dieser geringen Stimmenzahl „...und erheblich dezimierten potentiellen Bündnispartnern der bürgerlichen Mitte war die SPD fast wieder auf den Vorkriegsstand einer isolierten Minderheit zurückgeworfen.“29 So wird, wie der Sozialdemokrat und Sozialpolitiker Ludwig Preller zutreffend beobachtet, die Inflation einmal der „Filter der Klarstellung“ der Wirtschaftsweise der Republik, weil sie wesentlich dazu beigetragen hat, in der ersten Nachkriegszeit Angriffe auf ihre kapitalistische Form abzuwehren.30 Zum anderen ergibt sich aus der voranstehenden Mitglieder- und Wahlergebnisarithmetik ein bedeutender Machtverlust der Arbeiterbewegung gleich zu Beginn der 20er Jahre, der sich, wie zu zeigen sein wird, auch auf dem Gebiet der „bürgerlichen Sozialreform“ hemmend und im Sinne eines „Rückbaues“ auswirkt. Die sozialdemokratischen Kräfte, die zunächst im „Rat der Volksbeauftragten“ allein die Regierungsgewalt inne hatten, sind bereits ab dem 20. Juni 1920 für ein knappes Jahr nicht mehr an einer Koalitionsregierung beteiligt. Sie gehören dann ab dem 9. Mai 1921 wieder den beiden Kabinetten des Reichskanzlers Joseph Wirth an. Mit dem Kabinett Wilhelm Cuno amtiert ein rein bürgerliches Parteibündnis und nach einem kurzen Zwischenspiel im Kabinett Gustav Stresemann (13.08. - 23.11.23), befindet sich die SPD lange Jahre

27 Vgl.: RGBl. 1919, 169. 28 Vgl. das „Gesetz über die vereinfachte Form der Gesetzgebung für die Zwecke der Übergangswirtschaft“ vom 17. April 1919. RGBl. 1919, 394. 29 Lehnert, Detlef: Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung und Regierungspartei 1848 bis 1983. Frankfurt a.M 1983, 137. 30 Vgl.: Preller, Ludwig: Sozialpolitik in der Weimarer Republik. Kronberg Ts., Düsseldorf 1978 (1949), 496.

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in der Opposition. Reichsarbeitsminister ist bald für die längste Zeit der Republik (1920 1928) der Zentrumspolitiker Heinrich Brauns.31 Während die Nationalversammlung in Weimar tagt, gerät im Jahre 1919 das „Rätesystem“ zu einer politischen Vorstellung, an der eine breite proletarische Massenbewegung mit geradezu „religiöser Inbrunst“ hängt. Auf ein solches „Rätesystem“ werden auch die Hoffnungsbilder vom „Sozialismus“ und von der „Sozialisierung“ projiziert. Auf Grund dieses Drucks herrscht bis weit über die MSPD hinaus die Auffassung vor, daß Räte in irgendeiner Form in der Verfassung ihren Niederschlag finden müßten, um „Ruhe und Ordnung“ wiederherstellen zu können. 1919 ist aber gleichzeitig auch das Jahr des beinahe völligen Verschwindens der ursprünglichen Räte aus dem politischen Leben der Republik.32 Weiterhin bricht sich in diesem Jahr das „Sozialisierungsverlangen“ verschiedentlich praktisch Bahn, etwa im Ruhrgebiet, wo Bergarbeiter nicht mehr „...unter den alten Verhältnissen als ‘Knechte’ die Arbeit weiterführen oder, soweit sie aus dem Kriegsdienst zurückkehrten, wieder aufnehmen“ wollen.33 Zu dieser „Blütezeit“ der Rätebewegung existieren, sieht man von den Betriebsräten ab, Arbeiter- bzw. Arbeiter- und Soldatenräte auf Orts- und Kreisebene, auf Bezirks- bzw. Provinzialebene zur Kontrolle und Beeinflussung der überkommenen Verwaltungsbehörden und der alten politischen Entscheidungsorgane sowie zur Bewältigung der Probleme in dieser wahrhaft armseligen Nachkriegsgesellschaft. Ein „Zentralrat der deutschen sozialistischen Republik“ als Spitzenorganisation soll die Reichsund die preußische Regierung überwachen und hat formell das Recht, „...die Volksbeauftragten und die preußischen Minister zu berufen und abzuberufen.“34 Es ergehen in der ersten Nachkriegszeit sogar Anordnungen zu einer Legalisierung dieser „Geschöpfe der Revolution“ und erst aus Enttäuschung über die mageren Ergebnisse der Regierungspolitik radikalisieren sich viele Räte im Jahre 1919. Diese, den im Kaiserreich sozialisierten Bürokraten verhaßten und teilweise wenig sachkundigen Institutionen, die überwiegend von MSPD und USPD-Politikern geprägt werden, geraten allerdings nicht zur allgemeinen politischen Form und zu Organisationen der Herrschaftssicherung. Sie haben sich selbst überwiegend auch nur als Übergangserscheinungen begriffen. Die Regierungs- und Militärbehörden sehen ihre Tätigkeit mit der Wahl zur Nationalversammlung, zu den verfassungsgebenden Versammlungen der Länder, mit den Wahlen in den Kreisen und Kommunen bzw. mit dem Abbau der alten Armee auf die geringe von den Kriegsgegnern erlaubte Friedensstärke als nicht mehr legitim an. Radikale Arbeiter- und Soldatenräte und mehr oder weniger grundstürzende Aktionen haben weiterhin mit grundsätzlicher Ablehnung durch die Regierungskreise und mit mehrfach auch durchgeführten Militäreinsätzen zu rechnen. Vor diesem Hintergrund setzen einengende Maßnamen der Militär- und Regierungsstellen ein, ohne daß die Ziele dieser Bewegung, Sozialisierungen oder durchgreifende Demokratisierungen erreicht werden können. Der „Rat der Volksbeauftragten“ gibt seine Kompetenzen an die Nationalversammlung und die Regierung Philipp Scheidemann ab. Der „Zentralrat der deutschen sozialistischen Republik“ verfährt genauso und widmet die letzten Wochen seiner Existenz, „...bei zunehmendem Desinteresse der meisten Mitglieder -

31 Vgl. die Zusammenstellung der Reichskabinette der Weimarer Republik bei demselben, ebenda, 529 ff. 32 Vgl.: Kolb, Eberhard: Rätewirklichkeit und Räte-Ideologie in der deutschen Revolution von 1918/19. In: Derselbe (Hg.): Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Köln 1972, 165 - 184, hier: 165. 33 Vgl. die „Geschichte der Essener Sozialisierungsbewegung (Von Landrichter Ruben, Essen).“ In: BA Abt. Potsdam. 31.05 Sozialisierungskommission, Nr. 6/2, Bl. 14 ff., hier: Bl. 14. 34 Kolb, Eberhard: Rätewirklichkeit...a.a.O.(=Anm. 32),172.

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fast ausschließlich der Vorbereitung des II. Rätekongresses...“35 Die Selbstauflösung erfolgt endgültig mit der Bildung eines „Vorläufigen Reichswirtschaftsrats“ im Mai 1920.36 Was bereits an den betrieblichen Aktivitäten der Rätebewegung und den darauf bezogenen Reaktionen der Gewerkschaften im Jahre 1918 nachgewiesen werden konnte, wird auch an diesen über den betrieblichen Rahmen hinausweisenden Auseinandersetzungen deutlich: Insgesamt handelt es sich bei dem „Rätesystem“ um einen Typus und Ansatzpunkt politischer und gesellschaftlich-wirtschaftlicher Machtausübung, der nur schwer mit dem herkömmlichen Institutionengefüge (Staatsbürokratie, Parlamente, Parteien, Gewerkschaften usw.) zusammengeht und deshalb eine durchgängige institutionelle Konkurrenzsituation schafft, die zur Aufgabe oder zur Abwehr und Niederlage dieser Bewegung beiträgt.37 So sind es, sieht man von vorübergehend bestehenden Strukturen in den improvisierten und bald scheiternden bzw. gewaltsam beendeten „Räterepubliken“ in München, Bremen und einigen anderen Städten ab,38 im Sprachduktus des Spartakusbundes doch wieder die „Bundesräte, Parlamente, Gemeinderäte“, nicht die „eigenen Klassenorgane“ des Proletariats, die nach der Preisgabe und Niederlage der Rätebewegung die politische Herrschaft ausüben. In diesen Organen sind die untereinander verfeindeten Parteien der Arbeiterbewegung allerdings nicht alleinbestimmend tätig, sondern die SPD ist auf sozialpolitischem Gebiet auf die Zusammenarbeit mit gemäßigt sozialreformerischen Kräften angewiesen, solange die Wahlergebnisse überhaupt eine Teilhabe an den politischen Entscheidungen zulassen. Dieser vielgestaltige Prozeß des Aufstiegs und des Niedergangs der Räte, der Rätebewegung und Rätekonzeptionen und der mit den Räten verbundenen Hoffnungen39 bildet vor revolutionärem Hintergrund den Ausgangspunkt für die „Sozialisierungsgesetzgebung“, für die sozialpolitische Ausgestaltung der Weimarer Reichsverfassung (WRV) und für die Entstehung des Betriebsrätegesetzes. Bei dem für diese Gesetzgebung zuständigen Organ handelt es sich auch nicht um eine Regierung, die ihre Legitimität der „proletarischen“ Rätebewegung verdankt, sondern um die Nationalversammlung. Sie tagt, da in Berlin die Unruhen immer wieder aufflammen, unter dem militärischen Schutz des „Freiwilligen Landesjägerkorps“ des Generals Maercker zunächst in Weimar und danach bis zum 21. Mai 1920 in Berlin. Da die in der Nationalversammlung entscheidenden Kräfte und die Koalitionspartner im Reichskabinett insgesamt weder die Vollsozialisierung noch eine wirkliche Teilsozialisierung, noch eine machtvolle Räteverfassung oder gar die Ersetzung parlamentarischer Gremien durch Arbeiterräte wollen und die Kräfte der bürgerlichen Gesellschaft vehement gegen alle Ansätze Stellung beziehen, die in diese Richtung deuten, ist der „Nie-

35 So die Einleitung in: Kolb, Eberhard (Bearb.): Der Zentralrat der deutschen sozialistischen Republik 19.12. 1918 - 8.4.1919. Vom ersten zum zweiten Rätekongress. Leiden 1968, LIX. 36 So der Hinweis im Stichwort „Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte...“ In: Wörterbuch der Geschichte. L Z. Berlin 1984, 1206. 37 Vgl. dazu: Bermbach, Udo: Das Scheitern des Rätesystems und der Demokratisierung der Bürokratie 1918/19. In: Politische Vierteljahresschrift, 8(1967), 445 - 460, hier: 448 f. 38 Vgl. dazu: Kolb, Eberhard: Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918 - 1919. Düsseldorf 1962, 325 ff. Zu den beiden Münchener Räterepubliken, die sich tief in das Bewußtsein der Zeitgenossen und der Nachgeborenen eingraben und in besonderer Weise im Bürgertum die Furcht stimulieren, es würden auch in Deutschland „russische Zustände“ anheben, vgl. ausführlicher: Winkler, Heinrich August: Weimar 1918 - 1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. München 1993, 76 ff. 39 Dieser Prozeß ist vielbeschrieben und findet seinen Widerhall auch in den Einleitungen zu den entsprechenden Dokumentenbänden; vgl. insgesamt: Kolb, Eberhard: Die Arbeiterräte...a.a.O.(=Anm. 38).

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derschlag“ der Ideen und sind die institutionellen Neubildungen auch aus dieser Revolutionszeit, wie gezeigt werden wird, in spezifischer Weise „verformt“. Geradezu begierig werden in den „tollen Wochen“ des Jahres 1919 alle Anzeichen einer fortdauernden Mäßigung von Teilen der Arbeiterbewegung auf bürgerlicher Seite registriert. Der 10. Gewerkschaftskongreß in Nürnberg, der erste allgemeine Nachkriegskongreß der Freien Gewerkschaften, der vom 30. Juni bis zum 5. Juli stattfindet, gilt aus sozialreformerischer Sicht als ein „Ereignis von größter allgemein- und sozialpolitischer Bedeutung.“40 Es soll die schon im Krieg gestellte Frage beantworten helfen, ob die Delegierten und damit auch zumindest ein großer Teil der Mitgliedschaft, die von den Gewerkschaftsführern verfolgte „...Politik nationaler Pflichterfüllung und unbeugsamen Willens zu schnellem, aber organischem Fortschritt der Sozialpolitik“ befürworten41 und ob die wegen ihres Kurses der Kriegsunterstützung mit „Anfeindungen überschütteten“ reformistischen Gewerkschaftsinstanzen mit einer Gehorsamsdisposition ihrer Mitglieder weiterhin rechnen können, hatte es doch in den letzten Monaten manchmal so geschienen, „...als sei alle gewerkschaftliche Erziehungsarbeit umsonst gewesen, als seien die Gewerkschaftsführer betrübte Lohgerber, denen die Felle davonschwammen. Der Rätetaumel ... schien fast alle Köpfe zu verdrehen, und man konnte sich oft des Eindrucks nicht erwehren, daß die Gewerkschaften ... die vornehmlichsten Leidtragenden des Wahnes werden würden...“42 Mit großer Erleichterung wird zur Kenntnis genommen, daß „...me h r a ls 2 /3, ja n ich t vie l w en iger a ls 3 /4 der durch Delegierte vertretenen organisierten Arbeiter...“ grundsätzlich die „bewährte“ Politik und Arbeitsweise der Gewerkschaftsführung befürworten.43 Auf der vierzehnten ordentlichen Generalversammlung des „Deutschen MetallarbeiterVerbandes“, die vom 13. bis 23. Oktober 1919 in Stuttgart stattfindet, wird hingegen in einer Resolution zum Vorstandsbericht, die in namentlicher Abstimmung mit 194 gegen 129 Stimmen gebilligt wird, die „verwerfliche Kriegspolitik“ der leitenden Gewerkschaftsinstanzen und Vorstände verurteilt. Jene Politik habe den Klassenkampfcharakter der Gewerkschaften verschwinden lassen. Die Gewerkschaften hätten ihren Anschluß an der Seite der herrschenden Klasse und der bürgerlichen Parteien gefunden. Die Kriegspolitik habe zur engsten Zusammenarbeit mit dem „Arbeitgebertum“ in den „sogenannten Arbeitsgemeinschaften“ geführt, „...in denen sich die Vertreter freier Gewerkschaften in holder Eintracht mit den Widersachern der Arbeiterklasse, den Kapitalisten, zusammengefunden haben.“44 Kritik erfährt zu dieser Zeit die deutsche Gewerkschaftsbewegung auch auf internationaler Ebene. Ihre Verantwortung für die Zufügung „schweren Unrechts“ an Belgien, für die Greuel an der dortigen Zivilbevölkerung und die Zwangsdeportation von belgischen Arbeitskräften wird ihr vorgehalten.45 40 Vgl.: Heyde, (Ludwig): Der Nürnberger Gewerkschaftskongreß. Teil I. In: Soziale Praxis, 28(1919)41, Sp. 711 - 717, hier: 711; ein Abriß des Protokolls findet sich sogar im Reichs-Arbeitsblatt, 17(1919)12, 958 - 959. 41 Derselbe, ebenda, Sp. 711. 42 Vgl. denselben, ebenda, Sp. 711 f.; vgl. in diesem Zusammenhang auch die von Klaus Schönhoven verfaßte Einleitung in der von ihm bearbeiteten Quellensammlung: Die Gewerkschaften in Weltkrieg und Revolution 1914 - 1919. Köln 1985, 35 f. 43 Vgl.: Heyde, (Ludwig): Der Nürnberger...a.a.O.(=Anm. 40), Sp. 712. 44 Vierzehnte ordentliche Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiterverbandes in Stuttgart 1919. Abgehalten vom 13. bis 23. Oktober im großen Saale des Stadtgartens. Stuttgart 1919, 47, 291; zitiert nach: Schönhoven, Klaus: Die Kriegspolitik der Gewerkschaften. In: Michalka, Wolfgang (Hg.): Der Erste Weltkrieg. München, Zürich 1994, 672 - 690, hier: 672. 45 Vgl. das Dokument 2 über die „Verhandlungen auf der Vorkonferenz zum Internationalen Gewerkschaftskongreß...“, die vom 26.7. - 1.8.1919 stattfinden. In: Die Gewerkschaften in den Anfangsjahren der Repu-

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Zum (nicht nur) sozialpolitisch relevanten Ereignis der Krisenjahre der Republik gehört darüber hinaus die Unterzeichnung des Waffenstillstandes von Compiègne am 11. November 1918 und die nach harten Auseinandersetzungen erfolgende Annahme des „Friedensvertrags zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten,“46 des nach dem Ort der Unterzeichnung so genannten „Versailler Vertrages“. Die Unterzeichnung dieses Vertrages an dem Ort, wo beinahe ein halbes Jahrhundert zuvor das aus dem Deutsch-Französischen Krieg geborene Kaiserreich aus der Taufe gehoben wurde, erfolgt am 28. Juni 1919, dem Jahrestag jener Schüsse von Sarajewo, mit denen der rasche Abmarsch in den Ersten Weltkrieg begonnen hatte. Dieser Vertrag mit seinen territorialen und militärischen Bestimmungen, mit den Wiedergutmachungspflichten Deutschlands, mit seinem in Deutschland Empörung auslösenden Verlangen nach Auslieferung und Bestrafung von rund 900 „Kriegsverbrechern“ und seinem „Kriegsschuldparagraphen,“47 trägt ganz wesentlich zur Vergiftung der innenpolitischen und internationalen Beziehungen bei. Dieser Vertrag verschafft auch der Dolchstoß-Legende, der falschen Auffassung, die Heimat sei der kämpfenden Truppe kriegsentscheidend und die militärische Niederlage verursachend in den Rücken gefallen, erhebliches Gewicht. Bereits im Jahre 1919 setzt eine allgemeine Rechtsentwicklung, eine „Welle von Rechts“ ein und in der Zeit vom 13. bis 17. März versuchen die putschenden Kräfte um den Alldeutschen Wolfgang Kapp und den General Walter Freiherr von Lüttwitz die Regierungsgewalt zu ergreifen. Dieser Putsch scheitert vor allem an seiner dilettantischen Planung, dem passiven Verhalten der Ministerialbürokratie und an dem Generalstreik der Gewerkschaften.48 In einem Aufruf „An das deutsche Volk“ betonen diese reaktionären Kräfte unter anderem: „Die Regierung wird Streiks und Sabotage rücksichtslos unterdrücken. Gehe jeder friedlich seiner Arbeit nach. Jede arbeitsfreudige Hand ist unseres nachdrücklichen Schutzes sicher. Streik ist Verrat am Volk, an Vaterland und Zukunft.“ Der Arbeiterschaft wird in Aussicht gestellt, sie werde neben anderen „Ständen“ bei der wirtschaftlichen Neuordnung zur tätigen Mitarbeit herangezogen werden. Die neue „Regierung“ sei nicht einseitig kapitalistisch. Sie wolle die deutsche Arbeit vor „internationaler Verknechtung unter das Großkapital“ behüten und hoffe, dadurch die Staatsfeindschaft der Arbeiter zu beenden. Der Staat solle im Kampf zwischen Kapital und Arbeit unparteiischer Richter sein. Jede Klassenbevorzugung, sei es von rechts oder links, sei abzulehnen, man kenne nur deutsche Staatsbürger.49 Bemerkenswert und bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, daß sich auch jetzt die zunächst geflohene, dann nach Berlin zurückgekehrte Koalitionsreblik 1919 - 1923. Bearb. von Michael Ruck. Köln 1985, 79 - 89. Vgl. in diesem Zusammenhang: Zunkel, Friedrich: Die ausländischen Arbeiter in der deutschen Kriegswirtschaftspolitik des 1. Weltkrieges. In: Ritter, Gerhard A. (Hg.): Entstehung und Wandel der modernen Gesellschaft. Berlin 1970, 280 ff. 46 Dieser „Friedensschluß“ ist veröffentlicht im RGBl. 1919, 688 ff. 47 Es handelt sich um den Artikel 231 des umfangreichen Vertragswerkes; vgl. insgesamt zum Versailler Vertrag und den dadurch ausgelösten heftigen deutschen Reaktionen sowie zu seiner Bedeutung für die Außenpolitik als leicht erreichbare neuere Publikation: Krüger, Peter: Versailles. Deutsche Außenpolitik zwischen Revisionismus und Friedenssicherung. München 1986; vgl. auch: Schulz, Gerhard: Revolutionen und Friedensschlüsse 1917 1920. 4, durchgesehene und ergänzte Auflage. München 1976, 160 ff.; Klein, Fritz: Auseinandersetzungen um die „Kriegsschuldfrage“ nach 1919. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 30(1982)8, 675 - 690; die Auslieferungsliste vom 3. Februar 1920 ist enthalten in: BA Abt. Potsdam. 06.01 Präsidialkanzlei. Nr. 672, Bl. 63 ff. Die Auslieferungsliste umfaßt große Teile der „Gesellschaftsspitze“ des untergegangenen Kaiserreichs, u.a. von Bethmann-Hollweg, von Hindenburg, Ludendorff und die höchsten Ränge des Adels. 48 Vgl. als Überblick: Kolb, Eberhard: Die Weimarer Republik...a.a.O.(=Anm. 14), 38 ff. 49 Zitiert nach: Neuer Umsturz. In: Soziale Praxis, 29(1920)25, Sp. 563.

Die Sozialpolitik in den Krisenjahren der Republik

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gierung nicht zu einem entschlossenen Durchgreifen gegen diese Gegner der Republik entschließen kann. Ein in diesem Zusammenhang aufgestellter, weitgehender und insgesamt sehr heterogener Forderungskatalog, der auch das Verlangen nach sofortigem „...Ausbau der bestehenden und Schaffung neuer Sozialgesetze...“ und die „..sofortige Inangriffnahme der Sozialisierung der dazu reifen Wirtschaftszweige...“ umfaßt, bleibt praktisch weitgehend folgenlos und hatte wohl wesentlich das Ziel „...unter keinen Umständen der äußersten Linken die Initiative zu überlassen.“50 Wie berechtigt solche Ängste aus Gewerkschafts- und Regierungssicht sind, zeigt sich, als die Gegenreaktionen der streikenden Arbeiter auf den Putsch gewaltige Dimensionen annehmen. Erneut kommt es zu bewaffneten Auseinandersetzungen der Arbeiter und ihrer revolutionär gesinnten aktionsbereiten Organisationen mit der Polizei, den Freicorps bzw. der Reichswehr. Orte dieser Kämpfe sind vor allem Sachsen, Thüringen und das Ruhrgebiet. Die Reichswehr untersteht auf ministerieller Ebene nun bald nicht mehr dem in der Linken verhaßten Mehrheitssozialisten Gustav Noske, sondern Otto Geßler (DDP). Eine ganze Kette von weiteren „Unbotmäßigkeiten“, Unruhen und Aufständen, die schließlich in der Zeit der Hyperinflation kumulieren und zu denen von Rechts auch der Hitler-Putsch vom 8. und 9. November 1923 zählt, zeigt fortlaufend, daß die Weimarer Republik äußerst schwach verankert ist. Es herrscht während der gesamten Krisenjahre der Republik eine ausgesprochene Tendenz zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und zum Bürgerkrieg und bereits seit Beginn der Weimarer Republik wird darauf ausnahmerechtlich reagiert. Der berüchtigte „Diktaturartikel“ der Weimarer Reichsverfassung (WRV) vom 11. August 1919, der Artikel 48,51 der den Reichspräsidenten ermächtigt, gegen ein Land, das seine „Pflichten nicht erfüllt“, gewaltsam einzuschreiten und, „...wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird...“, zur Wiederherstellung dieser „Sicherheit und Ordnung“ die nötige Maßnahmen zu treffen und erforderlichenfalls „mit Hilfe der bewaffneten Macht“ einzuschreiten, wird schon in diesen Krisenjahren der Republik instrumentalisiert. „Mehr als hundertmal berief sich Ebert auf die konstitutionelle Ausnahmekompetenz...“ und mehrmals verhängt er vor der Verabschiedung der Verfassung den Belagerungszustand um das Herrschaftssystem gegen „Umsturzversuche“ von links zu stützen.52 Alle diese ökonomischen, sozialen und politischen Hintergründe gilt es zu vergegenwärtigen, wenn nun im folgenden von „wahrhaft erstaunlichen“ sozialpolitischen Ansätzen und heftigen sozialpolitischen Revisionen und Revisionsversuchen die Rede ist.

2.1.2

Demobilisierung und Sozialpolitik

Die administrative Ausgestaltung, die Aufgaben- und Kompetenzfülle des Demobilmachungsamtes sind ein Spiegelbild der Verheerungen und der sozialökonomischen Auswirkungen eines „modernen industriellen Massenkrieges“ und der konkreten historischen Zeitumstände. Der administrative Aufbau wird noch in den letzten Tagen des Kaiserreichs 50 Vgl. die von Michael Ruck erarbeitete Einleitung der Quellensammlung: Die Gewerkschaften in den Anfangsjahren...a.a.O.(=Anm. 45), 34 und das Dokument 9 daselbst, 157 - 163, hier: 158 f. 51 Vgl. zum Verfassungstext: RGBl. 1919, 1383; vgl. zum „Notstandsrecht“ auch: Kurz, Achim: Demokratische Diktatur ? Auslegung und Handhabung des Artikels 48 der Weimarer Verfassung 1919 - 25. Berlin 1992. 52 Derselbe, ebenda, 13, 25.

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durch die „Verordnung über die wirtschaftliche Demobilmachung“ vom 7. November 1918 umrissen.53 Diese Verordnung, die auf Grund des Ermächtigungsgesetzes vom 4. August 191454 vom Bundesrat erlassen wird, kennt noch nicht das Demobilmachungsamt (später: Reichsministerium für Demobilmachung) als Reichszentralbehörde. Sie bestimmt aber schon, daß der Reichskanzler ermächtigt wird, „...die Anordnungen zu erlassen, welche erforderlich sind, um Störungen des Wirtschaftslebens infolge der wirtschaftlichen Demobilmachung vorzubeugen oder abzuhelfen.“ Darüber hinaus wird grundsätzlich bestimmt, daß die Landeszentralbehörden „...für die Bezirke der höheren Verwaltungsbehörden oder für besonders bestimmte Bezirke Demobilmachungskommissare“ bestellen. Bei diesen Kommissaren sind paritätisch zu besetzende landwirtschaftliche Ausschüsse zu bilden, deren Mitglieder von der jeweiligen Landwirtschaftskammer zu ernennen sind.55 Bestimmte Modifikationsmöglichkeiten und Spielräume für die Länder bei der Bestellung der Demobilmachungskommissare werden vorbehalten. Auf der Ebene der Kommunalverbände sind, wiederum unter Belassung bestimmter Handlungsspielräume, Demobilmachungsausschüsse vorgesehen, deren Zusammensetzung wiederum Landessache ist. Das arbeitsgemeinschaftliche, gleichberechtigende oder „sozialpartnerschaftliche“ Moment dieser im parlamentarisierten Kaiserreich ergangenen Bundesratsverordnung schlägt sich in typischer Form im § 3 nieder: „Der Vorsitzende des Demobilmachungsausschusses muß ein Staatsoder Kommunalbeamter sein. Unter den Mitgliedern muß sich eine gleiche Anzahl von Vertretern der Arbeitgeber und Arbeitnehmer befinden, bei deren Ernennung Vorschläge der wirtschaftlichen Organisationen tunlichst zu berücksichtigen sind.“ Damit bildet auch die Demobilisierung ein Stück gleichberechtigender und die Verbände von Arbeit und Kapital anerkennender Staatspolitik und die entsprechenden auf die Arbeitswelt bezogenen Rechtsnormen und Eingriffe sind „Sozialpolitik auf der Grundlage der Klassenverbände.“56 Das mit dem Krieg entstehende System „gemischter Klassen-Institutionen“ unter dem Patronat des Staates wird so weitergeführt. Der staatlich geförderte planmäßige Kontakt der „Erwerbsklassen“, der maßgebenden Kräfte der modernen Gesellschaft, wird erweitert, das neue Element der Staatspolitik, die Organisation der Zusammenarbeit der Verbände von Arbeit und Kapitel wird vertieft, eine Entwicklung, die die Gewerkschaften vor erhebliche Personalprobleme stellt. Die Demobilmachung stützt sich damit aber auch auf die alte, die „kaiserliche“ Bürokratie und wertet sie auf. Die Verordnung vom 7. November 1918 sieht gleichzeitig vor, daß der Reichskanzler seine Anordnungbefugnisse und Organisationsgewalt übertragen kann. Auf dieser Grundlage ergeht dann der „Erlaß über die Errichtung des Reichsamts für die wirtschaftliche Demobilmachung (Demobilmachungsamt)“ vom 12. November 1918.57 Diesem „Reichsamt“ zur „Überführung des deutschen Wirtschaftslebens in den Frieden“58 kommen demnach ebenso vage umrissene wie „unbegrenzte“ Befugnisse zu. „Alle Zivil- und Militärbehörden“ werden zu „unweigerlicher“ und beschleunigter Folgeleistung gegenüber dieser Behörde verpflichtet und aufgefordert „...ihm zur Durchführung seiner für die Wohlfahrt unseres Volkes äußerst wichtigen Aufgabe nach jeder Richtung behilflich zu sein.“ 53 Vgl.: RGBl. 1918, 1292. 54 Vgl.: RGBl. 1914, 327. 55 Vgl.: Wachs, Friedrich-Carl: Das Verordnungswerk des Reichsdemobilmachungsamtes. Frankfurt a.M., Bern, New York, Paris 1991, 93. 56 So zutreffend: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 226. 57 Vgl. Abschnitt 1.1 dieses Bandes. 58 So die generelle Aufgabenzuweisung im Erlaß.

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Die „Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer“, die diese Behörde durch Vereinbarung vom 2. November 1918 ausgestaltet und der Reichsregierung zur Errichtung vorgeschlagen hatten und die sich entschlossen erklärt hatten, „...in allen Fragen der Demobilmachung und der Ueberführung der Kriegs- in die Friedenswirtschaft einheitlich zusammenzuarbeiten...“, haben ihr eine ausdrücklich sozialpolitische Aufgabenstellung mit auf den Weg gegeben. Die Behörde habe sich insbesondere zu befassen mit der „Feststellung der Grundsätze über Rückführung und Verteilung der Arbeitskräfte“, mit der „Errichtung der Arbeitsnachweise“, mit der „Arbeitslosenunterstützung“, mit der „Beschaffung von Aufträgen und Anforderung von Notstandsarbeiten“, mit der „Umstellung der Kriegsin die Friedensfabrikation“ und mit der „Nutzbarmachung des Heeresgerätes für die Friedenswirtschaft.“59 Dieses dann in rasch aufeinanderfolgenden Verhandlungen mit der Regierung durchgesetzte Reichsamt sieht sich einer überstürzenden Ereignisfülle gegenüber. Das Heer befindet sich teilweise in ungeregelter Auflösung. Nach den Verfallserscheinungen und dem „Zusammenbruch“ der Militärdisziplin in diesem von den nationalistischen Kreisen so bezeichneten „Werkzeug des Ruhmes und der Eroberung“ bereits in der Endphase des Ersten Weltkrieges, ist das für die Kenner der Lage keine eigentlich überraschende Erscheinung.60 Die Sieger des Ersten Weltkrieges verlangen zudem eine Räumung von Frankreich und Belgien innerhalb von 15 Tagen. Das linke Rheinufer, „...wo sich die Entente mit der Besetzung von Mainz, Koblenz und Köln drei Brückenköpfe zu schaffen beabsichtigte...“ muß binnen 25 Tagen geräumt sein.61 Insgesamt müssen in Deutschland nach offiziellen Angaben acht Millionen Soldaten in den Arbeitsmarkt und die Nachkriegsgesellschaft eingegliedert werden.62 Der Erste Weltkrieg, der als industrieller Massenkrieg wesentlich auch auf dem Felde der Rüstungsökonomie und der konsequenten Anwendung der zeitgenössischen Naturwissenschaft und Technik gegen eine industriell-ökonomische Übermacht verloren wurde, stellt (nicht nur) die deutschen Behörden und Wirtschaftsunternehmen vor die Aufgabe, auch das Personal der Kriegswirtschaftsorganisationen und die Millionen von Arbeitskräften „unterzubringen“ bzw. „umzusetzen“, die der Rüstungswirtschaft eingegliedert worden waren.63 So wird z.B. geschätzt, daß von den 3,5 Millionen Beschäftigten in der Rheinprovinz 900.000 Rüstungsarbeiter und -arbeiterinnen sind.64 Andere Schätzungen kommen zu noch höheren Zahlen.65 Insgesamt wird gegen Ende Oktober 1918 mit der Kündigung von etwa 2,5 Millionen nicht mehr „einschlägig“ zu beschäftigenden Menschen aus der Rüstungsindustrie gerechnet.66 Wie gewaltig bedeutende Rüstungsfirmen gewachsen waren, zeigt die Firma Krupp in Essen. Das Werksgelände, daß bei 59 Vgl. den Vortragsentwurf in: BA Abt. Potsdam. 90 Le 6, Nachlaß Legien, Nr. 29, Bl. 2 - 4, hier: 4. 60 Vgl. dazu die Spiegelung des „moralischen Zusammenbruchs“ der Armee in den entsprechenden Militärbefehlen und -dokumenten in der Schrift: Die deutsche militärische Niederlage. Hrsg. von der X. Armee. Stab 2. Büro, o.O., o.J. 61 Vgl.: Wachs, Friedrich-Carl: Das Verordnungswerk...a.a.O.(=Anm. 55) ,1, Fußn. 3. 62 Vgl.: Knortz, Heike: Wirtschaftliche Demobilmachung...a.a.O.(=Anm. 5), 21. 63 Zur Demobilisierung dieser Rüstungskomplexe vgl. die Rechtsquellen bei: Fischbach, Oskar Georg (Hg.): Verordnungen betreffend die wirtschaftliche Demobilmachung. Reichsschatzministerium und Reichsfinanzministerium. Textausgabe mit Erläuterungen. Berlin und Leipzig 1920. Vgl. zu Demobilmachung in Frankreich: Prost, Antoine: Die Demobilmachung, der Staat und die Kriegsteilnehmer in Frankreich. In: Geschichte und Gesellschaft, 9(1983), 178 - 194; zu England: Englander, David: Die Demobilmachung in Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg. In: Ebenda, 195 -210. 64 Vgl.: Schwarz, Egbert F.: Vom Krieg...a.a.O.(=Anm. 5), 39. 65 Vgl.: Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 59. 66 Vgl. denselben, ebenda, 50.

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Kriegsbeginn 270.000 qm umfaßte, ist zum Kriegsende auf 680.000 qm erweitert worden. Aus den 21.000 Beschäftigten sind 105.000 geworden. Die Düsseldorfer Rheinmetall GmbH erweiterte ihr Betriebsgelände von 46.000 qm auf 266.000 qm und die Zahl der Beschäftigten von 8.000 (1914) auf 48.000 (1918).67 Bei der Phoenix AG, Vereinigte Hütten- und Röhrenwerke, „...einem der größten Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie, (wurden) im gesamten Ruhrgebiet in 133 Werken 330.580 Mitarbeiter beschäftigt.“68 Dieses Rüstungsunternehmen plant schon vor Kriegsende eine Entlassung von 143.095 Beschäftigten und führt diesen Plan dann auch ziemlich exakt aus.69 Vor diesem Hintergrund breitet sich im Ruhrgebiet eine regelrechte Katastrophenstimmung bei den Gewerkschaften, den Herren der Industrie, den Verwaltungsinstanzen und in den politischen Gremien aus.70 Manche Demobilisierungsplanungen, die bei staatlichen Stellen und auch in der Industrie schon lange vor dem November 1918 angelaufen waren, auch die im Erlaß vom 12. November enthaltene Beauftragung einer als planmäßig konzipierten „Überführung des deutschen Wirtschaftslebens in den Frieden“ erweisen sich unter dem Druck des Ereignisse als „unpassend“.71 Das Demobilmachungsamt habe, schreibt rückblickend und noch ganz unter dem Eindruck der Erlebnisse stehend der Leiter dieser Reichsbehörde, Oberstleutnant Joseph Koeth, seine Aufgabe nicht in der Überführung der Wirtschaft in den Frieden, sondern in der Erhaltung des Wirtschaftslebens, in der Erhaltung der Wirtschaft überhaupt gesehen.72 „Erhaltung der Wirtschaft hieß aber gleichzeitig auch Erh a ltung d es be s teh en d en W ir t sch af ts s ys t e ms . “ 73 Die andrängenden Probleme, zu denen auch noch eine Belebung der teilweise eingeschränkten, teils stillgelegten „Friedensproduktion“ gehört, können nicht ohne einige tiefgreifende Eingriffe in die Wirtschaft bewältigt werden. Diese Eingriffe werden als Übergangsmaßnahmen vor revolutionärem Hintergrund notgedrungen und „murrend“ akzeptiert, wenngleich man sich „über die Behandlung erregter Menschen in Revolutionszeiten ... schwer einig werden“ kann.74 Diese „Akzeptanz“ wurzelt in der historischen Situation und in der grundsätzlich sozialreformerisch-privatwirtschaftlichen Ausrichtung der hinter der Demobilmachung stehenden Kräfte von Arbeit und Kapital. Erkennbar fehlt den Eingriffen auch eine Perspektive hin auf einen Zustand, der ernsthaft mit „sozialistisch“ umschrieben werden kann. Es handelt sich um Notmaßnahmen, denen jede Orientierung auf ein als machbar angenommenes „krisenloses, solidarisches Wirtschaftssystem“ ganz neuer Art, auf einen Übergang des Eigentums oder der Verfügungsgewalt über Produktionsmittel auf den Staat oder die „unmittelbaren Produzenten“ fehlt.75 Die wirtschaftlichen Eingriffe der Demobilmachungszeit und andere sich wesentlich auf die Arbeitsmarktorganisation und Arbeitslosenunterstützung beziehende Vorschriften finden sich in zahlreichen Rechtsquellen. Diese ergehen, nach dem frühzeitigen Ende des Demobilmachungsamtes, von den anderen nunmehr zuständigen Stellen, insbesondere vom Reichsarbeitsministerium. Obwohl das Demobilmachungsamt schon im April des Jahres 67 Vgl.: Schwarz, Egbert F.: Vom Krieg...a.a.O.(=Anm. 5), 56. 68 Derselbe, ebenda, 60. 69 Vgl. denselben, ebenda, 60 ff. 70 Vgl.: Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 59. 71 So auch: Wachs, Friedrich Carl: Das Verordnungswerk...a.a.O.(=Anm. 55), 1. 72 Vgl.: Koeth, (Joseph): Die wirtschaftliche Demobilmachung. Ihre Aufgaben und ihre Organe. In: Handbuch der Politik. Vierter Band. Der wirtschaftliche Wiederaufbau. Berlin und Leipzig 1921, 163 - 168, hier: 164. 73 Derselbe, ebenda, 164. 74 Ebenda, 167. 75 Vgl. zu solchen Ansätzen: Novy, Klaus: Strategien der Sozialisierung. Frankfurt a.M., New York 1978.

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1919 aufgelöst wird76, existieren die Demobilmachungskommissare bis März 1924 und die Demobilmachungsausschüsse bis März 1921. Die Demobilmachungsverordnungen haben länger als ursprünglich beabsichtigt „...nämlich bis März 1922, zu einem guten Teile sogar bis 1923 und noch länger Geltung...“77 Das Verordnungswerk des Demobilmachungsamtes und die Praxis der Demobilmachungsbehörden stellen sicher einen stabilisierenden Faktor zu Beginn der Weimarer Republik dar. Die Aktivitäten dieser Behörden geben wichtige Hinweise für die Beantwortung der Frage, warum schließlich mit geradezu weltgeschichtlichen Folgen nicht die revolutionären oder sozialreformerisch-demokratischen Kräfte, sondern ihre Gegenspieler den „historischen Sieg“ davongetragen haben. Auf sie kann man blicken, wie auf eine „Werkstatt der Gegenrevolution.“ Stellt man alle Forschung zur Geschichte der Weimarer Republik unter die Frage nach den Ursachen ihres Zusammenbruchs, so ist die Art der Demobilisation von nicht geringer Bedeutung. Alle schon im Krieg erprobten Elemente der Integration werden erneut und in verbesserter Form angewendet, neue Strategien treten hinzu. Der „Achtstundentag“ wird durch eine Demobilmachungsverordnung im März des Jahres 1919 auch auf die Angestellten erstreckt. Diese „späte“ Arbeitszeitverordnung kennt allerdings bereits äußerst zahlreiche Ausnahmen. Die Ambivalenz dieser „Errungenschaft“ und vorübergehenden Notmaßnahme zur „Streckung der Arbeit“ und zur Aufrechterhaltung eines hohen Beschäftigungsstandes78 wird dadurch noch einmal pointiert. Vor dem Hintergrund dieser nunmehr „kompletten“ Arbeitszeitgesetzgebung der Revolutionszeit erheben die Bergarbeiter des Ruhrgebietes im Rahmen ihrer sozialhistorisch wichtigen, vielbeachteten Sozialisierungsbewegung unter anderem auch die Forderung nach einer noch weitergehenden Arbeitszeitverkürzung. Schon vor dem Krieg hatte ihre Schichtzeit unter Tage 8 ½ Stunden einschließlich der Ein- und Ausfahrt betragen. Die Arbeitszeitverkürzung der Demobilmachungszeit beträgt für sie, im krassen Gegensatz zu den anderen Beschäftigtengruppen stehend, nur eine halbe Stunde. Es kommt zu heftigen Konflikten im Ruhrgebiet und im Februar 1919 wird im Kontext weitergehender Bestrebungen die Forderung nach genereller Einführung einer „Sechsstundenschicht“ erhoben. Dieses gewünschte Maß der Arbeitszeit entspricht dem § 93 c. der Berggesetznovelle vom 14. Juli 1905. Dieses Gesetz beinhaltete, daß für Arbeiter, welche an „Betriebspunkten“ nicht bloß vorübergehend beschäftigt werden, an denen die gewöhnliche Temperatur mehr als 28 Grad Celsius beträgt, die regelmäßige Arbeitszeit sechs Stunden nicht übersteigen darf. Diese Forderung, die die traditionellen Bergarbeiterverbände zunächst nicht übernehmen, um den Erfolg des „Achtstundentages“ nicht zu entwerten, und um die „Kohlenot“ nicht noch zu vergrößern, führt zunächst zur Konzession einer halbstündigen Schichtverkürzung. Zur Durchsetzung der damals erhobenen Forderungen, die weit über die Arbeitszeitfrage hinausgehen, wird schließlich ein Generalstreik ausgerufen, auf den die Regierung mit der Ausrufung des Belagerungszustandes über das Ruhrgebiet und mit Gewaltanwendung antwortet. Es kommt zu schweren Ausschreitungen auf beiden Seiten und zu einem gewaltigen Streikgeschehen. Nunmehr greifen auch die traditionellen Gewerkschaften, die um ihren Rückhalt bei den Bergarbeitern kämpfen müssen, bestimmte Forderungen der „radikalisierten“ Be76 Vgl. den „Erlaß des Reichspräsidenten, betreffend Auflösung des Reichsministeriums für wirtschaftliche Demobilmachung“ vom 26. April 1919 (RGBl. 1919, 438). 77 Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 229; auch bei der Initiative zur Auflösung des Demobilmachungsamtes wirken Vertreter von Arbeit und Kapital mit; vgl. dazu: Feldman, Gerald D.: Vom Weltkrieg... a.a.O.(=Anm. 12), 94. 78 Vgl.: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 226.

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legschaften und ihrer Sprecher auf, damit wieder Ruhe an der Ruhr einkehrt und die Energieversorgung nicht zusammenbricht. Unter dem „Patronat“ von Reichsarbeitsminister Bauer wird schließlich eine „Siebenstundenschicht“ einschließlich Ein- und Ausfahrt tarifvertraglich vereinbart. Diese wird später mit dem „Gesetz über die Arbeitszeit im Bergbau unter Tage“ vom 17. Juli 1922 „bis zur endgültigen gesetzlichen Regelung“ fixiert. Schon zuvor, am 18. Februar 1920, wird gegen erhebliche materielle Zugeständnisse ein Überschichtabkommen vereinbart.79 Durch eine Verordnung vom 13. November 1918 wird die als unbedingt notwendig angesehene reichsweite Erwerbslosenfürsorge für kriegsbedingt arbeitslose Personen im Zuge der Demobilmachung kommunalisiert und allen Gemeinden zur Pflicht gemacht. Sie wird aus der „entehrenden“ Armenpflege „gelöst“ und mit Reichs- und Landesmitteln finanziell bezuschußt. Die Unterstützungszahlungen werden strikt an die Voraussetzung der Arbeitsaufnahme und auch an die gegebenenfalls bedingungslose räumliche Mobilität gebunden. Darüber hinaus verzichten die Vorschriften auf die Statuierung „sinnwidriger“ Härten. Ein kleiner Besitz („Spargroschen, Wohnungseinrichtung“) darf bei der Beurteilung der Bedürftigkeit nicht in Betracht gezogen werden. Heimfahrten, weg aus den großen Städten, sollen finanziell übernommen werden. Die Auszahlung der Gelder kann in Erfüllung einer alten Gewerkschaftsforderung Arbeitnehmerorganisationen übertragen werden (sog. Genter System). Für die Durchführung der Erwerbslosenfürsorge sollen Fürsorgeausschüsse errichtet werden, die sozialpartnerschaftlich-paritätisch besetzt werden müssen. Frauen werden im System der Erwerbslosenfürsorge systematisch benachteiligt. Sie erhalten Unterstützung nur, „...wenn sie auf Erwerbstätigkeit angewiesen sind.“ Der Anspruch entfällt auch bei den Personen, „...deren frühere Ernährer arbeitsfähig zurückkehren.“80 Die „Verordnung über Erwerbslosenfürsorge“ vom 13. November 1918 gibt damit einen Hinweis auf die Bedeutung des Geschlechts bei der „Bereinigung“ der Arbeitsmarktprobleme der Nachkriegszeit. Die „Verordnung über Erwerbslosenfürsorge“, die erstmals den „Kern einer systematischen und auf Dauer angelegten Arbeitsmarktpolitik“ enthält,81 wird zunächst sehr großzügig ausgestaltet. Es solle zwar durch eine reichliche Bemessung der Unterstützung keine Arbeitslosigkeit gefördert werden, es sei aber, so die Ausführungsvorschriften, „...unbedingt dafür Sorge zu tragen, daß die unverschuldet Erwerbslosen vor Not geschützt sind.“82 Eine wohlwollende Prüfung der Arbeitslosigkeit und der Bedürftigkeit wird anempfohlen. Erhebliche „Anlaufschwierigkeiten“ in den Gemeinden und Auseinan79 Vgl. zur Regelung der Arbeitszeit der Angestellten die „Verordnung über die Regelung der Arbeitszeit der Angestellten während der Zeit der wirtschaftlichen Demobilmachung“ vom 18. März 1919 (RGBl. 1919, 315); zum Arbeitszeitkonflikt: Feldman, Gerald D.: Arbeitszeitkonflikte im Ruhrbergbau 1919 - 1922. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 20(1980), 168 - 233; Oertzen, Peter von: Die Grossen Streiks der Ruhrarbeiterschaft im Frühjahr 1919. In: Ebenda, 6(1958), 231 - 262.; als Kurzfassung des Geschehens: Bischoff, Sabine: Arbeitszeitrecht in der Weimarer Republik. Berlin 1987, 36 ff; vgl. zum Gesetz über die Arbeitszeit im Bergbau: RGBl.I 1922, 628. 80 Vgl. dazu die allerdings schon vor dem Waffenstillstand im Reichsarbeitsamt unter entscheidender Beteiligung der Gewerkschaften ausgearbeitete und dann vom Demobilmachungsamt erlassene „Verordnung über Erwerbslosenfürsorge“ vom 13. November 1918, hier: § 7 (RGBl. 1918, 1305) vgl. auch: Wermel, Michael T., Urban, Roswitha: Arbeitslosenfürsorge und Arbeitslosenversicherung in Deutschland. Teil II. München 1949, 24, sowie grundlegend: Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 49 ff.; vgl. auch die Anlage I der Schrift: Die Erwerbslosigkeit der Welt, ihre Wirkungen und ihre Bekämpfung. Denkschrift der Reichsregierung, vorgelegt der am 10. April 1922 zusammengetretenen Konferenz in Genua. Beilage zum Reichs-Arbeitsblatt 1922, Nr. 8, 12 f., dort auch zahlreiche Statistiken zur Arbeitslosigkeit und zur Unterstützung der Erwerbslosen. 81 Vgl. zu ihrer Entstehung: Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 50 ff. 82 Derselbe, ebenda, 63.

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dersetzungen über die angemessene Höhe der Unterstützungssätze sowie fiskalische Restriktionen leiten schließlich im Zuge der Novellierung83 zu einer Begrenzung der Unterstützung und zu einer Verschärfung der Pflicht einer „bedingungslosen“ Arbeitsaufnahme über.84 Es kommt mit der Zeit sogar zu einer ausgesprochenen Verelendung der Arbeitslosen. Die Perspektive zu einer grundsätzlichen Weiterentwicklung zeigt sich nach einer Phase des Abbaues, nach überwiegend symbolischen Reaktionen auf eine politisierte Arbeitslosenbewegung und nach einiger Zeit des Experimentierens mit der „produktiven Erwerbslosenfürsorge“ erst im Krisenjahr 1923. Diese Existenzkrise der Republik beschleunigt „...den Ausbau und die Differenzierung der Arbeitslosenpolitik...“ in einem spezifischen Sinne, ohne die schlechte Rechtsstellung und die erbärmliche Höhe des Unterstützungsniveaus zu verbessern.85 Natürlich geraten im Zuge der Demobilisierung, wie bereits bei der Mobilisierung im Ersten Weltkrieg,86 die Vorläufer der Arbeitsämter, die Arbeitsnachweise, in das Visier der entsprechenden Behörden. Die Länder erhalten die Befugnis, die Gemeinden oder Gemeindeverbände zu verpflichten, „...öffentliche unparteiische Arbeitsnachweise, an deren Verwaltung Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichmäßig zu beteiligen sind, zu errichten und auszubauen...“87 Das Kernstück der Sozialpolitik der Demobilmachung bilden Vorschriften zur Entfaltung eines arbeitsmarktpolitischen Dirigismus, der in das Einstellungs- und Kündigungsverhalten der Betriebe eingreift, auf die Arbeitslosen einen erheblichen Druck ausübt und diverse Anreize kennt. Es geht dabei um nicht weniger als um die Rückgängigmachung der Ergebnisse jener mit dem Jahr 1914 einsetzenden und auf die Steigerung der militärischen Schlagkraft gerichteten „Menschenökonomie im Kriege“. Wie dort, so ist auch hier die Mitarbeit der „Klassenkräfte“ in reichlichem Maße vorgesehen. Nun geht es allerdings nicht mehr um ein auf den Krieg, auf „Front und Heimat“ bezogenes „menschenökonomisches Kalkül“,88 sondern um den raschen Abbau der Bedingungen, die der sich radikalisierenden, revoltierenden Massenbewegung Auftrieb geben, um die Bannung eines „Alptraums“ für die reformistische Arbeiterbewegung und das Bürgertum, um eine Belebung der Friedenswirtschaft, um die Versorgung der „bedürftigen“ Menschen mit Arbeit. Mit dem Ziel, die katastrophale Ernährungssituation durch den Einsatz von Arbeitskräften zu verbessern und um die Zusammenballungen der „Arbeitermassen“ in den Rüstungszentren und Großstädten aufzulösen, werden Arbeitgeber in der Land- und Forstwirtschaft verpflichtet, offene Stellen einem nicht gewerbsmäßigen Arbeitsnachweis ebenso unverzüglich zu melden, wie die Besetzung einer solchen Stelle. Arbeitgebern außerhalb der Land- und Forstwirtschaft wird verboten, Arbeitskräfte einzustellen, die bei „Ausbruch des Krieges“ oder während des Krieges in der Land- und Forstwirtschaft beschäftigt waren. Diese und ähnliche Arbeitskräfte männlichen oder weiblichen Geschlechts erhalten im Falle der Aufnahme einer Beschäftigung in der Land- oder Forstwirtschaft eine Unterstützung in Form einer Fahrt- und Umzugskostenübernahme.89 83 Vgl.die Liste der Novellierungen bei: Knortz, Heike: Wirtschaftliche Demobilmachung...a.a.O.(=Anm. 5), 207 f. 84 Vgl. zu weiteren Einzelheiten: Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 66 ff. 85 Vgl. ebenda, 135 ff. 86 Vgl. dazu auch: Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band. München 2003, 47ff. 87 Vgl. Näheres in der „Anordnung über Arbeitsnachweise“ vom 9. Dezember 1918 (RGBl. 1918, 1421). 88 Vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche...a.a.O.(=Anm. 86), 47 89 Vgl. die „Verordnung zur Bekämpfung des Arbeitermangels in der Landwirtschaft“ vom 16. März 1919 (RGBl. 1919, 310).

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Falls landwirtschaftlich genutzte Flächen mangelhaft bewirtschaftet werden, ist sogar, nach Anhörung des „Bauern- und Landarbeiterrats“, eine vorübergehende staatlich angeleitete Bewirtschaftung vorgesehen. Die „Bauern-“ bzw. „Bauern- und Landarbeiterräte“ sind, sieht man von Bayern ab, typischerweise keine „von unten“ spontan entstandenen „Revolutionsorgane“. Am unmittelbaren Beginn steht mit Datum vom 9. November 1918 ein Aufruf des „Kriegsausschusses der deutschen Landwirtschaft“ an landwirtschaftliche Organisationen. Er beinhaltet die Aufforderung „Orts- und Gemeindeausschüsse“ zu bilden. Schließlich gelingt es agrarischen Interessenvertretern, für eine derartige von vornherein hochkonservative und antirevolutionäre Organisation landwirtschaftlicher Interessen Regierungsunterstützung zu finden. Als Ergebnis entsprechender Interventionen ergeht mit Datum vom 12. November 1918 ein Aufruf des Rats der Volksbeauftragten „An die deutsche Landbevölkerung.“ In diesem ruft die „neue deutsche Reichsregierung“ alle Schichten der „ländlichen Bevölkerung“ dazu auf, freiwillig Bauernräte zu bilden, „...um die Volksernährung, die Ruhe und Ordnung auf dem Lande sowie die ungehinderte Fortführung der ländlichen Betriebe sicherzustellen.“ Der Aufruf verspricht gleichzeitig, staatliche Eingriffe in die Landwirtschaft auf das „absolut Notwendige“ zu beschränken. Er versichert der ländlichen Bevölkerung den Schutz der Eigentums- und Produktionsverhältnisse gegen „willkürliche Eingriffe Unberufener.“ Damit ist zwar gegenüber den „Ausschüssen“ eine andere Bezeichnung gewählt und mit der abschließenden Aufforderung an „Bauern, Landarbeiter, Handwerker und Gewerbetreibende“ organisatorisch tätig zu werden, wird auch eine andere Zusammensetzung signalisiert, der konservative Grundcharakter dieses Vorhabens, dieses „Bündnisses“ der Regierung mit Interessenvertretern aus der Landwirtschaft ist jedoch gewahrt. Nach weiteren internen Verhandlungen und Vorentscheidungen ergeht mit Datum vom 22. November 1918 ein ergänzender Aufruf „An die Landbevölkerung.“ Dieser hat eine freie Vereinbarung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen und anderen Interessenverbänden zum Inhalt. Durch diesen „Aufruf“, der auch die Unterschriften reaktionärer und republikfeindlicher Verbände trägt, wird die Organisationsstruktur und die Aufgabenstellung der, wie es nun heißt, „Bauern- und Landarbeiterräte“ geregelt. Durch eine „Bekanntmachung“ des Staatssekretärs des Reichsernährungsamtes, wird diese freie Vereinbarung in den Rang einer staatlichen Rechtsquelle gehoben. Die „Bekanntmachung“ enthält Bestimmungen zu den Wahlen, zur Umgestaltung der schon auf der Grundlage der vorhergehenden Kundgebungen bestehenden „Bauernräte“ bzw. „Ausschüsse“ und zum Inkrafttreten des Aufrufs. Die „Bauern- und Landarbeiterräte“ sind nach dem Inhalt dieses Aufrufs für jede selbständige Gemeinde und für den Bereich jeder unteren Verwaltungsbehörde zu errichten. Sie müssen aus mindestens sechs Personen bestehen und zu gleichen Teilen aus selbständigen Landwirten und Arbeitern bzw. aus Vertretern aus der „nichtlandwirtschaftlichen Landbevölkerung“ gebildet werden. Die unterzeichnenden Verbände wollen darüber hinaus einen „Zentralbauern- und Landarbeiterrat“ mit Sitz in Berlin bilden, der „Anweisungen und Ratschläge“ erteilen soll.90 Im Unterschied zum Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommen, enthält dieses Dokument keine sozialpolitischen Rechte. Der Aufruf sieht die Aufgaben der „Bauern- und Landarbeiterräte“ in der Unterstützung der zuständigen Behörden. Diese Unterstützung soll durch Mitwirkung und Beratung bei der Erfassung und beim Schutz der Lebensmittel und bei der Regelung der Ablieferung an die „be90 Vgl. den Aufruf „An die Landbevölkerung!“ In: Denkschrift über die seit dem 9. November 1918 auf dem Gebiete der Sozialpolitik geschaffenen gesetzgeberischen und sonstigen wichtigen Maßnahmen. O.O., o. J. (= Drucksache Nr. 215 der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung 1919), Anlagen, Seite 6 f.

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zugsberechtigten Stellen“ geleistet werden. Die „Bauern- und Landarbeiterräte“ sollen darüber hinaus den „Schleichhandel“ bekämpfen, sie sollen landwirtschaftliche Betriebe erhalten helfen und bei deren Effektivierung mitwirken. Sie sollen die Behörden auch unterstützen durch die „Mitwirkung bei der Aufnahme der entlassenen Kriegsteilnehmer und der Beschaffung von Arbeit und Wohnung für diese gemäß den Bestimmungen der Demobilmachungsbehörde.“ Sie sollen Hilfe leisten „...beim Schutz von Personen und Eigentum.“91 Sie sind damit immer auch als „Schutzwehren“ gegen die das Land „heimsuchende“ hungernde Stadtbevölkerung gedacht. Vor dem Hintergrund dieser und einiger weiterer Rechtsquellen existieren in den verschiedenen Landesteilen „Bauernräte“ bzw. „Bauernund Landarbeiterräte“ mit unterschiedlichem Aktivitätsspektrum, von unterschiedlichem Zuschnitt und unterschiedlicher Lebensdauer. Daß spätestens mit der Bildung dieser eigenartigen, konservativen, dieser die Arbeitgeber und Arbeitnehmer integrierenden „Räte“ die „willkürlichen Eingriffe“ ganz anders strukturierter „örtlicher Arbeiter- und Soldatenräte“ „...namentlich in die Ernährungswirtschaft und den Betrieb der Landwirtschaft..“ unbedingt gänzlich unterbunden werden müssen, versteht sich für konservativ-reaktionäre Adelskreise und landwirtschaftliche Interessenvertreter bereits im Dezember 1918 von selbst.92 Unter den besonderen Bedingungen der ersten Nachkriegsmonate wird der „Zentralbauern-“ bzw. wie er sich selbst bald bezeichnet: der „Reichs-Bauern- und Landarbeiterrat“ schließlich auch auf arbeitsrechtlichem Gebiet aktiv. Da die veralteten Gesindeordnungen und die Ausnahmegesetze gegen die Landarbeiter nicht mehr gelten, existiert vorübergehend eine „Leerstelle“ auf dem Gebiete des Landarbeiterrechts. In Form einer Vereinbarung zwischen den am „Reichs-Bauern- und Landarbeiterrat“ beteiligten Verbänden gelingt es, in Zusammenarbeit mit dem Reichsarbeitsministerium und dem Demobilmachungsamt, eine „vorläufige Landarbeitsordnung“ auszuarbeiten, die die landwirtschaftlichen Arbeitsverhältnisse im integrationistisch-sozialreformerischen Sinne modernisieren soll. Unter anderem wird die Arbeitszeit und Lohnzahlung geregelt, wobei eine glatte Übernahme des „schematischen Achtstundentages“ unterbleibt. Dieser Entwurf wird schließlich als „Verordnung, betreffend eine vorläufige Landarbeiterordnung“ vom 24. Januar 1919 verabschiedet und erhält auf diese Weise Gesetzeskraft.93 In manchen Punkten bleibt die Verordnung zwar hinter den Regelungen für gewerbliche Arbeiter zurück, dennoch gilt nunmehr auch in der Landwirtschaft das Arbeitsrecht der Nachkriegszeit. So ist z.B. die „Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten“ vom 23. Dezember 1918 auch in der Landwirtschaft geltendes Recht. Klarstellend betont die vorläufige Landarbeitsordnung: „Politische und gewerkschaftliche Betätigung ist kein Entlassungsgrund.“ Sie bleibt trotz ihres vorläufigen Charakters die einzige tiefgreifende Regelung der Landarbeiterverhältnisse in der Weimarer Republik.

91 Ebenda; vgl. als sozialhistorische Studien: Muth, Heinrich: Die Entstehung der Bauern- und Landarbeiterräte im November 1918 und die Politik des Bundes der Landwirte. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 21(1973)1, 1 - 38; vgl. insgesamt auch: Schumacher, Martin: Land und Politik. Eine Untersuchung über politische Parteien und agrarische Interessen 1914 - 1923. Düsseldorf 1978 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 65). 92 Vgl. das Schreiben des Conrad Freiherr von Wangenheim an den konservativen Politiker und Mitbegründer sowie Vorsitzenden des „Bundes der Landwirte“ Dr. Gustav Roesicke vom 3. Dezember 1918. BA Abt. Potsdam. 90 Wa 1 Nachlaß Conrad Freiherr von Wangenheim, Nr. 14, Bl. 123 - 124 RS, hier: 123RS. 93 Vgl.: RGBl. 1919, 111; vgl. auch: Wachs, Friedrich-Carl: Das Verordnungswerk...a.a.O.(=Anm. 55 ), 163 ff. sowie: Schumacher, Martin: Land und Politik...a.a.O.(=Anm. 91), 105 ff.

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So wie der Staat durch Formen einer öffentlichen Bewirtschaftung im landwirtschaftlichen Bereich für eine Aufrechterhaltung der Betriebe und Produktion Sorge tragen möchte, will er dies zur damaligen Zeit auch im gewerblichen Bereich. Hier geht es ihm um die möglichst weitgehende Verhinderung von Betriebsabbrüchen und Betriebsstillegungen durch entsprechende Hilfsmaßnahmen.94 Geht es dabei immer auch um eine Erhaltung und Erweiterung einer sinnvollen Produktion, so steht auf dem Gebiet der Rüstungsindustrie das Ziel der Erhaltung von Arbeitsplätzen sogar so weit im Vordergrund, daß auch „sinnwidrige“ ökonomische Aktivitäten staatlich vorgeschrieben und gefördert werden. Im Zusammenhang mit den Vertragsablösungen und der daraus resultierenden Reduktion der Rüstungsindustrie soll nämlich der Grundsatz gelten: „Arbeiterentlassungen dürfen nur erfolgen, wenn an anderen Stellen für Arbeit gesorgt ist. Arbe its lo s igke it is t un ter a lle n U ms tänd en z u v er me ide n. “ Ausnahmsweise, wenn das Ziel einer „Friedensarbeit ohne Arbeitslosigkeit“ nicht sofort erreicht werden kann, können sogar Kriegsarbeiten als „Notarbeiten“ bis in das Jahr 1919 fortgesetzt werden.95 Ganz im Zentrum der Bemühungen um die Verhinderung einer revolutionsfördernden Katastrophe am Arbeitsmarkt durch die „zurückflutenden“ Massen des Feld- und Besatzungsheeres und die zu kündigenden Rüstungsarbeiter und -arbeiterinnen, stehen jene Übergangsmaßnahmen, die die Arbeitgeber verpflichten sollen, eine entsprechende Einstellungs- und Entlassungspolitik zu betreiben. Diese Maßnahmen entsprechen dem Inhalt der zahlreichen Verlautbarungen, Aufrufe und Plakataktionen der Reichsregierung, in denen die Arbeit, ihre Funktionen und ihre Verteilung einen prominenten Platz einnehmen.96 Von großer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, wie bereits angedeutet, auch das Gründungsdokument der „Arbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Deutschlands“. Dieses Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommen verspricht: „Sämtliche aus dem Heeresdienste zurückkehrenden Arbeitnehmer haben Anspruch darauf, in die Arbeitsstelle sofort nach Meldung wieder einzutreten, die sie vor dem Krieg inne hatten. Die beteiligten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände werden dahin wirken, daß durch Beschaffung von Rohstoffen und Arbeitsaufträgen diese Verpflichtung in vollem Umfange durchgeführt werden kann.“ Die ersten „...Regierungs-Instrumente, die erfunden, geschaffen, erprobt werden mußten, allerdings an Objekten, die keine Regierung beherrschte, nämlich an dem vielfältigen und schwer lädierten Komplex der Volkswirtschaft und an dem ordnungs- und uferlosen Felde des Arbeitsmarktes,“97 stammen noch aus den letzten Tagen vor der Flucht des deutschen Kaisers in das niederländische Exil und der symbolträchtigen Ausrufung der Republik. Es handelt sich um Erlasse des Kriegsamtes zur Regelung der „Frauenfrage“ im Rahmen der Übergangswirtschaft.98 Wie schon an den Bestimmungen zur Arbeitslosenfürsorge deutlich gemacht werden konnte, ist beabsichtigt, die „kriegswirtschaftliche Frauenarbeit“ abzubauen: „Angesichts des riesigen Umfanges, den die industrielle Frauenarbeit in Deutschland während des Krieges erreicht hat, ist die Frage ihrer Überleitung aus der Kriegs- in die Friedenswirtschaft eine Frage von schwerwiegends94 Vgl. in diesem Zusammenhang: Jadesohn, (Samý): Das gesamte Arbeitsrecht Deutschlands unter Berücksichtigung der Literatur, Rechtsprechung und Verwaltungspraxis. Berlin 1923, 34 ff. 95 Vgl. die Demobilmachungsverordnung vom 21. November 1918. Zit. nach: Fischbach, Oskar Georg (Hg.): Verordnungen...a.a.O.(=Anm. 63), 17. 96 So zutreffend gesehen in der insgesamt lesenswerten Schrift von: Uhlig, Otto: Arbeit - amtlich angeboten. Der Mensch auf seinem Markt. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1970, 240. 97 Derselbe, ebenda, 241. 98 Diese Erlasse sind wiedergegeben in: Denkschrift...a.a.O.(=Anm. 90), 74 ff.

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ter Bedeutung für Volkswirtschaft und Volkskraft ... Es wird sich nicht nur darum handeln, den ernsten Gefahren zu begegnen, die aus der plötzlichen oder lange dauernden Arbeitslosigkeit größerer Frauenmengen, namentlich in Industriezentren, für Ruhe und Ordnung sowie für die Gesundheit der Bevölkerung bestehen, sondern vor allem darum, die Arbeitskraft der Frau dem Wirtschaftsleben wieder in einer ihrer Eigenart entsprechenden Weise einzuordnen, sei es durch Rückführung in die Familie, die mit allen Mitteln gefördert werden muß, aber infolge der Kriegsverluste nur einer stark verminderten Zahl von Frauen offenstehen wird, sei es durch Überführung in Berufe, die entweder schon vor dem Frieden Frauenberufe waren oder sich im Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung für sie geeignet erwiesen haben.“99 Drastischer und wenn man so will: klarer drückt sich eine Anweisung an die Arbeitsnachweise aus. Für die gesamte Arbeit der Arbeitsnachweise ergäben sich folgende „Hauptrichtlinien“: „I. Die Frauen müssen heraus: a) a l l e Frauen aus den Arbeitsplätzen, die für die heimkehrenden Männer frei gemacht werden müssen, b) a l l e Frauen aus schwerer und gesundheitsschädlicher Arbeit, bei Knappheit der Arbeit ferner c) or tsfr e md e Frauen aus Arbeitsplätzen, die für Ortseingesessene benötigt werden, d) J ug end lich e aus ungelernter Arbeit. II. Die Frauen müssen herein: a) n ich t erw erbsbe dürf tig e in die Familie, b) e rwe rbsb edürf tig e in die früheren Berufe, in Berufe, die Mangel an Arbeitskräften haben (Hauswirtschaft, Landwirtschaft), und solche sonstigen Berufe, in denen sie infolge zweckmäßiger Arbeitsteilung den Männern keine Konkurrenz machen, c) orts fre md e Frauen müssen tunlichst in die Heimat zurückgeführt werden, d) Jugend liche in geregelte Ausbildung.“100 Erfassungsstrategien, Beratungs- und Vermittlungsvorgaben und Hinweise darauf, daß die Lösung der geschilderten Aufgabe ein „tüchtiges, gut geschultes Personal“, „Umsicht und Geschick“ verlangten, runden das Bild ab. Eine mehrfach novellierte „Verordnung über die Freimachung von Arbeitsstellen während der Zeit der wirtschaftlichen Demobilmachung“ vom 28. März 1919101 gibt den paritätisch zusammengesetzten Demobilmachungsausschüssen die mit Strafvorschriften bewehrte Befugnis durch Anordnung „...Arbeitgeber im Rahmen dieser Verordnung zur Freimachung von Arbeitsstellen anzuhalten, wenn sich diese Maßnahme zur Bekämpfung einer erheblichen Arbeitslosigkeit als erforderlich erweist.“ Entlassen werden sollen solche Arbeitnehmer, die „...weder auf Erwerb angewiesen sind noch bei Kriegsausbruch einen auf Erwerb gerichteten Beruf hatten oder ... bei Kriegsausbruch oder später als Arbeiter in einem landoder forstwirtschaftlichen Haupt- oder Nebenbetrieb, als Bergarbeiter oder als Gesinde berufsmäßig tätig waren oder ... während des Krieges von einem anderen Orte zugezogen sind...“ Vor der Kündigung sind die Betriebsvertretungen der Arbeiter bzw. Angestellten zu hören. Falls der Arbeitgeber seiner Verpflichtung zur Kündigung nicht nachkommt, ist der Demobilmachungsausschuß zur Kündigung berechtigt. Gekündigte, die in ihre Heimatorte fahren wollen, kommen in den „Genuß“ freier Beförderung. Damit enthält auch diese Rechtsquelle Instrumente und Anreize zur „Entvölkerung“ der Rüstungszentren bzw. der großen Städte. Unmittelbar auf die Aufgabe bezogen, den desillusionierten, unzufriedenen, verbitterten und teilweise potentiell gewalttätigen von der Front zurückkehrenden Kriegsteilnehmern „lohnende Beschäftigung“ zu verschaffen, ist die „Verordnung über die Einstellung, Entlassung und Entlohnung gewerblicher Arbeiter während der Zeit der wirt99 Kriegsministerium. Kriegsamt. Betrifft: Frauenarbeit in der Übergangswirtschaft. Ebenda, 76; dieser Erlaß richtet sich an die „Vereinigung deutscher Arbeitgeberverbände.“ 100 Anlage 2. Die Aufgaben der Arbeitsnachweise für Frauen in der Übergangswirtschaft. Ebenda, 79. 101 Vgl.: RGBl. 1919, 355.

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schaftlichen Demobilmachung“ vom 4. Januar 1919.102 Mit Datum vom 24. Januar 1919 ergeht eine analoge, aber günstiger ausgestaltete Verordnung für Angestellte.103 Diese ebenfalls bald novellierten und mit Ausführungsbestimmungen versehenen Verordnungen statuieren einen gesetzlichen Zwang „...zur Wiedereinstellung der vor dem Kriege von ihnen beschäftigten Kriegsteilnehmer...“104 Sie vor allem erfüllen das „Versprechen“ des Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommens. Die auf die gewerblichen Arbeiter bezogene Verordnung macht diese Pflicht den Betrieben zur Auflage, in denen in der Regel mindestens 20 Arbeiter beschäftigt werden. Zwar ist dieser Versuch der Herstellung eines Status quo ante vom August 1914 „...nach mehr als vier Jahren Krieg naiv, andererseits der technisch wohl einzig mögliche Weg zu einer sofortigen Unterbringung der Kriegsteilnehmer...“105 Diese Verpflichtung der Arbeitgeber beinhaltet sogar die Maßgabe, die Kriegsteilnehmer tunlichst in dieselben Arbeitsplätze einzustellen, die sie vor dem Kriege innegehabt haben. Darüber hinaus wird der Arbeitgeber verpflichtet, die beim „...Inkrafttreten dieser Verordnung in seinem Betriebe beschäftigten Arbeiter weiterzubeschäftigen.“ Wiedereinstellung und auch Weiterbeschäftigung der Arbeiter stehen unter dem „natürlichen“ Vorbehalt, daß die Verhältnisse des Betriebes die Durchführung dieser Verpflichtungen auch ermöglichen. Ist dies nachweisbar nicht der Fall, kann die Arbeiterzahl des Betriebes entsprechend vermindert werden. Hinsichtlich der täglichen Arbeitszeit wird, soweit es die Verhältnisse gestatten, der „Achtstundentag“ und als unterste Grenze der Wochenarbeitszeit die 30-Stunden-Woche, später die 24-StundenWoche als maßgeblich angesehen.106 In der unter der Reduktion der Rüstungsaufträge ganz besonders „leidenden“ Groß-Berliner Rüstungsindustrie wird auf Drängen der Arbeitnehmervertretungen kurzfristig der „Vierstundentag“ mit einem gewissen Lohnausgleich ermöglicht.107 Falls betriebsbedingt Arbeiter entlassen werden sollen, so sind diese im „Benehmen“ mit den Arbeiterausschüssen zu bestimmen. Diese als „sozialpolitischer Fortschritt“ von den sozialreformerischen Kräften gepriesenen Gremien werden damit zu Hilfsorganen der Kündigung. Für die Auswahl der zu entlassenden Arbeiter gelten gemäß § 7 der Verordnung Kriterien, die auch die übrigen Rechtsquellen zur Demobilmachung in der ein oder anderen Form kennen. Neben die Beachtung der Betriebsverhältnisse, insbesondere der „Ersetzbarkeit“ des einzelnen Arbeiters, soll die Berücksichtigung des Lebens- und Dienstalters sowie des Familienstandes dergestalt treten, „...daß die älteren, eingearbeiteten Arbeiter mit versorgungsberechtigter Familie möglichst in ihrer Arbeitsstelle zu belassen sind. Die Kriegshinterbliebenen sind angemessen zu berücksichtigen. Dagegen kommen für die Entlassung in Betracht die nicht auf Erwerb angewiesenen Arbeiter, die in anderen Berufen (Land- und Forstwirtschaft, Hauswirtschaft) Arbeit finden können, besonders, sofern sie früher in diesen Berufen tätig waren, die während des Krieges von einem anderen Ort zugezogenen Arbeiter, wenn sie nicht die Bescheinigung des für diesen Ort zuständigen Arbeitsnachweises beibringen können, daß eine Beschaffung von Arbeitsgelegenheit an 102 Vgl.: RGBl. 1919, 8. 103 Vgl.: RGBl. 1919, 100. 104 Denkschrift...a.a.O.(=Anm. 90), 9. 105 Mai, Gunther: Arbeitsmarktregulierung oder Sozialpolitik? Die personelle Demobilmachung in Deutschland 1918 bis 1920/24. In: Feldman, Gerald D., Holtfrerich, Carl-Ludwig, Ritter, Gerhard A., Witt, Peter-Christian (Hg.): Die Anpassung an die Inflation. Berlin, New York 1986, 202 - 236, hier: 233. 106 Vgl. zur 24-Stunden-Woche die Abänderungsverordnung vom 20. März 1919 (RGBl. 1919, 328). 107 Vgl. die „Verordnung, betreffend Arbeitsverdienst bei Verkürzung der Arbeitszeit in der Groß-Berliner Metall-Industrie“ vom 7. Dezember 1918 (RGBl. 1918, 1405).

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diesem Orte oder in dessen Umgebung nicht möglich ist.“ Für die Entlassung wird eine Kündigungsfrist von zwei Wochen vorgeschrieben, sofern nicht eine längere Frist gesetzlich vorgeschrieben oder vereinbart ist. Darüber hinaus wird eine Rückkehrförderung „zugezogener“ Arbeiter und gegebenenfalls ihrer Familien ausgestaltet. Für die Zeit der „wirtschaftlichen Demobilmachung“ kann unter den schon in der Verordnung vom 23. Dezember 1918 spezifizierten Bedingungen die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen auch durch einen Antrag des Demobilmachungskommissars beim Reichsarbeitsministerium erwirkt werden. Zusätzlich wird das Schlichtungsverfahren in dieser Rechtsquelle den Besonderheiten der Demobilisierung angepaßt und für das Einstellungs- und Entlassungsgeschehen instrumentalisiert. Erstmals ist die „Verbindlichkeitserklärung“ eines aus dem Schlichtungsverfahren resultierenden Schiedsspruches vorgesehen: „Unterwerfen sich nicht beide Parteien dem Schiedsspruch, so kann der Demobilmachungskommissar den Schiedsspruch für verbindlich erklären.“ Die wesentlich günstigeren Bestimmungen für die Angestellten ermöglichen es diesen, nicht nur von ihrem letzten „Friedensarbeitgeber“ eine Wiedereinstellung zu verlangen, sondern, falls dies unmöglich ist, auch von dem „letzten Kriegsarbeitsgeber“. Daneben gilt für die angestellten Kriegsteilnehmer und Zivilinternierten, um, wie es offiziell heißt, sich wieder in ihre Berufstätigkeit einzuarbeiten, eine Kündigungsfrist von drei Monaten. Auch Büros und Betriebe, die erst während des Krieges entstanden sind oder sich wesentlich vergrößert haben, werden somit in die Beschäftigungspflicht von Kriegsteilnehmern und Zivilinternierten einbezogen. Die besonders schlechte Arbeitsmarktsituation für Angestellte habe dazu geführt, daß die Pflicht zur Weiterbeschäftigung der Angestellten bzw. die Kündigungsbeschränkungen so vorteilhaft geregelt seien. Die beiden Demobilmachungsverordnungen beziehen sich auf Reichsangehörige, stellen aber unter bestimmten Voraussetzungen die Kriegsteilnehmer der verbündeten Staaten gleich.108 Auch in der auf die Angestellten bezogenen Rechtsquelle ist eine „Verbindlichkeitserklärung“ von Schiedssprüchen vorgesehen. Eine unübersehbare Folge des „modernen“ hochtechnisierten Weltkrieges ist jenes „Heer“ der Kriegsversehrten, der Kriegsblinden, der Amputierten, der körperlich Entstellten, das das Straßenbild der verfeindeten Nationen schon während des Krieges prägt. Diese Menschen machen einen Teil der insgesamt 4,25 Millionen Verwundeten aus109, die allein in Deutschland als Folge des „blutigen Völkerringens“ gezählt werden. Hinzu kommen jene weniger erkennbaren Menschen, die schwere Schäden an ihrer Psyche genommen haben. Diese Schäden könne man sich, schreibt der sozialistisch orientierte Arzt Ernst Simmel, nur vergegenwärtigen, wenn man unmittelbar selbst oder in der psychiatrischen Praxis miterlebt habe, „...welchen Anstürmen das Seelenleben eines Menschen ausgesetzt ist, der nach mehrfacher Verwundung wieder ins Feld muß, bei wichtigen Familienereignissen von den Seinen auf unabsehbare Zeit getrennt ist, sich unrettbar dem Mordungetüm eines Tanks oder einer sich heranwälzenden feindlichen Gaswelle ausgesetzt sieht, der durch Granatvolltreffer verschüttet und verwundet, oft stunden- und tagelang unter blutigen, zerrissenen Freundesleichen liegt und nicht zuletzt der, dessen Selbstgefühl schwer verletzt ist durch ungerechte, grausame selbst komplexbeherrschte Vorgesetzte...“110 Aufgabe und politisches 108 Vgl.: Denkschrift...a.a.O.(=Anm. 90), 11 f. 109 Vgl. zu dieser Zahl: Schwarz, Egbert F.: Vom Krieg...a.a.O.(=Anm. 5), 151. 110 Simmel, Ernst: Psychoanalyse und ihre Anwendungen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt a.M. 1993, 23; vgl. auch: Eckart, Wolfgang U.: Versehrte Völker. Das Trauma des Ersten Weltkriegs. In: FAZ vom Freitag, den 5.

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Ziel der offiziellen Kriegspsychiatrie war allerdings nicht vornehmlich die einfühlende Therapie, sondern die Entlarvung von „Simulanten“, das Erkennen von Kriegsgegnern, die Brechung des „Unwillens“ und das Gefügigmachen für den weiteren Kriegseinsatz. Sofern die körperlich Schwerbeschädigten eine bestimmte Restarbeitsfähigkeit behalten haben, besteht auch ihnen gegenüber eine spezifisch ausgestaltete Zwangspflicht zur Einstellung und eine Erschwerung der Kündigung. Dieser Bereich der „Kriegsopferfürsorge“ ist in der „Verordnung über Beschäftigung Schwerbeschädigter“ vom 9. Januar 1919 geregelt,111 die schon bald novelliert wird.112 Untrennbar mit der Demobilisierung verbunden sind „Notstandsarbeiten“. Diese werden schon in der Vereinbarung der Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer vom 2. November 1918 angesprochen, in der die Aufgaben des noch zu gründenden Demobilmachungsamtes umrissen werden. Auf diesem Gebiet übernehmen das Reich und die Einzelstaaten eine „lediglich“ reglementierende und mitfinanzierende Rolle, den Gemeinden und Kommunalverbänden kommt die Durchführung zu. Bereits mit einem Erlaß des Demobilmachungsamtes vom 28. November 1918 werden Grundsätze über die Bewilligung von Zuschüssen zu öffentlichen Notstandsarbeiten festgelegt.113 Durch die Gewährung von „Überteuerungszuschüssen“ soll es den Gemeinden und anderen Kommunalverbänden ermöglicht werden, Notstandsarbeiten zu finanzieren. Tausende von Anträgen gehen ein und durch diese „alte Notstandsaktion“ sind bis zum 30. Juni 1920, dem Abschlußtermin, „...schätzungsweise 330.000 Personen der Erwerbslosigkeit dauernd entzogen worden.“114 Die Gelder werden als Zuschüsse für Erdarbeiten, Hochbauten, „elektrische Unternehmungen“, Meliorationen, Gartenanlagen, Schrebergärten, Siedlungen, forstwirtschaftliche Arbeiten, Bahnbauten, Straßenbauten und die Kanalisation verwendet.115 Seit der „Verordnung, betreffend Abänderung der Reichsverordnung über Erwerbslosenfürsorge vom 23. April 1919“, die auf den 27. Oktober 1919 datiert ist,116 besteht darüber hinaus eine Ermächtigung des Reichsarbeitsministers „...mit Zustimmung des Reichsministers der Finanzen an Gemeinden und Gemeindeverbände zur Unterstützung von Maßnahmen, die geeignet sind, den Abbau der Erwerbslosenfürsorge zu fördern, Zuschüsse zu bewilligen. Die Zuschüsse bestimmen sich in ihrer Höhe nach der Zahl der Erwerbslosen, die durch diese Maßnahmen der Erwerbslosenfürsorge entzogen und ferngehalten werden. Die Zuschüsse sollen, das Einverständnis der Landesregierungen vorausgesetzt ... auf das Reich, das Land und die Gemeinden oder den Gemeindeverband verteilt werden.“117

August 1994, Nr. 180, 25; zur Kriegspsychiatrie vgl.: Bröckling, Ulrich: Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion. München 1997, 199 ff. 111 Vgl.: RGBl. 1919, 28. 112 Vgl.: RGBl. 1919, 132; vgl. auch: Wachs, Friedrich-Carl: Das Verordnungswerk...a.a.O.(=Anm. 55), 171 f.; die zahlreichen weiteren Novellen können aus Raumgründen nicht angemerkt und kommentiert werden. 113 Vgl.: Schiele: Förderung öffentlicher Notstandsarbeiten durch Zuschüsse aus Reichs- und Staatsmitteln in der Zeit vom 10. November 1918 bis 30. Juni 1920. (Alte Notstandsaktion.) Teil I. In: Reichs-Arbeitsblatt (Nichtamtl. Teil) (1920)2, 66 - 67, hier: 66. 114 Derselbe: Förderung öffentlicher Notstandsarbeiten... Teil II, ebenda, Heft 3, 110 - 111, hier: 111. 115 So eine Klassifikation ebenda, 111. 116 Vgl.: RGBl. 1919, 1827. 117 Ebenda, Artikel I, §5; diese Vorschrift wird zum § 15a der novellierten „Reichsverordnung über Erwerbslosenfürsorge.“

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Im Zuge dieser „produktiven Erwerbslosenfürsorge“118 kommt es zu einer Weiterfinanzierung entsprechender Maßnahmen. Dabei gerät insbesondere wieder die großstädtische Arbeitslosigkeit in den Blickpunkt. Das politisch unruhige Groß-Berlin, „...das nicht weniger als rd. 46 v.H. aller Erwerbslosen von ganz Preußen (oder rd. 22 v.H. von ganz Deutschland) bei sich zusammengedrängt sieht,“119 wird besonders intensiv mit Geldern und Maßnahmen bedacht. Die Idee einer Behebung der kriegs- und waffenstillstandsbedingten und auch durch die Bestimmungen des „Versailler Vertrages“ verursachten „Transportnot“ durch den Einsatz von Arbeitslosen bei Be- und Entladearbeiten wird geboren.120 Die im Grunde weit in die Geschichte der Armenpflege zurückreichende Idee der Landgewinnung und -verbesserung sowie der „inneren Kolonisation“ lebt wieder auf und soll durch den Einsatz der Erwerbslosen in die Praxis umgesetzt werden. Von der Initiierung einer Bevölkerungsbewegung zurück auf das Land wird viel geschrieben und zahlreiche arbeitsmarktpolitische Instrumente weisen ja in diese Richtung. Die Einschränkung der Arbeitslosenunterstützung soll entsprechende Wirkungen zeitigen und Koeth versucht zu Beginn des Jahres 1919, allerdings erfolglos, die Regierung von der Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit eines neuen Hilfsdienstgesetzes zu überzeugen. Die Regierung sei dann endlich in der Lage, „...die Arbeiter aus den Städten heraus zur Arbeit im Bergbau und in der Landwirtschaft verpflichten zu können.“121 Nach Ablehnung dieser Strategie werden umfassende „Landsiedlungspläne“ erwogen, die aber ebenfalls keine Umsetzung erfahren.122 Ausgerechnet im „Zentralrat der deutschen sozialistischen Republik“ findet die Idee des Arbeitszwanges einen Fürsprecher: „Ich erinnere daran, daß wir den Arbeitszwang im Kriege hatten, sollten da die Sozialisten es nicht fertig bringen, den Arbeitszwang für die eigene sozialistische Republik durchzusetzen?“123 Selbst der alte Ansatz, den Erwerbstätigen durch die Anweisung und Kultivierung von Gartenland eine auskömmlichere und krisenfestere Existenz zu verschaffen, greift erneut Raum.124 Die „Entlastung der Großstädte“ von den durch die „mangelnde Beschäftigung der industriellen Werke“ brotlosen Massen, gilt als ebenso notwendiges, wie schwieriges und nicht ohne Zwang zu lösendes Unterfangen. Durch die Art der Notstandsarbeiten, deren Struktur sich, wie am Beispiel des RheinMain-Gebietes gezeigt werden konnte, durch den Übergang von der „alten Notstandsaktion“ zur „produktiven Erwerbslosenfürsorge“ nicht grundlegend verändert,125 ist gleichzeitig 118 Vgl. den Beitrag von: Schiele: Produktive Erwerbslosenfürsorge. In: Reichs-Arbeitsblatt (Nichtamtl. Teil) (1920)4, 132 - 133. 119 Bardow: Zur Sonderaktion für die Groß-Berliner Erwerbslosen. In: Reichs-Arbeitsblatt (Nichtamtl. Teil) (1920)5, 179 - 180, hier: 179. Es sind dies Zahlenangaben, die noch einmal wachsen; vgl. denselben: Erwerbslosenfürsorge durch Überführung großstädtischer Erwerbsloser auf das Land. In: Reichs-Arbeitsblatt (Nichtamtl. Teil) (1921)21, 850 - 851, hier: 851; natürlich sind auch diese Statistiken mit einem „Qualitätsvorbehalt“ zu versehen, also mit Vorsicht zu benutzen. 120 Amberger, J. F.: Transportnot und Erwerbslose. In: Reichs-Arbeitsblatt (Nichtamtl. Teil) (1920)6, 214. 121 So in Wiedergabe des Inhalts einer Besprechung: Feldman, Gerald D.: Wirtschafts- und sozialpolitische Probleme der Deutschen Demobilmachung 1918/19. In: Mommsen, Hans, Petzina, Dietmar, Weisbrod, Bernd (Hg.): Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik. Düsseldorf 1974, 618 - 636, hier: 633. 122 Vgl. denselben, ebenda, 633. 123 Kolb, Eberhard, Rürup, Reinhard (Bearb.): Der Zentralrat der deutschen sozialistischen Republik 19.12.1918 8.4.1919. Vom ersten zum zweiten Rätekongreß. Leiden 1968, 366 f. 124 Berger: Kulturgürtel um die Großstädte unter Förderung aus der produktiven Erwerbslosenfürsorge. In: Reichs-Arbeitsblatt (Nichtamtl. Teil) (1921)9, 343 - 345; vgl. auch: Bardow: Die Förderung von Meliorationen mit Mitteln der produktiven Erwerbslosenfürsorge in Preußen. In: Ebenda, Heft 17, 668 - 671. 125 Vgl.: Knortz, Heike: Wirtschaftliche Demobilmachung...a.a.O.(=Anm. 5), 195.

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bedingt, daß ganz überwiegend Männerarbeitsplätze entstehen. Es existiert aber auch zumindest ein Projekt, das auf das Bekleidungs- und Textilgewerbe zugeschnitten ist und das vor allem die Frauenerwerbstätigkeit fördern soll. Überwiegend geht es um eine Erweiterung oder eine Verbesserung der kommunalen Infrastrukturen, die im Krieg einem erheblichen Verschleiß und einer starken Vernachlässigung ausgesetzt waren. Im Land Preußen und abgeschwächt auch in Bayern kommt offensichtlich den Meliorationen ein erheblicher Stellenwert zu.126 Im Zusammenhang mit dieser „produktiven Erwerbslosenfürsorge“ und ihren als viel zu hoch und damit als inflationsfördernd eingeschätzten Kosten wird zu Beginn der 20er Jahre in Form eines entsprechenden Referentenentwurfs die Konzeption favorisiert, diese Maßnahmen und die Erwerbslosenfürsorge überhaupt durch eine „vorläufige Arbeitslosenversicherung“ abzudecken. Die entstehenden Kosten sollen „...zu je ½ von den Arbeitgebern und Arbeitnehmern getragen und durch Beiträge aufgebracht werden.“127 In hohem Maße entsprechen einige der arbeitsmarktpolitischen Verordnungen der Demobilmachungsorgane schon zuvor existierenden Planungen, Absichten und Maßnahmen der Betriebe und Wirtschaftsverbände, die sich bereits im Krieg mittelfristig auf die Wirtschaftsumstellung vorbereitet hatten, um diese auch betriebswirtschaftlich riskante Phase zu bewältigen. In großem Umfang existieren bereits während des Krieges erstellte Listen der zu entlassenden und wieder einzustellenden Arbeitskräfte. Darüber hinaus zeigen die Quellen, daß sie auch in Übereinstimmung zu bereits vor der Endphase des Krieges artikulierten Forderungen der Gewerkschaften und bürgerlichen Sozialreform stehen.128 Dies betrifft auch die Frauenarbeit. Die „Mithilfe“ der Frauen bei der Verfertigung der Rüstungsgüter, bei der Herstellung und Verwaltung jener perfektionierten Instrumente des Verwüstens, des Verwundens und Tötens war bedeutend und in den Rüstungsbetrieben unübersehbar. Bei einer keineswegs gewaltigen Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit insgesamt, eine allerdings wiederum recht fragwürdige Statistik geht von knapp 17% aus,129 waren sie doch in den Rüstungswerken konzentriert und hatten hier die kriegsbedingt abwesenden Männer ersetzt. Unübersehbar war die „massierte“ kriegsbedingte Frauenarbeit aber auch in den öffentlichen Verwaltungen, bei der Bahn und der Post. Die den Planungen und Verordnungen entsprechenden Kündigungsmaßnahmen müssen in hohem Maße auch bei den Adressatinnen von einiger Akzeptanz gewesen sein. Manche Frauen hatten schon bei Einstellung eine Erklärung unterschrieben, die die Mitarbeit an der Rüstung des Reiches auf die Kriegszeit beschränkte. Andere nehmen nach der Rückkehr des „Ernährers“ wieder ihren Platz in der Familie ein und sind einer entnervenden Doppelbelastung entronnen, die eine nur notgedrungen akzeptierte Zumutung war. Die Tendenz der Verordnungsgebung und Arbeitsmarktpraxis, den geschlechtsspezifisch

126 Vgl. die Tabelle im: Reichs-Arbeitsblatt (Nichtamtl. Teil) (1920)3, 111; vgl. insgesamt zu Einzelmaßnahmen und Projekten auf kommunaler Ebene die Beispiele bei: Knortz, Heike: Wirtschaftliche Demobilmachung ...a.a.O.(=Anm. 5). 127 Die Erwerbslosigkeit der Welt...a.a.O.(=Anm. 80), 27. 128 Vgl. z.B. die „Gemeinsame Eingabe der Richtungsgewerkschaften und Angestelltenverbände an den Bundesrat und Reichstag mit Forderungen zur Übergangswirtschaft“ vom 30.06.1917. In: Die Gewerkschaften in Weltkrieg und Revolution...a.a.O.(=Anm. 42), 360 - 370, sowie: Soziale Forderungen für die Übergangswirtschaft. Eine Kundgebung. Leipzig und Berlin 1918 (die darin enthaltenen Vorschläge sind im Mai 1918 beschlossen worden). 129 Vgl. dazu: Die zahlenmäßige Entwicklung der Frauenarbeit während des Krieges. In: Reichs-Arbeitsblatt, 17(1919)1, 71 - 74.

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strukturierten Arbeitsmarkt der Vorkriegszeit wiederherzustellen,130 kann nicht nur mit einiger Akzeptanz durch die Frauen rechnen, sie entspricht auch einer weitverbreiteten Auffassung bei den Arbeiter- und Soldatenräten, den Demobilmachungsausschüssen, Ministerien, Gewerkschaften, Interessengruppen, örtlichen Behörden sowie bei den demobilisierten Soldaten.131 Insgesamt aber bedeuten die Maßnahmen der Demobilisierung keine tiefgreifende und dauerhafte Eliminierung der Frauen vom Arbeitsmarkt. In längerfristiger Perspektive nimmt die Frauenerwerbstätigkeit zu.132 Aus der Rüstungsindustrie entlassene Frauen müssen nicht der Erwerbslosigkeit anheimfallen, sie finden in anderen Wirtschaftsbereichen auch wieder Beschäftigung. In zahlreichen Rüstungsbetrieben und kriegsbezogenen Verwaltungsstellen des Ruhrgebietes sind die Massenentlassungen der Frauen Anfang 1919 bereits weitgehend abgeschlossen. Die Firma Krupp in Essen z.B. beschäftigte während des Krieges rund 30.000 Frauen, im Mai 1919 sind es noch 490. Die Firma Rheinmetall in Düsseldorf kündigt allen dort im Rüstungsbereich beschäftigten 9.000 Frauen bei Bezahlung der Heimreise und kurzfristiger Lohnfortzahlung. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß im Ruhrgebiet erstaunlich wenige Frauen gegen ihre Entlassung protestiert haben: „Die meisten Frauen verhielten sich eher passiv und verließen oft sogar freiwillig ihren Arbeitsplatz, bevor sie überhaupt verdrängt werden konnten.“133 Diese Beobachtung scheint auch für andere Regionen des Reiches zuzutreffen.134 Aber es sind auch konfliktreichere Verdrängungsprozesse bekannt geworden.135 Solche konflikthaften Auseinandersetzungen haben wohl vor allem den Angestelltenbereich betroffen, wo sich weibliche Angestellte auf Grund ihrer Qualifikation in Büroberufen halten können. Häufig setzen sich auch Arbeitgeber für den Verbleib ihrer qualifizierten und vergleichsweise billigen weiblichen Arbeitskräfte ein. In nicht unbedeutendem Ausmaß stimmen auch die Normalitätsannahmen der Demobilmachungsanordnungen nicht: Familien können im Zuge der Inflation durchaus zur Sicherung der Existenz auf die Mitarbeit und den Zuverdienst der Frauen angewiesen sein. Der „Blutzoll“ des Krieges hat sie nicht selten zu unverzichtbaren „Mit-“ oder „Alleinverdienern“ gemacht, weil der „Ernährer“ nicht oder als unzureichend unterstützter oder wenig verdienender Kriegsversehrter zurückgekehrt ist. Insofern betrifft der technokratisch konzipierte Demobilisierungsprozeß „...nicht isolierte Individuen, sondern Mitglieder von Familien“136, die möglicherweise zerstört oder schwer in Mitleidenschaft gezogen sind. Zwei weitere Gruppen spielen eine ähnliche Rolle bei den Regulierungspro-

130 So zutreffend gesehen von: Rouette, Susanne: Die Erwerbslosenfürsorge für Frauen in Berlin nach 1918. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 21(1985), 295 308, hier: 300; vgl. auch: Dieselbe: Frauenerwerbsarbeit in Demobilmachung und Inflation 1918 - 1923. Struktur und Entwicklung des Arbeitsmarktes in Berlin. In: Tenfelde, Klaus (Hg.): Arbeiter im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1991, 32 - 65. 131 Vgl.: Bessel, Richard: „Eine nicht zu allzu große Beunruhigung des Arbeitsmarktes“. Frauenarbeit und Demobilmachung in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. In: Geschichte und Gesellschaft, 9(1983), 211 - 229, hier: 218. 132 So mit Schwerpunkt auf die Frauenfabrikarbeit und auf die Jahre 1907 - 1925 bezogen: Schwarz, Egbert F.: Vom Krieg...a.a.O.(=Anm. 5), 115. 133 Derselbe, ebenda, 102. 134 Vgl.: Bessel, Richard: „Eine nicht allzu große...a.a.O.(=Anm. 131), 221 f. 135 Vgl. denselben, ebenda, 110 ff.; hier auch Hinweise auf die Motive der Beteiligten und zu Alternativen zur Lohnarbeit in der Rüstungsindustrie sowie auf die kontroverse Diskussion dieser „Frauenerwerbsarbeit im Krieg“. Auf konflikthaftere Verhältnisse beim Abbau der Frauenarbeit weist auch hin: Mai, Gunther: Arbeitsmarktregulierung...a.a.O.(=Anm. 105), 208 f. 136 Bessel, Richard: „Eine nicht allzu große...a.a.O.(=Anm. 131), 224.

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zessen auf dem Arbeitsmarkt wie die Frauen: die ausländischen Zivilarbeiter und die Kriegsgefangenen. Der Einsatz ausländischer Arbeitskräfte war schon vor 1914 in Deutschland nicht ungewöhnlich und verliert sich im Dunkel von weit zurückreichenden Vorgeschichten. Zunächst war man auf Grund von Illusionen über die Kriegswirtschaft und den Kriegsverlauf nicht davon ausgegangen, Ausländer in bedeutendem Umfang während des Krieges beschäftigen zu müssen. Dann begann der Ausländereinsatz mit der zwangsweisen Zurückhaltung russisch-polnischer Arbeiter. Insgesamt ist die gegenüber Ausländern praktizierte „Arbeiterpolitik“ durchaus uneinheitlich und kennt verschiedene Phasen. Im Ersten Weltkrieg waren es insbesondere Holländer, Belgier und „russische Staatsangehörige aus dem russisch-polnischen Okkupationsgebiet“, die als Zivilarbeiter in der Rüstungsindustrie beschäftigt waren. Gegenüber diesen überwiegend mit mehr oder weniger Zwang rekrutierten Arbeitskräften entwickelten deutsche Stellen ein zwischen Belgiern und Polen durchaus differenzierendes System von Leistungsanreizen, repressiven und sozialpolitischen Strategien. Dabei erwies sich die Zwangsarbeit als nicht sehr effektive Form der Erweiterung des Arbeitskräftepotentials und der „Nationalkraft“. Eine geringe Arbeitsproduktivität, Arbeitsverweigerungen, Flucht und andere Formen eines „abweichenden Verhaltens“ breiteten sich aus. Das wiederum zog entsprechende reglementierende und strafende Gegenmaßnahmen deutscher Repressionsorgane nach sich. Die Zwangsrekrutierung von Belgiern führte schließlich zu so starken deutschen und internationalen Protesten und zu einer Versteifung des nationalen Widerstandes in Belgien selbst, daß sie im Frühjahr 1917 eingestellt wurde.137 Immerhin haben sozial- und arbeitsrechtliche Sondervorschriften, Zwangs- und Deportationsmaßnahmen, Lagerunterbringung usw., die im Verlauf des Zweiten Weltkrieges eine noch viel größere Rolle spielen sollen, hier ihre neueren historischen Wurzeln, wobei auf diesem Gebiet bereits ein deutliches Gefälle des „sozialpolitischen Komforts“ zwischen Reichsangehörigen und Ausländern bestand, die ja „feindliche Staatsangehörige“ waren.138 Gegen Ende des Krieges wurde, wegen der schlechten Erfahrungen mit Zwangsmaßnahmen, eine „liberalere“ und stärker auf Anreize aufbauende „Arbeiterpolitik“ praktiziert. Unter den Kriegsgefangenen dominierten, entsprechend dem Kriegsverlauf, die Russen gefolgt von den Franzosen. Bei Kriegsende arbeiteten wahrscheinlich beinahe drei Millionen Ausländer im Deutschen Reich, darunter rund zwei Millionen Kriegsgefangene. Im August 1916 waren von den Kriegsgefangenen rund 1,1 Millionen Menschen in der Kriegswirtschaft tätig.139 Diese Beschäftigtengruppen verschwinden im Zuge der Demobilisierung, wie am Beispiel des Ruhrgebiets nachgewiesen ist, vom rüstungswirtschaftlichen Arbeitsmarkt. Sie verlassen das Reich in organisierter aber auch in unorganisierter Form, indem sie mit dem Waffenstillstand nicht mehr zur Arbeit erscheinen, Entlassungen ausge137 Vgl.: Schwarz, Egbert F.: Vom Krieg...a.a.O.(=Anm. 5), 122 ff. sowie: Herbert, Ulrich: Zwangsarbeit als Lernprozeß. Zur Beschäftigung ausländischer Arbeiter in der westdeutschen Industrie im Ersten Weltkrieg. In: Archiv für Sozialgeschichte, 24(1984), 285 - 304, hier: 290; vgl. insgesamt auch: Zunkel, Friedrich: Die ausländischen Arbeiter in der deutschen Kriegswirtschaftpolitik des 1. Weltkrieges. In: Ritter, Gerhard A. (Hg.): Entstehung und Wandel der modernen Gesellschaft. Berlin 1970, 280 - 311. 138 Vgl. auch die auf diese Vorgeschichte bezogenen Ausführungen bei: Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches. Berlin, Bonn 1985, 24 ff. sowie etwa den Erlaß des Oberbefehlshaber Ost IV a. Nr. 8288 vom 16.6.1916, der mit Bezug auf die „feindlichen Staatsangehörigen“ die „besondere Würdigkeit und Bedürftigkeit“ zum Maßstab der Krankenversorgung erhebt. BA Abt. Potsdam. 15.01 Reichsministerium des Innern, Akte Nr. 14901/1, Bl. 244. 139 Vgl.: Schwarz, Egbert F.: Vom Krieg...a.a.O.(=Anm. 5), 136; vgl. zusammenfassend: Bade, Klaus J.: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München 2000, 240 ff.

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sprochen werden, sich Lager auflösen, weil die Wachmannschaften ihre Posten verlassen haben oder Maßnahmen einer organisierten Rückführung greifen. Mit der Demobilmachung setzt eine neue Phase der Ausländerbeschäftigung ein. Sie finden meist unter Einschaltung der paritätisch besetzten Arbeitsnachweise offiziell nur noch dann Beschäftigung, wenn keine deutschen Arbeitskräfte zur Verfügung stehen.140 Es fehlt im Zusammenhang mit den gewaltigen Umschichtungen der Betriebsbelegschaften auch nicht an Hinweisen, daß die zuständigen Organe dieses „Geschehens“, daß inbesondere die Großindustriellen die Gelegenheit nutzen, die Betriebe von „Spartakusleuten“ bzw. Kommunisten zu „reinigen.“141 Diese Behandlung dreier Beschäftigtengruppen, der Frauen, der Zivilarbeiter und der Kriegsgefangenen, hat die Anpassungsprobleme der Rüstungsbetriebe an „Friedensverhältnisse“ wesentlich vereinfacht. Trotzdem muß sich die Einrichtung der betrieblichen Strukturen und Prozesse vorübergehend deutlich vom „betriebswirtschaftlichen Optimum“, so wie es zur damaligen Zeit gesehen wird, entfernt haben. Dies ist sicherlich der Preis, der zu zahlen ist und der häufig auch in der Überzeugung, so der gesellschaftlichen Stabilität gedient zu haben, gezahlt wird und der, wie andere integrativ wirkende Maßnahmen auch, durch den Inflationsmechanismus vor 1923 erleichtert wird. Die offenkundige Tatsache, daß ein Teil der „neuen Welle“ der sozialpolitischen Rechtsschöpfungen, daß vor allem die Verwirklichung des symbolträchtigen „Achtstundentages“ durch die Demobilmachungsbehörden erfolgte, läßt die sozialpolitischen Fortschritte auf dem Gebiet der Arbeitsmarktverfassung, der Arbeitslosenunterstützung und der Arbeitszeit zum Bestandteil einer Übergangs- und Ausnahmegesetzgebung werden.142 Sie ist damit nicht nur „minderer Rechtsqualität“, sondern ihr haftet auch der ganz entscheidende Makel einer zeitlich begrenzten Geltungsdauer an. Schon im April des Jahres 1919 beginnt die Demontage des ursprünglichen Behördenaufbaues der Demobilmachung und bald folgt auch eine Beschränkung der Befugnisse. Mit Datum vom 18. Februar 1921 ergeht eine „Verordnung über die Beendigung der wirtschaftlichen Demobilmachung“,143 die das baldige Ende der Demobilmachungsausschüsse verfügt, das Ende der Demobilmachungskommissare anspricht und in die Hände der Reichsregierung legt und im § 3 bestimmt: „Die Anordnungen der Reichsministerien und der übrigen Demobilmachungsbehörden auf Grund der die wirtschaftliche Demobilmachung betreffenden Befugnisse treten mit dem 31. März 1922 außer Kraft, sofern nicht durch Gesetz oder besondere Anordnung ein früherer Zeitpunkt bestimmt ist.“ Damit wäre bereits mit dem 31. März 1922 ein Großteil des Weimarer Sozialstaates zumindest vorübergehend in Wegfall gekommen. Daß es dazu und zu den zweifellos dann folgenden sozialen und politischen Unruhen nicht kommt, ist dem „Gesetz über Verlängerung der Geltungsdauer von Demobilmachungsverordnungen“ vom 30. März 1922144 zu verdanken, das die „Verordnung über die Beendigung der wirtschaftlichen Demobilmachung“ abändert und das die Geltungsdauer zentraler, für die Sozialpolitik der Republik geradezu konstitutiver An- und Verordnungen um ein halbes

140 Vgl. Schwarz, Egbert F.: Vom Krieg...a.a.O. (=Anm. 5), 132f. 141 Vgl.: Mai, Gunther: Arbeitsmarktregulierung...a.a.O.(=Anm. 105), 228; vgl. auch: Abschrift aus einem Bericht des Gen. 212. Vom 1.2.24. SAPMO-BA. KPD/ZK, I 2/708/112, Bl. 27 f. 142 So: Wachs, Friedrich-Carl: Das Verordnungswerk...a.a.O.(=Anm. 55), 222. 143 Vgl.: RGBl. 1921, 189; zur Entstehung vgl. denselben, ebenda, 220 ff. 144 Vgl.: RGBl. I 1922, 285.

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Jahr auf den 31. Oktober 1922 verlängert. Dieser Vorgang wiederholt sich noch dreimal.145 Von den halbjährlichen Fristverlängerungen werden stets weniger Demobilmachungsverordnungen erfaßt, da manche Rechtsquellen inzwischen entfallen können bzw. in die ordentliche Gesetzgebung überführt worden sind. An diesem Verfahren der Verlängerung der Geltungsdauer nehmen auch die Arbeitslosenunterstützung und die Arbeitszeitbestimmungen teil. Hinter diesen Erscheinungen stehen umfangreiche politische Kämpfe und Auseinandersetzungsprozesse.

2.1.3 Um Sozialisierung, Sozialverfassungsfragen und Räteorganisation Im Jahre 1919 macht die hochgehende Rätebewegung Stellungnahmen der Reichspolitik zur Frage der „Sozialisierung“ und zur Rätebewegung unumgänglich. Sie sieht sich damit zur Auseinandersetzung mit einer der ganz großen Hoffnungen der nationalen und internationalen Arbeiterbewegung gedrängt, zur Auseinandersetzung mit der Frage, was denn nun eigentlich und konkret den Inhalt des „Sozialismus“ ausmachen soll, der so vielstimmig und in so unterschiedlicher und verwaschener Form von verschiedenen Seiten propagiert wird. Der „Rat der Volksbeauftragten“ und die Regierung Scheidemann stehen dabei in einem komplexen gesellschaftlich-politischen Kräftefeld. Auf der einen Seite finden sich auch im Jahre 1919 die „rein“ kapitalistischen Kräfte, die alle Bedeutungsinhalte von Sozialisierung und alle Maßnahmen, die zu ihr führen, als Unding strikt ablehnen,146 hinzu kommen die Vertreter besonderer Wirtschaftszweige, die die Formel von der Sozialisierungsreife aufgreifen und nachzuweisen versuchen, daß ihr Gewerbe nun wirklich nicht zur Sozialisierung „reif“ sei.147 Die Haltung der rechtsgerichteten Parteien in der Nationalversammlung ist strikt ablehnend. Die Haltung der MSPD zur „Sozialisierung“ ist weiterhin diffus und uneinheitlich, es gibt auch jetzt noch keine ausgearbeitete, allgemein anerkannte Konzeption. Sie kann sich „Sozialisierung“ häufig nur als Ergebnis eines langen Entwicklungsweges vorstellen und denkt ebenfalls überwiegend nur an einen Eingriff in bestimmte, dazu „reife“ Wirtschaftsbranchen. In ihrer Haltung spiegelt sich der Kriegs- und Vorkriegsrevisionismus, die gesamte Theorieentwicklung dieser Partei. In solchen abwartenden und abwehrenden Reaktionen wird sie von der gemäßigten Gewerkschaftsbewegung unterstützt. Im Vordergrund der Problemwahrnehmung steht die Aufrechterhaltung der Produktion und

145 Vgl. das „Gesetz über Verlängerung der Geltungsdauer von Demobilmachungsverordnungen“ vom 26. Oktober 1922 (RGBl. I 1922, 802), das „Gesetz über die Geltungsdauer von Demobilmachungsverordnungen“ vom 23. März 1923 (RGBl. I 1923, 215) und die auf Grund des berühmten Ermächtigungsgesetzes vom 13. Oktober 1923 (RGBl. I 1923, 943) ergehende „Verordnung über die Verlängerung der Geltungsdauer von Demobilmachungsverordnungen“ vom 29. Oktober 1923 (RGBl. I 1923, 1036). Bis zum Gesetz vom 23. März 1923 und zur Fixierung der Geltungsdauer auf den 31. Oktober 1923 werden zentrale sozialpolitische Verordnungen, insbesondere jene zur Erwerbslosenunterstützung und zur Arbeitszeit „mitgeschleppt.“ 146 Derartige Stellungnahmen finden sich u.a. in den zahlreichen „Branchenzeitschriften“. Sie begründen die Ablehnung meist mit den „desaströsen Folgen“ einer solchen Strategie für die Produktion und folglich auch den Konsum; vgl. z.B.: Großmann, Fr.: Die Wirkung der Sozialisierung unseres Wirtschaftslebens auf die Mittel- und Kleinbetriebe und auf den Handel. In: „GUMMIWELT“, (1919),4; ablehnend auch: Bueck, K.: Möglichkeit und Grenzen der Sozialisierung. In: Zentralblatt für das deutsche Baugewerbe,18(1919)15, 151 - 154. 147 Dieses Spiel treibt sogar die im allgemeinen häufig als „sozialisierungsreif“ angesehene Kohlenwirtschaft; vgl.: Büren, Herbert: Arbeitgeber und Sozialpolitik. II. Band. Köln 1934, 243; vgl. als Beispiel: Schürmann, Johann: Was haben die Beamten und Arbeiter von der Sozialisierung zu erwarten? In: Der Bergbau, 32(1919)11, 265 - 267.

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die dringend erforderliche Erhöhung der Produktivität.148 Viele Maßnahmen und Deklarationen von dieser Seite hatten und haben die Intention, eine Festlegung in dieser Frage zu vertagen. In sehr unbestimmter Form taucht die Sozialisierungsidee im „Aufruf zur Gründung einer demokratischen Partei“ vom 16. November 1918 auf: „Die Zeit erfordert die Gestaltung einer neuen sozialen und wirtschaftlichen Politik. Sie erfordert, für monopolistisch entwickelte Wirtschaftsgebiete die Idee der Sozialisierung aufzunehmen, die Staatsdomänen aufzuteilen und zur Einschränkung des Großgrundbesitzes zu schreiten...“149 Im Programm der DDP vom Dezember 1919 wird aber sehr bestimmt „die Vergesellschaftung der Produktionsmittel im Sinne allgemeiner Verstaatlichung“ als „tödliche Bürokratisierung“ abgelehnt.150 Der Aufruf und die Leitsätze des Reichsausschusses der Zentrumspartei vom 30. Dezember 1918 wenden sich gegen die „Form der sozialistischen Republik“. Sie bekennen sich zu einem „geordneten Aufbau der Volkswirtschaft“ im Dienste der „sozialen Gerechtigkeit und des Gemeinwohls“ bei grundsätzlicher Erhaltung der auf persönlichem Eigentum beruhenden „...nach dem Solidaritätsprinzip dem Gemeinwohl der Gesellschaft untergeordneten Privatwirtschaft.“151 Ergänzt man diese programmatischen „Festlegungen“ um weitere Äußerungen aus diesen Parteikreisen, verdichtet sich der Eindruck einer vorübergehend vorhandenen „Schnittmenge“ von Auffassungen bei MSPD, DDP und Zentrum, die in Richtung auf eine parlamentarische Ermöglichung einer sehr „gemäßigten“ Form von „Sozialisierung“ verweist.152 Der eigentliche Ort „rücksichtsloser“ und durchgreifender Sozialisierungsforderungen ist auch im Jahre 1919 die gewerkschaftliche und politische Linke.153 Bei dieser Konstellation wäre eine „Sozialisierung“ vermutlich im Sande verlaufen, wenn es nicht die mit einer spezifischen Form der „Sozialisierung“ eng verknüpfte Rätebewegung gegeben hätte. Darüber hinaus legt die bereits 1918 eingesetzte „Sozialisierungskommission“ ihre Arbeitsergebnisse vor. Nachdem sich die „Sozialisierungskommission“, jenes Gremium aus „hervorragenden Nationalökonomen“ in „...Gemeinschaft mit den Arbeitern und Unternehmern, den Praktikern des Wirtschaftslebens...“,154 einen Arbeitsplan gegeben hat,155 verfaßt sie einen Bericht 148 Der Berliner Hochschullehrer und Sozialwissenschaftler Ignaz Jastrow schreibt, es könne jenseits von bereits verstaatlichten oder noch nicht aufgegriffenen Wirtschaftsaktivitäten „...kaum ein Zweig zur Sozialisierung empfohlen werden, ohne daß gewichtige Sachverständige dartun, er sei dafür besonders wenig geeignet.“ Die Literatur erinnere etwas an das Gebet: „O heiliger St. Florian, b'hüt unser Haus, zünd' andre an!“; vgl.: Jastrow, J.: Die „Sozialisierung der Betriebe.“ In: Deutsche Politik, 4(1919), 118 - 125, hier: 122. 149 Die deutschen Parteiprogramme, begründet von Felix Salomon. Heft 3. Fünfte Auflage. Leipzig und Berlin 1931, 10. 150 Vgl. ebenda, 46. 151 Vgl. ebenda, 13. 152 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die vom parteidogmatischen Standpunkt her argumentierende, aber auf Grund ihres Faktenreichtums wertvolle Untersuchung aus der ehemaligen DDR: Brehme, Gerhard: Die sogenannte Sozialisierungsgesetzgebung der Weimarer Republik. Berlin 1960, 57 ff. 153 Vgl. die zusammenfassenden Ausführungen bei: Schieck, Hans: Die Behandlung der Sozialisierungsfrage in den Monaten nach dem Staatsumsturz. In: Kolb, Eberhard (Hg.): Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Köln 1972, 138 - 164. 154 So die Begriffswahl in der Proklamation des Rates der Volksbeauftragten zur Einberufung dieser Kommission; zit. nach: Brehme, Gerhard: Die sogenannte Sozialisierungsgesetzgebung...a.a.O.(=Anm. 152), 43; dort auch Hinweise auf die personelle Zusammensetzung. Die maschinenschriftliche Fassung findet sich in: BA Abt. Potsdam. 31.05 Sozialisierungskommission, Nr. 1, Bl. 45. 155 Vgl.: Erklärung der Sozialisierungskommission über ihren Arbeitsplan vom 11.12.1918. In: Ritter, Gerhard A., Miller, Susanne (Hg.): Die deutsche Revolution 1918 - 1919. Dokumente. Zweite, erheblich erweiterte und überarbeitete Auflage. Hamburg 1975, 261 f.

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über ihre Tätigkeit bis zum 7. Januar 1919. Dieser Bericht lehnt jeden „Schematismus“ auf dem Felde der „Sozialisierung“ ab. Unter „Vergesellschaftung“ werde keineswegs durchgängig „Verstaatlichung“ verstanden, „...vielmehr kommen, je nach dem besonderen Falle, auch das Eigentum der Gemeinde oder sonstiger Selbstverwaltungskörper oder die Eigenproduktion der Konsumgenossenschaften und schliesslich verschiedene Formen der Beteiligung und Kontrolle durch die Allgemeinheit in Betracht.“156 Mit diesem Standpunkt hat sich die Kommission weitgehend an die bereits bestehenden Formen der „gemischten Wirtschaft“ angenähert. Immerhin erachtet sie es als notwendig, dem „Rat der Volksbeauftragten“ zur politischen Verwendung die folgende grundsätzliche Erklärung zu übermitteln, um das „private Monopol an Bodenschätzen“ zu beseitigen: „Die mineralischen Bodenschätze des Deutschen Reichs sind Eigentum der Nation. Die Regierung ist gewillt, dieses Eigentumsrecht geltend zu machen, indem sie die an Private verliehenen Bergwerksgerechtsame, soweit es sich um noch nicht in Abbau genommene Felder handelt, für das Reich zurücknimmt, und indem sie die Übertragung des Eigentums an den in Betrieb befindlichen Werken auf das Reich grundsätzlich ausspricht ... In den Betrieben sollen die Grundsätze der sozialen Demokratie gesetzlich durchgeführt werden. Die gewählten Vertreter der Arbeiter und Angestellten werden insbesondere weitgehenden Einfluss auf die Bestimmung von Arbeitslöhnen, Arbeitszeit und Sicherheitsmassnahmen erhalten. Zu diesem Zwecke wird ihnen vor allem der nötige Einblick in die Geschäftsführung gesichert werden müssen. Dadurch werden sie auch Gelegenheit haben, dafür zu sorgen, dass technische Anregungen der im Betriebe Tätigen berücksichtigt werden. Leitender Gesichtspunkt für den gesamten Betrieb wird nicht mehr das kapitalistische Gewinninteresse sein, sondern Verbesserung der Lage der Arbeiter und Angestellten und das Gesamtinteresse der Gesellschaft.“157 Der Aspekt der „Sozialisierung“ des Bergbaus steht damit sehr stark im Vordergrund. Hier herrscht wegen der Aktivitäten der Räte- und Sozialisierungsbewegung, des Einbruchs der Kohleproduktion und der Bedeutung dieses Energieträgers für die gesamte Volkswirtschaft hoher Handlungsbedarf. Wenn überhaupt in reformistischen Kreisen „Sozialisierung“ akzeptiert werden kann, hat dieser Bereich Priorität. Im Bergbau ist auch der Prozeß der Konzentration weit fortgeschritten. Das wiederum wird von vielen als Voraussetzung der „Sozialisierung“ angesehen. Der Mißbrauch der im Bergbau vorhandenen Wirtschaftsmacht hatte schon vor dem Krieg und vor der Revolution auch aus bürgerlichen Kreisen zu Forderungen Anlaß gegeben, hier den Staatseinfluß entscheidend zu stärken, notfalls durch Verstaatlichung. „In täglich stattfindenden kontradiktorischen Verhandlungen mit den Vertretern der Bergbehörden sowie der Bundesstaaten, des Privatbergbaues, der Steigerschaft und der Bergarbeiter aus den verschiedenen Kohlenrevieren, schließlich des Kohlensyndikats, des Kohlengroßhandels und der Konsumenten, wurde nach einem gründlich durchdachten Plane das ganze Gebiet durchforscht. Andeutungsweise galten die Erörterungen den Vorzügen und Nachteilen des Staatsbetriebes gegenüber den Privatbetrieben in Bezug auf den technischen Fortschritt, in Bezug auf die Verhältnisse der Angestellten und Arbeiter, auf 156 Bericht über die Tätigkeit der Sozialisierungskommission bis zum 7. Januar 1919. BA Abt. Potsdam. 31.05 Sozialisierungskommission, Nr. 2, Bl. 41 - 48, hier: 42 f.; in Auszügen, irreführend getitelt und maßvoll „modernisiert“ sowie aus zweiter Hand zitiert findet sich dieser Bericht auch als Tätigkeitsbericht der Sozialisierungskommission vom 7.1.1919 (Auszug) in: Ritter, Gerhard A., Miller, Susanne (Hg.): Die deutsche Revolution...a.a.O.(=Anm. 155 ), 262 - 264, hier: 262. Dieser „Antischematismusbeschluß“ wird auch der Presse mitgeteilt; vgl.: Über den Fortgang der Arbeiten in der Sozialisierungskommission... BA Abt.Potsdam. 31.05 Sozialisierungskommission, Nr. 2, Bl. 6; zum Tätigkeitsbericht existiert ein Nachtrag; vgl. ebenda, Bl. 1 ff. 157 Bericht über die Tätigkeit...a.a.O.(=Anm. 156), Bl. 48.

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die Arbeitsleistung und schließlich auf das Rechnungswesen; ferner den Schwierigkeiten, die der Organisation aus der Betriebsvereinigung mit den nachfolgenden Produktionsstufen erwachsen; sodann den Fragen der Absatzorganisation und schließlich den etwaigen Formen der Staatskontrolle und der Beteiligung der Arbeiter und Angestellten an der Leitung und am Gewinn.“158 Der „Sozialisierungskommission“, die gegenüber dem Druck der „proletarischen Öffentlichkeit“, die endlich eine Verwirklichung des „sozialistischen Programms“ erwartet, auf gründlicher Prüfung der gesamten Problematik besteht und deren Tätigkeit auch von bürgerlichen Kräften kritisch beäugt wird, „gelingt“ es Mitte Februar 1919 mehrheitlich zu dem Ergebnis zu kommen, daß eine vollständige „Sozialisierung“ des Kohlebergbaus wirtschaftlich und politisch notwendig sei.159 Diese Stellungnahme wird in einer eigenartigen Zwischenphase der Existenz der „Sozialisierungskommission“ formuliert. Da die Kommission in ihrer Arbeit fortlaufend behindert wird,160 hat sie bereits am 3. Februar 1919 der Regierung ihre „Demission“ mitgeteilt. Durch die regierungsseitige Verweigerung der Veröffentlichung ihrer Feststellungen zum Kohlebergbau sieht sie sich in ihrer Haltung erneut bestätigt. Dennoch wird die „Demission“ auf Wunsch der Regierung am 15. März 1919 zurückgezogen.161 Unter „Sozialisierung“ versteht die Mehrheitsauffassung, die sich in einem zunächst nicht veröffentlichten vorläufigen Bericht niederschlägt, keine einfache Verstaatlichung. Es soll vielmehr ein neuer Wirtschaftskörper, die „Deutsche Kohlengemeinschaft“, als selbständige juristische Person geschaffen werden. Ihr soll das gesamte private und staatliche Eigentum gegen Entschädigung übertragen werden. Als leitendes Organ ist ein Reichskohlenrat vorgesehen, „...dem 100 Mitglieder angehören sollten, und zwar je 25 Vertreter der Betriebsleitungen, der Arbeiter, des Reiches und der Konsumenten.“162 Als Exekutive ist ein vom Kohlenrat zu wählendes „Reichskohlendirektorium“ festgeschrieben. Diese Kohlengemeinschaft sei als selbständige juristische Person nicht der Gefahr ausgesetzt, von der Entente als „produktives Pfand“ beschlagnahmt zu werden.163 Dieser Vorschlag, der als „gemeinwirtschaftliche Kohlenorganisation“ bezeichnet wird und der weit entfernt von den Vorstellungen und Vorhaben der Linken angesiedelt ist, führt zu keinen Taten der Regierung und der Nationalversammlung. Zunehmende Auseinandersetzungen der „Sozialisierungskommission“ vor allem mit dem Sozialdemokraten und Freigewerkschaftler Rudolf Wissell, der als Reichswirtschaftsminister fungiert, führen dazu, daß die „konkreten und praktischen Pläne des Sozialismus“, die aus der Arbeit dieser Kommission resultieren sollen, nicht weiter vermehrt und durchgearbeiet werden. Die beiden Vorsitzenden der Kommission, Ernst Francke und Karl Kautsky, teilen mit Schreiben vom 7. April 1919 dem Reichsarbeitsminister die Einstellung ihrer Arbeiten mit. Sie bedauern, daß ein Weiterarbeiten unmöglich gemacht werde. Sie fügen, sich in diesem Punkte allerdings täuschend, hinzu: „Die Kommission ist einig darin, dass eine bürokratische Behörde an sich und gar eine in der völlig dem alten Regime entnommenen Zusammensetzung des Reichswirtschaftsministeriums nicht fähig ist, einen einheitlichen und zugleich im einzelnen durchgearbeiteten 158 Über den Fortgang der Arbeiten...a.a.O.(=Anm. 156), Bl. 6 - 9, hier: Bl. 7f. 159 Vgl.: Winkler, Heinrich August: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924. Berlin, Bonn 1984, 191. 160 Vgl. dazu: BA Abt. Potsdam. 31.05 Sozialisierungskommission, Nr. 1, Bl. 41 ff. 161 Vgl. ebenda, Bl. 55 ff. 162 Vgl.: Winkler, Heinrich August: Von der Revolution...a.a.O.(=Anm. 159), 191. 163 Dieser Hinweis auf die vermuteten Absichten der Entente ist damals unter Sozialisierungsgegnern weitverbreitet; vgl. insgesamt: denselben, ebenda, 191 ff.

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Plan für einen wirtschaftlichen und sozialen Neuanfang zu entwerfen.“164 Wissell sieht sich mit Schreiben vom 10. April 1919 „genötigt“ die Amtsniederlegung der Kommission anzunehmen.165 Noch einmal, als Folge des Kapp-Lüttwitz-Putsches, lebt eine „Sozialisierungskommission“ auf. Der als Bedingung für den Abbruch des Generalstreiks an die Reichsregierung gerichtete Forderungskatalog der Gewerkschaften enthält auch die Forderung nach einer sofortigen Einberufung der „Sozialisierungskommission“. Tatsächlich kommt es durch Erlaß des Reichspräsidenten vom 15. Mai 1920 zum Zusammentritt einer neuen, der sogenannten „zweiten Sozialisierungskommission“.166 Diese weitgehend neu zusammengesetzte Kommission167 hat nunmehr das Recht, „...auf Grund ihrer Arbeiten der Reichsregierung Vorschläge zu gesetzlichen und Verwaltungsmaßnahmen gemeinwirtschaftlicher Art zu unterbreiten...“ und Anregungen zur Rationalisierung der Reichs- und Staatsbetriebe zu geben. Ihr gehört interessanterweise der inzwischen von seinem Amt als Reichswirtschaftsminister zurückgetretene Rudolf Wissell und auch der Großindustrielle Walther Rathenau an. Wesentliche Weichenstellungen auf dem Gebiet der „Sozialisierung“ sind jedoch bereits im März 1919 und in den folgenden Monaten gefallen und werden durch den Sachverstand dieser Kommissionen naturbedingt nicht mehr beeinflußt. Keineswegs wird nämlich, wie zunächst vermutet, die (erste) „Sozialisierungskommission“ als ein „...Wandschirm benutzt ..., hinter welchem nichts geschieht.“168 Ein wesentlicher Grund für die Opposition und Obstruktion des Reichswirtschaftsministeriums gegenüber der Kommission ist, daß dort an eigenen „Sozialisierungsplänen“ gearbeitet wird. Zutreffend wird schon im Rücktrittsschreiben der ersten „Sozialisierungskommission“ erkannt, „...daß das Reichswirtschaftsministerium den vorläufigen Bericht über die Sozialisierung der Kohle absichtlich der Nationalversammlung und der Oeffentlichkeit so lange vorenthalten hat, bis ihre eigenen, der Kommission entgegen allen Zusagen niemals vorgelegten Gesetzentwürfe in Weimar durchgepeitscht waren.“169 Der Hintergrund der Kommissions- und Regierungsaktivitäten ist spektakulär. Im Januar 1919 verstärkt sich die Streikbewegung im Ruhrgebiet. Aus dieser Bewegung heraus kommt es zu Initiativen, die „Sozialisierung“ des Bergbaues „von unten“ selbst in die Hand zu nehmen. Es wird ein Volkskommissar ernannt. In Essen konstituiert sich eine „Neuner-Kommission für die Vorbereitung der Sozialisierung des Bergbaues im rheinisch-westfälischen Industriegebiet“, der je drei Vertreter der MSPD, der USPD und des Spartakusbundes angehören. Ein Aufruf an die Bevölkerung des Ruhrkohlengebietes von Mitte Januar 1919 teilt diese Absicht öffentlich mit und erläutert, Sozialisierung bedeute, „...daß die Ausbeutung des Arbeiters durch den Unternehmer ein Ende haben soll, daß die großen Betriebe den Kapitalisten genommen

164 Schreiben an Wissell vom 7. April 1919. BA Abt. Potsdam. 31.05 Sozialisierungskommission, Nr. 1, Bl. 75 79, hier: Bl. 79. 165 Ebenda, 87. 166 Vgl.: Ortlieb, Heinz-Dietrich, Stavenhagen, Gerhard: Sozialisierung, (II) Geschichte, (1) Deutschland. In: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften. Neunter Band. Göttingen 1956, 464 - 469, hier: 465; vgl. den „Erlaß, betreffend die Einberufung und die Befugnisse der Sozialisierungskommission“ vom 15. Mai 1920; (RGBl. 1920, 981). 167 Vgl. zur Zusammensetzung: BA Abt. Potsdam. 31.05 Sozialisierungskommission, Nr. 4, Bl. 1 ff. sowie Nr. 5, Bl. 1 ff. 168 So die Einschätzung des Sekretärs der Sozialisierungskommission Eduard Heimann. Vgl.: BA Abt. Potsdam. 31.05 Sozialisierungskommission, Nr. 1, Bl. 46. 169 Vgl.: Schreiben an Wissell vom 7. April 1919...a.a.O.(=Anm. 164), 76.

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und Eigentum des Volkes werden sollen.“170 Es sei beschlossen worden, „...das Werk der Sozialisierung auf dem Räte-System aufzubauen.“171 Es wird in Essen eine Wahlordnung zur Wahl der neuen Räte beschlossen, da sich die Verordnung vom 23. Dezember 1918 über „Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten“ in diesem Zusammenhang als nicht den politischen Bedürfnissen entsprechend erweist.172 Der Versuch nunmehr auch die Reichsregierung von der „...unbedingten Notwendigkeit der getroffenen Maßregeln zu überzeugen und sie zu einer Legalisierung dieser Maßnahmen zu veranlassen“,173 führt zu mehrtägigen Verhandlungen, die unter dem Vorsitz des Volksbeauftragten Friedrich Ebert stattfinden und zu einem heftigen „Meinungsaustausch“ Anlaß geben. Die Zechenherren versuchen die ganze Aktion zu hintertreiben und wenden sich telegraphisch an Ebert. Sie fordern den Schutz ihres Eigentums und die Bestrafung der aufständischen Arbeiter.174 In der Öffentlichkeit versuchen sie den Eindruck einer vollständigen Unordnung im Ruhrgebiet zu verbreiten. Ein Ergebnis dieser Interventionen und der Situation im Ruhrgebiet und in einem anderen Bergbaugebiet ist die in den späten Abendstunden des 18. Januar 1919 verkündete „Verordnung, betreffend den Bergbau“,175 die erste reichsgesetzliche Rechtsquelle, die das Wort „Sozialisierung“ benutzt, ansonsten aber deutlich anders gelagert ist, als die Intention der Sozialisierungsbewegung im Ruhrgebiet. So gelingt es insbesondere nicht „...in Berlin der Reichsregierung klarzustellen, daß die Arbeiterausschüsse im Sinne der Verordnung vom 23. Dezember 1918 nicht das seien, was die Steiger, Revierräte, Zechenräte, usw. im Sinne der Essener Wahlordnung vom 13. Januar 1919 sind.“176 Dementsprechend sieht die Verordnung vom 18. Januar 1919 eine Wahl von Ausschüssen gemäß der Verordnung vom 23. Dezember 1918 vor. Dem Begriff „Ausschüsse“ ist lediglich in Klammern die Bezeichnung „Zechen- oder Bergwerksräte“ in Anlehnung an den Sprachgebrauch im Ruhrgebiet beigegeben. Sodann ist davon die Rede, daß über eine Vertretung der Arbeiter- und Angestelltenausschüsse zusammengehöriger Bergwerksgebiete eine Verordnung „...im Sinne des nicht zur Erledigung gelangten Arbeitskammergesetzes...“ ergehen werde. Damit nimmt die „Revolutionsgesetzgebung“ ausdrücklich Bezug auf die bekannte Vorlage des kaiserlichen Obrigkeitsstaates.177 Darüber hinaus sieht die Verordnung vor: „Bis zur gesetzlichen Regelung einer umfassenden Beeinflussung des gesamten Kohlenbergbaues durch das Reich und bis zur Festlegung der Beteiligung der Volksgesamtheit an seinen Erträgen - Sozialisierung - werden sofort für die einzelnen Bergbaugebiete Reichsbevollmächtigte ernannt. Die Ernennung erfolgt durch die Reichsregierung im Einvernehmen mit dem zuständigen Bundesstaat und unbeschadet dessen sonstiger Aufsichtsbefugnisse. Unter den Reichsbevollmächtigten muß sich je ein Vertreter der Unternehmer und der Arbeiter befinden, die von der Reichsregierung auf Vorschlag der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände (Reichsanzei170 Anlage 3 der „Geschichte der Essener Sozialisierungsbewegung…a.a.O. (=Anm. 33), Bl. 28RS; vgl. zur Streik- und Sozialisierungsbewegung im Ruhrgebiet: Oertzen, Peter von: Betriebsräte in der Novemberrevolution. 2., erweiterte Auflage. Berlin, Bonn-Bad Godesberg 1976, 110 ff.; Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften in Krieg und Revolution. Teil II. Hamburg 1981, 666 ff. 171 Ebenda, Bl. 29. 172 Ebenda, Bl. 20RS. 173 Ebenda, Bl. 22. 174 Vgl.: Brehme, Gerhard: Die sogenannte...a.a.O.(=Anm. 152), 52. 175 Vgl.: RGBl. 1919, 64. 176 Geschichte...a.a.O.(=Anm. 170), Bl. 24. 177 Vgl. dazu die Ausführungen im ersten Band dieser Sozialstaatsgeschichte.

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ger vom 18. November 1918 Nr. 273) ernannt werden. Aufgabe dieser Bevollmächtigten ist es, alle wirtschaftlichen Vorgänge auf dem Gebiete der Kohlenförderung, des Absatzes und der Verwertung der Kohlen fortdauernd, auch hinsichtlich der Preisbemessung, zu überwachen.“ Im Zusammenhang mit den Verhandlungen mit den Delegierten der „Neunerkommission“ gibt die Regierung auch ihre Auffassung über die Wahl, die Zusammensetzung und die Aufgaben von natürlich nicht revolutionär konzipierten Betriebsräten zu erkennen, wobei sie sich die Entscheidung, ob diese fakultativ (d.h. freiwillig) oder obligatorisch eingeführt werden sollen, vorbehält. Ferner verlangt sie, daß die „Neunerkommission“, die ja immerhin „...vom Vertrauen der revolutionären Arbeiterschaft getragen ist...“, sich auflöse „...sobald die Arbeitskammern, die nach einem noch von der alten Regierung eingebrachten Gesetze gebildet werden sollen, ins Leben treten.“178 Eine Befugnis zur „Sozialisierung“ wird der „Neunerkommission“ nicht zugestanden. Damit ist diese immerhin von den drei Arbeiterparteien getragene Bewegung in den Rechtsquellen auf den Phantasiehorizont einer arbeitsgemeinschaftlichen „bürgerlichen Sozialreform“ zurückverwiesen. Zur Verabschiedung der „Verordnung, betreffend den Bergbau“ haben nicht nur die Ereignisse im Ruhrgebiet, sondern auch solche in Oberschlesien beigetragen. Später wird die Verordnung, was die Ernennung von Reichsbevollmächtigten betrifft, auch auf den Braunkohlenbergbau östlich der Elbe und auf das Kasseler Bergrevier erstreckt179 Zum 10. Februar 1920 wird sie faktisch aufgehoben,180 da inzwischen die umfassende „Sozialisierungsgesetzgebung“ der Weimarer Republik mit ihren Regelungen und Organen gilt. Die in der Verordnung vom 18. Januar 1919 angesprochenen Reichs- nicht „Volkskommissariate“ werden für die Übergangszeit in die Hände konservativer Bergbauvertreter und reformistischer Gewerkschaftsführer gelegt.181 Vor dem Hintergrund weiterer „wilder“ Streik- und Sozialisierungsaktionen wird tatsächlich eine angekündigte „Verordnung über die Errichtung von Arbeitskammern im Bergbau“ vom 8. Februar 1919 erlassen.182 Diese Verordnung sieht überbetriebliche Arbeitskammern für den Kohlenbergbau des Ruhrgebiets und Oberschlesiens bis zu einer andersweitigen gesetzlichen Regelung vor. Die Arbeitskammern haben gemäß § 2 u.a. die Aufgabe, ein „gedeihliches Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitern zu fördern“ und in dem Zweige des Bergbaues, für welchen die Arbeitskammer errichtet ist, „...sich an den Vorarbeiten für eine umfassende Beeinflussung des Bergbaues durch das Reich und eine Beteiligung der Volksgesamtheit an seinen Erträgen (Sozialisierung) durch Auskünfte, Gutachten und Anträge zu beteiligen sowie nach Maßgabe der zu erlassenden gesetzlichen Bestimmungen eine Vertretung in Verbänden zur Regelung der Erzeugung und des Absatzes herbeizuführen.“ Hinzu treten die Mitwirkung bei der Umsetzung von Vorschriften sowie weitere beratende und unterstützende Aufgaben dieser paritätisch besetzten Kammern gegenüber den Reichs-, Staats- und Gemeindebehörden. Eine Mitwirkung bei der „Sozialisierung“ durch die Absetzung des leitenden Personals, durch 178 Mitteilung der Neunerkommission von Mitte Februar 1919 über das Ergebnis ihrer Verhandlungen mit der Regierung über die Sozialisierung. In: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Band 5. Berlin 1958, 154 - 157, hier: 156. 179 Vgl.: Brehme, Gerhard: Die sogenannte...a.a.O.(=Anm. 152), 53. 180 Vgl.: „Verordnung, betreffend Reichsbevollmächtigte für die Kohlengebiete“ vom 10. Februar 1920 (RGBl. 1920, 311). 181 Vgl. die „Ernennung von Reichsbevollmächtigten für das rheinisch-westfälische Kohlengebiet“ vom 18. Januar 1919 (RGBl. 1919, 65) sowie die „Ernennung von Reichsbevollmächtigten für das Braunkohlengebiet östlich der Elbe“ vom 24. Februar 1919; ebenda, 256; für das „Casseler Bergrevier“ vgl. ebenda, 256; für Oberschlesien vgl.: Brehme, Gerhard: Die sogenannte...a.a.O.(=Anm. 152), 53. 182 Vgl.: RGBl. 1919, 202.

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die Entfernung unliebsamer unmittelbarer Vorgesetzter, durch eine eingehende Kontrolle oder gar durch die Übernahme der Betriebsleitung, durch eine tiefgreifende Beeinflussung des Bergbaues „von unten“ und häufig auch vom Einzelbetrieb her, wie das in zahlreichen Aktionen und Dokumenten der Revolutionszeit deutlich wird, ist diesen Konstruktionen naturgemäß völlig fremd.183 Um so deutlicher ist das Bestreben, „klassengemischte“, juristisch detailliert geregelte Organisationen zu schaffen, um sie den „Klassenkampforganen“ dieser Wochen und Monate entgegenzustellen und um diese auch durch die Rechtsordnung als illegal zu akzentuieren. Zu einer großflächigen Beruhigung der Situation führen diese legislatorischen Aktivitäten nicht. In der zweiten Februarhälfte bricht ein Generalstreik in Mitteldeutschland aus, in dessen Mittelpunkt die Forderung nach „Sozialisierung“ und Anerkennung der Betriebsräte steht. Dieser Streik weitet sich aus und greift Anfang März auf Berlin über. An der Spitze der Forderungen der KPD steht das Verlangen nach der Wahl von Arbeiterräten, „...welche die Arbeitsverhältnisse zu regeln, die Produktion zu kontrollieren und schließlich die Betriebsleitung zu übernehmen, also wichtige Schritte zur Vorbereitung der Sozialisierung zu unternehmen hatten.“184 Die Vorgänge in Berlin wiederum lösen eine neue Streikwelle in Oberschlesien aus. Erneut wird im Rahmen dieser Auseinandersetzungen in reichlichem Maße militärische Gewalt gegen die revoltierende Arbeiterschaft, ihre Organe und Anführer eingesetzt. Das nach außen deutlich sichtbare Regierungshandeln auf dem Gebiet der „Sozialisierung“ beginnt mit einer programmatischen Erklärung des „Präsidenten des Reichsministeriums“ Philipp Scheidemann. Wirtschaftszweige, formuliert er am 13. Februar 1919, „...die nach ihrer Art und ihrem Entwicklungsstand einen privatmonopolistischen Charakter angenommen haben, sind der öffentlichen Kontrolle zu unterstellen. Soweit sie sich zur einheitlichen Regelung durch die Gesamtheit eignen, insbesondere Bergwerke und Erzeugung von Energie, und dadurch zur einheitlichen Regelung durch die Gesamtheit (Sozialisierung) reif geworden sind, sind sie in öffentliche oder nichtwirtschaftliche Bewirtschaftung oder auf Reich, Staat oder Gemeindeverbände oder Gemeinden zu übernehmen.“185 Mit dem Ziel, die allgemeinen Unruhen, vor allem aber den Generalstreik in Berlin zu dämpfen, greift die Regierung in Weimar Anfang März die allgegenwärtigen Forderungen nach „Sozialisierung und Räteverfassung“ auf. In einem am 5. März 1919 millionenfach verbreiteten „Arbeitsprogramm der Regierung“, das sich vom „Programm des Reichsministeriums“ vom 13. Februar 1919 markant abhebt, ist vor allem von der Ausgestaltung eines Rätesystems die Rede. Es wird darüber hinaus ein Gesetz über ein „...einheitliches demokratisches Arbeitsrecht mit dem Ziel der Schaffung demokratisch-konstitutioneller Verhältnisse in den Betrieben...“ versprochen, das sofort der Nationalversammlung vorzulegen sei.186 Schließlich werden „Sozialisierungsgesetze“ und ein Gesetz über die „Sozialisierung der Kohlenbe183 Vgl. dazu ergänzend auch: Richtlinien der Vollversammlung der Gross-Berliner Arbeiterräte für die Aufgaben und das Tätigkeitsgebiet der Arbeiterräte, Januar 1919. In: Ritter, Gerhard A., Miller, Susanne (Hg.): Die deutsche Revolution...a.a.O.(=Anm. 155), 265 ff.; Richtlinien für das Rätesystem bei den deutschen Staats- und Privateisenbahnen. In: Der Arbeiter-Rat,1(1919)10, 2 - 3; vgl. als interessante Veröffentlichung: Curschmann, F.(ritz): Die Entstehungsgeschichte des mitteldeutschen Vorläufers des Betriebsrätegesetzes. In: Derselbe (Hg.): Sozialpolitische Betrachtungen. Beiträge zur Sozialpolitik der chemischen Industrie. Halle (Saale) o.J., 166 - 227, hier: 177 ff. 184 So: Brehme, Gerhard: Die sogenannte...a.a.O.(=Anm. 152), 56. 185 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Band 326. Stenographische Berichte. Berlin 1920, 44. 186 Dies ist offensichtlich eine sprachliche Spur aus der folgenden Schrift: Freese, Heinrich: Das konstitutionelle System im Fabrikbetriebe. Eisenach 1900; der Verfasser ist sozialreformerisch tätiger Unternehmer gewesen.

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wirtschaftung“ angekündigt, die bereits von der Reichsregierung und vom Staatenausschuß angenommen seien.187 Tatsächlich werden unter dem 4. März 1919 der Nationalversammlung zur schleunigsten Beratung zwei „Sozialisierungsgesetzentwürfe“ vorgelegt.188 Gleichzeitig heißt es in einer „Kundgebung“ der Reichsregierung, mit der die Anschlagsäulen plakatiert werden: „Die Sozialisierung ist da!“189 Diese „Kundgebung“ fährt fort: Das Kohlensyndikat werde sofort sozialisiert. Dadurch gewinne das Reich, d. h. das ganze Volk, noch vor der Sozialisierung der Gruben, maßgebenden Einfluß auf die gesamte Kohlenund Schwerindustrie. Die Sozialisierung des Kalibergbaues sei in schleuniger Vorbereitung. Das allgemeine Sozialisierungsgesetz, das der Nationalversammlung vorliege, „...begründet an Stelle der früheren schrankenlosen Privatwirtschaft die deutsche Gemeinwirtschaft. Das Reich wird dafür sorgen, daß überall nach den Forderungen des Gemeininteresses, nirgends im kapitalistischen Privatinteresse gewirtschaftet wird. Und das ist Sozialismus.“190 Diese Kundgebung der Reichsregierung offenbart mit dem Hinweis auf die Schaffung einer „deutschen Gemeinwirtschaft“ eine höchst bemerkenswerte Orientierung des Reichswirtschaftsministeriums. Diese „Regierungsorientierung“ hatte sich allerdings auch schon im vorläufigen Bericht der „Sozialisierungskommission“ über die Frage der Sozialisierung des Kohlenbergbaues vom 15. Februar 1919 gefunden. Die „eigenen“ Pläne Wissells, dessen Verhalten gegenüber der (ersten) „Sozialisierungskommission“ deshalb wohl nicht zufällig von Falschheit, Doppelspiel, Irreführung und Geheimnis geprägt war, bestehen offenbar, wie bei der „Sozialisierungskommission“, in einer Übernahme von Ideen, die Walther Rathenau, der Vorstandsvorsitzende der AEG und Schöpfer der Kriegs-RohstoffAbteilung des Kriegsministeriums,191 entwickelt hatte.192 Diese Auffassungen werden auch von seinem Mitarbeiter und Freund Wichard von Moellendorff geteilt. Dieser hatte schon 1916 einige aus der Kriegswirtschaft erwachsende allgemeine Betrachtungen mit dem Titel „Deutsche Gemeinwirtschaft“ veröffentlicht.193 Er, der zur damaligen Zeit als Unterstaatssekretär Mitarbeiter Wissells ist, ist vermutlich der wahre unmittelbare Urheber dieser Formel in der Regierungskundgebung. Vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen in der Kriegswirtschaft schildert Rathenau die Nachteile der rein kapitalistischen, konkurrenzwirtschaftlichen Anarchie und gelangt zur Forderung nach einer syndikatähnlichen „verbandlichen Organisation“ der Wirtschaft ohne die Aufhebung der privatwirtschaftlichen Grundstruktur. „An das Syndikat liefert jedes Unternehmen seine Waren ab... was zur eigenen Weiterverarbeitung bestimmt ist, wird verrechnet ... Den Verkauf besorgt der Verband zu Preisen, die für kleine und große Verbraucher, für Händler und Weiterverarbeiter abgestuft 187 Vgl.: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 240. 188 Vgl.: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Band 335. Anlagen zu den Stenographischen Berichten. Nr. 1 bis 390. Berlin 1920, Aktenstück Nr. 105, 74 ff. 189 Vgl.: Zimmermann, W.(aldemar): Die Sozialisierung im Annmarsch. In: Soziale Praxis, 28(1919)24, Sp. 395 398, hier: Sp. 395. 190 Zitiert aus: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 240. 191 Vgl. zu dieser „Schöpfungsgeschichte“ seine erhellende Schilderung in: Rathenau, Walther: Deutschlands Rohstoffversorgung. Berlin 1918. 192 Vgl. insbesondere: Rathenau, Walther: Die neue Wirtschaft. Berlin 1918; vgl. insgesamt auch: Opitz, Reinhard: Der deutsche Sozialliberalismus 1917 - 1933. Köln 1973, 82 ff. 193 Vgl.: Moellendorff, Wichard von: Deutsche Gemeinwirtschaft. Berlin 1916. Diese Schrift schweigt sich allerdings zum genaueren Aufbau der Gemeinwirtschaft aus; vgl. als Versuch der Konstruktion einer Ahnenreihe gemeinwirtschaftlichen Denkens: Derselbe: Von Einst zu Einst. Der Alte Fritz, J. G. Fichte, Freiherr vom Stein, Friedrich List, Fürst Bismarck, Paul Lagarde über deutsche Gemeinwirtschaft. Jena 1917; von Moellendorff war Oberingenieur bei der AEG.

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sind... Soweit unterscheidet sich Aufbau und Wirkung des Verbandes kaum von jedem anderen Syndikat. Die Unterschiede beginnen bei der Mitwirkung des Staates... Der Staat überträgt dem Berufsverbande bedeutende Rechte, die zum Teil an Hoheitsrechte grenzen: das Recht der Aufnahme oder Ablehnung neu Hinzutretender, das Recht des Alleinverkaufs..., das Recht der Stillsetzung unwirtschaftlicher Betriebe gegen Entschädigung, das Recht des Aufkaufs von Betrieben zur Stillsetzung, Umwandlung oder Fortführung... Als Gegenleistung beansprucht der Staat mitwirkende Aufsicht in der Verwaltung, soziale Leistungen und Gewinnabgaben... In der Verwaltung ist der Staat vertreten... außerdem die Arbeiterschaft.“194 Anschließend skizziert Rathenau das Entwicklungspotential und die Fortschritts- und Rationalisierungsperspektiven solcher „Verbände“. Die Weiterentwicklung und Differenzierung solcher gemein- bzw. planwirtschaftlicher Konzepte erfolgt durch von Moellendorff. Bald nach der Verabschiedung der ersten „Sozialisierungsgesetze“ entwickelt er als Ausdruck eines „deutschen Sozialismus“ und im Gegensatz zum „Bolschewismus“ eine umfassende Konzeption, ein „gemeinwirtschaftliches Programm“, das auch den Räteaufbau integriert. Das Programm enthält u.a. „Richtlinien für ein Gesetz über die deutsche Gemeinwirtschaft“, „Richtlinien für eine Ausgestaltung des Reichsfonds“, der mit seinen Mitteln das Konjunkturrisiko beim Übergang zur Friedenswirtschaft überbrücken soll und „Richtlinien für ein Gesetz über den Arbeitsfrieden“, das in weiten „lebenswichtigen“ Bereichen der Volkswirtschaft Streiks wohl undurchführbar gemacht hätte.195 Diese Denkschrift, dieser „erste Wurf“, dieser „Notschrei nach Entscheidung“, der unter dem 7. Mai 1919 dem Reichskabinett vorgelegt wird, gelangt durch eine Indiskretion in die Presse und löst zusammen mit anderen Äußerungen über die „Gemeinwirtschaft“, die auch als „gebundene Planwirtschaft“ bezeichnet wird, eine die höchst kontroverse Diskussionen aus.196 Sie findet interessanterweise in der damaligen Situation sogar beim „Reichsverband der Deutschen Industrie“ einen gewissen Anklang197 und es ist schon erstaunlich, daß derartige Konzeptionen unter dem Etikett der „Sozialisierung“ oder des „Übergangsschrittes zum Sozialismus“ reüssieren können.198 Die Anknüpfung an als „sozialistisch“ bezeichnete kriegswirtschaftliche Organisationsformen und Verfahren, an gewisse bereits bestehende Vorläufer, die konzeptionelle „Unklarheit“ und Unzulänglichkeit einer damals bereits 60jährigen Programmgeschichte, die es erlauben „Sozialismus“ und „Sozialisierung“ losgelöst von der Eigentumsfrage zu betrachten, die Tatsache, daß diese gemeinwirtschaftliche Konzeption mit „Sozialismusvorstellungen“ korrespondiert, „...die unter Sozialismus nur eine effektivere, höhere Produktivität garantierende Form der Organisation der Volkswirt-

194 Rathenau, Walther: Die neue Wirtschaft...a.a.O.(=Anm. 192), 57 ff. 195 Vgl. insbesondere: Der Aufbau der Gemeinwirtschaft. Denkschrift des Reichswirtschaftsministeriums vom 7. Mai 1919. Jena 1919; vgl. zur „Erläuterung“ und Abwehr von Angriffen: Wissell, Rudolf, Moellendorff, Wichard von: Wirtschaftliche Selbstverwaltung. Jena 1919. Diese Planungen stoßen in der MSPD als sozialistisch bemäntelte „Verewigung des Kapitalismus“ auf Widerstand; vgl.: Wissell, Rudolf: Praktische Wirtschaftspolitik. Unterlagen zur Beurteilung einer fünfmonatigen Wirtschaftsführung. Berlin 1919, insbes. das Flugblatt des sozialdemokratischen Parteivorstandes, ebenda, 135 ff. 196 Vgl.: Novy, Klaus: Strategien...a.a.O.(=Anm. 75), 136 ff.; vgl. insgesamt die ausführliche und fundierte Untersuchung von: Barclay, David E.: Rudolf Wissell als Sozialpolitiker 1890 - 1933. Berlin 1984, 75 ff. 197 Vgl.: Brehme, Gerhard: Die sogenannte...a.a.O.(=Anm. 152), 64. 198 Dieser Etikettierung tut auch das Streikverbot für einen Großteil der deutschen Wirtschaft offenbar keinen Abbruch.

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schaft verstanden...“199, alles das kann neben persönlichen Faktoren zur Erklärung dieser Vorgänge beitragen. Obwohl auch diese Erscheinungen nicht neu sind, lösen sich unter den Nachkriegsbedingungen der Hoffnungsbegriff „Sozialismus“ und der im Jahre 1918 populär gewordene Begriff der „Sozialisierung“ in hohem Maße von der ursprünglichen sozialen Trägerschicht. In den Quellen aus dem sozialdemokratisch geleiteten Reichswirtschaftsministerium wuchert eine ausgeprägte Gemeinschafts- und Pflichtenrhetorik. Der Weg zur inflationären Übernahme des Sozialismusbegriffs als werbende Formel für Bewegungen von Rechts ist bereits vorgezeichnet.200 Das „Rathenau-Moellendorff-Wissellsche Amalgam“ einer „korporativen Selbstverwaltung“ unter staatlicher Förderung, das nunmehr zur Grundlage der sogenannten Sozialisierungsgesetzgebung geworden ist, wird im „Sozialisierungsgesetz“ vom 23. März 1919,201 das lediglich fünf Paragraphen umfaßt, und als ausgesprochenes Rahmengesetz zu werten ist, nur pauschal angesprochen. Das Reich sei befugt, heißt es, im Wege der Gesetzgebung gegen „angemessene Entschädigung“ für eine „Vergesellschaftung geeignete wirtschaftliche Unternehmungen“, insbesondere solche zur Gewinnung von Bodenschätzen und zur Ausnutzung von Naturkräften, in „Gemeinwirtschaft“ zu überführen. Hier versteckt sich nicht, ablesbar etwa an der Entschädigungsregelung, die Möglichkeit zur Enteignung und Eigentumsübertragung, wie dies von der „Sozialisierungskommission“ vorgeschlagen worden war. Es geht vielmehr um die Entschädigung von Rechtsverletzungen durch Organe der „Gemeinwirtschaft“ aus dem Haushalt dieser Organe selbst. Darüber hinaus ist von der Befugnis die Rede „...im Falle dringenden Bedürfnisses die Herstellung und Verteilung wirtschaftlicher Güter gemeinwirtschaftlich zu regeln.“ Die Aufgaben der durch ein Reichsgesetz zu regelnden Gemeinwirtschaft können dem Reich, den Gliedstaaten, Gemeinden und Gemeindeverbänden oder „wirtschaftlichen Selbstverwaltungskörperschaften“ übertragen werden. „Die Selbstverwaltungskörper werden vom Reiche beaufsichtigt.“ Diese Beaufsichtigung kann nach den Vorschriften des Gesetzes vom 23. März 1919 auf untergeordnete politisch-administrative Ebenen delegiert werden. In Ausübung der Sozialisierungsbefugnisse werde „...durch besondere Reichsgesetze die Ausnutzung von Steinkohle, Braunkohle, Preßkohle und Koks, Wasserkräften und sonstigen natürlichen Energiequellen und von der aus ihnen stammenden Energie (Energiewirtschaft) nach gemeinwirtschaftlichen Gesichtspunkten geregelt.“ Das damit umrissene „gemeinwirtschaftliche“ Konzept wird bereits im kurzen „Gesetz über die Regelung der Kohlenwirtschaft“ vom 23. März 1919202, in dem darauf folgenden Abänderungsgesetz203 und insbesondere in den „Ausführungsbestimmungen zum Gesetz 199 Vgl.: Hellige, Hans Dieter: Die Sozialisierungsfrage in der deutschen Revolution 1918/19. Zu einigen neueren Darstellungen. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 11(1975), 91 - 100, hier: 96. 200 Vgl. dazu z.B.: Spengler, Oswald: Preußentum und Sozialismus. München 1920. Auf die demagogische Verwendung des Sozialismusbegriffs im Namen und Rahmen der „nationalsozialistischen Bewegung“ sei an dieser Stelle nur hingewiesen. Auf diese Weise werden die beiden Großbegriffe und Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts in demagogisch-massenmobilisierender Absicht mit verheerenden Folgen verbunden; vgl. insgesamt: Werth, Christoph H.: Sozialismus und Nation. Die deutsche Ideologiediskussion zwischen 1918 und 1945. Opladen 1996; nicht zufällig finden sich in dieser Schrift umfangreiche Ausführungen zu Friedrich Naumann, Oswald Spengler aber auch: Walther Rathenau und Wichard von Moellendorff. 201 Vgl.: RGBl. 1919, 341; vgl. dazu aus der Sicht der DDR-Historie: Brehme, Gerhard: Die sogenannte...a.a.O.(=Anm. 152), 66 ff. 202 Vgl.: RGBl. 1919, 342. 203 Vgl.: RGBl. 1919, 1447.

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über die Regelung der Kohlenwirtschaft vom 23. März 1919“, das unter dem Datum des 21. August 1919 ergeht,204 entfaltet. Eine analoge, gleichwohl auf die Besonderheiten der Branche Rücksicht nehmende „gemeinwirtschaftliche“ Regelung erfährt die Kaliwirtschaft. Auf diese alte Boom- und Krisenbranche, die bereits in der Vorkriegszeit Gegenstand zahlreicher reichsgesetzlicher Interventionen war,205 bezieht sich das „Gesetz über die Regelung der Kaliwirtschaft“ vom 24. April 1919206 einschließlich bestimmter „Nebengesetze“.207 Ausgestaltet wird das „gemeinwirtschaftliche Element“ in den umfangreichen „Vorschriften zur Durchführung des Gesetzes über die Regelung der Kaliwirtschaft“ vom 18. Juli 1919.208 Wie sehr die kohlen- und kaliwirtschaftliche Gesetzgebung auf Rathenausche Grundprinzipien rückführbar ist, soll am Beispiel der 133 Paragraphen umfassenden „Ausführungsbestimmungen“ zur Kohlenwirtschaft umrissen werden. Die Tatsache, daß im Gegensatz zu den Vorstellungen der Mehrheit der ersten „Sozialisierungskommission“, die Eigentumsverhältnisse im Kohlenbergbau unberührt bleiben sollen, hat bedeutende Folgen. Die aus dem Eigentum fließenden Direktions- und Herrschaftsverhältnisse in den Betrieben bleiben entgegen den Hoffnungen der betriebssyndikalistischen, linken Sozialisierungsbewegung unangetastet. Die Ausführungsbestimmungen, die übrigens von einem Sachverständigenrat von 50 Mitgliedern (darunter je 15 Arbeiterund Unternehmervertreter) mitbestimmt worden sind,209 schließen den gesamten Kohlenbergbau zu 11 Kohlensyndikaten zusammen. Mit den feinsinnig ausformulierten Vorschriften wird ein unumgehbares, vollkommenes Monopol im Anschluß an die schon vorher bestehende Syndikatstruktur gebildet. Die Kohlensyndikate werden zu diesem Zweck durch eine Fülle von Vorschriften näher ausgestaltet. Über diesem „Unterbau“ erhebt sich der „Reichskohlenverband“. Im gesamten Organisationsaufbau sind immer auch Arbeiter- und Angestelltenvertreter vorgesehen. Darüber hinaus wird ein „Reichskohlenrat“ ins Leben gerufen. Dieser muß Sachverständigenausschüsse bilden. Wiederum sind Arbeit und Kapital, aber auch andere in der Kohlenwirtschaft tätige Gruppen (etwa: Kohlenhändler, Genossenschaften, Kohlenverbraucher, die Binnenschiffahrt) repräsentiert. Die „Arbeitsgemeinschaft der deutschen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände“ spielt im Zusammenhang mit der Kandidatenauswahl als vorschlagende Stelle eine bedeutende Rolle in der „gemeinwirtschaftlichen Ordnung“ und soll so zugleich sicherstellen, daß nur „vernünftige“ Vertreter der Klassenkräfte in die Gremien gelangen. Auch für die zuletzt angesprochenen Organe wird eine umfassende Ordnung geschaffen. Der „Reichskohlenrat“ soll die „Brennstoffwirtschaft“ leiten und erhält dafür umfassende Kompetenzen und Rechte, die ihn in eine staatsähnliche Position bringen. „Der Reichskohlenverband überwacht die Durchführung der allgemeinen Richtlinien und Entscheidungen des Reichskohlenrats und erläßt Ausführungsbestimmungen dazu.“ Den Syndikaten obliegt u.a. die Regelung der Förderung, der Selbstverbrauch und der Absatz der Brennstoffe. Sie werden wiederum vom 204 Vgl.: RGBl. 1919, 1449. 205 Vgl. dazu: Euchner, Walter: Das Ringen um die Sozialisierung der deutschen Kaliindustrie in den Jahren 1920/21. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 20(1984), 327 - 346, hier: 327 - 329. 206 Vgl.: RGBl. 1919, 413. 207 Auflösend auf die Gesetzgebung der Kaiserzeit wirkt u.a. das „Gesetz, betreffend Aufhebung des Gesetzes über den Absatz von Kalisalzen vom 25. Mai 1910 (Reichs-Gesetzbl. S. 775) und seiner Abänderungsgesetze sowie Abänderung des Gesetzes über die Regelung der Kaliwirtschaft vom 24. April 1919 (Reichs-Gesetzbl. S. 413)“ vom 19. Juli 1919 (RGBl. 1919, 661). 208 Vgl.: RGBl. 1919, 663. 209 Vgl. den § 3 des Kohlenwirtschaftsgesetzes.

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„Reichskohlenverband“ beaufsichtigt und eventuell gesteuert. Vor allem bestimmt der „Reichskohlenverband“ die Preise und Preisnachlässe, er ist für die Ein- und Ausfuhr zuständig usw. Ein Beschwerdeverfahren und ein Entschädigungsverfahren, die Rechte des Reichs, der Länder und der Gemeinden und Kommunalverbände, Straf- und Schlußbestimmungen runden das Konvolut der Vorschriften ab. Im Kalibergbau sind die wirtschaftlichen Kompetenzen der dortigen „gemeinwirtschaftlichen“ Organe vergleichsweise noch stärker ausgeprägt.210 Erwartungsgemäß und teilweise auch wegen ihrer von vornherein um die Eigentumsfrage „entschärften“ Struktur, bilden bereits die beiden zusammen vorgelegten Entwürfe der „Sozialisierungsgesetze“ den Gegenstand erregter Parlamentsdebatten, die darüber hinaus die bürgerkriegsähnlichen Unruhen im Lande spiegeln. Reichwirtschaftsminister Rudolf Wissell eröffnet am 7. März 1919 die erste Beratung mit den Worten: „Wilde Zuckungen überfliegen zurzeit unsern Volkskörper, Fieberschauer schütteln ihn überall. Unser Land ist krank. Es geht dem ganzen Volke so, wie es dem einzelnen nach zu großer Überanspannung der Kräfte geht: dann kommt die Zeit der Erschlaffung und der Abspannung. Dann ist der Körper besonders widerstandsunfähig und einer Krankheit leicht zugänglich. Der Geist ist dann nicht so klar, daß er in früherer Schärfe Wirkung und Ursache immer klar auseinanderhält, und dann ist der Kranke ungeduldig, reizbar, zu steter Opposition bereit; er beharrt auf unbegründetem Widerspruch. Der Arzt wird dann Ruhe verordnen, Fernhalten alles Störenden, Pflege, gute Ernährung. Der gewissenhafte Arzt! Der Wunderdoktor wird Radikalkuren empfehlen, Mittel, die oft die Krankheit verschlimmern.“211 Wissells langatmige mit Metaphern durchzogene Parlamentsrede erkennt, daß nunmehr vier Monate vergangen seien, seitdem die politische Umwälzung dem werktätigen Volke die Zuversicht vermittelt habe, „...es werde in naher Zukunft die von ihm zum Teil seit Jahrzehnten als Zukunftsideal empfundene neue Wirtschaftsordnung verwirklicht werden.“212 Er sieht, daß ein „brausender Sturm“ von Gedanken und Ideen mit „übermächtigem An210 Aus Raumgründen wird die Organisation der Kaliwirtschaft hier nicht erläutert. Als „Früchte der Sozialisierungsatmosphäre“ entstehen noch einige weitere „Sozialisierungsgesetze“. Es handelt sich um das „Gesetz, betreffend die Sozialisierung der Elektrizitätswirtschaft“ vom 31. Dezember 1919 (RGBl. 1919, 19). Es kennt ebenfalls bestimmte Gremien, die wirtschaftliche Funktionen übernehmen und einen Beirat, in dem unter anderem auch wieder Vertreter der „Arbeiterklasse“ sitzen. Darüber hinaus erhält das Reich die Befugnis Eigentum an entsprechenden Rechten und Anlagen gegen Entschädigung zu erwerben. Dieses Gesetz bleibt unausgeführt; vgl.: Huber, Ernst Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Band VII. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1984, 14. Hinzu treten drei weitere Verordnungen mit entsprechenden Gremien und „gemeinwirtschaftlichen“ Organen. Es handelt sich um die „Verordnung zur Regelung der Eisenwirtschaft“ vom 1. April 1920 (RGBl. 1920, 435), die einen „Eisenwirtschaftsbund“ in Düsseldorf vorsieht, um die „Verordnung über die Regelung der Schwefelsäurewirtschaft“ vom 31. Mai 1920 (RGBl. 1920, 1113), die einen „Ausschuß für Schwefelsäure“ in Berlin vorschreibt und um die „Verordnung über die Regelung der Teerwirtschaft“ vom 7. Juni 1920 (RGBl. 1920, 1156), die einen „Wirtschaftsverband für Rohteer und Teererzeugnisse“ als rechtsfähigen Selbstverwaltungskörper vorsieht. An der Besetzung aller Gremien ist auch auf diesen Gebieten die „Arbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Deutschlands“ vorschlagend beteiligt. Daneben üben zahlreiche andere Organisationen und Arbeitsgemeinschaften dieses Recht aus. Die Verordnungen, die gesetzesvertretenden Charakter haben, ergehen auf Grund des „Gesetzes über eine vereinfachte Form der Gesetzgebung für die Zwecke der Übergangswirtschaft“ vom 17. April 1919. Es handelt sich dabei um ein relativ umstrittenes Ermächtigungsgesetz, verabschiedet von der Weimarer Nationalversammlung; vgl. dazu: Frehse, Michael: Ermächtigungsgesetzgebung im Deutschen Reich 1914 - 1933. Pfaffenweiler 1985, 55 ff. 211 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Band 326. Stenographische Berichte. Berlin 1920, 541. 212 Ebenda, 542; alle Hervorhebungen in Zitaten aus den stenographischen Berichten finden sich auch im Original.

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prall“ über die bisherige Wirtschaftsordnung hereingebrochen sei. Es gebe heute keine „Dämme und Deiche“, „...die stark genug wären, dem Anprall der sozialistischen Ideen zu widerstehen.“ Das werktätige Volk sei allerdings heute des bloßen Meinungskampfes müde, es wolle Taten sehen und „überall im Lande“ schreite es selbst zu Taten. Im Zuge seiner Rede erläutert Wissell sodann die Gesetzentwürfe, nicht ohne zu betonen, sie bedeuteten kein neues Programm. Die Reichsregierung lasse sich durch keine Umtriebe „verantwortungsloser Elemente“, „...durch keine äußeren Ereignisse irgendwelcher Art von dem Wege evolutionärer, das Vorhandene umbildender Neugestaltung des Wirtschaftslebens abbringen.“213 An späterer Stelle betont Wissell: „Anknüpfung an historisch Gewordenes, an die äußere Methode der Vereinigung, wie sie die kapitalistische Wirtschaft in Kartellen und Syndikaten ausgebildet hat, erscheint uns geboten.“214 Der Staat sei kein geeigneter Träger der Wirtschaft. Sodann erläutert er den Inhalt der Vorlagen. Während der Mehrheitssozialist Wissell durchaus von „Gemeinwirtschaft“ spricht und sie als „organische Eingliederung und Einordnung“ der Wirtschaft in die Gesamtheit des Reichs, als „...Unterordnung der privatwirtschaftlichen Interessen unter die Interessen der Gesamtheit“ definiert,215 bleibt es dem Sprecher des Zentrums und späterem Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns überlassen festzustellen, man habe in der Tat den Eindruck, „...als ob der Entwurf ein gesetzgeberischer Ausdruck der Rathenau'schen Gedanken über die Neuorganisation unseres gesamten Wirtschaftslebens sei“, um diesen „Eindruck“ mit dubioser Argumentation anschließend wieder zu relativieren. Ein Abgeordnete der DVP lehnt das „Sozialisierungsgesetz“ mit dem Hinweis ab, seine politischen Freunde vermöchten sich aus der Sozialisierung sowohl für die Produktion als auch für das „Verhältnis der Arbeiter“ keinerlei wesentliche Vorteile zu versprechen.216 Nachdem sich Reichswirtschaftsminister Rudolf Wissell heftig gegen die „Unterstellung“ des Vorredners zur Wehr gesetzt hat, mit den Vorlagen dem Druck der Straße nachgegeben zu haben, spricht sich der Abgeordnete der DDP, Bernhard Dernburg, für eine „wohlwollende Prüfung der beiden Vorlagen“ aus, läßt aber gleichzeitig erkennen, daß mit der „Sozialisierung“ von „Kohle und Kraft und einige(n) andere(n) Zweige(n)“ die Angelegenheit für die DDP aber auch „vorläufig erledigt“ sei.217 Bei der Fortsetzung der Beratungen am 8. März wird die entschiedene Ablehnung dieser Form der „Sozialisierung“ durch die USPD deutlich, deren Redner mit dem Ausruf endet: „Dem Sozialismus wird die Zukunft gehören. Trotz alledem!“ Der Wortführer der DNVP, der Schwerindustrielle und Medienunternehmer Alfred Hugenberg, rechnet ebenfalls mit der Regierung ab und will an den Vorlagen nur die Überantwortung der Unternehmer an die Willkür der Regierung und das Wirken von Unvernunft und „Kommunismus“ erkennen. Schließlich sieht sich Reichskanzler Scheidemann noch einmal herausgefordert zurückzuweisen, daß die Regierung unter dem Druck der Straße die Vorlagen gemacht habe.218 Zweite und dritte Beratungen und die Abstimmungen über beide Gesetzesvorlagen finden am 13. März 1919 statt.219 Während die 213 Ebenda, 542. 214 Ebenda, 544. 215 Vgl. ebenda, 544; zu Heinrich Brauns Ausführungen: 553. 216 Vgl. ebenda, 555. 217 Vgl. ebenda, 561. 218 Vgl. als Kurzfassung der Debatte auch: Kühnel, Klaus: Die „kapitalistische Seele“ vor aller Welt enthüllt. In: Das Parlament Nr. 48-49, 21./28. November 1997, 21. 219 Vgl.: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Band 327. Stenographische Berichte. Berlin 1920, 746 ff.

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zweite Beratung des Entwurfs eines „Sozialisierungsgesetzes“ nun sehr kurz ausfällt, kann man das von den Beratungen des Gesetzentwurfs über die Regelung der Kohlenwirtschaft nicht behaupten. Der Fraktionsvorsitzende der USPD, der Abgeordnete Alfred Henke, vermißt eine Ausgestaltung des „Rätesystems“ im Gesetzentwurf und spricht sich im Namen seiner Fraktion gegen das Gesetz aus.220 In den Vorschriften dieses kurzen „Mantelgesetzes“ sieht er nur „Surrogate“ für das, was die Arbeiter gefordert haben. So müsse der ganze Inhalt des Gesetzes auf eine Illusion herauslaufen, durch die die Arbeiter beruhigt werden sollten. Im Verlauf der Debatte wird von mehrheitssozialdemokratischer Seite an die Auswüchse des alten Kohlensyndikats und an überkommene Forderungen zur Brechung der Macht der „Privatmonopole im Bergbau“ erinnert. Für die Radikalisierung der Bergbauarbeiter wird die traditionell reaktionäre Haltung der Zechenherren verantwortlich gemacht. Ein letzter Vorstoß der USPD den Kohlenrat aus Mitgliedern der Bezirksräte zusammenzusetzen, also ein „Klassenorgan“ zu schaffen und nicht ein gemischtes Gremium, in dem der „Sozialismus“ sozusagen durch die Kapitalisten (mit-)verwirklicht werden solle, wird zurückgewiesen. Schließlich finden beide Gesetzentwürfe, bei überwiegend unentschuldigter Abwesenheit von 123 Parlamentariern, eine große Mehrheit.221 Die beiden „gemeinwirtschaftlich“ durchorganisierten Wirtschaftsbereiche bestehen in dieser Form unabhängig von den Regierungszusammensetzungen während der gesamten Weimarer Republik. Sie verhalten sich als kapitalistisch verfaßte, staatlich gestützte und mit zahlreichen quasistaatlichen Befugnissen beliehene Monopole durchaus „gewöhnlich“: Interne Konzentrations- und Zentralisationsprozesse, die Forderung nach Preiserhöhungen gegenüber dem Staat als Voraussetzung von Gewinn- und Lohnerhöhungen gemeinsam von Vertretern von Kapital und Arbeit vorgebracht, im Kohlenbergbau auch „verhältnismäßig hohe Dividenden“, „Börsenhaussen in Bergwerkspapieren,“222 in dieses „Spiel“ durchaus eingepaßte, teilweise auch übergangene und ausgeschaltete, durch Verfahrensvorschriften und Berufungspraxis sorgfältig ausgewählte Arbeitervertreter,223 kennzeichnen ihren Weg. Diese beiden Monopole bleiben auch deshalb Gegenstand einer kontroversen öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion. Die beiden auf diese Weise „sozialisierten“ Bereiche der Volkswirtschaft werden zudem Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen in der im Jahre 1920 berufenen zweiten „Sozialisierungskommission“. Es geht in diesem von der Zusammensetzung her wiederum nicht einigungsfähigen Gremium um Vorstöße, doch noch die ökonomischen Grundlagen in diesen beiden Branchen im Sinne der Veränderung der Eigentumsverhältnisse umzugestalten.224 Diese Initiativen treffen in der Kommission auf den heftigen Widerstand der dort vertretenen wirtschaftsbürgerlichen Kräfte und erweisen sich als nicht durchsetzbar. Obwohl es in der Weimarer Republik zu einem viel kritisierten Ausbau der öffentlichen Betriebe und Einrichtungen im Bereich der Kommunen und Kommunalverbände, sowie bei den Sozialversicherungsträgern kommt, scheitern Vorstöße in anderen Wirtschaftszweigen zu „partiellen Sozialisierungen“ in Form von Verstaatlichungen oder Eigentumsübertragungen an Selbstverwaltungskörper zu kommen. In diesem Zusammenhang wäre u.a. noch 220 Vgl. ebenda, 754 ff. 221 Vgl. dazu: Kühnel, Klaus: Die „kapitalistische Seele“...a.a.O.(=Anm. 218). 222 Vgl.: Gestaldio: Die Sozialisierung des Kohlenbergbaues. In: Schmollers Jahrbuch, 45(1921), 185 - 206, hier: 189 f. 223 Vgl.: Brehme, Gerhard: Die sogenannte...a.a.O.(=Anm. 152), 148 ff. 224 Vgl.: Euchner, Walter: Das Ringen...a.a.O.(=Anm. 205), 332 ff.; Gestaldio: Die Sozialisierung...a.a.O.(=Anm. 222), 190 ff.

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an die heftigen Auseinandersetzungen zu erinnern, die sich um den „Entwurf eines Gesetz über die Kommunalisierung von Wirtschaftsbetrieben“ ranken, ein Gesetzentwurf, der mit dem Datum vom 24. April 1920 an den Reichsrat übersandt wird und schließlich unter dem Eindruck heftiger Gegenwehr scheitert. Nach dem Rücktritt des mit seinen „gemeinwirtschaftlichen“ Ansätzen auch in seiner Partei durchaus nicht unumstrittenen Wissell im Juli 1919, sind diese Aktivitäten mit dem Namen des neuen freigewerkschaftlichen Wirtschaftsministers Robert Schmidt verbunden. Seine Verstaatlichungspolitik ist dabei u.a. auch darauf gerichtet, die negativen wirtschaftlichen Folgen der unter der Flagge der „Sozialisierung“ gerade erst geschaffenen Monopole zu brechen. „Die schwerindustriellen Verbände verstanden es, mit Hilfe der ihnen nahestehenden Parteien vorzüglich, die Pläne der hilflos zappelnden Mehrheitssozialdemokratie zu durchkreuzen.“225 Die Wahlniederlage der MSPD Mitte 1920 und ein zunehmend selbstbewußtes Unternehmertum markieren das Ende eines Weges, auf dem sowohl die „soziale Frage“ als auch das „ökonomische Problem“ gelöst werden sollte. Im Rahmen der angesprochenen „Sozialisierungsgesetzgebung“ wird, auch im Bewußtsein der Beteiligten, praktische Verfassungspolitik betrieben. Im „Sozialisierungsgesetz“ finden sich Denkansätze und Textstücke, die in die „Verfassung des Deutschen Reichs“ vom 11. August 1919, in die Weimarer Reichsverfassung226 Eingang finden. Daß die Weimarer Reichsverfassung einmal so ausgeprägt die „Arbeiterfrage“ bzw. die „soziale Frage“ und ihre sozialpolitische „Lösung“ spiegeln soll, ist diesem Verfassungswerk nicht in die Wiege gelegt.227 Der Rat der Volksbeauftragten beruft schon wenige Tage nach der Abdankung des Kaisers den liberaldemokratischen Staatsrechtslehrer Hugo Preuß zum Staatssekretär des Innern und legt die Ausarbeitung eines Entwurfs einer zukünftigen Reichsverfassung in seine Hände. Diese Entscheidung, die kurz nach der Festlegung auf eine möglichst baldige Einberufung einer verfassunggebenden Nationalversammlung gegen Mitte November 1918 gefällt wird, ist keineswegs eine „personelle Fundierung“ für eine in Kreisen der Arbeiterbewegung vorhandene differenzierte verfassungspolitische Konzeption. Sie illustriert „...eher das Fehlen eines konkreten (verfassungspolitischen, E. R.) Konzepts in der deutschen Sozialdemokratie und den Mangel an geeigneten Persönlichkeiten aus den eigenen Reihen.“228 Insgesamt sind diese Vorgänge natürlich eine weitere Zementierung der Entscheidung gegen eine „reine“ Räteverfassung und für die parlamentarische Demokratie. Der von der genossenschaftlichen Staatstheorie Otto von Gierkes und vom Kathedersozialismus beeinflußte Hugo Preuß229 hatte bereits im September 1917 einen 225 Hellige, Hans-Dieter: Die Sozialisierungsfrage...a.a.O.(=Anm. 199), 98; vgl. zum „Kommunalisierungsgesetzentwurf“ die entsprechende Drucksache mit bemerkenswerter Begründung und etwa die Stellungnahme des „Hansa-Bund für Gewerbe, Handel und Industrie“ zu entsprechenden Vorarbeiten vom 17. Juli 1919. BA Abt. Potsdam. 31.05 Sozialisierungskommission, Nr. 5, Bl. 106 ff., 223 ff. 226 So die „gesetzestechnische“ Bezeichnung der Weimarer Reichsverfassung; vgl.: RGBl. 1919, 1383. 227 Vgl. in diesem Zusammenhang als grundlegende Schrift: Völtzer, Friedrich: Der Sozialstaatsgedanke in der Weimarer Reichsverfassung. Frankfurt a.M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1992; vgl. auch: Huber, Ernst Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Band VI. Die Weimarer Reichsverfassung. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1981, 1025 ff.; weitere Literaturangaben bei: Ritter, Gerhard A.: Die Entstehung des Räteartikels 165 der Weimarer Reichsverfassung. In: Historische Zeitschrift, 258(1994), 73 - 112, hier: 73. 228 Potthoff, Heinrich: Das Weimarer Verfassungswerk und die deutsche Linke. In: Archiv für Sozialgeschichte, 12(1972), 433 - 483, hier: 453; zu den Umständen seiner Berufung und seiner verfassungspolitischen Aktivitäten gegen Ende des Kaiserreichs, die vermutlich auf eine Anregung von v. Hindenburg und Ludendorff zurückgeht, vgl.: Völtzer, Friedrich: Der Sozialstaatsgedanke...a.a.O.(=Anm. 227), 103, Fußn. 8. 229 Vgl. denselben, ebenda, 102.

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Vorschlag zur Abänderung der alten obrigkeitlichen Reichsverfassung entworfen, der keine sozialpolitischen bzw. sozialstaatlichen Elemente enthielt.230 Ebenso verhält es sich mit den ersten von ihm vorgelegten Texten zu einer neuen Reichsverfassung. Ein erster „Entwurf der künftigen Reichsverfassung (Allgemeiner Teil)“, der am 3. Januar 1919 den Volksbeauftragten überstellt wird,231 beschränkt sich weitgehend auf staatsorganisatorische Fragen. Er enthält nur vage Ansätze sozialstaatlichen Gedankenguts. In der beigegebenen Denkschrift läßt sich ebenfalls wenig zur Sozialpolitik erkennen. Über die „Sozialpolitik“ wird lediglich an einer Stelle etwas ausgeführt und sie wird dort mit der „Sozialisierung“ und der „sozialen“ Boden- und Schulpolitik in Beziehung gebracht. Darüber hinaus vermißt Friedrich Ebert „...in der Vorlage die scharfe, ins Auge fallende Betonung gewisser demokratischer Gesichtspunkte...“ zu denen er auch die Versammlungs- und Koalitionsfreiheit zählt.232 Zusätzlich findet sich die Sozialpolitik wesentlich nur in der kompetenzrechtlichen Zuweisung von Gesetzgebungsgebieten an das Reich. Der nicht ausformulierte § 22 weist u.a. auf das Siedlungswesen hin. Der § 23 „...soll Bestimmungen über die Vertretung der Arbeiter, besonders über Arbeiterräte bei großen Unternehmungen enthalten, deren Fassung vorbehalten bleibt...“233 Die revidierte, einen Tag nach der Wahl zur Nationalversammlung im Reichsanzeiger vom 20. Januar 1919 veröffentlichte Fassung ist in sozialstaatlicher Hinsicht ebenfalls enttäuschend.234 Der neu eingefügte Abschnitt über „die Grundrechte des deutschen Volkes“ enthält überwiegend liberale Abwehrrechte aus dem verfassungsgeschichtlich „allgemein anerkannten Bestand“ und nur wenige „soziale Grundrechte“. Bestimmungen über „Arbeiterräte“ sucht man nun völlig vergebens und von „Sozialisierung“ ist überhaupt keine Spur mehr zu erkennen. Dafür ist die Versammlungs- und Koalitionsfreiheit „wunschgemäß“ akzentuiert und das Thema der „Wiederbevölkerung des platten Landes“ einschließlich entsprechender bodenreformerischer Maßnahmen ist aufgenommen.235 Dieser und ein weiterer Paragraph enthalten allerdings „Enteignungsklauseln“ zum „Wohle der Allgemeinheit“ bzw. zur Verwirklichung der Bodenreform und Landsiedlung. Die „Enteignung für Reichszwecke“ wird der Gesetzgebung des Reiches zugewiesen. Der Sozialstaat hat damit immer noch keinen verfassungsrechtlichen Rang erhalten. Die Reaktion auf diesen veröffentlichten, als „manchesterlich“ bezeichneten Verfassungsentwurf ist insbesondere in sozialreformerischen Kreisen heftig und kritisch.236 Dieser Charakter des Verfassungsentwurfs, der auch aus der natürlich nicht unpolitischen Abneigung des Staatssekretärs gegen (soziale) Grundrechte überhaupt resultiert, führt bei konservativen und vor allem bei wirtschaftsliberalen Kräften zu einer gewissen „Erleichterung.“ Auch der mit Datum vom 21. Februar 1919 publizierte „Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs“ enthält sich differenzierter und substantieller sozialpolitischer Aussa230 Vgl. denselben, ebenda, 102 f. 231 Vgl. denselben, ebenda, 109 f.; vgl. auch die Beratung dieses Entwurfs auf einer „Sitzung in der Reichskanzlei am 14.1.1919, nachm. 6 Uhr.“ In: Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19. Zweiter Teil. Düsseldorf 1969, 237 - 267. 232 Vgl.: Die Regierung...a.a.O.(=Anm. 231), 240; die Denkschrift befindet sich u.a. im: BA Abt. Potsdam. 90 He 1 Nachlaß Wolfgang Heine, Nr. 159, Bl. 24 ff. 233 So der Entwurf vom 3.1.1919 in seiner ursprünglichen Fassung; zitiert aus ebenda, 249 - 266, hier: 255. 234 Sie fällt in eine Zeit nunmehr aufbrandender öffentlicher verfassungspolitischer Diskussionen und zahlreicher privater „Verfassungsentwürfe“, die an die Öffentlichkeit und/oder die Entscheidungsträger direkt gerichtet sind. Vgl.: Völtzer, Friedrich: Der Sozialstaatsgedanke...a.a.O.(=Anm. 227), 110 ff. 235 Die revidierte Fassung findet sich ebenfalls wiedergegeben in: Die Regierung...a.a.O.(=Anm. 231), 249 - 266. 236 Vgl.: Völtzer, Friedrich: Der Sozialstaatsgedanke...a.a.O.(=Anm. 227), 118 ff.

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gen.237 Nunmehr ist zwar bereits in der Präambel u.a. von der Förderung des „sozialen Fortschritts“ die Rede, Koalitions- und Versammlungsrecht bleiben garantiert und es wird verkündet, die Arbeitskraft stehe „...unter dem besonderen Schutze des Reichs“, eine Formulierung, die als Artikel 157 Satz 1 in die Endfassung der Weimarer Reichsverfassung eingeht. Die staatliche Sozialpolitik mit ihren Gebieten findet sich wiederum nur in der Kompetenzzuweisung für die Reichsgesetzgebung. Interessanterweise taucht allerdings unter den Gegenständen der Reichgesetzgebung „... die Regelung der Herstellung und Verteilung der wirtschaftlichen Güter für die deutsche Gemeinwirtschaft“ auf. Das „Sozialisierungskonzept“ des Reichswirtschaftsministers Rudolf Wissell bzw. seines Mitarbeiters Wichard von Moellendorff hat damit einen ersten verfassungsrechtlichen Niederschlag gefunden. Hinweise auf „Räte“ hingegen sucht man wiederum vergeblich. Der zuständige Staatssekretär Hugo Preuß kann sich erneut mit seiner Position durchsetzen, die er unter allgemeiner Zustimmung bereits gegen Ende des Jahres 1918 wie folgt formuliert hatte: „Das Verfassungswerk der Paulskirchenverfassung sei größtenteils infolge der Endlosigkeit der Verhandlungen über die Grundrechte gescheitert. Hierin liege eine Warnung.“238 Die Tatsache, daß der „Grundrechtsteil“, dessen fünfter Abschnitt einmal das Weimarer Sozialstaatsmodell enthalten soll, zunächst ohne sozialpolitische Rechte und Pflichten auskommt, mag auch darin begründet sein, daß die Beteiligung von Sozialdemokraten an dieser Phase der Entstehung der Verfassung sehr gering ist.239 Festzuhalten bleibt aber die ganz und gar erstaunliche und bemerkenswerte Tatsache, daß bereits nur „...drei Monate nach den Novemberereignissen den Mitgliedern der Nationalversammlung ein Regierungsentwurf vorgelegt wurde, der nicht nur frei von sozialistischen Verfassungsansätzen war, sondern auch kaum sozialstaatliches Gedankengut enthielt. Dieses gilt umso mehr, als Preuß noch vom paritätisch aus SPD und USPD besetzten Rat der Volksbeauftragten zum Staatssekretär berufen worden war.“240 Der bereits vom Staatenausschuß beratene, im föderalistischen Sinne umgearbeitete, veränderte und akzeptierte Entwurf vom 21. Februar 1919 erfährt seine erste Beratung in der Nationalversammlung am 24. und 28. Februar und am 3. und 4. März. Hier nun werden von der MSPD unter anderem die fehlenden Bestimmungen zur Sozialisierungsfrage beklagt. Dabei wird eine ausdrückliche Ablehnung der „vom Osten importierten Methode“ betont. Als „Zwischenlösung“ wird in bestimmten Fällen die „Syndizierung“ zur Sprache gebracht. Auch die fehlende verfassungsrechtliche Verankerung der Räte wird moniert. Die Idee von Betriebsräten mit größeren Kompetenzen, als sie die bisherigen Ausschüsse haben, und einer Zusammenfassung der Arbeiterorganisationen auf der Ebene der Bezirke und im Reich taucht in einem Beitrag des Mehrheitssozialisten Eduard David auf. Er schließt auch ein „Wirtschaftsparlament“ nicht aus, obwohl derartige Gedanken der Regierungserklärung vom 13. Februar 1919 fremd gewesen sind und die Regierung am 26. Feb237 Vgl.: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Band 335. Anlagen zu den Stenographischen Berichten. Nr.1 bis 390, hier: Nr. 59, S. 51; zu den Details, den beteiligten Kräften der Ministerialbürokratie und den Experten usw. usf. vgl.: Völtzer, Friedrich: Der Sozialstaatsgedanke...a.a.O.(=Anm. 227), 104 ff. 238 Aufzeichnungen über die Verhandlungen im Reichsamt des Innern über die Grundzüge des der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung vorzulegenden Verfassungsentwurfs vom 9. Bis 12. Dez. 1918. Zitiert nach demselben, ebenda, 107. 239 Weitere und differenzierte „Entschuldigungsgründe“ für das „Versagen“ der Mehrheitssozialisten auf diesem verfassungspolitischen Gebiet finden sich bei: Potthoff, Heinrich: Das Weimarer Verfassungswerk...a.a.O.(=Anm. 228), 453 ff. 240 Völtzer, Friedrich: Der Sozialstaatsgedanke...a.a.O.(=Anm. 227), 124.

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ruar hatte erklären lassen, sie denke nicht daran, das Rätesystem in irgendeiner Form in die Verfassung oder in den Verwaltungsapparat einzugliedern. Der sich ankündigende Sinneswandel ist zweifellos eine Folge des dramatischen gesellschaftlichen Hintergrundes der Verhandlungen über die Verfassung.241 Als linke Oppositionspartei tritt die USPD für weitgehende Veränderungen im sozialistischen Sinne am Verfassungsentwurf ein. Die Sozialisierung und ein machtvolles Rätesystem mit auch politischen Funktionen bilden zentrale Gegenstände der Redebeiträge von Abgeordneten dieser Partei und diese verdeutlichen, daß es in der USPD starke Kräfte gibt, die mehr wollen als „nur“ staatliche Sozialpolitik im herkömmlichen Sinne. Der Sprecher der DDP erklärt für seine Fraktion die Bereitschaft, ernsthaft zu prüfen, wo sich „Gemeinwirtschaft“ empfehle. Grundsätzlich gehe man aber von der Überlegenheit der Privatwirtschaft aus.242 Der den „sozialen Flügel“ der DDP repräsentierende Abgeordnete und Völkerrechtler Walther Schücking hält eine ganze Reihe von sozialpolitischen Bestimmungen für wünschenswert. Das Versicherungswesen, das Schlichtungswesen, den Fabrikkonstitutionalismus und das Heimstättenrecht bedürften einer verfassungsrechtlichen Normierung. Er spricht sich für die Notwendigkeit aus, neben dem politischen einen „sozialen Parlamentarismus“ zur Repräsentation der Interessen verschiedenster Berufsschichten (Studenten, Professoren, Landwirte, Arbeiter, Fabrikanten usw.) zuzulassen, der gewisse gesetzgeberische Funktionen haben solle.243 Bei sehr skeptischer Haltung zur „Sozialisierung“ wird auch auf Seiten des Zentrums die Bereitschaft deutlich, eine Vertiefung und Vermehrung sozialstaatlicher Vorschriften in der Verfassung vorzusehen. Die rechtsliberale DVP steht als zweifellos der Schwerindustrie nahestehende Honoratiorenpartei sozialpolitischen Vorschriften sehr reserviert gegenüber. Ihr Abgeordneter Gustav Stresemann bringt am 4. März 1919 die Idee eines „Wirtschaftsparlaments“ mit beratender Funktion zur Ausgleichung, Abstimmung und Lösung der unterschiedlichen Interessen der Arbeiterschaft, des Mittelstandes und der Industrie in die Debatte ein. Die Vorstufe eines solchen „sozialen Parlaments“ sei vielleicht die Zusammenarbeit von Großindustrie und Gewerkschaften.244 Die DNVP äußert sich während der ersten Beratung des Entwurfs der Weimarer Reichsverfassung nicht in beachtenswerter Weise zur sozialpolitischen Ausgestaltung dieses „Staatsgrundgesetzes“.245 So erfolgt die entscheidende sozialpolitische Umarbeitung des viel kritisierten Entwurfs vom 21. Februar 1919 im 8. Ausschuß der Nationalversammlung, dem sogenannten Verfassungsausschuß. In ihm werden die sozialpolitisch relevanten Bestimmungen über das „Wirtschaftsleben“ allmählich im Sinne der schließlich angenommenen Endfassung ausformuliert. Verstehbar wird dieser Prozeß allerdings nur, wenn man den zeitgeschichtlichen Hintergrund intensiver ausleuchtet und der Frage nachgeht, woher die schließlich verfassungspolitisch relevant werdende Neigung zu „wirtschaftsparlamentarischen“ Formen und zu Betriebsräten stammt. In diesem Zusammenhang ist der Verweis auf soziale Unruhen und die bald anlaufende „Sozialisierungsgesetzgebung“ zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Zum Verständnis der ideellen Grundlagen der mehrheitssozialdemokratischen und der bürgerlichen berufsständischen oder wirtschaftsparlametarischen Vorstellungen ist vielmehr auch auf Vorläufer und Konzepte aus dem Kaiserreich hinzuweisen. Zu erwähnen 241 Vgl. denselben, ebenda, 126 ff.; Ritter, Gerhard A.: Die Entstehung...a.a.O.(=Anm. 227), 77. 242 Vgl.: Völtzer, Friedrich: Der Sozialstaatsgedanke...a.a.O.(=Anm. 227), 129 f. 243 Vgl. denselben, ebenda, 132. 244 Vgl. denselben, ebenda, 134 f. 245 Vgl. denselben, ebenda, 136.

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sind die Aktivitäten des preußischen Volkswirtschaftsrats, „berufsständische“ Gedankenspiele Bismarcks, ebensolche Elemente in den überkommenen Verfassungsordnungen deutscher Länder, Pläne zu berufsständischen Wahlreformen, der Versuch des Jahres 1918 die Zusammensetzung des preußischen Herrenhauses durch die Aufnahme von Berufsständen zu verändern, das Kammerwesen, die Arbeitsgemeinschaften der Kriegs- und Nachkriegszeit, die Bemühungen von Parteien, bei der Kandidatenaufstellung bestimmte Berufsgruppen zu berücksichtigen.246 Darüber hinaus ist auf Entwicklungen bei den „Räten“ hinzuweisen. Zweifellos haben sich Rätekonzeptionen im engeren Sinne erst mit der Revolution herausgebildet.247 Es sind jedoch nicht die radikalen und politischen Räteorganisationen und -konzeptionen, die die Parlamentsrede von Eduard David inspiriert haben, sondern jene einzelbetrieblichwirtschaftlich orientierten Institutionen, für die sich der Begriff „Betriebsrat“ einbürgert. Dieser Begriff taucht vermutlich zum ersten Mal in den „Richtlinien für die Betriebsräte“ auf, die am 23. November 1918 vom Arbeiter- und Soldatenrat von Groß-Berlin beschlossen und am 25. November im Reichsanzeiger bekannt gemacht werden248 und die eine strikt innerbetriebliche Tätigkeit sowie eine Verständigung mit den Gewerkschaften vorsehen. Diese Konzeption ist entgegen den „weitgreifenden“ Rätemodellen eine an die Arbeiterund Angestelltenausschüsse angenäherte Version des Rätewesens. Der Name „Betriebsrat“ ist insofern auch von programmatischer Bedeutung. Zu einer Festigung der Regierungsmeinung in diese Richtung kommt es im Zuge der auch für die „Sozialisierungsgesetzgebung“ zentralen Unruhen im Ruhrgebiet und in Mitteldeutschland. In Verhandlungen der Regierung mit Arbeitervertretern am 13. und 14. Februar 1919 in Weimar249 werden als „Ergebnis der Verständigung“ Betriebsräte als ausführendes Organ der bereits durch die Verordnung vom 23. Dezember 1918 geregelten Arbeiter- und Angestelltenausschüsse festgestellt und es wird eine „vorläufige Dienstanweisung für den Betriebsrat“ niedergelegt. Die Kompetenzen der „Betriebsräte“ werden streng auf den Betrieb begrenzt und stark eingeschränkt, unter Beachtung und Berücksichtigung der gewerkschaftlichen Handlungsspielräume. In die Betriebsleitung darf nicht eingegriffen werden. Aus Enttäuschung über dieses „Ergebnis der Verständigung“ kommt es zu einer Radikalisierung, die sich in neuen Streiks niederschlägt. Die Regierung tritt dem mit der Besetzung Halles und mit militärischer Gewalt entgegen und verspricht, zusätzlich zur „Sozialisierung“, eine gesetzliche Einführung von Betriebsräten. Auch die MSPD spricht sich zu dieser Zeit für die Absicherung von „Arbeiterräten“ in der Verfassung aus. Als Ergebnis der Zusage der Regierung kommt es unter allen Beteiligten (Arbeitgebern, Vertretern der Streikenden und Gewerkschaften) für die Zeit bis zur gesetzlichen Regelung dieser Fragen zu einer „verbindlichen“, nur für das mitteldeutsche Streikgebiet geltenden Vereinbarung über Betriebsräte, die im Reichsanzeiger vom 20. März 1919 veröffentlicht wird.250 Damit ist „...der eigentliche Vorläufer für das

246 Vgl.: Ritter, Gerhard A.: Die Entstehung...a.a.O.(=Anm. 227), 74 ff. 247 Vgl. dazu grundlegend: Dähn, Horst: Rätedemokratische Modelle. Studien zur Rätediskussion in Deutschland 1918 - 1919. Meisenheim am Glan 1975. 248 Wiedergegeben bei: Curschmann, F.(ritz): Die Entstehungsgeschichte...a.a.O.(=Anm. 183), 173; vgl. auch: Ritter, Gerhard A., Miller, Susanne (Hg.): Die deutsche Revolution...a.a.O.(=Anm. 155), 241 f. 249 Die Protokolle finden sich bei: Curschmann, F.(ritz): Die Entstehungsgeschichte...a.a.O.(=Anm. 183), 186 189. 250 Vgl.: Ritter, Gerhard A.: Die Entstehung...a.a.O.(=Anm. 227), 80; mit zahlreichen Zwischenschritten auch: Curschmann, F.(ritz): Die Entstehungsgeschichte...a.a.O.(=Anm. 183).

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Betriebsrätegesetz geboren. Er stellte den Preis der Aufgabe des Generalstreiks dar...“251 Damit ist zugleich die Unabhängigkeit der Betriebsräte von den politischen Räteorganisationen festgeschrieben. Der politische Rätegedanke ist auf diese Weise bewußt nicht gefestigt, sondern „erstickt“ worden. Der „Rätegedanke“ findet seine nähere Ausgestaltung daneben im bereits im Zusammenhang mit der „Sozialisierung“ erwähnten millionenfach verbreiteten Arbeitsprogramm der Regierung vom 5. März 1919. Darin ist auch das Versprechen enthalten, die Arbeiterräte in der Verfassung zu verankern. Die Ausführungen Eduard Davids haben bereits in die im Arbeitsprogramm vorgezeichnete Richtung gewiesen. Das Arbeitsprogramm skizziert dementsprechend das Bild eines dreistufigen Räteaufbaues. Es verspricht „Betriebsarbeiterund Angestelltenräte“ auf einzelbetrieblicher Ebene, „...die bei der Regelung der allgemeinen Arbeitsverhältnisse gleichberechtigt mitzuwirken haben.“ Gleichzeitig ist von „Arbeitsgemeinschaften“ die Rede, die wirtschaftliche Funktionen haben sollen und für alle Industrie- und Gewerbezweige errichtet werden sollen. Sie sollen sich aus Vertretern von Arbeit und Kapital zusammensetzen. Hinzu sollen für bestimmte territoriale Bezirke „Bezirks-Arbeiterräte (Arbeitskammern)“ treten. Schließlich soll es für das ganze Reich einen „Zentral-Arbeitsrat“ geben. In diesen Räten sollen „...alle selbst Arbeit Leistenden, auch die Arbeitgeber, freien Berufe usw. vertreten sein“, sie sind also, wie die Arbeitsgemeinschaften, „klassengemischte“ Institutionen. Bezirksräte und der Zentralrat sollen ihre Aufgaben auf dem Felde der „Sozialisierung“ finden. „Sie haben weiter alle wirtschafts- und sozialpolitischen Gesetze zu begutachten und das Recht, selbst solche Gesetze zu beantragen. Die Reichsregierung wird den Zentralrat vor der Einbringung wirtschaftlicher und sozialer Gesetze hören.“252 Mit diesen Formulierungen wird eine „Brücke“ zu den ständischen und „wirtschaftsparlamentarischen“ Vorstellungen geschlagen, wie sie Ende Februar/Anfang März anläßlich der ersten Beratung des Verfassungsentwurfs angeklungen waren. Die Umsetzung des Arbeitsprogramms vom 5. März 1919 „...ist in der Regierung in den nächsten Wochen sehr intensiv und kontrovers beraten worden“ und es erfährt im Zuge dieser Beratungen noch einige „Modifikationen.“253 Es sind schwere Bedenken der Gewerkschaften zu überwinden, die befürchten, ihre Existenzgrundlage durch ein solches „Rätesystem“ zu verlieren. Insbesondere der gewerkschaftliche „Vater“ der Arbeitsgemeinschaftspolitik und Vorsitzende der Generalkommission bzw. des ADGB, Carl Legien, tut sich hervor, kann sich aber letztlich nicht durchsetzen. Von anderen Kräften der Gewerkschaften wird die Chance gesehen, die „Räte“ von „...Konkurrenten zu Instrumenten der Gewerkschaften zu machen.“254 Ausgehend von Vorentwürfen vom 2. und 11. April, die zwischen dem Reichsarbeitsministerium und dem Reichsministerium des Innern abgestimmt werden, gewinnt der aus diesen Vorgaben hervorgehende „Räteartikel“ seine annähernd endgültige Gestalt.255 Am 2. Juli 1919 beginnt die zweite Beratung des Entwurfs der

251 Curschmann, F.(ritz): Die Entstehungsgeschichte...a.a.O.(=Anm. 183), 225. 252 Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 240. 253 Vgl. dazu: Ritter, Gerhard A.: Die Entstehung...a.a.O.(=Anm. 227), 82 ff.; vgl. dazu die zahlreichen Dokumente bei: Schulze, Hagen (Bearb.): Das Kabinett Scheidemann. 13. Februar bis 20. Juni 1919. Boppard am Rhein 1971. 254 So: Ritter, Gerhard A.: Die Entstehung...a.a.O.(=Anm. 227), 86. 255 Die Beratungen im Verfassungsausschuß sind ausführlich wiedergegeben bei: Völtzer, Friedrich: Der Sozialstaatsgedanke...a.a.O.(=Anm. 227), 142 ff.; die Vorentwürfe finden sich daselbst auf den Seiten 384 f.

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Weimarer Reichsverfassung auf der Grundlage des Aktenstücks Nr. 391.256 Am Montag, den 21. Juli 1919, hat sich die Versammlung zu dem fünften Abschnitt des zweiten Hauptteils, der die Überschrift „Das Wirtschaftsleben“ trägt, vorgearbeitet. Dieser fünfte Abschnitt enthält nun das sozialstaatliche Modell der Weimarer Republik.257 Als „Berichterstatter über den 5. Abschnitt“ spricht der Abgeordnete und bekannte Arbeitsrechtler, der Mehrheitssozialist Hugo Sinzheimer.258 Es habe sich wesentlich um drei Gesichtspunkte bei der Ordnung dieses Rechtsstoffes gehandelt: „Der erste Gesichtspunkt ist die Sicherung und Regulierung der wirtschaftlichen Einzelbetätigung. Der zweite Gesichtspunkt ist die Aussonderung der Arbeitskraft als ein besonderes Rechtsgut. Der dritte und wichtigste Gesichtspunkt ist die Grundlegung einer Wirtschaftsverfassung durch die sogenannte Verankerung der Räte in der Verfassung.“259 Sinzheimer behandelt sodann den „ersten Gesichtspunkt.“ Er bezieht sich auf insgesamt sechs Artikel des Verfassungsentwurfs, die mit nur einer Ergänzung unverändert in den endgültigen Verfassungstext übernommen werden. Diese Artikel umreißen, eingebunden in den Programmsatz, daß die Ordnung des Wirtschaftslebens den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziel der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen müsse, die Grundelemente einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung.260 In den durch das Gerechtigkeits- und Menschenwürdepostulat gegebenen Grenzen sei „...die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen zu sichern.“ Nach Maßgabe der Gesetze wird die „Freiheit des Handels und Gewerbes“ und die „Vertragsfreiheit“ gewährleistet. Wie bereits im Aufruf der „Volksbeauftragten“ an das deutsche Volk vom 12. November 1918, dem frühesten Dokument mit verfassungsrechtlichen Inhalten nach dem Sturz der Monarchie, wird auch das Eigentum von der Verfassung gewährleistet. Sein Inhalt und seine Schranken sollen sich „aus den Gesetzen“ ergeben. Die Enteignungsbestimmungen, die auf den Zweck der Förderung des Wohles der Allgemeinheit bezogen sind und eine angemessene Entschädigung vorsehen, werden im Verlaufe der Verfassungsverhandlungen mit einer Rechtsweggarantie versehen. Das Bild des spannungsreichen Nebeneinanders von Wirtschaftsfreiheit und Sozialbindung vervollständigend, heißt es sodann: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste.“ Auch das Erbrecht wird nach Maßgabe des bürgerlichen Rechts gewährleistet. Ein umfangreicher Artikel widmet sich der Verteilung und Nutzung des Bodens und den Bodenschätzen. In diesem Zusammenhang geht es insbesondere um die Wohnungsbaupolitik, die Sicherstellung der Bearbeitung und der Ausnutzung des Bodens und um die Abschöpfung von Wertsteigerungen des Bodens, die ohne Arbeits- oder Kapitalaufwendungen entstehen. Bodenschätze und „wirtschaftlich nutzbare Naturkräfte“ werden unter „Aufsicht“ des Staates gestellt. Formulierungen der „Sozialisierungsgesetzgebung“ finden sich in Artikel 153 des Entwurfs und gehen später unverändert in den Artikel 156 der Weimarer Reichsverfassung ein. Dieser Artikel, der aus dem „Sozialisierungsgesetz“ vom 23. März 1919 geschöpft ist, enthalte, führt Hugo

256 Vgl.: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Band 336. Anlagen zu den stenographischen Berichten. Berlin 1920, 1 ff. 257 Vgl.: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Band 328. Stenographische Berichte. Berlin 1920, 1748 ff. 258 Vgl. ebenda, 1748. 259 Ebenda, 1748. 260 Vgl. in diesem Zusammenhang als neuere historisch-rechtswissenschaftliche Untersuchung: Gusy, Christoph: Die Weimarer Reichsverfassung. Tübingen 1997; zur Wirtschafts- und Sozialordnung: ebenda, 342 ff.

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Sinzheimer aus, „...die Statuierung eines künftigen Rechtes des Reiches ... die wirtschaftliche Tätigkeit dem Sozialwillen zu unterwerfen...“261 Der „zweite Gesichtspunkt“, die „Aussonderung“ der Arbeitskraft als ein „besonderes Rechtsgut“ greift ebenfalls auf die „Sozialisierungsgesetzgebung“ zurück. Entsprechend den Formulierungen des § 1 des „Sozialisierungsgesetzes“ vom 23. März 1919 wird nunmehr auch verfassungsrechtlich festgelegt, daß die Arbeitskraft unter dem besonderen Schutz des Reiches steht. Darüber hinaus wird, gemäß dem Arbeitsprogramm der Regierung vom 5. März 1919, ein „einheitliches Arbeitsrecht“ versprochen. Der Schutz des „geistigen Eigentums“ und die Koalitionsfreiheit werden garantiert. Die Koalitionsfreiheit ist nunmehr nicht länger auf die „gewerblichen“ Arbeitgeber und Arbeitnehmer beschränkt, wie früher im Rahmen der Gewerbeordnung, sie gilt nach dem Verfassungstext allgemein. Hinsichtlich der Beamten werden von der Rechtswissenschaft allerdings Einschränkungen vorgenommen. Auch diese Bestimmungen werden in die endgültige Version der Verfassung übernommen. Sinzheimer betont, es sei in diesem Zusammenhang die Anmerkung zu machen, „...daß durch die verfassungsmäßige Anerkennung der wirtschaftlichen und sozialen Vereinigungsfreiheit nicht auch verfassungsmäßig die sogenannte Streikfreiheit konstituiert ist. Bezüglich der Streikfreiheit bleibt es ... bei der bekannten Verordnung, wonach allgemein Streikrecht für alle Berufe gegeben ist.“262 Die Möglichkeiten der Wahrnehmung von staatsbürgerlichen Rechten für Arbeiter und Angestellte werden durch einen Freistellungsanspruch gegenüber den jeweiligen Arbeitgebern verbessert. Spuren der „Gegenwartsforderungen“ des Erfurter Programms von 1891 und der Verbitterung der Arbeiterbewegung über die Lückenhaftigkeit und die eingeschränkte Selbstverwaltung in den Institutionen der Sozialversicherungen werden im Artikel 158 des Verfassungsentwurfs deutlich: „Zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit und zum Schutze gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des Lebens schafft das Reich ein umfassendes Versicherungswesen unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten.“263 Ebenso wie dieser Artikel findet sich auch der folgende im verabschiedeten Verfassungstext wieder: „Das Reich tritt für eine zwischenstaatliche Regelung der Rechtsverhältnisse der Arbeiter ein, die für die gesamte arbeitende Klasse der Menschheit ein allgemeines Mindestmaß der sozialen Rechte erstrebt.“ Dieser Artikel erklärt sich aus den Bestrebungen um eine sozialpolitische Ausgestaltung des „Versailler Vertrags“ und aus den Bemühungen internationale sozialpolitische Institutionen zu errichten.264 Wiederum dem „Sozialisierungsgesetz“ vom 23. März 1919 sind Verfassungsbestimmungen entnommen, die für „jeden Deutschen“ unbeschadet seiner persönlichen Freiheit die „sittliche Pflicht“ statuieren, „...seine geistigen und körperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert.“ Jedem Deutschen solle die Möglichkeit gegeben werden, „...durch wirtschaftliche Arbeit seinen Unterhalt zu erwerben. Soweit ihm angemessene Arbeitsgelegenheit nicht nachgewiesen werden kann, wird für seinen notwendigen Unterhalt gesorgt. Das Nähere wird durch besondere Reichsgesetze bestimmt.“ Auf der Bühne des Parlaments weist Sinzheimer ausdrücklich darauf hin, daß es sich bei der „Pflicht zur Arbeit“ nicht um eine Rechtspflicht, sondern eben nur um eine „sittliche“ Pflicht handelt. Auch das „Recht auf 261 Verhandlungen...a.a.O.(=Anm. 257), 1749. 262 Ebenda, 1749. 263 Nach der Verabschiedung der Verfassung setzt auch um diesen Artikel ein Streit um die Verbindlichkeit und Ausdeutung ein. Insbesondere geht es um den Begriff der „maßgebenden“ Mitwirkung der Versicherten; vgl. dazu: Apelt, Willibalt: Geschichte der Weimarer Verfassung. München 1946, 353. 264 Vgl. dazu das nächste, das Unterkapitel 2.1.4 dieses Bandes.

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Arbeit“, eine uralte Forderung der sozialen Bewegungen, sei nicht im „...strengen Sinne als Recht formuliert.“265 Als Konzession an (klein-)bürgerliche Interessen wird ein Artikel zur Förderung des selbständigen Mittelstandes und zum Schutz „gegen Überlastung und Aufsaugung“ in die Verfassung aufgenommen. Wie bereits das millionenfach verbreitete Arbeitsprogramm der Regierung vom 5. März 1919 oder die „Sozialisierungsgesetzgebung“, so stellt auch der „Räteartikel“ des Verfassungsentwurfs, der als Artikel 165 seinen endgültigen Platz in der Weimarer Reichsverfassung finden soll, ein Musterbeispiel der Transformation einer tiefgreifend systemverändernden oder systemsprengenden Forderung einer radikalen Basis in eine systemstabilisierend gedachte und ausgestaltete sozialpolitische Vorschrift dar: „Mit der Vorlage des Räteartikels verfolgte die Regierung das Ziel, die Rätebewegung vom politischen auf das wirtschaftliche System umzuleiten und die Bewegung durch die Schaffung neuer öffentlich-rechtlicher Institutionen, die u.a. dem Ausgleich der Interessen von Unternehmern und Arbeitern dienen sollten, zu entradikalisieren und zu kanalisieren.“266 Angesichts der Vorgeschichte dieses „Räteartikels“ kann nicht erstaunen, daß die vorgesehenen Regelungen arbeitsgemeinschaftlich orientiert sind und die tarifpolitischen Interessen der Gewerkschaften wahren.267 Nichts dokumentiert diese „Anverwandlung“ so stark, wie die in diese Orientierung eingeschlossene Entscheidung „...den Räten auch Unternehmer angehören zu lassen, also Vertreter jener Klasse, deren Beseitigung ursprünglicher Zweck der Räte im alten (und radikalen, E.R.) Sinne gewesen war.“268 Die Arbeiter und Angestellten, so beginnt der „Räteartikel“, seien dazu berufen, „...gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken. Die beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen werden anerkannt. Die Arbeiter und Angestellten erhalten zur Wahrnehmung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen gesetzliche Vertretungen in Betriebsarbeiterräten sowie in nach Wirtschaftsgebieten gegliederten Bezirksarbeiterräten und in einem Reichsarbeiterrat. Die Bezirksarbeiterräte und der Reichsarbeiterrat treten zur Erfüllung der gesamten wirtschaftlichen Aufgaben und zur Mitwirkung bei der Ausführung der Sozialisierungsgesetze mit den Vertretungen der Unternehmer und sonst beteiligter Volkskreise zu Bezirkswirtschaftsräten und zu einem Reichswirtschaftsrat zusammen. Die Bezirkswirtschaftsräte und der Reichswirtschaftsrat sind so zu gestalten, daß alle wichtigen Berufsgruppen entsprechend ihrer wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung darin vertreten sind. Sozialpolitische und wirtschaftspolitische Gesetzentwürfe von grundlegender Bedeutung sollen von der Reichsregierung vor ihrer Einbringung dem Reichswirtschaftsrat zur Begutachtung vorgelegt werden. Der Reichswirtschaftsrat hat das Recht, selbst solche Gesetzesvorlagen zu beantragen. Stimmt ihnen die Reichsregierung nicht zu, so hat sie trotzdem die Vorlage unter Darlegung ihres Standpunktes beim Reichstag einzubringen. Der Reichswirtschaftsrat kann die Vorlage durch eines seiner Mitglieder vor dem Reichstag vertreten lassen. Den Arbeiter- und Wirtschaftsräten können auf den ihnen überwiesenen Gebieten Kontroll- und Verwaltungsbefugnisse übertragen werden. Aufbau und Aufgabe der Arbeiter- und Wirtschaftsräte sowie ihr Verhältnis zu anderen 265 Vgl.: Verhandlungen...a.a.O.(=Anm. 257), 1749. 266 Ritter, Gerhard A.: Die Entstehung...a.a.O.(=Anm. 227), 84. 267 Vgl. zu den Auseinandersetzungen im 8. Ausschuß: Völtzer, Friedrich: Der Sozialstaatsgedanke...a.a.O. (=Anm. 227), 240 ff. 268 Derselbe, ebenda, 244.

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sozialen Selbstverwaltungskörpern zu regeln, ist ausschließlich Sache des Reichs.“ Mit dieser letzten Kompetenzzuweisung reagiert der Verfassungsgeber auf die Pläne einiger Bundesstaaten Landesgesetze über Arbeiterräte vorzubereiten.269 Hugo Sinzheimer begründet die „Verankerung der Räte in der Verfassung“ damit, daß es notwendig sei, auch für das Wirtschaftsleben bestimmte organisatorische und regulierende Normen zu finden, nach denen sich zweck- und planvoll die Entwicklung des wirtschaftlichen Lebens und die Entwicklung der wirtschaftlichen Kräfte vollziehen solle. Der Verfassungsausschuß habe sich bei der Debatte über die politischen Funktionen der Räte gegen das Extrem der Rätediktatur ausgesprochen. Sie stehe als „Diktatur einer Minderheit“ im Gegensatz zur Demokratie. Der Verfassungsausschuß habe sich demgegenüber für die Demokratie, die „Herrschaft der Mehrheit“ ausgesprochen. Das andere Extrem, das in diesem Zusammenhang ausgeschieden worden sei, habe „...ein Gesicht, das mehr nach der Vergangenheit hinweist. Es ist der Gedanke der Errichtung einer berufständischen Kammer neben dem politischen Parlament.“270 Auch diesen Gedanken, der letztlich auf Reichsebene ein Dreikammersystem bedingt hätte, habe der Verfassungsausschuß abgelehnt. Der Weg zwischen den beiden „Extremen“ bestehe nun darin, „...daß man den Räten wohl Einfluß auf die Politik, aber keine Entscheidungsmacht in der Politik gesichert hat.“271 Diesen Einfluß sieht Sinzheimer durch das im Verfassungsartikel verankerte Anhörungs-, Antrags- und Vertretungsrecht für den Reichswirtschaftsrat als gesichert an. Für den Sprecher der USPD enthält das „Wirtschaftsleben“, das in der Verfassung vorgezeichnet ist, keine Spur von Sozialismus. Nicht die sozialistische, sondern die „bürgerliche Weltanschauung“ behaupte sich in jedem Punkte der Verfassung. Er tritt für die verfassungsrechtliche Verankerung der „Umwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum“ ein und kann in den „Sozialisierungsvorschriften“ des Verfassungsentwurfs nur „Beruhigungsmittel“ und „Betrug“ sehen. Seine Rede, die mitunter lebhafte Zwischenrufe und Spott provoziert und die der Verfassung kein langes Leben voraussagt, endet mit dem „Aufruf“ an die Arbeiter in den Ententeländern: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“272 Die lange Debatte bringt noch manch erhellendes Detail, etwa den Hinweis des damaligen Arbeitsministers, Alexander Schlicke, daß die Arbeiter- und Angestelltenausschüsse durch das vorzulegende „Betriebsratsgesetz“ aufgehoben werden sollen. Es sei nicht gut möglich, daß in einem Betrieb zwei „Körperschaften“ mit nahezu denselben Aufgaben betraut würden.273 Sie gewährt einen weiteren tiefen Einblick in die Verfeindungen zwischen MSPD und USPD. Dabei werden auch „Ab269 Vgl.: Ritter, Gerhard A.: Die Entstehung...a.a.O.(=Anm. 227), 89; dort auch weitere Hinweise auf Eingaben und auf Verhandlungen im Staatenausschuß. Auf die Wiedergabe der Gliederung des „Räteartikels“, des Artikel 165 der Weimarer Reichsverfassung in Abschnitte habe ich verzichtet. 270 Verhandlungen...a.a.O.(=Anm. 257), 1751. 271 Ebenda, 1751. 272 Vgl. ebenda, 1755; bereits auf dem zweiten Rätekongreß (8. -14. April 1919) kommt es in der Rätefrage zu einer Auseinandersetzung zwischen USPD und MSPD. Beide Parteirichtungen legen eine Rätekonzeption vor. Der Entwurf der USPD läuft auf eine Abschaffung des Parlamentarismus und eine Ersetzung durch ein „reines Rätesystem“ heraus. Der Antrag der MSPD möchte die politische, die „formaldemokratische bürgerliche Demokratie“ durch eine „Kammer der Arbeit“ ergänzen, die relativ machtvoll gedacht ist und den Gesetzen zustimmen muß, „...doch erhält ein Gesetz, das in drei aufeinanderfolgenden Jahren von der Volkskammer ... unverändert angenommen wird, Gesetzeskraft.“ Beide Anträge sind abgedruckt und wiedergegeben bei : Wissell, Rudolf: Zur RäteIdee. In: Die Neue Zeit, 37(1919), 2. Band, Nr. 9, 195 - 207; vgl. auch: Euchner, Walter, Stockhausen, Maurice: SPD, Gewerkschaften und Reichswirtschaftsrat. In: Saage, Richard (Hg.): Solidargemeinschaft und Klassenkampf. Frankfurt a.M. 1986, 61 - 80, hier: 62. 273 Vgl.: Verhandlungen...a.a.O.(=Anm. 257), 1789.

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gründe“ in den Argumentationen und Positionen dieser Parteien deutlich. Wenn etwa Sinzheimer rechtfertigend für die Unmöglichkeit der „Vollsozialisierung“ anführt, daß die „Durchführung des Sozialismus“ im Sinne des Betriebes einer „neuen Ökonomie“ eine der schwierigsten Aufgaben sei und ein Sprecher der USPD entgegnet, es gäbe genug Unternehmer, die auch unter dem „Rätesystem“ weiter leitend tätig sein wollen, so enthüllt das, daß die radikale Linke zwar ein Konzept der Machtübernahme und Enteignung hat, aber zugleich kein eigenständiges und praktikables betriebs- und volkswirtschaftliches Gesamtkonzept und entsprechende Handlungsanweisungen besitzt. Andererseits zeigt „Beifall von der falschen Seite“ der MSPD, der von der USPD und der nicht im Parlament vertretenen KPD ein fortlaufender „Verrat“, eine Orgie der Täuschung, des Zurückweichens, des Abrückens von ehemals noch vertretenen Ideen, Idealen und Programmen vorgehalten wird, in welche „Nähe“ sie sich inzwischen bewegt hat. So findet ausgerechnet der Sprecher der DNVP, der frühere Mitarbeiter des Reichskanzlers Otto von Bismarck, Clemens von Delbrück, Gefallen am „Räteartikel.“274 Er erkennt sehr genau, daß die „Räte“ des Verfassungsentwurfs, im Gegensatz zu den russischen Räten, nicht mehr der „Durchführung der Revolution“, der „Niederkämpfung der Bourgeoisie“, der „Befestigung der Diktatur des Proletariats“ dienen sollen. In der Hand der Regierung und in der Hand der Parteien habe dieser Gedanke ein „wesentlich anderes Gesicht bekommen.“ Trotz mancher unannehmbarer Bestimmungen sähen seine politischen Freude und er nun einen Gedanken, der Anklang habe finden müssen, „...und das ist der Gedanke der berufsständischen Kammer.“275 Seine politischen Freunde und er seien immer der Ansicht gewesen, „...daß man in dem modernen Staat, besonders in der modernen demokratischen Republik mit unserem besonders gestalteten Wahlrecht darauf Bedacht nehmen müsse, in die Verfassung ein Gegengewicht gegen die Überspannung des Parlamentarismus und gegen die Herrschaft des Parlaments einzufügen. Wir haben dieses Gegengewicht immer in einer berufsständischen Kammer gesehen...“276 Man könne sich deshalb dem Rätegedanken, „abstrakt genommen“, nicht absolut ablehnend gegenüberstellen, zumal man der Auffassung sei, daß sich aus den Ansätzen eine Entwicklung ergeben werde, die sich in der Richtung der Entwicklung eines berufsständischen Parlaments bewegen werde. Zwar kann Hugo Sinzheimer mit der ihm eigenen Argumentationskunst eine allzu große Nähe zu diesen Vorstellungen begründet zurückweisen. Insbesondere betont er, daß das Rätesystem des Verfassungsentwurfs eine Ergänzung der politischen Demokratie, keine Einschränkung sei. Übereinstimmungen in den Grundstrukturen sind unübersehbar, obwohl die verfassungsrechtliche Ausgestaltung eher auf ein „Gutachterorgan“ schließen läßt, als auf ein mitbestimmendes „Wirtschaftsparlament“. Die uneinheitlichen, kompromißgeprägten Grundrechte in der am 31. Juli 1919 mit 262 gegen 75 Stimmen bei einer Enthaltung angenommen Reichsverfassung finden - neben Zustimmung - auch viel Kritik. Sie gelten den Kritikern als „interfraktionelles Parteiprogramm“. Sie sehen in ihnen Wünsche und Richtlinien für den Gesetzgeber, mitunter sogar nur eine „Vielheit von Bestätigungen“, Beteuerungen, Ermahnungen, Proklamationen,277 wenn nicht sogar die gesamte Verfassung als ein dem deutschen Volk „aufgepropftes Reis“, 274 Vgl. ebenda, 1772 f. 275 Ebenda, 1773. 276 Ebenda, 1773. 277 Vgl.: Thoma, Richard: Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der deutschen Reichsverfassung im allgemeinen. In: Nipperdey, Hans Carl (Hg.): Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung. Erster Band. Berlin 1929, 1 - 53, hier: 3 f.

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als „undeutsch“, als „westeuropäischer Import“ interpretiert wird und in die maßlose Kritik an der „Partei-Wirtschaft“, an der „Parteityrannei“, am „System des Stimmzettels“ einbezogen wird.278 Auch ernsthafte juristische Bemühungen um den Rechtsgehalt der Grundrechte und ihre Berücksichtigung im Rechtsleben der Republik279 dürfen nicht verdecken, daß der „Sturmwind“ der großen ökonomischen Katastrophen der Weimarer Republik den Verfassungstext und die Verfassungswirklichkeit weit auseinandertreibt. Die Geschädigten, die Verarmten und Arbeitslosen haben die in Schutz-, Hilfe-, Unterstützungs-, Menschenwürde- und Gemeinwohlbegriffen gefaßten Artikel im Alltag nicht wiedererkennen können. Das betrifft nicht nur die sozialpolitischen Bestimmungen, die das Wirtschaftsleben betreffen, sondern z.B. auch jene, die Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates stellen und ihr Förderung und Fürsorge versprechen (Artikel 119) und die den Schutz der Jugend beinhalten (Artikel 122). Manche Kodifikationsaufträge aus der Verfassung bleiben unerfüllt. Dazu gehört das Versprechen, ein „einheitliches Arbeitsrecht“ zu schaffen. Zwar wird schon im Verlaufe der Verfassungsverhandlungen ein mehrheitlich von bürgerlichen Arbeitsrechtlern und Sozialreformern besetzter „Arbeitsrechts-Ausschuß“ berufen, der am 2. Mai 1919 seine Tätigkeit aufnimmt. Dieser leistet, dem entstehenden Verfassungsversprechen folgend, Vorarbeiten zu einem einheitlichen „Arbeitsgesetzbuch“. Der Ausschuß entfaltet auch eine umfangreiche gesetzesvorbereitende Aktivität auf verschiedenen Einzelgebieten des Arbeitsrechts. Er wird aber, was de facto das Ende des Vorhabens eines einheitlichen Arbeitsgesetzbuches bedeutet, und was insgesamt die arbeitsrechtliche Gesetzgebung nicht beflügelt, Anfang 1924 aus „Sparsamkeitsgründen“ aufgelöst. Der zu dieser Zeit dem Zentrum angehörende Reichsarbeitsminister bezieht sich in einem Schreiben, das seinen Mitgliedern das Ende dieses Ausschusses mitteilt, auf Aussagen des Reichsministers der Finanzen, der gegen eine Fortführung der Finanzierung dieses Ausschusses Einspruch erhoben habe. Er habe betont, „...daß die verhängnisvolle Notlage der Reichsfinanzen die Streichung auch wichtiger Kultusausgaben zur unbedingten Notwendigkeit mache.“ Er habe dem nicht widersprechen können.280 Spätere Initiativen des Reichsarbeitsministeriums führen ebenfalls zu keinem Erfolg.281 Auch auf dem Gebiet der Räteorganisation zeigen sich „stagnative Tendenzen“.282 Die in Artikel 165 Absatz 2 versprochenen Bezirksarbeiterräte und der Reichsarbeiterrat werden ebenso wie die Bezirkswirtschaftsräte letztlich nicht verwirklicht. Einige sozialistisch beeinflußte Länder gehen aber im Sinne der Verfassungsbestimmungen selbständig vor. In Hamburg entsteht 1920 und in Bremen 1921 eine Arbeiterkammer. In anderen Ländern scheitern entsprechende Initiativen. Dieses Abrücken von der Weimarer 278 Vgl. als nicht untypische Schrift aus dem rechten Parteispektrum: Westarp, Graf (Kuno): Am Grabe der Parteiherrschaft. Berlin o.J. (1932). 279 Vgl. in diesem Zusammenhang z.B.: Anschütz, Gerhard: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. 14. Auflage. Berlin 1933, 505 ff. 280 Vgl.: Das Ende des Arbeitsrechtsausschusses beim Reichsarbeitsministerium. In: Soziale Praxis, 33(1924)6, Sp. 122; vgl. auch: Kaskel, Walter: Artikel 157 Absatz 2. Einheitliches Arbeitsrecht. In: Nipperdey, Hans Carl (Hg.): Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung. Dritter Band. Berlin 1930, 359 - 373, hier: 372; vgl. auch: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 245 f. 281 Vgl.: Gusy, Christoph: Die Weimarer...a.a.O.(=Anm. 260), 356. 282 In welch erheblichem Umfang durch den Räteartikel ein erstrangiges ideologisches und praktisches Bedürfnis der unter erheblichem Druck „von unten“ stehenden Mehrheitssozialdemokratie befriedigt wird, dokumentiert der Redebeitrag Sinzheimers auf dem Parteitag der MSPD im Jahr 1919, der sich das Thema „Rätesystem und Verfassung“ stellt. Vgl.: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands abgehalten in Weimar vom 10. Bis 15. Juni 1919. Berlin 1919 (Neudruck 1973), 406 - 420.

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Reichsverfassung läßt sich auch gut am Schicksal des in Artikel 165 Absatz 3 und 4 geforderten Reichswirtschaftsrats nachvollziehen. Dieser Reichswirtschaftsrat tritt zunächst als „vorläufiger“ durch die juristisch fragwürdige „Verordnung über den vorläufigen Reichswirtschaftsrat“ vom 4. Mai 1920 ins Leben.283 Ihm wird mit dieser Rechtsquelle ein Vorschlags- und Beratungsrecht im Bereich der Sozial- und Wirtschaftsgesetzgebung zuerkannt. Er umfaßt 326 Mitglieder. Auf die Land- und Forstwirtschaft entfallen 68, auf die Gärtnerei und Fischerei 6, auf die Industrie 68, auf Handel, Banken und Versicherungswesen 44, auf den Verkehr und die öffentlichen Unternehmungen 34, auf das Handwerk 36, auf die Verbraucherschaft 30, auf die Beamtenschaft und die freien Berufe 16 Vertreter. Hinzu treten „12 mit dem Wirtschaftsleben der einzelnen Landesteile besonders vertraute Persönlichkeiten“ und „12 von der Reichsregierung nach freiem Ermessen zu ernennende Personen.“ Insofern bildet dieser Rat, der bis ins Jahr 1933 in seiner vorläufigen Gestalt Bestand hat, dessen Einfluß jedoch gering ist, ein gewisses Spiegelbild der Wirtschaftsgesellschaft. Da die meisten Mitglieder unter Beachtung des Grundsatzes der Parität, wo dies sinnvoll ist, von Berufs- und Wirtschaftsverbänden sowie Arbeitsgemeinschaften „namhaft gemacht“ werden, handelt es sich doch um ein gewisses verbändestaatliches bzw. „berufsständisches Element“ in der Verfassungswirklichkeit der Weimarer Republik. An die Stelle einer denkbaren und in der Verfassung offen gelassenen Wahl und Delegierung über eine mehrstufige Räteorganisation, die ja nicht realisiert wird, ist das „Verbandsprinzip“ getreten. Die Verbände (Arbeitsgemeinschaften) werden als Ausdruck und Spiegelbild einer sozialreformerisch gestalteten bürgerlichen Gesellschaft durch ihre Mitwirkung an diesem institutionalisierten System für „Produzenteninteressen“ gleichzeitig in ihrer Existenz und Legalität bestätigt. Trotz der Bindung an spezielle Interessenorganisationen sollen sich die Mitglieder des vorläufigen Reichswirtschaftsrates als „Vertreter der wirtschaftlichen Interessen des ganzen Volkes“ verstehen. Unübersehbar sind Ähnlichkeiten zur Besetzung der auf die Beeinflussung spezieller Wirtschaftszweige gerichteten Organe der „Gemeinwirtschaft“. Geringe Kompetenzen, eine unzweckmäßig hohe Mitgliederzahl, divergierende Interessen, unzweckmäßige Verfahrensweisen und ein „Abflauen“ des Rätegedankens sowie das sichtbare Scheitern arbeitsgemeinschaftlicher Arrangements, sorgen schon bald dafür, daß die Arbeit im Plenum zum Erliegen kommt. Am 30. Juni 1923 vertagt sich das Plenum „aus Kostengründen“ auf unbestimmte Zeit und tritt nie mehr zusammen. Dem „vorläufigen Reichswirtschaftsrat“ verbliebene Aufgaben werden nunmehr durch die Ausschüsse wahrgenommen. Diese sollen nur noch Angelegenheiten behandeln, über die Gutachten von der Reichsregierung eingefordert werden.284 Im Ergebnis läuft dies auf eine wesentliche Einschränkung der Wirkungsmöglichkeiten des „Vorläufigen Reichswirtschaftsrats“ hinaus. Diese Entmachtung stößt auf erheblichen und fortdauernden Protest des ADGB. Im Sommer und Herbst 1925 wird an Referentenentwürfen über einen „endgültigen“ Reichswirtschaftsrat deutlich, daß die bürgerliche Regierung endgültig mit dem Programm der „Wirtschafts- und Arbeiterräte“ aus der Revolutionszeit gebrochen hat und nicht daran denkt, den Räteaufbau gemäß Artikel 165 zu verwirklichen. Noch einmal gerät der Reichswirtschaftsrat in den Jahren von 1928 bis 1930 in die Diskussion. Ein Entwurf eines Gesetzes über die Errichtung eines endgültigen Reichswirtschaftsrates aus dem Jahre 1928 verzichtet „naturgemäß“ wieder auf die von der Verfassung geforderte Räteorganisation und 283 Vgl.: RGBl. 1920, 858. 284 Vgl.: Gusy, Christoph: Die Weimarer...a.a.O.(=Anm. 260), 368.

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möchte allein den Reichswirtschaftsrat als eine in der Wirtschafts- und Sozialpolitik sachverständige Körperschaft ausbauen. Unter heftigen Kontroversen, die rechtsstehenden Parteien z.B. möchten die drei großen Gewerkschaftsrichtungen nicht als allein „berufene Vertreter der Arbeiter“ anerkennen und wollen Sitz und Stimme auch für die wirtschaftsfriedlich-nationalen, die „gelben“ Verbände,285 selbst der alte Gedanke einer ständischen zweiten Kammer wird von rechts erneut ins Spiel gebracht, findet schließlich am 14. Juli 1930 die entscheidende Abstimmung im Reichstag statt. Da der Entwurf das Programm des Räteartikels nicht verwirklicht und damit als „verfassungsändernd“ anzusehen ist und mithin einer Zweidrittelmehrheit bedarf, verfehlt er mit 234 zu 162 Stimmen die erforderliche Mehrheit. Damit bleibt der Reichswirtschaftsrat ein „vorläufiger“. Durch Gesetz vom 5. April 1933 wird schließlich unter dem Nationalsozialismus ein neuer „vorläufiger“ Reichswirtschaftsrat projektiert aber nie einberufen, 1934 wird das Gremium aufgelöst. So bleiben von diesem „Rat“ aufschlußreiche Debatten, umfangreiche Materialien und nicht selten recht entscheidende Verzögerungen des Gesetzgebungsprozesses. Die Gewerkschaften etwa kämpfen vergeblich um die Errichtung der Bezirkswirtschaftsräte und hoffen auf diese Weise zu einer Umgestaltung der für Handel, Industrie, Handwerk und Landwirtschaft bestehenden Kammern im Sinne des Paritätsgedankens zu kommen. Auch zeigt sich bei der Arbeit des „Vorläufigen Reichswirtschhaftsrats“ und seiner Untergliederungen, daß die Willensbildungsprozesse sich häufig entlang der „Klassenlinie“ vollziehen und sich nicht am Konsens in Berufsgruppen orientieren.286 Es ist auch der Inhalt, die Dauer und die Erfolglosigkeit all dieser Bemühungen in und um den „Vorläufigen Reichswirtschaftsrat“, die sichtbar machen, wie deutlich sich dieser „Rat“ auch de facto von allen Ansätzen und Aktivitäten des revolutionären Rätesystems unterscheidet. Insofern handelt es sich im Vergleich dazu wirklich um eine bemerkenswerte „Anverwandlung“ einer im Jahre 1919 radikalisierten Konzeption. Ein solcher „Anverwandlungsprozeß“ läßt sich zu dieser Zeit auch auf dem Gebiet der Verrechtlichung der Tätigkeit von Betriebsräten beobachten, ein Vorhaben, das ebenfalls auf den Artikel 165, den „Räteartikel“, zurückgeht. Aufbauend auf die „Richtlinien“ und „Dienstanweisungen“ für Betriebsräte von Ende 1918 und Anfang 1919, auf die Wandlungen der Regierungspolitik in der Rätefrage287, verknüpft mit dem Arbeitsprogramm der Regierung vom 5. März 1919 und den Fortschritten in der Verfassungsgebung288, erleichtert insbesondere auch durch die Abklärung der Haltung der Freien Gewerkschaften zur Betriebsrätefrage auf der Konferenz der Verbandsvorstände vom 25. April 1919, wird nach entsprechenden Vorarbeiten,289 ein „Entwurf 285 Vgl.: Der endgültige Reichswirtschaftsrat. In: Germania vom 28. Mai 1930; Wer ließ den Reichswirtschaftsrat scheitern? In: Sozial-Wirtschaftliche Korrespondenz, 6(1930)32, 1; zit. aus den Beständen des Evangelischen Zentralarchivs Berlin (Ev.ZA), I/A 2/147; vgl. auch: Kukuck, Horst A., Schiffmann, Dieter (Bearb.): Die Gewerkschaften von der Stabilisierung bis zur Weltwirtschaftskrise 1924 - 1930. Halbband I. Köln 1986, 22 ff. 286 Weitere Details bei: Euchner, Walter, Stockhausen, Maurice: SPD, Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm. 272), 66 ff.; das Schicksal des Reichswirtschaftsrates wird bei Preller an verschiedenen Stellen seiner Untersuchung erörtert; vgl. insbesondere: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 346 f., 481 f.; vgl. zur Gesetzgebung unter dem Nationalsozialismus das „Gesetz über den vorläufigen Reichswirtschaftsrat“ vom 5. April 1933 (RGBl. I 1933, 165). 287 Vgl. in diesem Zusammenhang die zahlreichen Hinweise bei: Cohen, Max: Der Rätegedanke im ersten Revolutionsjahr. In: Sozialistische Monatshefte, (1919), 1043 - 1055. 288 Vgl. den Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Artikels 34 des Entwurfs einer Verfassung des Deutschen Reichs. In: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Band 335. Anlagen zu den Stenographischen Berichten. Berlin 1920, Nr. 385, insbes. die Begründung. 289 Auf dieser Konferenz werden „Bestimmungen über die Aufgaben der Betriebsräte“ angenommen; vgl. das Dokument 65 bei: Schönhoven, Klaus (Bearb.): Die Gewerkschaften in Weltkrieg...a.a.O.(=Anm. 42), 753 f.; vgl.

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eines Gesetzes über Betriebsräte“ mit dem Datum vom 16. August 1919 als Drucksache vorgelegt.290 Dieser Entwurf, der den Vorstellungen der freien Gewerkschaften weit entgegenkommt, sieht in Kleinbetrieben Obmänner, sonst aber Betriebsräte in allen Betrieben mit in der Regel mindestens 20 Arbeitnehmern vor. Er legt ihre Ausgestaltung, die Zahl der Betriebsratsmitglieder, das Verfahren in den „Räten“ und den ausgefeilten Wahlmodus fest. Er gestaltet die Betriebsversammlung. Der Betriebsrat hat nach Maßgabe näherer Bestimmungen „...die wirtschaftlichen Interessen der Arbeitnehmer des Betriebs dem Arbeitgeber gegenüber wahrzunehmen und den Arbeitgeber in der Erfüllung der Betriebszwecke zu unterstützen.“ Die darauf aufbauenden Bestimmungen legen den Betriebsrat auf sozialpolitische Aufgaben fest, dies unter strenger Beachtung der „Gewerkschaftsdomäne“, insbesondere unter Beachtung des Vorrangs der Tarifverträge, soweit solche bestehen. Der Betriebsrat soll u.a. darauf achten, daß Gesetze, Tarifverträge, Schiedssprüche, Unfallverhütungsvorschriften und gewerbepolizeiliche Bestimmungen durchgeführt werden. Er soll bei der Vereinbarung von Arbeitsordnungen und der Verwaltung von Betriebswohlfahrtseinrichtungen mitwirken, kann im Einvernehmen mit den Gewerkschaften Arbeits- und Entlohnungsbedingungen aushandeln, wenn und soweit solche Dinge nicht tarifvertraglich geregelt sind. Sowohl die Aufgabenzuweisung als auch die „sozialpartnerschaftlichen“ Formeln erinnern an die Ausgestaltung, die Aufgabenbereiche und die Orientierung der traditionsreichen Ausschüsse, die zuletzt durch die Verordnung vom 23. Dezember 1918 als Arbeiter- und Angestelltenausschüsse normiert worden waren. Der Betriebsrat soll wie jene das „Einvernehmen“ zwischen Arbeit und Kapital sowie innerhalb der „Arbeitnehmerschaft“ fördern und für die Wahrung der „Koalitionsfreiheit“ eintreten. Er soll bei Konflikten Schlichtungs- und Schiedsstellen anrufen. Er soll den Betrieb „vor Erschütterungen bewahren“, insbesondere soll er Streiks verhindern. Er soll bei der Einführung neuer Arbeitsmethoden „fördernd“ mitarbeiten. Er hat in Betrieben „mit wirtschaftlichen Zwecken“ die Betriebsleitung „...durch Rat zu unterstützen, um dadurch mit ihr für einen möglichst hohen Stand und für möglichste Wirtschaftlichkeit der Betriebsleistungen zu sorgen." Er hat das spezifisch eingegrenzte Recht, bei Einstellungen und Entlassungen mitzuwirken und ein oder zwei Vertreter in den Aufsichtsrat zu entsenden, falls ein solcher besteht. Für die Erfüllung seiner Aufgaben hat der Betriebsrat bzw. der bei großen Betriebsräten zu bildende Betriebsausschuß in Wirtschaftsbetrieben, die keinen Aufsichtsrat haben, das juristisch ausgefeilte Recht vom Arbeitgeber über Betriebsvorgänge Aufschluß zu bekommen, die die auch: Winkler, Heinrich August: Von der Revolution...a.a.O.(=Anm. 159), 283; die „Bestimmungen“ werden in kaum geänderter Form vom Nürnberger Gewerkschaftskongreß Anfang Juli 1919 gebilligt; vgl. denselben, ebenda, 284; der dem Arbeitsprogramm der Regierung vom 5. März 1919 entsprechende Plan eines umfassenden, einheitlichen Räteaufbaues wird schon im April im Reichsarbeitsministerium fallengelassen. Der erste ausgearbeitete Referentenentwurf von Ende April 1919 beschränkt sich bereits auf die Rechte lediglich der Betriebsräte; vgl.: Oertzen, Peter von: Betriebsräte...a.a.O.(=Anm. 170), 154 f.; bereits diese Vorarbeiten lösen eine Fülle abwehrender Stellungnahmen aus. Schon jetzt und fortlaufend, sowie im späteren parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren wehrt sich die Landwirtschaft durch Eingaben ihrer Kammern und Verbände bzw. Interventionen ihrer Abgeordneten dagegen, in diese Gesetzgebung einbezogen zu werden. Vgl. z.B. die Eingaben im BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium. Nr. 3497. Eine Schädigung der Landwirtschaft, eine Gefährdung der Volksernährung durch die Tätigkeit von Betriebsräten, sind Standardargumente. Auch die abwehrenden Stellungnahmen anderer Wirtschaftskreise beginnen spätestens im Mai 1919 nach einer Besprechung im Reichsarbeitsministerium, die die Gesetzgebungspläne der Wirtschaft offiziell bekannt macht. Zu Einzelheiten vgl.: Tänzler: Industrie und Betriebsrätegesetz. In: Weltwirtschafts-Zeitung vom Freitag, den 12. September 1919, 1 - 2. 290 Vgl.: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Band 338. Anlagen zu den Stenographischen Berichten. Berlin 1920, Nr. 928. Ein Vorentwurf vom Mai 1919 findet sich im BA Abt. Potsdam. 06.01 Präsidialkanzlei, Nr. 153, Bl. 4ff., dort auch weiteres Material und Eingaben von Verbänden.

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„Arbeitnehmerverhältnisse“ berühren. Stillschweigen muß bei vertraulich gemachten Angaben bewahrt werden. In diesem Punkt geht der Entwurf sogar über die gewerkschaftlichen Forderungen hinaus. Für einen im Entwurf näher bestimmten im Rahmen dieser Betriebsverfassung aktiven Personenkreis wird ein besonderer Kündigungs-, Versetzungs- und Diskriminierungsschutz vorgesehen. Dieser Betriebsrätegesetzentwurf provoziert „natürlich“ auch auf der Seite des linken Flügels der Arbeiterbewegung heftigen Protest. Er geht der Linken auf sozialpolitischem und wirtschaftlichem Gebiet nicht weit genug und es wird die Forderung wiederholt, die Betriebsräte reichsgesetzlich zu Trägern der Sozialisierung zu machen. Als Mindestforderung gilt, was immer dies genau beinhalten mag, das volle „...Kontroll- und Mitbestimmungsrecht über alle Angelegenheiten des Unternehmens.“291 Die Linke erkennt, daß, nachdem die „politisch unliebsame Räteidee“ und Rätepraxis im Militär und im politischen Raum abgedrängt, beendet und sozusagen auf das wirtschaftliche Gebiet abgeschoben worden ist,292 nunmehr eine „Beerdigung“ des Rätegedankens durch die Schaffung eines Konsens- und Hilfsorgans in den Betrieben beabsichtigt ist. Von einer „Denaturierung“ des Rätegedankens, von einer „Verleugnung des Klassengedankens“ ist die Rede.293 Diese Kontroversen spiegeln sich in der ersten Beratung des „Entwurfs eines Gesetzes über Betriebsräte“ im Rahmen der 85. Sitzung der Nationalversammlung am 21. August 1919.294 Reichsarbeitsminister Alexander Schlicke bezeichnet den Gesetzentwurf als ersten Schritt zu einer „sozialen Neuordnung“ und gibt seiner sich allerdings nicht erfüllenden Hoffnung Ausdruck, daß noch im Jahr 1919 die gesamte „Räteverfassung“ festgelegt werden kann. Seit dem Bekanntwerden der ersten Referentenentwürfe habe sich „...ein Sturm von Warnungen, von Mahnungen und Protesten gegen die Rechte, die den Arbeitnehmern in dem Gesetz verliehen werden sollen...“, erhoben.295 Er lehnt sodann den Widerspruch von rechts und links ab, spricht sich insbesondere gegen die Sozialisierung von Betrieben durch Betriebsräte aus. Sozialisierung bedeute „...Gemeinwirtschaft, Wirtschaft im allgemeinen Interesse aller.“296 Er erörtert weitere Einwendungen gegen den Entwurf und betont, daß das „Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmerschaft“ bei Einstellungen, Kündigungen und Entlassungen ein Recht sei, das bisher schon unter der Demobilisierung bestehe.297 Keineswegs habe der Betriebsrat aber das Recht überall in die unternehmerische Disposition hineinzureden. Er beklagt sich, daß die Arbeitgeberschaft sich zur Drohung mit ihrer Auswanderung verstiegen habe, falls gewisse Bestimmungen des Betriebsrätegesetzes 291 Vgl.: Oertzen, Peter von: Betriebsräte...a.a.O.(=Anm. 170), 161; auf den Seiten 155 ff. auch weitere Hinweise zu den Teile der USPD umfassenden „radikalen“ Betriebsräteanschauungen und auf die Aktivitäten der Linken. Vgl. auch: Z.: Die Stellungnahme der Parteien und der sozialen Organisationen zur Rätefrage. In: Soziale Praxis, 28(1919), 29, Sp. 501 - 504; Schmid, Erich: Das Rätesystem und die Parteien. In: Der Reichsbürger (1920), 248 252. 292 Vgl.: Z.: Die Stellungnahme...a.a.O.(=Anm. 291), Sp. 502; vgl. auch: Ludwig, E.: Der Gesetzentwurf über die Betriebsräte. In: Die Internationale, 1(1919) 5/6, 14 - 21; Teil II in: ebenda, Heft 7/8, 15 - 20, dort auch der „Entwurf eines Gesetzes über Betriebsräte“ mit systemüberwindendem, betriebssyndikalistischem Charakter. Im Zusammenhang mit der Beratung des Betriebsrätegesetzes werden übrigens von verschiedenen Organisationen „Alternativentwürfe“ präsentiert. 293 Vgl. die oben angemerkten Beiträge in der „Internationale“. 294 Vgl.: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Band 329. Stenographische Berichte. Berlin 1920, 2721 ff. 295 Ebenda, 2722. 296 Ebenda, 2722. 297 So auch mit Verweis auf die entsprechenden Demobilmachungsverordnungen; vgl.: Verhandlungen...a.a.O.(=Anm. 290), 18.

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durchgeführt werden sollten.298 Abschließend gibt er zu erkennen, die Regierung verspreche sich von dem Gesetz, „...daß es dazu beitragen wird, das Vertrauen der Arbeiterschaft zu der heutigen Volkswirtschaft zu heben, die Arbeiterschaft an die Volkswirtschaft zu fesseln.“299 Ein Abgeordneter der DDP betont, daß das künftige Betriebsrätegesetz in der Tradition jahrzehntealter Gedanken stehe, die von liberalen Wirtschafts- und Sozialpolitikern ausgesprochen worden seien. Er erinnert an Friedrich Naumanns Vorstellungen zur Demokratisierung des Wirtschaftslebens und an Ausführungen des Frankfurter Stadtrats Karl Flesch, der ausdrücklich ausgesprochen habe, daß das Ziel aller Sozialpolitik nur sein könne, „...daß man im Arbeitsrecht aus dem Machtverhältnis ein Rechtsverhältnis macht, ... ein Gedanke, der insbesondere von den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen seit Jahren in ganz außerordentlicher Weise gepflegt worden ist.“300 Er sieht im Betriebsrätegesetzentwurf den Gedanken der „Gleichberechtigung“ und „Arbeitsgemeinschaft“ verwirklicht. Als Sprecher der DNVP signalisiert Clemens von Delbrück zwar keine absolute Ablehnung, äußert aber scharfe Kritik und bezweifelt die friedensfördernde Wirkung der Betriebsräte. Als Redner der USPD betont der Abgeordnete Otto Braß: „Nach unserer Überzeugung hätte eine wirklich revolutionäre Regierung mit aller Energie diese Institutionen (d.h. das Rätesystem, E.R.) ausbauen und sie als die festesten Stützpunkte der Revolution befestigen müssen... Das ist leider nicht geschehen. Im Gegenteil, man ist daran gegangen, sie restlos zu beseitigen, oder wie man auf wirtschaftlichem Gebiete jetzt den Versuch unternimmt, sie auf das Niveau der bisherigen Arbeiter- und Angestelltenausschüsse herabzudrücken.“301 Braß verweist auf zahlreiche Vorschriften und Paragraphen, die nach seiner Auffassung kein „neues Recht“ beinhalten, teilweise sogar auf eine Verschlechterung der bereits erkämpften Mitbestimmungsformen hinausliefen. Er erwähnt eine Konferenz von Betriebsräten, die vom 10. bis 12. Juli 1919 in Berlin auf Veranlassung des „Zentralrats der deutschen Republik“ getagt hat und die zu einer einstimmigen Ablehnung eines Entwurfs der Regierung gekommen sei.302 An der Perspektive der Sozialisierung festhaltend, verlangt er eine gemeinschaftlich von dem Betriebsrat und von der Betriebsleitung vorzunehmende Wirtschaftsführung.303 Nur so sei das Wirtschaftsleben schnellstmöglich in Gang zu setzen und die Produktion zu steigern. Anschließend betont ein Sprecher der MSPD noch einmal den integrationistischen Ansatz des Entwurfs, indem er bekennt: „...wir können nur ein Gesetz schaffen, das unser Wirtschaftsleben vor Erschütterungen bewahrt, ein Gesetz, das Disziplin und Unterordnung einerseits und Führung und Befehlsgewalt im Betriebe andererseits nicht noch weiter erschüttert, wie es schon jetzt unter den Einwirkungen der Verhältnisse zutrifft.“304 Darüber hinaus verweist er auf das kommunistische Rußland und die dortigen Disziplinprobleme sowie auf die positive Einstellung von Lenin und Trotzki zur Disziplin und Arbeit als Mittel der Rettung der Sowjetrepublik. Der Gesetzentwurf wird schließlich an den 7. Ausschuß, den sozialpolitischen Ausschuß verwiesen.305

298 Vgl.: Verhandlungen...a.a.O.(=Anm. 294), 2724; alle Hervorhebungen wie im Original. 299 Ebenda, 2725. 300 Ebenda, 2725. 301 Ebenda, 2737. 302 Vgl. ebenda, 2739. 303 Vgl. ebenda, 2741. 304 Ebenda, 2745. 305 Vgl. ebenda, 2745.

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Die Ausschußberatungen beginnen mit einem Vorstoß, der die Grundrichtung der Betriebsrätegesetzgebung hätte gefährden können. Aus der Mitte des Ausschusses, von Anton Erkelenz, der Arbeitersekretär der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinsbewegung und Abgeordneter der DDP ist, wird ein als Gegenentwurf gedachter „Gesetzentwurf betreffend die Arbeitsverfassung in den Betrieben“ vorgelegt. Er beruht auf Wünschen eines Kongresses der „freiheitlich-nationalen Arbeiter- und Angestelltenverbände“306 und beinhaltet die Auffassung, daß der Betriebssrat kein einseitiges Organ der Arbeitnehmer sein dürfe. In ihm müßten die Interessen der Unternehmer und Arbeitnehmer „...aufgelöst werden in ein gemeinsames höheres Betriebsinteresse.“307 Der Ausschuß mag sich zu einer derartigen Wende in seiner Arbeit nicht zu bekennen und hält weiterhin an seiner Leitlinie fest, daß es sich um einen reinen „Arbeitnehmerbetriebsrat“ handeln solle. Der im Gesetzentwurf enthaltene Vorschlag zur Vertretung der besonderen Interessen der abhängig Beschäftigten durch einen Arbeiter- und Angestelltenrat und zur Vertretung der gemeinsamen Interessen durch einen Betriebsrat, der aus Arbeitern, Angestellten und Unternehmern bzw. Unternehmervertretern in je gleicher Anzahl bestehen soll, verfällt mithin der Ablehnung. Einschränkungen und Modifikationen jedoch werden insbesondere an den Bestimmungen vorgenommen, die den Betriebsrat über den Status der bereits bestehenden Ausschüsse „hinausheben.“308 Besonders strittig ist die Vertretung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat und die „Bilanzeinsicht.“309 Während dieses Vertretungsrecht erhalten bleibt, die Ausgestaltung aber einem besonderen Gesetz vorbehalten wird, wird das „Einsichtsrecht“ wesentlich modifiziert und verschlechtert. Obwohl der Gegenentwurf insgesamt der Ablehnung verfällt, erreichen seine Vertreter im Ausschuß immerhin, daß der „Arbeitnehmerbetriebsrat“ in einen Arbeiter- und Angestelltenrat untergliedert wird. Diese Entscheidung, die nicht mehr revidiert wird, führt dazu, daß diese Ausschüsse „...je nach dem Gegenstand gemeinsam oder getrennt berieten oder beschlossen.“310 Das Mitbestimmungsrecht bei Einstellungen wird auf eine Mitwirkung an Einstellungsrichtlinien reduziert. Auch die Regelung der Mitbestimmung bei Kündigungen und Entlassungen erfährt im Ausschuß eine deutliche Verschlechterung. Trotz des gemäßigten Inhalts des Gesetzentwurfs, drohen der „Reichsverband der Deutschen Industrie“ und die „Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“ mit Gegenmaßnahmen. Einem Aktionsausschuß mit „weitestgehenden Vollmachten“ soll es obliegen „...die Interessen der Unternehmer bei der Durchführung des Gesetzes mit allen gesetzlichen Mitteln rücksichtslos zu wahren.“311 Am 13. Januar 1920 beginnt die zweite Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über Betriebsräte in der Fassung der Be306 Vgl.: Das Betriebsrätegesetz im Ausschuß der Nationalversammlung. In: Soziale Praxis, 29(1919)1, Sp. 11 13, hier: Sp. 12; vgl. zu diesem mit einer umfassenden Begründung versehenen Gesetzentwurf: BA Abt. Potsdam. 90 Gi 1 Nachlaß Johann Giesberts, Nr. 59, Bl. 100 ff. 307 Ebenda, Sp. 13; vgl. auch schon die Denkschrift des Gewerkvereins der Metallarbeiter (H.-D.) an das Reichsarbeitsministerium; besprochen in: Erkelenz, Anton: Zum Aufbau der Räteorganisation. In: Soziale Praxis, 28(1919)40, Sp. 696 - 699. 308 Vgl. insgesamt den Bericht des Ausschusses für soziale Angelegenheiten über den Entwurf eines Gesetzes über Betriebsräte - 928 der Drucksachen -. In: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Band 340. Anlagen zu den Stenographischen Berichten. Berlin 1920, Anlage Nr. 1838, 1901 - 2000. 309 Es handelt sich um viel mehr als nur um die Einsicht in eine Bilanz, aber der begrenzte Raum gebietet eine gekürzte Sichtweise. Alle Änderungen durch die Ausschußverhandlungen und auch durch die zweite Beratung sind leicht an Hand der Drucksachen Nrn. 928 und 1988 nachzuvollziehen; die Drucksache Nr. 1988 findet sich in den „Verhandlungen...“ Band 341, 2104 ff. 310 Winkler, Heinrich August: Von der Revolution...a.a.O.(=Anm. 159), 288. 311 Vgl. die Wiedergabe einer entsprechenden Entschließung bei: Wimmer, Walter: Das Betriebsrätegesetz von 1920 und das Blutbad vor dem Reichstag. Berlin 1957, 9.

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schlüsse des Ausschusses im Reichstag zu Berlin, in den die Nationalversammlung inzwischen zurückgekehrt ist. Schon am Abend zuvor bahnt sich an, daß dieser Tag zu einem der denkwürdigsten Tage der deutschen Sozialpolitikgeschichte werden soll. Am Abend des 12. Januar verlangen Betriebs- und Parteifunktionäre der MSPD GroßBerlin mit allem Nachdruck, daß die Kommissionsfassung des Betriebsrätegesetzes, insbesondere was das Mitbestimmungsrecht bei Einstellungen und Entlassungen, die „Bilanzvorlagepflicht“ und Bestimmungen gegen bestimmte Arbeiterkategorien betrifft, erheblich verbessert werden müsse. Aber auch die nicht in der MSPD organisierte politische Linke ist zu dieser Zeit aktiv. Eine unheilvolle Wendung nimmt die Sache, als in der „Freiheit“, dem Zentralorgan der USPD, am Morgen des 13. Januar ein Aufruf an die Arbeiter, Arbeiterinnen und Angestellten erscheint, die Betriebe gegen 12 Uhr zu verlassen und in Massen vor dem Reichstagsgebäude zu demonstrieren. Die Nationalversammlung, steht dort zu lesen, trete am Nachmittag zusammen und habe den Auftrag, „...das Betriebsräte-Gesetz durchzupeitschen.“ Im Betriebsrätegesetz paare sich Verlogenheit mit Niedertracht: „Wirtschaftliche Demokratie behauptet man Euch geben zu wollen. In Wirklichkeit will man Euch wieder fest an das kapitalistische Joch schmieden, will man die Betriebsräte zu Mamelucken des Unternehmertums machen.“ Dieser Aufruf, der zum Kampf für das „volle Mitbestimmungs- und Kontrollrecht“ und für revolutionäre Räte aufruft, ist, ohne daß ein Einverständnis vorliegt, von sich bald distanzierenden zahlreichen Gewerkschaftsverbänden, in voller Überzeugung aber vom Bezirksverband Berlin-Brandenburg der USPD und vom „roten“ Vollzugsrat Groß-Berlin unterzeichnet.312 Dieser Aufruf und andere mobilisierende Maßnahmen setzen schon lange vor 12 Uhr geradezu ungeheure Menschenmassen mit roten Fahnen und Standarten in Richtung Reichstag in Bewegung. Diese ungeheure, unkontrollierte Massenbewegung ist zwar unbewaffnet aber, zumindest, was die Teilnehmer unmittelbar vor dem Reichstag betrifft, nicht durchgängig „friedvoll“. Die Sicherheitskräfte, die zum Schutz der Nationalversammlung aufgeboten sind, werden als Bluthunde, Noskisten, Mörderbande beschimpft, bedrängt, zum Gebäude hin abgedrängt, aber auch gewaltsam entwaffnet und Mißhandelt, zeitweise droht die wohl auch von bestimmten Kräften geplante Erstürmung des Reichstagsgebäudes. Vor diesem Hintergrund kommt es schließlich zur maßlos-gewaltsamen Gegenwehr der Sicherheitspolizei, die den Einsatz von Maschinengewehrfeuer umfaßt und die in der Endbilanz 42 Tote und 105 Verwundete aus einer auseinanderflüchtenden Menschenmenge hinterläßt.313 Das Gelände vor dem Reichstagsgebäude ist nach diesem Gewaltausbruch mit zerschmetterten Waffen, roten Fahnen, Kleidungsstü312 Ein Exemplar befindet sich im BA Abt. Potsdam. 90 He 1 Nachlaß Wolfgang Heine, Nr. 178, Bl. 2; vgl. in diesem Zusammenhang auch: Miller, Susanne: Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918 - 1924. Düsseldorf 1978, 358. 313 Diese Vorkommnisse vor dem Reichstag sind in ihrem Ablauf von vornherein umstritten. Aus der Sicht der Linken wird die Friedfertigkeit der Demonstration betont, um den Skandal „Maschinengewehre gegen Proletariermassen“ zu profilieren. Die Gewaltmaßnahmen seien gegenüber einer bereits auseinandergehenden Demonstrantenschaft verübt worden und sie seien von Provokateuren bzw. Agenten in der Reihe der Demonstranten ausgelöst worden. Vgl. dazu etwa: Die Wahrheit über das Blutbad vor dem Reichstag 13. Januar 1920. Berlin o.J. Erhalten im BA Abt. Potsdam...a.a.O.(=Anm. 312), Bl. 1. Dem widersprechen zahlreiche Aussagen von Parlamentariern und Mitarbeitern des Reichstags sowie von Sicherungskräften, die alle das Moment der Bedrängnis, der Vernünftigkeit und Zurückhaltung, der Mißhandlung und der schließlich erfolgenden verzweifelten Gegenwehr der Sicherheitskräfte betonen, unverantwortliche Agitatoren und Gewalthandlungen aus der Masse der Demonstranten bezeugen. Bemerkenswert ist, daß zur Sicherung des Reichstags, durchforscht man die Quellen, neben Pistolen, Gewehren, Granaten und Maschinengewehren auch Flammenwerfer in Bereitschaft gehalten werden. Bis auf die Flammenwerfer werden alle diese Waffen auch eingesetzt. Die Zeugenaussagen finden sich im BA Abt. Potsdam. 90 He 1 Nachlaß Heine, Nr. 177.

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cken usw. bedeckt. Die Verwundeten werden nach wenigen Minuten von Ambulanzen abtransportiert. Während sich diese Vorgänge anbahnen,314 die zur Verhängung des Ausnahmezustandes über zahlreiche deutsche Länder führen und Repressivmaßnahmen gegen die Linke zur Folge haben, moniert in der Nationalversammlung der Sprecher der USPD die Besetzung des Hauses „von bewaffneter Macht mit Maschinengewehren.“ Es sei des Parlaments unwürdig, unter solchen Maßnahmen zu tagen. Er fordert die Beseitigung des Militärs aus dem Hause.315 Nach der Ablehnung dieses Vorstoßes beginnt der Berichterstatter des sozialpolitischen Ausschusses mit der Erläuterung der Vorlage.316 Während der Darstellung der Ausschußdiskussion über die Frage der „Vorlegung der Bilanz“ bricht nach dem Zuruf von der USPD, „Draußen wird geschossen!“, Unruhe aus. Gegen den Willen der Mehrheitsparteien und von Abgeordneten der politischen Rechten wird die Sitzung vorübergehend unterbrochen und schließlich, da „diese Toten draußen von der Straße“ in den Reichstag gebracht werden, als vermutlich undurchführbar abgebrochen. Auch bei der Fortsetzung der Sitzung am 14. Januar 1920 herrschen zunächst und am Ende erregte und persönlich diffamierende Szenen vor. Es artikulieren sich wiederum weit auseinanderstrebende Auffassungen zum Betriebsrätegesetz. Es wird deutlich, daß in der DDP stark arbeits- bzw. betriebsgemeinschaftlich orientierte Vorstellungen herrschen und daß diese Partei die Mitbestimmungsrechte noch stärker eingeschränkt sehen möchte. Sie ist vor allem nur noch aus der innenpolitischen Situation heraus zur Mitarbeit bereit. Man müsse das Gesetz haben, damit die Arbeiter sähen, „...daß tatsächlich ihre Rechte wesentlich erweitert werden sollen und damit die Arbeitgeber einen Schutz erhalten gegen die wilden Betriebsräte, die sich jetzt überall mit Unterstützung der Unabhängigen und Kommunisten auftun wollen, um von da aus das Wirtschaftsleben neu zu beunruhigen.“317 Im arbeitsgemeinschaftlichen Sinne äußert sich auch der bedeutende Schwerindustrielle und Abgeordnete der DNVP Albert Vögler. Darüber hinaus betont er, der das Gesetz am liebsten im Reichswirtschaftsrat „begraben“ möchte, die Betriebsräte müßten Einrichtungen der Gewerkschaften werden und er lobt die bestehenden Arbeitsgemeinschaften.318 Vom Standpunkt der USPD aus gesehen, wird die Vorlage immer „systemstabilisierender“ ausgestaltet. Von einem Gesetz gegen die „soziale Revolution“ zur Unterstützung der Betriebsleitung und ihrer „Ausbeutungsmethoden“ ist die Rede. Nach tagelangen Beratungen und bei fortwährendem Einbau von „Sicherungen gegen Mißbrauch“ wird das „Betriebsrätegesetz“ vom 4. Februar 1920319 am Sonntag, den 18. Januar, mit 213 Ja- zu 64 Neinstimmen angenommen.320 Das Gesetz wird durch eine 314 Die Behandlung dieser Vorgänge in der Presse findet sich in Form zahlreicher Zeitungsausschnitte ebenfalls im Nachlaß von Wolfgang Heine, der zu dieser Zeit preußischer Staatsminister und Minister des Innern ist; vgl. die Akte Nr. 178. Eine sachliche Kurzdarstellung der Geschehnisse am Abend des 12. und am 13. Januar 1920 enthält die: Politische und volkswirtschaftliche Chronik der österreichischen-ungarischen Monarchie. Wien 1920, 10 - 14. 315 Vgl.: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Band 331. Stenographische Berichte. Berlin 1920, 4196. 316 Vgl. ebenda, 4197. 317 Ebenda, 4228. 318 Vgl. ebenda, 4247 f. 319 So der Gesetzestitel; vgl.: RGBl. 1920, 147. 320 Vgl.: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Band 332. Stenographische Berichte. Berlin 1920, 4513 f.; vgl. auch: Das Betriebsrätegesetz - angenommen. In: Soziale Praxis, 29(1920)17, Sp. 385 - 386; Schneider, Gustav: Das parlamentarische Werden des Betriebsrätegesetzes. In: Soziale Praxis,

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Fülle weiterer Rechtsquellen konkretisiert. Diese betreffen insbesondere das Wahlverfahren der Betriebsräte allgemein und für Hausgewerbetreibende, die Vorlage der Betriebsbilanz und der Gewinn- und Verlustrechnung sowie die Entsendung von Betriebsratsmitgliedern in den Aufsichtsrat. Gerade um diese letzten beiden Punkte kommt es erneut zu gravierenden Auseinandersetzungen zwischen Vertretern des Unternehmertums und der Arbeiterbewegung während der Gesetzgebungsverfahren und bei der Umsetzung in die Praxis.321 Dem Betriebsrätegesetz entgegenstehende Bestimmungen, vor allem solche der „Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten“ vom 23. Dezember 1918, werden aufgehoben. Mit der Verabschiedung des Betriebsrätegesetzes endet der Meinungskampf keineswegs. Das Betriebsrätegesetz „...ist von der überwiegenden Mehrzahl des deutschen Unternehmertums mit starken Besorgnissen und unverhohlener Abneigung empfangen worden.“322 Mit seiner Mischung aus Betriebsfriedens- und Arbeitsgemeinschaftsideen, aus Elementen der traditionellen, nationalspezifischen „Industriekultur“ und neuen Ansätzen, als charakteristisches Kompromißgebilde nachkriegszeitlicher Sozialgesetzgebung, bietet es Ansatzpunkte für verschiedenste Interpretationen. Ausgeprägt ist die Ablehnung z.B. in der rheinisch-westfälischen Großindustrie. Es bleibt auf der bürgerlichen Seite nicht bei der hemmungslosen Kritik, die in den Betriebsräten nur leicht abgemilderte „Nachkommen der russischen Arbeiterräte“ sieht, sie als die Organisation des „Widerstands, des Aufruhrs gegen den Unternehmer, die Untergrabung seiner Autorität“ begreift. Zu unterscheiden ist dabei häufig auch zwischen der radikalen Haltung von Unternehmerverbänden und einer gemäßigten Einstellung von Werksleitern.323 Man entdeckt im Gesetz und in der Praxis, die dem Gesetz entspricht, den Betriebsgemeinschaftsgedanken als ein wertvolles aber unzureichend ausgeführtes Element, eine Sichtweise, die sich bald mit einer ausgesprochenen Gewerkschaftsfeindlichkeit, ja: Vernichtungsabsicht verbindet.324 In den Betrieben, diesen „Urzellen des herrschenden Wirtschaftssystems“, entfalten sich Strategien der Einbeziehung, der Instrumentalisierung, der Umdeutung und Mißachtung von verbliebenen Betriebsratsrechten. Auch Strategien der Gegenwehr und Paralysierung sind beobachtbar.325 In zahlreichen Unternehmen werden keine Betriebsräte gewählt, da die Initiative zur Wahl eines Betriebsrates bis zum Jahre 1928 vom alten Betriebsrat selbst ausgehen muß und dieser häufig durch den Arbeitgeber oder seinen Stellvertreter in seinem Vorhaben „gelähmt“ wird. Auch der subsidiär zur Bestellung eines Wahlvorstandes verpflichtete Unternehmer genügt seiner Rechtspflicht nicht immer gern. In den Kleinbetrieben hat es vermutlich das größte Vollzugsdefizit gegeben. In den mittleren und großen Betrieben hat sich das Betriebsrätewesen in den zwanziger Jahren mit konjunkturabhängigen Schwankungen durchaus etabliert. Insgesamt ist die freigewerkschaftliche Position in 29(1920)19, Sp. 417 - 421; vgl. als neuere „Erinnerungsschrift“ auch: Blanke, Thomas: 75 Jahre Betriebsverfassung: Der Siegeszug eines historischen Kompromisses. In: Kritische Justiz, 28(1995)1, 12 - 25. 321 Vgl. bis ins Jahr 1924: Arbeitsrecht und Arbeiterschutz (einschließlich Versorgung und Fürsorge für die Kriegsopfer). Teil I: Systematischer Teil. 4. neubearbeitete Ausgabe. Berlin 1924, 8 ff.; zu den Konflikten vgl.: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 263 f. 322 So die gut fundierte Darstellung von: Brigl-Matthiaß, Kurt: Das Betriebsräteproblem. Berlin und Leipzig 1926, 76; zur Stellung des Unternehmertums zusammenfassend: Büren, Herbert: Arbeitgeber...a.a.O.(=Anm.147), 238 ff. 323 So: Waldschmidt, W.: Die Stellung des Unternehmers im Betriebsrätegesetz. In: Deutsche Wirtschaftszeitung, 16(1920)2, 21 - 26. 324 Bühren, Herbert: Arbeitgeber...a.a.O.(=Anm. 147), 253. 325 Vgl.: Brigl-Matthiaß, Kurt: Das Betriebsräteproblem...a.a.O.(=Anm. 322), 125 ff.

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den Betriebsvertretungen stark oder gar überragend. Im Ruhrbergbau jedoch ist die Position der Kommunisten stark, auf einzelnen Schachtanlagen kommt es sogar zu kommunistischen Mehrheiten.326 Notorisch sind Versuche der Unternehmerschaft über die Rechtsprechung, über „Handreichungen“, über die Einflußnahme auf die wissenschaftliche Diskussion zu einer restriktiven Interpretation des Betriebsrätegesetzes zu kommen. Auf der Seite der in sich gespaltenen Arbeiterbewegung finden sich weiterhin zahlreiche „abweichende“ und extreme Bewertungen. Natürlich setzen sich hier Auffassungsunterschiede fort, die in den Legislativorganen während der Gesetzesentstehung geäußert wurden.327 Die KPD, die wegen ihres Wahlboykotts nicht in der Nationalversammlung vertreten ist, dekretiert in einem Rundschreiben ihrer Zentrale: „Das Betriebsrätegesetz ist nunmehr in aller Form im Parlament erledigt. Die Partei hat nunmehr klare, bestimmte Losungen für die Führung des Kampfes um revolutionäre Betriebsräte zur Kontrolle der Produktion auszugeben und durchzuführen. Der entscheidende Gesichtspunkt für die Führung dieses Kampfes ist: ausserhalb des Gesetzes und wider das Gesetz, da, wo die Kräfte dazu ausreichen und solange sie ausreichen, - vom Boden des Gesetzes, gegen das Gesetz, da, wo die Kräfte nicht ausreichen und da, wo der Versuch ausserhalb des gesetzlichen Bodens revolutionäre Betriebsräte aufrechtzuerhalten, am Widerstand der Unternehmer und der Regierung gescheitert ist.“328 Auch die USPD ist, solange sie noch besteht, überwiegend nicht bereit von einer systemüberwindenden Perspektive abzurücken und ruft zur Aufstellung einer „Liste der revolutionären sozialistischen Betriebsräte“ in allen Betrieben auf.329 In diesen und ähnlichen Aktionen und Sprachbildern dokumentiert sich eine fortwirkende revolutionäre Hoffnung und beträchtliche Klassenkampforientierung. Es handele sich, schreibt Richard Müller im Berliner Organ der USPD, bei dem Kampf um die Betriebsräte um die Frage „soziale Revolution oder kapitalistischer Wiederaufbau.“330 Tatsächlich beginnt nun auf der Seite der Arbeiterbewegung ein Kampf in und um die Betriebsräte. Dabei spielen die schon während des Gesetzgebungsprozesses eingerichteten und erprobten Betriebsrätekurse bzw. Betriebsräteschulen der unterschiedlichen Richtungen als Qualifizierungs- und Beeinflußungsorgane bzw. als Organe zur Erziehung richtungskonformer Betriebsratsmitglieder eine nicht unbedeutende Rolle. Für die „revolutionäre Räteschulung“ beinhaltet dies nach der Auffassung führender Funktionäre vor allem das Ziel der Erziehung der Arbeiterschaft zur „restlosen Ausnutzung der Machtposition“ im Kapitalismus und die Schulung mit Blick auf die Verantwortung, die sie trägt, für die Kontrolle bzw. Leitung des „Wirtschafts- und Verwaltungsprozesses“ in der sozialistischen Zukunft.331 326 Vgl. die Ausführungen bei: Plumpe, Werner: Die Betriebsräte in der Weimarer Republik. Eine Skizze zu ihrer Verbreitung, Zusammensetzung und Akzeptanz. In: Plumpe, Werner, Kleinschmidt, Christian (Hg.): Unternehmen zwischen Markt und Macht. Essen 1992, 42 - 60; vgl. auch die aufschlußreiche Statistik bei: Büren, Herbert: Arbeitgeber...a.a.O.(=Anm. 147), 411. 327 Vgl. z.B. die Arbeitnehmerstellungnahmen in: BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 3496. 328 Nach der Annahme des Betriebsrätegesetzes. SAPMO-BA KPD/ZK. I 2/708/109, Bl. 5. 329 Vgl. den Aufruf „Arbeiter und Angestellte!“ In: Die Freiheit vom 20.02.1920. Zit. aus: BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 364, Bl. 51. 330 Vgl.: Müller, Richard: Soziale Revolution oder kapitalistischer Wiederaufbau? In: Die Freiheit vom Mittwoch, den 21. Juli 1920, 1; zitiert aus: ebenda, Bl. 201. 331 Vgl.: Blidon, Horst: Voraussetzungen und Anfänge der Räte- und Betriebsrätebildung in Deutschland: Arbeiterbildung in den Jahren zwischen 1919 bis 1923. Bremen 1984 (Diss.); vgl. dazu auch die Denkschriften mit Strategieempfehlungen zur „Verhütung von politischen Streiks“, die weiteren Unterlagen und Mitteilungen zur staatlichen Finanzierung der Betriebsräteschulen im: BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsminnisterium, Nr. 367,

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Bei den Betriebsrätewahlen kommt es zu Kampagnen zwischen den gemäßigten und radikaleren Kräften, die mit den damals geläufigen gegenseitigen Vorwürfen operieren, Erscheinungen, die sich in den Alltag der Betriebsräte fortsetzen.332 Es existieren nach der Verabschiedung des Betriebsrätegesetzes nicht nur Räte auf betrieblicher Ebene sondern es gibt auf die Betriebsräte bezogene übergreifende Organisationen, es existiert eine regelrechte Betriebsrätebewegung und es finden entsprechende Kongresse statt. Vom 5. bis 7. Oktober 1920 tagt ein von der „Betriebsrätezentrale“ des ADGB einberufener „Erster Reichskongreß der Betriebsräte Deutschlands“ in Berlin. Auf diesem Kongreß, der nicht ohne Störungen und tiefgreifenden Spannungen abläuft, prallen oppositionelle und gemäßigt-sozialreformerische Anschauungen aufeinander. Der Kongreß gewinnt dadurch an „Format“, daß ein Vertreter aus dem „neuen Rußland“ Gelegenheit erhält, zur dortigen Gewerkschafts- und Betriebsrätebewegung zu sprechen. Er schildert den Weg einer spezifischen Rätebewegung in der durch die Kriegsfolgen geschundenen, zersetzten und revolutionierbar gewordenen russischen Gesellschaft. Er zeigt, wie die in der Revolution von 1917 entstehenden Betriebsräte zunächst als sozialreformerisch konzipierte Einrichtungen ihren Weg beginnen, dann aber schon bald zu Instrumenten der gewaltsam-revolutionären Überwindung einer überkommenen Wirtschafts- und Gesellschaftsform werden. Eine erhebliche Bedeutung gewinnen „klassenkämpferische rote Betriebsräte“ und eine sich schon auf dem Berliner Kongreß vom Oktober 1920 abzeichnende „revolutionäre Betriebsrätebewegung“ im Zeichen der innenpolitischen Polarisierung des Jahres 1923. Vor dem Hintergrund von Ruhrkampf und Hyperinflation, einer zunehmenden Gefahr von rechts, einer erheblichen durch die Besetzung des Ruhrgebietes ausgelösten nationalistischen Aufwallung, die im Hitler-Putsch vom 8. und 9. November kumuliert, plant die KPD für Oktober/November 1923 in „Absprache“ mit ihrer Moskauer Zentrale einen Aufstand, einen „deutschen Oktober.“333 Die Instrumente und Strategien zu diesem schließlich blutiggewaltsam unterdrückten „Abenteuer“ entwachsen der „revolutionären Betriebsrätebewegung“, die damit ebenso wie viele einzelne Betriebsräte zum glatten Gegenteil dessen wird, was die gesetzgebenden Kräfte mit dem Betriebsrätegesetz und mit der Verankerung der Räteorganisation in der Verfassung beabsichtigt haben.334 Entsprechend heftig wendet sich diese unter dem Einfluß der KPD stehende Bewegung im Rahmen ihrer Aktionen gegen die „Sabotage der reformistischen Arbeiterführer“, gegen die Beschränkung der Betriebsräte auf soziale Aufgaben. Sie tritt im Widerspruch zur Gesetzeslage und verbreiteten Praxis für eine Kontrolle der Produktion und die Rückgängigmachung von Betriebsstillegungen und Bl. 27 ff.; 69 ff.; 72 ff.; vgl. dazu auch als lesenswerte Diplomarbeit: Ferber, Thomas: Zur Auseinandersetzung um die Ausbildungskonzeption in der sozialistischen deutschen Arbeiterbewegung, unter besonderer Berücksichtigung der Betriebsräteschulung 1918 - 23. Bonn 1978 (MS), 98. 332 Vgl.: König, Benno: Interessenvertretung am Arbeitsplatz: Betriebsrätepraxis in der Metallindustrie 1920 1933. In: Tenfelde, Klaus (Hg.): Arbeiter im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1991, 66 - 90; Milert, Werner, Tschirbs, Rudolf: Von den Arbeiterausschüssen zum Betriebsverfassungsgesetz Köln 1991, 49 ff. Weitere Hinweise auf die Betriebsrätepraxis in der Weimarer Republik enthält: Frese, Matthias: Betriebsrat und Betriebsrätetätigkeit zwischen 1920 und 1960. In: Welskopp, Thomas (Hg.): Mikropolitik in Unternehmen. Essen 1994, 161 - 185. 333 Vgl.: Winkler, Heinrich August: Von der Revolution...a.a.O.(=Anm. 159), 619 ff., dort auch weitere Hinweise auf die Moskauer Aktivitäten. Zum Betriebsrätekongreß vom 5. bis 7. Oktober 1920 und zu den Ausführungen des russischen Vertreters vgl.: Protokoll der Verhandlungen des Ersten Reichskongresses der Betriebsräte Deutschlands. Abgehalten vom 5. - 7. Oktober 1920 zu Berlin. Berlin o.J. (Reprint 1980). 334 Vgl. in diesem Zusammenhang z.B. den „Arbeitsplan für die revolutionäre Betriebsrätebewegung.“ SAPMOBA. KPD/ZK. I 2/708/112, Bl. 9ff. ; vgl. auch: Die Aufgaben der Betriebsräte in der gegenwärtigen Situation. SAPMO-BA. KPD/ZK. I 2/708/109, Bl. 15 - 17 und zahlreiche weitere Quellen in dieser Akte.

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Betriebseinschränkungen ein. Sie profiliert sich propagandistisch als die „entschiedenste Interessenvertretung“ ohne Rücksicht auf die Durchführbarkeit, die fiskalischökonomischen Voraussetzungen und Folgen ihrer Aktivitäten. Sie sieht die soziale Krise als bloße Folge von Raubzügen und Ausplünderungsstrategien des Kapitals, als Ausfluß von Unersättlichkeit und bösem Willen. Sie scheut vor der Propagierung von Haß und Bürgerkrieg nicht zurück und zieht damit auch Haß, Vernichtungs- und Abwehrbereitschaft auf sich. Schließlich wird eine fatale Spirale von aufeinander bezogener Gewalt und Gegengewalt in Gang gesetzt. Radikale Forderungen und Aktionen erlauben es dieser „Betriebsrätebewegung“, die gemäßigte „Gewerkschaftsbürokratie“ als „Parteigänger“ der „Bourgeoisie“ zu entlarven und zu „demaskieren“. Der „Absterbeprozeß des Kapitalismus“ soll durch eine Revolution abgekürzt werden. Das Vertrauen auf die eigene Kampfkraft, der „sieghafte Glaube“ an das Gelingen der „proletarischen Revolution“, Sozialisierung und „Diktatur des Proletariats“, die innen- und außenpolitischen Orientierung an dem Vorbild SowjetRußland erscheinen in der Agitation dieser Bewegung auch und gerade im Jahre 1923 als Rettungswege aus tiefer Not.335 Diese Agitation, die an Zwangslagen und Handlungsspielräume, an die möglichen Vorzüge und an die Produktivität einer zu reformierenden und zu stabilisierenden bürgerlich-kapitalistischen Ordnung keinen Gedanken verschwendet, reflektiert auch nicht die „Übergangskrisen“, die Effizienz und die genauere innere Ordnung der angestrebten neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Im Oktober 1922 beschäftigt sich der erste Reichskongreß der „revolutionären Betriebsräte“ mit Strategien weit jenseits der bestehenden sozialpolitischen Formen. Er fordert die Arbeiter dazu auf, sich zu bewaffnen. „Kontrollausschüsse“ sollen als „SelbsthilfeOrgane“ der notleidenden Bevölkerung gebildet werden. Sie sollen bei der notfalls gewaltsamen Beschaffung von Lebensmitteln und Lebensmöglichkeiten für die verelendeten Menschen mitwirken. Der Kampf um eine „Arbeiterregierung“ soll begonnen werden.336 Am 11. Januar 1923 fordern „revolutionäre Betriebsräte“ auf einer Vollversammlung in Berlin wiederum die Bewaffnung des Proletariats und die Bildung von „proletarischen Hundertschaften“,337 deren Hauptaufgabe die Vorbereitung des bewaffneten Kampfes gegen die „faschistische Gefahr“ sein soll. Gleichgerichtete Forderungen werden im Verlauf der Monate Februar und April erhoben.338 Diese Aktivitäten, die im Rahmen einer „Einheitsfrontstrategie“ die Spaltung der Arbeiterbewegung unterlaufen sollen, zeitigen im Sommer und Herbst des Jahres 1923 bedeutsame Wirkungen. Der „Reichsausschuß der Deutschen Betriebsräte“ und die Zentrale der KPD rufen am 11. August 1923 einen Generalstreik für ganz Deutschland aus. Zu den Forderungen zählt u.a. der Sturz der Regierung Cuno, die Bildung einer „Arbeiter- und Bauernregierung“, die Anerkennung der „proletarischen Kontrollausschüsse“, die sofortige Aufhebung des Verbots der militanten und in zahlreiche Kämpfe verwickelten „proletarischen Hundertschaften“.339 Nach dem Sturz der 335 So ein Resümee aus zahlreichen mir vorliegenden Quellen der „revolutionäre Betriebsrätebewegung“; vgl. in diesem Zusammenhang auch: Lehnert, Detlef: Propaganda als Bürgerkriegs ? In: Lehnert, Detlef, Megerle, Klaus (Hg.): Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung. Opladen 1990, 61 - 101, bes. 79 ff. 336 Vgl.: Gast, Helmut: Die proletarischen Hundertschaften als Organe der Einheitsfront im Jahre 1923. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 4(1956)1, 439 - 465, hier: 441. 337 Vgl.: Ulbricht, Walter: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Aus Reden und Aufsätzen. Band I: 1918 - 1933. Berlin 1953, 119. 338 Vgl. denselben, ebenda, 120. 339 Hinzu treten als Forderungen die Auflösung des Reichstages, die „Beschlagnahme der Lebensmittel“ zur „Sicherung der Ernährung“, ein Minimalstundenlohn, die Wiedereinstellung der Arbeitslosen, die Beschäftigung der Kleinrentner zu vollem Lohn, die Aufhebung des Demonstrationsverbotes und des Ausnahmezustandes, die

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Regierung Cuno340 ist es eine am 21. Oktober in Chemnitz tagende „Betriebsrätekonferenz“, auf der die Frage eines neuen Generalstreiks als Signal für einen Aufstand vor dem Hintergrund des Einmarsches von Reichswehrtruppen in Sachsen ohne positives Ergebnis diskutiert wird.341 Schließlich fordert ein Aufruf des „Reichsbetriebsräteausschusses“, der in der Nacht vom 22. zum 23. Oktober 1923 in Hamburg verteilt wird, die „...Arbeiterklasse Deutschlands zum Generalstreik, zum Aufstand gegen die Offensive der Reaktion und gegen die Militärdiktatur auf.“342 Diese Aktivitäten leiten unmittelbar zum bald blutig niedergeschlagenen kommunistischen Aufstand in Hamburg über.343 Eine umfassende und gewaltsame militärisch-polizeiliche und justizielle Gegenreaktion steht am Ende dieser Aktionen der KPD bzw. der „revolutionären Betriebsrätebewegung“. Sie und die KPD sehen sich schon bald für eine gewisse Zeit in die Illegalität abgedrängt. Die Absicht, auf der Basis von Betriebsräten jeden Betrieb in eine „revolutionäre Burg“ zu verwandeln, den im Gesetz wirtschaftsfriedlich konstituierten Betriebsrat entgegen dem Geist der Weimarer Sozialpolitik in ein „Organ der Kampfführung“ und „zur Brechung der reformistischen Kampfsabotage“ zu überführen,344 stößt nicht nur auf den Widerstand des Staatsapparats und der gemäßigten Arbeiter- und Angestelltenbewegung. Gerade auf solche und ähnliche Erscheinungen bezieht sich die Abwehr der Unternehmer durch personalpolitische Maßnahmen, insbesondere durch die Entlassung unliebsamen Personals. Einer solchen betriebsbezogenen „Organisierung des Sieges der Arbeiterklasse über die Bourgeoisie“,345 der „Herausbildung lebensfähiger, kampfkräftiger Klassenorgane des Proletariats“346 fehlen nicht selten die dazu nötigen „Kämpfer voller Mut und Einsatzbereitschaft.“ Zugesagte Referenten erscheinen nicht in den Betrieben, es herrscht Angst vor Entlassung und polizeilicher Verhaftung.347 Von Massenentlassungen von kommunistischen Arbeitern ist in einem Dokument die Rede, das nach der Währungsstabilisierung verfaßt wird, die oppositionelle Bewegung sowie die Betriebsrätebewegung insgesamt wird in diesem Dokument aus kommunistischer Sicht als desolat bezeichnet und geschildert.348 Diese „bedenkliche“ Entwicklung der betrieblichen Gegenwehr trifft zusammen mit Reorganisationsbestrebungen der KPD. Im Zuge der „Bolschewisierung“ dieser Partei fordert der KPD-Zentralausschuß bereits im Mai 1923 die Schaffung von „Betriebszellen“ sofortige Freilassung der „politischen Gefangenen“. Der Beschluß zum Generalstreik wird am 11. August gefaßt, das entsprechende Flugblatt erscheint am 12. August 1923; vgl.: die „Richtlinien des Reichsausschusses der Betriebsräte zum Generalstreik“ und das Flugblatt „Kampf auf der ganzen Linie!“. SAPMO-BA. KPD/ZK. I 2/708/121, Bl. 13 + RS. 340 Ganz offensichtlich verbreitet sich insbesondere nach dem Sturz der Regierung Cuno die Auffassung, daß „die Voraussetzungen für den Sieg der proletarischen Revolution in Deutschland...“ in schnellem Tempo „heranreifen“; vgl. die „Richtlinien zur politischen Lage“. SAPMO-BA. KPD-ZK. Politbüro. I 2/3/21, Bl. 74 ff. 341 Vgl. dazu mit entsprechender Kommentierung: Ulbricht, Walter: Zur Geschichte...a.a.O.(=Anm. 337), 138 f., sowie: Gast, Helmut: Die proletarischen Hundertschaften...a.a.O.(=Anm. 336), 462 f. 342 Ulbricht, Walter: Zur Geschichte...a.a.O.(=Anm. 337), 139. 343 Vgl. insgesamt zu den kommunistischen Aufstandsplänen und den damit verbundenen Aktionen und Gegenmaßnahmen: Winkler, Heinrich August: Weimar...a.a.O.(=Anm. 38), 186 ff. 344 Daß eben dieses wieder geschehen müsse, betonen die „Richtlinien für die Taktik der revolutionären Opposition bei den Betriebsrätewahlen.“ SAPMO-BA KPD/ZK. I 2/708/121, Bl. 44. 345 Daß zu diesem Ziel die Konferenz der Betriebsräte Berlin-Brandenburg beigetragen habe, vermutet die achtseitige Schrift: Zum Kongreß der Berlin-Brandenburger Betriebsräte. SAPMO-BA KPD/ZK. I 2/708/113, Bl. 29 36, hier: 36. 346 Vgl. die Ausdrucksweise in: SAPMO-BA KPD/ZK. I 2/708/113, Bl. 89. 347 Vgl.: Abschrift aus einem Bericht des Gen. 212 vom 1.02.24. Ebenda, Bl. 27 - 28, hier: 27. 348 Vgl. den „Bericht über die Arbeit der Gruppe Betriebsräte vom 19. August bis 30. Sept.“ SAPMO-BA KPD/ZK. I 2/708/112, Bl. 15 - 18.

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als „Hauptorgane“ dieser Partei. Eine entsprechende Verpflichtung durch einen Beschluß der Organisations-Abteilung des „Exekutiv-Komitees der Kommunistischen Internationale“, der das Datum vom 19. Januar 1924 trägt, soll dieser Organisationsform Auftrieb geben. In einer erneuten Anweisung des Exekutiv-Komitees vom 6. Dezember 1924 wird ausdrücklich an dieser betrieblichen Organisationsform festgehalten. Die Zellenbildung solle beschleunigt werden. Der Haß der Kapitalisten zeige, wie richtig die „Kommunistische Internationale“ gehandelt habe. Durch diese betriebliche Gegenwehr und die Resistenz der Basis bedingt, kommt diese „Zellenbildung“ jedoch nur schleppend voran. Der jahrelang „von oben“ geführte Kampf um eine Reorganisation auf der Basis von „Betriebszellen“ endet schließlich in einem regelrechten Debakel.349 In einer Handreichung des „Reichsausschuß der Deutschen Betriebsräte“ aus dem Jahre 1923 heißt es, die anstehenden Betriebsrätewahlen machten die größten Anstrengungen der „revolutionären Opposition“ notwendig. „Alle Hemmungen müssen überwunden werden, insbesondere auch die Schwierigkeiten trotz der Säuberung der Betriebe durch die Unternehmer die notwendigen oppositionellen Kandidaten aufzustellen. Diejenigen Kollegen, die unter irgendwelchen Ausreden aus Feigheit die Kandidatur ablehnten, sind als Verräter zu behandeln und aus den Reihen der revolutionären Arbeiterbewegung auszustoßen.“350 Nicht nur für „rote“ Betriebsräte und in gewerblichen Klein- und Mittelbetrieben sind zu Beginn der 20er Jahre die Aktionschancen für Arbeiter- und Angestelltenvertretungen schlecht.351 Ein anderer, damals nicht unbedeutender Wirtschaftsbereich, der sich mit Händen und Füßen gegen die Einbeziehung in das Betriebsrätegesetz gewehrt hat, scheint aus kommunistischer Sicht bei der „Säuberung“ der Belegschaften ganze Arbeit geleistet zu haben: „Bei den Landarbeitern gibt es so gut wie gar keine Betriebsräte (Gutsräte) mehr, weil die Gutsräte von den Junkern gepeinigt und entlassen wurden.“352

349 Vgl. das vertrauliche Schreiben der Org.-Abteilung des EKKI in Moskau vom 6. Dezember 1924 an die Zentrale der KPD. SAPMO-BA. KPD/ZK. Politbüro. I 2/3/180, Bl. 2- 3; vgl. insgesamt auch: Mallmann, KlausMichael: Kommunisten in der Weimarer Republik. Darmstadt 1996, 306 ff. 350 Rüstzeug für die Betriebsrätewahlen. SAPMO-BA KPD/ZK. I 2/708/121, Bl. 139. Natürlich spiegelt sich auch in diesem „Rüstzeug“ die Tatsache parteiinterner Dissidenz und verweigerter Folgebereitschaft in der KPDMitgliedschaft. Insbesondere vor dem Hintergrund der Gefährdung des Arbeitsplatzes und damit der sozialen Existenz, ist die KPD keine monolithische Partei mit gehorsamen „Parteisoldaten“ und einer strategisch planenden Parteispitze, die für alle ihre „Befehle“ immer nur Gehorsam findet. Vgl. die Ausführungen zu einer gar nicht so neuen „Wende in der Geschichtsschreibung der KPD“, die als Geschichte „von unten“ diesen Zusammenhängen stärkere Beachtung schenkt: Koch-Baumgarten, Sigrid: Eine Wende in der Geschichtsschreibung zur KPD in der Weimarer Republik? In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 34(1998)1, 82 - 89; dieser Beitrag bezieht sich vor allem auf die vorstehend angemerkte Schrift von: Mallmann, Klaus-Michael: Kommunisten...a.a.O.(=Anm. 349). Es ist ein vermutlich „vielhundertmal“ erhobener Vorwurf der Linken, daß der „Reformismus“ bzw. die „Gewerkschaftsbürokratie“ an der „Säuberung“ der Betriebe von revolutionären Kräften auch im Rahmen des Betriebsrätegesetzes etwa durch Denunziationen, Zustimmung zu Entlassungen usw. usf. mitwirkt. Derartige Hinweise, an die natürlich die „Wahrheitsfrage“ zu stellen ist, die zu interpretieren und in den Gesamtzusammenhang einzufügen sind, finden sich in überreicher Zahl in den Zeitungen und Zeitschriften der RGO, der USPD und der KPD; vgl. dazu als Broschüre auch: An den Pranger. Taten von SPD.-Betriebsräten! O.O., o.J.; aus der Perspektive des bürgerlich-sozialreformerischen Verständnisses des Betriebsrätegesetzes, kann dies durchaus als gesetzeskonforme, stabilisierende, den Betrieb vor „Erschütterungen“ bewahrende Tätigkeit interpretiert werden. 351 So: Milert, Werner, Tschirbs, Rudolf: Von den Arbeiterausschüssen...a.a.O.(=Anm. 332), 50. 352 Arbeitsplan: für die revolutionäre Betriebsrätebewegung. SAPMO-BA KPD/ZK. I 2/708/112, Bl. 9 - 11, hier: Bl. 10. Das im Bundesarchiv Berlin lagernde Material der KPD zur Betriebsrätefrage ist derart umfangreich, daß es hier auch nicht annähernd ausgewertet werden kann. Es bestätigt die meisten der hier wiedergegebenen Erscheinungen und Sprachbilder in beinahe „zahllosen“ Stellen. Insbesondere wird auch der betriebsrätebezogene

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Es ist dies nicht das einzige Anzeichen dafür, daß das neue Arbeits- und Sozialrecht schon zu Beginn der Weimarer Republik auch in der Landwirtschaft auf eine weitgehend ungebrochene traditionelle Mentalitäts- und Machtstruktur trifft, die eine Anwendung und Umsetzung der Rechtsnormen ganz erheblich erschwert. Dabei ist der Organisationserfolg der Gewerkschaften unter den rund zweieinhalb Millionen ländlichen Arbeitern zunächst geradezu überwältigend. Die Aufhebung des Repressivsystems und die durch die Zeitverhältnisse bedingten Hoffnungen auf eine Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen treiben die Landarbeiter geradezu massenhaft in die Gewerkschaften. Es ist dies eine Entwicklung, die sich „in den Augen des Besitzes“ zu einer ernsten Bedrohung für die ländliche Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsverfassung verdichtet. Der freigewerkschaftliche „Deutsche Landarbeiterverband“, der 1913 erst 19.077 Mitglieder hatte, organisiert 1920 695.695 Menschen. Danach sinkt die Mitgliederzahl auf 101.503 im Jahre 1923. Der christliche „Zentralverband der Landarbeiter“ hatte in der Vorkriegszeit zuletzt 3.177 Mitglieder. Er erreicht seinen größten Organisationserfolg im Jahre 1921 mit 103.722 Mitgliedern und geht bis 1923, viel weniger stark als der freigewerkschaftliche Verband, auf 87.786 Mitglieder zurück.353 Dieser drastische Rückgang insbesondere in dem freigewerkschaftlichen Verband ist allerdings nicht nur eine Folge enttäuschter und überzogener Erwartungen. Er resultiert auch aus „Gegenreaktionen“ der landwirtschaftlichen Unternehmer und der mit ihnen verbundenen Kräfte. In Pommern wird im Sommer 1919 die gewaltsame Zerschlagung der Landarbeitergewerkschaften vom gerade erst gegründeten reaktionären, fanatisch antidemokratischen, antisemitischen, antisozialistischen und antikommunistischen „Pommerschen Landbund“ vorbereitet, ein Vorhaben, das nur mit erheblichem Aufwand verhindert werden kann.354 Dieser Landbund bekämpft auch auf andere Weise aktiv und offen das auch in der Landwirtschaft geltende Arbeitsrecht der Weimarer Republik. Er hintertreibt die Bildung landwirtschaftlicher Arbeitgeberverbände.355 Durch Drohungen, schwarze Listen, Massenentlassungen gewerkschaftlich organisierter Arbeiter und durch materielle Anreize (z.B. günstige Versicherungen, übertarifliche Bezahlungen bei Gewerkschaftsaustritt) treiben die pommerschen Gutsbesitzer bis 1921 rund 55.000 Landarbeiter in die „Arbeitnehmergruppe“ des Landbundes.356 Wirtschaftsfriedliche Arbeitervereine gehen auf diesem Weg in den Landbund voran.357 Gutsbesitzer und Landwirte organisieren sich als „Arbeitgebergruppe“ des „Pommerschen Landbundes“. Auf diese Weise wird die Bildung voneinander unabhängiger, „gegnerfreier“ Arbeitsmarkt- und Tarifvertragsparteien hintertrieben. Im Rahmen dieser Organisationsform, im Gehäuse einer „Arbeiterorganisation in Gemeinsamkeit mit der Arbeitgeberschaft“, entstehen unter Ausschluß der großen Landarbeitergewerkschaften Landbundtarife „...abgeschlossen zwischen der Arbeitgeber- und Arbeitnehmergruppe des Pommerschen Landbundes...“ Diese werden teilweise, obwohl sie den Grundlinien des und allgemeine Kampf der verfeindeten Richtungen der Arbeiterbewegung untereinander durch das dort versammelte Material in zahlreichen Facetten umfassend belegt. 353 Zahlenangaben nach: Schwerin, Constance von: Die Landarbeiterorganisationen Ostdeutschlands und ihre klassenmäßige und ständische Struktur. Langensalza 1928, 21 f., 24 f.; vgl. auch: Wildangel, Joseph: Arbeitgeberverbände und Tarifverträge in der Landwirtschaft. M.-Gladbach 1920. 354 Winkler, Heinrich August: Von der Revolution...a.a.O.(=Anm. 159), 88; vgl. zum Landbund auch: Flemming, Jens: Landwirtschaftliche Interessen und Demokratie. Ländliche Gesellschaft, Agrarverbände und Staat 1890 1925. Bonn 1978, 217 ff. 355 Vgl.: Bieber, Hans Joachim: Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm. 170), 803. 356 Vgl. denselben, ebenda, 803. 357 Vgl.: Schwerin, Constance von: Die Landarbeiterorganisationen...a.a.O.(=Anm. 353), 29.

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kollektiven Arbeitsrechts Hohn sprechen, von Schlichtern für die betreffenden Kreise für verbindlich erklärt.358 Schließlich entsteht, ausgehend von Pommern, in Konkurrenz zum amtlichen ein „privates Schlichtungswesen“, dessen Protagonisten die staatlichen Rechtsnormen für die Schlichtung als unzweckmäßig verwerfen und das unter der Ausschließung von Streikmöglichkeiten seine „wirtschaftsbefriedende“ Tätigkeit entfaltet. Vor dem Hintergrund der Verweigerung von Tarifverhandlungen durch den „Pommerschen Landbund“ zahlen manche Arbeitgeber aber auch, was sie zahlen wollen.359 Staatliche Schlichtungsbemühungen werden mit Hinweis auf die Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen durch die Arbeitgeber- und Arbeitnehmergruppe im Landbund boykottiert.360 Die Nichtanerkennung der wirtschaftsfriedlichen Vereine und der Arbeitnehmergruppe im „Pommerschen Landbund“ wird als eklatanter Verstoß gegen das Prinzip der Koalitionsfreiheit gewertet. Nachwirkungen der Tatsache, daß Tarifverträge vor dem Ersten Weltkrieg in der Landwirtschaft so gut wie keine Rolle spielten,361 Landarbeitergewerkschaften zu dieser Zeit gerade erst gegründet und äußerst schwach waren, der Tatsache, daß eine lange Tradition entschiedenster, umfassender, gnadenloser und notfalls gewalttätiger Gegenwehr gegen sozialdemokratische Agitations- und Organisationsversuche existiert und im Bewußtsein der Akteure präsent ist,362 eine Radikalisierung vieler ländlicher Arbeitgeber durch die Kriegs- und Nachkriegsereignisse, extreme Kompromißlosigkeit, eine maßlose Demagogie, bei der der Begriff des „Bolschewismus“ zum beliebig verwendbaren Synonym für und gegen jedwede Veränderung der überkommenen Ordnung wird,363 schaffen insbesondere für den „Deutschen Landarbeiterverband“ eine teilweise bestandsbedrohende Situation.364 Während das kompromißlose Aushebeln der Weimarer Sozialverfassung in Gebieten mit klein- bzw. familienbetrieblichen Strukturen naturgemäß keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen kann, fehlt es nicht an Hinweisen auf eine vehemente Ablehnung der „demokratischen Sozialpolitik“ in anderen Landesteilen mit ebenfalls größeren landwirtschaftlichen Betrieben. Im Kreis Kehdingen, in der Provinz Hannover, streiken im Sommer 1921 die Landarbeiter, weil der Arbeitgeberverband in Nord-Kehdingen durch seine Auflösung meint, Tarifabschlüsse ganz allgemein verhindern zu können. Vermittlungsversuche der Behörden scheitern ebenso, wie eine Schlichtung, bei der die Landwirte die Mitwirkung gänzlich verweigern. Der „Reichsverband der deutschen land- und forstwirtschaftlichen Arbeitgebervereinigungen“ zieht in diesem Zusammenhang aus dem Recht der Koalitions358 Vgl. dieselbe, ebenda, 45 f. 359 Vgl. dazu die entsprechende Auseinandersetzung im: BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 2322; die Vorgänge beziehen sich auf den Kreis Cammin in Pommern; vgl. insgesamt auch: Kölling, Bernd: Schlichtung unter Vorbehalt. Pommersche Landarbeiter und sozialpolitische Reform 1919 - 1923. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 12(1997)2, 12 - 29. 360 Vgl. den Vorgang in: BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 2329. 361 Im Jahre 1912 soll der erste Tarifvertrag mit einem Gutsbesitzer zustande gekommen sein; vgl.: Schwerin, Constance von: Die Landarbeiterorganisationen...a.a.O.(=Anm. 353), 42. 362 Vgl. dazu die lesenswerten illustrativen Ausführungen von: Saul, Klaus: Der Kampf um das Landproletariat. In: Archiv für Sozialgeschichte, 15(1975), 163 - 208. 363 Vgl.: Flemming, Jens: Landwirtschaftliche Interessen...a.a.O.(=Anm. 354), 224. 364 Eine regelrechte Vernichtungsabsicht des „Pommerschen Landbundes“ gegenüber den Gewerkschaften attestiert die interne „Bemerkung für die Akten. Berlin, den 25. Februar 1922.“ BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium. Nr. 2339, Bl. 46 RS. Die Verweigerung der offiziellen Anerkennung der Tariffähigkeit der Arbeitnehmergruppe im Landbund unterbleibt nach dieser Notiz wegen eben dieser Vernichtungsabsicht und der daraus aus Sicht der Ministerialbürokratie resultierenden Gefahr für den Wirtschaftsfrieden. Ein Erlaß des Reichsarbeitsministeriums vom 3. März 1920 beinhaltet bereits diesen Standpunkt. Bis 1930 kann eine Anerkennung auch nicht auf dem Klageweg erstritten werden; vgl.: Schumacher, Martin: Land...a.a.O.(=Anm. 91 ), 301 f.

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freiheit den Schluß, daß den Arbeitgebern die Hände in keiner Weise gebunden seien. Ein Tarifvertrag sei eine „freie Vereinbarung“ und könne niemandem aufgenötigt werden. Durch die Ablehnung von Tarifvertragsabschlüssen sei die Koalitionsfreiheit nicht beeinträchtigt.365 In von zahlreichen Landwirten unterzeichneten Eingaben an den Regierungspräsidenten in Stade wird noch einmal jeglicher Tarifvertrag mit dem „Deutschen Landarbeiterverband“ abgelehnt. Jeder der unterzeichnenden Landwirte sei durchaus in der Lage „...seinen Betrieb ohne einen solchen Vertrag ordnungsmäßig aufrecht zu erhalten.“366 Neben den Aktivitäten der freigewerkschaftlichen Richtung trifft die nicht sehr erfolgreiche radikale Landpropaganda der KPD und die kommunistische Kleinbauernbewegung auf besonders heftige Kritik und eine entsprechende Gegenwehr.367 Von „Hetzern“, „Agitatoren“, „Verführern der Arbeiter“ ist in der entsprechenden Presse die Rede.368 Zweifellos liegt in den Händen der Landwirte und hier vor allem der Großagrarier, der Junker, der herrschaftsgewohnten preußischen Rittergutsbesitzer und in den Händen der ihnen dienstbaren Kräfte ein Machtpotential, das „von rechts“ nicht nur gegen die Formen der Nachkriegssozialpolitik, sondern auch gegen die Grundfesten der sozialen und politischen Ordnung der Weimarer Republik gerichtet ist.

2.1.4 Die internationale Dimension der deutschen Sozialreform Der „moderne“ industrielle Massenkrieg mit seinen polarisierenden und zerstörerischen Wirkungen auf die jeweilige Gesellschaft führt dazu, daß schon während des Krieges Visionen eines „Weltarbeiterrechts“ 369 entstehen. Eigentlich ist die Verfeindung von Nationalstaaten ja kein Anlaß, internationale Arrangements in Form eines „Weltarbeiterrechts“ zu fördern und tatsächlich hatte der Krieg erbarmungslos internationale arbeitsrechtliche Abmachungen zerstört und in den mit dem ganzen Gewicht ihrer sozialökonomischen Ressourcen kämpfenden Nationalstaaten vor allen Dingen bestehende Arbeiterschutzrechte liquidiert, um das produktive Potential zu Rüstungszwecken bis zur Grenze der physischen Erschöpfung der abhängig Beschäftigten ausnutzen zu können. Doch bereits zu Beginn des Ersten Weltkrieges, dieses ersten wirklichen industriellen Völkerkrieges der Geschichte, keimt in der „American Federation of Labor“ die seit 1914 wiederholt den Gewerkschaften der Welt vorgetragene Idee: „Es solle an demselben Orte und zu derselben Zeit wie der Friedenskongreß ein Arbeiterkongreß abgehalten werden.“370 Hinter diesem zunächst abgelehnten Vorstoß verbirgt sich bereits die Vorstellung mit einem Friedensvertrag eine umfassende internationale arbeiterrechtliche Ordnung zu verknüpfen. 365 Vgl. das Schreiben dieses Verbandes vom 31. August 1921 an das Reichsarbeitsministerium. BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 2315, Bl. 63. 366 Schreiben an den Regierungspräsidenten Stade. In: Ebenda, Bl. 75. 367 Vgl. dazu: Schumacher, Martin: Land...a.a.O.(=Anm. 91), 370 ff. 368 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Material aus Schlesien, wo es zu ganz bedeutenden Streikbewegungen der Landarbeiter kommt: BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 2341 sowie die Presseausschnitte zum Pommerschen Landbund in: BA Abt. Potsdam. 90 He 1 Nachlaß Wolfgang Heine, Nr. 197. 369 Dieser Ausdruck und der ähnlich gelagerte Begriff des „Weltarbeitsrechts“ werden in Deutschland unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges geprägt. Vgl.: Francke, E.(rnst): Weltarbeitsrecht. In: Recht und Wirtschaft, (1919)1, 16 - 21; Manes, Alfred: Das Weltarbeiterrecht auf dem Marsche. Zur Feier des 1. Mai. In: Vossische Zeitung vom 1.5.1919. Zit aus: BA Abt. Potsdam. 90 Gi 1 Nachlaß Johann Giesberts, Nr. 56, 70 RS. 370 Zitiert nach: Bauer, Stephan: Arbeiterschutz und Völkergemeinschaft. Zürich 1918, 10; vgl. auch: Proposed World Labor Congress. In: Monthly Review of the U.S. Bureau of Labor Statistics, 4(1917)2, 204 - 206.

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Nicht zuletzt soll so dem damals bereits „uralten“ Argument entgegengewirkt werden, eine bessere Sozialpolitik sei aus Gründen der Konkurrenzfähigkeit der jeweiligen nationalen Wirtschaft mit dem Auslande nicht möglich.371 Diese Initiative zur Ausschaltung von „Wettbewerbsverzerrungen“ durch extreme Formen der Ausbeutung trifft in Deutschland und im übrigen Europa auf die lange Vorkriegstradition internationaler sozialpolitischer Aktivitäten,372 die mit den Namen bekannter Sozialreformer, mit einschlägigen Konferenzen, mit der Gründung internationaler Organisationen, mit internationalen Abmachungen, mit ebensolchen Vereinbarungen373 und mit sozialpolitischen Klauseln in Handelsverträgen bekanntlich bereits verbunden sind. An diese Tradition wird bald auch im deutschsprachigen Schrifttum intensiv erinnert.374 Der Weltkrieg, der diese älteren Ansätze, an denen auch bereits die internationale Arbeiterbewegung Anteil genommen hatte, teilweise zunächst erstickt und abgebrochen hat, wird im Jahre 1916 überraschend zu einem Katalysator der internationalen Sozialpolitik. Die kriegsbedingte Unterbrechung der internationalen sozialpolitischen Diskussion findet ein Ende als ein weiterer amerikanischer Vorstoß aus dem Jahre 1916 schließlich zu einer internationalen Gewerkschaftskonferenz führt, die vom 5. bis zum 7. Juli 1916 in Leeds tagt und umfangreiche sozialpolitische Beschlüsse faßt. Diese laufen darauf hinaus, daß der Friedensvertrag auch „...der Arbeiterklasse aller Länder ein Mindestmaß von Garantien sichern muß, sowohl moralischer wie materieller Art, bezüglich des Koalitionsrechtes, der Freizügigkeit, Sozialversicherung, Arbeitszeit, Hygiene und Arbeiterschutz, um diese zugleich vor den Angriffen der internationalen kapitalistischen Konkurrenz zu bewahren.“375 An dieser Konferenz nehmen Gewerkschaftsvertreter aus Belgien, Großbritannien, Frankreich und Italien teil, allesamt also Arbeitervertreter aus den Staaten der Entente.376 Nunmehr kommt das Thema „internationale Sozialpolitik im zukünftigen Friedensvertrag“ auch im Deutschen Reich nicht mehr zur Ruhe. Bereits im Sommer 1916 beschließt die „Gesellschaft für Soziale Reform“, gegenüber dem Reichskanzler in diesem Sinne initiativ zu werden.377 Auch die Freien Gewerkschaften Deutschlands fühlen sich nun, nachdem Carl Legien noch im April des Jahres 1915 in einem Brief an den Präsidenten der „American Federation of Labor“ die Kräfte der Gewerkschaft für solche Aktionen als zu schwach charakterisiert hatte,378 unmittelbar durch diese „Konkurrenzsituation“ herausgefordert.379 371 Es sei an dieser Stelle vor allem an die entsprechenden Argumente erinnert, die im Zusammenhang mit dem Arbeiterschutz und mit der Arbeiterversicherungsgesetzgebung vorgebracht wurden und die ich im ersten Band dieser Sozialstaatsgeschichte zur Sprache gebracht haben. 372 Zahlreiche Hinweise auch bei: Berlepsch, Hans-Jörg von: „Neuer Kurs“ im Kaiserreich? Bonn 1987. 373 Vgl. die Chronologie bei: Eckardt, Paul, Kuttig, Ewald: Das internationale Arbeitsrecht im Friedensvertrage. Kommentar zum Teil XIII des Friedensvertrags von Versailles... Berlin 1920, 3 ff.; vgl. zum Berliner Kongreß: Berlepsch, Hans-Jörg von: „Neuer Kurs“...a.a.O.(=Anm. 372), 53 ff. 374 Vgl. auch: Manes, Alfred: Sozialpolitik in den Friedensverträgen und im Völkerbund. Berlin 1919, 21 ff.; gegen solche Abmachungen leisteten vor allem die Länder Widerstand, die ein rückständiges, veraltetes Arbeitsrecht besaßen. Unter dem Schlagwort der Schützung der nationalen Industrie sei gegen die internationale Sozialpolitik angekämpft worden und unter diesem Argument habe man die Schutzlosigkeit der Arbeiter zu verewigen gesucht; vgl. denselben, ebenda, 23. Zu den Gleichbehandlungsverträgen auf dem Gebiet der Sozialversicherung vgl. ebenda, 24 f. 375 Vgl.: Beschlüsse der internationalen Gewerkschaftskonferenz in Leeds vom 5. Juli 1916. In: Eckardt, Paul, Kuttig, Ewald: Das internationale Arbeitsrecht...a.a.O.(=Anm. 373), 86 - 88, hier: 86. 376 Vgl. dieselben, ebenda, 7. 377 Vgl.: Ratz, Ursula: Zwischen Arbeitsgemeinschaft und Koalition. München, New Providence, London, Paris 1994, 388. 378 Wiedergegeben in: Proposed World Labor Congress...a.a.O.(=Anm. 370), 204.

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Weitere gleichgeartete Initiativen aus dem Jahre 1916 bzw. von Anfang 1917 werden bekannt.380 Auf die Beschlüsse von Leeds, die der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands offiziell erst durch ein Rundschreiben der „Confédération Générale du Travail“ vom 27. September 1916 bekannt werden,381 reagiert die Berliner Zentrale des „Internationalen Gewerkschaftsbundes“ (IGB) als für internationale Gewerkschaftsangelegenheiten „zuständige Instanz“ schließlich mit einem eigenen Entwurf.382 Dieser wird nun seinerseits den gewerkschaftlichen Landeszentralen auf einer internationalen Konferenz zur Beratung vorgelegt, die wegen der Zeitumstände erst vom 1. bis zum 4. Oktober 1917 in Bern abgehalten werden kann. Entsprechend der kriegsbedingten Aufspaltung der Nationalstaaten in „Freund und Feind“ und in neutrale Staaten, wird diese Berner Konferenz von den Gewerkschaften Bulgariens, Dänemarks, Deutschlands, Hollands, Norwegens, Österreichs, Schwedens, der Schweiz und Ungarns beschickt. Der Entwurf des IGB wird in leicht überarbeiteter Fassung einstimmig verabschiedet.383 Dieser Beschluß wird am 15. November 1917 als Eingabe des ADGB an den Reichskanzler Georg Graf von Hertling gerichtet.384 Der Friedensvertrag, formuliert Carl Legien, sei ein geeigneter „...Ausgangspunkt für ein tatkräftiges Zusammenwirken der Völker auf dem Gebiete der sozialen Reform.“ Die „Gewerkschaften Deutschlands“ richten an die Regierung des Deutschen Reiches das Ersuchen, „...der Arbeiterklasse in dem Friedensvertrag das in diesen Forderungen enthaltene Mindestmaß von Schutz und Rechten zu sichern, das in allen Ländern durchgeführt werden muß.“385 Auch die „Gesellschaft für Soziale Reform“ petitioniert Ende 1917 in diesem Sinne. Dabei spielt auf beiden Seiten neben humanitären und politischen Überlegungen der Gedanke eine Rolle, durch die Internationalisierung der in Deutschland bereits bestehenden oder wünschenswerten Sozialpolitik die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft in der zukünftigen Friedenszeit dadurch zu verbessern, daß sozialpolitisch rückständige Länder entsprechend belastet werden sollen.386 In beiden Petitionen wird eine Hinzuziehung von Vertretern der Gewerkschaften und der Unternehmer als Sachverständige zu den Verhandlungen über die sozialpolitischen Fragen eines künftigen Friedensvertrages verlangt. Zu einer ersten Besprechung zwischen Regierungsvertretern, Vertretern der Gewerkschaften und Vertretern der „Gesellschaft für Soziale Reform“ kommt es am 18. März 1918.387 Die Vertreter einer Regierung, die bereits 379 Vgl.: Ratz, Ursula: Zwischen Arbeitsgemeinschaft...a.a.O.(=Anm. 377), 388. 380 Vgl.: Für internationale Arbeiterschutzvereinbarungen...In: Soziale Praxis, 26(1917)21, Sp. 414. 381 Vgl. das Dokument 20 in: Schönhoven, Klaus (Bearb.): Die Gewerkschaften im Weltkrieg...a.a.O.(=Anm. 42), 246 - 252. 382 Auf diesen Entwurf bezieht sich: Die Zukunft der internationalen Sozialpolitik. In: Soziale Praxis, 26(1917)35, Sp. 701 - 705. 383 Vgl.: Schönhoven, Klaus (Bearb.): Die Gewerkschaften im Weltkrieg...a.a.O.(=Anm. 42), 383, Fußn. 2; hinzu kommen Delegierte der tschechoslowakischen Gewerkschaften in Böhmen, deren Organisationen dem IGB nicht angehören. Die Gewerkschaften der Ententestaaten (Großbritannien, Belgien, USA) lehnen die Teilnahme ab oder sind, wie Spanien, ohne Angabe von Gründen ferngeblieben. Französischen und italienischen Gewerkschaftsvertretern werden die Pässe verweigert. 384 Vgl. das Dokument 45 ebenda, 382 - 391; vgl. in diesem Zusammenhang auch die streng vertraulichen „Agentenberichte“ an den preußischen Minister des Innern, die über „Interna“ des Kongresses berichten und den dort agierenden Vertretern der Freien Gewerkschaften „Wirklichkeitssinn“ und einen patriotischen Standpunkt nachsagen; Stern, Leo (Hg.): Die Auswirkungen der Grossen Sozialistischen Oktoberrevolution auf Deutschland. Berlin 1959, 738 ff. (= Archivalische Forschungen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Band 4/II). 385 Schönhoven, Klaus (Bearb.): Die Gewerkschaften in Weltkrieg...a.a.O.(=Anm. 42), 383 386 Vgl.: Ratz, Ursula: Zwischen Arbeitsgemeinschaft...a.a.O.(=Anm. 377), 391. 387 Vgl. die Fußn. 5 bei: Schönhoven, Klaus (Bearb.): Die Gewerkschaften im Weltkrieg...a.a.O.(=Anm. 42), 391.

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im September 1914 die fixe Idee seiner Majestät des Kaisers und Königs erwägenswert fand, die wichtigsten deutschen Bestimmungen auf dem Gebiet der „Arbeiterfürsorge“ zwangsweise im besetzten Belgien einzuführen,388 die dieses dann aber ebenso unterließ, wie die Integration sozialpolitischer Bestimmungen in den deutschen Diktatfrieden, in den Friedensvertrag von Brest-Litowsk, der am 3. März 1918 unterzeichnet wurde und die dieses aus manchen Kreisen propagierte sozialpolitische Ziel auch bei den Ergänzungsverträgen vom August 1918 nicht realisierte, einer Regierung, die dann aber überraschend mit Datum vom 14. März 1918 durch Verordnungen der deutschen Verwaltung in Belgien ein in der Vorkriegszeit steckengebliebenes belgisches Projekt der Pflichtversicherung der Arbeiter gegen Krankheit, vorzeitige Invalidität und Alter aufgreift und durchführt, reagieren nun ausweichend. Diese Reaktion ist nicht verwunderlich, denn zu dieser Zeit hätte die Übernahme des Programms der internationalen Gewerkschaftskonferenz zu Bern noch wesentliche „vorwärtsweisende“ Konsequenzen für die sozialpolitische Ordnung im Deutschen Reich gehabt, insbesondere, was die Aufgaben und die Stellung der Gewerkschaften betrifft. Vor diesem Hintergrund übt nun die Generalkommission der Gewerkschaften Druck auf die sozialdemokratische Fraktion im Haushaltsausschuß des Reichstags aus, der unter dem Datum des 21. März 1918 beschließt, den Reichstag aufzufordern, den Reichskanzler in Form einer Resolution zu ersuchen, beim Abschluß künftiger Friedensverträge sozialpolitische Bestimmungen aufzunehmen. Tatsächlich schließt sich der Reichstag diesem Votum an.389 Diese Vorstöße erfolgen vor dem Hintergrund einer recht „zwielichtigen“ Situation. Was im Friedensvertrag von Brest-Litowsk nicht realisiert wurde, die Einführung sozialpolitischer Klauseln in Friedensverträge, wird bis zum Sommer 1918 aus einer Position der durch den Frieden im Osten vermeintlich wiedergewonnenen militärischen Stärke und einer noch erheblichen politischen Macht umfassend geplant. Gegenüber besetzten bzw. militärisch bedrohten Staaten (Belgien, Frankreich, Italien, Kurland, Litauen, Polen) soll eine Übernahme deutscher sozialpolitischer Standards in Form entsprechender Bestimmungen in „Friedensverträgen“ erzwungen werden. Es sollen nicht nur einvernehmlich internationale sozialpolitische Abkommen und Vereinbarungen erzielt oder reaktiviert werden, es sollen nicht nur dafür die institutionellen Vorkehrungen getroffen werden. Es ist auch geplant Grundzüge und Niveau des deutschen Sozialstaats auf dem Gebiet des Arbeiterschutzes und der Sozialversicherung auf der Basis der Gleichartig- bzw. Gleichwertigkeit im Rahmen einer mehr oder weniger gewaltsamen Großmacht- bzw. Großraumpolitik Deutschlands zu verallgemeinern. Durch die entsprechende „soziale Belastung“ dieser Länder soll wiederum die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft in der Nachkriegszeit gesichert werden. Daneben entspreche dieses Vorgehen den „Zielen einer verständigen Sozialpolitik“. Darüber hinaus wird in diesen letzten Kriegswochen und -monaten die „sozialpolitische Annäherung der Mittelmächte“ als eine der „wichtigsten Grundlagen der künftigen militärischstaatlichen Kräfteentfaltung“ Deutschlands, Österreich und Ungarns ernsthaft diskutiert. Von einem modernen Koalitions- und Tarifvertragsrecht, von der Anerkennung und Betei388 Zu dieser Episode vgl.: BA Abt. Potsdam. 15.01 Reichsamt des Innern, Nr. 14901/1, inbes. Bl. 13. 389 Vgl.: Verhandlungen des Reichstags. XIII. Legislaturperiode. II. Session. Band 324. Anlagen zu den Stenographischen Berichten. Berlin 1914/18. Aktenstück Nr. 1420, 2153; vgl. zur Ausgestaltung der Arbeiterversicherung durch deutsche Behörden in Belgien den Aufsatz „Arbeiterversicherung“ im Bulletin des Internationalen Arbeitsamtes, 17(1918)7/8, 23 ff., hier: 24; zit. aus: BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 3723, unpag. Seine Majestät der Kaiser und König reagiert auf diesen Vorstoß mit „Genugtuung und Freude“; vgl. dazu: BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 3696.

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ligung der Gewerkschaften ist in den angesprochenen „Friedensvertragsbestimmungen“ keine Rede. Insofern verharren diese Vorarbeiten zu einem von Deutschland beherrschten europäischen Großraum auf dem Niveau der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“. Vor dem Hintergrund einer immer schlechter werdenden militärischen Lage und von Zersetzungserscheinungen in der deutschen Kriegsgesellschaft sowie weiterer Initiativen der „Gesellschaft für Soziale Reform“,390 die ja als deutsche Sektion der „Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz“ auf „ureigenstem“ Felde agiert, kommt eine neuartige Bewegung in die „Sache“, als schwerwiegende Bestands- und Herrschaftsprobleme in der Endphase des Kaiserreichs die Aufstellung sozialpolitischer Friedensziele, ein loyalitätsheischendes, öffentlich zu propagierendes „soziales Kriegszielprogramm“ sozusagen, angeraten erscheinen lassen. In der wahrhaft historischen Sitzung des Reichstags vom 5. Oktober 1918, in der der neue Reichskanzler Max von Baden bekanntgibt, daß er in der Nacht zum 5. Oktober an den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika eine Note gerichtet habe mit der Bitte, „...die Herbeiführung des Friedens in die Hand zu nehmen...“,391 bekennt er - noch in der Tradition der internen Vorarbeiten zur „Internationalisierung“ der deutschen Sozialpolitik stehend - auch: „Die deutsche Regierung wird bei den Friedensverhandlungen dahin wirken, daß in die Verträge Vorschriften über Arbeiterschutz und Arbeiterversicherung aufgenommen werden, welche die vertragschließenden Regierungen verpflichten, in ihren Ländern binnen einer gemessenen Frist ein Mindestmaß gleichartiger oder doch gleichwertiger Einrichtungen zur Sicherung von Leben und Gesundheit sowie zur Versorgung der Arbeiter bei Krankheit, Unfall und Invalidität zu treffen. Ich rechne bei der Vorbereitung auf den sachkundigen Rat der Arbeiterverbände sowohl wie der Unternehmer.“392 Nun allerdings haben sich die internationalen Gewichte verschoben und es ist nicht mehr Deutschland, das Friedensbedingungen gegenüber unterlegenen Staaten diktiert. Die innenpolitische Situation und die angekündigte Beteiligung von Arbeit und Kapital geben den Geschehnissen darüber hinaus eine spezifische Prägung, die weit über den Arbeiterschutz und die Arbeiterversicherung hinausweist. Nunmehr setzt die „Deutsche Gesellschaft für Völkerrecht“ in einem Studienausschuß für den Völkerbund auch eine Sonderkommission für Sozialpolitik ein. Diese Kommission konstituiert sich am 27. Oktober 1918 in Berlin. Sie arbeitet unter dem Vorsitz des bürgerlichen Sozialreformers, des „Weltpolitikers“ und „Flottenprofessors“ der Vorkriegs- und Kriegszeit Ernst Francke und seines Stellvertreters, des Freigewerkschaftlers Paul Umbreit. Unter Berücksichtigung und Integration der Beschlüsse von Leeds, Bern und Buffalo (hier hatte die amerikanische Federation of Labor sich noch einmal im November 1917 für Sozi390 Vgl. dazu: Ratz, Ursula: Zwischen Arbeitsgemeinschaft...a.a.O.(Anm. 377), 394 ff. 391 Vgl.: Verhandlungen des Reichstags. XIII. Legislaturperiode. II. Session. Band 314. Berlin 1914/18, 6153. 392 Ebenda, 6152; vgl. zu den internen sozialpolitischen „Friedensvertragsplanungen“ bis Sommer 1918 vor allem die Akte, betreffend die Aufnahme sozialpolitischer Bestimmungen in den Friedensvertrag mit Frankreich. BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 3697; dort insbesondere die „Sozialpolitische(n) Programmpunkte für Friedensverhandlungen mit Frankreich“ vom Mai 1918. Die darin festgehaltenen Forderungen, die auf eine von Deutschland ausgehende Internationalisierung von deutschen Standards im Arbeiterschutz und in der Sozialversicherung abheben, seien dem Auswärtigen Amt zur Aufnahme in die Friedensverträge mit anderen feindlichen Staaten in etwas abweichender Anordnung und Fassung bereits mitgeteilt worden. Vgl. als besonders klar formuliertes Beispiel einer beabsichtigten Ausdehnung des deutschen Sozialstaatsmodells nach Osten die Akte, betreffend die Aufnahme sozialpolitischer Bestimmungen in den Friedensvertrag mit Kurland und Litauen; BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 3699. Insgesamt befinden sich diese Planungen in den Akten 3696 - 3702. Die darin enthaltenen Entwürfe zu Friedensverträgen tragen teilweise extrem annexionistische Züge.

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alpolitik im Friedensvertrag ausgesprochen) wird eine umfassende Ausarbeitung erstellt.393 Diese dient sodann der Ausformulierung der deutschen „sozialpolitischen Friedensforderungen“ zur Grundlage, die am 22. November 1918 nunmehr bereits vor dem Hintergrund der Revolution beginnt.394 So entsteht als „Gemeinschaftswerk“ von Vertretern der Arbeiterbewegung, des Unternehmertums, der bürgerlichen Sozialreform und des Staates395 jenes „sozialpolitische Programm Deutschlands für den Weltfrieden.“396 Deutschland stellt sich damit - nach eigenem publizistisch verbreiteten Selbstverständnis - an die Seite „...der Gewerkschaften beider Mächtegruppen, die im Friedensprozeß zusammentreten...“397 Das „amtliche deutsche Programm“ thematisiert nunmehr im Sinne von Mindestforderungen die Freizügigkeit, das Koalitionsrecht, die Gestaltung der Arbeitsbedingungen, die Arbeitsvermittlung, die Sozialversicherung, den Arbeiterschutz, die Heimarbeit, die Arbeitsaufsicht und enthält Vorschläge zu einem institutionellen Aufbau der Durchführung und Ausgestaltung der internationalen Sozialpolitik. Es stellt zur damaligen Zeit hohe Anforderungen und signalisiert erheblichen sozialpolitischen Entwicklungsbedarf nicht für das durch revolutionäre Unruhen geschüttelte und deshalb sozialpolitisch inzwischen weit entwickelte Deutschland, wohl aber für die „sozialpolitisch zurückgebliebenen“ Staaten. Es argumentiert, ganz im Gegensatz zu gewissen Erscheinungen im Ersten Weltkrieg, soziale Rechte nach bestimmten militärischen Kriterien zu stufen, vom Standpunkt der sozialpolitischen Gleichberechtigung und Gleichbehandlung, der wechselseitigen Öffnung der Sozialversicherungssysteme für die jeweils ausländischen Arbeitnehmer, der internationalen Freizügigkeit mit gewissen Einschränkungen, die in den Arbeitsmarktverhältnissen und in kulturellen Gegebenheiten wurzeln sollen. Im Unterschied zu den sozialpolitischen Großraumplanungen bis zum Sommer 1918 kennt dieses Programm nunmehr auch die Grundzüge des kollektiven Arbeitsrechts mit ihrer Betonung der Bedeutung der Verbände von Arbeit und Kapital für die sozialpolitische Ordnung. Die Absicht der deutschen „Revolutionsregierung“, der „jungen deutschen Republik“, nunmehr nach innen und außen als Vorkämpferin für die „sozialen Rechte der Arbeiterklasse“ auftrumpfend aufzutreten und in die alte kaiserzeitliche Rolle einer sozialpolitischen Leit- und Vorbildnation zu schlüpfen, wird durchkreuzt. Zwar wird der deutsche Entwurf mit einer Note vom 10. Mai 1919 in Versailles durch die deutsche Friedensdelegation „unterbreitet“, die alliierten und assoziierten Mächte lehnen es jedoch ab, auf diesen Vorstoß einzugehen398 oder gar die deutschen Vorstellungen als „Weltarbeiterrecht“ in den Friedensvertrag aufzunehmen. Auch der Vorschlag Deutschlands, gleichzeitig mit der Friedenskonferenz, eine Konferenz der Vertreter der Gewerkschaften stattfinden zu lassen, wird 393 Vgl.: Manes, Alfred: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 374), 54 f. 394 Vgl.: Fr.(ancke), E.(rnst): Deutschland und die Sozialpolitik in den Friedensverträgen. In: Soziale Praxis, 28(1918)9, Sp. 133 - 134. 395 Zur Beteiligung dieser Kräfte vgl. die detaillierten Angaben in dem Beitrag: Friedensvertrag und internationales Arbeitsrecht. In: Soziale Praxis, 28(1918)10, Sp. 160. 396 Vgl.: Das sozialpolitische Programm Deutschlands für den Weltfrieden. In: Soziale Praxis, 28(1918)13, Sp. 203 - 206. Das Dokument ist als „Deutscher Entwurf eines rechtspolitischen Zusatzvertrages zum Friedensvertrag“ abgedruckt bei: Eckardt, Paul, Kuttig, Ewald: Das internationale Arbeitsrecht...a.a.O.(=Anm. 373), 96 - 99; eine Inhaltsangabe findet sich bei: Heyde, Ludwig: Die Sozialpolitik im Friedensvertrag und im Völkerbund. Jena 1919, 18 ff. 397 Das sozialpolitische Programm...a.a.O.(=Anm. 396), Sp. 203. 398 Vgl.: Eckardt, Paul, Kuttig, Ewald: Das internationale Arbeitsrecht...a.a.O.(=Anm. 373), 8; hier auch der Notenwechsel auf S. 99 ff.; Abschriften dieser diplomatischen Vorgänge sind enthalten im: BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 3703.

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damit verworfen. Das von Deutschland unterstützte „zweite Berner Programm“, beschlossen von einer internationalen Gewerkschaftskonferenz, die vom 5. bis 9. Februar 1919 stattfindet und von Vertretern aus beiden Weltkriegslagern sowie aus neutralen Staaten beschickt wird, ein Programm, das in der Präambel stark antikapitalistische Züge aufweist, bleibt ebenfalls ohne Einfluß auf die Gestaltung des Versailler Vertrages.399 Am 31. Januar 1919 wird vielmehr durch Beschluß des „Obersten Rates“ in Paris ein Ausschuß für internationale Arbeitsgesetzgebung eingesetzt. Dieser wählt den politisch rechtsstehenden und einflußreichen Präsidenten der „American Federation of Labor“, Samuel Gompers, einstimmig zum Vorsitzenden. Die Arbeitsergebnisse dieses Ausschusses, die ausgehend von englischen Vorarbeiten in 35 konfliktreichen Sitzungen zustande kommen, gehen mit gewissen Veränderungen schließlich in den XIII. Teil des mit Deutschland nicht verhandelten Versailler Friedensvertrages ein. Dieser Teil findet sich auch in den Verträgen von St.Germain-en-Laye und Neuilly-sur-Seine.400 Der mit „Arbeit“ überschriebene Teil XIII des Versailler Vertrages401 meint u.a. ein Weltfriede, wie der Völkerbund ihn begründen möchte, könne „...nur auf dem Boden der sozialen Gerechtigkeit aufgebaut werden..“ Sodann folgen äußerst zahlreiche Bestimmungen zur Organisation der internationalen Sozialpolitik, insbesondere zum „Internationalen Arbeitsamt“ am Sitz des Völkerbundes in Genf, zu den dortigen Verfahrensweisen, zur äußerst dürftigen Verbindlichkeit und Rechtsqualität der dort in einer Hauptversammlung zu fassenden Beschlüsse und zum Beschwerdeverfahren. Sieht man von einigen Andeutungen im Vertragstext ab, so befaßt sich lediglich der Artikel 427, der letzte Artikel des Teils XIII des Versailler Vertrages, mit den möglichen Inhalten internationaler Sozialpolitik. Nach Hinweisen auf die besonderen Schwierigkeiten internationaler sozialpolitischer Regelungen glauben die „Hohen vertragschließenden Teile“, daß unter den zu berücksichtigenden „Verfahren und Grundsätzen“ die folgenden von besonderer und Beschleunigung erheischender Wichtigkeit seien: Arbeit dürfe nicht lediglich als Ware oder Handelsgegenstand angesehen werden. Von Wichtigkeit in diesem Sinne sei das Recht des Zusammenschlusses sowohl für Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeber, ein nach Auffassung der Zeit und des Landes angemessener Lohn, die Annahme des „Achtstundentages“ oder der 48Stunden-Woche, die Annahme einer wöchentlichen Arbeitsruhe von 24 Stunden, die Beseitigung der Kinderarbeit und die Einschränkung der Arbeitszeit Jugendlicher, der Grundsatz gleichen Lohnes ohne Unterschied des Geschlechts für Arbeit gleichen Werts, eine gerechte wirtschaftliche Behandlung aller sich im Lande erlaubterweise aufhaltenden Arbeiter durch entsprechende Vorschriften, die Einrichtung eines Aufsichtsdienstes, an dem auch Frauen teilnehmen, um die Durchführung des Arbeiterschutzes sicherzustellen.402 399 Dieses Programm ist wiedergegeben bei: Schönhoven, Klaus (Bearb.): Die Gewerkschaften in Weltkrieg...a.a.O.(=Anm. 42), 688 - 695 (Dokument 63); vgl. zum Zustandekommen und zur Zusammensetzung dieser Konferenz: Die internationale Gewerkschaftskonferenz in Bern. In: Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, 29(1919)8, 57 - 59, hier: 57. 400 Vgl.: Eckardt, Paul, Kuttig, Ewald: Das internationale Arbeitsrecht...a.a.O.(=Anm. 373), 8 f.; zum Zustandekommen dieses Ausschusses und zu den Auseinandersetzungen in ihm, zu den Hintergründen der (ersten) Berner Konferenz und zur Ablehnung einer internationalen Konferenz von Arbeiterorganisationen in Paris vgl.: Gompers, Samuel: Seventy Years of Life and Labor. An Autobiography. New York 1948, 473 - 500. 401 Vgl.: RGBl. 1919, 1269 ff. 402 Vgl. als Kommentar dieser Bestimmungen: Eckardt, Paul, Kuttig, Ewald: Das internationale Arbeitsrecht...a.a.O.(=Anm. 373), 68 - 78; vgl. auch: Arbeitsrecht und Arbeiterschutz (einschließlich Versorgung und Fürsorge für die Kriegsopfer)...a.a.O.(=Anm. 321), 79 ff.; Jadesohn, (Samý): Das gesamte Arbeitsrecht...a.a.O. (=Anm. 94), 580 ff.

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In sozialreformerisch orientierten bürgerlichen, gewerkschaftlichen und in politischen Kreisen Deutschlands lösen diese überwiegend verklausulierten, pauschalen, relativierten und unkonkreten aber gleichzeitig auch als nicht vollständig und nicht endgültig bezeichneten „Ausführungen“ heftige Entrüstung hervor. Der damals sehr bekannte Sozial- und Arbeitsrechtler Alfred Manes etwa sieht in allem, was das „Versailler Unfriedenswerk“ an Arbeiterrecht enthält nur „hohlen Wortschwall“, „Advokatenkniffe“, „eitle Phrasen“ und den Laien verführende „irreleitende Rabulistik“. Dieser Protest verbindet sich zu dieser Zeit mit der leidenschaftlichen Ablehnung der übrigen Friedensbedingungen bzw. des gesamten Versailler Vertrags. Die Friedensbedingungen werden seit ihrem Bekanntwerden als „unerträglich“, „unerfüllbar“, als Instrument der „politischen Unterdrückung“ und „wirtschaftlichen Erdrosselung“ in weitesten Kreisen des politischen Lebens bezeichnet. Der Vertrag gilt als „Gewaltfriede“, als von „Rache- und Raubgelüsten errichtetes Gebilde.“ Das „Zentralorgan der Sozialreform“ die Zeitschrift „Soziale Praxis“ schreibt von einem „Friedensvertrag wider die Arbeiter.“ Die Vorständekonferenz der Freien Gewerkschaften spricht in einem Aufruf „an die organisierten Arbeiter aller Länder“ von einer „...brutalen Erdrosselung des deutschen Volkes, die der Imperialismus der Westmächte... herbeizuführen entschlossen ist.“403 Trotz dieser leidenschaftlichen Ablehnung des Vertrags, trotz der von propagandistischen Absichten nicht freien Aufrufe und Stellungnahmen, vollzieht sich die weitere Entwicklung der internationalen sozialpolitischen Gesetzgebung im Rahmen der Tagungen der Hauptversammlung der „Internationalen Arbeitsorganisation“ und der Tätigkeit des „Internationalen Arbeitsamtes“ in Genf, das als ständiges Sekretariat der „Internationalen Arbeitsorganisation“ fungiert sowie des Verwaltungsrats, der vor allem Aufsichtsaufgaben hat. Die Hauptversammlung setzt sich aus jeweils vier Vertretern der einzelnen Mitgliedstaaten zusammen. Es handelt sich um zwei Vertreter der Regierung und je einen Vertreter der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. Letztere sind von der Regierung im Einvernehmen mit den Berufsverbänden zu bestimmen. Der Verwaltungsrat „...setzt sich aus 24 Mitgliedern zusammen, von denen zwölf Vertreter der Regierungen, je sechs Vertreter der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind.“404 Damit zeichnet sich die „Internationale Arbeitsorganisation“ zwar auch, wie zahlreiche Teilstücke der deutschen Nachkriegssozialpolitik, durch eine arbeitsgemeinschaftliche Grundstruktur aus. Der organisierten Arbeiterschaft ist allerdings nur ein Viertel der Stimmen eingeräumt. Bereits auf der Tagung der Hauptversammlung vom 29. Oktober bis 29. November 1919 in Washington werden, nicht ohne daß es zu Irritationen kommt, Deutschland und Deutschösterreich in Abwesenheit zur „Internationalen Arbeitsorganisation“ zugelassen. Diese Entscheidung fällt am 30. Oktober 1919 mit 71 gegen eine Stimme bei einer Stimmenthaltung. Die Mitarbeit Deutschlands erfolgt nicht ohne Friktionen. „Völkerpsychologische Hemmungen“ machen sich insbesondere in den ersten Jahren bemerkbar. Als z.B. auf der zweiten „Internationalen Arbeitskonferenz“ in Genua im Jahre 1920 seemännische Fragen behandelt werden, führt die Erinnerung an den deutschen Unterseebootkrieg zu einem Eklat. Deutsche Arbeitnehmervertreter werden zunächst von der Mitarbeit ausgeschlossen und dieser „Zwischenfall“ kann erst nach tagelangen Verhandlungen behoben 403 Vgl.: Manes, Alfred: Die Vernichtung der Sozialversicherung. In: Zentralblatt der Reichsversicherung, (1919)12, Sp. 358 - 361, hier: Sp. 360, sowie: An die organisierten Arbeiter aller Länder. In: Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, 29(1919)20, 201 - 202, hier: 201. 404 Arbeitsrecht und Arbeiterschutz (einschließlich Versorgung und Fürsorge für die Kriegsopfer). 4. neubearbeitete Ausgabe. 1924. Teil I. Systematischer Teil. Berlin 1924, 82; vgl. auch: Francke, E.(rnst): Die „Organisation der Arbeit“ im Völkerbund. In: Soziale Praxis, 28(1919)49, Sp. 865 - 870.

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werden. Daneben führt die Unterrepräsentation von Deutschen im „Personalkörper“ des „Internationalen Arbeitsamtes“ ebenso zu Irritationen, wie die Nichtzulassung des Deutschen als Amtssprache bzw. die Unterdrückung der Verwendung der deutschen Sprache. Erst nach langen Auseinandersetzungen kommt es zu halbwegs zufriedenstellenden Lösungen auf dem Gebiet der Sprachen- und Personalfrage. Trotz dieser Querelen und vor ihrem Hintergrund ist ein deutlicher Zuwachs an internationalen sozialpolitischen Aktivitäten zu beobachten. Es ist der prominente Politiker und Gewerkschafter Rudolf Wissell, der vorübergehend als deutscher Arbeitnehmervertreter im Verwaltungsrat des „Internationalen Arbeitsamtes“ tätig ist und der aus eigener Anschauung auf eine wesentliche Bedingung derartiger sozialpolitischer Fortschritte aufmerksam macht, auf die in weiten internationalen Kreisen verbreitete Angst „vor dem nach Westen vordringenden Bolschewismus“. Diese Angst habe schon den sozialpolitischen Gehalt des Friedensvertrages bestimmt und: „Einer der wichtigsten historischen Gründe für die in der Folge vom Internationalen Arbeitsamt mit Eifer und auch mit Erfolg betriebene internationalen Sozialpolitik dürfte die Absicht gewesen sein, ein Bollwerk gegen den Bolschewismus aufzurichten.“405 Im Lichte dieser Einschätzung kann nicht überraschen, daß die Satzung des Völkerbundes, ein Bestandteil des „Versailler Vertrages“ und ein bald versagendes, wesentlich vom Präsidenten der USA, Woodrow Wilson, inspiriertes Instrument internationaler Friedenssicherung, in das Deutschland erst am 8. September 1926 aufgenommen wird, in deklaratorischer Weise im Artikel 23 ebenfalls sozialpolitische Aussagen enthält. Es wird ein Programm auf dem Gebiet des Arbeitsrechts („gerechte und menschliche Arbeitsbedingungen für Männer, Frauen und Kinder“), des Schutzes der „eingeborenen Bevölkerung“, der Unterdrückung des „Frauen- und Kinderhandels“ und der „Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten“ skizziert. Während sich nun die internationale Sozialpolitik durchaus im „Phantasiehorizont“ der internationalen gewerkschaftlichen Konferenzen von Leeds und Bern über die im Friedensvertrag enthaltenen Institutionen und Verfahren fortentwickelt und mancher weitere internationale Aspekt der Nachkriegssozialpolitik noch erwähnenswert wäre,406 läßt sich auf deutscher Seite ein erhebliches, aus der internationalen Lage resultierendes „Verlustgeschehen“ beschreiben: Durch die territorialen Bestimmungen des am 28. Juni 1919 unterzeichneten Versailler Vertrages verliert der deutsche Sozialstaat in seiner ausgebauten Form erstmals Teile seines Gebietsbestandes und eine Ausdehnung des deutschen Staatsund damit auch des Sozialstaatsgebietes wird untersagt. Die Perspektive der räumlichen Ausdehnung erstreckt sich nach der Kriegsniederlage vor allem auf Deutschösterreich und 405 Wissell, Rudolf: Die Sozialpolitik nach dem Kriege. Berlin 1929, 28; vgl. zu den angesprochenen Kontroversen: Deutsche Sozialpolitik 1918 - 1928. Berlin 1929, 296 ff.; vgl. auch den Beitrag von: Eckardt (Paul): Washington, Bern, Berlin, ein Rückblick auf dem Wege zum internationalen Arbeiterrecht. In: Soziale Praxis, 29(1920)15, Sp. 337 - 341. 406 Von großem Interesse wäre ein seriöser internationaler Vergleich der Entwicklung der Nachkriegssozialpolitik in Europa, denn die deutschen sozialpolitischen Entwicklungen, die revolutionären Erhebungen, die damit einhergehenden Ideologien und Bestrebungen, sind nicht auf dieses Land beschränkt. So existieren Sozialisierungsbewegungen und Sozialisierungskommissionen auch in Österreich, England und Frankreich; vgl. den Hinweis darauf und auf die Sozialisierungskommissionen in den deutschen Ländern Sachsen, Bayern und Württemberg bei: Hellige, Hans Dieter: Die Sozialisierungsfrage...a.a.O.(=Anm. 199), 99 f.; nicht nur in Deutschland wird nach dem Ersten Weltkrieg die Betriebsverfassung mit dem Ziel der Stabilisierung der Betriebsverhältnisse ausgebaut. In Österreich entsteht ebenfalls ein Betriebsrätegesetz; vgl.: Braunthal, Julius: 12. November. 3. Die Sozialpolitik der Republik. Wien 1919, 41 ff. sowie: Adler, Emanuel: Das deutschösterreichische Gesetz über Betriebsräte. Teil I. In: Soziale Praxis, 29(1919)4, Sp. 77 - 80; Teil II: Ebenda, Heft 5, Sp. 97 - 101.

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sowohl auf deutscher als auch auf österreichischer Seite ist ein bis in die Arbeiterbewegung reichendes, umfassendes „Anschlußverlangen“ vorhanden, dem jedoch der ebenfalls erhebliche Empörung auslösende Artikel 80 des Friedensvertrages entgegensteht.407 Gleichwohl wird für einige Jahre unter dem Schutz der Geheimhaltung an dem Projekt einer Angleichung der Rechtsordnung beider Staaten und damit auch an einer möglichst übereinstimmenden Ausgestaltung der Sozialpolitik beider Staaten als Voraussetzung einer anzustrebenden „Vereinigung“ gearbeitet.408 Bleibt dieses sozialpolitische Projekt in der Weimarer Republik auch ohne „Erfüllung“, so haben die im Versailler Vertrag festgeschriebenen Gebietsverluste Deutschlands unmittelbare und sehr reale sozialpolitische Folgen. Sieht man vom Verlust der Kolonien ab,409 so verliert Deutschland Elsaß-Lothringen an Frankreich, Moresnet und Eupen-Malmedy fallen nach einer umstrittenen Volksabstimmung an Belgien. Das Saargebiet wird für 15 Jahre der Verwaltung des Völkerbundes unterstellt, anschließend soll eine Volksabstimmung stattfinden. Die größten Teile der preußischen Provinzen Posen und Westpreußen sowie der ostpreußische Kreis Soldau kommen zu Polen. Danzig wird als „Freie Stadt“ dem Völkerbund unterstellt. Das Gebiet nördlich der Memel wird abgetrennt und 1923 Litauen überlassen. Polen erhält darüber hinaus „...trotz einer für Deutschland günstigen Abstimmung am 20.3.1921 90% des oberschlesischen Industriegebiets, die ýSR das Hultschiner Ländchen und einen Teil des schlesischen Kreises Ratibor. Aufgrund einer Abstimmung gelangte Nordschleswig an Dänemark...“410 Insgesamt verliert das Reich, ohne die Kolonien, 13% seiner Fläche von 1910 und 10% seiner Einwohner.411 In unterschiedlichem Ausmaß bricht für diese Gebiete die deutsche sozialpolitische Tradition ab. Bestimmte sozialpolitische Gesetze können bald nicht mehr einund durchgeführt werden, deutsche sozialpolitische Behörden schließen oder gehen auf einen anderen Staat über, neue Regelungen und Institutionen entstehen. In besonderer Weise sind von den territorialen Bestimmungen des Versailler Vertrages die sozialpolitischen Großinstitutionen, die Sozialversicherungen in allen ihren Zweigen einschließlich der Sonderanstalten betroffen. Die als „hartes Unrecht“ empfundenen territorialen Abtretungen, die für die dort lebende Bevölkerung mit Veränderungen in der Staatsbürgerschaft und die auch mit Umsiedelungen und Vertreibungen verbunden sind, ziehen die Abführung von Rückstellungen, „...die für den Dienst der gesamten sozialen und staatlichen Versicherungen in den abgetretenen Gebieten bestimmt sind“ an die „fremden Mächte“ nach sich, denen das entsprechende Gebiet zufällt.412 Solche Vermögensübertragungen werden in besonderen Übereinkommen mit den beteiligten Regierungen im Detail geregelt. Aus solchen Vermögensübertragungen sollen Ansprüche gegenüber den bisherigen deutschen Versicherungsträgern befriedigt werden. Die deutschen Bewohner dieser Gebiete werden, falls sie nicht in das Reichsgebiet übersiedeln, im Sinne der deutschen Sozialversicherungsgesetzgebung Aus407 Vgl.: Möller, Horst: Weimar. Die unvollendete Demokratie. 2. Aufl. München 1987, 137. 408 Vgl. den interessanten Beitrag von: Nautz, Jürgen: Tarifvertragsrecht und „Anschluß“. In: Archiv für Sozialgeschichte, 31(1991), 123 - 135; allgemein: Low, Alfred D.: Die Anschlußbewegung in Österreich und Deutschland 1918 - 1919, und die Pariser Friedenskonferenz. Wien 1975. 409 Die sozialpolitischen Aspekte des deutschen Kolonialismus sind ein dringendes Desiderat der Forschung. Auf diesen Gegenstand geht auch dieser Band nicht ein. 410 Morsey, Rudolf: Versailler Vertrag. In: Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft. Fünfter Band. Freiburg, Basel, Wien 1995, Sp. 705 - 707, hier: Sp. 706. 411 Vgl. denselben, ebenda, Sp. 706. 412 Vgl. die Artikel 77 und 312 des Versailler Vertrages sowie: Kleeis, Friedrich: Die Geschichte der sozialen Versicherung in Deutschland. Berlin-Lichterfelde 1928, 249 f.

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länder. Hinsichtlich Elsaß-Lothringens wird, da ein solches Übereinkommen nicht zustande kommt, auf Grund des Artikels 312 Absatz 4 des Friedensvertrages eine entsprechende „Entscheidung“ getroffen.413 Nach diesen Rechtsnormen sind deutsche Versicherungsträger von bestimmten Ansprüchen der ehemals ganz überwiegend deutschen Leistungsberechtigten freizustellen. Den ausgewanderten Versicherten und Anspruchsberechtigten aus den abgetretenen Gebieten ist eine Verfolgung ihrer Rechtsansprüche in Deutschland zu gewährleisten. Da eigentlich zuständige deutsche Leistungsträger durch die Gebietsabtretungen weggefallen sind, ist die Rechtsverfolgung durch die Regelung einer „aushilfsweisen Zuständigkeit“ von in Deutschland weiterhin bestehenden Versicherungsträgern und -behörden zu gewährleisten.414 Komplizierte Bestimmungen beinhalten Termine, Fristen, zuständigkeits-, anwartschafts-, leistungsrechtliche und organisatorische Fragen, den Austausch von Daten und Akten usw. usf. unter den besonderen Bedingungen der Gebietsabtretungen. So werden im Ergebnis juristisch-administrative Verklammerungen mit Deutschland gelöst und solche zu den mit deutschen Gebieten arrondierten Staaten aufgebaut.415 Selbst die Versicherungsverhältnisse im besetzten Rheinland sind an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Diese Neuregelungen sind nötig geworden, weil die dortigen „fremdländischen Militärbehörden“, wie auch einzelne „Mitglieder dieser Behörden“ „...Deutsche als Arbeiter oder Angestellte beschäftigen, ohne jedoch die Verpflichtungen zu übernehmen, welche die deutsche Gesetzgebung den Arbeitgebern auf dem Gebiete der sozialen Versicherung auferlegt.“416 Die durch den Friedensvertrag notwendig gewordenen sozialpolitischen gesetzgeberischen Bemühungen umfassen mitunter auch das Arbeitsrecht, etwa mit dem Ziel, den deutschen Mannschaften auf den nach Artikel 339 abgetretenen Schiffen die deutsche Sozialversicherung und das deutsche Arbeitsrecht zu erhalten.417 Im Falle der Gebietsabtretungen geht die Gestaltung der Sozialversicherung sodann in die Kompetenz der die Gebiete aufnehmenden Staaten über, damit erlischt im wesentlichen der Einfluß des deutschen Sozialstaats auf dieses nun ausländische Staatsgebiet und die dortige Bevölkerung. Die Verhandlungen mit manchen Staaten über diese Fragen der Sozialversicherung ziehen sich bis in die letzten Jahre der Weimarer Republik.418 Die Sozialversicherung des 413 Vgl. die „Bekanntmachung über die sozialen Versicherungen in Elsaß-Lothringen“ vom 11. Oktober 1921 (RGBl. 1921, 1289); vgl. auch, die Gebietsabtretungen an Belgien betreffend, das „Gesetz, betreffend das deutschbelgische Abkommen zu Artikel 312 des Friedensvertrags“ vom 20. Juli 1921 (RGBl. 1921, 1177) mit dem entsprechenden „Übereinkommen“, ebenda, 1179; vgl. auch das „Deutsch-polnische Abkommen über Oberschlesien“ vom 15. Mai 1922 (RGBl. 1922 II, 238); zu den „sozialen Versicherungen“ vgl. ebenda, 312 ff.; die „Bekanntmachung über die Regelung der sozialen Versicherungen in den durch den Vertrag von Versailles an Polen unmittelbar übergegangenen, ehemals deutschen Gebieten“ vom 25. August 1922 (RGBl. II 1922, 745). Die übrigen Regelungen der Abtretungen sollen hier nicht weiter verfolgt werden. 414 Bezogen auf die „Reichsversicherungsanstalt für Angestellte“: Kleeis, Friedrich: Die Geschichte ...a.a.O. (=Anm. 412), 250; vgl. vor allem die „Verordnung über aushilfsweise Zuständigkeit von Trägern und Behörden der Reichsversicherung“ vom 16. Februar 1920 (RGBl. 1920, 239) und z.B. auch die „Verordnung über die Bestellung eines Ersatzversicherungsträgers für die Pensionskasse der Reichseisenbahnen in Elsaß-Lothringen“ vom 6. Oktober 1921 (RGBl. 1921, 1287). 415 Vgl. insgesamt den knappen Überblick bei: Kleeis, Friedrich: Die Geschichte...a.a.O.(=Anm. 412), 249 - 251. 416 Arbeitsrecht und Arbeiterschutz (einschließlich Versorgung und Fürsorge für die Kriegsopfer) ...a.a.O. (=Anm.404), 103. 417 Vgl. ebenda, 103. 418 Ein interessanter, aber im Grunde nicht überraschender Aspekt wird im Zusammenhang mit der Abtretung Nordschleswigs an Dänemark berichtet. Im Vorfeld der dortigen Volksabstimmungen spielt das Argument des ausgebauten deutschen und des „minderen“ und lückenhaften dänischen Sozialsystems offenbar beim Kampf um die öffentliche Meinung eine nicht unerhebliche Rolle; vgl.: 100 Jahre Landesversicherungsanstalt SchleswigHolstein. Lübeck o.J. (1990), 67; vgl. zu den langdauernden Verhandlungen über die Sozialversicherung: Haaß:

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dem Völkerbund unterstellten Saargebietes wird, um die sich daraus ergebenden Veränderungen zu bewältigen, von der Reichsregierung im Wege der Verordnung „...abweichend von den gesetzlichen Vorschriften..“ geregelt.419 Trotz bestimmter Abtrennungserscheinungen, die Regierungskommission des Saargebietes errichtet z.B. selbständige Versicherungsträger und -behörden und führt die „Frankenwährung“ ein, bleiben bestimmte Grundstrukturen der reichsdeutschen, der „Bismarckschen“ Sozialversicherung im Saarland erhalten.420 Diese Entwicklungsprozesse werden von zahlreichen politischen und sozialen Konflikten begleitet. Nicht zuletzt entzünden sich diese an den anfänglich im Saargebiet sehr niedrigen Rentenleistungen. Eine im Jahre 1927 verhandelte „Heidelberger Abrede“ führt dazu, daß die Versicherungsträger des Reiches verpflichtet werden, sich an den Rentenleistungen in der saarländischen Sozialversicherung zu beteiligen. Diese Verpflichtung, die in Hoffnung auf eine „Rückgewinnung“ des Saargebietes nicht ungern eingegangen wird, führt zu einer Anhebung und Angleichung dieser Geldleistungen.421 Selbstverständlich wirken sich auch alle die Versailler Vertragsbestimmungen und nachfolgenden Verhandlungsergebnisse auf den sozialpolitischen Handlungsspielraum aus, die die ökonomische und fiskalische Entwicklungsperspektive Deutschlands begrenzen.

2.1.5 Sozialpolitik von der Inflation zur Stabilisierungskrise Die dramatische Existenzkrise, in die die „klassische Sozialversicherung“, in die „Bismarcks Werk“ in den Jahren 1919 bis 1923 gerät, führt dazu, daß „selbst besonnene Kreise“ im Oktober 1923 empfehlen, den Betrieb der Invaliden- und Angestelltenversicherung einzustellen.422 „Einflußreiche Persönlichkeiten“ vertreten zu dieser Zeit die Meinung, eine „Wiederaufrichtung der sozialen Versicherung“ sei unmöglich, „...an ihre Stelle solle eine soziale Versorgung treten...“, auch für die Ersetzung der deutschen Sozialversicherung durch eine „soziale Fürsorge“ erheben sich Stimmen.423 Doch schon im darauf folgenden Jahr ist die Arbeiter- und Angestelltenversicherung in einem strukturkonservativen Sinne wiederhergestellt. Sie hat allen „Anfechtungen“ ohne wesentliche, dennoch mit einigen bemerkenswerten Änderungen widerstanden und entspricht in Grundzügen wieder dem, was im Zuge der „Bismarckschen Sozialreform“, der deutschen „Sozialstaatsgründung“ in Sozialversicherungsrechtliche Beziehungen Deutschlands zu anderen Staaten. In: Wiederaufbau und Wirken der Deutschen Sozialversicherung. München 1928, 47 - 49, hier: 47 f. 419 Vgl. das „Gesetz über Sozialversicherung in Ansehung des Saargebietes“ vom 19. April 1922 (RGBl. I 1922, 462); vgl. auch die „Verordnung über Sozialversicherung in Ansehung des Saargebietes“ vom 17. September 1923 und die „Abrede, betreffend die Ausführung der in dem Schlußprotokoll vom 3. Juni 1921 vorgesehenen Grundsätze über Angelegenheiten der Sozial-Versicherung“ (RGBl. II 1923, 373 und 374). 420 Zu den hier wiedergegebenen internationalen Aspekten der Sozialpolitik bzw. Sozialversicherung im Zusammenhang mit dem Versailler Friedensvertrag existiert eine sehr reichhaltige Aktenüberlieferung; vgl.: BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Akten Nrn. 3688 - 3840, die hier nur selektiv ausgewertet werden. 421 Vgl.: Kuhnen: Die Entwicklung der Sozialversicherung des Saargebietes seit dessen Abtrennung vom Reich. In: Wiederaufbau...a.a.O.(=Anm. 418), 42 - 44, hier: 44; vgl. auch: Heckler, Karl: Die Soziale Gesetzgebung an der Saar. Nach dem Versailler Friedensdiktat. Saarbrücken, o.J.; einen reichhaltigen Überblick über das gesamte internationale sozialpolitische Geschehen bietet: Thomas, Albert: Internationale Arbeiterschutzgesetzgebung. In: Elster, Ludwig, Weber, Adolf (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Ergänzungsband. Jena 1929, 504 - 627. 422 Vgl.: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre Staatliche Sozialpolitik 1839 - 1939. Stuttgart 1957, 367. 423 Aurin: Entwicklungslinien der deutschen Sozialversicherung nach der Wiederherstellung der Währung. In: Wiederaufbau und Wirken...a.a.O.(=Anm. 418), 56 - 59, hier: 56.

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den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden war. Dieser Befund versteht sich nicht von selbst, rüttelt doch nicht nur die Inflation an den Grundfesten des deutschen Sozialstaats, auch die Arbeiterbewegung als Machtfaktor der Nachkriegszeit hatte im Kaiserreich eine umfassende „Alternativprogrammatik“ zur entstehenden und bestehenden Arbeiter- und Angestelltenversicherung entwickelt. Tatsächlich drängen die im Zuge der Verabschiedung und Umsetzung der Reichsversicherungsordnung (RVO) aus der Sicht der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung offen gelassenen, falsch oder unzureichend beantworteten Finanzierungs-, Selbstverwaltungs-, Organisations- und Leistungsfragen unter diesen Bedingungen wieder in den Vordergrund.424 Dieses „Musterstück“ der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“, das schon bei seiner Verabschiedung auch in den Kreisen der „bürgerlichen Sozialreform“ so viel enttäuschte Erwartungen hinterlassen hat425 und erst nach dem Ersten Weltkrieg „zur rechten Wirksamkeit gelangt“,426 „bewahrt“ in besonderer Weise eine „Masse von Institutionen und Apparaturen des Rechts und der Verwaltung“,427 die noch ganz der Zeit verhaftet sind, in der viele meinten, mit Hilfe des „König- und Beamtenthums“, mit diesen „einzig neutralen Elementen“, den „socialen Klassenkampf“ beenden zu können.428 Die RVO beinhaltet darüber hinaus zunächst auch noch die Vorschriften, die verhindern sollen, daß Vertreter der Arbeiterbewegung Einfluß auf die Verwaltung der Sozialversicherung429 und die sozialpolitische Rechtsprechung gewinnen können.430 So ist auch in diesem Zusammenhang die Frage nach der Demokratisierung dieses zentralen Bereichs des Sozialstaats angesprochen. Der sich auf diesem Gebiet ergebende „Spielraum“ muß, wie bei anderen sozialpolitischen „Innovationen“ der Nachkriegszeit auch, Aufschluß geben über die Tiefe und Nachhaltigkeit der „ungeheuren politischen Umwälzungen“, die sich zu dieser Zeit ereignen.431 Die Reformforderungen aus der Arbeiterbewegung zur Sozialversicherung bzw. zur RVO, zu dieser „von Bismarck inaugurierten großartigen Schöpfung deutscher Sozialgesinnung“,432 die bald durch die Verfassungsgebung der Weimarer Republik mit einer „institutionellen 424 Vgl. dazu aus kommunistischer Sicht zusammenfassend: Peschke, Paul: Geschichte der deutschen Sozialversicherung. Berlin 1962; konzeptionell und materialreich auch: Rodenstein, Marianne: Arbeiterselbsthilfe, Arbeiterselbstverwaltung und staatliche Krankenversicherungspolitik in Deutschland. In: Starnberger Studien 2. Sozialpolitik als soziale Kontrolle. Frankfurt a.M. 1978, 113 - 180, sowie insbesondere: Tennstedt, Florian: Soziale Selbstverwaltung. Geschichte der Selbstverwaltung in der Krankenversicherung. Band 2. Bonn o. J. (1977), 23 ff. 425 Vgl. die Hinweise bei: Neuhaus, Rolf: Der Dritte Weg: Bürgerliche Sozialreform zwischen Reaktion und Revolution. In: Sozialer Fortschritt, 28(1979)9, 205 - 212, hier: 209. 426 Vgl.: Bogs, Walter: Die Sozialversicherung in der Weimarer Demokratie. München 1981, 4. 427 So die Ausdrucksweise bei: Achinger, Hans: Soziologie und Sozialreform. In: Deutsche Gesellschaft für Soziologie (Hg.): Soziologie und moderne Gesellschaft. Stuttgart 1959, 39 - 52, hier: 39. 428 Vgl.: Schmoller, Gustav: Die sociale Frage und der preußische Staat. In: Preußische Jahrbücher, 33(1874)4, 323 - 342, hier: 342. 429 Von besonderer Bedeutung sind die §§ 328 und 359 der RVO. 430 Vgl. zusammenfassend: Rother, Klaus: Die Reichsversicherungsordnung 1911. Aachen 1994, 229; zur Rechtsprechung und zum Spruchverfahren auch: Köhler, Peter A.: Entwicklungslinien der 100jährigen Geschichte der gesetzlichen Rentenversicherung: Die Zeit von 1891 - 1957. In: Ruland, Franz (Hg.): Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung. Neuwied und Frankfurt a.M. 1990, hier: 66 f.; vgl. natürlich auch das alte „Standardlehrbuch“: Peters, Horst: Die Geschichte der sozialen Versicherung. 3. Aufl. Sankt Augustin 1978, 78 f. 431 So eine beliebte „Floskel“ für die Vorgänge kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Vgl. exemplarisch die Rede des preußischen Ministerpräsidenten zur „Eröffnung der verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung“ am 13. März 1919. In: Sitzungsberichte der verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung. Tagung 1919/21. 1. Band. Berlin 1921, 2. 432 So die nicht untypische, den Entstehungsprozeß des deutschen Sozialstaats verunklarende Formulierung bei: Apelt, Willibalt: Geschichte der Weimarer Verfassung...a.a.O.(=Anm. 263), 350.

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Garantie“ umkleidet und die damit in den Rang eines „Grundrechts der Versicherten“ erhoben wird,433 die Reformforderungen zu dieser großen „Notifikation“ und Reformierung der zuvor in Einzelgesetzen aufgespaltenen Sozialrechtsmaterie434 werden nach kurzer Unterbrechung bereits im Ersten Weltkrieg artikuliert. In den Kriegsforderungen der Sozialdemokratie und der Generalkommission der Gewerkschaften wird die Sozialversicherung als verbesserungsbedürftig thematisiert, ohne daß konkrete Organisationsreformen eingefordert werden. Eine lediglich paritätische „...Selbstverwaltung der Versicherungseinrichtungen durch gewählte Vertreter der Unternehmer und Versicherten...“ wird von den Freien Gewerkschaften gefordert.435 Wenig später wird sie dann doch wieder in ihrer Organisationsstruktur als „vereinheitlichungsbedürftig“ hingestellt.436 Als Gegenstand dieser Forderungen erreicht die RVO und das ihr entsprechende wahrhaft byzantinische Organisationsgefüge die Republik. Eine Fülle von Resolutionen der Arbeiterbewegung und programmatisch Aussagen sowie von Ankündigungen begleitet ihren Weg in die Demokratie. Der 10. Gewerkschaftstag im Jahre 1919 in Nürnberg überweist Verbesserungs- und Vereinheitlichungsvorschläge zur Sozialversicherung an den Bundesvorstand. Eine Reichsanstalt für alle Versicherungszweige, Selbstverwaltung allein durch die Versicherten werden gefordert.437 Die SPD verlangt in ihrem auf dem Parteitag vom 18. bis 24. September 1921 verabschiedeten Görlitzer Programm den „Umbau der sozialen Versicherung zu einer allgemeinen Volksfürsorge.“438 Die in ihren Leistungen und ihrer Organisation umzugestaltende Arbeiterversicherung soll nach Vorstellungen aus der Sozialdemokratie mit den Trägern der Fürsorge verbunden werden.439 Reichskanzler Gustav Bauer verspricht im Rahmen seiner Regierungserklärung am 23. Juli 1919 im Reichstag, die „große Reform der Reichsversicherungsordnung“ werde in allernächster Zeit in Angriff genommen - ohne konkreter zu werden.440 Eine offiziöse „Arbeitsgemeinschaft für Neuordnung der Sozialversicherung“ tritt im Jahre 1919 unter dem Vor433 Vgl. denselben, ebenda, sowie das Kapitel 2.1.3 dieses Bandes. 434 So eine Charakterisierung von: Stolleis, Michael: Geschichte des Sozialrechts in Deutschland. Stuttgart 2003, 103 ff. 435 Vgl.: Ein sozialpolitisches Arbeiterprogramm der deutschen Gewerkschaften. In: Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, 28(1918)1, 3 - 8, hier: 6; die umfassende Diskussion in der SPD um die Sozialpolitik in der kommenden „Friedenszeit“ beginnt mit einem die nächsten Aufgaben der Partei betreffenden „Bericht an den Parteitag der Sozialdemokratie in Würzburg 1917“. Der letzte Teil dieses Berichts, der von Rudolf Wissel erstattet wird, umfaßt auch die Arbeiterversicherung und enthält u. a. die Forderung die Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung auszubauen und ihr die Angestellten- und Knappschaftsversicherung „anzugliedern“; vgl.: Wissell, Rudolf: Unsere sozialpolitischen Aufgaben. In: Die nächsten Aufgaben der Partei. Bericht an den Parteitag der Sozialdemokratie Deutschlands in Würzburg 1917. Berlin o.J., 76; etwas ausführlicher: ebenda, 64 f. 436 Vgl.: Der gewerkschaftliche Wiederaufbau nach dem Kriege. 13. Die sozialpolitische Neuorientierung. In: Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, 28(1918)27, 243 - 246, hier: 245. 437 Vgl.: Die Beschlüsse des zehnten Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands. In: Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, 29(1919)29, 313 - 329, bes. 327 - 328. 438 Vgl. zur Erläuterung: Quarck, Max: Sozialpolitik. Erläuterungen zum Görlitzer Programm. Stuttgart, Berlin 1922, 13 f.; entgegen dem Wortlaut ist nicht daran gedacht, die Sozialversicherung durch die Fürsorge zu ersetzen. Wohl aber sollen alle Mängel des Versicherungsprinzips ausgeglichen werden in Richtung auf eine sozial angemessene „Volksfürsorge“; vgl. zur Klarstellung: Schöttler, Wilhelm: Fürsorgeprinzip und Versicherungsprinzip. In: Die Neue Zeit, 41(1923)2, 56 ff. 439 Vgl.: Bremer, Willi: Sozialversicherung und Sozialversorgung. Hamburg 1925 (Diss. jur., MS), 126 f.; zum Parteitag: Manning, Ehrenfried: Die SPD und die Sozialversicherung von 1918 bis 1933. Marburg 1956 (Diss. phil., MS), 71 ff. 440 Vgl.: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Band 328. Berlin 1920, 1849.

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sitz des Sozialreformers Ernst Francke ins Leben.441 Von ihr ist allerdings bald nichts mehr zu hören. Anfang Oktober des Jahres 1921 kommt es auf dem ersten Kongreß der „Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände“ (AfA) zu entsprechenden sozialversicherungsbezogenen Forderungen.442 Im Jahre 1922 soll eine offizielle Denkschrift443 dem Werk einer „Neugestaltung“ der Sozialversicherung dienen. Zu dieser Zeit allerdings ist der Theologe und Nationalökonom, der Zentrumsabgeordnete Heinrich Brauns Reichsarbeitsminister (und bleibt es bis Mitte 1928). Dieser erklärt, daß er eine allgemeine „Staatsbürgerversorgung“ ablehne und in Zukunft „nur“ die Mängel der Organisation der Versicherungszweige beseitigen wolle.444 Dabei hat das Motiv, die Reichsfinanzen zu entlasten und sie nicht noch stärker zu belasten, eine erhebliche Rolle gespielt. Ohne Verwirklichungschance in der Weimarer Republik, finden sich die traditionellen Forderungen der Arbeiterbewegung zu diesem Kernbereich des Sozialstaats,445 in „radikalisierter“ Form in der Programmatik der USPD und der KPD.446 Diese werden allerdings zu einem „Vorläufer“ der späteren staatlichen Sozialpolitik in Berlin, in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR nach 1945.447 Überhaupt keine Realisierungschance in der deutschen Geschichte finden Vorstöße aus der damaligen Zeit, die das Ziel haben, eine berufsmäßige bzw. berufsständische Gliederung der Sozialversicherung vorzunehmen oder der Vorschlag, die Invaliditäts- und Altersversicherung durch die Ausgabe von „Arbeitsaktien“ zu ersetzen, aus denen auch „Pensionen“ gezahlt werden könnten.448 Veranschlagt man, wie intensiv die „klassische Sozialversicherung“ mit den sozialen und politischen Kräften im deutschen Kaiserreich verbunden war,449 so gerät die Tatsache, daß ihre Organisationsstruktur in der Demokratie keine wesentlichen Veränderungen erfährt, zu einer Signatur der Zeit und der in ihr herrschenden Verhältnisse. Immerhin „gelingt“ es einige antisozialistisch gezielte personalpolitische Restriktionen aus der RVO durch die „Verordnung über die Wahl des Vorstandsvorsitzenden bei den Ortskrankenkas441 Vgl.: Eine Arbeitsgemeinschaft für Neuordnung der Sozialversicherung...In: Soziale Praxis, 29(1919)11, Sp. 238. 442 Vgl.: Der erste Kongreß des AfA-Bundes... In: Soziale Praxis, 30(1921)45, Sp. 1176 - 1177. 443 Vgl.: Schulz, (Hermann), Eckert, (Christian): Grundzüge der deutschen Sozialversicherung. Berlin 1922 (= 24. Sonderheft zum Reichsarbeitsblatt). 444 Vgl.: Ueber den geplanten Gesamtumbau der Sozialversicherung... In: Soziale Praxis, 30(1921)5, Sp. 126 127. 445 Als letztes sozialpolitisches Programm aus der Zeit der Weimarer Republik verlangt das Heidelberger Programm der mit Teilen der USPD wieder vereinigten SPD aus dem Jahre 1925 hinsichtlich der Sozialversicherung: „Vereinheitlichung der sozialen Versicherung bis zu ihrem Umbau zu einer allgemeinen Volksfürsorge. Einbeziehung der Arbeitsunfähigen und Erwerbslosen.“ 446 Vgl. dazu mit Blick auf die extrem zersplitterten Krankenkassen den „Antrag Rädel und Frau Arendsee und Genossen“. In: Verhandlungen des Reichstags. III. Wahlperiode 1924. Band 399. Berlin 1925, Drucks. 575; vgl. desweiteren: Peschke, Paul: Geschichte...a.a.O.(=Anm. 424), 370 f. 447 Vgl. dazu: Reidegeld, Eckart: Die Sozialversicherung zwischen Neuordnung und Restauration. Frankfurt a.M. 1982, 22 ff.; die Tatsache, daß in der deutschen Geschichte insgesamt drei nicht voraussetzungslose „Sozialstaatstypen“ Raum und Zeit gefunden haben, der „klassische Sozialstaat“, der Sozialstaat der SBZ bzw. DDR und jener der NS-Diktatur wird neuerdings in Form eines „intranationalen Vergleichs“ thematisiert in den Beiträgen bei: Hockerts, Hans Günter (Hg.): Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich. München 1998. Auch die bürgerlichen Kritiker der „klassischen Sozialversicherung“ aus dem Kaiserreich setzen die Publikation von Alternativvorschlägen fort. Besonders weitgehende Forderungen erhebt weiterhin Richard Freund. Er bekennt 1923: „Das Ziel der Reorganisation der Arbeiterversicherung muß sein: e i n e Organisation, e i n Beitrag, e i n e Rente, e i n Heilverfahren, e i n e Kontrolle.“ Vgl.: Freund, (Richard): Zur Neuordnung der Sozialversicherung. In: Die Ortskrankenkasse, 10(1923)45, 844. 448 Vgl. dazu: Horneffer, Ernst: Die große Wunde. München 1922. 449 Vgl. dazu: Reidegeld, Eckart: Die Sozialversicherung...a.a.O.(=Anm. 447), 22 ff.

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sen und über die Kassenangestellten“ vom 5. Februar 1919450 zu beseitigen und diese Regelung durch ein Gesetz auch auf die Landkrankenkassen zu erstrecken.451 In der Nationalversammlung spiegeln sich schon bei diesem frühen Gesetz die alten Kräfte und Argumente wider, die im Kaiserreich zur Verschlechterung der Selbstverwaltung und zur Kassenzersplitterung beigetragen haben.452 Immerhin stehen damit diese Kassen dem personalpolitischen und inhaltlich-sozialpolitischen Strategien der Arbeiterbewegung wieder oder erstmals offen, indem eine Zweidrittelmehrheit der Versicherten in den Organen auf wichtigen Gebieten, ohne durch Vertreter der Unternehmer gehemmt zu sein, planen und beschließen kann. Dieses Ergebnis der Reformpolitik wird nun keineswegs in nichtsozialistischen Kreisen als überfällige Demokratisierung begrüßt, sondern es setzt eine antisozialistische Kampagne ein, die an entsprechende Agitationen im Kaiserreich erinnert.453 Diese Erscheinung ist nur ein Teilbereich der Agitation und der verdeckten oder offenen ideologischagitatorischen oder praktischen Gegenmaßnahmen gegen das Eindringen republikanischer bzw. linksstehender Kräfte in die Organe, die Arbeiter-, Angestellten- oder Beamtenstellen des Weimarer Staates. Vor dem Hintergrund eines überhöhten „Beamtenethos“ und bei Unterschlagung aller Ausschließungstendenzen, aller Schieber- und Schachereien im Kaiserreich, werden den „Linksparteien“, insbesondere der SPD, heftigste Vorwürfe gemacht, wenn sie darangeht, Stellen im Staatsapparat mit ihren Kräften zu besetzen. Von hemmungsloser Parteiwirtschaft, von mangelnder Qualifikation bei gleichzeitiger „Gesinnungstüchtigkeit“, von „Ämterschacher“, der Heraufbeschwörung der „Pöbelsherrschaft“, vom „Kampf um die Futterkrippe“, von „Sinecuren“, von der „Zerstörung der preußischen Verwaltung“, von „parteipolitischen Machenschaften“ ist die Rede. Abgesehen von tatsächlich zweifelhaften Ergebnissen dieser Personalpolitik signalisieren diese Vorwürfe, daß die bisher vom Staatsdienst ausgeschlossenen Parteien und „sozialen Klassen“ auch in der Weimarer Republik in bedeutenden bürgerlichen und adeligen Kreisen keineswegs „willkommene“ bzw. überhaupt akzeptable Kräfte im Staatsaufbau darstellen, daß sie vielmehr als eine unverhüllte politische Provokation und auch als illegitime Arbeitsmarktkonkurrenz auf überfüllten Arbeitsmärkten angesehen werden.454 Unterbleibt auch die große Reform der Sozialversicherung, so sind dennoch einige kleinere Korrekturen von grundsätzlicherer Bedeutung noch zu erwähnen. Einmal soll durch entsprechende Vorschriften eine weitere Aufsplitterung der Krankenkassen verhin-

450 Vgl.: RGBl. 1919, 181. 451 Vgl. das „Gesetz über Landkrankenkassen, Kassenangestellte und Ersatzkassen“ vom 28. Juni 1919 (RGBl. 1919, 615); vgl. auch: Das Gesetz über die Landkrankenkassen, Kassenangestellten und Ersatzkassen. In: Soziale Praxis, 28(1919)47, Sp. 837 - 838. 452 Die Fortdauer der alten Kräfteverhältnisse stellt, nicht ohne Staunen, ein Sprecher der MSPD und der USPD in der Sitzung vom 24. Juni 1919 fest; vgl.: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Band 327. Stenographische Berichte. Berlin 1920, 1157 ff. 453 Vgl.: Lehmann, Helmut: Der Sturm gegen die Neuordnung in der Krankenversicherung. In. Volkstümliche Zeitschrift für praktische Arbeiterversicherung, 25(1919)7, 73 - 74. 454 Zahlreiche Belege aus den Jahren 1919/20 finden sich im: BA Abt. Potsdam. 90 He 1 Nachlaß W. Heine, Nr. 170; hier geht es vor allem um die Besetzung hervorgehobener politischer Beamtenstellen, insbesondere um Landratsstellen, die allerdings für die weitere Durchdringung des Staatsapparats mit demokratischen Kräften von erheblicher Bedeutung sind. Eine auf Preußen bezogene Statistik der republikanischen Personalpolitik, die durchaus bedeutende Erfolge ausweist, enthält der Beitrag von: Pikart, Eberhard: Preussische Beamtenpolitik 1918 1933. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 6(1958)2, 118 - 137.

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dert werden.455 Durch die Ersetzung des Begriffs „Männer“ durch „Deutsche“ in bestimmten Paragraphen der RVO wird das Frauenwahlrecht für deutsche Staatsangehörige mit dem „Gesetz über Änderung der Wahlen nach der Reichsversicherungsordnung“ vom 13. April 1922 auch in den zentralen Institutionen des Sozialstaats nunmehr ganz generell eingeführt.456 Die Inflation und ein durch mehrere Maßnahmen vergrößerter Kreis von Pflichtversicherten führen dazu, daß das Verhältnis der Ärzte und der anderen Dienst- und Sachleister zur Sozialversicherung weiterhin angespannt bleibt. Die finanziellen Forderungen der entsprechenden Unternehmen bzw. Professionen steigen rascher als die aus den Löhnen und Gehältern zu berechnenden Beitragseinnahmen, dies vor allem bei den Krankenkassen.457 Im Zuge dieser Auseinandersetzungen treten die Ärzte „...von November 1923 bis Januar 1924 in einen Generalstreik, in Berlin dauerte er sogar bis Juni 1924.“458 Im Zuge dieser Auseinandersetzungen entstehen auf der Grundlage früherer Erfahrungen und Forderungen u. a. kasseneigene Ambulatorien mit angestellten Ärzten. Diese Einrichtungen sollen die ärztliche Versorgung der Versicherten in Konkurrenz zu den niedergelassenen Ärzten sichern helfen. Daneben entwickeln sich im Verlaufe der Weimarer Republik in der Regie der Krankenkassen auch Kliniken, Röntgen- und Lichtinstitute, Erholungsstätten, Einrichtungen der Gesundheits- und Sozialberatung, Selbstabgabestellen für Arzneien, Heil- und Hilfsmittel. Der Schwerpunkt dieser Entwicklung liegt zweifellos im Bereich der von der Arbeiterbewegung geprägten Ortskrankenkassen. Alle diese sowohl preissenkend, als auch qualitätsverbessernd bzw. innovativ konzipierten Formen der „Eigenwirtschaft“ rufen bei den im Umfeld und immer auch in Abhängigkeit von der Sozialversicherung operierenden „mittelständischen“ Leistungsanbietern (Ärzten, Apothekern, Optikern usw.) heftige antisozialistisch eingefärbte Reaktionen hervor. In dieser Zeit der Hyperinflation wird den Ärzten vom Gesetzgeber höchste Wirtschaftlichkeit in der ärztlichen Behandlung und Arzneimittelversorgung auferlegt und den Patienten ein Teil der Arzneikosten als „Eigenlast“ zugemutet. Trotzdem geraten die Krankenkassen unter dem weiter wachsenden Druck der Forderungen der Ärzte, Apotheker und sonstigen Anbieter, die ihre Preise am Dollarstand oder Goldwert orientieren, unter dem Druck der Gehaltsforderungen ihrer Mitarbeiter und dem Druck der Zahlungen an Krankengeldempfänger in schwerste Bedrängnis, ohne die Möglichkeit zu haben, als Beitragsgläubiger nun ihrerseits entsprechenden Druck auf die Beitragsschuldner auszuüben.459 455 So verhindert etwa das „Gesetz zur Erhaltung leistungsfähiger Krankenkassen“ vom 27. März 1923 (RGBl. I 1923, 225) die Errichtung von Orts- und Landkrankenkassen nebeneinander, wenn dadurch die Leistungsfähigkeit einer der beiden Kassen bedroht wird. Erleichtert wird die Krankenkassenvereinigung und die Errichtung neuer Betriebskrankenkassen, diese wird von der Zustimmung des Betriebsrates abhängig gemacht. 456 Vgl.: RGBl. I 1922, 455; ähnlich gezielte Gesetze ergehen auch für andere Gebiete der Staatstätigkeit; vgl. z.B. das „Gesetz über die Heranziehung der Frauen zum Schöffen- und Geschworenenamte“ vom 25. April 1982 (RGBl. I 1922, 465). 457 Vgl. dazu: Schulz, H.: Die Erhaltung leistungsfähiger Krankenkassen. In: Reichsarbeitsblatt. Nichtamtlicher Teil, (1923)10, 212 - 214. 458 Vgl.: Tennstedt, Florian: Sozialgeschichte der Sozialversicherung. In: Blohmke, Maria u. a. (Hg.): Handbuch der Sozialmedizin in drei Bänden. Band III. Sozialmedizin in der Praxis. Stuttgart 1976, 385 - 492, hier: 398. 459 Vgl. denselben, ebenda, 398 f.; vgl. auch: Döhler, Marian: Zur Entwicklung und Funktion der Eigeneinrichtungen der Krankenkassen 1900 - 1933. In: Zeitschrift für Sozialreform (1984), Teil I, S. 214 - 235, Teil II, S. 284 - 311, Teil III, S. 354 - 366; ebenso: Hansen, Eckhard et al.: Seit über einem Jahrhundert...: Verschüttete Alternativen in der Sozialpolitik. Köln 1981, bes. 152 ff.; Hofemann, Klaus, Reidegeld, Eckart: Ambulante medizinische Versorgung an den Grenzen von Finanzierbarkeit, Effizienz und Effektivität. In: WSI-Mitteilungen, 39(1986)11, 737 - 745, bes.: 741 f.; zur Haltung der Ärzte auch: Parlow, Siegfried: Über einige Aspekte der politisch-

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Der eigentliche sozialpolitische Skandal der Inflationsjahre mit erheblicher Schicksalsbedeutung für die „kleinen Leute“ aber vollzieht sich im Rahmen der von erheblichem Dilettantismus geprägten „Anpassung“ der Sozialversicherung an den gesunkenen, sodann an den ins Bodenlose stürzenden Geldwert. Diese Versuche treiben in den Jahren von 1919 bis 1923/24 die „Gesetzgebungsmaschine“ an den Rand der Leistungsfähigkeit und bedingen die übergroße Anzahl der in diesem Zeitraum ergehenden Rechtsquellen.460 Um das damit verknüpfte Schicksal alter und invalider Menschen ermessen zu können, mag man sich vor Augen halten, daß die Leistungen an diesen Personenkreis zu dieser Zeit immer noch begriffen werden als „...Zuschuß für den Lebensbedarf in Gestalt einer Rente...“461 Berücksichtigt man die daraus resultierende, schwach dimensionierte Finanzwirtschaft, veranschlagt man den Vermögensverzehr durch die Zeichnung von Staatspapieren und die anlaufende Inflation, berücksichtigt man zusätzlich den stark ausgeweiteten Kreis der Anspruchsberechtigten, den schon im Krieg beginnenden Anstieg der Kranken-, Invalidenund Hinterbliebenenrenten, so steht schon bald Schlimmstes zu befürchten. Ein Blick in die Statistik bestärkt diesen Eindruck. „Statt 64 745 Waisenrenten mußten die Anstalten 1918 solche Zahlungen in 432 954 Fällen leisten; die Zahl der Witwen/Witwer war von 20 675 auf 64 997 angewachsen. Not und Entbehrung ... hatten die Zahl der Krankenrentner stark in die Höhe getrieben (77 861 statt 19 191 noch 1914).“462 Hinzu kommen etwas mehr als eine Millionen Invalidenrentner. Im Jahre 1918 beträgt die Zahl der Altersrenten 217.971 gegenüber erst 84.015 im Jahre 1914. Hier wirkt sich die Herabsetzung der Altersgrenze auf 65 Jahre aus, die seit dem Kriegsjahr 1916 wirksam ist.463 Im Jahre 1923 hat sich die Zahl der Renten, bei kräftigem Anstieg der „Kriegsfolgelasten“, gegenüber 1913 mehr als verdoppelt und es werden rund drei Millionen Renten (1913: 1,26 Millionen) gezahlt.464 Hinzu treten die traditionell finanziell besser gestellten Bezieher von Renten aus der Unfallversicherung. Das drohende Unheil, eine beispiellose Verelendung der Rentner in der Inflation, wird zusätzlich dadurch beschleunigt, daß die Sozialversicherung auf der Einnahmen- bzw. Finanzierungsseite mit Mitteln operiert, die ganz einer verflossenen Epoche relativer geldwirtschaftlicher Stabilität angehören und die angesichts der wahrhaft dynamischen sozialen und geldwirtschaftlichen Prozesse der Inflation465 auch noch verhindern, daß das Lebensniideologischen Haltung deutscher Ärzte in der November-Revolution 1918 bis zum Eisenacher Ärztetag im September 1919 unter besonderer Berücksichtigung der medizinischen Fachpresse. In: Der Arzt in der politischen Entscheidung. Bearbeitet und herausgegeben von Ernst Luther und Burchard Thaler. Halle (Saale) 1967, 49 - 74; vgl. zur Situation der Kassen: Grieser, (Andreas): Wirtschaftlichkeit in der Krankenversicherung. In: Reichsarbeitsblatt. Nichtamtlicher Teil (1923)28, 617 - 619. 460 Vgl. etwa die Liste der legislativen Akte bei: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 422), 547 559. 461 Lippmann: Das Gesetz über Notstandsmaßnahmen zur Unterstützung von Rentenempfängern... In: ReichsArbeitsblatt. Nichtamtlicher Teil (1922)12, 368 - 373, hier: 368. 462 Führer, Karl Christian: Für das Wirtschaftsleben mehr oder weniger wertlose Personen. Zur Lage von Invaliden- und Kleinrentnern in den Inflationsjahren 1918 - 1924. In: Archiv für Sozialgeschichte, 30(1990), 145 - 180, hier: 149 f. 463 Vgl. denselben, ebenda, 150. 464 Vgl.: Grieser, (Andreas): Die Wiederherstellung der Sozialversicherung. In: Reichsarbeitsblatt. Nichtamtlicher Teil, (1924)16, 412 - 413. 465 Hingewiesen werden soll in diesem Zusammenhang auf eine Primärquelle, die zahlreiche Ergebnisse der bundesrepublikanischen Inflationsforschung vorwegnimmt, nämlich auf: Eulenburg, Franz: Die sozialen Wirkungen der Währungsverhältnisse. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 122(1924), 748 - 794; zur Wirkung der Inflation auf die Arbeiterklasse: ebenda, 780 ff.

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veau der Rentenbezieher von der bis in die Monate der Hyperinflation garnicht so ungünstigen Entwicklung der Reallöhne der Arbeiter und Angestellten profitiert. In der Invaliden-, der Hinterbliebenen- und Unfallversicherung existieren wenige fest abgegrenzte (Jahres-) Lohnklassen, denen bestimmte Wochenbeiträge zugeordnet sind und aus denen dann, unter Beachtung der Versicherungsdauer und anderer Faktoren, die Rentenbeträge errechnet werden. Dabei sind höchst „unsoziale“ Tarifausgestaltungen und Leistungsberechnungsverfahren nachweisbar. So bezahlen bei den Altersrenten die untersten Lohnklassen durch relativ hohe Beiträge ihre Rente am teuersten.466 Unter dem „Regime“ der rasch steigenden Löhne und Preise gerät dieses auf Geldwertstabilität hin und „ein für allemal“ konstruierte „Schema“ schon bald zu einer bösen Karikatur. Die Löhne „entwachsen“ den Lohnklassen in Windeseile und tragen bald nur noch zu einem geringen Teil zur Finanzierung der Sozialleistungen bei. Die auf der Basis nominal niedriger Vergangenheitslöhne berechneten Renten verlieren drastisch an Kaufkraft, machen bald nur noch einen mehr oder weniger geringen oder winzigen Bruchteil der inflationär aufgeblähten Durchschnittslöhne aus. Sie reichen schließlich kaum noch für einige oder eine warme Mahlzeit.467 Hinzu kommt, daß die von den Ansprüchen bedrängten, im Vermögen und den Einnahmen geschwächten Sozialversicherungen zunächst auch noch den Versuch machen, am traditionellen Kapitaldeckungsverfahren festzuhalten und „Reserven“ ansammeln, die schon bald, wie das sonstige Vermögen, im Orkus der Inflation verschwinden. Später soll das Aufwertungsgesetz vom 16. Juli 1925 die „...Wiedererlangung der alten Werte nur in Höhe von 10 - 15 v.H. ermöglichen.“468 Vor diesem Hintergrund werden am „Bau der Sozialversicherung“ die verschiedensten (Not-)Reparaturen vorgenommen. Es wird, wie bereits im Jahre 1918, so auch weiterhin mit verschiedenen Formen und Steigerungssätzen der Teuerungszulagen bzw. Beihilfen hantiert. Schon mit einer „Verordnung über die Gewährung von Zulagen zu Renten aus der Unfallversicherung“ vom 5. Mai 1920 finden Elemente der Fürsorge Eingang in die Sozialversicherung indem die Bedürftigkeit im Zusammenhang mit der Gewährung dieser Zulagen geprüft wird.469 Die Lohnklassenschemata werden nach oben ergänzt und für die ganz großen Zahlen geöffnet, die Entgeltgrenzen für die Versicherungspflicht und die Versicherungsberechtigung werden angehoben, verschiedene Geldbeträge werden der Inflation angepaßt. Beiträge werden erhöht. Auch diese „Sanierungsmaßnahmen“ stoßen auf Widerstand der Arbeitgeber. Die viel zu schwerfälligen Erlaß- und Abstimmungsverfahren für rechtsförmige Eingriffe werden durch eine speziell ausgestaltete Ermächtigung der Reichsregierung zu entsprechenden Maßnahmen abgekürzt, ohne daß die sich aus dem Zeitbedarf ergebende Problematik des „Hinterherhinkens“ der Maßnahmen hinter der Inflation ausgeschaltet werden kann. Alle Anpassungsmaßnahmen kommen regelmäßig „zu spät“.470 Ein Gesetz vom 10. November 1922 sieht in der höchsten Verdienstklasse, in der Klasse 13, 466 Diese ganzen Zusammenhänge wären eine eigene versicherungsmathematische Untersuchung wert; vgl. die glaubwürdigen Vorarbeiten dazu bei: Günther, Ernst: Die Tarife in der deutschen Sozialversicherung. In: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche, 45(1921), 131 - 173, hier: 137. 467 Vgl.: Günther, Ernst: Die Anpassung der Sozialversicherung an die Geldentwertung und Lohnsteigerung. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 121(1923), 1 - 54. 468 Bogs, Walter: Die Sozialversicherung...a.a.O.(=Anm. 426), 55; zum Gesetz vgl.: RGBl. I 1925, 636. 469 Vgl.: RGBl. 1920, 878. 470 Dies geschieht durch das „Gesetz über Änderung von Geldbeträgen in der Sozialversicherung“ vom 9. Juni 1922 (RGBl. I 1922, 504); vgl. zu diesem Aspekt auch das Nachwort bei: Günther, Ernst: Die Anpassung...a.a.O. (=Anm. 467), 51 ff.

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bereits einen Jahresarbeitsverdienst von mehr als 720.000 Mark vor.471 Unter den mehr als 360 Gesetzen, Verordnungen, Bekanntmachungen auf dem Gebiet der Sozialversicherung, die in der Zeit vom November 1918 bis Ende des Jahres 1923 allein im Reichsgesetzblatt veröffentlicht werden,472 ragen sicher jene hervor, die nicht zuletzt als Folge des Protests der Arbeitgeber gegen ihre „Mehrbelastung“ durch die Sozialversicherung, dieser vorübergehend den Charakter einer Sonderfürsorge geben. Zu erwähnen ist das „Gesetz über Notstandsmaßnahmen zur Unterstützung von Rentenempfängern der Invaliden- und der Angestelltenversicherung“ vom 7. Dezember 1921.473 Beginnend mit dem „Gesetz über die Unterstützung von Rentenempfängern der Invaliden- und Angestelltenversicherung“ vom 24. April 1922474 wird diese Fürsorgegesetzgebung fortlaufend an die Inflation angepaßt. Diese Gesetze, die mit dem Blick auf eine „unzumutbare“ weitere Belastung der Arbeitgeber und der Versicherten ergehen und die die Arbeitgeber in höchstem Umfang von Lohnnebenkosten entlasten,475 werden von den Gemeinden nur widerwillig und teilweise bewußt falsch ausgeführt, schon weil sie mit einem 20%igen Kostenanteil und mit den Verwaltungskosten belastet werden. 80% der Kosten werden vom Reich übernommen. In bezeichnender Weise ist der Kreis der Unterstützungsberechtigten auf deutsche Staatsangehörige beschränkt. Später wird er auf Staatsangehörige der Österreichischen Republik erstreckt. Saarländer, die außerhalb des Saargebietes in deutschen Gemeinden wohnen, werden jedoch ebenso einbezogen, wie in Deutschland lebende Rentenempfänger aus den „abgetretenen Gebieten“, die sich für die deutsche Staatsangehörigkeit entschieden haben.476 Diese Notgesetzgebung soll den Rentenempfängern zunächst ein „Mindestgesamtjahreseinkommen“ sichern, stellt also einen Unterstützungsbetrag sicher, der sich als Differenz zwischen dem anzurechnenden Arbeits-, Vermögens- und Sozialeinkommen des Rentenbeziehers und diesem Mindesteinkommen ergibt. Es handelt sich um einen Betrag, der vor allem in Großstädten meist von vornherein unter den Sätzen der Armenunterstützung liegt.477 Dieses zu sichernde „Mindesteinkommen“ beträgt nach dem Gesetz vom 7. Dezember 1921 für Empfänger einer Invaliden-, Kranken- und Altersrente bzw. des Ruhegeldes aus der Angestelltenversicherung 3.000 Mark. Auch in dieses Gebäude der Aufstockung des Sozialversicherungseinkommens zu einem „Gesamtjahreseinkommens“ bläst der Sturmwind der Inflation.478 Bald wird diese Meßgröße in einen Höchstsatz verwandelt und damit der „Individualisierung“ Raum gegeben. Gegenüber diesem fortlaufend an die Inflation angepaßten Satz sinken die normalen Rentenleistungen rasch ab, sie werden schon bald so wertlos, daß viele Bezieher sich nicht mehr die Mühe machen, sie vom Postamt 471 Vgl. das „Gesetz über Änderung des Versicherungsgesetzes für Angestellte und der Reichsversicherungsordnung“ vom 10. November 1922 (RGBl. I 1922, 849 ff., hier: 851). 472 So eine Abschätzung bei: Bogs, Walter: Die Sozialversicherung...a.a.O.(=Anm. 426), 51. 473 Vgl.: RGBl. 1921, 1533; vgl. in diesem Zusammenhang auch die frühe Bearbeitung dieser Thematik bei: Feldman, Gerald D.: The Fate of the Social Insurance System in the German Inflation, 1914 to 1923. In: Feldman, Gerald D., Holtfrerich, Carl-Ludwig, Ritter, Gerhard A., Witt, Peter-Christian (Hg.): Die Anpassung an die Inflation. Berlin, New York 1986, 433 - 447. 474 Vgl.: RGBl. I 1922, 464. Zur Erläuterung vgl. den ausführlichen Beitrag von: Lippmann: Das Gesetz über Notstandsmaßnahmen...In: Reichs-Arbeitsblatt. Nichtamtlicher Teil, (1922)12, 368 - 373. 475 Vgl.: Führer, Karl Christian: Für das Wirtschaftsleben...a.a.O.(=Anm. 462), 159. 476 Vgl. genauer: Lippmann: Das Gesetz...a.a.O.(=Anm. 474), 369. 477 Vgl. denselben, ebenda, 369 ff.; diese Notgesetzgebung hat gewisse Ähnlichkeiten mit Modellen, die heute unter dem Stichwort der Mindestsicherung oder des Existenzgeldes diskutiert werden. 478 Vgl. z.B. die Angaben zu den steigenden Zahlenwerten des Gesamtjahreseinkommens bei: Bogs, Walter: Die Sozialversicherung...a.a.O.(=Anm. 426), 51.

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abzuheben.479 Die Beitragsbelastung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer vermindert sich trotz aller Anpassungsmaßnahmen auf einen winzigen Bruchteil der Vorkriegsverhältnisse.480 Trotz allem werden wegen ungünstiger Anrechnungsvorschriften und fehlerhaftem Verwaltungshandeln bestimmte Rentnergruppen von dieser Sonderfürsorge ausgeschlossen.481 Denen, die von ihr erfaßt werden, verzehrt die Inflation auch diese Hilfsquelle. Auch die Heraufsetzung dieses Mindesteinkommens erfolgt letztlich viel zu „gemächlich“. Der Gießener Hochschullehrer Ernst Günther berichtet illustrierend von Zuständen gegen Mitte Mai des Jahres 1923. Eine „Rente“, die höchstens noch ½ Prozent bzw. 12.000 Mark des errechneten Durchschnittseinkommens von 2,4 Millionen Mark im Jahr betragen habe, sei im Bedürftigkeitsfall durch Reich und Gemeinde bis auf 480.000 Mark erhöht worden. „Auch diese 480 000 M. stellen erst höchstens 20 Proz. des Durchschnittslohnes dar, während früher... die Rente einschließlich des Reichszuschusses 33 Proz. des Durchschnittslohnes ausmachte... und während es früher echte Versicherungsrente war, auf die er einen wohlbegründeten Rechtsanspruch hatte... ist es heute zu 97½ Proz. eine bloße Armenrente, die erst nach einem demütigenden Nachweis der Bedürftigkeit bewilligt wird.“482 Unter diesen Bedingungen bietet der teure Apparat der Versicherungsträger mit seinen Tausenden von Beschäftigten das „...groteske Bild einer funktionslosen, aber dennoch auf Hochtouren arbeitenden Bürokratie.“483 Wegen der Wertlosigkeit der Beiträge stehen manche Träger vor dem Zusammenbruch, „... die Heilverfahren waren auf breiter Front reduziert oder ganz eingestellt worden.“484 In dieser Zeit der Entwertung des „Geldkapitalbesitzes“ gerät auch eine weitere Gruppe mehr oder weniger vollständig unter die Räder des Inflationsprozesses, die Gruppe der sogenannten Kleinrentner. Sie umfaßt nach der Legaldefinition des „Gesetz über Kleinrentnerfürsorge“ vom 4. Februar 1923485 im wesentlichen „...bedürftige, alte oder erwerbsunfähige Personen, die infolge eigener oder fremder Vorsorge ohne die eingetretene Geldentwertung oder ohne sonstige Kriegsfolgen nicht auf die öffentliche Fürsorge angewiesen wären...“, weil sie sich durch Arbeit ihren Lebensunterhalt erworben haben oder eine „Tätigkeit in häuslicher Gemeinschaft“ ausgeübt haben, die bei Einstellung fremder Kräfte vergütet werden müßte, oder die über Jahre wesentlich eine wissenschaftliche, künstlerische oder gemeinnützige Tätigkeit ausgeübt haben oder die infolge geistiger oder körperlicher Gebrechen ihren Lebensunterhalt durch Arbeit nicht erwerben konnten. Bei dieser sehr inhomogenen Gruppe handelt es sich überwiegend um Menschen aus dem „alten Mittelstand“ der selbständig Gewerbetreibenden, Handwerker, Landwirte und um Kreise, die keine oder keine ausreichenden Ansprüche auf eine Rente aus der Sozialversicherung erwerben konnten oder wollten und deren Ersparnisse, Privatversicherungen und sonstige Geldeinnahmen für die Lebensführung nunmehr nicht länger ausreichen.486 Aufgehoben werden diese besonderen Fürsorgevorschriften für Sozial- und Kleinrentner mit dem § 32 der „Verordnung über die Fürsorgepflicht“ vom 13. Februar 1924, um dann bald darauf als 479 Vgl.: Führer, Karl Christian: Für das Wirtschaftsleben...a.a.O.(=Anm. 462), 158. 480 Vgl. denselben, ebenda, 159. 481 Vgl. denselben, ebenda, 161. 482 Günther, Ernst: Die Anpassung...a.a.O.(=Anm. 467), 3. 483 Führer, Karl Christian: Für das Wirtschaftsleben...a.a.O.(=Anm. 462), 163. 484 Derselbe, ebenda, 164. 485 Vgl.: RGBl. I 1923, 104. 486 Weitere Einzelheiten bei: Günther, Ernst: Die Anpassung...a.a.O.(=Anm. 467), 16 ff.; vgl. auch die Überblicke bei: Sachße, Christoph, Tennstedt, Florian: Geschichte der Armenfürsorge...a.a.O.(=Anm. 6), 92 ff.

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besondere Bestimmungen, als „gehobene Fürsorge“ in die entsprechende allgemeine Fürsorgegesetzgebung einzufließen.487 Es sind diese Kreise, es sind die Sozial- und Kleinrentner, aus denen die erschütterndsten Klagen und Hilferufe der Inflationsjahre stammen. Bereits im Mai 1919 richten 300 Dresdner Invalidenrentner einen verzweifelten Hilferuf an die Reichsregierung. Eine „kaum sattmachende Mahlzeit“ verschlinge bereits die Hälfte ihres Monatseinkommens und es bestehe keine Möglichkeit des Zuverdienstes mehr.488 Trotz Rentenzulagen sei an den Kauf auch nur der allernotwendigsten, billigsten, markenfreien Lebensmittel nicht zu denken und Ausgaben für Kleidung, Schuhe, Wäsche und dergleichen seien gänzlich ausgeschlossen, erklären Rentner aus dem schlesischen Reichenbach Anfang April 1920.489 Die erst 1923 mit weitgehend als „entehrend“ empfundenen Fürsorgemaßnahmen bedachten Kleinrentner beklagen neben der „verteuerten Lebenshaltung“ die Steuergesetzgebung.490 Die Zinsensteuer, Einkommenssteuer, Ergänzungssteuer, Notsteuer, Kommunalsteuer, die furchtbaren Zuschläge auf indirekte Steuern führten dazu, daß „vier bis fünf Zehntel“ fortgenommen würden, klagt ein Kleinrentner.491 Der „Deutsche Rentnerbund“ registriert in einer Petition Ausbrüche „wildester Aufregung“, die keine Grenzen mehr kenne, als das Reich im Jahre 1921 plant, lediglich 100 Millionen Mark zur „Behebung“ dieser Not bereitzustellen.492 Die Petitionen dieses Verbandes der Kleinrentner werden immer drastischer. Von Verhungern und drohendem Erfrierungstod ist die Rede, von bislang völlig unzureichenden Hilfsmaßnahmen, von Zuständen, die der Verfassung Hohn sprächen.493 Dabei werden auch in diesem Zusammenhang ideologische „Kampfmuster“ deutlich, die sich durch die ganze Republik fortsetzen. Die republikfeindliche politische Rechte macht für das Elend der Rentner die „sozialdemokratischen Schmarotzer“, die sich an die „Staatskrippe“ herandrängten, die „roten Bonzen“ verantwortlich.494 Die sozialreportagehaften Schilderungen aus der Lebenswelt aller der verelendeten Gruppen und Schichten enthalten eine Dramatik, die schlechthin unüberbietbar ist: „...herzzerbrechende Elendsbilder, verzweifelter Existenzkampf, dürftigste Wohnungsverhältnisse, meist nur ein Raum, dunkel und feucht, kein Mittel zum Heizen, oft fehlt selbst die Möglichkeit zur Bereitung einer warmen Mahlzeit. Alles, was Geldwert hat: Schmuck, Wäsche, Kleidung, Einrichtungsgegenstände sind längst verkauft... Unterstützungsmittel reichen nicht im entferntesten aus... angebotene Verbilligungsscheine zum Bezug von Kohlen, Milch usw., meist zurückgewiesen, da auch verbilligte Ware noch unerschwinglich für diese Kreise - bei Witwen

487 Vgl.: RGBl. I 1924, 100; auf die Fürsorge wird in dieser Arbeit nicht weiter eingegangen; vgl. dazu dieselben, ebenda; vgl. die Aufnahme dieser Fürsorgebereiche in die „Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge“ vom 4. Dezember 1924; RGBl. I 1924, 765 - 770, hier: 767 f. 488 Vgl.: Führer, Karl Christian: Für das Wirtschaftsleben...a.a.O.(=Anm. 462), 151 f. 489 Vgl. denselben, ebenda, 152; dort auf den folgenden Seiten weitere Beispiele. 490 Schreiben des Reichsrentner-Verbandes, Ortsgruppe Halle vom 14. Juni 1920 an den Reichstagsabgeordneten Leopold. BA Abt. Potsdam. 90 Mu 3 Nachlaß Reinhard Mumm, Nr. 556, Bl. 17RS. 491 Die Not der Kleinrentner. Ebenda, Bl. 20. 492 An den Reichskanzler Herrn Dr. Wirth, Berlin, den 16. Dezember 1921. Ebenda, Bl. 57. 493 Vgl. die Petition: Hoher Reichstag, Berlin-Friedenau, im September 1922. Ebenda, Bl. 108 + RS. 494 Vgl. auch: Führer, Karl Christian: Für das Wirtschaftsleben...a.a.O.(=Anm. 462), 179 f.; die Belege für diese Argumentation sind für jeden, der die Archive bzw. die einschlägigen Zeitungsbände „durchstreift“, unerschöpflich. Reiches Material insbesondere zu den späten Wahlkämpfen in der Weimarer Republik enthält u.a. auch das Evangelische Zentralarchiv; insbesondere etwa der Bestand 51/N Ia 1,1 und andere Akten aus diesem Bestand.

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noch die nachteiligen Folgen der doppelten Berufs- und Hausarbeit, Haushalt und Kindererziehung notgedrungen vernachlässigt.“495 Während sich die Reichsversicherungsordnung und das davon angeleitete Verwaltungshandeln in der Sphäre immer größerer Zahlen bewegt,496 und die Reichs- und Kommunalfinanzen die zur Fürsorge degradierte Sozialversicherung finanziell „sicherstellen“, kommt ein lang diskutiertes Reformprojekt auf dem Gebiet der Sozialversicherung zum Ziel: Die Vereinheitlichung des Knappschaftswesens durch ein Reichsgesetz. Auch diese auf das Spätmittelalter zurückgehenden landesgesetzlich und durch Satzungen geregelten Hilfsorganisationen für Bergarbeiter, die Knappschaftsvereine, waren durch Kriegsauswirkungen und -folgen schwer belastet in die Inflationszeit geraten.497 Entgegen der in der Arbeiterbewegung „eigentlich“ verbreiteten Forderung nach Verschmelzung von Versicherungszweigen, wird sie unter „Beihilfe“ der Bergarbeitergewerkschaften als weiterer und besonderer Zweig betrachtet und konzipiert. Die Vorarbeiten zur Neuregelung dieses Bereichs ziehen sich bis in die Zeit der Hyperinflation. Vor dem spektakulären Hintergrund der Besetzung des Ruhrgebietes durch die Franzosen und des „Ruhrkampfes“,498 d.h. des „passiven Widerstandes“ gegen diese Militäraktion, wird die Reform des Knappschaftswesens durch das „Reichsknappschaftsgesetz“ vom 23. Juni 1923 auf gesetzgeberischer Ebene vollendet.499 Die konflikthaften Auseinandersetzungen um dieses Gesetz und seine Umsetzung verweisen bereits auf eine mit der Inflation einhergehende grundsätzliche Erscheinung, die für die weitere sozialpolitische Entwicklung von entscheidender Bedeutung ist, auf die wachsende Macht des Unternehmertums. Nachdem gerade noch die gesamte Sozialversicherung „nahezu bedeutungslos“ geworden war und die Festsetzung der Renten zuletzt nur noch den Zweck hatte, die Berechtigten für den Bezug der Fürsorgeleistungen zu legitimieren,500 ersteht sie nach dem 15. November 1923, nachdem die Mark ihren „festen Ruhepunkt“ gefunden hat, die Inflation mithin beendet ist, in atemberaubendem Tempo „neu“. Seit dem 1. Januar 1924, so berich495 So die Anfang 1923 gegebene Schilderung des Oberbürgermeisters von Berlin, Gustav Böß (DDP); zitiert aus: Pohl, Käte: Das Maß ist voll! Not und Kampf der Arbeiterfrauen. Berlin 1924, 26 f. 496 So bestimmt beispielsweise die „Verordnung über Beiträge in der Angestelltenversicherung“ vom 23. November 1923 (RGBl. I 1923, 1116) in der Gehaltsklasse 50 einen monatlichen Beitrag von 10.240 Milliarden Mark; die „Dreizehnte Verordnung über die Versicherungspflicht in der Angestelltenversicherung“ vom 23. November 1923 legt die Versicherungspflichtgrenze auf normalerweise 1.200 Billionen Mark fest (vgl. ebenda, 1116). Die „Zweite Verordnung über Zulagen in der Unfallversicherung für die zweite Hälfte des Monats November 1923“ vom 27. November 1923 (RGBl. I 1923, 1120) verlangt die Zulagenbeträge auf volle Milliarden aufzurunden. 497 Vgl. grundlegend: Geyer, Martin H.: Die Reichsknappschaft. Versicherungsreformen und Sozialpolitik 1900 1945. München 1987, bes. 70 ff.; vgl. auch denselben: The Miners' Insurance and the Development of the German Social State. In: Tenfelde, Klaus (Hg.): Sozialgeschichte des Bergbaus im 19. und 20. Jahrhundert. München 1992, 1046 - 1065. 498 Der „Ruhrkampf“, der mit gewerkschaftlicher Unterstützung geführt wird, ist es schließlich, der den Wert der Mark durch vermehrte Banknotenemission zu seiner Finanzierung ins Bodenlose sinken läßt. Die erheblichen Geldsummen werden vor allem auch für eine spezifische Sozialpolitik aufgewendet. Diese soll, bevor sie gegen Ende des Ruhrkampfes abgebaut wird, insbesondere durch Gelder für die Lohnabsicherung und zur Verhütung bzw. Abfederung von Arbeitslosigkeit ein Zerbrechen des Widerstandswillens und des „sozialen Friedens“ angesichts verbreiteter Not und Arbeitslosigkeit verhindern. Vgl. dazu: Ranft, Norbert: Erwerbslosenfürsorge, Ruhrkampf und Kommunen. Die Trendwende in der Sozialpolitik im Jahre 1923. In: Feldman, Gerald D., Holtfrerich, Carl-Ludwig, Ritter, Gerhard A., Witt, Peter-Christian (Hg.): Die Anpassung …a.a.O.(=Anm. 473), 163 - 201. 499 Vgl.: RGBl. I 1923, 431; vgl. zu den Grundzügen: Geyer, Martin H.: Die Reichsknappschaft...a.a.O.(=Anm. 497), 117 ff.; vgl. auch die Dokumente im BA Abt. Potsdam. O6.01 Präsidialkanzlei, Nr. 164. 500 Aurin: Entwicklungslinien...a.a.O.(Anm. 423), 56.

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tet der Leiter der Abteilung Sozialversicherung im Reichsarbeitsministerium, Ministerialdirektor Andreas Grieser, sei „...die Sozialversicherung wieder in vollem Gange, ihr Haushalt hält sich im Gleichgewicht.“501 Am raschesten vollzieht sich die Anpassung an die neue Währung, an das „Wunder der Rentenmark“, in den Krankenkassen. Der durchschnittliche Beitragssatz ist allerdings von 4% des Grundlohnes in der Vorkriegszeit auf nunmehr 6% gestiegen, ohne daß das zusammenkommende Gesamtbeitragsaufkommen gegenüber der Vorkriegszeit gestiegen ist. Die Invalidenversicherung hat zu Beginn des Jahres 1924 ihre Finanzwirtschaft auf das früher verpönte „Umlageverfahren“ umgestellt und kann so den Vermögensverlust überwinden und muß nicht einmal, da eine über Beiträge finanzierte Vermögensbildung nunmehr unterbleibt, die Beiträge nennenswert erhöhen. In der Angestelltenversicherung sind, da dort die Renten ebenfalls im „Umlageverfahren“ aufgebracht werden, die Beiträge niedriger als in der Vorkriegszeit. Auch die Unfallversicherung wendet unmittelbar nach der Währungsstabilisierung weniger auf als in der Vorkriegszeit.502 Trotz dieser aus der Sicht der Ministerialbürokratie günstigen „Eröffnungsbilanz“ erhebt sich, seitdem sich die Wirtschaft im „Zustand der Deflation“, der „Geld- und Kreditnot“ befindet, eine Debatte um die „Soziallasten“. Der nunmehr „...wertbeständige Beitrag (wird in Wirtschaftskreisen, E.R.) als eine neue soziale Steuer mit beschränkter Ausweichmöglichkeit empfunden.“503 Als Methode der Milderung des „Lastendrucks“ werden Leistungsreduzierungen insbesondere aus Kreisen des Bergbaus und der Industrie gefordert. Unmittelbar nach der Einführung der „Rentenmark“ macht sich darüber hinaus das Bestreben bemerkbar, durch die Beseitigung der „großen Zahlen“ und der ausufernden Lohnklassen und Beitragstaffelungen auch gesetzestechnisch an die Vorkriegsdimensionen der Sozialversicherung anzuknüpfen.504 Da inzwischen die Rechtslage durch die Inflation und sodann durch ihre Beendigung sowie durch die verschiedensten auf die Sozialversicherung einwirkenden Interessen so unübersichtlich geworden war, daß als Spruchinstanzen die Oberversicherungsämter nach „Billigkeit“ urteilten und selbst beste Sachkenner im Jahre 1923 zugeben, sich in der RVO nicht mehr auszukennen,505 werden die entsprechenden Gesetze neu gefaßt. Dies geschieht durch die „Bekanntmachung der neuen Fassung des Angestelltenversicherungsgesetzes“ vom 28. Mai 1924506 und durch die „Bekanntmachung der neuen Fassung der Reichsversicherungsordnung“ vom 15. Dezember 1924.507 Schon mit der zweiten Bekanntmachung vom 9. Januar 1926 erfolgt eine weitere Fassung be501 Grieser, (Andreas): Die Wiederherstellung der Sozialversicherung. In: Reichsarbeitsblatt. Nichtamtlicher Teil (1924)16, 412 - 413, hier: 412. 502 Alle diese Aussagen, die sich auf den Beginn des Jahres 1924 beziehen, nach demselben, ebenda, 412 f.; zur Währungsstabilisierung vgl. die nicht ganz fehlerfreien aber dennoch wertvollen Angaben bei: Sargent, Thomas J.: Die Beendigung vier großer Inflationen. In: Feldman, Gerald D., Holtfrerich, Carl-Ludwig, Ritter, Gerhard A., Witt, Peter-Christian (Hg.): Die Erfahrung der Inflation im internationalen Zusammenhang und Vergleich. Berlin, New York 1984, 34 - 105, zu Deutschland: 57 ff. Später scheinen sich die Beiträge dann doch über den Vorkriegsstand erhoben zu haben; vgl. die etwas unklaren Angaben bei: Führer, Karl-Christian: Für das Wirtschaftsleben...a.a.O.(=Anm. 462), 166. 503 Vgl. die maschinenschriftliche Denkschrift des Reichsarbeitsministers vom August 1925. BA Abt. Potsdam. 06.01 Präsidialkanzlei, Nr. 159, Bl. 94 ff., hier: 94. Die Akte dokumentiert auch die Auseinandersetzung um die Denkschrift und die darin aufgeworfenen Fragen. 504 Vgl. die „Elfte Verordnung über Gehaltsklassen in der Angestelltenversicherung und Lohnklassen in der Invalidenversicherung“ vom 20. Dezember 1923 (RGBl. I 1923, 1235); es sind nun wieder fünf Lohn- und Gehaltsklassen, auf denen dieser Zweig der Sozialversicherung beruht. 505 Vgl.: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 283. 506 Vgl.: RGBl. I 1924, 563. 507 Vgl.: RGBl. I 1924, 779.

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stimmter Abschnitte (Bücher) der RVO.508 Natürlich gewinnen auch die Geldleistungen der Sozialversicherung mit der Währungsumstellung wieder an realem Wert ohne daß allerdings der Charakter der Renten als Zuschüsse zum Lebensbedarf überwunden wird. Zunächst werden lediglich „Einheitsrenten“ gezahlt, bald jedoch setzt eine differenzierte Rentenberechnung wieder ein. Am Ende der Inflation entfällt die während der revolutionären Nachkriegskrise hochwillkommene „beschäftigungsfördernde“ Wirkung des Währungsverfalls. Bedingt durch die Begrenzung der Staatseinnahmen erfolgt mit der Einführung der „Rentenmark“ auch eine zunächst gnadenlose Rationalisierung und Reduktion der Beschäftigung im öffentlichen Dienst und eine Verschlechterung des dort geltenden Dienstrechtes.509 Derartige Maßnahmen seien zur Entlastung der Wirtschaft unumgänglich. Die mit der „Verordnung zur Herabminderung der Personalausgaben des Reichs (Personal-Abbau-Verordnung)“ vom 27. Oktober 1923 einsetzenden Maßnahmen510 betreffen auch die Träger der Sozialversicherung. Es herrscht eine Einstellungssperre. Entlassen werden Angestellte, aber auch Widerrufsbeamte und verheiratete und über den Ehemann „hinreichend versorgte“ weibliche Beamte. Auch „Vorruhestandsregelungen“ für Beamte sind vorgesehen. Löhne und Gehälter werden reduziert. „Einzelne Versicherungsträger konnten bis jetzt (Anfang 1924, E.R.) die Hälfte ihrer Angestellten und Beamten als entbehrlich ausscheiden, ein Beweis, wie stark die Versicherungsmittel mit überflüssiger Verwaltung belastet waren,“ so Ministerialdirektor Grieser aus dem Reichsarbeitsministerium.511 Ein Verbot der Diskriminierung aus politischen, konfessionellen oder gewerkschaftlichen Gründen soll verhindern, daß es im Rahmen der Verwaltungsrationalisierung zu „Säuberungsaktionen“ kommt, wie sie etwa von den Deutschnationalen gegen "Parteibuchbeamte" vorgeschlagen werden oder auch zu Privilegierungen aus den angesprochenen Gründen. Gleichzeitig wird von ministerieller Seite betont, die Zukunftsaufgabe auf dem Gebiet der Sozialversicherungspolitik bestehe nicht in der „Jagd nach unklaren Zielen“ mit unübersehbaren Lasten für die Versicherungsträger und für die Wirtschaft. Kritisch gegenüber der ensprechenden Forderung des Görlitzer Programms der SPD von 1921 vermerkt Grieser: „Schon in der bloßen Forderung einer allgemeinen Staatsfürsorge liegt eine augenblickliche Gefahr für den Bestand der Versicherung. Das unsichere Bessere darf nicht der Feind des sicheren Guten werden.“512 Der Personalabbau wird mit einem Erlaß des Reichsarbeitsministers vom 4. Juni 1925 bei den Versicherungsträgern als beendet angesehen.513 Die veränderten Kräfteverhältnisse zu Beginn der 20er Jahre führen zu einer Repolitisierung der Kern- und Eckpunkte, der großen Zeit- und Streitfragen der Nachkriegssozialpolitik. Die Entscheidungen in der frühesten Nachkriegszeit auf dem Gebiet der Arbeitszeitgesetzgebung und die traditionsreiche Schlichtung514 mit ihrer weitreichenden Bedeutung für das neue, das kollektive Arbeitsrecht, stehen während dieser Inflations- und Kri508 Vgl.: RGBl. I 1926, 9. 509 Vgl. dazu: Sargent, Thomas J.: Die Beendigung...a.a.O.(=Anm. 502), 60 f. 510 Vgl.: RGBl. I 1923, 999. 511 Grieser, (Andreas): Die Sozialversicherung im Jahre 1923. In: Reichsarbeitsblatt. Nichtamtlicher Teil, (1924)8, 182 - 184, hier: 184; die Entlassungen erfolgen auch mit dem Hinweis auf die Belastung und Behinderung von Bürgern und Unternehmern durch „überflüssige“ Beamte bzw. durch die Bürokratie. Vgl. in diesem Zusammenhang: Hattenhauer, Hans: Geschichte des Beamtentums. Köln, Berlin, Bonn, München 1980, 345 f. 512 Grieser, (Andreas): Die Wiederherstellung...a.a.O.(=Anm. 501), 413. 513 Vgl.: Kleeis, Friedrich: Die Geschichte...a.a.O.(=Anm. 412), 259. 514 Vgl. in diesem Zusammenhang die weit zurückreichende Arbeit von: Krips, Ursula: Einigung und Schlichtung vor dem Ersten Weltkrieg. Köln 1959 (Diss. rer. pol., MS).

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senjahre der Republik zur Disposition. Beide Gebiete waren ja Gegenstand der vorkonstitutionellen Rechtsetzung und Vereinbarung gewesen. Die Schlichtung war Gegenstand des Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommens vom 15. November 1918. Sie sollte staatsfern, durch eine entsprechende Ausgestaltung in Kollektivvereinbarungen geregelt werden. Sie hatte sodann einen Niederschlag in der „Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten“ vom 23. Dezember 1918 gefunden. Nach diesen Vorschriften sollte sie subsidiär zu tarifvertraglich vereinbarten Mechanismen über staatliche bzw. amtliche Stellen vollzogen werden, ohne daß Schiedssprüche verbindlich gemacht werden konnten. Schließlich waren durch die „rechtliche Hintertür“ der arbeitsmarktbezogenen Demobilmachungsverordnungen vom 4. und 24. Januar 1919 und zusammenfassende sowie ergänzende Bestimmungen vom 3. September 1919 und 12. Februar 1920 staatliche Zwangsbefugnisse in das Weimarer Arbeitsrecht eingeführt worden.515 „Die Demobilmachungskommissare... konnten nun auch aus eigener Initiative, von Amts wegen, schlichtend in Tarifkonflikte eingreifen und einen Schiedsspruch gegen den Willen der Tarifparteien für verbindlich erklären. In wichtigen Fällen übernahm der Reichsarbeitsminister diese Aufgabe.“516 Dies Zwangselement, das in das „politische Prunk- und Paradestück“ der Weimarer Sozialordnung, in das „soziale und kollektive Arbeitsrecht“517 eingeführt worden ist, sollte einer zerstörerischen Erschütterung des Wirtschaftslebens durch „unvernünftige“ und „kompromißlose“ Klassenkampfmaßnahmen vorbeugen. Bereits hiermit war eine folgenreiche „Politisierung der industriellen Arbeitsbeziehungen in der Weimarer Republik“518 angebahnt, dessen eigentümlicher Ausdruck und Endpunkt der staatliche „Zwangstarif“, der für verbindlich erklärte Schiedsspruch einer Schlichtungsinstanz ist.519 Die angesprochenen Rechtsvorschriften zur Schlichtung, die unter anderem auch Bestimmungen zur „Unabdingbarbeit“ des Tarifvertrages enthalten und die zunächst zwischen Schlichtung und Rechtsprechung, zwischen „Gesamt-“ und „Einzelstreitigkeiten“ keine institutionelle Trennung vornehmen, erweisen sich bald als ebenso neuregelungsbedürftig wie unverzichtbar, da der Weg zur staatlichen Schlichtung vor dem Hintergrund der revolutionären Nachkriegskrise und auch späterhin häufig beschritten wird. Die staatliche Schlichtung von Gesamt- d. h. Tarifstreitigkeiten einschließlich ihres Zwangsmomentes tritt schon früh in erheblichem Maße an die Stelle der Tarifautonomie der Verbände und der verbandlich vereinbarten Schlichtungsverfahren.520 Unverzichtbar erscheint der Regierung eine Neuregelung der Schlichtung auch wegen der Überfülle an Streiks mit teilweise ver-

515 Vgl. ergänzend das Kapitel 1.1 dieser Arbeit. 516 Bähr, Johannes: Staatliche Schlichtung in der Weimarer Republik. Berlin 1989, 22 f. 517 So Begriffsbildungen bei: Fraenkel, Ernst: Reformismus und Pluralismus. Hamburg 1973, 145. 518 So der Untertitel des Beitrages von: Mommsen, Hans: Das Dilemma Tarifpolitik. In: Rudolph, Karsten, Wickert, Christl (Hg.): Geschichte als Möglichkeit. Über die Chancen der Demokratie. Festschrift für Helga Grebing. Essen 1995, 211 - 223. 519 Vgl. auch: Hüllbusch, Ursula: Koalitionsfreiheit und Zwangstarif. In: Engelhardt, Ulrich, Sellin, Volker, Stuke, Horst (Hg.): Soziale Bewegung und politische Verfassung. Stuttgart 1976, 599 - 652; es sei an dieser Stelle zur Verdeutlichung darauf hingewiesen, daß zwischen einem für allgemeinverbindlich erklärten, d.h. einem frei ausgehandelten und nunmehr auch auf nicht organisierte Arbeitnehmer ausgedehnten Tarifvertrag und der Verbindlichkeitserklärung eines Schiedsspruches, der zunächst den Charakter eines Schlichtungsvorschlages hat, streng unterschieden werden muß; vgl.: Umbreit, Paul: Die Schlichtungsordnung. In: Korrespondenzblatt des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, 31(1921)27, 369 - 371, hier: 370. 520 Vgl.: Bähr, Johannes: Staatliche Schlichtung...a.a.O.(=Anm. 516), 25 ff.

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heerenden Wirkungen auf die Wirtschaft und die Versorgung der Bevölkerung.521 Schon in einem preußischen Referentenentwurf vom Frühjahr 1919 und erst recht in einer Erklärung des mehrheitssozialistischen Reichskanzlers Gustav Bauer vom 23. Juli 1919522 wird der mit der Schlichtung verknüpfte Gedanke einer „gesetzlichen Sicherung des Arbeitsfriedens“ in pointierter Weise betont. Unter Ablehnung von Zwangsarbeitsmethoden, die er im kommunistischen Rußland und bei der „Budapester Räteregierung“ ausmacht und unter Hinweis auf die Notwendigkeit der Leistungssteigerung auch und gerade zur Erfüllung des Versailler Vertrages fordert Bauer ein „obligatorisches Schiedsgericht“, „...das die Streiks auf das äußerste Maß und die schwersten Fälle beschränkt.“523 Nach einer Initiative von Reichsarbeitsminister Alexander Schlicke, er bringt „Bestimmungen über Aussperrungen und Arbeitseinstellungen“ in das Kabinett ein, die als unzureichend abgelehnt werden,524 erfolgt die Vorlage eines „Gesetzentwurfs einer Schlichtungsordnung“ mit Schreiben des Reichsarbeitsministers vom 6. März 1920.525 Dieser Entwurf ist eine bürokratische Monstrosität von bzw. in 278 Paragraphen. Er findet nicht den „Beifall“ der Verbände von Arbeit und Kapital. Die „bürgerliche Sozialreform“ rügt den bürokratischen Einschlag. Die Unternehmer lehnen ihn wegen der ausgeprägten Form der Verbindlichkeitserklärung „...als ein Stück jenes ‘Staatssozialismus’ ab, gegen den sie sich durch die Vereinbarung von 1918 rückversichert glaubten.“526 Die Gewerkschaften sehen in diesem, wie es offiziell heißt, „...für unser Wirtschaftsleben besonders wichtige(n) Gesetz...“527 vor allem eine unzulässige Einengung ihres Koalitionsrechts durch Zwangsmaßnahmen.528 Nach diesem Entwurf sind Streiks und Aussperrungen unzulässig, bevor nicht der Schlichtungsausschuß angerufen und eine Einigung zustande gekommen oder ein Schiedsspruch gefällt worden ist (Anrufungszwang). Ist ein nicht bindender Schiedsspruch gefällt, so dürfen Streik oder Aussperrung aus Anlaß dieser Streitigkeit erst begonnen werden, wenn sich in geheimer Abstimmung eine Zweidrittelmehrheit für solche Kampfmaßnahmen ausspricht oder eine noch größere Mehrheit, falls die Satzungen der „wirtschaftlichen Vereinigungen“ dies vorsehen (Abstimmungszwang). Diese Bestimmungen entsprechen damals zwar in vielen Fällen den Satzungen der Verbände von Arbeit und Kapital oder den Bestimmungen in Tarifverträgen. Sie wären aber durch die Annahme dieses Entwurfs einer Schlichtungsordnung in den Rang eines unumgehbaren allgemeinen Gesetzes gehoben worden.529 Der Entwurf vom März 1920 sieht Schlichtungsausschüsse, Landesschlichtungsausschüsse und ein Reichseinigungsamt sowie besondere Schlichtungs-

521 Vgl. auch: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 257. 522 Vgl. dazu denselben, ebenda, 258. 523 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Band 328. Stenographische Berichte. Berlin 1920, 1850. 524 Vgl.: Bähr, Johannes: Staatliche Schlichtung...a.a.O.(=Anm. 516), 38. 525 Dieser maschinenschriftliche Entwurf findet sich im: BA Abt. Potsdam. 06.01 Präsidialkanzlei, Nr. 155, Bl. 17 ff; eine geringfügig gekürzte und geänderte, gedruckte Fassung ebenda, Bl. 67 ff.; vgl. auch: Der Gesetzentwurf der Schlichtungsordnung. In: Soziale Praxis, 29(1920)25, Sp. 553 - 559. 526 Bähr, Johannes: Staatliche Schlichtung...a.a.O.(=Anm. 516), 39; gemeint ist das Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommen vom 15. November 1918. 527 So: Sitzler, (Friedrich): Zum Vorentwurf einer Schlichtungsordnung. In: Soziale Praxis, 29(1920)31, Sp. 713 718, hier: Sp. 714; Sitzler ist Geheimer Regierungsrat und Abteilungsleiter im Reichsarbeitsministerium. 528 Vgl. die abschließenden Aussagen in: Zur Neugestaltung des Schlichtungswesens. II. In: Korrespondenzblatt des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, 30(1920)19, 241 - 243, hier: 243. 529 So die Begründung des Entwurfs einer Schlichtungsordnung. BA Abt. Potsdam. 90 He 1 Nachlaß Wolfgang Heine, Nr. 205, Bl. 63.

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stellen vor. Er regelt Gesamt- und bestimmte Einzelstreitigkeiten. Neben den behördlichen kennt er vorrangig zuständige verbandlich vereinbarte Schlichtungsstellen. Bei Ablehnung durch die betroffenen Verbände wird dieser Entwurf rasch Makulatur. Er steht jedoch am Anfang einer ganzen Kette von Initiativen und Verhandlungen zur Regulierung des Tarif- bzw. Arbeitskampfgeschehens.530 Ihm folgt eine von den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften paritätisch ausgewählte Kommission von 18 Sachverständigen. Diese verfolgt die Linie des Vorrangs der Einigung im Wege der Selbstverwaltung und der Zurückdrängung des staatlichen Einflusses. Ein zweiter offizieller Entwurf, der sich an diese Grundlinie anlehnt, wird nach weiteren internen Vorarbeiten am 19. März 1921 vom Reichsarbeitsminister vorgelegt.531 Dieser beschäftigt ein dreiviertel Jahr lang den „Vorläufigen Reichswirtschaftsrat“ mit seinem sozialpolitischen Ausschuß. Sein Schicksal wird vor allem durch den § 55 besiegelt, der einen Verhandlungszwang vor der Einleitung von Arbeitskampfmaßnahmen vorsieht. Für „gemeinnötige Betriebe“ (erwähnt sind Krankenhäuser, landwirtschaftliche Betriebe während der Erntezeit, Verkehrsbetriebe, Reichsbank, Reichsdruckerei, sowie Betriebe, die die Bevölkerung mit Gas, Wasser oder Elektrizität versorgen) sind verschärfte, den Streik und die Aussperrung betreffende und einschränkende Bestimmungen vorgesehen. Diese Bestimmungen stoßen von Anbeginn auf die Gegenwehr der Freien Gewerkschaften.532 Als der sozialpolitische Ausschuß diese wiederum auf Anrufungs- und Abstimmungszwang beruhenden Bestimmungen auf die gesamte Wirtschaft ausgedehnt sehen will, versteift und verstärkt sich der Widerstand der Arbeiterbewegung. Erst mit Datum vom 11. März 1922 geht dem Reichstag der gegen den Willen der Gewerkschaften verschärfte Entwurf als Drucksache zu.533 Er sieht einen Anrufungs- und Abstimmungszwang und - natürlich - eine Verbindlichkeitserklärung für alle Bereiche der Wirtschaft vor. Diese Schlichtungsvorlage wird zwar noch dem sozialpolitischen Ausschuß des Reichstags überwiesen, aber vor dem Hintergrund der anlaufenden Hyperinflation und dem Krisenszenarium dieser Wochen nicht mehr verabschiedet. Das Ziel der Vermeidung „wilder Streiks“ und mithin der Förderung des „Arbeitsfriedens“ verfolgt die Reichsregierung parallel zu den Verhandlungen um eine Schlichtungsordnung durch den Erlaß von einschlägigen Notverordnungen gemäß Artikel 48 (2) der Weimarer Reichsverfassung. Eine Verordnung des Reichspräsidenten vom 10. November 1920 „betreffend die Stillegung von Betrieben, welche die Bevölkerung mit Gas, Wasser, Elektrizität versorgen“534, erlaubt Arbeitskampfmaßnahmen erst nach Fällung eines Schiedsspruchs und wenn „...seit der Verkündung des Schiedsspruchs mindestens 3 Tage vergangen sind“ - Zeit genug, um diesen zwischenzeitlich für verbindlich zu erklären. Un530 Der bereits leicht veränderte gedruckte, interne Entwurf trägt das Datum vom 15. Mai 1920; vgl.: BA Abt. Potsdam. 06.01 Präsidialkanzlei, Nr. 155, Bl. 67 ff. 531 Vgl.: Bähr, Johannes: Staatliche Schlichtung...a.a.O.(=Anm. 516), 40; vgl. zur maschinenschriftlichen Fassung des Entwurfs BA Abt. Potsdam. 90 He 1...a.a.O.(=Anm. 529), Bl. 1 ff.; zu den internen Vorarbeiten gehört eine weitere Fassung einer Schlichtungsordnung, die mit Schreiben vom 2. Dezember 1920 versandt wird; vgl.: BA Abt. Potsdam. 06.01 Präsidialkanzlei, Nr. 155, Bl. 91 ff., eine umfangreiche Begründung und Erläuterung ebenda: Bl. 227 ff. 532 Vgl.: Zum Entwurf einer Schlichtungsordnung. I. In: Korrespondenzblatt des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, 31(1921)22, 297 - 298; Zur neuen Schlichtungsordnung II. Ebenda, Heft 23, 313 - 315; vgl. auch das Dokument 42 (Sitzung des Bundesausschusses des AGB vom 16. - 18.08.1921) bei: Ruck, Michael (Bearb.): Die Gewerkschaften in den Anfangsjahren...a.a.O.(=Anm. 45), 338 - 380, hier 365 ff. 533 Vgl.: Verhandlungen des Reichstags. I. Wahlperiode 1920. Band 372. Anlagen zu den Stenographischen Berichten. Berlin 1924, Drucks. Nr. 3760. 534 Vgl.: RGBl. 1920, 1865.

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mittelbarer Anlaß für den Erlaß dieser Notverordnung ist ein Elektrizitätsarbeiterstreik in Berlin. Derartige Streiks bedeuten, wie das etwas dramatisierend ausgedrückt wird, den „...Tod für jede Stadt und ihre Bevölkerung, die mit ihrem Leben und ihrer Arbeit auf Gas, Wasser und Elektrizität täglich angewiesen ist.“535 Hinzu tritt in den Augen der Kritiker dieser „wilden Streiks“ die Tatsache, daß sie sich gegen bereits „sozialisierte Unternehmen“, d.h. gegen Eigenbetriebe der öffentlichen Hand richten. Unzulässige Aussperrungen und Streiks werden durch die Verordnung mit Gefängnis oder einer Geldbuße bedroht. Der Reichsminister des Innern wird berechtigt, Notstandsarbeiten und eine Notstandsversorgung zu sichern sowie entsprechende Verwaltungsmaßnahmen durchzuführen. Dazu gehört auch die Herbeiführung der „Befriedigung berechtigter Ansprüche der Arbeitnehmer.“ Arbeitswillige und die die Notversorgung sicherstellenden Kräfte dürfen aufgrund ihrer Tätigkeit in keiner Weise wirtschaftlich benachteiligt werden. So sehr sich die Gewerkschaften gegen dieses „Ausnahmerecht“ stark machen, bleibt diese Sonderregelung für „gemeinnötige Betriebe“ doch die ganze Weimarer Republik hindurch in Kraft und dies, obwohl die Voraussetzung der Notverordnung, die „Störung“ der „öffentlichen Sicherheit und Ordnung“, zumindest vorübergehend entfällt: „Eberts Verordnung vom 10. November 1920 machte also für einen Teil des Wirtschaftslebens den Ausnahmezustand zur Dauereinrichtung.“536 Ebenfalls durch Notverordnung greift der Reichspräsident in das Streikrecht der Beamten anläßlich eines „wilden Streiks“ der Eisenbahner gegen Ende Januar 1922 ein. Die Notverordnung vom 1. Februar 1922 verbietet den Beamten der Reichsbahn „ebenso wie allen übrigen Beamten“ den Streik.537 Obwohl diese Notverordnung aufgrund des Drängens der Gewerkschaften und des Deutschen Beamtenbundes schon am 9. Februar wieder außer Kraft gesetzt wird,538 ist damit die Frage der Zulässigkeit des Beamtenstreiks im Sinne einer „moralischen Unzulässigkeit“ entschieden: Es gibt fürderhin keine Beamtenstreiks mehr in Deutschland.539 So hat sich faktisch die Auffassung durchgesetzt, daß die Beamten zwar die durch den Aufruf des Rates der Volksbeauftragten vom 12. November 1918 und durch Artikel 124 der Weimarer Reichsverfassung und andere „Kundgebungen“ zugesicherte Koalitionsfreiheit genießen, daß aber ein „Streikrecht“ unvereinbar mit der Beamtenstellung sei. Die Beamten sehen sich damit auf eine „anderweitige Vertretung von Standesinteressen“ verwiesen.540 Schließlich sieht eine Richtlinie des Reichsarbeitsministeriums vom 30. November 1920 die Verbindlichkeitserklärung eines Schiedsspruchs bei Vorrang der „gütlichen Einigung“ als zulässig an, wenn „...die notwendige Rücksichtnahme auf das allgemeine Wirtschaftsleben eine Beilegung der Streiktätigkeit dringend verlangt, wie das namentlich bei lebenswichtigen Betrieben der Fall sein wird...“541 Im Februar 1921 535 Vgl. den Artikelentwurf „Die neue Verordnung gegen wilde Streiks“. BA Abt. Potsdam. 90 Gi 1 Nachlaß Johann Giesberts, Nr. 128, Bl. 35 - 37, hier: Bl. 35. 536 Winkler, Heinrich August: Von der Revolution...a.a.O.(=Anm. 159), 406. 537 Vgl. die „Verordnung des Reichspräsidenten, betreffend Verbot der Arbeitsniederlegung durch Beamte der Reichsbahn“ vom 1. Februar 1922 (RGBl. 1922, 187). 538 Vgl. die „Verordnung des Reichspräsidenten, betreffend die Aufhebung der Verordnung vom 1. Februar 1922 über das Verbot der Arbeitsniederlegung durch Beamte der Reichsbahn“ vom 9. Februar 1922. RGBl. I 1922, 205; vgl. auch: Winkler, Heinrich August: Von der Revolution...a.a.O.(=Anm. 159), 406 f.; 539 Vgl.: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30),259. 540 Vgl. dazu etwa die Broschüre: Allekotte: Die Beamten und das Streikrecht. Berlin 1920. BA Abt. Potsdam. 90 Gi 1. Nachlaß Johann Giesberts, Nr. 128, Bl. 56 ff. 541 „Richtlinien für das Schlichtungsverfahren nach den Verordnungen vom 23. Dezember 1918 (ReichsGesetzbl. S. 1456) und 12. Februar 1920 (Reichs-Gesetzbl. S. 218)“ vom 30. November 1920. In: Reichs-

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treten weitere Richtlinien hinzu.542 Letztendlich kennen die Gewerkschaften selbst streikeinschränkende Reglements, insbesondere für den Bereich der „gemeinnötigen Betriebe“.543 Die zwar ausdrücklich als „vorläufig“ bezeichnete, aber dennoch - auf die Jahre der Republik gesehen - endgültige Regelung des Schlichtungswesens erfolgt vor dem Hintergrund schwerster innen- und außenpolitischer Krisenerscheinungen durch die Regierung der Großen Koalition unter Reichskanzler Gustav Stresemann.544 Diese amtiert vom 13. August bis zum 30. November 1923. Als Teilbereich eines umfassenden Krisenmanagements wird die Regelung von Kernfragen des kollektiven Arbeitsrechts nicht zu einer „Sternstunde“ des Parlamentarismus. Die Regierung handelt vielmehr auf der Grundlage des Ermächtigungsgesetzes vom 13. Oktober 1923,545 „...durch das sich der Reichstag aus der eigentlichen sachbezogenen legislativen Arbeit weitgehend zugunsten der Regierung ausschaltete.“546 Dieses Ermächtigungsgesetz erlaubt es der Regierung für einen genau bestimmten Zeitraum Maßnamen auf finanziellem, wirtschaftlichem und „sozialem Gebiete“ zu treffen, welche sie für erforderlich und dringend erachtet. Die Regelung der zu dieser Zeit höchst umstrittenen Arbeitszeitfrage und die Gestaltung der Sozialversicherung sind neben anderen Gebieten von dieser Ermächtigung ausgenommen. Für die Ausklammerung der Arbeitszeitfrage, der Neuregelung des „Achtstundentages“, hatte sich vor allem die unter dem starken Druck der Gewerkschaften stehende Sozialdemokratie eingesetzt. Die damit eröffnete Möglichkeit der Verordnungsgebung ist an den Bestand der Regierung Stresemann oder ihrer parteipolitischen Zusammensetzung gebunden und soll spätestens am 31. März 1924 enden. Unter der Ägide dieser Koalitionsregierung, die allein durch äußeren Krisendruck zustandegekommen war, und unter Zuhilfenahme dieses Instruments der Rechtsetzung, wird nun die „Verordnung über das Schlichtungswesen“ vom 30. Oktober 1923 erlassen.547 Bereits am 3. November 1923 kommt es im Zuge einer Regierungskrise zum Austritt der sozialdemokratischen Minister und damit findet auch die Geltung des Ermächtigungsgesetzes ihr Ende.548 Die Schlichtungsverordnung vom 30. Oktober 1923 „...prägte fortan ganz wesentlich sowohl das Verhältnis zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften als auch das Verhältnis beider zum Staat.“549 Sie ist liberaler als die früheren Entwürfe. Es fehlt der Anrufungs- und Abstimmungszwang sowie die Schutzfrist vor der Einleitung von Arbeitskampfmaßnahmen. Der Vorrang der verbandsautonomen Einigung wird ausdrücklich betont. Die untere Ebene der Schlichtungsapparatur bilden wie bisher paritätische Schlichtungsausschüsse, die von der obersten Landesbehörde bestellt und berufen werden. Für „große Wirtschaftsbetriebe“ kann der Reichsarbeitsminister Schlichter bestellen. Er kann Amtlicher Teil, NF 1(1921)5, 182 - 184, hier: 184; vgl. dazu auch : Neue Richtlinien für das Schlichtungsverfahren. In: Soziale Praxis, 30(1921)9, Sp. 229 - 230. 542 Vgl.: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 260. 543 Vgl. denselben, ebenda, 259. 544 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Dokumente und die Einleitung von: Erdmann, Karl Dietrich, Vogt, Martin (Bearb.): Die Kabinette Stresemann I und II. Band 1. Boppard a. Rhein 1978, bes. die von den Bearbeitern verfaßte Einleitung, Seiten XIX ff. (= Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik). 545 Vgl.: RGBl. 1923 I, 943. 546 Vgl.: Erdmann, Karl Dietrich, Vogt, Martin (Bearb.): Die Kabinette...a.a.O.(=Anm. 544), LI. 547 Vgl.: RGBl. 1923 I, 1043; vgl. zu den internen Abläufen: Bähr, Johannes: Staatliche Schlichtung...a.a.O.(=Anm. 516), 72 ff.; vgl. auch die frühe Untersuchung von: Hartwich, Hans-Hermann: Arbeitsmarkt, Verbände und Staat. Berlin 1967, 26 ff. 548 Vgl.: Bähr, Johannes: Staatliche Schlichtung...a.a.O.(=Anm. 516), 77. 549 Winkler, Heinrich August: Von der Revolution...a.a.O.(=Anm. 159), 685.

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auch „für den einzelnen Fall“ Sonderschlichter bestimmen. In der Praxis sind das meist Beamte aus der „höheren“ Bürokratie. Selten handelt es sich um Vertreter aus der gemäßigten Arbeiterbewegung. Eine derartige Personalwahl pflegt den heftigsten Widerstand der Wirtschaft hervorzurufen. Die vom Reichsarbeitsminister bestellten Schlichter bzw. Sonderschlichter sollen die Schlichtung in den Fällen übernehmen „...die für das Wirtschaftsleben von besonderer Wichtigkeit sind.“550 Die Schlichtungsausschüsse und die Schlichter sollen zunächst Hilfestellung zum Abschluß einer „Gesamtvereinbarung“ (d.h. eines Tarifvertrages oder einer Betriebsvereinbarung) geben. Kommt keine Einigung zustande, so soll eine Schlichtungskammer gebildet werden. Diese fällt, falls es wiederum zu keiner Einigung kommt, einen Schiedsspruch. Dieser stellt im Falle der Annahme einen gültigen Tarifvertrag dar. Im Falle der Ablehnung kann die im Schiedsspruch getroffene Regelung für verbindlich erklärt werden, wenn sie bei gerechter Abwägung „...der Interessen beider Teile der Billigkeit entspricht und ihre Durchführung aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen erforderlich ist.“551 Damit ist eine gewisse staatliche Schutzfunktion gegenüber den Arbeitnehmern und eine Gleichrangigkeit wirtschaftlicher und sozialer Zielsetzungen festgeschrieben. Diese Ausgestaltungsform der Schlichtung kann sich auf den „Geist“ der Weimarer Reichsverfassung stützen. Nach Artikel 151 muß die „Ordnung des Wirtschaftslebens“ ,wie bereits erwähnt, den Grundsätzen der Gerechtigkeit und dem Ziel der Gewährleistung eines „menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen.“ Die Verbindlichkeitserklärung ersetzt die Annahme des Schiedsspruches. Durch staatlichen Verwaltungsakt wird auf diese Weise die Fiktion eines abgeschlossenen Tarifvertrages erzeugt. Schlichtungsausschüsse oder Schlichter können auf „Anruf einer Partei“ oder von Amts wegen tätig werden. Der Reichsarbeitsminister behält sich in der Schlichtungsverordnung vom 30. Oktober 1923 das Recht vor, für die Tätigkeit der Schlichtungsausschüsse und der Schlichter „allgemeine Richtlinien“ zu erlassen. Für die Entscheidung im Einzelfall wird jedoch Unabhängigkeit garantiert. Die Schlichtungsverordnung enthält auch Bestimmungen, die den Weg zu einer Entlastung der Ausschüsse von „Einzelstreitigkeiten“ durch eine noch aufzubauende Arbeitsgerichtsbarkeit weisen.552 Abschließend werden durch die Schlichtungsverordnung nunmehr überholte Vorschriften außer Kraft gesetzt und es werden Ausführungsbestimmungen angekündigt. Von erheblicher praktischer Bedeutung ist die „Zweite Verordnung zur Ausführung der Verordnung über das Schlichtungswesen“ vom 29. Dezember 1923.553 Mit dieser Verordnung wird ein ausgesprochen autoritäres Element in die Schlichtung eingeführt, das durchaus im Gegensatz zu dem Ziel der Schlichtung steht, eine Verständigung der Parteien herbeizuführen. Der § 21(5) der 2. Ausführungsverordnung sieht die Möglichkeit vor, daß in dem Falle, in dem in der Schlichtungskammer eine für das Zustandekommen eines Schiedsspruchs ausreichende Mehrheit nicht zustande kommt, die Stimme des Vorsitzenden entscheidend für die Fällung eines Schiedsspruchs ist. Aus dieser unglücklich formulierten Vorschrift entwickelt sich die höchst umstrittene Praxis des „Alleinentscheids“, des 550 Vgl.: § 2(2); damit stärkt der Reichsarbeitsminister seinen eigenen Einfluß auf die Gestaltung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen durch die Einrichtung einer Zwischeninstanz, die nach dem Vorbild des Reichskommisars für gewerbliche Fragen in Westfalen sowie in Anlehnung an britische Institutionen erfolgt; vgl.: Bähr, Johannes: Staatliche Schlichtung...a.a.O.(=Anm. 516), 79; vgl. zur Agitation der Unternehmerverbände gegenüber Schlichtern aus der Arbeiterbewegung vgl. denselben, ebenda, 84 ff. 551 Vgl.: § 6(1); vgl. auch denselben, ebenda, 81 f. 552 Näheres dazu im Abschnitt 2.2.3 dieses Bandes.. 553 Vgl.: RGBl. 1924 I, 9.

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„Einmannschiedsspruchs“ bzw. „Stichentscheids“. Es ist diese Bestimmung, gegen die sich in erster Linie im Jahre 1928 die Aussperrung in der nordwestlichen Eisen- und Stahlindustrie (der Ruhreisenstreit) richtet. Ein Urteil des Reichsarbeitsgerichts qualifiziert diese Bestimmung am 22. Januar 1929 als unvereinbar mit der Schlichtungsverordnung vom 30. Oktober 1923. Später lebt diese Praxis als Folge eines schweren, mit Todesopfern verbundenen Arbeitskampfes im Ruhrbergbau durch die „Verordnung des Reichspräsidenten über die Beilegung von Schlichtungsstreitigkeiten öffentlichen Interesses“ vom 9. Januar 1931 in veränderter Form (als „Drei-Mann-Schiedsspruch“) wieder auf.554 In Fortsetzung ihrer alten Frontstellung gegen die öffentliche, obligatorische Schlichtung, gegen den behördlichen Tarif- und Schlichtungszwang, nicht jedoch gegen den Gedanken der Schlichtung als solchem, wenden sich die Unternehmer und ihre Verbände insbesondere gegen die Bestimmungen des Schlichtungsrechts, die einen „Zwangstarif“ ermöglichen und agitieren gegen die „staatliche Lohnführerschaft“, den fortgesetzten „Staatssozialismus“, der die „Lebensmöglichkeiten der privat organisierten Volkswirtschaft“ untergrabe. Sie stellen sich auf den Standpunkt der „Vertragsfreiheit“. Für manchen Vertreter aus dem Arbeitgeberlager, bei dem der Gedanke des Tarifvertrages innerlich keine Wurzeln geschlagen hat, beinhaltet dies den sehnlichen Wunsch nach einer Rückkehr zum „individuellen freien Arbeitsvertrag“ des Kaiserreichs und seiner Gewerbeordnungen. So fehlt es kurz nach der Verabschiedung der Schlichtungsordnung nicht an drohenden Stimmen und Untertönen aus dem Arbeitgeberlager. Es entfaltet sich ein grundsätzlicher Kampf um „Liberalismus oder Staatseinfluß“ bei der Gestaltung und Herbeiführung der Entlohungs- und Arbeitsbedingungen.555 Solche Vorstöße werden jedoch nicht nur durch die Neuregelung des Schlichtungswesens sondern auch durch die Reform der Arbeitszeitvorschriften motiviert. Während auch die Schlichtungsverordnung des Jahres 1923 für die politische und gewerkschaftliche Linke den „Raub des Streikrechts“ in Vollendung darstellt und leidenschaftlich abgelehnt wird, sind die Kommentare aus dem gemäßigten Gewerkschaftslager nach gewissen Irritationen zunächst überwiegend verhalten freundlich. Bald jedoch wird auch diesen Kräften die Ambivalenz dieses Instruments deutlich, daß sich ja immer auch gegen gewerkschaftliche Ziele auswirken kann. Schließlich hätten sich die Freien Gewerkschaften, so Ernst Fraenkel, vor 1933 Syndikus des Deutschen Metallarbeiterverbandes, wenn auch widerstrebend, dazu durchgerungen, den Zwangstarif mit halbem Herzen und schlechten Gewissen zu bejahen. Manche Spannung und Spaltung innerhalb der Arbeiterbewegung sei im Zuge dieser Entwicklung allerdings noch einmal vertieft worden.556 Das Schlichtungsverfahren ermöglicht es den Gewerkschaften, sich „aus der Verantwortung zu stehlen“, etwa radikale Forderungen im Wettstreit um die Sympathien und die Folgebereitschaft der Arbeiter und Angestellten zu stellen und nachträglich den „kapitalistischen Staat“ für ihre Nichterreichung verantwortlich zu machen. Dieses Verfahren hat zweifellos dazu beigetragen, die Legitimität der politischen Ordnung zu untergraben. Ähnliche Verfahrensweisen werden auch auf der Arbeitgeberseite praktiziert. Auch für Vertreter der Arbeitgeber ist es „verführerisch“, sich mit der Ablehnung eines „völlig unakzeptablen“ Schieds554 Vgl.: Hartwich, Hans-Hermann: Arbeitsmarkt...a.a.O.(=Anm. 547), 30; vgl. zur Verordnung: RGBl. 1931 I, 1; vgl. dazu auch mit einem umfangreichen Verzeichnis von Primärliteratur: Huber, Ernst Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Band VI...a.a.O.(=Anm. 227), 1123 ff. 555 Vgl. dazu und zu einer entsprechenden Intervention der „Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“ beim Reichsarbeitsminister: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 313 ff. 556 Vgl.: Fraenkel, Ernst: Reformismus ...a.a.O.(=Anm. 517), 151 f.

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spruchs zu brüsten und dadurch Kampfkraft und Überzeugungstreue zu demonstrieren sowie öffentlich den „unvernünftigen“ Staat zu schelten. Letztlich fehlender Einigungswille und Einigungszwang und die Mechanismen des Abschiebens der Lohnfindung auf den Staat führen dazu, daß aufgrund der taktischen Vorteile aus einem Instrument, das als „seltene Ausnahme“ gedacht ist, ein doch relativ häufig beschrittener „Regelzustand“ wird.557 Weder bei der historischen Darstellung der Neuregelung des Schlichtungswesens, noch bei jener nun zu leistenden Analyse der Neuregelung der Arbeitszeit darf außer Acht gelassen werden, daß ab 1922 die Grenzen des „inflationären Wiederaufbaus in Deutschland“ erreicht,558 und daß die sozialpolitischen Kontroversen vor diesem Hintergrund zu interpretieren sind. Hinzu kommt, daß die Reform der Arbeitszeitvorschriften sich auf ein Symbol der Revolution, auf den „Achtstundentag“ bezieht. Der „behelfsmäßigen“ Verankerung des Tarifvertrags- und Schlichtungswesens nicht unähnlich, hatte auch der „Achtstundentag“ seinen Niederschlag „nur“ in der Not- und Übergangsgesetzgebung sowie, mit dem Vorbehalten der Internationalisierung, im Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommen gefunden. Vor allem die bereits erwähnten Demobilmachungsverordnungen hatten dieses Rechtsgebiet zweifellos für eine Übergangszeit gestaltet. Eine ganze Kette von Verhandlungen und Gesetzgebungsvorarbeiten sind in den Jahren von 1919 bis 1922 zu verzeichnen, einschließlich einer heftigen Diskussion entsprechender Arbeitszeitgesetzentwürfe im „vorläufigen Reichswirtschaftsrat“.559 Einen besonderen Akzent erhalten die Auseinandersetzungen dadurch, daß die „Internationale Organisation der Arbeit“ auf ihrer Gründungskonferenz in Washington vom 29. Oktober bis 29. November 1919 eine Arbeitszeitkonvention beschlossen hat, die die Arbeitszeit in gewerblichen Betrieben auf acht Stunden täglich und achtundvierzig Stunden wöchentlich begrenzt.560 Die relativ starr ausgelegte und nur wenige Ausnahmen ermöglichende Regelung findet allerdings, wie 1924/25 festgestellt wird, in Staaten mit industrieller Bedeutung „...formal so gut wie keine Anerkennung...“561 Deutschland macht dabei keine Ausnahme und begründet das vor allem mit den „Verlusten, Lasten und Bindungen“ infolge des Krieges und mit seiner ungeklärten wirtschaftlichen Zukunft sowie mit dem Abseitsstehen anderer Industrieländer.562 In der zweiten Hälfte des Jahres 1923 entbrennt der Streit um den „gesetzlichen Achtstundentag“ in aller Schärfe. Ermutigt durch den gravierenden Machtverlust der Gewerkschaften, die sich leeren Kassen und schwindenden Mitgliederzahlen gegenüber sehen,563 557 Vgl. zu differenzierten statistischen Angaben: Hartwich, Hans-Hermann: Arbeitsmarkt...a.a.O.(=Anm. 547), 212 ff. 558 Vgl. dazu mit zahlreichen weiteren Hinweisen: Feldman, Gerald D., Steinisch, Irmgard: Industrie und Gewerkschaften 1918 - 1924. Die überforderte Zentralarbeitsgemeinschaft. Stuttgart 1985, 94 ff. 559 Vgl. in diesem Zusammenhang die vorbildhafte Untersuchung von: Bischoff, Sabine: Arbeitszeitrecht ...a.a.O.(=Anm. 79), 40 ff.; vgl. auch: Preller, Ludwig: Sozialpolitik ...a.a.O.(=Anm. 30), 269 ff. 560 Vgl.: Ritzmann, Friedrich: Internationale Sozialpolitik, ihre geschichtliche Entwicklung und ihr gegenwärtiger Stand. Mannheim, Berlin, Leipzig 1925, 108 ff. 561 Derselbe, ebenda, 111. 562 Vgl. auch: Verhandlungen des Reichstags. III. Wahlperiode 1924. Anlagen zu den Stenographischen Berichten Nr. 264 bis 569. Berlin 1925, Anlage Nr. 442. 563 Durch die Zuwendungen ausländischer Gewerkschaftsorganisationen, aber auch durch geheime Zuwendungen des Reichs und anderer Staatsinstanzen im Zuge des Ruhrkampfes und in den anschließenden Wochen wird ein noch größeres finanzielles und damit letztlich auch organisatorisches Debakel verhindert. Die Staatsgelder werden im Hinblick auf die Mitwirkung der Gewerkschaften am Ruhrkampf und mit Blick auf die Gewerkschaften als Ordnungsmacht in einer innen- und außenpolitisch sehr labilen Situation gegeben und mit diesem Argumenten von den Gewerkschaften auch eingefordert. Vgl. dazu aus revolutionärer Perspektive und eben deshalb vor allem mit den Begriffen des „Verrats“ und der „Korrumpierung“ argumentierend den Beitrag von: Ersil, Wilhelm: Über die

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wird der Kampf gegen die „sozialen Errungenschaften der Revolution“ von Seiten der Industrie verschärft. Am 9. September 1923 fordert der alte Protagonist der Zentralarbeitsgemeinschaft, der in der radikalen Linken verhaßte und zum Übeltäter dämonisierte Hugo Stinnes,564 öffentlich zwei Stunden unbezahlte Mehrarbeit. Der Vorsitzende der „Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“, Fritz Tänzler, verlangt vom Reichsarbeitsminister eine Ergänzung der Demobilmachungsverordnungen mit dem Ziel, tarifvertraglich vereinbarte Überarbeit unbeschränkt zu ermöglichen.565 Bezogen auf unterschiedlich „gedeutete“ und akzeptierte Bestands- und Funktionsprobleme der Wirtschaft und eingebettet in eine Gemeinwohlrhetorik, steht im Mittelpunkt der auf verschiedenen Ebenen und vor verschiedenen Foren ausgetragenen grundsätzlichen Debatte um die Arbeitszeit bzw. den „Achtstundentag“, die Frage nach der Produktivität der Arbeit unter verschiedenen Arbeitszeitregimen .566 Da es unter der Regierung Stresemann zu keiner Entscheidung in der Arbeitszeitfrage kommt, führen die Bergbauunternehmer an der Ruhr in Form eines Arbeitszeitdiktats ab dem 9. Oktober 1923 eigenmächtig die Vorkriegsarbeitszeit von 8,5 Stunden einschließlich Ein- und Ausfahrt wieder ein und setzen sich damit über Gesetze und Tarifverträge hinweg,567 stoßen allerdings auch auf den Widerstand der Regierung.568 Darauf folgende Verhandlungen führen schließlich zu einem Überschichtabkommen.569 Während schon im Verlaufe dieser Diskussionen und Aktionen deutlich wird, wie sehr sich der Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns den Argumenten und Wünschen der Wirtschaft geöffnet hat und ein letztendlich scheiternder Gesetzentwurf vom 12. Oktober 1923 diesen Eindruck noch einmal verstärkt,570 das Ziel eines zehnstündigen Normalarbeitstages scheint in dem Entwurf auf, laufen am 17. November 1923 die Demobilmachungsverordnungen über die Arbeitszeit endgültig aus.571 Damit gelten erstmals nach Kriegsniederlage und Revolution vorübergehend wieder die Arbeitszeitvorschriften des Kaiserreichs mit ihrem Schwerpunkt auf dem Frauen- und Kinderarbeitsschutz. Nachdem am 30. November 1923 nach mehreren Anläufen das Minderheitskabinett unter dem Zentrumsführer Wilhelm Marx zustande kommt,572 erhält es vom Reichstag am 8. Dezember 1923 mit Hilfe der unter erheblichen Druck gesetzten Sozialdemokratie als politische Machtgrundlage ein Ermächtigungsgesetz.573 Dieses Gesetz ermöglicht es der finanzielle Unterstützung der rechtssozialistischen und bürgerlichen Gewerkschaftsführer durch die Reichsregierung im Jahre 1923. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft,6(1958)6, 1221 - 1248. 564 Vgl. zu seiner Person neuerdings: Feldman, Gerald D.: Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870 1924. München 1998. 565 Vgl.: Bischoff, Sabine: Arbeitszeitrecht...a.a.O.(=Anm. 79), 74 f. 566 Vgl. dazu: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 273. 567 Vgl.: Bähr, Johannes: Staatliche Schlichtung...a.a.O.(=Anm. 516), 69; vgl. auch: Jahrbuch des Allgemeinen Deutschen Gewerkschafts-Bundes. 1923. Berlin 1924, 63 ff. 568 Vgl. grundlegend: Feldman, Gerald D., Steinisch, Irmgard: Die Weimarer Republik zwischen Sozial- und Wirtschaftsstaat. Die Entscheidung gegen den Achtstundentag. In: Archiv für Sozialgeschichte, 18(1978), 353 439, hier: 393 ff. 569 Vgl.: Jahrbuch...a.a.O.(=Anm. 567), 64. 570 Vgl.: Bischoff, Sabine: Arbeitszeitrecht...a.a.O.(=Anm. 79), 87 ff. 571 Vgl. dieselbe, ebenda, 93 ff.; damit ist auch eine Resolution des Reichstags aus dem Jahre 1922 hinfällig geworden, die die Reichsregierung ersuchte, die entsprechenden Gesetzentwürfe so zeitig dem Reichstag vorzulegen, daß sich eine weitere Verlängerung von Demobilmachungsverordnungen erübrige; vgl. den Erlaß des Reichsarbeitsministers III B 5557/22 vom 14. Juni 1922. BA Abt. Potsdam. 04.01 Vorläufiger Reichswirtschaftsrat, Nr. 723, Bl. 25. 572 Vgl. dieselbe, ebenda, 96. 573 Vgl. dazu die Einleitung bei: Abramowski, Günter (Bearb.): Die Kabinette Marx I und II. Band 1. Boppard a. Rhein 1973, VII ff.

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Regierung „...die Maßnahmen zu ergreifen, die sie im Hinblick auf die Not von Volk und Reich für erforderlich und dringend“ erachtet. Es ergeht kurz nach einer Situation, in der das Reich durch Separatismus, Aufstands- und Putschversuche in einem Bürgerkrieg zu versinken droht574 und in der kritische Beobachter für den Bestand der Weimarer Republik „keine fünf Rentenmark“ mehr gegeben hätten.575 Es ist im Unterschied zum Ermächtigungsgesetz vom 13. Oktober 1923 nicht an den Bestand einer bestimmten Regierung oder ihre parteipolitische Zusammensetzung gebunden. Es tritt aber gemäß § 2 am 15. Februar 1924 außer Kraft. Vor diesem Hintergrund wird Mitte Dezember ein Entwurf einer Verordnung über die Arbeitszeit den zuständigen Ausschüssen unterbreitet. Dieser stellt „...mehr denn je die Erfordernisse der Produktion in den Vordergrund.“576 Dieser Entwurf, an dessen Ausgestaltung im Sinne der Verhinderung „des Schlimmsten“ die vier Spitzengewerkschaften unter nie ganz geklärten Umständen am 5. Dezember 1923 mitwirken, wird zur Grundlage der am 19. Dezember 1923 im Kabinett verabschiedeten und am 1. Januar 1924 in Kraft tretenden „Verordnung über die Arbeitszeit“ vom 21. Dezember 1923.577 Diese gibt wie die Schlichtungsordnung vor, eine vorläufige Regelung zu sein. Sie bleibt wie jene, trotz aller Vorstöße mit dem Ziel zu einer gesetzlichen Neuregelung zu kommen, für die gesamte Zeit der Weimarer Republik mit gewissen Modifikationen stilbestimmend.578 In beinahe demagogisch zu bezeichnenden Formulierungen wird der am 17. November 1923 aufgehobene Rechtszustand der Demobilmachungsverordnungen über die Arbeitszeit der Arbeiter und Angestellten „wiederhergestellt“. Insbesondere dürfe, so die Arbeitszeitverordnung, bei den in den Demobilmachungsverordnungen bezeichneten Arbeitnehmern „...die regelmäßige werktägliche Arbeitszeit, ausschließlich der Pausen, die Dauer von acht Stunden nicht überschreiten.“ Dann jedoch folgen derartig viele Ausnahmen und Arbeitszeitverlängerungsmöglichkeiten, daß von diesem Grundsatz kaum noch etwas übrig bleibt. Die Arbeitszeitverlängerungen können teilweise einseitig vom Arbeitgeber mit oder ohne Anhörung der Betriebsvertretung, teilweise kraft Tarifvertrags, teils, bei nicht vorhandenen Tarifverträgen, mit Genehmigung der Berg- bzw. Gewerbeaufsichtsbeamten verfügt bzw. vereinbart werden.579 „Für über 70 Prozent der arbeitenden Bevölkerung bestand Anfang 1924 die achtstündige Normalarbeitszeit ... nur noch auf dem Papier.“580Aus dringenden „Gründen des Gemeinwohls“ kann nunmehr sogar der Zehnstundentag überschritten werden. Dadurch, daß diese Arbeitszeitverordnung dem Tarifvertrag einen bedeutenden Stellenwert im Rahmen der Arbeitszeitfeststellung einräumt und dadurch, daß die Bedeutung von „Gesamtvereinbarungen“ in den „Ausführungsbestimmungen zur Verordnung über

574 Vgl. als Kurzfassung dieser „Destabilisierungserscheinungen“: Longerich, Peter: Deutschland 1918 - 1933. Hannover 1995,140 ff. 575 So: Rosenberg, Arthur: Geschichte der Weimarer Republik. 14. unveränderte Aufl. Frankfurt a.M. 1972, 154 576 Bischoff, Sabine: Arbeitszeitrecht...a.a.O.(=Anm. 79), 97. 577 Vgl.: RGBl. 1923 I, 1249; zum genauen Hergang dieser Verabschiedung vgl. das Protokoll der Kabinettssitzung vom 19. Dezember 1923 bei: Abramowski, Günter (Bearb.): Die Kabinette...a.a.O.(=Anm. 573), 135 - 143, hier: 138; zur „Beteiligung“ der Gewerkschaften vgl.: Bischoff, Sabine Arbeitszeitrecht...a.a.O.(=Anm. 79), 98 sowie: Jahrbuch...a.a.O.(=Anm. 567), 66 f. 578 Vgl. dazu: Bischoff, Sabine: Arbeitszeitrecht...a.a.O.(=Anm. 79), 127 ff.; vgl. auch den sehr umfangreichen „Entwurf eines Gesetzes über die Arbeitszeit gewerblicher Arbeiter“ nebst Begründung und einem Anhang „Übersicht über die Regelung der Arbeitszeit im Ausland“ im BA Abt. Potsdam. 90 He 1 Nachlaß Wolfgang Heine, Nr. 232, Bl. 1 ff. 579 Vgl. die Zusammenstellung bei: Bischoff, Sabine: Arbeitszeitrecht...a.a.O.(=Anm. 79), 100 f. 580 Dieselbe, ebenda, 101.

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die Arbeitszeit“ vom 17. April 1924 noch einmal unterstrichen wird,581 wird der Schlichtung ein erheblicher Einfluß auf die Arbeitszeitgestaltung eingeräumt, zumal in Anbetracht der extrem gegensätzlichen Auffassungen von Gewerkschaften und Industrie in Fragen der Arbeitszeit. Angesichts der Tatsache, daß ein Teil der Unternehmerschaft auf die Zerstörung des Tarifvertragswesens zielstrebig hinarbeitet, wird damit ein weiteres Mal trotz der gravierenden Arbeitszeitverschlechterungen der Kern des kollektiven Arbeitsrechts, der Tarifvertrag, befestigt und „gerettet“.582 Das Gebäude der Weimarer Sozialpolitik, insbesondere das Neue an ihr, der anerkennende und gleichberechtigende Einbau der Verbände von Arbeit und Kapital ist damit in den Grundstrukturen noch erhalten, wenngleich unter Beimischung kräftiger „staatsfürsorgerischer“ und staatsautoritärer Elemente. Während der Staats- und Wirtschaftskrise 1923/24, während der ungeheuren Flucht von enttäuschten Arbeitern und Angestellten aus den Gewerkschaften und einer erschreckend ansteigenden Arbeitslosigkeit, vor dem Hintergrund von zahlreichen „wilden Streiks“, die sich in erheblichem Umfang gegen Arbeitszeitverlängerungen richten, und von Aussperrungs- und Entlassungsaktionen der Unternehmer583 kommt es zu der bis zu diesem Zeitpunkt radikalsten Gegenwehr und Agitation der Unternehmer und ihrer Verbände gegen die staatliche Sozialpolitik überhaupt. Nach den vergeblichen Bemühungen zur Verhinderung der Schlichtungsordnung wird das Angebot gemacht, die Arbeitsgemeinschaft mit den fundamental geschwächten Gewerkschaften neu zu festigen, um so einen Weg zur Reduzierung der Löhne und Verlängerung der Arbeitszeiten zu finden. Nach dem Inkrafttreten der beiden sozialpolitischen Verordnungen erfaßt die Unternehmerschaft eine ungeheure Erbitterung und die Tatsache, daß die Arbeitszeitverordnung ihren Wünschen weit entgegen kommt, tut dem keinen Abbruch. Sozialreformerisch eingestellten Beobachtern drängt sich der Eindruck auf, daß am Ende der nun anlaufenden Bestrebungen, nach dem angestrebten Wegfall der staatlichen Schlichtung und des Tarifvertrags, die Auflösung des als „wirtschaftsfeindlich“ verschrieenen Reichsarbeitsministeriums stehen solle.584 Tatsächlich lassen Meinungsäußerungen aus dem sich radikalisierenden und polarisierenden Unternehmerlager diese Deutung zu. Beschlüsse ihrer Spitzenorganisationen rufen unverhohlen zur Sabotage des Schlichtungswesens auf.585 Zahlreiche Äußerungen und Handlungen von Unternehmern und Unternehmerverbänden aus „jenen Tagen überhitzter Kampfpsychose“ nähren den Vorwurf der „sozialen Reaktion“. In der „Deutschen Arbeitgeber-Zeitung“ erscheint ein Aufsatz unter dem Titel „Los vom Tarifvertrag“. Ein anderer Beitrag im selben Blatt ersehnt „freie Hand“ im Wirtschaftsleben und verkündet am 6. Januar 1924, der Arbeitgeber werde sich in Zukunft die Festlegung der Arbeitszeit und der Arbeitsbedingungen selbst vorbehalten

581 Vgl.: RGBl. 1924 I, 416. 582 Ähnlich: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 316. 583 1924 wird die Höchstzahl der Ausgesperrten während der gesamten Weimarer Republik erreicht; vgl.: Petzina, Dietmar, Abelshauser, Werner, Faust, Anselm: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch...a.a.O.(=Anm. 21), 114. Reiches Material zur wirtschaftlichen und sozialen Situation dieser Zeit ist in Berichten über die allgemeine Lage des Bergbaues enthalten. Diese werden auf der Grundlage eines Erlasses vom 10. März 1919 vom Reichsarbeitsminister eingefordert, im Ministerium gesammelt und ausgewertet. Dort finden sich auch Hinweise auf Streikaktionen gegen Arbeitszeitverlängerungen und auf die drastischen Reaktionen der Unternehmer; vgl. z.B. die Berichte im: BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 82 und 83. 584 Vgl.: H.: Eine neue Phase im Kampf gegen die heutige Sozialpolitik. In: Soziale Praxis, 33(1924)4, Sp. 68 70. 585 Vgl.: Büren, Herbert: Arbeitgeber und Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 147), 227.

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und alles von sich aus regeln.586 Ein Präsidialmitglied des „Reichsverbandes der Deutschen Industrie“ bekundet im offiziellen Organ des „Verbandes Deutscher Arbeitgeber“ seine ausgesprochene Tariffeindschaft. Anläßlich des Inkrafttretens der Arbeitszeitverordnung droht er mit dem „Recht der Notwehr“. Dieses werde, „...wenn nicht abgelassen wird von diesen die Wirtschaft ertötenden Maßnahmen, zu dem führen, was mit aller Kraft bis zum letzten, aber auch nur bis zum letzten Augenblick vermieden werden soll, zur Mißachtung der Gesetze.“587 Es ist ein Beitrag in der „Berliner Börsenzeitung“ vom 30. Dezember 1923 der gegen das mit der Revolution entstandene Reichsarbeitsministerium mobil macht. Er verlangt die Auflösung dieses Ministeriums und die „...Vereinigung der unentbehrlichen Ressorts mit dem Reichswirtschaftsministerium.“588 Angesichts der wankenden Macht der Arbeiterbewegung sehen sich bestimmte Unternehmergruppen nur noch durch die Eingriffe des Staates von dem Ziel getrennt, eine Revision der sozialpolitischen Errungenschaften von 1918/19 vorzunehmen und „dieses Hemmnis soll beseitigt werden“, ist in einem Kommentar der Frankfurter Zeitung vom 1. Februar 1924 zu lesen.589 An wahrhaft „prominenter“ Stelle, in der Verbandszeitschrift „Arbeitgeber“ nämlich, darf der bekannte Sozialreformer Heinrich Herkner, ordentlicher Professor der Staatswissenschaften an der Universität Berlin und Mitglied des „Vorläufigen Reichswirtschaftsrats“, zunächst seine Leser auf „sozialpolitische Wandlungen in der wissenschaftlichen Nationalökonomie“ hinweisen, d.h. über eine „wirtschaftsfreundlichere“ Haltung mancher, zumal jüngerer „gelehrter Volkswirte“ informieren.590 Sodann, im Märzheft des Jahres 1924, lobt er die Arbeitsgemeinschaft, und geißelt die „staatssozialistische Entartung der Sozialpolitik von heute.“591 Diese und andere Beiträge sowie kontroverse Diskussionen von sozialpolitischen Grundsatzfragen592 lösen in der Verbands-, Fach- und allgemeinen Presse ein erhebliches Echo aus. In zahlreichen Artikeln der „sozialen Reaktion“ wuchert eine konzeptionelle Gemeinschaftsrhetorik und verspricht alternative Wege zur Lösung der „sozialen Frage“.593 Überhaupt gerät der traditionelle „Kathedersozialismus“, der sich so lange, so intensiv und für die praktische Sozialpolitik so fruchtbar überwiegend mit der „Arbeiterfrage“ auseinandergesetzt hatte, in eine ernstzunehmende Krise. Kontroversen zwischen den Sozialreformern führen dazu, daß Lujo Brentano „...1923 aus dem Verein für Sozialpolitik austrat, den er 1872 mitbegründet hatte.“594 Die Unternehmeroffensive seit dem Spätherbst des Jahres 1923, die über die Sozialpolitik hinaus teilweise auch offen auf eine Beseitigung des republikanisch-parlamentarischen Systems zielt,595 stößt allerdings bald auch auf Gegenkräfte und verwickelt sich in „Widersprüche“. Namhafte Staatswissenschaftler an den badischen 586 Vgl.: Bähr, Johannes: Staatliche Schlichtung...a.a.O.(=Anm. 516), 93 f. 587 H.: Eine neue Phase im Kampf...a.a.O.(=Anm. 584), Sp. 70; es handelt sich um den Beitrag von: Guggenheimer, Emil: Die neue Arbeitszeitverordnung. In: Der Arbeitgeber, 1(1924)2, 17 - 18. 588 Zitiert aus: H.: Eine neue Phase...a.a.O.(=Anm. 584), Sp. 69. 589 Vgl.: Bähr, Johannes: Staatliche Schlichtung...a.a.O.(=Anm. 516), 94 f. 590 Vgl.: Herkner, H.(einrich): Sozialpolitische Wandlungen in der wissenschaftlichen Nationalökonomie. In: Der Arbeitgeber, 13(1923)3, 34 - 35 sowie derselbe: Zur Kritik meiner Kritiker. Ebenda, Heft 8, 113 - 115. 591 Vgl.: Herkner, Heinrich: Sozialpolitik oder Staatssozialismus. In: Der Arbeitgeber, 14(1924)5, 73 - 75. 592 Vgl. z.B. die Diskussion im In- und Ausland über Deutschlands „soziales Dumping“ zur Eroberung bzw. Rückeroberung von Weltmarktpositionen; etwa: Wunderlich, Frieda: Deutschlands „soziales Dumping“. In: Soziale Praxis, 23(1924)9, Sp. 161 - 164 und die sich daran anschließenden „Wortmeldungen“ in der Sozialen Praxis. 593 Vgl. dazu allgemein: Schulz, Günther: Bürgerliche Sozialreform in der Weimarer Republik. In: Bruch, Rüdiger vom (Hg.): „ Weder Kommunismus noch Kapitalismus“. München 1985, 181 - 217. 594 Derselbe, ebenda, 195; zur Ankündigung seines Austritts vgl.: Brentano, Lujo: Der Ansturm gegen den Achtstundentag und die Koalitionsfreiheit der Arbeiter. V. In: Soziale Praxis, 32(1923)24, Sp. 551 - 554, hier: 554. 595 Vgl.: Mommsen, Hans: Das Dilemma Tarifpolitik...a.a.O.(=Anm. 518), 218.

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Hochschulen warnen in einer Kundgebung davor „..., daß wichtige sozialpolitische Einrichtungen, die die Sozialpolitik aller Industrieländer seit Generationen als Mittel zur Sicherung des sozialen Friedens und zur gesellschaftlichen und nationale Eingliederung der Arbeiterschaft erkannt hat, in der Gunst der Gelegenheit von Arbeitgeberseite aus dem Wege geräumt werden.“596 Der Chef der Heeresleitung, General von Seeckt, dem während des herrschenden Ausnahmezustandes die Exekutivgewalt übertragen ist, sieht zu Beginn des Jahres 1924 ebenfalls schwere Gefahren für die innere Stabilität durch das Verhalten der Unternehmer heraufbeschworen und befiehlt den ihm unterstellten Militärbefehlshabern, mäßigend auf die Unternehmer einzuwirken.597 Zugleich ist von ihm, der zeitweise als „Militärdiktator“ im Gespräch ist, ein interner Entwurf zu einem „Regierungsprogramm“ und zu einer „Regierungserklärung“ erhalten. In beiden Texten sind sozialpolitische Grundpositionen fixiert. Neben der Ablehnung von „Sozialisierungsbestrebungen“ wird u.a. eine „Aufhebung der Tarifverträge“ und ein „Ersatz der Gewerkschaften durch Berufskammern“ bzw. durch „berufsständische Kammern“ verlangt. Nicht ganz passend ist von einer „Anerkenntnis des Streikrechts unter festen Voraussetzungen“ die Rede. Die Arbeitszeit solle unter grundsätzlicher „Festhaltung des achtstündigen Arbeitstages“ geregelt werden.598 Damit ist die Idee der Stabilisierung der Gesellschaft durch einen Einbau der Arbeiterbewegung in ein sozialpolitisches Konzept, das insbesondere im Ersten Weltkrieg sozialreformerisch beratene Militärs bewegte, bei ihm und wohl auch in seinem politischen Umfeld nicht mehr zu finden. Schließlich jedoch schlägt die „öffentliche Meinung“ teilweise um und kritisiert zunehmend die „Politik des Egoismus“ und der „brutalen Herrengewalt.“599 Nicht zuletzt führt die Betätigung des „Staatssozialismus“ in Form des Schlichtungswesens durch bestimmte Unternehmerverbände mit dem Ziel der Verlängerung der Arbeitszeit die Position der „reinen Scharfmacherei“ ad absurdum. So tritt an die Stelle der mehr oder weniger „offenen Feldschlacht“ gegen die „demokratische Sozialpolitik“ in der Weimarer Republik, insbesondere gegen das kollektive Arbeitsrecht, der juristische „Kleinkrieg“. Er hat das Ziel, die aus Unternehmersicht im Übermaß vorhandenen „schwersten Mängel“ des Tarif- und Schlichtungswesens „auszuräumen“: Arbeitgeberorganisationen erklären sich durch Satzungsbestimmung als tarifunfähig (sog. gewollte Tarifunfähigkeit); es setzen Bemühungen ein, den Vorrang des Tarifvertrags vor der Betriebsvereinbarung in Frage zu stellen, um eine „größere Elastizität arbeitsvertraglicher Regelung“ zu erreichen; die Legitimation der Gewerkschaften als „Streitteil“ im Schlichtungsverfahren wird angegriffen; die Unabdingbarkeit des Tarifvertrags soll durch die rechtliche Fiktion eines „Erlaß- bzw. Verzichtvertrages“ zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer unterminiert werden. Zusammenfassend urteilt eine Stimme aus dem Unternehmerlager: „Wenn auch die Praxis sich Rechtsauslegungen dieser Art gegenüber vielfach noch versagte, wenn z.B. die Betriebsvereinbarung gegenüber dem Tarifvertrag durchaus ein Institut minderen Rechtes blieb, so wird man doch feststellen können, daß dieser juris-

596 Zitat des Aufrufs nach: H.: Nationalökonomische Wissenschaft und heutige Sozialpolitik. In: Soziale Praxis, 33(1924)11, Sp. 220 - 224, hier: 221. 597 Vgl.: Bähr, Johannes: Staatliche Schlichtung...a.a.O.(=Anm. 516), 95. 598 Vgl. die Anhänge Nr. 2 und 3 in: Erdmann, Karl Dietrich, Vogt, Martin (Bearb.): Die Kabinette Stresemann I u. II. Band 2. Boppard a. Rhein 1978, 1203 ff., insb. 1205. 599 Vgl.: Borsig, E.(rnst) v.: Die Politik der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. In: Der Arbeitgeber, 15(1925)21, 509 f.

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tische Kampf der Unternehmer weite Kreise der Öffentlichkeit auf die Notwendigkeit einer Reform des Tarif- und Schlichtungswesens nachdrücklich hingewiesen hat.“600

2.2 Die Sozialpolitik in den „goldenen zwanziger Jahren“ 2.2.1 Die ökonomischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen Die Entwicklung der deutschen Wirtschaft zwischen den Jahren 1924 und 1929 ist durch eine Stagnation des Wachstumsprozesses und durch erhebliche ökonomische Instabilitäten gekennzeichnet. Als Folge des Ersten Weltkrieges hat Deutschland den in der Wirtschaftsentwicklung der Vorkriegszeit angelegten Wachstumspfad verlassen und es tritt nach der Nachkriegskrise und der Inflationskonjunktur im Winter 1923/24 in eine ausgesprochene Stabilisierungskrise ein.601 Vor diesem Hintergrund kommt es zu einer Neuregelung der deutschen Reparationsverpflichtungen. Der am 1. September 1924 in Kraft tretende DawesPlan regelt die Zahlungsweise der Reparationen in festen Raten, nicht jedoch die endgültige Höhe und die Dauer der Zahlungen, letzteres erfolgt erst durch den Young-Plan. Diesem Plan stimmt der Reichstag am 12. März 1930 zu. Insgesamt orientieren sich diese von der politischen Rechten und der radikalen Linken vehement und demagogisch bekämpften Abmachungen stärker an der Leistungskraft der deutschen Wirtschaft. Die Reparationen dieser Jahre wirken sich zwar als Belastungen des deutschen Wirtschafts- und Sozialsystems aus, verhindern jedoch keineswegs einen vorübergehenden wirtschaftlichen Aufschwung,602 der schon vor der Jahresmitte 1924 einsetzt. Dieser Aufschwung wird Ende 1925 abgelöst durch eine kurze und sehr heftige „Reinigungskrise“, die den Zusammenbruch zahlreicher wirtschaftlicher Unternehmen nach sich zieht. „Von 380 Geschäftsaufsichten und 750 Konkursen im August 1925 steigerte sich das Tempo rasch bis zum Höhepunkt von 1 550 Geschäftsaufsichten und 2 100 Konkursen im Januar 1926 und erst im Juli 1926 wurden die Ziffern vom vorhergehenden August wieder erreicht.“603 Sind für das gesamte Jahr 1925 schon 14.800 Konkurse zu verzeichnen, so erhöht sich die Zahl auf 15.600 im Jahre 1926; 6.000 Geschäftsaufsichten im Jahre 1925 stehen 7.500 im Jahre 1926 gegenüber.604 Das spektakulärste Krisenzeichen ist der Zusam-

600 Büren, Herbert: Arbeitgeber und Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 147), 234. 601 Vgl. in diesem Zusammenhang: Winkler, Heinrich August: Der Schein der Normalität. Berlin, Bonn 1985, 26 ff.; vgl. auch: Petzina, Dietmar, Abelshauser, Werner: Zum Problem der relativen Stagnation der deutschen Wirtschaft in den zwanziger Jahren. In: Mommsen, Hans, Petzina, Dietmar, Weisbrod, Bernd (Hg.): Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik. Band 1. Düsseldorf 1977, 57 - 76; dieselben: Krise und Rekonstruktion. Zur Interpretation der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands im 20. Jahrhundert. In: Schröder, Wilhelm Heinz, Spree, Reinhard (Hg.): Historische Konjunkturforschung. Stuttgart 1980, 75 - 114; als neuere Analyse und Darstellung der ökonomischen Entwicklung vgl.: Ritschl, Albrecht, Spoerer, Mark: Das Bruttosozialprodukt in Deutschland nach den amtlichen Volkseinkommens- und Sozialproduktsstatistiken 1901 1995. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1997/2, 27 - 54 sowie die Beiträge in: Buchheim, Christoph, Hutter, Michael, James, Harold (Hg.): Zerrissene Zwischenkriegszeit. Wirtschaftshistorische Beiträge. Baden-Baden 1994. 602 Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Schulz, Gerhard: Deutschland am Vorabend der Großen Krise. Berlin, New York 1987, 68 ff. 603 Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 336. 604 Vgl.: Jahrbuch 1926 des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes. Berlin 1927, 5.

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menbruch der gewaltigsten wirtschaftlichen Machtzusammenballung der Inflationszeit, der Kollaps des Stinnes-Konzerns.605 Auf die innerdeutsche „Reinigungskrise“ reagiert die Reichsregierung mit einem konjunkturpolitischen „Maßnahmeprogramm“. Noch ganz am Beginn einer systematischen Konjunkturbeobachtung und -forschung stehend, gerade erst wird unter Beteiligung der Gewerkschaften das „Institut für Konjunkturforschung“ gegründet und es werden Ansätze einer Theorie der Konjunkturpolitik entwickelt, soll eine Kombination von finanz-, wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen zumindest Anreize zu einer Überwindung der Krise bieten. So kommt es zu einer Wiederauflage von Strategien, die sich als Hilfsmittel gegen „Gewerbestockungen“ bereits lange vor dem Ersten Weltkrieg „bewährt“ haben und zu einem Einsatz neuer Instrumente zur Beeinflussung des Wirtschaftsgeschehens. Ausgerechnet vor dem Hintergrund einer preistreibenden Zollpolitik beginnt im Herbst 1925 eine relativ wirkungslose, wesentlich auf Überzeugungsstrategien beruhende Politik der Preissenkung mit dem Ziel, die Nachfrage und den Export zu steigern. Im Jahre 1926 folgen „Steuerminderungen zur Erleichterung der Wirtschaftslage“. Die bereits traditionsreichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen leben wieder auf. Die Unterstützung der Kurzarbeiter und Arbeitslosen wird verbessert. Reichsbahn und Reichspost werden finanziell in die Lage versetzt ihre (Investitions-)Ausgaben zu erhöhen. Der Export wird durch verschiedene Maßnahmen erleichtert, die Förderung des Wohnungsbaues wird ausgebaut, regionale Strukturhilfen treten hinzu.606 Diese quantitativ und qualitativ unterschiedlich wirkenden, relativ spät einsetzenden Maßnahmen haben sicher zur Überwindung dieser innerdeutschen Krise und zum wirtschaftlichen Wachstum beigetragen und sind, da sie auch der Wirtschaft direkt oder indirekt erheblichen Mittel zufließen ließen, in weiten Kreisen beifällig auf- und hingenommen worden. Sie haben allerdings gleichzeitig den Reichshaushalt in schwerwiegende Kalamitäten verstrickt. Vor allem die „...Steuersenkung und die Finanzierung der Arbeitsbeschaffung haben dem Reichshaushalt bis Ende 1926 ungedeckte Ausgaben von mehr als 800 Mio. RM beschert...“607 Allzu optimistische Annahmen über Reparationserleichterungen und andere zukünftige Möglichkeiten der „Begleichung“ dieser Staatsschuld erweisen sich später als Illusion. Am Ende des Jahres 1926 hat sich das Bild vor dem Hintergrund dieser Ansätze einer staatlichen Konjunkturpolitik schon grundlegend geändert. Ausgehend von einem niedrigen Niveau tritt die Wirtschaft im Herbst 1926 in einen starken konjunkturellen Aufschwung ein. Zusätzlich stimuliert durch den mit dem Dawes-Plan einsetzenden Zufluß ausländischen Kapitals, Deutschland ist als kapitalbedürftiges Hochzinsland vor allem für usamerikanische Investoren ein attraktiver Ort der Geldanlage, steigt das Sozialprodukt durch stärkere Auslastung vorhandener Kapazitäten und auch die Investitionstätigkeit nimmt wieder zu. Dabei bleibt die Investitionsquote, verglichen mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, jedoch relativ gering.608 1927 ist für die deutsche Wirtschaft ein Jahr raschen Aufschwungs. Die Betriebe einiger Industriezweige sind „...bis zur Höchstgrenze ihrer Leistungsfähigkeit angespannt, der Bedarf an Auslandsgütern wuchs, der Außenhandel nahm

605 Vgl.: Winkler, Heinrich August: Der Schein...a.a.O.(=Anm. 601), 30; vgl. ausführlich: Blaich, Fritz: Die Wirtschaftskrise 1925/26 und die Reichsregierung. Kallmünz/Opf. 1977. 606 Vgl. insbesondere: Hertz-Eichenrode, Dieter: Wirtschaftskrise und Arbeitsbeschaffung. Frankfurt, New York 1982. 607 Derselbe, ebenda, 250. 608 Vgl.: Hardach, Gerd: Deutschland in der Weltwirtschaft 1870 - 1970. Frankfurt, New York 1977, 45.

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einen Rekordumfang an.“609 Auch für das Jahr 1928 kann von einer ökonomischen Krise, von einem Abfall der Konjunktur nicht gesprochen werden.610 Die vom Herbst 1926 bis Anfang 1928 dauernde „Boomphase“ geht jedoch in eine Stagnation über. Diese schlägt in der zweiten Jahreshälfte 1929 immer deutlicher in eine Phase des Abschwunges um. Diese Entwicklung mündet schließlich, eingebunden in gleichgerichtete internationale ökonomische Bewegungen, in der außergewöhnlich schweren Weltwirtschaftskrise, die in Deutschland die Existenzbedingungen der Weimarer Republik untergräbt. Die gängige Auffassung, daß es sich durchgängig um „goldene zwanziger Jahre“ gehandelt haben soll, relativiert sich also schon mit Blick auf die ökonomischen „Zwischenkrisen“, sie relativiert sich noch mehr, wenn man nach Branchen differenziert und etwa einen Blick in die durchgängig schlechte, ja katastrophale Lage der Landwirtschaft wirft.611 Daneben ist zu bedenken, daß die Industrieproduktion und das Bruttosozialprodukt von 1913, das Niveau der wirtschaftlichen Aktivität der unmittelbaren Vorkriegszeit also, erst 1928/29 erreicht oder geringfügig überschritten wird. Auch der Stand der Realwochenlöhne von 1913/14 wird erst wieder im Jahre 1928 erreicht und dann leicht und kurzfristig überschritten, bei allerdings etwas gesunkener Arbeitszeit.612 Die in das „beste Jahrfünft“ eingelagerten ökonomischen „Zwischenkrisen“ haben dementsprechend nicht den Charakter eines „immanenten Bestandteils des Wachstumsprozesses“, wie das mit den Krisen vor dem Ersten Weltkrieg der Fall war.613 Deshalb ist es auch zutreffend, insgesamt von einer Phase der „relativen Stagnation“ zu sprechen. Die „goldenen zwanziger Jahre“ sind auch eine Phase tiefgreifender Strukturveränderungen der Wirtschaft. Als „Fortschritt“, als Ende der „Periode der freien Konkurrenz“ und als Beginn des „organisierten Kapitalismus“ aus sozialdemokratischer Sicht gedeutet und bewertet, erfaßt eine unübersehbare Trust- und Kartellbildung den deutschen „Wirtschaftskörper“.614 Vor dem Hintergrund einer umfassenden Diskussion um die Rationalisierung, die sich an us-amerikanische (Massen-)Fertigungsformen und „wissenschaftliche“ Arbeitsund Zeitstudien orientiert, werden Arbeits- und Produktionsverfahren einer Veränderung unterworfen. Vor allem als Voraussetzung der Verbesserung der Lage der Arbeiterschaft durch die so möglichen höheren Löhne und die günstigen Preise wird die Rationalisierung vorübergehend sogar vom ADGB begrüßt. Eine Gewerkschaftsdelegation hat sich im Herbst 1925 im Rahmen einer Amerikareise von den Vorzügen der technischen und organisatorischen Rationalisierung und der dortigen Gewerkschaftsarbeit überzeugen lassen.615 Ein nicht unbedeutender Produktivitätsfortschritt ist die Folge dieser betriebswirtschaftli609 Jahrbuch 1927 des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes. Berlin 1928, 5. 610 Vgl. die Tabelle 2 bei: Ritschl, Albrecht, Spoerer, Mark: Das Bruttosozialprodukt...a.a.O.(=Anm. 601), 41; etwas skeptischer und „gedämpfter“ ist die Einschätzung im: Jahrbuch 1928 des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes. Berlin 1929, 5. 611 Vgl. dazu: Winkler, Heinrich August: Der Schein...a.a.O.(=Anm. 601), 41 ff. 612 Vgl. denselben, ebenda, 47, dort auch weitere Differenzierungen. 613 Vgl.: Petzina, Dietmar, Abelshauser, Werner: Zum Problem...a.a.O.(=Anm. 601), 61. 614 Vgl.: Winckler, Heinrich August: Der Schein...a.a.O.(=Anm. 601), 34 ff.; diese Sichtweise geht auf Rudolf Hilferding, der ein maßgeblicher Theoretiker der Weimarer SPD ist, zurück. 615 Vgl. zur aspektreichen, weitverzweigten und insgesamt langdauernden gewerkschaftlichen Rationalisierungsdebatte: Stollberg, Gunnar: Die Rationalisierungsdebatte 1908 - 1933. Freie Gewerkschaften zwischen Mitwirkung und Gegenwehr. Frankfurt, New York 1981; vgl. den Teilabdruck der entsprechenden Stellungnahme des ADGB bei: David, Fritz: Die Ideenkrise in den Deutschen Gewerkschaften. In: Die Internationale, 13(1930)15/16, 478 - 484, hier: 479; vgl. zur Amerikareise deutscher Gewerkschafter: Kukuck, Horst-A., Schiffmann, Dieter (Bearb.): Die Gewerkschaften von der Stabilisierung...a.a.O.(=Anm. 285), 38, 585 f.

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chen Strategien, die dem Ziel dienen sollen, im nationalen und internationalen Konkurrenzkampf bestehen zu können.616 Als Kehrseite dieser und anderer Faktoren, wie z.B. eines steigenden Anteils arbeitsfähiger, arbeitsbereiter und auf Lohnarbeit verwiesener Menschen als Folge der Bevölkerungsentwicklung und der zur Lohnarbeit drängenden vorangegangenen Verarmungsprozesse,617 herrscht in dieser Zeit eine mehr oder weniger bedeutende Arbeitslosigkeit. Auf dem Höhepunkt der „Stabilisierungskrise“, im Dezember 1923, sind 28,2 % aller Mitglieder der Freien Gewerkschaften arbeitslos. Im Schnitt des Jahres 1924 liegt die Arbeitslosigkeit bei 927.000. Die Arbeitslosenquote bei den Freien Gewerkschaften beträgt 13,5 %.618 Sie geht im Jahre 1925 auf 6,7 % zurück. Das Jahr 1926 wird hingegen wiederum zu einem ausgesprochenen Krisenjahr am deutschen Arbeitsmarkt. Schon um die Jahreswende 1925/26 wird der Arbeitsmarkt „...von einer so heftigen Krise gepackt, wie solche kaum in der Zeit des Ruhrkampfes und des anschließenden Währungszusammenbruchs beobachtet wurde.“619 Gegen Ende des Jahres 1925 sind nur noch 60,8 % der Gewerkschaftsmitglieder voll beschäftigt. Die Zahl der „vollerwerbslosen“ Mitglieder der Freien Gewerkschaften bewegt sich im Jahr 1926, trotz der staatlichen Konjunkturpolitik, zwischen 22,6 und 14,5 %.620 Jahresdurchschnittlich sind 2.025.000 Menschen als arbeitslos gemeldet. Die Freien Gewerkschaften registrieren im Durchschnitt 18 % der Mitglieder als arbeitslos. Bezogen auf die Zahl der abhängigen Erwerbspersonen ergibt sich eine Arbeitslosenquote von 10,0 %.621 Diese prekäre Lage vereint in spezifischer Weise Kommunisten und Sozialdemokraten in der ersten Hälfte des Jahres 1926 zu dem höchst spektakulären Projekt, durch Plebiszit eine Enteignung der deutschen Fürsten und ihrer Familien zugunsten der Erwerbslosen, Kriegsopfer, Sozialrentner, Inflationsgeschädigten und anderer notleidender Bevölkerungsgruppen zu erwirken, ein Vorhaben, das scheitert.622 Bald jedoch macht sich die ansteigende Konjunktur auch auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar. Dabei fällt auf, daß eine „Sockelarbeitslosigkeit“ von 6,2 bzw. 6,3 %, gemessen in Prozent der abhängigen Erwerbspersonen, auch während dieser „Boomphase“ trotz der Zunahme der abhängig Beschäftigten bestehen bleibt. Im Winter 1928/29, der nicht nur in Deutschland, sondern in fast ganz Europa abnorm kalt ist,623 kommt es zu einem Höhepunkt der Arbeitslosigkeit, insbesondere bei den Saisonbeschäftigten. Ende Mai 1929 sind die Nachwirkungen der Kälte noch immer nicht überwunden. Insgesamt wächst nun die Arbeitslosigkeit unaufhörlich und auch die Zahl der abhängig beschäftigen Erwerbspersonen geht beginnend mit dem Jahre 1929 erst langsam, dann in raschem Tempo zurück.

616 Vgl. zur „Rationalisierung“: Hachtmann, Rüdiger: Industriearbeit und Rationalisierung 1900 bis 1945. Bemerkungen zum Forschungsstand. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1996/1, 211 - 258. 617 Vgl.: Jahrbuch 1928...a.a.O.(=Anm. 610), 18 f. 618 Vgl.: Petzina, Dietmar, Abelshauser, Werner, Faust, Anselm: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch...a.a.O. (=Anm. 21), 119, dort auch Hinweise auf die Berechnung dieser Zahlen. 619 Jahrbuch 1926...a.a.O.(=Anm. 604), 36. 620 Vgl. ebenda, 36. 621 Vgl.: Petzina, Dietmar, Abelshauser, Werner, Faust, Anselm: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch...a.a.O. (=Anm. 21), 119. 622 Vgl.: Abramowski, Günter (Bearb.): Die Kabinette Marx III und IV. 17. Mai 1926 bis 29. Januar 1927. 29. Januar 1927 bis 29. Juni 1928. Band 1. Boppard am Rhein 1988, XX ff. 623 Seit Beginn der meteorologischen Beobachtungen in Berlin (1720) ist der Februar 1929 der kälteste Monat. Die Zahl der Eistage, der Tage, an denen die Temperatur ständig unter 0 bleibt, im Durchschnitt der Jahre 1881 bis 1910 waren es 25, steigt im Winter 1928/29 auf 59; vgl.: Jahrbuch 1928...a.a.O.(=Anm. 610), 21.

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Im Frühjahr 1924 findet, nach einem langwierigen Zerfallsprozeß, die 1918 begründete Zentralarbeitsgemeinschaft ihr Ende.624 Die vom ADGB aufgeworfene Frage, ob das Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommen vom 15. November 1918, das Gründungsdokument der die Gewerkschaften anerkennenden „demokratischen Sozialpolitik“, unberührt geblieben sei, wird vom „Reichsverband der Deutschen Industrie“ (RDI) und von der „Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“ dahingehend beantwortet „..., daß diese Kündigung (der ZAG, E.R.) zugleich aber auch die Kündigung des Novemberabkommens bedeute und dieses gegenüber den Mitgliedern der Freien Gewerkschaften unwirksam werde.“625 Dieses bedeutet allerdings keineswegs, daß sich die Unternehmerschaft nunmehr insgesamt den Formen der Nachkriegssozialpolitik völlig verschließt, die Kooperation mit der „Arbeiterschaft und ihren Organisationen“ und das „Mitarbeiten“ an der staatlichen Sozialpolitik umfassend einstellt.626 Die sozialpolitischen Maßnahmen und Leistungen sollen auf das aus Arbeitgebersicht „Mögliche“, „Durchführbare“ und „Tragbare“ zurückgeführt werden. Aus Wettbewerbsgründen wird jede Besserstellung in der Lohn- und Arbeitszeitfrage gegenüber dem Ausland abgelehnt. Die Verwaltungsapparate der Sozialversicherung sollen rationalisiert und verbilligt werden. Arbeitslosigkeit werde am besten durch eine „Förderung der Produktion“ bekämpft. Mit der Zahlung von Erwerbslosenfürsorge dürfe nicht „einseitig“ in bestehende Wirtschaftskämpfe eingegriffen werden. Der Druck zur Arbeitsaufnahme müsse verstärkt werden.627 Jenseits der vereinheitlichenden „Gutachten“ und Programmschriften des Unternehmertums kann die Haltung zu bestimmten sozialpolitischen Fragen, etwa zum Tarifvertragswesen, durchaus uneinheitlich sein. Ein bevorzugter Ansatzpunkt unternehmerischer Angriffe bleibt allerdings während der ganzen Zeit der „Scheinblüte der Wirtschaft“ die staatliche „Verbindlichkeitserklärung von Schiedssprüchen.“ Insgesamt ist dementsprechend ein „Plus an Verständigung“ mit dem Unternehmertum auch während der „Boomphase“ aus freigewerkschaftlicher Sicht nicht auszumachen. Ansätze, die „Werksgemeinschaft“ in den Mittelpunkt sozialpolitischen Denkens zu stellen, eine erneute und verstärkte Protektion der „Gelben“, der wirtschaftsfriedlich-nationalen Verbände, der fortdauernde „Wunsch“ nach einer Gleichstellung von Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung zeigen, daß sich bedeutende Kräfte des Unternehmertums wieder auf einer Linie bewegen, „... die man im Grundsatz, von den Vereinbarungen des Novemberabkommens 1918 abgesehen, stets eingehalten hat.“628 Gegen den Geist der Weimarer Sozialpolitik und gegen die Gewerkschaften gerichtete organisatorische Aktivitäten weisen in dieselbe Richtung. Im Jahre 1925 wird auf der Hauptversammlung des schwerindustriellen „Vereins Deutscher Eisenhüttenleute“ das „Deutsche Institut für technische Arbeitsschulung“ (Dinta) gegründet und beginnt seinen „Kampf um die Seele des Arbeiters“.629 Gegen den Geist der „demokra624 Vgl. dazu: Feldman, Gerald D., Steinisch, Irmgard: Industrie und Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm. 558), bes. 94 ff.; auch schon zutreffend: Kaun, Heinrich: Die Geschichte der Zentralarbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Deutschlands. Jena 1938 (Diss. rer. pol.), 80 ff. 625 Kaun, Heinrich: Die Geschichte...a.a.O.(=Anm. 624), 121. 626 Vgl. etwa die während des Scheiterns der Zentralarbeitsgemeinschaft verfaßte Programmschrift: Borsig, Ernst von: Industrie und Sozialpolitik. Das sozialpolitische Programm der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Berlin o.J. (1924) bzw.: Derselbe: Die Politik der Vereinigung...a.a.O.(=Anm. 599), 509 f. 627 So einige Kritikpunkte bei: Borsig, Ernst von: Industrie und Sozialpolitik. Das sozialpolitische Programm...a.a.O.(=Anm. 626). 628 Jahrbuch 1927...a.a.O.(=Anm. 609), 80. 629 Vgl. etwa die Schilderungen im Protokoll der I. ordentlichen Mitgliederversammlung am 24. Oktober 1930 im Hause der Gesellschaft „Verein“, Düsseldorf, der „Gesellschaft der Freunde des Dinta e.V.“. Ev.Zentralarch., 1/A2/147, unpag.

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tischen Sozialpolitik“ und gegen die Gewerkschaften gerichtet ist auch die aus rechtsorientierten Arbeitnehmerkreisen und „gelben“ Verbänden hervorgehende „Gesellschaft für deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik“.630 Eine ähnliche Ausrichtung hat die von großen Eisen- und Stahlunternehmen finanzierte Schulungstätigkeit der „Deutschen Volkshochschule“, die schon 1921 einsetzt. Aus diesen Organisationen heraus und im Umfeld dieser Aktivitäten entfaltet sich eine geballte und gewaltige publizistische Macht gegen die Sozialpolitik der Republik. In „Anreicherung“, Übernahme und Ausformung älterer Ideen und Optionen entstehen in diesem Zusammenhang sozialpolitische Ordnungsentwürfe, die dann unter den Bedingungen des „Dritten Reiches“ in spezieller Auswahl und Akzentuierung auf bestimmten Gebieten der staatlichen Sozialpolitik vorherrschend werden und die damit einer spezifischen „Vorgeschichte“ dieses Regimes zuzurechnen sind.631 Gemeinsamer Nenner unternehmerischen Vorgehens gegen die staatliche Sozialpolitik wird nach der Währungstabilisierung der „Kampf gegen die Soziallast.“ Dieser publizistische und praktische Kampf richtet sich mit dem Argument, daß die Belastung mit sozialen Aufgaben für die „geschwächte, schwerringende Wirtschaft“ nicht tragbar sei, gegen den steigenden prozentualen Anteil der „Sozialaufwendungen“ am Volkseinkommen bzw. an der Lohnsumme.632 Hinzu tritt der Angriff gegen die aus Unternehmersicht viel zu hohen Löhne in diesen „goldenen zwanziger Jahren.“ Von einem „abnorm niedrigen Ausgangsniveau“ bei Eintritt der Währungsstabilisierung sind die Tarif- und Effektivlöhne tatsächlich in diesen Jahren markant gestiegen. Diese Entwicklung wird von den Gewerkschaften vor allem mit sozialen Argumenten, mit Blick auf die auch nach der Währungsstabilisierung stattfindenden Preiserhöhungen, mit Hinweis auf die gestiegene Arbeitsproduktivität und auf die kaufkraftstimulierende und konjunkturfördernde Wirkung angemessener Löhne (sog. „Kaufkrafttheorie des Lohnes“) verteidigt. Die Unternehmer hingegen neigen einer „kostenorientierten“ Lohntheorie zu. Natürlich spielt gerade auch im Rahmen dieses Streits das Schlichtungs- und Verbindlichkeitserklärungsverfahren eine erhebliche Rolle. Ein von Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns offenbar bereits im Jahre 1920 aus Erfahrung befürchteter mangelnder Einigungswille der Tarifparteien dominiert auch in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Es bildet sich die Schlichtungspraxis heraus, „die Mitte“ zwischen den typischerweise weit auseinanderstrebenden Forderungen der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter als Schiedsspruch vorzuschlagen bzw. auch für verbindlich zu erklären. Dieses Vorgehen hinterläßt auf beiden Seiten Enttäuschungen und legt einen rein taktischen Umgang mit der Verhandlungs- und Schlichtungsapparatur nahe. Im Ruhrrevier etwa kommen zwischen 1925 bis 1931 kein einziges Mal Löhne ohne staatliche Mitwirkung, geschweige denn in freier Abmachung der Parteien zustande.633 Namentlich auf diese Weise unterstützt das Reichsarbeitsministerium zunächst die je nach Branche unterschiedlich stark ausgeprägte Tendenz, das Lohnniveau spürbar zu erhöhen und an das Vorkriegsniveau heranzuführen. 630 Vgl.: Jahrbuch 1926...a.a.O.(=Anm. 604), 61. 631 Diese „Macht“ wird im 3. Kapitel dieser Arbeit analysiert; zur „Deutschen Volkshochschule“ vgl.: Kleinschmidt, Christian: Betriebliche Sozialpolitik als „soziale Betriebspolitik“. Reaktionen der Eisen- und Stahlindustrie auf den Weimarer Interventionsstaat. In: Plumpe, Werner, Kleinschmidt, Christian (Hg.): Unternehmen zwischen Markt und Macht. Essen 1992, 29 - 41, hier: 31. 632 Vgl. dazu die Daten bei: Gleitze, Bruno: Die Sozialversicherung in Gegenwart und Zukunft. In: Gewerkschafts-Zeitung, 42(1932)51, 805 - 809; insbes. die Tabelle auf S. 805. 633 Vgl.: Zahn, Clemens: Arbeitskosten und Lebenslagen zwischen Inflation und grosser Krise. St. Katharinen 1996, 289 ff., bes. 295 f.

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Dabei zeigt sich die überwiegend vom Reichsarbeitsministerium unterstützte „Linie der Aufwärtsbewegung der Tariflöhne“ in diesen „besten Jahren der Republik“ aus gewerkschaftlicher Sicht durchaus nicht unbeeindruckt vom konjunkturellen Verlauf der Wirtschaft. Im Herbst 1925 kommen die Tariflöhne zum Stillstand, dieser dauert das ganze Jahr 1926 hindurch an. Vermutlich sinken die Löhne in bestimmten Branchen sogar wegen des Abbaus übertariflicher Zahlungen und von Akkord- und Leistungszuschlägen. Darüber hinaus steigt der Lebenshaltungskostenindex. Im Jahre 1927 allerdings setzt sich der Lohnanstieg fort.634 Die günstige Lage wird nun ausgenutzt, um lohnpolitisch das nachzuholen, „... was das Jahr 1926 verhindert hatte.“635 Eine regelrechte „Lohnwelle“ erfaßt die Industrie und das gesamte Wirtschaftsleben. Vor dem Hintergrund von günstiger Konjunktur, steigenden Preisen und langen Bindungsfristen durch abgeschlossene Tarifverträge bzw. „Zwangstarife“ entwickelt sich sogar eine von den Kommunisten forcierte, von den Gewerkschaftsführungen aber bekämpfte Bewegung für „zwischentarifliche Lohnaufbesserungen.“ Diese Entwicklung entfacht die lohnpolitische Diskussion der Unternehmer zu neuer Glut. Vielbeachtete Unterstützung erfahren diese wiederum aus den Reihen der „akademischen Nationalökonomie.“ Diesmal steht der Stockholmer Hochschullehrer Gustav Cassel im Mittelpunkt der Debatte. Dieser führt vom Standpunkt des „wirtschaftlichen Liberalismus“ Klage, daß der Marktpreismechanismus durch gewerkschaftliche Verhandlungsmacht, durch Tarifverträge und Arbeitslosenunterstützung gestört sei und das dies nur zu höchst bedenklichen Wirtschafts- und Sozialerscheinungen, insbesondere zu Arbeitslosigkeit, führen könne.636 Der RDI warnt vor einer Gefährdung der Rentabilität der Betriebe. Die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit vertiefen sich bereits jetzt wieder erheblich.637 So wird das Jahr 1928 zu einem ausgesprochenen „Kampfjahr auf sozialem Gebiete.“ Dafür steht nicht nur der bereits erwähnte „Ruhreisenstreit“, der dem Handeln der „verhaßten Staatsgewalt“ bei der Lohnfindung einen „vernichtenden Stoß“ versetzen soll. Die Aussperrungen erreichen ganz allgemein ihren letzten Höhepunkt in der Weimarer Republik. Dieser Kampf geht von den Unternehmern aus und wird letztendlich um grundlegende verteilungspolitische Ziele geführt. Trotzdem steigen die Löhne und Gehälter auch im Jahre 1928 noch einmal an, wobei es eine erhebliche Ungleichheit zwischen den einzelnen Beschäftigtengruppen und vor allem auch zwischen Männer- und Frauenlöhnen gibt. Die Unterschiede sind so gewaltig, daß „... der höchste tarifliche Stundenlohn der qualifizierten Arbeiterinnen unter dem Stand des niedrigsten Lohnes des ungelernten männlichen Arbeiters...“ bleibt.638 Der Durchschnittslohn männlicher Vollarbeiter in den Städten ist nach der gewerkschaftlichen Lohnstatistik von 69,3 Pfennig im Jahre 1924 auf 102,2 Pfennig im Jahre 1928 gestiegen.639 Als sich im Jahre 1929 und zu Beginn des Jahres 1930 die Wirtschaftsentwicklung jener „großen Krise“ zuneigt, die die Endphase der Weimarer Republik bestimmt, verschärft sich der Streit um die „wirtschaftlich angemessene“ Lohnhöhe und die „Soziallast“ ganz außerordentlich und es ist im Grunde ganz allgemein wieder jener Zustand der „überhitzten Kampfpsychose“ erreicht, der die Sozial-, Währungs-, Wirtschafts- und politische Krise der 634 Vgl.: Jahrbuch 1926...a.a.O.(=Anm. 604), 83 ff. 635 Jahrbuch 1927...a.a.O.(=Anm. 609), 113. 636 Vgl. zu dieser umfassenden Diskussion: Münch, Erwin: Die gegenwärtige Arbeitslosigkeit im Lichte wissenschaftlicher Darstellung. In: Die Arbeitslosenversicherung, 4(1927)7, Sp. 305 - 313. 637 Vgl.: Jahrbuch 1927...a.a.O.(=Anm. 609), 114 ff. 638 Jahrbuch 1928...a.a.O.(=Anm. 610), 191, im Original gesperrt. 639 Vgl. ebenda, 189.

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Jahre 1923/24 überschattete. „Die wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten, beeinflusst durch die infolge der ständigen Verschlechterung der öffentlichen Finanzen steigende steuerliche Belastung und das starke Ansteigen der Arbeitslosigkeit, boten Gelegenheit, ganz allgemein und völlig einseitig die Höhe des deutschen Lohnniveaus und die Höhe der sozialen Belastung zum Zentralproblem der deutschen Wirtschaftsnöte zu machen. Eine geschickt geleitete und oft skrupellose Beeinflussung der bürgerlichen Presse durch die Arbeitgeberverbände, die auch die Unterstützung einiger bekannter Wissenschaftler fand, rückten das Lohnproblem in den Vordergrund der wirtschaftlichen Betrachtungen, demgegenüber alle anderen umstrittenen Elemente der Warenpreisbildung geflissentlich in den Hintergrund gedrängt wurden.“640 Den „Kampfgewerkschaften“ wird „reine Machtpolitik“ und der Versuch, die Wirtschaftsstruktur und das Wirtschaftssystem doch noch „im Sinne des Sozialismus“ umzugestalten vorgeworfen, ein Vorwurf, der nicht zuletzt durch die „programmatische Orientierung“ der sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Kräfte an dem im Jahre 1928 ausformulierten und veröffentlichten Leitbild der „Wirtschaftsdemokratie“ Nahrung erhält.641 Dieses „weltdeutende“ und sinnvermittelnde Konzept soll nach den gescheiterten Sozialisierungshoffnungen der Revolutionszeit und der Folgeperiode den Gewerkschaftsmitgliedern wieder ein Ideal vermitteln und das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu einem erstrebenswerten Endziel zu sein.642 Die Autoren dieses Konzepts beziehen sich auf Begriffsbildungen und Vorstellungen im Umkreis der „Fabian Society“ gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Insbesondere erwähnen sie das Buch von Sidney und Beatrice Webb mit dem Titel „Industrial Democracy“ aus dem Jahre 1897.643 Sie hätten die revisionistischen Ansichten Eduard Bernsteins und die sich darum rankenden Kontroversen hinzufügen müssen. Nicht zuletzt hat Karl Korsch bereits 1922 (allerdings vom revolutionären Standpunkt aus) das Betriebsrätegesetz in der Perspektive einer zunehmenden Demokratisierung der Wirtschaft analysiert.644 Das Konzept der „Wirtschaftsdemokratie“ beinhaltet die Leitvorstellung einer allmählichen, stufenweisen Durchsetzung demokratischer Entscheidungsstrukturen und von „antikapitalistischen“ Wirtschaftsformen innerhalb des Kapitalismus. Als Beleg eines bereits erzielten Fortschritts in Richtung „Wirtschaftsdemokratie“ dienen die vermehrte Anzahl staatlicher bzw. kommunaler Betriebe, die organisatorische Zusammenfassung ganzer Wirtschaftszweige in Kartellen und Trusts, die mitbestimmten Kali- und Kohlesyndikate, die Genossenschaften, die Eigenbetriebe der Arbeiterbewegung, die Betriebsrätegesetzgebung und andere Formen der „Demokratisierung“ der Arbeitsverhältnisse durch das republikanische Arbeitsrecht, die Beteiligung von Vertretern der Arbeiterbewegung in einer beinahe unüberschaubaren Vielzahl von Gremien, die gesteigerte politische Mitwirkung auf allen Ebenen in der Weimarer Republik. Damit knüpft das Konzept der „Wirtschaftsdemokratie“ u.a. auch an ein starkes Kommunalisierungsverlangen an, das in der ersten Nachkriegszeit lebendig war und zu einem bedeutenden „Gemeindesozialismus“ geführt hat und 640 Jahrbuch 1929 des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes. Berlin 1930, 224. 641 Vgl. dazu: Naphtali, Fritz (Hg.): Wirtschaftsdemokratie. Ihr Wesen, Weg und Ziel. Berlin 1928; vgl. auch: Schneider, Michael: Unternehmer und Demokratie. Bonn-Bad Godesberg 1975, 85 ff. 642 Vgl. dazu die Einleitung bei: Kukuck, Horst-A., Schiffmann, Dieter (Bearb.): Die Gewerkschaften von der Stabilisierung ...a.a.O.(=Anm. 285), 9 - 80, hier: 44. 643 Vgl.: Naphtali, Fritz (Hg.): Wirtschaftsdemokratie...a.a.O.(=Anm. 641), 7. 644 Vgl.: Korsch, Karl: Arbeitsrecht für Betriebsräte (1922). 4. unveränderte Auflage. Frankfurt a.M. 1973; vgl. zu seiner Biographie: Buckmiller, Michael: Karl Korsch (1886 - 1961). Marxistische Theorie und juristische Aktion. In: Rauner, Felix (Hg.): „Gestalten“ - Eine neue gesellschaftliche Praxis. Bonn 1988, 254 - 266.

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es hat Bezug zu Ansätzen, die als eine Form der „Sozialisierung“ die Kommunalisierung bzw. Verstaatlichung propagiert hatten.645 Die Perspektive einer allmählichen Durchsetzung „antikapitalistscher“ Elemente und Ansätze, die alle sozialreformerischen Maßnahmen auf spezifische Weise als Schritte auf dem Weg zum „Sozialismus“ akzentuiert, führt zu heftigen Reaktionen des Unternehmerlagers. Der RDI befaßt sich auf einer Mitgliederversammlung am 21. September 1929 kritisch und ablehnend mit diesem Thema.646 In Veröffentlichungen wird die vorgeblich einer Revolution gleichkommende Konsequenz einer Verwirklichung der „Wirtschaftsdemokratie“ kritisiert. Die entsprechende Umformung der Wirtschaft wird als Weg in den „wirtschaftlichen Ruin“ gewertet. Der projektierten Mitwirkung der Arbeitnehmer an der Wirtschaftsführung wird das Leitbild des „freien Unternehmers“, der „ungehemmten Führertätigkeit“ als allein wirtschaftlich sinnvoll und möglich gegenübergestellt. Es fehlt auch zu dieser Zeit nicht der Hinweis auf die negativen Zustände im „bolschewistischen Rußland.“647 Die sich marxistisch-revolutionär verstehende Linke hingegen lehnt das Konzept der „Wirtschaftsdemokratie“ als „falsches“, reformistisches, desorientierendes, eine Revolution erschwerendes Gedankengebilde ab.648 In „logischer Konsequenz“ der unternehmerischen Auffassungen zur Lohnfrage und unter Ausblendung anderslautender Ergebnisse der weitverzweigten und kontroversen lohnpolitischen Debatte dieser Jahre und unter dem Eindruck tatsächlicher bzw. vermeintlicher Handlungsrestriktionen, rückt nun die Forderung nach einer Senkung der Löhne in den Vordergrund. Dabei wird dieses Verlangen als Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung von Betrieben deklariert und es erhält auch die Form einer garnicht so neuen „grossen wirtschaftspolitischen Idee“: „Senkung der Warenpreise zwecks Ankurbelung des Marktes, und als Voraussetzung hierfür: Senkung der Selbstkosten durch Senken der Lohnrate.“649 Eine regelrechte Aufkündigung bisheriger sozialpolitischer Mindestniveaus und teilweise auch der sozialpolitischen Strukturen ist in Denkschriften enthalten, die in den Jahren 1929/30 vom RDI publiziert werden und deren bekannteste den Titel „Aufstieg oder Niedergang?“ trägt.650 Der „Kampf“ gegen die Kosten, der schon den normalen betriebswirtschaftlichen Abläufen und Gewinnmaximierungszielen innewohnt, und der bald auf dem Weg in die große 645 Vgl. dazu auch die Auseinandersetzung im Umfeld eines „Entwurf eines Gesetzes über die Kommunalisierung von Wirtschaftsbetrieben.“ BA Abt. Potsdam. 31.05 Sozialisierungskommission, Nr. 5, Bl. 106 ff.; die typische Argumentation der Verstaatlichungsgegner enthält die Eingabe des „Hansa-Bund für Gewerbe, Handel und Industrie“ vom 17. Juli 1919. Ebenda, Bl. 223 ff. 646 Vgl. den Vortrag von August Weber über „Unternehmertum und Kapitalismus“ in: Mitgliederversammlung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie am 20. und 21. September 1929 in Düsseldorf. Berlin, Oktober 1929, 65 - 72 und die sich daran anschließende Diskussion. 647 Einen Eindruck der entsprechenden Argumentation bietet die Schrift: Das Problem der Wirtschaftsdemokratie. Zur Düsseldorfer Tagung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie. Düsseldorf o. J. (1929); vgl. auch: Weber, Adolf: Zum Begriff „Wirtschaftsdemokratie“. In: Der Arbeitgeber, 19(1929)12, 327 - 329; mit dem „Bolschewismus“ als Schreckbild argumentiert z.B. auch: von Seeckt: Die sozialen Aufgaben. In: Ebenda, Heft 22, 600 - 601, hier: 601. 648 Schon vor der Veröffentlichung des Gesamtkonzeptes wird alles das, was unter dem Schlagwort „Wirtschaftsdemokratie“ zusammengefaßt werde, als „wirtschaftsfriedliche Ideologie“, als Versuch der Erzeugung einer „wirtschaftsfriedlichen kapitalistischen Ideologie in den Massen“ abgelehnt und kritisiert; vgl.: Becker, K.: Unter dem Banner der Wirtschaftsdemokratie. In: Die Internationale, 9(1926)15, 458 - 463; vgl. darüber hinaus: Leontjew, L.: Der „organisierte Kapitalismus“ und die „Wirtschaftsdemokratie“. In: Unter dem Banner des Marxismus, 1929, 660 - 687; Gerber, Rudolf: Über „Industriefrieden“ und „Wirtschaftsdemokratie“. In: Ebenda, 246 - 280. 649 Jahrbuch 1929...a.a.O.(=Anm. 640), 228, im Original kursiv. 650 Vgl.: Aufstieg oder Niedergang? Deutsche Wirtschafts- und Finanzreform 1929. Berlin, Dezember 1929.

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ökonomische Endkrise der Weimarer Republik beinahe „naturgesetzlich“ mit neuer Härte entbrennt, zielt in diesen Denkschriften nicht nur gegen die Lohn- und Sozialpolitik. Er betrifft auch die bereits während der „Reinigungskrise“ gesenkten Steuern als „Standortfaktor für die gewerblichen Unternehmungen“ und die Ausgabenpolitik der öffentlichen Hände.651 Während die unternehmerischen Stellungnahmen zunächst zwar überaus deutlich, aber dennoch in vergleichsweise normaler „Lautstärke“ vorgetragen werden,652 ist mit der Denkschrift „Aufstieg oder Niedergang“ zweifellos ein erster dramatischer Höhepunkt dieser Debatte erreicht. Bei steigendem Lohn, steigender Staatslast, steigendem Zins und sinkender Rente (d.h. Rendite, E.R.) sei irgendwann ein Punkt überschritten, wo die Erweiterung der Produktion noch einen Sinn habe. Die Folge einer solchen Entwicklung sei Arbeitslosigkeit, Zusammenbrüche vieler Firmen, Mangel an Absatz und eine bis zur Verdrossenheit gesteigerte allgemeine Unzufriedenheit. Wenn es nicht gelinge „das Steuer umzulegen“, sei der „Niedergang der deutschen Wirtschaft“ besiegelt.653 Die Freiheit von staatlichen Eingriffen und Lasten, die Zurückweisung „wirtschaftsdemokratischer Bestrebungen“, energische Maßnahmen zur Förderung der Kapitalbildung, die Senkung der öffentlichen Ausgaben und Steuern, insbesondere jener, die Kapitalbildung verhindernd oder „kapitalzerstörend“ wirken würden, sind Eckpunkte eines umfassenden wirtschaftspolitischen Konzepts.654 Forderungen, wie die nach einer Zurückdrängung der wirtschaftlichen Aktivitäten der „öffentlichen Hand“, nach einem Ende der das Unternehmertum schädigenden „kalten Sozialisierung“, der zahlreichen Staats- und Gemeindebetriebe also,655 nach

651 Vgl. z.B. schon: Kastl: Die wirtschaftspolitischen Aufgaben des Reichsverbandes in den nächsten Monaten. Berlin, Oktober 1928, 12 - 38 (=Veröffentlichungen des Reichsverbandes der Deutschen Industrie Nr. 42); Skrodzki, B., Moessner, K. E.: Besteuerung, Ertrag und Arbeitslohn industrieller Unternehmungen im Jahre 1927. Berlin, September 1929 (= Veröffentlichungen des Reichsverbandes der Deutschen Industrie Nr. 47); das „Standortzitat“ findet sich auf Seite 5. 652 Vgl. neben den in den Denkschriften selbst angemerkten früheren Stellungnahmen auch z.B. denn „Aufruf!“ norddeutscher Handelskammern zur Wahl des Jahres 1928. Ev. Zentr. Arch. 51/N Ia, 1,1. 653 Vgl.: Aufstieg...a.a.O.(=Anm. 650), 7. 654 Vgl. in diesem Zusammenhang: Cassel, Gustav: Demokratie und Kapitalbildung. In: Der Arbeitgeber, 19(1929)21, 584 - 586. Die bis zu diesem Punkt der Untersuchung dargestellten realen Zusammenhänge und Argumentationen, insbesondere die These der Überschreitung des Verteilungsspielraumes durch Lohnsteigerungen und sozialstaatliche Umverteilungen, der daraus erwachsenden „Erschütterung“ der wirtschaftlichen „Gesundheit“ schon lange vor der Weltwirtschaftskrise, die mit diesen Entwicklungen einhergehenden Zwangslagen und Handlungsspielräume aber auch die Weltwirtschaftskrise selbst und die damals praktizierte (Deflations-)Politik und mögliche bzw. realisierbare Alternativen dazu, sind mit Blick auf die verheerenden politischen Folgen der Weltwirtschaftskrise ab 1933 in der Bundesrepublik Gegenstand der sog. Borchardt-Kontroverse geworden. Vgl. als Ausgangspunkt dieser wichtigen, kontrovers geführten, teilweise auch politisierten Debatte: Borchardt, Knut: Zwangslagen und Handlungsspielräume in der großen Wirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre. Zur Revision des überlieferten Geschichtsbildes. In: Bayerische Akademie der Wissenschaften. Jahrbuch 1979. München 1979, 85 - 132; um Teile des Anmerkungsapparats gekürzter Wiederabdruck in: Stürmer, Michael (Hg.): Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas. 2., erweiterte Aufl. Königstein/Ts. 1985, 318 - 339. Kritisch dazu die Beiträge von Jürgen von Kruedener, Charles S. Maier, Gottfried Plumpe und Bernd Weisbrod in der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft, 11(1985), 273 ff.; Tilly, Richard, Huck, Norbert: Die deutsche Wirtschaft in der Krise, 1925 bis 1934. In: Buchheim, Christoph, Hutter, Michael, James, Harold (Hg.): Zerissene Zwischenkriegszeit...a.a.O.(=Anm. 601), 45 - 95; vgl. mit einer Bilanz der „Borchardt-Kontroverse“ durch ihren Urheber auch die Beiträge bei: Kruedener, Jürgen Baron von (Ed.): Economic Crisis and Political Collapse. The Weimar Republik 1924 - 1933. New York, Oxford, Munich 1990. Diese Kontroverse greift zahlreiche Argumente der historischen Lohndiskussion wieder auf; vgl. zur damaligen Lohndiskussion u.a. die nicht uninteressante Schrift von: Heyde, Ludwig: Die Lohnfrage. Jena 1932. 655 Vgl. dazu: Böhret, Carl: Aktionen gegen die „kalte Sozialisierung“ 1926 - 1930. Berlin 1966.

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einer Beendigung der „Wohnungszwangswirtschaft“,656 nach einer wesentliche Zurückdrängung der Rolle des Staates bei der Lohnfindung und die Ablehnung von Erhöhungen von Sozialversicherungsbeiträgen, die wie die Steuern bereits als „unerträglich“ gelten, treten hinzu. „Es ist keine Frage, daß durch die hohen sozialen Ausgaben die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft, insbesondere dem Auslande gegenüber, in immer stärkerem Maße beeinträchtigt wird.“657 Der tiefgreifende Steuerabbau und der „vereinfachende“ Umbau des Steuersystems im Sinne des organisierten Unternehmertums soll durch ein neues restriktives Haushaltsrecht geradezu herbeigezwungen werden.658 Der Zurückdrängung der Wirtschaftstätigkeit der öffentlichen Hand, dem Abbau des „Kommunalsozialismus“, dem die privatwirtschaftlichen Spitzenverbände schon am 10. November 1926 eine machtvolle Tagung entgegengesetzt hatten, soll vor allem auch ein Abbau von „Steuerprivilegien“ und die Ausschaltung der Finanzierung dieser Aktivitäten durch Auslandsanleihen dienen. So wie die sozialdemokratischen Kräfte in der Kommunalwirtschaft eine Möglichkeit sehen, eine planvolle, nicht überteuerte, qualitativ hochwertige, bedarfsorientierte, nicht anarchisch-krisenhafte Bedarfsdeckung sicherzustellen, so sehen die Vertreter des „privatwirtschaftlichen Prinzips“ die privatwirtschaftliche Bedarfsdeckung überall dort als vorteilhaft an, wo sie zur Aufgabenerfüllung grundsätzlich einsetzbar ist: „Nach allen Erfahrungen hätten öffentliche Unternehmungen ... zumeist versagt.“659 Ein zweifellos nicht unwichtiger Aspekt dieses Kampfes um Verteilungsziele und um die Grenzen der Staatstätigkeit bzw. die Ausweitung oder Zurückdrängung der „öffentlichen Wirtschaft“ spielt sich gegenüber den Ortskrankenkassen ab. Diese haben als Objekte des Hasses den zweifelsfreien „Vorteil“, wie schon im Kaiserreich, weitgehend von sozialdemokratischen Kräften dominiert zu sein. Sie haben in der Weimarer Republik einzeln oder auf Verbandsebene in Konkurrenz zu mittelständisch-privatwirtschaftlichen Formen neben Ambulatorien zahlreiche Eigenbetriebe zur Beschaffung und Herstellung von Heilmitteln, weitere medizinische Institute und Kliniken sowie andere Einrichtungen geschaffen. Sie verkörpern somit für weite Kreise des „Mittelstandes“ das „Böse“ schlechthin. Die Folge ist eine maßlose Demagogie gegen diese sozialpolitischen Einrichtungen gerade auch in den letzten Jahren der Republik. „In Artikeln über die Zerstörung der Wirtschaft durch die Ortskrankenkassen, das Paschawesen der Ortskrankenkassenverwaltungen, den Machthunger der Ortskrankenkassen, die Überspannung des sozialen Gedankens durch die Ortskrankenkassen, das Partei- und Gewerkschaftsbonzentum in den Ortskrankenkassen, die sozialdemokratische Mißwirtschaft in den Ortskrankenkassen, den Bankrott des Handwerks durch die Ortskrankenkassen, die Erdrosselung der Aerzte durch die Ortskrankenkassen, die kalte Sozialisierung durch die Ortskrankenkassen, die Ortskrankenkassen als Großgrundbesitzer, die Ortskrankenkassen als Schädlinge am deutschen Volkskörper und so weiter ... wird die Arbeit der Ortskrankenkassen durch die Gosse geschleift.“660 Einige zu 656 Vgl. dazu: Hinz, Hans-Joachim: Mieterschutz und Wohnungsbau am Beginn der Weltwirtschaftskrise. Zur staatlichen Wohnungspolitik der Weimarer Republik 1929/30. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 39(1991)3, 231 - 249, sowie: Schulz, Günther (Hg.): Wohnungspolitik im Sozialstaat. Deutsche und europäische Lösungen 1918 - 1960. Düsseldorf 1993. 657 Aufstieg...a.a.O.(=Anm. 650), 27. 658 Vgl. zu diesem Haushaltsrecht ebenda, 47 ff. 659 Vgl.: Böhret, Carl: Aktionen...a.a.O.(=Anm. 655), 20. 660 Spangenberg, Fritz: Der Kampf gegen die Ortskrankenkassen. In: Volkstümliche Zeitschrift für die gesamte Sozialversicherung, 33(1927)4, 57 - 61, hier: 57.

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Buchformat ausgearbeitete „Breitseiten“ gegen die Sozialversicherung aus diesen Tagen finden große Beachtung. Das Mitglied des „Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes“, Gustav Hartz, will in seinem Buch das individuelle Zwangssparen an die Stelle der Sozialversicherung setzen.661 Der „Philosoph“ Ernst Horneffer kritisiert an Hand der Sozialversicherung die Gefahr der „Bevölkerungsverweichlichung“,662 er kann sich auf den Danziger Arzt Erwin Liek berufen, der auf vorgeblich massenhafte Rentensucht und neurotische Auswüchse als Folge des Bestehens der Sozialversicherung verweist.663 Es sind dies allesamt Ansätze und Ideologien deren Geschichte in das 19. Jahrhundert zurückgeht. An der Demagogie gegen die Sozialversicherung haben rechtsgerichtete Kreise und darunter auch die NSDAP wesentlichen Anteil.664 Letztlich sind es überwiegend Kapitalverwertungs-, Status- und Einkommensinteressen, die eine staatliche Aufgabenerfüllung und eine Beschäftigung von öffentlich Bediensteten auf diesen Gebieten nicht akzeptieren können. Gleichzeitig sind diese Auseinandersetzungen Zeichen dafür, daß das von der extremen Linken als „wirtschaftsfriedlich“ qualifizierte Konzept der „Wirtschaftsdemokratie“, soweit es verwirklicht ist, heftigste Konflikte auch jenseits der Stellungnahmen der zentralen Berufs- und Wirtschaftsverbände hervorruft, mithin auch auf dieser Ebene keineswegs dem „Wirtschaftsfrieden“ dient. Auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung des RDI vom 12. Dezember 1929 sieht der Vorsitzende dieses Interessenverbandes, Geheimrat Carl Duisberg, die Wirtschaft „am Ende ihrer Kraft“ - das müsse dem „deutschen Volke“ laut und deutlich verkündet werden.665 Die „Kapitalbildung“ sei allen anderen Erfordernissen voranzustellen, insbesondere seitdem das Ausland mit „rauher Hand“ die dauernde Zufuhr von geliehenem Kapital eingestellt habe, betont ein anderer Redner. Die Herausbildung eines „Versorgungsstaats“, einer „Rentnergesinnung“, ein „Wettrennen der Kommunen um den ersten Preis in der Pro-Kopf-Verschuldung“, die „Konfiszierung“ von 40 % des Volkseinkommens durch den Staat sind einige weitere Vorwürfe und Anschuldigungen, aus denen heraus ein im Grunde deflationäres Programm der Kosten- und Preisreduktion begründet werden soll, daß den Absatz nach innen und außen fördern und so die sich abzeichnende Weltwirtschaftskrise für die Unternehmen abmildern soll. Im Gegensatz zu gewerkschaftlichen Auffassungen, betont Carl Duisberg, würden Maßnahmen verlangt, „...wodurch die deutsche Wirtschaft von der Produktionsseite her wieder gesunden soll...“666 Selbstverständlich sind diese Auffassungen, deren massive politische „Nutzanwendung“ noch bevorsteht, von Zweifeln nicht angekränkelt und sie werden von den „sachverständigen Wirtschaftsführern“ natürlich auch im Namen des „Gesamtinteresses“, der Krisenüberwindung, der Behebung der Arbeitslosigkeit und zum „Besten“ von „Volk und Vaterland“ erhoben.

661 Vgl.: Hartz, Gustav: Irrwege der deutschen Sozialpolitik und der Weg zur sozialen Freiheit. Berlin 1928. 662 Vgl.: Horneffer, Ernst: Frevel am Volke. Leipzig 1929. 663 Vgl.: Liek, Erwin: Die Schäden der sozialen Versicherungen und Wege zur Besserung. Zweite, stark vermehrte Auflage. München 1928. 664 Vgl. als ein Beispiel der entsprechenden Demagogie: Engel, Johannnes, Eisenberg, Franz: Millionen klagen an. Aktenmäßige Aufdeckung marxistischer Mißwirtschaft in der Sozialversicherung. München 1932; vgl. als „Gegenschriften“: Der Kampf gegen die Krankenkassen. Ein Wort zur Sicherung von Klarheit und Wahrheit. Bremen im Februar 1928; Lehmann, Helmut: Die Sünde wider das Volk. Eine Streitschrift für die deutsche Krankenversicherung. Berlin 1929. 665 Vgl.: Wirtschafts- und Sozialpolitik, Steuer- und Finanzpolitik. Vorträge... Berlin, Januar 1930 (Veröffentlichungen des Reichsverbandes der Deutschen Industrie Nr. 50), 6. 666 Ebenda, 44, im Original gesperrt.

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Die Freien Gewerkschaften vermuten in einer Erklärung, die am 21. Dezember 1929 publiziert wird, eine wahre „Katastrophenpolitik“ maßgebender Kreise des Unternehmertums. Die erwarteten Wirtschaftserleichterungen des Young-Planes, heißt es dort, dienten dem RDI in Denkschrift und Kundgebung zu einem Vorstoß, der auf einen Abbau und eine Aushöhlung der Sozialversicherungen, auf „... die Einschränkung des Schlichtungswesens, die Drosselung der öffentlichen Wirtschaft, die Abwälzung der Steuerlasten vom Kapital auf die Arbeit“ ziele. „Mit den Schlagworten ‘Sicherung der Rentabilität’ und ‘Kapitalbildung’ wird von der vereinigten sozialen Reaktion eine Panikstimmung erzeugt, als wäre die deutsche Wirtschaft unter der jetzigen Steuer- und Sozialpolitik in eine Katastrophe hineingeführt worden.“667 Wie andere zentrale Bereiche und Erscheinungen, so folgt auch die Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung dem Muster der ökonomischen Prozesse. Auch ihre Aktivitäten spiegeln das konjunkturelle Auf und Ab. Anfang 1924 ist die Gewerkschaftsbewegung damit befaßt, ihre Organisationen und Aktivitäten wieder zu reorganisieren und zu festigen. Das Verhältnis zur Unternehmerschaft und zum Staat ist zu dieser Zeit mehr oder weniger eisig. Erst allmählich normalisieren sich die Beziehungen insbesondere zum Staat. Nach der „Reinigungskrise“ steigt die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder insgesamt wieder an. 1929 erreicht der Mitgliederstand der im ADGB zusammengeschlossenen Freien Gewerkschaften die Zahl von 4.948.267, danach geht die Zahl wieder zurück. Das bedeutet gegenüber dem Tiefstand von 1926 einen Mitgliederzuwachs von rund einer Million, und über diese Zahlen und die Lohnsteigerungen vermittelt sich ein Zuwachs an gewerkschaftlichen Möglichkeiten. Die anderen Gewerkschaftsrichtungen befinden sich 1929 ebenfalls auf dem Gipfelpunkt ihres „nachinflationären“ Mitgliederwachstums. Die Christlichen Gewerkschaften umfassen 792.872 und die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine 168.726 Mitglieder. Insgesamt organisieren die drei Richtungsgewerkschaften im Jahre 1929 5,9 Millionen Menschen. Damit werden zwar die Zahlen der Jahre zwischen Revolution und Stabilisierung bei weitem nicht wieder erreicht,668 dennoch erleben die Gewerkschaften in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre eine gewisse „Blütezeit“ und können ihrem tarifpolitischen und sozialpolitischen Willen Geltung verschaffen.669 Insbesondere in den Jahren des Wachstums und der Konsolidierung 1926 bis 1929 herrscht „...in den Gewerkschaften ein Gefühl relativer Sicherheit vor und die Hoffnung auf eine weitere Festigung des bestehenden politischen, ökonomischen und sozialen Systems.“670 Im Jahre 1924 wird, wegen der zweimaligen Reichstagsauflösung, am 4. Mai und am 7. Dezember gewählt. Die Reichstagswahlen vom Mai „... fügten der Weimarer Koalition eine weitere Schlappe zu, die kaum weniger katastrophal war als die des Jahres 1920.“671 Diese Wahlen stärken die radikale Rechte, die im Wahlkampf massiv gegen die „Verskla667 Keine Katastrophenpolitik! Erklärung der Gewerkschaften. In: Gewerkschafts-Zeitung, 39(1929)51, 801. 668 Vgl. zu den Daten: Petzina, Dietmar, Abelshauser, Werner, Faust, Anselm: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch...a.a.O.(=Anm. 21), 111. 669 Vgl. ausführlicher: Schneider, Michael: Höhen, Krisen und Tiefen. Die Gewerkschaften in der Weimarer Republik 1918 bis 1933. In: Borsdorf, Ulrich (Hg.): Geschichte der deutschen Gewerkschaften von den Anfängen bis 1945. Köln 1987, 281 - 446. 670 Schönhoven, Klaus: Innerorganisatorische Probleme der Gewerkschaften in der Endphase der Weimarer Republik. In: Gewerkschafts-Zeitung. 43. Jahrgang, Berlin 1933. Reprint. Berlin 1986, (73) - (104), hier: (76). 671 Schwabe, Klaus: Der Weg der Republik vom Kapp-Putsch 1920 bis zum Scheitern des Kabinetts Müller 1930. In: Bracher, Karl Dietrich, Funke, Manfred, Jacobsen, Hans-Adolf (Hg.): Die Weimarer Republik 1918 - 1933. Düsseldorf 1987, 95 - 133, hier: 120; ausführlicher: Winkler, Heinrich August: Der Schein...a.a.O.(=Anm. 601), 177 ff.

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vung Deutschlands“ durch den Dawes-Plan agitiert hatte, und auch die radikale Linke und bereiten der reformistischen Linken eine schwere Niederlage. Die SPD verzeichnet vordergründig zwar nur geringe Verluste und schrumpft gegenüber den Wahlen von 1920 von 21,7 % auf 20,5 % der Stimmen. Bei näherem Hinsehen bedeutet dies jedoch, daß die wiedervereinigte Sozialdemokratie im Mai 1924 weniger Stimmen bekommt, als die Mehrheitssozialdemokraten im Jahre 1920. Es ist dieser Partei also nicht gelungen die 17,9 % der Stimmen, die die USPD im Jahre 1920 erreicht hatte, auf sich zu ziehen. Die „Bayerische Volkspartei“ (BVP) erreicht statt 4,4 % (1920) nur 3,2 %. Die DVP erzielt statt 13,9 % nur noch 9,2 %, die DDP statt 8,3 noch 5,7 % der Stimmen. Das Zentrum erweist sich mit 13,4 % als relativ stabil. Gewinner der Maiwahl ist die DNVP, die ihren Stimmenanteil von 15,1 % auf 19,5 % erhöht. Die „Deutschvölkische Freiheitspartei“, die sich aus antisemitischen Abspaltungen von der DNVP gebildet und sich mit Teilen der zu diesem Zeitpunkt verbotenen NSDAP zusammengeschlossen hat, erreicht 6,5 % der Stimmen. Die KPD, in der sich nunmehr die „Ultralinken“ durchsetzen, erreicht 12,6 % der Stimmen und wird damit zur proletarischen Massenpartei. Mit diesem Ergebnis spiegeln die Wahlergebnisse des Mai 1924 die innenpolitische Radikalisierung während der fundamentalen Krisenlage des Jahres 1923 und tiefgreifende Enttäuschungen im Mittelstand.672 Die Dezemberwahlen des Jahres 1924 schwächen diese Radikalisierungstendenz leicht ab: „Die sich im Laufe des Jahres 1924 verbessernde Konjunktur und leichte Erhöhungen der Reallöhne trugen hierzu sicherlich erheblich bei. Der SPD gelang es, ihr Ergebnis von 20,5 auf 26 % zu verbessern, ebenso der DNVP mit 20,5 gegenüber 19,5 %; die Kommunisten sanken von 12,6 auf 9 %, die vereinten Nationalsozialisten und Völkischen errangen nur noch 3 statt 6,5 %. Leichte Verbesserungen erreichten die DDP (von 5,7 auf 6,3 %), die DVP (von 9,2 auf 10,1 %), das Zentrum (13,6 statt 13,4 %) sowie die BVP (3,7 statt 3,2 %). Mit dieser Trendwende im Wählerverhalten schienen die schweren Belastungen der Stabilisierung nach etwa einem Jahr innenpolitisch bewältigt.“673 Die Reichstagswahlen vom 20. Mai 1928, die letzten „normalen“ Wahlen vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, führen dazu, daß die DNVP nur noch 14,2 % (statt 20,5 % in der Wahl vom 7. Dezember 1924) erhält. Die DVP erzielt 8,7 % (statt 10,1 %), die BVP 3,1 (statt 3,7 %), das Zentrum 12,1 % (statt 13,6 %). Der Stimmenanteil der DDP sinkt auf 4,9 % (statt 6,3 %). Die SPD kann ihren Stimmenanteil von 26,0 % auf 29,8 % verbessern und erzielt damit ihr bestes Reichstagswahlergebnis seit 1919. Die KPD wächst von 9 % auf 10,6 %. Als ernstes Vorzeichen der bevorstehenden Auflösung des bis zu diesem Zeitpunkt trotz aller Schwankungen relativ stabilen Gesamtgefüges der parteipolitischen Lager bzw. Wählerblöcke ist es zu werten,674 daß die Splitterparteien von den Verlusten der bürgerlichen Mitte profitieren. Sie können ihren Stimmenanteil von 8,5 auf 14,7 % steigern. Die NSDAP jedoch bleibt mit 2,6 % noch hinter ihrem schlechten Wahlergebnis von 3,0 % im Jahre 1924 zurück.675 Die Beteiligung an dieser Wahl ist außerordentlich gering, sie ist die niedrigste seit 1898.676 Insgesamt gerät damit die Reichstagswahl vom 20. Mai 1928 nicht zu einem Beweis für die wachsende Stabilität der parlamentarischen Demokratie sondern für ihre fortdauernde Labi672 Vgl.: Longerich, Peter: Deutschland...a.a.O.(=Anm. 574), 156. 673 Derselbe, ebenda, 158. 674 Vgl. dazu: Falter, Jürgen W.: Die Wählerpotentiale politischer Teilkulturen 1920 - 1933. In: Lehnert, Detlef, Megerle, Klaus (Hg.): Politische Identität und nationale Gedenktage. Opladen 1989, 281 - 305; als anschauliches Kernstück des Beitrages die Graphik auf Seite 287. 675 Vgl.: Longerich, Peter: Deutschland...a.a.O.(=Anm. 574), 247. 676 Vgl.: Winkler, Heinrich August: Der Schein...a.a.O.(=Anm. 601), 521.

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lität. Dieser Eindruck wird durch den Blick auf einzelne Krisenregionen, durch Kommunalwahlergebnisse und regionale Wählerstimmenverteilungen noch verstärkt. Es existieren sogar bereits Hinweise auf die exorbitanten „Wachstumschancen“ der NSDAP, über die das klägliche (Gesamt-)Wahlergebnis in der Reichstagswahl des Jahres 1928 nicht hinwegtäuschen darf. Es gibt offensichtliche Anzeichen dafür, daß sich neben dem sozialistischen Milieu und dem katholischen Milieu, gespeist vor allem aus dem krisengeschüttelten bürgerlich-mittelständischen und dem agrarisch-konservativen Milieu ein neues nationalistisch-rechtsradikales Milieu herausbildet,677 aus dem die noch bedeutungslose, nach ihrem Verbot am 27. Februar 1925 neugegründete NSDAP Rückhalt und Zulauf erhält bzw. erhalten wird. Schon einige Zeit bevor die Weltwirtschaftskrise einsetzt und die NSDAP zu einem bedeutendem politischen Faktor wird, beginnt die Auflösung des „traditionellen“ Weimarer Parteiensystems. Insbesondere das bürgerlich-protestantische Wählerlager hat in bemerkenswertem Umfang aufgehört „liberal“ zu sein und ist zusammen mit einem großen Teil der Nichtwähler auf der Suche nach einer neuen „politischen Heimat.“678 Zu einem im In- und Ausland von kritischen bis entsetzten Kommentaren begleiteten Menetekel gerät die Wahl des bereits 77 Jahre alten Weltkrieg-Heros Paul von Hindenburg zum Reichspräsidenten. Unterstützt von der DNVP, DVP und BVP geht er aus dem zweiten Wahlgang mit 48,3 % der Stimmen siegreich hervor und wird der Nachfolger des Sozialdemokraten Friedrich Ebert, der am 28. Februar 1925 verstirbt und der insbesondere in seinem letzten Amtsjahr gehässigen Anfeindungen von seiten der extremen Rechten ausgesetzt war.“679 Mit von Hindenburg wächst die Bedeutung der altpreußischen Eliten, die nunmehr wieder einen der ihren an der Staatsspitze wissen zu dem sie unmittelbaren Zugang besitzen. Zwar nimmt von Hindenburg, der mit seiner Person das vorgeblich „im Felde unbesiegte“ monarchische Deutschland verkörpert und vom ehemaligen Admiral von Tirpitz, einem Exponenten der Rechten zur Kandidatur gewonnen wurde, in den Jahren der „Scheinblüte“ der Republik die Verfassung zunächst durchaus ernst und bemüht sich um parlamentarisch-demokratische (Krisen-)Lösungen, spielt aber danach in der großen Existenzkrise der Republik eine wahrhaft verhängnisvolle Rolle. Die koalitionspolitische Umsetzung der Wahlergebnisse und die koalitionspolitischen Strategien der „Zwischenwahlzeit“ führen zunächst zu rein bürgerlichen Regierungsbildungen. Der sich fortsetzende rasche Regierungswechsel zeigt auch für die Jahre der Stabilisierung, wie wenig die Parteien in der Lage und willens sind, mehr als kurzfristige Zweckbündnisse abzuschließen, ihre häufig entgegengesetzten Interessen auszugleichen und die ausgehandelten Kabinette wirksam zu unterstützen.680 An das erste Kabinett unter Führung des Vorsitzenden der Zentrumspartei, Wilhelm Marx, ein von der SPD toleriertes Minderheitskabinett, schließt sich am 3. Juni 1924 ein zweites Kabinett Marx an, das wegen der für die Regierung ungünstigen Wahlergebnisse Mitte Januar 1925 zurücktritt. Am 677 Dieser „Milieu-Ansatz“ in der historischen Parteien- bzw. Wahlforschung geht auf R. M. Lepsius zurück, der die bemerkenswerte Stabilität des deutschen Parteisystems bis 1928 auf relativ geschlossene „Sozialmilieus“ zurückführt, die durch eine „komplexe Konfiguration religiöser, regionaler, sozialer und wirtschaftlicher Faktoren“ bestimmt werden; vgl. zusammenfassend: Kolb, Eberhard: Die Weimarer Republik...a.a.O.(=Anm. 14), 176; vgl. ausführlich: Lepsius, Rainer M.: Parteiensystem und Sozialstruktur. In: Ritter, Gerhard A. (Hg.): Deutsche Parteien vor 1918. Köln 1973, 56 - 80; vgl. auch die auf Hessen bezogene Anwendung des Konzepts bei: Weichlein, Siegfried: Sozialmilieus und politische Kultur in der Weimarer Republik. Göttingen 1996. 678 Ähnlich: Kolb, Eberhard: Die Weimarer Republik...a.a.O.(=Anm. 14), 177. 679 Vgl. dazu: Witt, Peter-Christian: Friedrich Ebert. Parteiführer, Reichskanzler, Volksbeauftragter, Reichspräsident. Bonn 1987, 169 ff. 680 Vgl.: Longerich, Peter: Deutschland...a.a.O.(=Anm. 574), 223 ff.

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15. Januar 1925 gelingt es dem parteilosen Politiker Hans Luther eine bürgerliche Mehrheitsregierung unter Einschluß von DVP, BVP, Zentrum und, das ist neu, der rechtsgerichteten DNVP zu bilden. Diese Regierung gerät aus außenpolitischen Gründen Ende 1925 in eine Krise, es wird ein zweites Kabinett Luther, eine bürgerliche Minderheitsregierung gebildet, die am 12. Mai 1926 über ein von der DDP eingebrachtes „Missbilligungsvotum“ stürzt. Es schließt sich am 17. Mai 1926 ein bürgerliches Minderheitskabinett unter Marx an, das bis zum 29. Januar 1927 im Amt bleibt, aber schon am 17. Dezember 1926 einem Mißtrauensvotum zum Opfer fällt, „...zu dem sich aus unterschiedlichen Gründen SPD und DNVP zusammengetan hatten.“681 Aus dieser Krise wiederum geht eine zweite „MitteRechts-Mehrheits-Koalition“ hervor, die die DNVP, die DVP, das Zentrum und die BVP umfaßt. Diese Koalition amtiert wiederum unter Marx vom 29. Januar 1927 bis zum 29. Juni 1928. Am Ende des hier zu betrachtenden Zeitraums steht der zweite, der letzte Versuch, die Republik mit einer Großen Koalition zu regieren. Da bei den gegebenen Orientierungen der Parteien und bei den gegebenen Wahlergebnissen des Jahres 1928 weder eine Mehrheitsregierung der „Weimarer Koalition“ noch ein „bürgerlich-rechter Mehrheitsblock“ möglich ist, bleibt die Große Koalition als der damals einzige erfolgversprechende koalitionspolitische Ausweg. Diese Große Koalition, die mit der SPD, der DDP, der DVP, der BVP und dem Zentrum sehr heterogene Kräfte mühevoll zusammenbindet, ist mit einer Amtsdauer vom 28. Juni 1928 bis zum 27. März 1930 „...die langlebigste aller Regierungen, welche die Republik bis dahin gehabt hatte.“682 Diese Koalition beendet die Amtszeit des Zentrumsabgeordneten Heinrich Brauns als Reichsarbeitsminister. Das wiederum hätte nicht sein müssen. Sieht man einmal von der Wirkung der öffentlich bekannt werdenden „Aktennotiz“ des VDA-Geschäftsführers Hermann Meißinger über seine Gespräche im Reichsarbeitsministerium am 8. August 1925 ab, ein Vorgang, der den Eindruck einer heimlichen Kumpanei dieses Ministeriums mit den Arbeitgebern erweckt und erhebliche Irritationen in den Gewerkschaften hervorruft, so war das Verhältnis der Freien Gewerkschaften zum Reichsarbeitsminister bald durchaus zufriedenstellend. Dieses Verhältnis war durch sozialpolitische Fortschritte auch unter bürgerlichen Regierungen gefestigt worden. Im Rahmen interner Auseinandersetzungen um die Regierungsbildung ist es das Zentrum selbst, das Brauns zum Rücktritt bewegt, obwohl er nach dem Willen des Reichskanzlers Hermann Müller und nach Meinungsbekundungen aus dem ADGB sein Ressort hätte weiterführen können.683 Der Sozialdemokrat Rudolf Wissell tritt an seine Stelle. Die Große Koalition, dieses letzte „Parteienkabinett“ der Republik scheitert vor dem Hintergrund bereits sinkender wirtschaftlicher Wachstumsraten an innenpolitischem Dissenz. Dabei spielen sozialpolitische Fragen als Konfliktanlaß eine entscheidende Rolle. Die folgende Darstellung der staatlichen Sozialpolitik in den „goldenen zwanziger Jahren“ und die Einpassung dieses Politikbereichs in die ökonomischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen erfolgt nun auf zweierlei Weise. Zunächst wird mit häufig pauschalem Bezug zu den Rahmenbedingungen ein Überblick über wichtige sozialpolitische Maßnahmen dieses Zeitraumes gegeben. Dabei wird eine Darstellung und Analyse der 681 Schwabe, Klaus: Der Weg der Republik...a.a.O.(=Anm. 671), 123. 682 Derselbe, ebenda, 127. 683 Vgl. die Einleitung bei: Vogt, Martin (Bearb.): Das Kabinett Müller II. 28. Juni 1928 bis 27. März 1930. Band 1. Boppard am Rhein 1970, VII - LXIX, hier: IX; vgl. das Dok. 192 in: Kukuck, Horst-A., Schiffmann, Dieter (Bearb.): Die Gewerkschaften von der Stabilisierung bis zur Weltwirtschaftskrise 1924 - 1930. Halbband II. Köln 1986, 1092, hier: 1093. Zahlreiche Zeitungsausschnitte sind enthalten in: SAPMO-BA. KPD/ZK. I 2/703/80.

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Entwicklung der Arbeitsgerichtsbarkeit und der Arbeitsmarktpolitik, die im Erlaß des „Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG)“ vom 16. Juli 1927 gipfelt, ausgespart. Diesen Bereichen, denen auch aus heutiger Sicht eine zentrale Bedeutung zukommt, werden die beiden sich anschließenden Unterkapitel gewidmet. Sie werden auch wieder detaillierter mit den ökonomischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen verknüpft.

2.2.2 Grundlinien der Entwicklung der staatlichen Sozialpolitik Wie die heftige Agitation der Vertreter der Wirtschaft und der nichtsozialistischen Kräfte bereits „unfreiwillig“ erkennen läßt, gerät das „beste Jahrfünft“ der Weimarer Republik auch zu einer gewissen „Blütezeit“ des „demokratischen Sozialstaats“. Unbeschadet der Wählerfluktuationen und Koalitionsbildungen, gefördert durch die inner- und außerparlamentarischen Interessen und Kräfteverhältnisse, durch erfolgreiche Einflußnahme und erleichtert durch steigende Löhne und Gehälter sowie die relativ geringen Arbeitslosenzahlen, „reckt und streckt“ sich der Sozialstaat auch während der Regierungszeit bürgerlicher Koalitionen. Dabei wird nicht nur seine Schutz- und Sicherungsfunktion verbessert. Die Beteiligung der „autonomen Verbände“ von Arbeit und Kapital an der Beherrschung und Gestaltung des Arbeitslebens, der Einfluß der „Klassenverbände“ wird noch einmal erheblich ausgeweitet. Das von der „bürgerlichen Sozialreform“ im Kaiserreich konzipierte, von reformorientierten Kräften der Arbeiterbewegung schon früh „mitbedachte“ und geforderte, das bereits in der besonderen innenpolitischen Situation des Ersten Weltkrieges umgesetzte Modell der gleichberechtigten Beteiligung von Kapital und Arbeit erfährt in den Jahren bis zum Beginn der Weltwirtschaftskrise seinen Höhe- und Endpunkt. Kurz bevor dieser Entwicklung der ökonomische und im weiteren Sinne auch der politische Boden entzogen wird, wird der Zenit der Beteiligung der „wirtschaftlichen Vereinigungen“ insgesamt bzw. der Gewerkschaften auf dem Gebiet der tarifvertraglichen „Selbstgesetzgebung“, der „Mitverwaltung“ und „Mitsprache“ in sozialpolitischen Behörden, in wirtschaftlichen Unternehmen (Kohle, Kali usw.), im „Gutachterparlament“ (d. h. im „Vorläufigen Reichswirtschaftsrat“), in Betrieben, in der Schlichtung, im Gerichtswesen usw. usf. erreicht. Eine Fülle von sozialpolitischen Gesetzen mit schützendem, unterstützendem, aber auch Beiträge einforderndem und Partizipation verbürgendem Inhalt ebnet und säumt diesen Weg und belegt die angedeuteten Zusammenhänge.684 Die Mitwirkungschancen der Arbeiter und Angestellten im Rahmen der im Jahre 1920 gesetzlich normierten Betriebsräte, erfahren durch das vom Unternehmertum heftig abgelehnte „Gesetz zur Abänderung des Betriebsrätegesetzes“ vom 28. Februar 1928685 insofern eine Verbesserung, als nunmehr eine dringend erforderliche gesetzliche Handhabe geschaf684 Diese Entwicklung, die dem Konzept der „Wirtschaftsdemokratie“ entspricht, ist häufig auch von der „sozialreformerisch-gewerkschaftlich-sozialdemokratisch“ orientierten (Arbeits-)Rechtswissenschaft beschrieben und theoretisch analysiert worden. Vgl. dazu etwa: Sinzheimer, Hugo: Grundzüge des Arbeitsrechts. 2. Aufl. Jena 1927; Potthoff, Heinz: Die wirtschaftlichen Vereinigungen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. In: Geib, (Hermann) (Hg.): Jahrbuch für Sozialpolitik 1930. Leipzig 1930, 48 - 58; Sinzheimer wirkt schließlich auch an der Ausformulierung des Konzepts der „Wirtschaftsdemokratie“ mit; vgl.: Naphtali, Fritz (Hg.): Wirtschaftsdemokratie...a.a.O. (=Anm. 641),3; in diesem Zusammenhang immer noch lesenswert: Bogs, Walter: Autonomie und verbandliche Selbstverwaltung im modernen Arbeits- und Sozialrecht. In: Recht der Arbeit, 9(1956)1, 1 - 9. 685 Vgl.: RGBl. I 1928, 46.

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fen wird, „...den Arbeitgeber anzuhalten, seiner Verpflichtung zur Bestellung eines Wahlvorstandes nachzukommen.“686 Bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes oblag diese Verpflichtung, die die Voraussetzung jeder weiteren Betriebsratstätigkeit war, bekanntlich dem noch amtierenden Betriebsrat bzw., falls dieser nicht tätig wurde, dem Arbeitgeber.687 Da es auf Grund der innerbetrieblichen Machtverhältnisse und der „aversiven“ Haltung vieler Unternehmer häufig weder zu dem einen, noch dem anderen kam, bestimmt der durch das Gesetz des Jahres 1928 neugefaßte § 23 nunmehr: „Kommt der Arbeitgeber seiner Verpflichtung ... nicht nach, so bestellt auf Antrag eines oder mehrerer wahlberechtigter Arbeitnehmer oder auf Antrag einer wirtschaftlichen Vereinigung der Arbeitnehmer der Vorsitzende des Arbeitsgerichts einen Wahlvorstand aus den wahlberechtigten Arbeitnehmern. Antragsberechtigt ist auch der Gewerbeaufsichtsbeamte oder ... die von der obersten Landesbehörde bestimmte Behörde.“ Kommt der Wahlvorstand seiner Verpflichtung zur Einleitung und Durchführung der Wahl nicht nach, so kann nun durch den Vorsitzenden des Arbeitsgerichtes auf Antrag ein neuer Wahlvorstand eingesetzt werden. Tatsächlich zeigt diese Gesetzesänderung die erhoffte Wirkung. Nach einem vorübergehenden „Tief“ auf dem Gebiet der betrieblichen Partizipation während der Stabilisierungskrise werden vor Beginn der Weltwirtschaftkrise über 30.000 Mandatsträger allein in der Metallindustrie gezählt, ein Erfolg, der kurz darauf durch den Wirtschaftsabschwung wieder zerstört wird.688 Auch der Schutz vor Beschränkungen und Benachteiligungen in Zusammenhang mit Betriebsratstätigkeiten wird durch das Abänderungsgesetz klarer zum Ausdruck gebracht. Das Tarifvertragswesen, jener juristisch umzäunte Bereich der autonom-verbandlichen Gestaltung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen, der „sozialen Selbstbestimmung im Recht“,689 war in der Revolutionszeit durch die erwähnte „Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten“ vom 23. Dezember 1918 geregelt worden. Diese „vorläufige“ Regelung sollte durch ein Tarifvertragsgesetz ersetzt werden, ein Vorhaben, das 1921 scheiterte. „Immerhin“ war in enger Zusammenarbeit mit dem österreichischen Bundesministerium für soziale Verwaltung und mit der „Deutsch-österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Rechtsangleichung“ in München ein Entwurf ausgearbeitet worden, der auch die Betriebsvereinbarung, die Frage der Tariffähigkeit und die Haftung berührte. Dieses eigenartige Verfahren war Ausdruck des weiterbestehenden Verlangens nach einem Anschluß von Deutschösterreich an das Deutsche Reich. Gegen den Widerstand der alliierten und assoziierten Mächte hatte dieses Verlangen sogar seinen Niederschlag in Artikel 61 Absatz 2 der Weimarer Reichsverfassung gefunden.690 Die entscheidende und bedeutsame vorkonstitutionelle Rechtsquelle vom 23. Dezember 1918691 war zwischenzeitlich um ganze Teile gekürzt worden, weil die entsprechenden Inhalte in Einzelgesetze übernommen wurden. Sie hatte auch geringfügige Abän686 Frerich, Johannes, Frey, Martin: Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Band 1: Von der vorindustriellen Zeit bis zum Ende des Dritten Reiches. München, Wien 1993, 178. 687 Vgl. den § 23 des Betriebsrätegesetzes vom 4. Februar 1920. 688 Vgl.: Plumpe, Werner: Die Betriebsräte in der Weimarer Republik...a.a.O.(=Anm. 326), 45. 689 So der Untertitel der konzeptionell bedeutenden Vorkriegsschrift von: Sinzheimer, Hugo: Ein Arbeitstarifgesetz. Die Idee der sozialen Selbstbestimmung im Recht. München 1916. 690 Vgl.: Sitzler, (Friedrich): Der gegenwärtige Stand des Arbeitsgesetzgebungswerks. In: Geib, (Hermann) (Hg.): Jahrbuch...a.a.O.(=Anm. 684), 39 - 42, hier: 40 f.; vgl. zum „Anschluß“ bzw. zum Art. 61(2): Anschütz, Gerhard: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis. 9. unveränderte Auflage (28. - 29. Tausend). Berlin 1929, 200 ff. 691 Vgl. dazu ausführlicher den Abschnitt 1.1 dieser Arbeit.

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derungen und Ergänzungen erfahren.692 Sie wird schließlich als „Bekanntmachung der neuen Fassung der Tarifvertragsverordnung“ vom 1. März 1928 publiziert. Dieser Text dokumentiert auf dem Gebiet des Tarifvertragswesens einen gegenüber 1918 im wesentlichen unveränderten Rechtsstand.693 Die Zahl der in Kraft befindlichen Tarifverträge schwankt in den Jahren 1924 bis 1929 zwischen einem Maximum von 8.925 und einem Minimum von 7.099 jeweils zu Beginn der Jahres. Zwischen 785.945 und 997.977 Betriebe mit Beschäftigtenzahlen zwischen 13.135.348 und 10.970.120 werden von ihnen zu Beginn des jeweiligen Jahres erfaßt. Insgesamt ist dies gegenüber dem Ende des Jahres 1913 eine gigantische Steigerung. Zwar existierten damals 10.885 Tarifverträge für 143.088 Betriebe, diese beschäftigten allerdings nur 1,4 Millionen Menschen. Die außergewöhnliche Zunahme der Bedeutung der Tarifverträge, dieser neuen „kollektiven Rechtsordnung“, setzte erst in den Inflations- und Krisenjahren der Republik ein.694 Als außerordentlich unübersichtlich und uneinheitlich geregeltes Teilgebiet der staatlichen Sozialpolitik wird der Arbeitsschutz, d.h. die Summe aller gesetzlichen Vorschriften, „... die den Schutz der Arbeitnehmer gegen die mit ihrer Beschäftigung zusammenhängenden Schädigungen und gegen übermäßige Ausnutzung ihrer Arbeitskraft zum Ziele haben“,695 Gegenstand eines umfassend angelegten Reformvorhabens. Die Vorschriften zum Betriebs- und Gefahrenschutz, zum Arbeitszeitschutz und zum Vertragsschutz, die dieses Gebiet der staatlichen Sozialpolitik ausmachen, sollen zu einem einheitlichen Arbeitsschutzgesetz zusammengefaßt und nach einheitlichen Grundsätzen bearbeitet werden.696 Nach langen Auseinandersetzungen mit den Verbänden von Arbeit und Kapital wird im Dezember 1926 dem „Vorläufigen Reichswirtschaftsrat“ und dem Reichsrat ein entsprechender Entwurf vorgelegt. Dieser „...erfaßt über die gewerbliche Arbeit hinaus alle Beschäftigungsverhältnisse mit Ausnahme der Landwirtschaft, der Schiffahrt und des Haushalts und regelt in besonderen Abschnitten den Betriebsschutz, die Arbeitszeit, den Frauenund Jugendlichenschutz, die Sonntagsruhe, den Ladenschluß und die Arbeitsaufsicht.“697 Hinzu treten das Nachtbackverbot und der Kinderschutz.698 Der Entwurf stößt auf heftigste Kritik des ADGB, da er in keinem seiner Teile den „berechtigten sozialpolitischen Forderungen“ der deutschen Arbeiter entspreche.699 Der in den Gremien des Reichswirtschaftsrats lange beratene Gesetzentwurf wird am 29. März 1928 vom Reichsrat verabschiedet. Dieser muß sich kurz darauf wegen des Regierungswechsels, bedingt durch die Bildung der Großen Koalition also, erneut mit diesem Gebiet befassen.700 Schließlich ziehen sich die 692 Vgl. neben dem Betriebsrätegesetz von 1920 und der Schlichtungsverordnung von 1923, die beide ganze Abschnitte dieser Verordnung außer Kraft gesetzt haben, handelt es sich insbesondere um die „Verordnung, betreffend Änderung des Abschnitts I der Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten vom 23. Dezember 1918“ vom 31. Mai 1920 (RGBl. 1920, 1128), um das „Gesetz über die Erklärung der allgemeinen Verbindlichkeit von Tarifverträgen“ vom 23. Januar 1923 (RGBl. I 1923, 67) und das „Gesetz zur Abänderung der Tarifvertragsverordnung“ vom 28. Februar 1928 (RGBl. I 1928, 46). 693 Vgl.: RGBl. I 1928, 47. 694 Vgl. die Tabelle 21 bei: Frerich, Johannes, Frey, Martin: Handbuch...a.a.O.(=Anm. 686), 182. 695 Neitzel, G.: Arbeitsschutz. In: Dünner, Julia (Hg.): Handwörterbuch der Wohlfahrtspflege. Zweite, völlig neubearbeitete Auflage. Berlin 1929, 75 - 81, hier: 75. 696 Vgl.: Deutsche Sozialpolitik 1918 - 1928...a.a.O.(=Anm. 405), 71. 697 Ebenda, 71. 698 Vgl.: Sitzler, (Friedrich): Der gegenwärtige Stand...a.a.O.(=Anm. 690), 40. 699 Vgl. die Wiedergabe der Entschließung des Bundesausschusses des ADGB vom 16. Februar 1927. In: Jahrbuch 1926...a.a.O.(=Anm. 604), 63. 700 Vgl.: Deutsche Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 405), 72.

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Verfahren bis zum Ende dieser Koalition hin. Der Entwurf wird sodann im „Sozialpolitischen Ausschuß“ des Reichstages „... ein Opfer der bald schwer einsetzenden Wirtschaftsund politischen Krise ... Mit der Auflösung dieses Reichstags 1930 wurde auch der Arbeitsschutzgesetzentwurf begraben.“701 Das Scheitern dieses Entwurfs beinhaltet auch das Scheitern der von verschiedenen Seiten geforderten Ratifizierung des Washingtoner Arbeitszeitabkommens, das im Jahre 1929 doch noch dem Reichstag „...unter der Voraussetzung des Erlasses des Arbeitsschutzgesetzes vorgelegt worden war.“702 Wegen der langen Dauer der Verhandlungen und Beratungen über das Arbeitsschutzgesetz, werden einige Teilbereiche des Arbeitsschutzes parallel in separaten Verordnungen und Gesetzen geregelt. Zu diesen Teilbereichen zählt die höchst umstrittene und politisierte Frage der Regelung der Arbeitszeit, die durch die „Verordnung über Arbeitszeit“ vom 21. Dezember 1923 zuletzt zusammenfassend aber vorbehaltlich einer späteren endgültigen Regelung unter dem Protest der Arbeiterbewegung ausgestaltet worden war. Nunmehr jedoch erfährt die Arbeitszeit in Form sozialpolitischer Zugeständnisse an die Arbeiterbewegung, unter dem Druck des zur Reform drängenden Auslandes und unter dem Protest der betroffenen Industrien und nach teilweise heftigen Konflikten in den politischen Gremien einschränkende, am Achtstundentag orientierte Modifikationen. Dies geschieht durch die „Verordnung über die Arbeitszeit in Kokereien und Hochofenwerken“ vom 20. Januar 1925,703 durch drei im Kabinett reibungslos angenommene Verordnungen über die Arbeitszeit in Gaswerken, in Metallhütten und in Glashütten und Glasschleifereien vom 9. Februar 1927704 und die bedeutsame sehr kontrovers aufgefaßte, nahezu die gesamte Schwerindustrie betreffende „Verordnung über die Arbeitszeit in Stahlwerken, Walzwerken und anderen Anlagen der Großeisenindustrie“ vom 16. Juli 1927. Gegen die Umsetzung dieser Verordnung führt die Industrie einen äußerst heftigen und nicht erfolglosen Kampf.705 Den Abschluß dieser auf Grund von § 7 der „Arbeitszeitverordnung“ vom 21. Dezember 1923 ergehenden Verordnungen für besonders belastete Arbeitergruppen bildet die „Verordnung über die Arbeitszeit in der Zementindustrie“ vom 26. März 1929.706 „Erst 1929 war damit in großem, aber keinesfalls in dem vom Reichsarbeitsminister ursprünglich ins Auge gefaßten Umfange der Achtstundentag für die Schwerstarbeiter wiederhergestellt worden.“707 Damit wird auch das daraus bei kontinuierlich arbeitenden Betrieben resultierende Dreischichtsystem wiedereingeführt. Unter dem Druck der Gewerkschaftsmitglieder kommt es 701 Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 356; dort, auf den Seiten 353 ff., auch nähere Hinweise auf den Inhalt dieser Entwürfe; vgl. zu dem Arbeitsschutzgesetzentwurf auch: Bischoff, Sabine: Arbeitszeitrecht...a.a.O.(=Anm. 79), 127 ff.; dort auch detaillierte Hinweise auf die regierungsinternen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. 702 Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 356. 703 Vgl.: RGBl. I 1925, 5; vgl. zum Konflikt um diese Verordnung: Abramowski, Günter (Bearb.): Die Kabinette Marx I und II...Band 1...a.a.O.(=Anm. 573), XXX f. mit Hinweisen auf die Dokumente. Die Verordnung wird schließlich im Kabinett Luther I gegen Bedenken des Wirtschaftsministers mit Rücksicht auf die innenpolitische Lage als unumgänglich angesehen und, nachdem Brauns eine Ausdehnung auf andere Industriezweige als nicht beabsichtigt bezeichnet hat, einstimmig angenommen; vgl.: Minuth, Karl-Heinz (Bearb.): Die Kabinette Luther I und II. 15. Januar 1925 bis 20. Januar 1926. 20. Januar 1926 bis 17. Mai 1926.Band 1. Boppard am Rhein 1977, LI f. sowie 2 ff. 704 Vgl.: RGBl. I 1927, 59 f. 705 Vgl.: RGBl. I 1927, 221; vgl. zu diesem Kampf: Abramowski, Günter (Bearb.): Die Kabinette Marx III und IV...Band 1...a.a.O.(=Anm. 622), LXVI f.; ausführlich: Weisbrod, Bernd: Schwerindustrie in der Weimarer Republik. Wuppertal 1978, 333 ff. 706 Vgl.: RGBl. I 1929, 82. 707 Bischoff, Sabine: Arbeitszeitrecht...a.a.O.(=Anm. 79), 126.

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nunmehr ebenfalls zu umfangreichen tarifvertraglichen Verkürzungen der Arbeitszeit. Zur Ruhe kommt die Diskussion um eine generelle Verkürzung der Arbeitszeit allerdings nicht. Die mit der „Reinigungskrise“ einhergehende Krise am Arbeitsmarkt und die anhaltenden Forderungen der Arbeiterbewegung nach „restloser Anerkennung des Achtstundentages“708 führen dazu, daß die entsprechenden Forderungen eindringlicher denn je und mit dem Argument der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch Arbeitszeitverkürzungen vorgebracht werden. Während die langwierigen Beratungen über das Arbeitsschutzgesetz laufen, treten die „...Auseinandersetzungen über das Arbeitszeitrecht mit der Forderung der vier Spitzengewerkschaften nach einem Notgesetz zur Wiederherstellung des Achtstundentages in eine neue Phase“ ein.709 Vor dem Hintergrund einer Regierungskrise Ende 1926, eines Gesetzentwurfes aus der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, heftiger Divergenzen in zwei Regierungen und im „Interfraktionellen Ausschuß“ der Bürgerblockregierung bzw. seinem Unterausschuß kommt es schließlich nach Verhandlungen im Reichsrat und Reichstag zu dem in großem Umfang an die Interessen der Industrie angepaßten „Gesetz zur Abänderung der Arbeitszeitverordnung“, zum sogenannten Arbeitszeitnotgesetz vom 14. April 1927.710 Dieses Gesetz wird gegen die Stimmen der gesamten Linken mit knapper Mehrheit verabschiedet und von dieser Seite entsprechend kritisch kommentiert. Es modifiziert die auf Grund eines Ermächtigungsgesetzes ergangene „Verordnung über die Arbeitszeit“ vom 21. Dezember 1923 vor allem dahingehend, daß nunmehr unter bestimmten Bedingungen eine Überstundenvergütung von 25 % bezahlt werden muß und daß die Überschreitung des „Zehnstundentags“ nur noch in „wohldefinierten“ Ausnahmefällen möglich sein soll. An dem Erlaß von Vorschriften, die gegebenenfalls eine Ausdehnung der Arbeitszeit über zehn Stunden hinaus ermöglichen, sollen „wirtschaftliche Vereinigungen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer“ durch Anhörung mitwirken. Die maßgebenden Gewerkschaften erkennen in diesem Gesetz ihre Wünsche kaum wieder, weil „...es Mehrarbeit nicht grundsätzlich abschaffte, sondern sie nur verteuerte.“711 In einer Eingabe des ADGB, des „Allgemeinen freien Angestelltenbundes“ und der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine wird im Vorfeld der Verabschiedung dieses „Notgesetzes“ betont, daß wegen der weiterhin möglichen langen Arbeitszeiten das Ziel, das die Gewerkschaften erreichen wollten, die Verminderung des Arbeitslosenheeres, in keiner Weise zu erwarten sei. Das geplante Gesetz entspreche nicht im mindesten den „berechtigten Wünschen der Arbeiter und Angestellten.“712 Die Christlichen Gewerkschaften allerdings verweigern die Unterzeichnung dieser gegen ihren „eigenen“ Minister gerichteten Eingabe. Genauso unzufrieden zeigen sich die Arbeitgeber. Sie hatten gegen dieses Gesetz mit den traditionsreichen Argumenten angekämpft, eine „schematische“ Arbeitszeitverkürzung werde die Wirtschaftsbelebung hemmen, die Kosten erhöhen, auf diese Weise der internationalen Wettbewerbsfähigkeit schaden und im Ergebnis zu einer Verschärfung der Arbeitslosigkeit führen.713 708 Vgl. den Aufruf: Maifeier 1927 ! In: Gewerkschafts-Zeitung, 37(1927)17, 229. 709 Bischoff, Sabine: Arbeitszeitrecht...a.a.O.(=Anm. 79), 138. 710 Vgl.: RGBl. I 1927, 109. 711 Bischoff, Sabine: Arbeitszeitrecht...a.a.O.(=Anm. 79), 147; vgl. auch: Jahrbuch 1926...a.a.O.(=Anm. 604), 66. 712 Vgl. die Eingabe vom 4. März 1927; als Anlage 18 abgedruckt bei: Bischoff, Sabine: Arbeitszeitrecht...a.a.O.(=Anm. 79), 217; vgl. insgesamt auch: Kukuck, Horst-A., Schiffmann, Dieter (Bearb.): Die Gewerkschaften von der Stabilisierung... Halbband I... a.a.O.(=Anm. 285), 30 f. 713 Vgl.: Abramowski, Günter (Bearb.): Die Kabinette Marx III und IV...Band 1...a.a.O.(=Anm. 622), XXXVI, dort und auf den folgenden Seiten weitere Details dieses „Arbeitszeitkonfliktes“. Zur Entstehung und Verabschiedung des Arbeitszeitnotgesetzes vgl. LXV f. Details enthält auch: Schneider, Michael: Höhen, Krisen und Tiefen.

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Als Ansätze zur Verbesserung des Arbeitsschutzes sind staatliche Maßnahmen zu werten, die einen Schutz bestimmter Arbeiterkategorien gegen die Gefahren für Leben, Gesundheit und „Sittlichkeit“ bewirken sollen, die aus der „Einrichtung des Betriebes“ und der Regelung der Beschäftigung resultieren können. Die überwiegend auf die Gewerbeordnungsnovelle von 1891 zurückgehenden Vorschriften, es handelt sich um die §§ 120 a bis g und 139 g und h, werden weiterhin durch allgemeine Verordnungen oder Richtlinien für bestimmte Betriebe oder Anlagen oder durch Verfügungen für den Einzelfall vollzogen oder konkretisiert. Hinzu treten Spezialgesetze. Von solchen Maßnahmen ist schon im Kaiserreich Gebrauch gemacht worden, um die Arbeiter bzw. bestimmte Untergruppen wie Frauen, Kinder, Jugendliche gegen Gifte, Hitze und andere schädliche Einwirkungen zu schützen. § 120 a der „Gewerbeordnung für das Deutsche Reich“ verpflichtet als Generalnorm die „Gewerbeunternehmer“714 die „...Arbeitsräume, Betriebsvorrichtungen, Maschinen und Gerätschaften so einzurichten und zu unterhalten und den Betrieb so zu regeln, daß die Arbeiter gegen Gefahren für Leben und Gesundheit soweit geschützt sind, wie es die Natur des Betriebes gestattet. Dazu gehört insbesondere die Sorge für genügendes Licht, ausreichenden Luftraum und Luftwechsel und Beseitigung von Staub, Dünsten und Gasen, die Herstellung von Vorrichtungen zum Schutze der Arbeiter gegen gefährliche Berührungen mit Maschinen und Bestimmungen über die Ordnung des Betriebes und das Verhalten der Arbeiter.“715 Der § 120 b verlangt weiterhin vor allem die Bereitstellung von besonderen Umkleide- und Waschräumen und „Bedürfnisanstalten“ für Frauen. § 120 c regelt den Schutz der Arbeiter unter 18 Jahren. Die aus der Gewerbeordnung resultierenden Verordnungen ergehen traditionell auf der Grundlage der einschlägigen Ermächtigungen der §§ 120e und 139a. In beeindruckender Fülle erscheinen in ihnen die „riskanten“, teilweise schon durch die Arbeitszeitgesetzgebung betroffenen Gewerbe und die gesundheitsgefährlichen Tätigkeiten. Als Gewerbe sind betroffen: Anlagen der Großeisenindustrie, Glashütten, Glasschleifereien, Glasbeizereien, Sandbläsereien, Steinkohlenbergwerke, Zink- und Bleibergwerke, Kokereien, Zinkhütten, Zinkerzröstereien, Walz- und Hammerwerke. Als Tätigkeiten werden einer Regulierung unterworfen: Anstreicherarbeiten in Schiffsräumen, Anstreicherarbeiten mit bleihaltigen Farben, Preßluftarbeiten, die Herstellung von Bleifarben und Bleiprodukten. Wie andere Schutzgesetze auch, lassen diese teilweise aus dem Kaiserreich stammenden und wiederholt verlängerten Vorschriften den ungeheuren Mißbrauch ermessen, der zur damaligen Zeit weiterhin mit menschlicher Arbeitskraft, mit Leben und Gesundheit getrieben wird und den die Publikation dieser Vorschriften nicht unmittelbar beendet. Das Feilschen um Ausnahmen, der Rückbezug auf die Grenzen, die in der „Natur des Betriebes“ liegen, das grundsätzliche Einverständnis in die Fortsetzung der gesundheitsgefährlichen Tätigkeiten und Gewerbe wird deutlich. Geradezu stilbildend für Schutzgesetze ist die erneut vorgenommene Aufspaltung der Beschäftigten in die Kategorien, die Schutz erfahren sollen (Kinder, Jugendliche, Frauen) und in jene normalen erwachsenen Männer, denen diese Tätigkeiten, Die Gewerkschaften in der Weimarer Republik 1918 bis 1933. In: Borsdorf, Ulrich (Hg.): Geschichte der deutschen Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm. 669), 279 - 446, hier: 357 ff. 714 D. h. auch, daß von dieser Regelung die nichtgewerblichen Arbeiter und Arbeiterinnen, vor allem solche in der Land- und Forstwirtschaft, Hausgehilfen, Teile der Angestellten, Arbeiter in der Fischerei, bei Eisenbahnunternehmungen und der Schiffahrt sowie bestimmte Aspekte bergbaulicher Tätigkeit ausgeschlossen sind; vgl. dazu: Neitzel, G.: Arbeiterschutz...a.a.O.(=Anm. 695), 76. 715 Vgl. denselben, ebenda, 76; durch die Sozialgesetzgebung „überholte“ Bestimmungen zum Arbeitsschutz sind auch im Bürgerlichen Gesetzbuch vom 18. August 1896 und im Handelsgesetzbuch vom 10. Mai 1897 enthalten.

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zum Schaden ihrer Gesundheit zugemutet werden sollen.716 Selbstverständlich dürfen in diesem Zusammenhang die ergänzenden Unfallverhütungsvorschriften und Pflichten nach der RVO (§§ 848 ff.) nicht vergessen werden.717 Von erheblicher Bedeutung sind neben diesen Regelungen zum Betriebsgefahrenschutz allgemeine Schutzbestimmungen für Frauen und Kinder, wie das „Gesetz zur Abänderung des Gesetzes, betreffend Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben, vom 30. März 1903“ vom 31. Juli 1925.718 Dieses reagiert insofern auf den als sozial höchst bedenklich empfundenen technischen Fortschritt, indem es bestimmt, daß Kinder zu „Lichtspielaufnahmen“ grundsätzlich, d.h. bis auf Ausnahmen, nicht herangezogen werden dürfen. Einen wesentlich bedeutsameren Stellenwert hat das „Gesetz über die Beschäftigung vor und nach der Niederkunft“ vom 16. Juli 1927.719 Es beruht auf einer Regelung, die sich im Arbeitschutzgesetzentwurf befindet. Deutschland erfüllt mit diesem Gesetz das Washingtoner Übereinkommen vom Oktober 1919 über den Schutz der Frauen vor und nach der Niederkunft und geht in einigen Punkten noch darüber hinaus. Dieses Übereinkommen wird insgesamt von nur wenigen Staaten ratifiziert.720 Es geht auch weit über den durch dieses Gesetz aufgehobenen Mutterschutz des § 137(6) der Gewerbeordnung hinaus und gilt „...für die Beschäftigung von weiblichen Arbeitnehmern, die der Krankenversicherungspflicht unterliegen.“ Dieses Gesetz, das allerdings für die „Sorgenkinder“ der staatlichen Sozialpolitik, für die Land- und Forstwirtschaft, die Tierzucht, die Fischerei und die Hauswirtschaft nicht einschlägig ist (vgl. § 1(2)) und in einer umfassenden, facettenreichen bevölkerungspolitischen Diskussion wurzelt, die in spezifischer Weise im und nach dem Ersten Weltkrieg entbrennt,721 sieht eine Berechtigung zur „Verweigerung“ der Arbeit sechs Wochen vor der (vermutlichen) Niederkunft vor und verbietet die Beschäftigung von Wöchnerinnen binnen sechs Wochen nach der Geburt des Kindes. Weitere sechs Wochen wird diesem Personenkreis das Recht auf Niederlegung der Arbeit für den Fall geburtsbedingter Krankheit eingeräumt. Allerdings ist der Arbeitgeber zur Gewährung des Arbeitsentgelds nicht verpflichtet. Stillenden Müttern ist für die Zeit von sechs Monaten eine Stillzeit („Stillpausen“) einzuräumen. Hinzu tritt ein differenziert ausgestaltetes Kündigungsverbot. Von bevölkerungspolitischen Überlegungen profitiert auch die Einführung der „neuen Wochenhilfe“ im Jahre 1926. Bereits eines der „Urgesetze“ des deutschen Sozialstaats, das „Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter“ vom 15. Juni 1883 kannte in seinem § 20 für versicherte Wöchnerinnen ein Wochengeld für die Dauer von drei Wochen nach der Niederkunft.722 Dieses konnte statuarisch auf sechs Wochen verlängert werden (§ 716 Die entsprechenden Verordnungen können leicht der Chronologie der sozialpolitischen Rechtsquellen entnommen werden, die sich befindet bei: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 422), 543 ff. 717 Dabei ist das große Problem aller dieser Vorschriften die Beachtung in der betrieblichen Praxis. 718 Vgl.: RGBl. I 1925, 162; zum Gesetz vom 30. März 1903 vgl.: RGBl. 1903, 113. 719 Vgl.: RGBl. I 1927, 184. 720 Vgl.: Deutsche Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 405), 68. 721 Vgl. dazu den Punkt 3.2 dieser Arbeit. Es sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß sich insbesondere im nordeuropäischen Ausland Frauenorganisationen gegen einen Sonderschutz von Frauen überhaupt wenden. Es wird gleiches Recht für Mann und Frau gefordert und betont, „...daß der Sonderschutz der Frauen für sie die Gelegenheit einenge, Erwerbsarbeit zu verrichten, und weil den Frauen durch die Schutzbestimmungen gerade die bestbezahlten Arbeitsplätze versperrt werden würden.“ Jahrbuch 1927...a.a.O.(=Anm. 609), 209. Am 16. Juni 1929 wird anläßlich der Tagung des „Weltbundes für Frauenstimmrecht“ eine „Open-DoorInternationale“ gegründet, die mit obiger Begründung ebenfalls einen spezifischen Frauenarbeitsschutz ablehnt; vgl.: Jahrbuch 1929...a.a.O.(=Anm. 640), 175. 722 Vgl.: RGBl. 1883, 73 ff., hier: 81.

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21). Dieses Gesetz beschränkte sich auf den gewerblichen Bereich. Über verschiedene Novellen hinweg war es schließlich der Erste Weltkrieg, der mit spezifischer Argumentation dem sozialpolitischen Projekt „Wochenhilfe“ Schubkraft verlieh. Im Rahmen einer Diskussion über die „Arbeiterfürsorge“ als wichtige „Quelle der Wehrkraft“,723 wird die „bange Frage“ gestellt, was der damals noch erhoffte „glänzende Waffensieg“ bedeute, wenn danach dem deutschen Volke die Kinder fehlten, „...die in die Fußtapfen unserer Helden“ treten können, um das durch sie „Errungene“ auszubauen.724 Vor allem diese kriegsbedingte besondere „Sensibilität“ für bevölkerungspolitische Fragen, die kriegsbedingte Krise der Krankenversicherung mit der Tendenz zur Leistungseinschränkung, die Not der zerrissenen Familien, die unter Kriegsfolgen leidenden Frauen und „Kriegerwitwen“ und die entsprechenden Forderungen führen, beginnend mit einer Verordnung vom 3. Dezember 1914,725 zu einem allmählichen weiteren Ausbau solcher Leistungen in Form einer Kriegs- bzw. Reichswochenhilfe.726 Wie auf anderen Gebieten, so ist auch hier der Krieg zu einem „Schöpfer“ von sozialpolitischen Strukturen geworden. Dabei wurde auch in sozialdemokratischen Kreisen angesichts der Kriegstoten und Verwundeten schon bald gefordert, die im Krieg noch äußerst knapp bemessenen und vielfach unzulänglichen Maßnahmen in der Nachkriegszeit fortzuführen und sie auszubauen.727 Über die Formen, insbesondere über die Alternative „Mutterschaftsversicherung“ oder Leistung der Krankenversicherung und über die Frage des Staatzuschusses wurde intensiv gestritten. Vor diesem Hintergrund folgte auf die Kriegsmaßnahmen als Übergangsregelung die „Verordnung über die Wochenhilfe aus Mitteln des Reichs“ vom 21. Dezember 1918728 sodann das aus der Mitte der Nationalversammlung geforderte „Gesetz über Wochenhilfe und Wochenfürsorge“ vom 26. September 1919729, bis nach zahlreichen weiteren Modifikationen das „Zweite Gesetz über Abänderung des Zweiten Buches der Reichsversicherungsordnung“ vom 9. Juli 1926 die Wochenhilfe ausgestaltet.730 Unter bestimmten Voraussetzungen wird nunmehr versicherten Frauen im Falle von Schwangerschaftsbeschwerden bzw. bei der Entbindung Wochenhilfe in Form von freier Hebammenhilfe, freier Arznei, kleineren Heilmitteln und freier ärztlicher Behandlung gewährt. Geleistet wird darüber hinaus ein einmaliger Beitrag zu den Kosten der Entbindung und zu Schwangerschaftsbeschwerden in Höhe von 10 Reichsmark, ein Wochengeld in Höhe des Krankengeldes für vier Wochen vor und sechs zusammenhängende Wochen unmittelbar nach der Niederkunft und ein Stillgeld längstens bis zum Ablaufe der 12. Woche nach der Niederkunft. Das Gesetz vom 9. Juli 1926 beinhaltet den Hinweis, daß die Satzung einer Krankenkasse oder die 723 Diese Diskussion reicht bekanntlich weit in die Geschichte zurück und gewinnt seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im „Zeitalter des Imperialismus“ an Bedeutung; die „große Zeit“ solcher Argumentationen soll allerdings noch kommen. 724 Vgl. z.B. die folgende Zusammenstellung von zeittypischen und einschlägigen Meinungsäußerungen: Die Bedeutung der Sozialversicherung für Deutschlands Wehrkraft. In: Soziale Praxis, 24(1914)8, Sp. 185 - 186, hier: Sp. 185. 725 Vgl.: Preller, Ludwig: Sozialpolitik…a.a.O.(=Anm. 30), 37. 726 Die vollständigste, leicht erreichbare Darstellung findet sich bei: Kleeis, Friedrich: Die Geschichte...a.a.O. (=Anm. 412), 221 ff. 727 Vgl.: Gräf, Eduard: Fortführung der Reichswochenhilfe. In: Soziale Praxis, 25(1916)26, Sp. 597 - 600; vgl. auch: cfkh.: Wie ist die Reichswochenhilfe fortzuführen? In: Soziale Praxis, 25(1916)15, Sp. 340 - 342. 728 Vgl.: RGBl. 1918, 1467. 729 Vgl.: RGBl. 1919, 1757. 730 Vgl.: RGBl. I 1926, 407; vgl. zu Details der nicht ganz einfachen Regelungen das von H. Jaeger verfaßte Stichworte: Wochenhilfe, Wochenfürsorge. In: Dünner, Julia (Hg.): Handwörterbuch...a.a.O.(=Anm. 695), 760 763.

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oberste Landesbehörde bestimmen können „...,daß die Kassen bei Zahlung des Stillgeldes auf den Wert der regelmäßigen Inanspruchnahme von Mutterberatungsstellen, Säuglingsfürsorgestellen oder gleichartigen Einrichtungen hinweisen.“ Für nicht selbst versicherte Frauen, d.h. für Ehefrauen von Versicherten und für Töchter sowie für Stief- und Pflegetöchter von Versicherten wird Familienwochenhilfe gewährt. Zu dieser Hilfe trägt das Reich durch einen Zuschuß an die Krankenkassen in Höhe von 50 Reichsmark pro Entbindungsfall bei. Besteht weder ein Anspruch auf Wochenhilfe noch auf Familienwochenhilfe, muß gegebenenfalls Wochenfürsorge gewährt werden. Mit diesen Bestimmungen folgt der Weimarer Gesetzgeber auch dem Artikel 161 der Reichsverfassung, der die Schaffung eines „umfassenden Versicherungswesens“ u.a. auch zum „Schutz der Mutterschaft“ verlangt. Es ergibt sich darüber hinaus ein Bezug zu anderen Verfassungsbestimmungen, etwa zum Schutz der Ehe als „Grundlage des Familienlebens“ und „der Erhaltung und Vermehrung der Nation“, zur „Reinerhaltung, Gesundung und sozialen Förderung der Familie“ als Aufgabe des Staats und der Gemeinden, zum Anspruch auf „ausgleichende Fürsorge“ für kinderreiche Familien, zum Anspruch der Mutterschaft auf „Schutz und Fürsorge“ des Staates (Art. 119). Als weitere bemerkenswerte Maßnahmen auf dem Gebiete des Arbeitsschutzes in diesen Jahren der „relativen Stagnation“ sind die Regelung der Arbeitszeit in Bäckereien und Konditoreien, die Sonntagsruhe und die Regelung des Ladenschlusses zu erwähnen. Schon im Krieg Gegenstand eines staatlichen Eingriffs731 und durch eine vorkonstitutionelle Verordnung732 in der ersten Nachkriegszeit der Achtstundentagsgesetzgebung angepaßt, wird der Arbeitszeitschutz der in diesen Gewerben Beschäftigten durch das „Gesetz zur Abänderung der Verordnung über die Arbeitszeit in den Bäckereien und Konditoreien vom 23. November 1918“ vom 16. Juli 1927 erneut einer Regelung unterzogen. Da diese Gewerbe von der Arbeitszeitverordnung des Jahres 1923 nicht berührt worden waren, erfolgt nun durch das Gesetz des Jahres 1927 eine spürbare „Auflockerung“ des zuvor relativ „starren“ Achtstundentages. Dies soll durch die Möglichkeit eines Arbeitszeitausgleiches, durch Tarifvertrag oder, falls ein solcher nicht besteht, durch einen Eingriff des Reichsarbeitsministeriums „nach Anhörung der wirtschaftlichen Vereinigungen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer“ erreicht werden können.733 Auf Drängen der Angestelltenverbände erfahren die Öffnungszeiten der „Verkaufsstellen“ eine Veränderung. Eine alte Forderung der Angestelltenverbände, „...die ihren Mitgliedern die Feier des Weihnachtsabends am 24. Dezember ermöglichen wollten“, wird erfüllt. Auf Grund eines sozialdemokratischen und deutschnationalen Antrags, hinter dem der „Zentralverband der Angestellten“ und der „Deutsche Handlungsgehilfenverband“ stehen, wird diese Forderung durch das „Gesetz über den Ladenschluß am vierundzwanzigsten Dezember“ vom 13. Dezember 1929 erfüllt. Nach diesem Gesetz müssen Geschäfte am 24. Dezember um 17 Uhr schließen; solche, die ausschließlich oder überwiegend Lebensmittel, Genußmittel oder Blumen verkaufen, um 18 Uhr.734 Eine nach langen Vorarbeiten verabschiedete „Verordnung über die Arbeitszeit in Krankenpflegeanstalten“ vom 13. Februar 1924 begrenzt die Arbeitszeit in den entspre-

731 Vgl.: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 57. 732 Vgl. 1.1 dieses Bandes. 733 Vgl.: RGBl. I 1927, 183; vgl. zur Stoßrichtung dieses Gesetzes: Deutsche Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 405), 68. 734 Vgl.: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 476; zum Gesetz: RGBl. I 1929, 219.

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chenden Einrichtungen auf bis zu 60 Stunden wöchentlich, die Pausen nicht mitgerechnet.735 Es ist, wie bereits an zahlreichen anderen Gebieten der staatlichen Sozialpolitik deutlich gemacht werden konnte, ein Charakteristikum der staatlichen Sozialpolitik in der Weimarer Republik (und auch der im Kaiserreich), daß die Rechtsordnung eine „Bruchlinie“, einen Statusunterschied innerhalb der sozialen Klasse der abhängig Beschäftigten in manchen und häufig zentralen Punkten betont, den Unterschied zwischen Arbeitern und Angestellten. So entsteht eine Melange von unterschiedlichen Soziallagen, gleichmäßig geltenden und die Angestellten bevorzugenden Rechtsnormen. Mancher Vorzug des Angestelltendaseins wird tarifvertraglich „eingeholt“, wie etwa der zunächst vor allem in der Angestelltenschaft gebräuchliche bezahlte Urlaub. Von den am 1. Januar 1925 geltenden Tarifverträgen enthalten 84,6 % Urlaubsbestimmungen, die 94,6 % der erfaßten Arbeiter zugute kommen.736 Auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes existieren ebenfalls gleichbehandelnde und diskriminierende Normbestände. Gleichmäßig, ohne Rücksicht auf den Status, gelten z.B. die Kündigungsschutzregelungen für Schwerbeschädigte,737 die Bestimmungen für Schwangere und Mütter. Aber die Kündigungsschutzregelungen für Schwerbeschädigte schließen eine Ungleichbehandlung nicht aus, weil die Kündigungsfrist von vier Wochen nur gilt, falls nicht durch Gesetz oder Vertrag eine längere Frist vorgeschrieben ist. Gerade hier verbergen sich die Privilegierungen für Angestellte. Die Schutzvorschriften der sich an die Stillegungsreglements der Demobilmachungsphase anschließenden „Verordnung über Betriebsstillegungen und Arbeitsstreckung“ vom 15. Oktober 1923 diskriminieren schon offenkundiger. Eine Herabminderung des Arbeitsentgelts im Falle der Arbeitsstreckung, darf erst nach Ablauf der Kündigungsfrist vorgenommen werden, die bei Angestellten länger ist.738 Diese Kündigungsfrist wird später, die Sonderstellung der Angestellten erneut unterstreichend,739 noch einmal verlängert. Dies geschieht durch das nach langwierigen Verhandlungen verabschiedete „Gesetz über die Fristen für die Kündigung von Angestellten“ vom 9. Juli 1926.740 Mit diesem Gesetz soll vor allem der „Erwerbsnot“ der älteren Angestellten begegnet werden, die in diesem „besten Jahrfünft“ der Weimarer Republik beträchtlich ist, vor allem aber auch wirksam artikuliert wird. Unter bestimmten Bedingungen darf nunmehr ein mindestens fünf Jahre beschäftigter Angestellter „...nur mit mindes735 Vgl.: RGBl. I 1924, 66. 736 So ein allerdings unbelegter Hinweis bei: Frerich, Johannes, Frey, Martin: Handbuch...a.a.O.(=Anm. 686), 193. 737 Ausgangspunkt sind die bereits erwähnten Regelungen aus der Demobilmachungszeit. Diese werden durch die ordentliche Gesetzgebungspraxis weitergeführt. Von Bedeutung sind diese Rechtsquellen für Kriegsbeschädigte, aber auch für schwer Unfallverletzte. Im Rahmen eines umfassenden Schutzmechanismus, insbesondere auch bestimmter Einstellungspflichten und Überwachungsmaßnahmen, von Beteiligungsregelungen, die die „berufenen Vertretungen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer“ einbeziehen, wird durch den § 12 des „Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter“ vom 6. April 1920 (RGBl. 1920, 458) die Kündigungsfrist von vier Wochen festgehalten. Darüber hinaus muß in den meisten Fällen die Hauptfürsorgestelle einer Kündigung zustimmen. Vgl. ergänzend auch das „Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Beschäftigung Schwerbeschädigter“ vom 23. Dezember 1923 (RGBl. I 1923, 972) sowie die „Bekanntmachung der neuen Fassung des Gesetzes über die Beschäftigung Schwerbeschädigter“ vom 12. Januar 1923 (RGBl. I 1923, 57), zur Zustimmungspflicht der Hauptfürsorgestelle die §§ 13 - 17. 738 Vgl.: RGBl. I 1923, 983. 739 Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Kadritzke, Ulf: Angestellte - Die geduldigen Arbeiter. Frankfurt a.M. 1975. 740 Vgl.: RGBl. I 1926, 399; vgl. zum Gesetzgebungsverfahren: Handbuch der Kommunistischen Reichstagsfraktion. Der Reichstag 1924 - 1928. 4 Jahre kapitalistische Klassenpolitik. Berlin 1928, 401 f.

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tens drei Monaten Frist für den Schluß eines Kalendervierteljahrs“ gekündigt werden. „Die Kündigungsfrist erhöht sich nach einer Beschäftigungsdauer von acht Jahren auf vier Monate, nach einer Beschäftigungsdauer von zehn Jahren auf fünf Monate und nach einer Beschäftigungsdauer von zwölf Jahren auf sechs Monate“ (§ 2). Meldepflichten der Betriebe, Beschäftigungsverpflichtungen, Einstellungszwang, Abkehrgeld und andere Instrumente zugunsten der Angestellten, die während des Gesetzgebungsverfahrens in einem Unterausschuß des „Sozialpolitischen Ausschusses“ des Reichstags artikuliert wurden, scheiterten hingegen am Einspruch von unternehmernahen Kräften im „Sozialpolitischen Ausschuß.“ Auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes für besondere Berufsgruppen sind neben erfolgreichen Reformprojekten auch einige charakteristische Mißerfolge zu verzeichnen. Trotz ihres provisorischen Charakters bleibt die „Verordnung, betreffend eine vorläufige Landarbeitsordnung“ vom 24. Januar 1919 „...die einzige tiefer greifende Regelung der Landarbeiterarbeitsverhältnisse in der gesamten Nachkriegszeit.“741 Die Absicht des Reichsarbeitsministeriums, sie durch ein „Landarbeitsgesetz“ zu ersetzen, in dem insbesondere auch die Frauen- und Kinderarbeit und die Arbeitsaufsicht auf dem Lande geregelt werden soll, kann nicht mehr umgesetzt werden.742 Der durch die Aufhebung der Gesindeordnungen im Jahre 1918 dringend gewordene Entwurf eines „Gesetzes über die Beschäftigung in der Hauswirtschaft“ liegt zwar als Entwurf der Großen Koalition im Jahre 1929 dem Reichrat vor.743 Trotz der Tatsache, daß dieser Entwurf in seiner letzten Fassung aus der Sicht des zuständigen Ministerialdirektors im Reichsarbeitsministerium, Friedrich Sitzler, „...im allgemeinen eine gute Aufnahme gefunden hat...“,744 wird er nicht mehr verabschiedet. Es ist anzumerken, daß diese Auffassung vermutlich „etwas“ euphemistisch ist. Ein Entwurf vom Frühjahr 1928 wurde von Hausfrauenvereinigungen noch als ein „bolschewistischer Dolchstoss in das Herz der deutschen Hauswirtschaft“ qualifiziert. Ein Hausgehilfinnengesetz untergrabe die „Autorität der Hausfrau“ und trage den Fluch in die „friedliche Häuslichkeit“; das „gute patriarchalische Verhältnis“ dürfe nicht zerstört werden.745 Sofern nicht Landesgesetze und Tarifverträge gelten, regeln sich derartige Arbeitsverhältnisse weiterhin nach den ungünstigen Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches bzw. sie „entfalten“ sich naturwüchsig. Überlange Arbeitszeiten und unwürdige Abhängigkeitsverhältnisse werden vielfach beklagt. Der Vorstoß des Reichsarbeitsministeriums, die Arbeitsverhältnisse der Bergarbeiter durch ein Reichsgesetz, ein „Bergarbeitsgesetz“ einheitlich zu gestalten, führt zwar zu einem Entwurf, der im Frühjahr 1929 dem Reichstag und Reichswirtschaftsrat vorgelegt wird und dort eine heftige Kontroverse zwischen Unternehmern und Gewerkschaften vor allem über solche Fragen wie die „Reichsbergaufsicht“ und die Arbeitszeit auslöst. Er kommt aber ebenfalls nicht mehr zur Verabschiedung: „Die Sorgen der allgemeinen Wirtschaftslage und die Auflösung des Reichstages ließen das Bergarbeitsgesetz in der Versenkung verschwinden. Eine Fülle eingehender und sicher sehr nützlicher vorbereitender Arbeit war auch auf diesem Gebiete der Sozialpolitik vertan.“746 Es bleibt bei den Bestimmungen der Gewerbeordnung, einzelnen besonderen Arbeitsschutzbestimmungen, die den Bergbau 741 Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O. (=Anm. 30), 233. 742 Sitzler, (Friedrich): Der gegenwärtige Stand...a.a.O.(=Anm. 690), 42. 743 Vgl.: Preller, Ludwig: Sozialpoltik...a.a.O.(=Anm. 30), 268 f. 744 Sitzler, (Friedrich): Der gegenwärtige Stand...a.a.O.(=Anm. 690), 41 f. 745 Vgl.: Jahrbuch 1928...a.a.O.(=Anm. 610), 140. 746 Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 477.

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berühren und insbesondere bei den landesrechtlichen Berggesetzen sowie bei Tarifverträgen.747 Auf die Liste der gescheiterten sozialpolitischen Projekte der Weimarer Republik ist schließlich auch noch das Bemühen zu buchen, in Form einer „Seemannsordnung“ und eines „Binnenschiffahrtsrechts“ auf reichsgesetzlichem Wege regulierend im Sinne des Arbeitsschutzes in die durch schlimme Auswüchse geprägten sozialen Verhältnisse der Schiffahrt zu intervenieren.748 Die Seeleute werden allerdings Objekt einer speziellen Erwerbslosenfürsorgegesetzgebung.749 Auf dem Gebiet der Sozialversicherung der Seeleute zeigt sich, wie bei den Bergleuten, seit der Vorbereitung und Verabschiedung des Seeunfallversicherungsgesetzes vom 13. Juli 1887 das Streben nach einer umfassenden sozialpolitischen Sonderorganisation. Nach Bestrebungen und Diskussionen, die in das Kaiserreich zurückreichen, wird schließlich mit dem „Gesetz über die Krankenversicherung der Seeleute“ vom 16. Dezember 1927750 eine zentrale „See-Krankenkasse“ geschaffen. „Ihre Organe sind die gleichen wie für die Invalidenversicherung (Seekasse), und diese beiden Zweige arbeiten wiederum in engster Verbindung mit der Seeberufsgenossenschaft als dem Träger der Unfallversicherung; allen drei Zweigen ist die Kassen- und Rechnungsführung sowie die Rechnungsprüfung gemeinsam.“751 Die Leistungen für die erkrankten Seeleute und für ihre Familienangehörigen werden im Auftrag der „See-Krankenkasse“ von der Allgemeinen Orts- bzw. der Landkrankenkasse übernommen. In Angelegenheiten der „SeeKrankenversicherung“ scheiden so viele Reedervertreter aus den Organen aus, bis die Selbstverwaltung, ganz nach dem Vorbild der Reichsknappschaft, so zusammengesetzt ist, daß den Versichertenvertretern 3/5 und den Reedervertretern 2/5 der Stimmen zufallen. In umfassender Form interveniert der Weimarer Sozialstaat in den Bereich der höchst umstrittenen Heim- bzw. Hausarbeit. Dieses alte „Elendsgewerbe“ hat auf dem Gebiete der Bekleidungs- und Textilindustrie, der Tabakindustrie, der papierverarbeitenden Industrie, der Holz- und Schnitzstoff-, Spielwaren-, Leder- und Metallindustrie, in der Karnevals- und Festtagsindustrie und auf anderen Gebieten einen erheblichen Stellenwert. Nach einer Zählung aus dem Jahre 1925 ergeben sich allein für das Bekleidungsgewerbe in Berlin 48.594 „Arbeitsstätten“, das sind in der Regel Wohnungen, in denen 78.220 Menschen, vor allem Heimarbeiterinnen leben und arbeiten.752 Dieser von Frauen geprägte Arbeitsmarkt zahlt traditionell schlechte Löhne. Überlange Arbeitszeiten, die Mitarbeit von Kindern in unzureichenden Wohnungen sind weitere Kennzeichen eines Gewerbes, das damals schon seit langem im Fadenkreuz sozialreformerischer Projekte und Bemühungen steht.

747 Vgl.: Frerich, Johannes, Frey, Martin: Handbuch...a.a.O.(=Anm. 686), 195. 748 Vgl.: Sitzler, (Friedrich): Der gegenwärtige Stand...a.a..(=Anm. 690), 42. 749 Vgl. das „Gesetz über die Ermächtigung der Reichsregierung zur Einführung einer Fürsorge für erwerbslose Seeleute“ vom 7. September 1924 (RGBl. I 1924, 701), die „Verordnung über die Fürsorge für erwerbslose Seeleute“ vom 30. Oktober 1924 (RGBl. I 1924, 722), geändert durch Gesetz vom 21. Februar 1927 (RGBl. I 1927, 65). Siehe die Ausführungsvorschriften vom 25. November 1924 (RGBl. I 1924, 756) und das „Gesetz über Erweiterung und Verlängerung der Fürsorge für erwerbslose Seeleute“ vom 27. März 1925 (RGBl. I 1925, 31) sowie die „Anordnung über die Abkürzung der Wartezeit in der Fürsorge für erwerbslose Seeleute“ vom 4. Juli 1925 (RGBl. I 1925, 95). 750 Vgl.: RGBl. I 1927, 337; siehe auch: Kleeis, Friedrich: Die Geschichte...a.a.O.(=Anm. 412), 263 f. 751 Deutsche Sozialpolitik 1918 - 1928...a.a.O.(=Anm. 405), 26 f.; vgl. auch: Bogs, Walter: Die Sozialversicherung...a.a.O.(=Anm. 426), 59 f. 752 Vgl.: Behm, Margarete: Heimarbeit. In: Dünner, Julia (Hg.): Handwörterbuch...a.a.O.(=Anm. 695), 329 - 331, hier: 329.

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Durch das „Gesetz, betreffend Sicherung der Leistungsfähigkeit der Krankenkassen“ vom 4. August 1914753 zum eigenen Nachteil aus der Versicherungspflicht entlassen, werden diese „Hausgewerbetreibenden“ auf Drängen der Hauptvorsitzenden des Gewerkvereins der Hausarbeiterinnen durch das „Gesetz über die Versicherung der Hausgewerbetreibenden“ vom 30. April 1922 wieder in die Kranken- und auch in die Rentenversicherungspflicht einbezogen.754 Durch mehrere Verordnungen werden besonders gesundheitsgefährliche Tätigkeiten für „Hausarbeiter“ verboten oder sie werden bestimmten Maßregeln unterworfen. Dazu zählt die „Verordnung über die Verarbeitung von Zellhorn in der Hausarbeit“ vom 4. Mai 1923,755 die „Verordnung, betreffend das Verbot des Trennens, Schneidens und Sortierens von Hadern und Lumpen aller Art in der Hausarbeit“ vom 21. April 1920,756 die gegen die Verbreitung von Infektionskrankheiten in der Bevölkerung gerichtete „Verordnung über das Verbot der Hausarbeit in der Süß-, Back- und Teigwarenindustrie“ vom 29. Juni 1927757 und die „Verordnung über das Verbot von Hausarbeit in der Gummikonfektion“ vom 24. September 1929.758 Von besonderer Bedeutung ist darüber hinaus die Weiterentwicklung von Vorschriften zu einer grundsätzlicheren „Lösung“ der „sozialen Frage“ in der Hausarbeit. Die Grundlinien zu einer solchen Strategie wurden bereits im Kaiserreich durch das „Hausarbeitsgesetz“ vom 20. Dezember 1911 vorgegeben, das ja zur damaligen Zeit einen durchaus spektakulären Inhalt hatte.759 Das „Hausarbeitsgesetz“ sah für diesen von der bürgerlichen Sozialreform vielkritisierten Gewerbezweig zahlreiche Schutzvorschriften vor und es enthielt mit seinen §§ 18 ff. ein wirkliches „Juwel“ der kaiserzeitlichen Sozialreform. Kurz nach dem Scheitern des Arbeitskammergesetzentwurfs von 1910 bildete es mit diesen Paragraphen die gesetzliche Grundlage für eine Sonderart von Arbeitskammern, für die „Fachausschüsse“, die der Bundesrat für bestimmte „Gewerbezweige und Gebiete“, in denen „Hausarbeiter“ beschäftigt wurden, beschließen konnte. Diese Ausschüsse bestanden nach den Vorschriften dieses Gesetzes aus einer gleichen Zahl von Vertretern der Arbeitgeber und Arbeitnehmer (Hausarbeiter) sowie einem „unparteiischen“ und sachkundigen Vorsitzenden und zwei ebensolchen Beisitzern. Sofern „Hausarbeiterinnen“ in dem Gewerbe bzw. dem Gebiet in größerer Zahl beschäftigt wurden, mußten sie „angemessen“ vertreten sein. Diese Fachausschüsse sollten vor allem die Behörden durch Mitteilungen und Gutachten unterstützen. Sie hatten das Hausgewerbe betreffende Wünsche und Anträge zu beraten, sie hatten Veranstaltungen und Maßnahmen, welche die Hebung der wirtschaftlichen Lage und die Förderung der Wohlfahrt der Hausarbeiter zum Zweck haben, anzuregen, sie hatten auf Ersuchen der Behörden die Höhe der tatsächlich erzielten Arbeitsverdienste zu ermitteln und Vorschläge für die Vereinbarung „angemessener Entgelte“ zu machen und sie hatten dabei, so der Wortlaut dieser Rechtsquelle, „...den Abschluß von Lohnabkommen oder Tarifverträgen zu fördern.“ Diese äußerst kontroverse Durchbrechung des „Phantasiehori-

753 Vgl.: RGBl. 1914, 337. 754 Vgl.: RGBl. I 1922, 465. 755 Vgl.: RGBl. I 1923, 284; abgeändert durch Verordnung vom 29. Juni 1927 (RGBl. I 1927, 137) und vom 20. Oktober 1930 (RGBl. I 1930, 468). 756 Vgl.: RGBl. 1920, 563. 757 Vgl.: RGBl. I 1927, 137. 758 Vgl.: RGBl. I 1929, 149. 759 Zur Entstehungsgeschichte einige Hinweise bei: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 422), 175.

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zonts“ der „obrigkeitstaatlichen Sozialpolitik“ blieb allerdings bis zum Ende des Kaiserreichs „reine Theorie“. Die Errichtung dieser immerhin dem Paritäts- und Tarifvertragsgedanken Rechnung tragenden Fachausschüsse kam trotz erlassener Ausführungsbestimmungen kurz vor und im Kriege nicht voran. Erst durch die „Verordnung über die Errichtung von Fachausschüssen für Hausarbeit“ vom 13. Januar 1919760 werden 29 Fachausschüsse gebildet, die umfassend die Lage der Heimarbeiter verbessern sollen und ein umfangreiches „Gesetz zur Abänderung des Hausarbeitsgesetzes (Heimarbeiterlohngesetz)“ vom 27.Juni 1923761 erweitert die Befugnisse dieser „Fachausschüsse“ insbesondere hinsichtlich der Lohnsicherung und Lohngestaltung. Gleichzeitig wird dieser Gewerbebereich erstmalig und in Vertiefung der zeittypischen sozialpolitischen Tendenz der umfassenden Beeinflussung durch die Verbände von Arbeit und Kapital geöffnet. Unter bestimmten Bedingungen, d.h. vor allem: bei Fehlen einer tarifvertraglichen Regelung, kann ein Mindestlohn nunmehr auch durch Fachausschüsse festgesetzt werden. Vor dem Hintergrund dieser Bestimmungen sieht es gegen Mitte der 20er Jahre so aus, als könnte es in Zusammenarbeit von Regierung und Gewerkschaften gelingen , „...die viel umstrittene und bekämpfte Heimarbeit zu einem gesunden Glied der deutschen Volkswirtschaft zu machen.“762 Alle Zweige der „klassischen“ Sozialversicherung unterliegen in den Jahren der „Scheinblüte“ der Wirtschaft und der politischen Stabilisierung zahlreichen Veränderungen. Viele Maßnahmen haben, wie in der Inflationsperiode auch, rein „adaptiven Charakter“. Sie beinhalten „...Abgrenzungsfragen, Verfahrensregeln, Organisation und nominale Größen im Beitrags- und Leistungsrecht...“ und passen die Sozialversicherung an die sich schnell ändernden wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bedingungen und Möglichkeiten an. Einige Regelungen haben jedoch den Charakter sozialpolitischer Weiterentwicklungen.763 Letztere stehen im Vordergrund der folgenden Betrachtung. Hinzu treten Angaben aus der Sozialversicherungsstatistik. Zunächst sind einige Maßnahmen zu verzeichnen, die einige oder alle „Zweige“ der Sozialversicherung betreffen. Bei der bis zum Beginn der Weltwirtschaftskrise insgesamt nicht ungünstigen Finanzsituation vieler Landesversicherungsanstalten und der „Reichsversicherungsanstalt für Angestellte in Berlin“, kommt es zu einer Wiederbelebung und zu einem Ausbau der „Gesundheitsfürsorge“ durch diese Träger der „Reichsversicherung“. Auch diese Aktivitäten stehen im Kontext der in der Weimarer Republik ausufernden bevölkerungspolitischen Diskussion, die durch die wahrhaft „volksverheerenden“ Auswirkungen des Ersten Weltkrieges und langfristige Veränderungen im Bevölkerungsaufbau erheblichen Auftrieb bekommen und die schon den Mutterschutz und die Wochenhilfe gefördert hat. Durch freiwillige Leistungen und durch Maßnahmen auf der Grundlage des „Gesetz über Ausbau der Angestellten- und Invalidenversicherung und über Gesundheitsfürsorge in der Reichsversicherung“ vom 28. Juli 1925764 wird die Sozialversicherung finanzierend oder ausführend in ein ganzes Netz gesundheitsfürsorgerisch tätiger Institutio760 Vgl.: RGBl. 1919, 85. 761 VGl.: RGBl. I 1923, 467; mit Bekanntmachung vom 30. Juni 1923 erfolgt eine Neufassung des „Hausarbeitsgesetzes“; vgl.: RGBl. I 1923, 472. 762 Behm, Margarete: Heimarbeit...a.a.O. (=Anm.752), 331. 763 So: Zöllner, Detlev: Landesbericht Deutschland. In: Köhler, Peter A., Zacher, Hans F. (Hg.): Ein Jahrhundert Sozialversicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien und der Schweiz. Berlin 1981, 51 - 179, hier: 115 f. 764 Vgl.: RGBl. I 1925, 157.

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nen einbezogen.765 Nach Anhörung der Versicherungsträger und der Ärzte oder ihrer Spitzenverbände kann nunmehr die Reichsregierung mit Zustimmung des Reichsrats und eines „28gliedrigen Ausschusses des Reichstags“ Richtlinien erlassen, „...betreffend das Heilverfahren in der Reichsversicherung und die allgemeinen Maßnahmen der Versicherungsträger zur Verhütung des Eintritts vorzeitiger Berufsunfähigkeit oder Invalidität oder zur Hebung der gesundheitlichen Verhältnisse der versicherten Bevölkerung. Diese Richtlinien sollen ferner das Zusammenwirken der Träger der Reichsversicherung untereinander und mit den Trägern der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege auf dem Gebiete des Heilverfahrens und der sozialen Hygiene regeln.“ Die Reichsregierung hat von dieser Ermächtigung nach jahrelangen Verhandlungsund Auseinandersetzungsprozessen durch den Erlaß von „Richtlinien über Gesundheitsfürsorge in der versicherten Bevölkerung“ vom 27. Februar 1929 Gebrauch gemacht.766 Damit ist dieser Zweig der Sozialversicherung auch arbeitsteilig und arbeitsgemeinschaftlich in einen Komplex von Maßnahmen und Trägern eingebunden, deren Erwägungen und Aktivitäten über die Bereiche des Heilverfahrens der „Renten-Versicherungsanstalten“ mit ihrem Schwerpunkt in der Tuberkulose- und Geschlechtskrankheitenbekämpfung hinausgehen und wo schon in der Weimarer Republik auch volksbiologische und rassenhygienische Anschauungen und Initiativen wurzeln.767 Für Zwecke der Gesundheitsfürsorge und für das Heilverfahren fließen der Invalidenversicherung gemäß § 7 des „Gesetzes über Zolländerungen“ vom 17. August 1925768 aus den eingehenden Lebensmittelzöllen für geplante neun Jahre pro Jahr 40 Millionen Reichsmark zu. Auch die Wohlfahrtspflege und der Wissenschaftsbereich profitieren in Höhe von jährlich 10 Millionen Reichsmark in Gestalt einer als „soziale und kulturelle Wohlfahrtsrente“ bezeichneten Zahlung von der Zollgesetzgebung.769 Mit diesen Zahlungen an „Sozialbehörden“ ist die Zustimmung vor allem des Zentrums zu diesem die Lebenshaltung verteuernden Gesetz ebenso erkauft worden, wie eine „Kooperation mit Vorbehalten“ von landwirtschaftlichen Interessenvertretern beim Ausbau der Sozialversicherung.770 Diese Regelung sei, so heißt es nicht ganz zu Unrecht, ein „...Verdienst der Arbeitnehmervertreter im Reichstag aus dem Deutschen Gewerk-

765 Vgl. dazu vorbildhaft: Sachße, Christoph, Tennstedt, Florian: Geschichte...a.a.O.(=Anm. 6), 114 - 138; ein anschauliches Bild bietet Seite 131. 766 Vgl. dieselben, ebenda, 121; Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 382; vgl. auch: Jahrbuch 1928...a.a.O.(=Anm. 610), 98; vgl. zu den Richtlinien: RGBl. I 1929, 69. 767 Vgl.: Sachße, Christoph, Tennstedt, Florian: Geschichte...a.a.O.(=Anm. 6), 136 ff. 768 Vgl.: RGBl. I 1925, 261. 769 Mit diesen Zahlungen werden öffentliche Anleihen abgelöst, die von „Anstalten und Einrichtungen der freien und kirchlichen Wohlfahrtspflege“ und „Anstalten und Einrichtungen zur wissenschaftlichen Ausbildung und Forschung“ gehalten werden; vgl.: Schott, A.: Wohlfahrtsrente, soziale und kulturelle. In: Dünner, Julia (Hg.): Handwörterbuch...a.a.O.(=Anm. 695), 784 - 787; vgl. als Rechtsquellen das „Gesetz über die Ablösung öffentlicher Anleihen“ vom 16. Juli 1925 (RGBl. I 1925, 137) und die dritte Durchführungsverordnung vom 4. Dezember 1926 (RGBl. I 1926), 494. 770 Vgl. zur entsprechenden Abmachung die Aufzeichnung einer Parteiführerbesprechung zur Zolltarifnovelle vom 20. Juli 1920. Dok. Nr. 130 in: Minuth, Karl-Heinz (Bearb.) Die Kabinette Luther I und II. Band 1...a.a.O.(=Anm. 703), 448f.; vgl. auch: Geyer, Martin H.: Die Reichsknappschaft...a.a.O.(=Anm. 497), 142 f.; der Verfasser betont zu Recht, daß die Bereitstellung von Zollmitteln für die Sozialversicherung zu dieser Zeit bereits eine Tradition hat und zwar in Form eines entsprechenden Zuschusses bei der Einführung der Hinterbliebenenversicherung im Kaiserreich; vgl. die Fußn. 66 bei demselben, ebenda, 439.

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schaftsbund.“771 Schon 1929 werden entsprechende Zahlungen wegen gravierender Haushaltsprobleme des Reiches auf 20 Millionen Reichsmark gekürzt.772 Neben Rechtsquellen zur Bewertung der Sachbezüge in der Sozialversicherung und neben bestimmten Vorschriften, die das Ausland bzw. das Saargebiet betreffen und solchen, die das Verfahren vor Versicherungsbehörden regeln,773 sind sicherlich jene Bestimmungen von übergreifender Bedeutung, die die Wahlen in der Sozialversicherung betreffen und damit die Besetzung der Ehrenämter in der Verwaltung und in der Rechtsprechung. Viele Jahre nach Einführung des unbeschränkten Frauenwahlrechts auch auf dem Gebiete der Sozialversicherung entsteht endlich das „Gesetz über Wahlen nach der Reichsversicherungsordnung, dem Angestelltenversicherungsgesetz und dem Reichsknappschaftsgesetze“ vom 8. April 1927.774 Dieses Gesetz schafft für alle Ehrenämter in der Sozialversicherung eine einheitliche Wahlzeit von fünf Jahren. Das Gesetz bestimmt, daß mit Ablauf des Jahres 1927 alle ehrenamtlichen Mandate bei den Versicherungsbehörden und den Versicherungsträgern durch Wahl besetzt werden sollen.775 Die neue Wahlzeit soll für alle Versicherungszweige einheitlich mit dem Schluß des Jahres 1932 enden. Auch dieses Gesetz folgt der Grundidee der die Verbände von Arbeit und Kapital anerkennenden „demokratischen Sozialpolitik.“ Es bestimmt, daß die Wahlen stattzufinden haben „...auf Grund von Vorschlagslisten wirtschaftlicher Vereinigungen von Arbeitgebern oder von Arbeitnehmern oder von Verbänden solcher Vereinigungen.“776 Zu bestimmten Wahlen jedoch, bei der Wahl von Ausschuß und Vorstand der Krankenkassen, bei der Wahl der Vertreter und Vorstandsmitglieder der Berufsgenossenschaften, sind auch Vorschlagslisten der Wahlberechtigten zugelassen. Damit ist das „Monopol“ der drei großen Gewerkschaftsrichtungen aufgeweicht und es werden gewisse Möglichkeiten für „gelbe Gewerkvereine“ eröffnet, für Kräfte, die zu dieser Zeit um ihre Zulassung und Anerkennung auf allen Gebieten der Sozialpolitik kämpfen und die in diesem Streben u.a. von Teilen des Unternehmertums unter aktiver Beihilfe „höchster professoraler Autoritäten“ Unterstützung erfahren.777 Die „Wahlen“ zeichnen sich dadurch aus, daß eine Abstimmung häufig nicht vorgenommen zu werden braucht, weil jeweils nur eine Vorschlagsliste eingereicht wird. Bei den Wahlen zu dem Verwaltungsrat der „Reichsanstalt für Angestellte“ werden drei Viertel der Stimmen für nichtsozialistische Angestelltenverbände abgegeben.778 Die Wahlen können entgegen der Rechtslage im Jahre 1927 nicht abgeschlossen werden, sie durchziehen auch noch das Jahr 1928. Insgesamt bringen sie den Freien Gewerkschaften einen großen Wahlerfolg.779 Vor dem Hintergrund leicht inflationärer Tendenzen, einer zunehmenden Zahl der Beschäftigten, der vielkritisierten „Lohnwelle“ und konkreter sozialrechtlicher Maßnahmen dehnt sich die Krankenversicherung in beachtlichem Maße aus. Waren 1913 erst 16,9 Millionen Menschen versichert, so sind es 1924 schon 19,1 Millionen und 1929 ist die höchste Zahl der Pflicht- und freiwillig Versicherten in der Weimarer Republik mit 22,4 Millionen 771 Engler, Karl: Um die Zukunft der Invalidenversicherung. In: Zentralblatt der christlichen Gewerkschaften Deutschlands, 27(1927)19, 258 - 261, hier: 259, im Original gesperrt gedruckt. 772 Vgl.: Jahrbuch 1929...a.a.O.(=Anm. 640), 132. 773 Vgl. dazu: Kleeis, Friedrich: Die Geschichte...a.a.O.(=Anm. 412), 258 ff. 774 Vgl.: RGBl. I 1927, 95. 775 Vgl.: Wahlen in der Sozialversicherung. In: Gewerkschafts-Zeitung, 37(1927)42, 581 - 582, hier: 581. 776 Vgl.: Kleeis, Friedrich: Die Geschichte...a.a.O.(=Anm. 412), 261. 777 Vgl. zu weiteren Details denselben, ebenda, 261; vgl. in diesem Zusammenhang die Sammlung von Zeitungsausschnitten in: SAPMO-BA, KPD-ZK, I 2/703/114. 778 Vgl.: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 379. 779 Vgl.: Jahrbuch 1927...a.a.O.(=Anm. 609), 193ff.; Jahrbuch 1928...a.a.O.(=Anm. 610), 104 ff.

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Menschen erreicht. Diese Tatsache und die konkrete Beitragsgestaltung bedingt ein steigendes finanzielles Volumen. Die ordentlichen Einnahmen steigen von rund 0,6709 (1913) auf 1,1299 Milliarden Reichsmark im Jahre 1924. Im Jahre 1929 werden 2,3224 Milliarden vereinnahmt.780 Es wird nicht nur die Versicherungspflichtgrenze erhöht, sondern es werden nach den Hausgewerbetreibenden und den Seeleuten weitere Beschäftigtengruppen in die Krankenversicherungspflicht einbezogen. Dies geschieht durch das „Gesetz über Änderungen der Reichsversicherungsordnung“ vom 19. Juli 1923.781 Durch dieses Gesetz werden auch Angestellte in Berufen der Erziehung, des Unterrichts, der Fürsorge, der Krankenund Wohlfahrtspflege in die Krankenversicherung einbezogen, „...wenn diese Beschäftigung ihren Hauptberuf und die Hauptquelle ihrer Einnahmen bildet.“782 Auf 100 Einwohner kommen zu dieser Zeit rund 33 Kassenmitglieder und „...neben den Versicherten gewähren die Krankenkassen aus freier Entschließung auch 14 Millionen Familienangehörigen Krankenpflege, insbesondere ärztliche Behandlung und Arzneimittel.“783 Da eine grundlegende Reform der Krankenversicherung in der Nachkriegszeit gescheitert war, erbringt sie die Leistungen weitgehend im Rahmen ihrer traditionellen Organisationsstruktur. Die verwirrende Vielfalt der Kassen, eine Folge der Gründungsgeschichte, bleibt trotz der gesetzlichen Erleichterung von Kassenfusionen bestehen. Es läßt sich einerseits ein allmählicher, ein „natürlicher“ Konzentrationsprozeß beobachten. Andererseits nimmt auf Betreiben der Angestelltenbewegung und der rasch wachsenden Angestelltenzahlen die Bedeutung der Ersatzkassen als „Nebenversicherungsträger“ zu. Für eine kurze Zeit eröffnet sich die Möglichkeit, Ersatzkassen neu zu errichten. Von dieser Möglichkeit machen namentlich die freien Angestelltenverbände Gebrauch, eine aus der Sicht des ADGB bedenkliche „Eigenbrötlerei“ in den eigenen Reihen, die „eigentlich“ im Gegensatz zu den Konzentrations- und Vereinheitlichungsforderungen der Freien Gewerkschaften steht. Diese Forderungen werden noch einmal auf dem Hamburger ADGB-Kongreß im September des Jahres 1928 wiederholt und akzentuiert. Eine Resolution verlangt die Schaffung von „maßgeblich“ selbstverwalteten großen Versicherungsträgern, die alle Versicherungszweige umfassen und nach Aufgaben und Wirtschaftsbezirken gegliedert werden sollen.784 Diese Vorstellungen haben jedoch keine Realisierungschance. Die Zahl sämtlicher Kassen sinkt allerdings allmählich von 7.828 im Jahre 1924 auf 7.418 im Jahre 1929. 1932 existieren noch 6.662 Kassen.785 In Berlin z.B. werden für die Jahre 1926/27 insgesamt 211 Kassen gezählt.786 Es existieren 19 Allgemeine Ortskrankenkassen, 11 Berufs(Besondere) Ortskrankenkassen, 109 Betriebskrankenkassen, 54 Innungskrankenkassen und 18 Ersatzkrankenkassen. Die größte Kasse ist die Allgemeine Ortskrankenkasse der Stadt 780 Vgl.: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 462. 781 Vgl.: RGBl. I 1923, 686. 782 Deutsche Sozialpolitik 1918 - 1928...a.a.O.(=Anm. 405), 188. 783 Ebenda, 188. 784 Vgl.: Jahrbuch 1927...a.a.O.(=Anm. 609), 197 f.; vgl. zu den Forderungen des Hamburger Kongresses: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 460; über den Kongreß und die sozialversicherungsbezogenen Forderungen informiert genauer: Bohnstedt, Werner: Der 13. Kongreß der Freien Gewerkschaften Deutschlands in Hamburg, September 1928. In: Soziale Praxis, 37(1928)37, Sp. 878 - 881; Heft 38, Sp. 900 - 906, hier: 905 f. 785 So die Statistik bei: Frerich, Johannes, Frey, Martin: Handbuch...a.a.O.(=Anm. 686), 207. 786 Diese Zahlen ergeben sich aus den Angaben bei: Siegle, K.: Die Zersplitterung im Berliner Krankenkassenwesen. In: Gewerkschafts-Zeitung, 37(1927)25, 350 - 351, hier: 350; jeweils leicht abweichende Angaben finden sich für das Jahr 1926 in: Berlin in Zahlen. Taschenbuch. Hrsg. vom Statistischen Amt der Stadt Berlin. Berlin o.J. (1947), 267 sowie bei: Rieger, E.: Rationalisierung der Arbeiterversicherung. In: Proletarische Sozialpolitik, 1(1928)4, 56 - 58, hier die Tabelle auf Seite 58.

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Berlin mit rund 500.000 Mitgliedern, einem entsprechenden Finanzvolumen, entsprechenden Eigeneinrichtungen und gesundheitspolitischen Ansprüchen. Auf der anderen Seite existieren insbesondere im Bereich der Betriebskrankenkassen und der Innungskrankenkassen Zwergkassen mit teilweise weit unter 500 Mitgliedern. Vor allem die Innungskrankenkassen spiegeln die Struktur des Handwerks. So existieren in Berlin über ein Dutzend Innungskrankenkassen der Bäcker, ein halbes Dutzend der Fleischer und Friseure, drei der Tischler usw. Die Mitgliederzahlen schwanken zwischen etwa zwei Dutzend bei der Friseur-Innungskrankenkasse im Ortsteil Britz des Bezirks Neukölln und rund 14.000 bei der Tischler-Innungskrankenkasse für Alt-Berlin. Die Mehrzahl der 54 Innungskrankenkassen hat jedoch weniger als 1.000 Versicherte.787 Die Leistungen dieser kleinen Kassen werden als gering und an den mageren Regelleistungen orientiert kritisiert. Sie träfen allerhand Maßnahmen, um das „Käßchen“ vor allzu großer Inanspruchnahme zu schützen und hätten keine Eigeneinrichtungen.788 Unter Zugrundelegung der üblichen Maßstäbe (Krankheitstage, Krankheitsfälle insgesamt oder pro Mitglied) steigt die Inanspruchnahme der Krankenversicherung bis 1929 kontinuierlich an. Obwohl sich manche Ziffern leicht erklären lassen, etwa durch die wachsende Zahl der Pflicht- und freiwillig Versicherten, den schlechten Gesundheitszustand, die ungünstiger werdende Altersstruktur der Bevölkerung, die Arbeitsmarktsituation, die veränderten gesetzlichen Vorschriften, sind es gerade auch diese Zahlen, die einen wichtigen Hintergrund für wechselseitige Schuldzuweisungen und auch für die Demagogie gegen die Krankenversicherung ausmachen.789 Diese resultiert in hohem Maße auch aus der gewachsenen „Schicksalsbedeutung“ und Macht der Kassen gegenüber den Dienstleistern, insbesondere gegenüber den Ärzten. Das Verhältnis zu den Dienstleistern bleibt auch während dieses „besten Jahrfünfts“ der Republik gespannt und nicht frei von Reibungen. Durch die „Verordnung über Krankenversicherung“ vom 13. Februar 1924,790 die auf Grund des Ermächtigungsgesetzes vom 8. Dezember 1923 ergeht, werden mit dem Ziel der Mitteleinsparung u.a. die Voraussetzungen für die Bildung von Kassenarztbezirken festgelegt. In der Regel soll für jeden Bezirk ein Arzt bestellt werden. Die Macht der Kassen gegenüber den Ärzten wird gerade durch diese Verordnung erheblich gestärkt. Zum Zwecke der Eindämmung der „mißbräuchlichen Inanspruchnahme“ des Arztes kann die Kasse für die Ausstellung eines Krankenscheines eine Gebühr erheben. Der „Reichsausschuß für Ärzte und Krankenkassen“ nimmt mit Richtlinien Einfluß auf die Ausgestaltung der Arztverträge. Ein „Gesetz über das Reichsschiedsamt“ vom 22. Januar 1925791 steht nach tiefgreifenden Dissens- und Kampferfahrungen am Beginn des Aufbaues einer zweistufigen geregelten Konsensfindungs- und Konfliktregelungsapparatur für die Auseinandersetzungen zwischen Ärzten und Krankenkassen. Diese Apparatur bezieht Vertreter der Ärzte und Kassen, die von den entsprechenden Spitzenverbänden gewählt werden, mit ein. Das Gesetz sieht erhebliche Sanktionen gegen die Ärzte vor, die sich den entsprechenden Entscheidungen nicht unterwerfen. Mit Datum vom 27. Februar 1926 werden Richtlinien über die Tätigkeit von Prüfungsausschüssen zur Überwachung der kassenärztlichen Maßnahmen veröffentlicht. Diesen Ausschüssen 787 Vgl.: Siegle, K.: Die Zersplitterung ...a.a.O.(=Anm. 786), 351. 788 Vgl.: Rieger, E.: Rationalisierung...a.a.O.(=Anm. 786), 58. 789 Vgl.: Deutsche Sozialpolitik 1918 - 1928...a.a.O.(=Anm. 405), 188 ff.; vgl. auch: Tennstedt, Florian: Sozialgeschichte...a.a.O.(=Anm. 458), 401. 790 Vgl.: RGBl. I 1924, 93. 791 Vgl.: RGBl. I 1925, 3.

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kommt eine erhebliche Nachprüfungskompetenz zu und: „Der Kassenarzt kann für einen der Kasse zugefügten Schaden haftbar gemacht werden.“792 Diese Vorschriften werden durch nachfolgende Rechtsquellen leicht modifiziert. In der Unfallversicherung dauert es bis Mitte der 20er Jahre, bis sie sich aus der „Zulagengesetzgebung“ der Inflationszeit löst, die die Empfänger alter Renten aus der Zeit vor der Inflation, insbesondere ehemals hochentlohnte Facharbeiter und Angestellte, unerträglich benachteiligte.793 Mit Wirkung vom 1. Juli 1925 können die Renten wieder nach den Verdiensten gleichartiger Versicherter berechnet werden. Abgesehen von der Auflösung der „Südwestdeutschen Eisen-Berufsgenossenschaft“ und den Veränderungen durch die Gebietsabtretungen nach dem Ersten Weltkrieg, erfolgt keine Veränderung in der ebenfalls vielkritisierten äußeren Organisationsform dieses Versicherungszweiges. Sieht man von den landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften ab, deren Versichertenzahlen von rund 17,4 Millionen im Jahre 1913 auf rund 14,1 Millionen im Jahre 1929 sinken, und von den staatlichen Ausführungsbehörden, die ihre höchste Versichertenzahl in den ersten Nachkriegsjahren und gegen Ende der Weimarer Republik haben, so erlebt auch die Unfallversicherung im Jahre 1929 ihre größte Ausdehnung, was die Zahl der Versicherten anbetrifft. Der gewerbliche Bereich zählt rund 12,2 Millionen Versicherte. Insgesamt sind in diesem Jahr rund 27,5 Millionen Menschen gegen die Folgen von Unfällen versichert. Dabei sind einige Millionen Menschen doppelt versichert, da sie sowohl gewerblich als auch landwirtschaftlich beschäftigt sind. Deshalb weist eine andere Statistik die Zahl von 23,7 Millionen Versicherten aus.794 Auch die Zahl der angezeigten und erstmals entschädigten Unfälle erreicht in diesem Jahr ihren Höhepunkt.795 Durch das „Gesetz über Änderungen der Reichsversicherungsordnung“ vom 19. Juli 1923 erfährt die Unfallversicherung eine bedeutsame Weiterentwicklung.796 Dieses Gesetz schafft unter anderem die Versicherungspflichtgrenze ab und erweitert die Möglichkeiten der freiwilligen Versicherung für Unternehmer. Ein sehr umfangreiches „Zweites Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung“ vom 14. Juli 1925797 verpflichtet die Berufsgenossenschaften nunmehr auch „soweit es nach dem Stande der Technik und der Heilkunde und nach der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft möglich ist“ neben der Unfallverhütung zu einer „wirksamen“ ersten Hilfe. Es führt zusätzlich zur Krankenbehandlung,798 zur Rente bzw. zum Krankengeld für die Dauer der Erwerbsunfähigkeit eine schon zuvor „freiwillig“ praktizierte „Berufsfürsorge“ als gesetzliche Pflichtleistung ein. Diese umfaßt eine „...berufliche Ausbildung zur Wiedergewinnung oder Erhöhung der Erwerbsfähigkeit ... nötigenfalls Ausbildung für einen neuen Beruf, ... Hilfe zur Erlangung einer Arbeitsstelle.“799 Die Versicherung erstreckt sich nunmehr auf einen Jahresverdienst bis zu einem Höchstbetrage von 8.400 Reichsmark, wobei die Satzung noch darüber hinaus gehen kann. Zudem wird die Aufsicht und die Stellung der technischen Aufsichtsbeamten gestärkt. 792 Kleeis, Friedrich: Die Geschichte...a.a.O.(=Anm. 412), 267. 793 Vgl.: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 422), 369 f. 794 Gemeint ist: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 462; seine Statitik ist für das Jahr 1930 fehlerhaft. Die übrigen Zahlenangaben sind entnommen: Frerich, Johannes, Frey, Martin: Handbuch...a.a.O.(=Anm. 686), 210. 795 Vgl. die Statistiken bei: Frerich, Johannes, Frey, Martin: Handbuch...a.a.O.(=Anm. 686), 211 f. 796 Vgl. die Artikel XXXII f.; RGBl. I 1923, 689 f. 797 Vgl.: RGBl. I 1925, 97. 798 Vgl. dazu ausführlich: Tennstedt, Florian: Sozialgeschichte...a.a.O.(=Anm. 458), 433 ff. 799 Vgl. die §§ 558 f. und 848 der RVO.

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Schwerverletzten wird gegebenenfalls eine Kinderzulage in Höhe von 10 % der Rente gewährt, bis das Kind das 15. Lebensjahr vollendet ist. Der Unfallversicherungsschutz wird auch auf den Weg nach und von der Arbeitsstätte und auf die mit der Beschäftigung zusammenhängende Verwahrung, Beförderung, Instandhaltung und Erneuerung eines von dem Versicherten gestellten Arbeitsgerätes erstreckt. Mit diesen Bestimmungen, die erst durch die Beratungen im Reichstag in das Gesetz aufgenommen werden, hat sich die Unfallversicherung von der ihr ursprünglich mehr oder weniger ausschließlich zugrundeliegenden Konzeption einer Ablösung der unternehmerischen Haftpflicht durch eine Sozialversicherung ein Stück weit „emanzipiert“.800 Ein „Drittes Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung“ vom 20. Dezember 1928,801 das zur Zeit der Großen Koalition unter Reichsarbeitsminister Wissell ergeht, bezieht weitere Betriebe und verschiedene Tätigkeiten erstmals in die Unfallversicherung ein. Dazu zählen: Feuerwehren, Betriebe zur Hilfeleistung bei Unglücksfällen, Krankenhäuser, Heil- und Pflegeanstalten, Entbindungsheime und sonstige sozialpolitische Einrichtungen, ferner Einrichtungen und Tätigkeiten im Bereich der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege, Betriebe zur Bewachung von Betriebsund Wohnstätten, Laboratorien sowie Schaustellerbetriebe im weiteren Sinne, „Lichtspiel-“ und „Rundfunksendebetriebe.“ Darüber hinaus wird das Bedienen der Gäste, der kaufmännische und verwaltende Teil von Unternehmen unter bestimmten Bedingungen ebenso einbezogen, wie Tätigkeiten unter Gefahr für „Leben, Körper oder Gesundheit“ zur Rettung eines anderen. Zur Durchführung dieses Gesetzes wird mit der „Verordnung über Träger der Unfallversicherung“ vom 17. Mai 1929802 eine „Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege“ errichtet. Daneben werden durch das dritte Unfallversicherungsänderungsgesetz Zuständigkeitsfragen geklärt. Der veränderten Rechtslage entsprechend, steigt die Zahl der versicherten Betriebe bis zum Ende der Weimarer Republik ständig an. Gestützt auf den § 547 der RVO kommt es gegen den Widerstand der meisten Interessenvertreter der Unternehmerschaft mit der „Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf gewerbliche Berufskrankheiten“ vom 12. Mai 1925803 zu einer weiteren lange angemahnten und im Prinzip bedeutungsvollen Weiterentwicklung der Unfallversicherung. Diese Verordnung beendet für bestimmte, in der Anlage 1 zu dieser Verordnung benannte gesundheitsschädliche Betriebe und für bestimmte „gewerbliche Berufskrankheiten“ eine damals schon lange „offenkundige Ungerechtigkeit der Sozialgesetzgebung.“804 Während nämlich ein Betriebsunfall, der eine sofortige Verletzung zur Folge hatte, problemlos unter den Schutz- und gegebenenfalls auch den Entschädigungsbereich der Unfallversicherung fiel, war das bei Berufskrankheiten nicht der Fall, obwohl ein Zusammenhang mit der Berufstätigkeit und eine daraus resultierende Schädigung unübersehbar war. Lediglich bei Arbeitern, die durch massives Einatmen etwa von Blei- oder Arsendämpfen eine gravierende Gesundheitsschädigung unmittelbar davontrugen, wurde ein entschädigungspflichtiger Betriebsunfall angenommen. Jene jedoch, die unter längerfristiger Einwirkung von schädlichen Stoffen krank und invalide wurden, gingen in der Unfallversicherung leer aus. Sie hatten „...höchstens die Anwartschaft auf die noch so unvergleichlich geringe Invalidenren800 Bogs, Walter: Die Sozialversicherung...a.a.O.(=Anm. 426), 67 f. 801 Vgl.: RGBl. I 1928, 405. 802 Vgl.: RGBl. I 1929, 104. 803 Vgl.: RGBl. I 1925, 69. 804 Vgl. z.B.: Wolff, Georg: Betriebsunfälle und Gewerbekrankheiten. In: Gewerkschafts-Zeitung, 35(1925)37, 534 - 537.

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te.“805 Noch elender war im Falle des Todes die Situation der Hinterbliebenen. Eine allmähliche Hinwendung der Unfallversicherung zur Entschädigung von Berufskrankheiten bahnte sich in Deutschland im Ersten Weltkrieg an. Sie stand bezeichnenderweise im Zusammenhang mit der Tod und Verderben bringenden Sprengstoff- und Giftgasproduktion. Die „Bekanntmachung über die Gewährung von Sterbegeld und Hinterbliebenenrenten bei Gesundheitsschädigung durch aromatische Nitroverbindungen“ vom 12. Oktober 1917806 gewährte die in der Bekanntmachung bezeichneten Leistungen der Unfallversicherung auch dann, „...wenn der Tod nicht als Folge eines Unfalls, sondern als Folge einer allmählichen Einwirkung der genannten Stoffe anzusehen ist.“ Diese Vorschrift wurde, unter Zulassung von Ausnahmen, auf alle seit dem 1. August 1914 eingetretenen einschlägigen Todesfälle bezogen. Diese Regelungen waren sodann mit Verordnung vom 9. Dezember 1918 auch auf die Todesfälle erstreckt worden, die in den entsprechenden Rüstungsbetrieben durch die „Einwirkung von Gaskampfstoffen“ oder „ihren Ausgangsstoffen“ und von Nitromethan verursacht worden sind.807 Die Berufskrankheiten-Verordnung vom 12. Mai 1925 erkennt, bezogen auf bestimmte Betriebe, elf Berufskrankheiten an. Sie gibt auf diese Weise den Blick frei auf die krankmachenden Zustände in den „Stätten der Produktion“, Zustände, die durch die bereits erwähnten Arbeitsschutzgesetze, durch die Berufs- und Gewerbehygiene in ihrer Wirkung eingeschränkt, aber nicht grundsätzlich „überwunden“ sind.808 An der Spitze der Aufzählung stehen Erkrankungen durch Blei- und Bleiverbindungen. Es folgen solche durch Phosphor, Quecksilber und Quecksilberverbindungen, Arsen und Arsenverbindungen, Benzol oder Erkrankungen durch Nitro- und Amidoverbindungen der aromatischen Reihe, Schwefelkohlenstoff, Erkrankungen an Hautkrebs durch Ruß, Paraffin, Teer, Anthrazen, Pech und verwandte Stoffe, Grauer Star bei Glasmachern, Erkrankungen durch Röntgenstrahlen und andere strahlende Energie, die Wurmkrankheit der Bergleute, die Schneeberger Lungenkrankheit. Es handelt sich bei den „Gewerbegiften“, insbesondere auch beim Blei, Phosphor und Quecksilber, um wahre und altbekannte Geißel für die in entsprechenden Fabrikationsstätten tätige arbeitende Bevölkerung. Obwohl nicht alle gewerkschaftlichen Forderungen erfüllend, wird durch die „Zweite Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten“ vom 11. Februar 1929809 die Liste der versicherten Krankheitsgruppen auf insgesamt 22 erweitert, „...nachdem jede einzelne Berufskrankheit, die in die Liste neu aufgenommen worden ist, Anlaß zu langwierigsten Beratungen im ‚Sozialpolitischen Ausschuß’ des Reichswirtschaftsrates gegeben hatte.“810 Mit den beiden Verordnungen von 1925 und 1929 hat Deutschland den Anschluß an eine internationale Tradition gewonnen. Namentlich die Schweiz hatte schon durch Gesetze von 1877 und 1881 unter spezifischen Bedingungen die Möglichkeit der Einbeziehung von Berufskrankheiten in die

805 Derselbe, ebenda, 535. 806 Vgl.: RGBl. 1917, 900. 807 Vgl. die „Verordnung über die Gewährung von Sterbegeld und Hinterbliebenenrenten bei Gesundheitsschädigung durch Gaskampfstoffe und Nitromethan“ vom 9. Dezember 1918; (RGBl. 1918, 1439). 808 Vgl. dazu: Betke, H.: Berufs- und Gewerbehygiene. In: Dünner, Julia (Hg.): Handwörterbuch...a.a.O.(=Anm. 695), 129 - 133 und die dort angegebene Literatur. 809 Vgl.: RGBl. I 1929, 27. 810 Meyer-Brodnitz: Die neue Verordnung über Berufskrankheiten. In: Gewerkschafts-Zeitung, 39(1929), 134 136, hier: 134.

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Haftpflicht ins Auge gefaßt; England war nach der Jahrhundertwende auf diesem Wege gefolgt.811 Das unter erheblichem Einsatz medizinischer Gutachten und Stellungnahmen durchzuführende „Anerkennungsverfahren“ führt zunächst jedoch zu vergleichsweise ganz geringen „Anerkennungsquoten“ und finanziellen Aufwendungen. Nach einer Umfrage des Reichsversicherungsamtes werden in der Zeit vom 1. Juli 1925 bis zum 30. Juni 1926 den Trägern der Unfallversicherung nur 3.847 Fälle von Berufskrankheiten aus 1.807 Betrieben benannt. Nach der Ausscheidung aller als nicht entschädigungspflichtig deklarierten, anders erledigten, „leichten und vorübergehenden“ und der unerledigten Fälle, „...bleiben nur 165 Fälle, in denen die Verpflichtung des Trägers der Unfallversicherung zur Zahlung von Rente (oder Krankengeld) anerkannt wurde. Von diesen 165 Fällen führten sechs zum Tode, 38 zur völligen (dauernden oder vorübergehenden) und 121 zur teilweisen Erwerbsunfähigkeit.“812 Erst mit der „Ausdehnungsverordnung“ vom 11. Februar 1929 steigt die Zahl der angezeigten und erstmalig entschädigten Berufskrankheiten bemerkenswert an. 1930 ist für die Zeit der Republik ein Höchststand mit 3.255 erstmals entschädigten Fällen erreicht.813 In sozialpolitisch engagierten Kreisen hofft man, daß sich als Folge der neuen Rechtslage und der verursachten Kosten der Gedanke einer durchgreifenden Prävention verstärkt auch praktisch niederschlagen möge. Auf dem Gebiet der Invaliden- und Angestelltenversicherung sind zwei gesetzliche Maßnahmen aus der „Inflationszeit“ zu erwähnen, die als „sozialpolitische Fortschritte“ gewertet werden können. In der, wie es damals noch heißt, „Invaliditäts- und Altersversicherung“ wird durch das umfangreiche „Gesetz über Änderung des Versicherungsgesetzes für Angestellte und der Reichsversicherungsordnung“ vom 10. November 1922814 die seit der „Bismarckschen Sozialreform“ übliche Altersrente815 als selbständige Leistungsart „beseitigt“. Die Altersrente wird „...als Invaliditätsfall an die Invalidenrente angegliedert..“816 Mit mehr als 65 Jahren läge, so argumentiert der Gesetzgeber, gewissermaßen „...eine altersbedingte Erwerbsunfähigkeit vor. Für die Versicherten war dies ein positiver Schritt, da die Invaliditätsrente höher und mit einer geringeren Wartezeit - 200 Beitragswochen statt 500 bei der Altersrente - auch leichter zu erreichen war.“817 Mit der Novelle vom 10. November 1922 wird u.a. auch noch die Doppelversicherung in der Invaliden- und der Angestelltenversicherung beseitigt, die Möglichkeit der freiwilligen Versicherung wird erweitert und der Rechtsweg in der Angestelltenversicherung wird an den der RVO angeglichen. Schließlich wird auch die Selbstverwaltung in der Angestelltenversicherung beachtlich ausgebaut: „Im Direktorium ... erhielten nunmehr die ehrenamtlichen gegenüber den beamteten Mitgliedern das Übergewicht... Die Befugnisse des Verwaltungsrats... wurden erweitert.“818

811 Vgl.: Teleky, Ludwig: Die Versicherung der Berufskrankheiten. In: Soziale Praxis,36(1927)41, Sp. 1028 1032. 812 Backhaus, H.: Berufskrankheiten als Betriebsunfälle. In: Gewerkschafts-Zeitung, 37(1927)12, 166. 813 Vgl.: Frerich, Johannes, Frey, Martin: Handbuch...a.a.O.(=Anm. 686), 211. 814 Vgl.: RGBl. I 1922, 849. 815 Vgl. den § 9 des „Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung“ vom 22. Juni 1889 (RGBl. 1889, 97 ff., hier: 100 f). 816 100 Jahre Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein...a.a.O.(=Anm. 418), 75. 817 Daniel, Andreas: Die Landesversicherungsanstalt Westfalen 1890 - 1990. Münster 1990, 75. 818 Bogs, Walter: Die Sozialversicherung...a.a.O.(=Anm. 426), 69.

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Die „ökonomische Scheinblüte“ und die durch die „Reinigungskrise“ nur kurz unterbrochene Steigerung der Löhne ermöglichen ab dem Jahre 1924 eine allmähliche Konsolidierung und dann auch einen nicht unbedeutenden Leistungsausbau auf dem Gebiet der Invalidenversicherung. Die Invalidenrente setzt sich nach der Abschaffung der Einheitsrente aus einem Grundbetrag und einem Reichszuschuß als feste Bestandteile und einem Steigerungsbetrag sowie gegebenenfalls einem Kinderzuschuß als bewegliche Bestandteile zusammen: „...jene sichern, insbesondere für den Fall der Frühinvalidität, eine bescheidende Mindestrente, diese berücksichtigen Dauer und Höhe der Versicherung sowie den Familienstand.“819 Allerdings werden erst durch die „Verordnung über Beiträge und Leistungen der Angestellten- und Invalidenversicherung“ vom 16. April 1924820 für die ab dem 1. Januar 1924 geleisteten Beiträge Steigerungsbeträge vorgesehen und es ist das „Gesetz über Änderung der Berechnung der Renten aus der Invalidenversicherung“ vom 23. März 1925,821 das mit der Einführung von Steigerungssätzen für die bis zum 30. September 1921 geleisteten Beiträge die extrem niedrige Einheitsrente spürbar überwindet. Die Beiträge der Inflationsjahre gelten als „verloren“ und erst die Beiträge nach dem 1. Januar 1924 zählen nach den Bestimmungen des Gesetzes vom 23. März 1925 wieder für die spätere Rente. Das bereits erwähnte „Gesetz über Ausbau der Angestellten- und Invalidenversicherung und über Gesundheitsfürsorge in der Reichsversicherung“ vom 28. Juli 1925 bedingt nicht nur einen Ausbau der Gesundheitsfürsorge sondern auch deutliche Leistungsverbesserungen, denen allerdings eine durch Veränderungen im Lohnklassenschema bewirkte Heraufsetzung der Beiträge gegenübersteht. Mit diesen Leistungsverbesserungen reagiert der Gesetzgeber u.a. auf die im Vergleich zu 1913 stark angestiegenen Lebenshaltungskosten und auf die Tatsache, daß die alte Vorstellung von der Rentenleistung als „Zuschuß“ zu den Kosten der Lebenshaltung, die die Gesetzgebung des Kaiserreichs begleitet hatte, durch Verarmungsprozesse, durch die Situation am Arbeitsmarkt bzw. die Rationalisierung mit der Folge der Kündigung gerade auch der älteren Arbeitskräfte fragwürdig wird. Arbeitsmöglichkeiten für erwerbsgeminderte alte Menschen werden knapper. Die traditionelle Perspektive lebenslanger Erwerbsarbeit wird unsicher. Beginnend mit dem Jahre 1925 weist die amtliche Statistik einen dramatischen Rückgang der Erwerbsbeteiligung von Männern im Alter von 65 und mehr Jahren aus, der erst zu Beginn der 30er Jahre abgebremst wird. Ein fehlendes Arbeitseinkommen im (hohen) Alter hinterläßt nun häufig eine schmerzhafte Lücke, die durch die Rente, durch Einkünfte aus (Unter-)Vermietung, durch Werkspensionen, andere öffentlich-rechtliche und privatrechtliche Ansprüche und durch Zuweisungen aus der Familie nicht zu schließen ist. Hieraus entwickelt sich allmählich die Forderung nach einer wirklich und allein ausreichenden Unterstützung aus der Invalidenversicherung etwa in Form einer „allgemeinen Staatsbürgerversorgung.“822 Es ist die „Reinigungskrise“, die kurz nach dem Inkrafttreten des „Ausbaugesetzes“ vom 28. Juli 1925 zeigt, wie schwankend die Fundamente der Sozialversicherung sind. Sie gibt vorübergehend Anlaß zu ernster Sorge um die finanzielle Weiterentwicklung und 819 Deutsche Sozialpolitik 1918 - 1928...a.a.O.(=Anm. 405), 180. 820 Vgl.: RGBl. I 1924, 405. 821 Vgl.: RGBl. I 1925, 27. 822 Vgl. in diesem Zusammenhang: Göckenjan, Gerd, Hansen, Eckhard: Der lange Weg zum Ruhestand. Zur Sozialpolitik für das Alter zwischen 1889 und 1945. In: Zeitschrift für Sozialreform, 39(1993)12, 725 - 755, hier: 751; vgl. zur Erwerbsbeteiligung alter Männer: Conrad, Christoph: Die Entstehung des modernen Ruhestandes. In: Geschichte und Gesellschaft, 14(1988), 417 - 447, hier: 440 ff.

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Tragkraft der Rentenversicherung, eine Sorge, die sich gegen Ende des Jahres 1926 allerdings bereits wieder „verflüchtigt“.823 So bringt das „Gesetz über Leistungen und Beiträge in der Invalidenversicherung“ vom 8. April 1927824 weitere dringend erforderliche Leistungsverbesserungen aber auch erneute Beitragserhöhungen. Bei bestimmten Renten wird der Steigerungsbetrag für Beitragszeiten vor dem 1. Oktober 1921 verdoppelt. Mit diesem Gesetz wird auch der Bezug der Witwenrente erleichtert. Mit Vollendung des 65. Lebensjahres steht der Witwe diese Leistung nunmehr auch ohne Invaliditätsnachweis zu, eine Regelung, die für die Angestelltenwitwen generell schon seit 1913 gilt.825 Mit dem „Gesetz über Leistungen in der Invaliden- und Angestelltenversicherung“ vom 29. März 1928826 erfolgt eine erneute Leistungsverbesserung durch die Erhöhung von Kinderzuschüssen und von Steigerungsbeträgen. Diese Tendenz setzt sich mit dem „Gesetz über Leistungen in der Invalidenversicherung“ vom 12. Juli 1929 fort.827 Kurz zuvor, durch das „Gesetz zur Änderung des Angestelltenversicherungsgesetzes“ vom 7. März 1929,828 wird die „Wartezeit“ für das Ruhegeld auf nunmehr nur noch 60 Beitragsmonate herabgesetzt. „Sind weniger als dreißig Beitragsmonate auf Grund der Versicherungspflicht nachgewiesen, so beträgt die Wartezeit neunzig Beitragsmonate.“ Anspruch auf Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit kann nunmehr auch der Angestellte haben, der „...das sechzigste Lebensjahr vollendet hat und seit mindestens einem Jahre ununterbrochen arbeitslos ist.“ Es ist dies eine auf die Alterserwerbslosigkeit reagierende Maßnahme und ein (weiteres) Privileg für die Angestellten. Schließlich wird mit der Verordnung vom 8. Oktober 1929829 die Angestelltenversicherungspflicht auf „...Musiker und Hebammen erstreckt, die ihre Tätigkeit auf eigene Rechnung ausüben, ohne in ihrem Betrieb Angestellte zu beschäftigen,“ es sei denn, Hebammen wird eine gleichwertige andersweitige Versorgung gewährt. Diese Abfolge von Leistungserhöhungen hat zu einem erheblichen Einbezug von Steuer- bzw. Staatsmitteln in die Invalidenversicherung geführt. Dies ist nicht zuletzt eine Folge der Einflußnahme der Unternehmer gewesen, die sich der Finanzierung allein durch Beitragserhöhungen mit dem Argument entgegengestemmt hatten, daß dadurch die Rentabilität ihrer Betriebe und ihre internationale Leistungsfähigkeit bedroht werde.830 Auch nach diesen Leistungsverbesserungen ist das damalige „System der sozialen Sicherung“ ein „System“ von Einkommenshilfen geblieben, das der Ergänzung durch andere Unterstützungsformen dringend bedarf. Der „Zirkel von Alter und Armut“ wird durch diese Leistungen nicht durchbrochen.831 Als die Landesversicherungsanstalt Westfalen im Juli 1928 die 823 Vgl.: Die finanzielle Entwicklung der Invalidenversicherung 1924 - 1926. In: Amtliche Nachrichten des Reichsversicherungsamts, 43(1927)2, 104 - 106. 824 Vgl.: RGBl. I 1927, 98. 825 Vgl.: Tennstedt, Florian: Sozialgeschichte...a.a.O.(=Anm. 458), 463, sowie Artikel 1 (2.) dieses Gesetzes; vgl. in diesem Zusammenhang auch: Mörschel, Richard: Die Finanzierungsverfahren in der Geschichte der gesetzlichen Rentenversicherung. In: Deutsche Rentenversicherung, 1990, Heft 9/10, 619 - 661, hier: 631 ff. 826 Vgl.: RGBl. I 1928, 116. 827 Vgl.: RGBl. I 1929, 135. 828 Vgl.: RGBl. I 1929, 75. 829 Vgl.: RGBl. I 1929, 151. 830 Im Jahre 1930 belaufen die Beiträge auf 986,3 Millionen und die Reichsmittel auf 445,4 Millionen Reichsmark; dieses Jahr stellt den Höhepunkt des finanziellen Engagements des Reiches in der Invalidenversicherung dar; vgl.: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 462. 831 Vgl. auch: Scholz, Robert: „Heraus aus der unwürdigen Fürsorge“. Zur sozialen Lage und politischen Orientierung der Kleinrentner in der Weimarer Republik. In: Conrad, Christoph, Kondratowitz, Hans-Joachim von (Hg.): Gerontologie und Sozialgeschichte. Wege zu einer historischen Betrachtung des Alters. 2. überarbeitete Auflage. Berlin, im September 1985, 319 - 350, hier: 319.

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Durchschnittsrente in ihrer Provinz errechnet, kommt sie zu dem Ergebnis, daß die durchschnittliche Invalidenrente 32,75 Reichsmark im Monat beträgt, wozu bei jeder fünften Rente ein Kinderzuschuß von 10 Reichsmark kommt. „Im Jahre 1913 hatte ein Invalide nur 18 M im Monat erhalten, die Einheitsrente von 1924 hatte 13 RM betragen. Eine Witwe erhielt 1928 im Durchschnitt 24,80 RM monatlich (1913: 6 M) und eine Waise 15,65 RM (1913: 2,50). Ein gelernter Arbeiter kam zur selben Zeit auf einen Monatslohn zwischen 150 und 190 RM.“832 Eine für das ganze Reich durchgeführte Berechnung des Reichsarbeitsministeriums kommt nach der Rentenerhöhung durch das Gesetz vom 29. März 1928 zu einer durchschnittlichen monatlichen Invalidenrente von 33,10 Reichsmark. Für die Angestelltenversicherung hingegen ergibt sich ein Betrag von 61,50 Reichsmark.833 Auch mit Blick auf die Rentenhöhe ergibt sich also ein fundamentaler Unterschied zu den Ruhegeldern der Angestelltenversicherung. Von den Rentnern der Arbeiter- und Angestelltenversicherung sind gegen Ende der 20er Jahre wegen des niedrigen Unterstützungsniveaus und mangels weiterer Einkommensquellen rund 600.000 gleichzeitig auch Klienten der extra für sie geschaffenen „gehobenen Fürsorge“, der „Sozialrentnerfürsorge.“834 Die Anzahl der in der Invalidenversicherung versicherten Menschen erreicht mit knapp 18 Millionen Versicherten schon im Jahre 1927 ihren Höhepunkt und liegt rund eine Millionen unter dem Wert von 1913. Gewaltig gestiegen ist in den 20er Jahren hingegen die Zahl der Rentenbezieher. Der gesamte Rentenbestand, der 1913 erst 1.152.460 betrug, hat sich im Jahre 1929 auf 3.249.397 erhöht und erreicht im Jahre 1931 über 3,5 Millionen, hat sich also mehr als verdreifacht. Dabei liegt das durchschnittliche Rentenbezugsalter in der Arbeiterrentenversicherung weit unter 65 Jahre, was die Bedeutung der vorzeitigen Invalidität unterstreicht.835 Die ordentlichen Einnahmen erreichen im Jahre 1929 mit 1,63 Milliarden Reichsmark ihren Höhepunkt, 1913 waren es erst 419,3 Millionen Mark.836 Finanziell vergleichsweise geradezu blendend steht sich die Angestelltenversicherung. Vor allem wegen der Änderung in der Struktur der abhängig Beschäftigten und der Erweiterung der Kreise der pflichtig und freiwillig Versicherten, steigt die Zahl der Versicherten von rund 1,7 Millionen im Jahre 1913 und rund 1,5 Millionen im Jahre 1920 auf 3,5 Millionen im Jahre 1930. Mit rund 3,6 Millionen Versicherten erreicht sie im Jahre 1932 ihr Maximum in der Weimarer Republik. Günstig beeinflußt wird die finanzielle Situation auch durch eine Vermehrung der Beitragszahler in den höheren Gehaltsklassen. Die Angestelltenversicherung beginnt wegen ihres geringen Alters und der langen Wartezeit mit nur 1.245 Ruhe832 Daniel, Andreas: Die Landesversicherungsanstalt Westfalen 1890 - 1990...a.a.O.(=Anm. 817), 79 f. 833 Vgl.: Dobbernack, (Wilhelm): Die finanziellen Auswirkungen des Gesetzes über Leistungen in der Invalidenund Angestelltenversicherung vom 29. März 1928. In: Die Reichsversicherung,2(1928), 93 - 95, hier: 93 und 95; ähnliche Zahlen in der von der SPD herausgegebenen Broschüre: Für Dich und die Deinen. Die sozialen Leistungen der Republik und die Kämpfe der deutschen Sozialdemokratie für durchgreifende soziale Gesetzgebung. Berlin o.J. (1930), 8 ff. dort auch weitere Hinweise zu diesem und zu anderen Bereichen der staatlichen Sozialpolitik. 834 Vgl. dazu mit den entsprechenden Rechtsquellen und der Auffassung, daß es sich um rund 600 000 Personen handele: Gemmingen, E. Freiherr von: Sozialrentner. In: Dünner, Julia (Hg.): Handwörterbuch...a.a.O.(=Anm. 695), 625; auf rund ein Fünftel der Rentner der Invalidenversicherung veranschlagt der „Deutsche Verein für öffentliche und private Wohlfahrtspflege“ auf der Basis einer empirischen Untersuchung die Klienten der „Sozialrentnerfürsorge“; vgl.: Geyer, Martin H.: Soziale Rechte im Sozialstaat: Wiederaufbau, Krise und konservative Stabilisierung der deutschen Rentenversicherung 1924 - 1937. In: Tenfelde, Klaus (Hg.): Arbeiter...a.a.O.(=Anm. 130), 406 - 434, hier: 407. 835 Vgl. die Tabelle bei: Frerich, Johannes, Frey, Martin: Handbuch...a.a.O.(=Anm. 686), 213; vgl. zur Entwicklung des Rentenzugangsalters: Conrad, Christoph: Die Entstehung...a.a.O.(=Anm. 822), 433. 836 Vgl.: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 462.

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geldempfängern und 23.526 Hinterbliebenenrenten im Jahre 1920. Im Jahre 1929 ist eine Zahl von 101.516 Ruhegeldempfängern und 90.755 Empfängern von Hinterbliebenenrenten erreicht. 1932 werden 188.433 Ruhegeldempfänger gezählt.837 Am Ende des Jahres 1929 weist die Angestelltenversicherung ein Vermögen von 1,3103 Milliarden Reichsmark aus, ein Betrag, der in den folgenden Jahren noch einmal kräftig auf rund 2 Milliarden Reichsmark steigt. Diese Situation benutzt die Sozialdemokratie dazu, eine Erhöhung der Rentenleistung und eine Verbesserung des Heilverfahrens zu fordern.838 Ausgesprochen kritisch hingegen ist in diesen Jahren der „ökonomischen Scheinblüte“ die Situation in der Knappschaftsversicherung, die dazu bestimmt ist, das „Risiko“ der „Bergfertigkeit“ abzusichern und die ansonsten Leistungen gewährt, „...die den hohen beruflichen Anforderungen an Körperkraft und Betriebskunde und dem frühen Kräfteverbrauch entsprechen.“839 „Die besonders günstigen Leistungsvoraussetzungen, die frühzeitige Pensionierung (1925 waren die neuzugehenden Invaliden in der Arbeiterabteilung im Durchschnitt 50,5 Jahre, die Alterspensionäre 52,7 Jahre alt), vor allem aber die Absatzschwierigkeiten des Steinkohlenbergbaus und die durch umfangreiche Rationalisierungen ständig zurückgehenden Belegschaften ließen die knappschaftliche Pensionsversicherung trotz enormer Beitragssätze von Beginn an unter erheblichen Finanzierungsschwierigkeiten leiden.“840 Vor diesem Hintergrund schwelt eine heftige Auseinandersetzung um die Ausgestaltung des Knappschaftswesens. Schon das zu dieser Entwicklung beitragende „Reichknappschaftgesetz“ vom 23. Juni 1923 war im Zuge eines heftigen politischen Streites zustande gekommen und entsprach in zahlreichen Punkten nicht der Vorstellung der Bergbauunternehmer. Der Grund lag vor allem darin, daß ein ursprünglicher Entwurf die parlamentarischen Verfahren zum Mißfallen der Unternehmer nur mit erheblichen Modifikationen „überlebt“ hatte. Die in verschiedenen Parteien beheimateten Gewerkschaftsvertreter haben im „Sozialpolitischen Ausschuß“ des „Vorläufigen Reichswirtschaftsrat“ und in dem entsprechenden Ausschuß des Reichstages wesentliche Grundzüge des Gesetzes umgeprägt und eine günstige Gestaltung der Leistungen durchgesetzt. Reichstag und Reichsrat haben diesem Ergebnis dann zugestimmt und das Gesetz mit großer Mehrheit verabschiedet.841 Eine Lähmung der Selbstverwaltung durch die Unternehmervertreter, fortdauernde Konflikte und Revisionsbemühungen von dieser Seite haben sich angeschlossen, schließlich sah sich das Reichsarbeitsministerium gedrängt, in diese Konflikte einzugreifen.842 Aus dieser Situation heraus entstehen Novellierungsanstrengungen und schließlich wird eine neue Vorlage erarbeitet. Wiederum setzen heftige Konflikte ein und erneut entgleitet dieses Teilstück der staatlichen Sozialpolitik den Händen der interessierten Unternehmerschaft, der staatlichen Bürokratie und den konservativen Eliten. Der Entwurf wird Objekt der Ausschußverhandlungen, Gegenstand eines parlamentarischen Tauschgeschäftes und das Ergebnis ist

837 Vgl.: Frerich, Johannes, Frey, Martin: Handbuch...a.a.O.(=Anm. 686), 216. 838 Vgl.: Für Dich...a.a.O.(=Anm. 833), 12; vgl. auch: Hungerrenten für Angestellte. In: Vorwärts vom 24. März 1928,1, zitiert aus: SAPMO-BA, KPD-ZK, I 2/703/114, unpag. 839 Deutsche Sozialpolitik 1918 - 1928...a.a.O.(=Anm. 405), 192; vgl. insbesondere auch die Möglichkeit der Berufsunfähigkeit mit Vollendung des 50. Lebensjahres gemäß § 26 des Reichsknappschaftsgesetzes. 840 Frerich, Johannes, Frey, Martin: Handbuch...a.a.O.(=Anm. 686), 219. 841 Vgl.: Geyer, Martin H.: Die Reichsknappschaft...a.a.O.(=Anm. 497), bes. 108 ff. 842 Vgl. denselben, ebenda, 119 ff.

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schließlich das umfangreiche „Gesetz über Abänderung des Reichsknappschaftsgesetzes“ vom 25. Juni 1926.843 Der für die Geschichte der staatlichen Sozialpolitik im Nationalsozialismus nicht unbedeutende Jurist Werner Mansfeld, zu dieser Zeit Justitiar in der Geschäftsführung des „Vereins für bergbauliche Interessen“,844 sodann auch Mitglied des Vorstandes der Ruhrknappschaft und Inhaber weiterer Ehrenämter in der Sozialversicherung, faßt anläßlich der abschließenden Parlamentsberatungen das „Entsetzen“ der betroffenen Unternehmerschaft über das entstehende Gesetz zusammen. Er sieht die „vorbildliche Institution der Knappschaft“ in Gefahr. Er diagnostiziert den Einfluß der Gewerkschaften in den Parteien als entscheidend und folgert: „Werden die jetzigen Beschlüsse Gesetz, dann ist sicherlich der Tag nicht mehr fern, an dem wir mit der Knappschaft eine Einrichtung zu Grabe tragen, die uns mit Recht in früheren, vernünftigeren Zeiten den Neid und die Anerkennung der ganzen Welt eingetragen hat.“845 Besondere Kritik findet die auf den Gewerkschaftsführer und Zentrumsabgeordneten Heinrich Imbusch zurückgehende und von der SPD unterstützte Regelung der Zusammensetzung der Selbstverwaltung. Eingedenkt der Konflikte mit den Unternehmern gelingt es, den Arbeitnehmern eine Dreifünftelmehrheit in den Organen zu verschaffen und nunmehr wird auch festgehalten, daß die Mitglieder der für Arbeiter und Angestellte getrennt strukturierten Organe auf Grund „von Vorschlagslisten wirtschaftlicher Vereinigungen“ gewählt werden sollen.846 Eine entsprechende Beitragsverteilung ist die Folge. Das endgültige Gesetz ist entgegen den ursprünglichen Absichten der Ministerialbürokratie und der Bergbauunternehmer „natürlich“ auch kein Spargesetz. Betrugen die Invalidenpensionen im Jahre 1924 jahresdurchschnittlich 546 Reichsmark und die Ruhegelder (der Angestellten) 959,80, so wachsen diese Beträge auf 819,72 bzw. 2.181,60 Reichsmark im Jahre 1927 an, um dann bis zur Weltwirtschaftskrise (1930) bei den Invalidenpensionen auf 759 und bei den Ruhegeldern auf 2.027,52 Reichsmark zurückzugehen. Am 1. April 1930 entfallen auf eine „Pensionseinheit“ nur noch 2,08 Arbeitermitglieder und 2,33 Angestelltenmitglieder, eine Relation, die sich in der Weltwirtschaftskrise weiter verschlechtert. Ab dem Rechnungsjahr 1929 erhält auch die „Reichsknappschaft“ Zuschüsse aus Lohnsteuermitteln.847 Insgesamt ist diese „berufsständische“ Versicherung ein weiteres Musterbeispiel für die Verankerung und Fortschreibung des Sonderstatus der Angestellten in der Weimarer Republik. Vor allem die mittelständischen Angestelltenverbände haben mit ihren parlamentarischen Querverbindungen und einer verständigen Ministerialbürokratie dazu beigetragen, daß sich, ausgehend von der besonderen Angestelltenversicherung und einigen anderen „Rechtsgebilden“ der Kaiserzeit, die Besonderung und Privilegierung der Angestellten durch das gesamte Ar843 Vgl.: RGBl. I 1926, 291; das „Tauschgeschäft“ bezieht sich auf ein agrarprotektionistisches Vorhaben. Für die Unterstützung eines Handelsabkommens mit Schweden durch Zentrumskräfte, ein Abkommen, das den Import von Agrarprodukten einschränken soll, unterstützen die Agrarier die Novelle des Reichknappschaftsgesetzes. Detaillierte Angaben bei: Geyer, Martin H.: Die Reichsknappschaft...a.a.O.(=Anm. 497), 143; einen Überblick über das Gesetz bietet auch: Bogs, Walter: Die Sozialversicherung...a.a.O.(=Anm. 426), 71 ff. 844 Vgl. zu seiner Biographie: Spohn, Wolfgang: Betriebsgemeinschaft und innerbetriebliche Herrschaft. In: Sachse, Carola, Siegel, Tilla, Spode, Hasso, Spohn, Wolfgang (Hg.): Angst, Belohnung, Zucht und Ordnung. Opladen 1982, 140 - 208, hier: 143 f. 845 Mansfeld, W.(erner): Das Knappschaftsgesetz. In: Hannoverscher Kurier. Morgen-Ausgabe. Mittwoch, den 9. Juni 1926, 1 - 2, hier: 2. 846 Vgl. den Artikel 10 der Novelle; RGBl. I 1926, 304. 847 Vgl. dazu die Tabelle bei: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 463 sowie: Frerich, Johannes, Frey, Martin: Handbuch...a.a.O.(=Anm. 686), 218 f.

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beits- und Sozialrecht der Republik zieht, eine Entwicklung die auf die Arbeiter und die Arbeiterbewegung überwiegend provokativ wirkt. Seit dem Ende des Jahres 1925, nach der „Oktoberniederlage“, der Illegalität, vor dem Hintergrund eines vorübergehend schwindenden Einflusses und nach einer „Mäßigung“ der politischen Linie, wendet sich die KPD mit ihren Hilfs- und Vorfeldorganisationen verstärkt der staatlichen Sozialpolitik zu.848 Insbesondere auf der Ebene des Reichstages und seines „Sozialpolitischen Ausschusses“ leistet sie in Fortsetzung und Modifikation älterer Stellungnahmen zur Sozialreform einen besonders impressiven und kennzeichnenden Beitrag zur Sozialstaatsdebatte der damaligen Zeit. Diese Aktivitäten verbinden sich mit einem starken agitatorischen Interesse. Es werden vor allem auf diesem Gebiet die Argumente gesucht und gefunden, die der Profilierung der Partei im Kampf um den Einfluß auf die Massen dienen sollen. Zweifellos stellt die staatliche Sozialpolitik, die in expliziter Weise zur Integration der Weimarer Gesellschaft beitragen soll, die sich revolutionär verstehende Arbeiterbewegung weiterhin vor weltanschaulich-theoretische Probleme. Diese Probleme werden argumentativ unter Zuhilfenahme von Gedankengängen und Zielprojektionen gelöst, die bereits in den ersten Nachkriegsjahren Gestalt gewonnen hatten. So soll der Kampf um „Brotfragen“, um die Tagesforderungen der Menschen mit dem Endziel, dem „Kampf um die Macht“ verbunden werden.849 Die Tatsache, daß die staatliche Sozialpolitik mit ihren Strukturen und Verfahrensweisen der Revolutionierung entgegenwirken soll, mithin als ein besonders raffiniertes Herrschaftsmittel der „Bourgeoisie“ und ihrer „Helfershelfer“ betrachtet werden kann, wird auch weiterhin durch eine allgemeine, radikale Mobilisierungs- und Kampfperspektive auf sozialpolitischem Gebiet „gelöst.“ Kämpfe zum Schutze der „proletarischen Existenz“ sollen zu allgemeinen „revolutionären Massenaktionen“ unter Führung der KPD erziehen und überleiten. Diese Perspektive beinhaltet wie schon in der Vergangenheit, so auch jetzt die Zurückweisung aller integrationistischen, konfliktbegrenzenden, klassenversöhnlerischen, arbeitsgemeinschaftlichen Strukturen in der bereits bestehenden bzw. geplanten staatlichen Sozialpolitik. Hierin und in der Betonung des gewaltsamen Bruchs mit den bestehenden sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnissen liegt der gravierende Unterschied zu jeder Sozialreform, insbesondere auch zur „Wirtschaftsdemokratie“. Dieses „Sinngebungskonzept“ pflegt zwar auch die Metapher des „Kampfes“ , verbindet diese aber mit der Demokratie, mit Verfahren der Mehrheitsbildung und des politischen Handelns im Rahmen und zur evolutionären Änderung der bestehenden Verhältnisse. Soll im Lichte der tönenden und fordernden Anweisungen und Schriften der KPD der möglichst kompromißlose Kampf, sollen Druck und Gewalt von unten die Antwort auf die sozialen Probleme und die Triebkraft einer „proletarischen Sozialpolitik“ sein, so soll das Problem eines humaneren, effektiveren Betriebs der ökonomischen Maschinerie im Rahmen und durch ein zu errichtendes, „wahrhaft sozialistisches“ Sowjetdeutschland „gelöst“ werden. Ohne kritische Informationen über den Zustand der Sowjetwirtschaft zu verbreiten oder anzuerkennen, gewinnt diese Perspektive vor dem Hintergrund eines tagtäglich erfahrenen Kapitalismus an „Glanz“, der ausschließlich als Krisen-, Ausbeutungs- und Verelendungszusammenhang beschrieben wird. Die ununterbrochene Flut der zum Kampf, zu „gewalti848 Vgl.: Fölster, Elfriede: Die Arbeitsgemeinschaft sozialpolitischer Organisationen (Arso) von 1927 - 1929. Zur Geschichte der Sozialpolitik der KPD. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 20(1978)2, 222 - 236, hier: 224 ff.; vgl. auch: Weber, Hermann: Kommunismus in Deutschland 1918 - 1945. Darmstadt 1983, 97 ff. 849 Vgl.: Fölster, Elfriede: Die Arbeitsgemeinschaft...a.a.O.(=Anm. 848), 225.

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gen, aufwühlenden Massenkampagnen“, zur „Entlarvung“ der reformistischen Kräfte auffordernden „Direktiven“ der Parteiinstanzen und die zahlreichen Eingeständnisse des mangelnden Erfolges, der Umbiegung oder Nichtumsetzung solcher Vorgaben, zeigen gleichzeitig, daß das alte Problem der kommunistischen Bewegung, das Phänomen, daß die „Politik vor Ort“ hinter den „revolutionären“ Erwartungen der „Zentralen“ zurückbleibt, weiterhin virulent ist. Die Hinwendung zu sozialpolitischen Problemen fällt mit einer spezifischen „Neubewertung“ der Parlamentsarbeit durch die KPD zusammen. Nachdem diese Arbeit in der revolutionären Phase bis 1923 bestenfalls zweitrangig gewesen ist und nachdem die „ultralinke“ Parteitaktik, die zu groben agitatorischen Übungen, zu Krawallen, Schlägereien und Störungen der Reichstagssitzungen im Jahre 1924 geführt hatte, abgeklungen ist,850 wendet sie sich im Plenum und in dem „Sozialpolitischen Ausschuß“ schwerpunktmäßig vor allem dem Arbeitsschutz, der Arbeitszeitfrage, dem Wohnungsbau, dem Mieterschutz, dem Schutz für Mutter und Kind, der Kriegsopferversorgung, der Kleinrentnerfrage, dem Schlichtungswesen, dem Gesundheits- und Fürsorgewesen und der Sozialversicherung zu.851 Der Grundorientierung der KPD entsprechend, erläutert das „Handbuch der Kommunistischen Reichstagsfraktion“ die Stellung der Partei zur Parlamentsarbeit wie folgt: Sie halte an ihren revolutionären Zielen fest. Die Kommunisten propagierten „... die Zerschlagung dieser kapitalistischen, parlamentarischen Maschine und die Errichtung einer proletarischen Demokratie durch die Uebertragung der Macht an die Arbeiter- und Soldatenräte, einer Diktatur des Proletariats.“852 Vor diesem Hintergrund möchte die KPD die „Tribüne der Parlamente“ jedoch einmal zur Vertretung der Interessen aller Werktätigen gegen die Ausbeutung durch das „vertrustete Industrie- und Agrarkapital“ nutzen. Zum anderen gehe es ihr um die „revolutionäre Aufklärung der Arbeiterklasse“, um die „Demaskierung“ der „bürgerlichen Parteien“ und der Sozialdemokratie sowie des „kapitalistischen Charakters“ der Parlamente, ihrer Korruptionsaffären usw. Der Reichstag gilt aus der Sicht der KPD als „Klasseninstrument der Bourgeoisie“, eine Diagnose, die durch den Nachweis eines hohen Anteils von Vertretern der Wirtschaft in den bürgerlichen Parteien untermauert werden soll und dadurch, daß die Mandatsträger der SPD den „Vertretern des Industrieund Agrarkapitals“ als „Rückendeckung“ zugeordnet werden. Hiermit und mit anderen Hinweisen möchte die KPD dem „Proletariat“ verdeutlichen, daß die „Befreiung der Arbeiterklasse“ nur ihr eigenes Werk sein könne und daß „proletarische Forderungen“ im Parlament nur durchzusetzen seien, wenn dahinter der Druck demonstrierender und kämpfender „Arbeitermassen“ stehe.853 Aus dieser Orientierung resultiert eine schonungslose Kritik aller Defizite, aller Unzuträglichkeiten, aller verteilungspolitischen Finessen und der Abbautendenzen auf dem Gebiet staatlicher Sozialpolitik. Aus einer prinzipiellen Oppositionspolitik resultiert auf der „Tribüne“ des Reichstags das folgende, geradezu typische und durchgängige Handlungs850 Vgl. zur Parlamentsarbeit der KPD schon: Flechtheim, Ossip K.: Die Kommunistische Partei Deutschlands in der Weimarer Republik. Offenbach a.M. 1948, 117 ff.; ausführlicher: Weber, Hermann: Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Band 1. Frankfurt a.M. 1969, 328 ff. 851 Vgl. z.B.: Klockner, Clemens: Die Arbeitsgemeinschaft sozialpolitischer Organisationen (ARSO) in der Weimarer Republik. In: Proletarische Sozialpolitik: Organ der Arbeitsgemeinschaft Sozialpolitischer Organisationen, ARSO. 1928. Unveränderter Nachdruck... Darmstadt 1987, 1 - 14. 852 Handbuch der Kommunistischen Reichstagsfraktion. Der Reichstag 1924 - 1928...a.a.O.(=Anm. 740), 21; Hervorhebung im Original. 853 Vgl. ebenda, 21 f.

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muster: Ohne Rückbezug auf politische Handlungsspielräume, auf wirtschaftliche und fiskalische Rückwirkungen und Möglichkeiten, werden mit Blick auf die elende Lage der „Massen“ „vernünftige“ und sicherlich sehr soziale Forderungen gestellt, die, wo dies angezeigt ist, ohne integrative Beimengungen sind, sehr weit gehen, nach Möglichkeit der radikaleren Tradition der Vorkriegssozialdemokratie entspringen und/oder einer aktuelleren grundsätzlichen Beschlußlage entspringen. Diese Strategie, die in zahlreichen Gesetzentwürfen, Anträgen, Resolutionen und Debattenbeiträgen ihren Niederschlag findet, führt zu einer Isolation im Reichstag und zu einer allgemeinen Ablehnung. Alle Parteien, insbesondere aber die auf das „Machbare“, das „Gemäßigte“ orientierte und in Absprachen, Kompromisse und vielfältige Interessengeflechte eingebundene Sozialdemokratie, können auf diese Weise „demaskiert“ werden. Die Sozialdemokratie wird, insbesondere wenn sie sich mit ihrer ablehnenden Haltung gegen die eigene Parteitradition stellt, regelrecht „vorgeführt“. Um den Eindruck der Prinzipienlosigkeit noch zu verstärken, wird die in die Große Koalition eingebundene Sozialdemokratie von der KPD mehrfach mit ihren früheren, aus der Oppositionszeit stammenden Anträgen zur Sozialpolitik konfrontiert, die sie dann als nunmehr „unpassend“ regelmäßig zusammen mit den bürgerlichen Parteien „niederstimmt“. Im Lichte dieser Orientierung hat ein Ausbau des Sozialstaats in den mittleren Jahren der Weimarer Republik kaum stattgefunden. Vor dem Hintergrund der geforderten „sozialpolitischen Idealwelten“ erscheint das Erreichte meistens sowieso als „kleinliche Nichtigkeit“. Die Sozialdemokratie im Reichstag, die für sich reklamiert, die treibende Kraft der Sozialreform gewesen zu sein, erscheint als „Hindernis“, als Kraft, die ihre „proletarische Pflicht“ vergessen hat. Die parlamentarischen Aktivitäten wiederum dienen im außerparlamentarischen Raum im wesentlichen einer den materiellen und psychischen Bedürfnissen der Massen angepaßten Agitation.854 Die Bedeutsamkeit der angesprochenen sozialpolitischen Arbeit der KPD wird dadurch wesentlich erhöht, daß ein teilweise traditionsreicher Fundus inhaltlicher Verbesserungs-, Neuordnungs- und Alternativvorstellungen zur herrschenden Sozialpolitik der Weimarer Republik vergegenwärtigt, formuliert und propagiert wird, der im Hinblick auf die Sozialstaatsgeschichte in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR ab 1945 in spezifischer Akzentuierung und Auswahl relevant wird. Zu denken wäre z.B. an die einheitliche Sozialversicherung, die Ambulatorien, die generelle Bevorzugung gewerkschaftlichselbstverwalteter bzw. staatlicher Formen. Darüber hinaus werden aber auch im Kräftefeld dieser Partei bemerkenswerte fachpolitische und wissenschaftliche Debatten geführt und Einsichten gewonnen.855 854 Das angesprochene Handlungsmuster wird an zahlreichen Beispielen in dem bereits erwähnten „Handbuch der Kommunistischen Reichstagsfraktion“ deutlich. Sehr instruktiv ist auch das zeitlich anschließende Handbuch der Kommunistischen Reichstagsfraktion 1928 - 1930. 21 Monate sozialdemokratische Koalitionspolitik. Berlin o.J. (1930), 299 ff. Es findet sich darüber hinaus in „unübersehbarer Fülle“ in Fachveröffentlichungen und in der Presse der kommunistischen Bewegung, es hat sich in den Drucksachen und Plenarprotokollen des Reichstags niedergeschlagen und selbstverständlich bildet auch das historische Archiv der KPD eine wahre Fundgrube. Die Parlamentsstrategie der damaligen KPD bezieht sich auf taktische Ausführungen, die Lenin in seiner Schrift „Der ‘linke Radikalismus’, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ aus dem Jahre 1920 gibt. 855 Die Tatsache, daß das „Weimarer Deutschland“ eine spannungsreiche Gemengelage verschiedener sozialpolitischer Optionen und Ordnungsideen bereitgehalten habe, „...die dann vom ‘Dritten Reich’, der Bundesrepublik und der DDR in jeweils spezifischer Auswahl aufgegriffen und in besonderen Bahnen fortgeführt worden sind“, ist auch die zweifellos zutreffende Grundthese der folgenden, lesenswerten Schrift: Hockerts, Hans Günter (Hg.): Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich. München 1998, 7; vgl. zu den fachpolitisch-wissenschaftlichen Debatten im Umfeld der KPD mit Hinweisen auf personelle und

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In wechselseitiger personeller und programmatischer Durchdringung entsteht im Vorund Umfeld der Weimarer KPD ein ganzes Geflecht von sozialpolitischen Organisationen. Diese spiegeln wiederum die besondere Lage des Kommunismus, seine Internationalität und seine Ausgrenzung und Verfolgung wider. Von besonderer Bedeutung ist die „Internationale Arbeiterhilfe“ (IAH), die Gefangenenhilfsorganisation „Rote Hilfe“ (RH), der „Internationale Bund der Opfer des Krieges und der Arbeit“ (IB), der „Kommunistische Jugendverband Deutschlands“ (KJVD) und der „Rote Frauen- und Mädchenbund“ (RFMB). Auf Initiative der IAH und mit Unterstützung der KPD kommt es am 26. Oktober 1927 zur Gründung der „Arbeitsgemeinschaft sozialpolitischer Organisationen“ (ARSO), die bald alle angesprochenen Organisationen, die KPD und zahlreiche weitere Vereinigungen zu ihren Mitglieder zählt.856 Die ARSO, die sich mit einiger Mühe und bei erheblichem Zeitaufwand einen organisatorischen Unterbau aus Bezirks- und Ortsausschüssen sowie Beratungs- und Auskunftsstellen schafft, fungiert als sozialpolitische Dachorganisation der angeschlossenen Verbände und der KPD, die sich die sozialpolitischen Arbeitsfelder untereinander aufteilen.857 Im Rahmen dieser Organisationsstruktur, die ein Ergebnis der „gemäßigten Realpolitik“ der KPD ist, findet eine umfassende praktische Arbeit und eine Arbeit am Modell der „proletarischen Sozialpolitik“ statt.858 In diesem Umfeld engagiert sich auch eine „Gegenelite“ der Sozialpolitik, die, soweit sie das Inferno des „Dritten Reiches“ überlebt, 1945 im östlichen Teil Deutschlands die Chance erhält, ihre sozialpolitischen Vorstellungen in spezifischer Auswahl und mit bezeichnenden Modifikationen umzusetzen. Die Gesamtheit der praktischen und konzeptionellen sozialpolitischen Aktivitäten sowie die entsprechende Agitation ist es auch, die vor dem Hintergrund von immer noch höchst unzulänglichen Sozialleistungen, von Not und Ungerechtigkeit das spezifisch „humane Gesicht“ des Kommunismus prägt, der auf der einen Seite den „proletarischen Massen“ Hilfe verspricht, andererseits, folgt man den Verlautbarungen, am Ziel orientiert ist, der „Bourgeoisie“, ihren „Helfershelfern“ und dem „bürgerlichen Staat“ den Untergang zu bereiten. Die „hohe Zeit“ der Strategie mit Hilfe der Sozialpolitik die Gegnerschaft zur bestehenden Ordnung, insbesondere auch zur Sozialdemokratie vor den „Massen“ zu vertiefen, ist sicherlich gekommen, seit sich die KPD auf Weisung der Kommintern ab 1928 allmählich wieder einer „ultralinken“ Politik zuwendet und die Ökonomie der Weltwirtschaftskrise entgegen treibt. Im Lichte ihrer sozialpolitischen Konzeptionen und Forderungen und vor allem vor dem Hintergrund des Abbaus der Sozialpolitik läßt sich nun besonders wirkungsvoll und immer wieder der „ungeheuerliche Verrat von Arbeiterinteressen“ durch konzeptionelle Kontinuitäten zur DDR die Beiträge bei: Kröber, Günter, Altner, Peter (Hg.): KPD und Wissenschaftsentwicklung 1919 - 1945. Berlin 1986. 856 Vgl.: Klockner, Clemens: Die Arbeitsgemeinschaft...a.a.O.(=Anm. 851), 4 f.; als Schriften der Roten-HilfeOrganisationen vgl. z.B.: Ein Jahr Klassenjustiz und Rote Hilfe. Berlin 1926; Was will die Rote Hilfe. Hinter Kerkern mit den Massen verbündet. O.O., o. J. (Berlin 1931); Zehn Jahre Internationale Rote Hilfe. Resolutionen und Dokumente. Herausgegeben vom EK der IRH. Berlin 1932; als apologetische „historische Aufarbeitung“ vgl.: Zelt, Johannes: ...und nicht vergessen - die Solidarität! Aus der Geschichte der Internationalen Roten Hilfe und der Roten Hilfe Deutschlands. Berlin 1960; Mitteilungsblatt der „Roten Hilfe“ bzw. der „Roten Hilfe Deutschlands“ ist „Der Rote Helfer“, der ab 1925 erscheint. Zur IAH vgl.: Becker, Rolf: Die Internationale Arbeiterhilfe (IAH) in Deutschland 1921 - 1933. Potsdam 1972 (Hist.-phil. Diss., MS). 857 Zur Aufteilung der Arbeitsgebiete vgl.: Die ARSO und ihre Aufgaben. Sonderdruck aus der „Proletarischen Sozialpolitik“, September 1929, 8. SAPMO-BA. KPD-ZK. I 4/11/2, Bl. 158 ff. 858 Eine Zusammenfassung der konzeptionellen Arbeit findet sich in der Broschüre: Kampfforderungen der „Arso“ gegen die soziale Reaktion. Beschlossen auf dem 1. Reichskongreß der „Arso“ am 14. und 15. Juni 1930 in Dresden. Berlin o.J. (1930), 8 ff. SAPMO-BA. KPD-ZK. I 4/11/1. Bl. 82 ff.

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den „Reformismus“ illustrieren. Neben den „großen Verrat“ an der Revolution in den Jahren 1918/19 läßt sich so fortlaufend der „kleine Verrat“ an den unmittelbaren „Arbeiterinteressen“ stellen. Die SPD läßt sich im Sinne der Vorgaben der Komintern als „Partei der Bourgeoisie“ in der Front der „Reaktion“ verorten. Das „schändliche Treiben“ von „Gewerkschaftsbürokraten“ in „Verwaltungskörperschaften“ ist leicht an Maßnahmen nachgewiesen, die in Wirklichkeit doch „nur“ den Sinn haben, den „naturgemäß“ begrenzten Haushalt der Leistungsträger auszubalancieren und eben kein böswilliges „Attentat“ auf die Leistungsbezieher darstellen. Schließlich ist der politisch verheerende Vorwurf des „Sozialfaschismus“, der die SPD zum Hauptfeind der KPD stilisiert, auch auf dem Felde der sozialpolitischen Debatte durchgängig präsent.859 Auch auf dem Gebiete der staatlichen Sozialpolitik erwidert die Sozialdemokratie diese Feindschaft, die einen wichtigen Teilaspekt der nunmehr bereits langjährigen Verfeindung und wechselseitigen Bekämpfung in der Arbeiterbewegung darstellt. Schon auf der Grenzlinie zur Weltwirtschaftskrise mit ihren Sozialabbaumaßnahmen stehend, erkennt die SPD in einer in hoher Auflage verbreiteten sozialpolitischen „Verteidigungsschrift“, daß sich den „notleidenden Schichten“ allerlei „falsche Propheten“ näherten, „...die vorgeben, das Heilmittel zur Beseitigung des Elends zu besitzen.“860 Die Schrift sieht auf der extremen Rechten und der Linken den Willen zum Bürgerkrieg, der Not und Elend nur verschlimmere und der die Selbständigkeit Deutschlands als Nation beenden würde. Insbesondere wendet sich die Schrift gegen die vielfach von der KPD und von ihr nahestehenden Organisationen vorgetragene Idealisierung des Gesellschaftssystems und der Sozialpolitik in Rußland: „Dort, wo die Kommunisten allein schalten und walten, wo sie die unumschränkte Diktatur ausüben, im Sowjetlande, sind sie nicht einmal imstande, das zu erreichen, was bisher in Deutschland an Sozialleistungen erreicht worden ist.“861 In die Phase der skizzierten „Parlamentsmitarbeit“ fällt die Entstehung zweier weiterer „Pfeiler des sozialpolitischen Ausbaus“ der Weimarer Republik, die Entstehung des Arbeitsgerichtsgesetzes und der Arbeitslosenversicherung und Arbeitsvermittlung in ihrer modernen Form. Aus der Darstellung der Entstehung dieser beiden Teilbereiche staatlicher Sozialpolitik erwächst die Gelegenheit, die allgemeinen Aussagen zur Sozialpolitik des Kommunismus in der Weimarer Republik zu exemplifizieren.

859 Vgl. dazu Winkler, Heinrich August: Der Schein der Normalität...a.a.O.(=Anm.601), 661 ff.; am Vorabend der Weltwirtschaftskrise als Charakterisierung der Sozialdemokratie zur offiziellen Parteidoktrin erhoben, ist der Begriff und sind die damit verbundenen Wertungen älter. Der Begriff „Faschismus“ wird bereits bald nach der Errichtung des faschistischen Herrschaftssystems unter Mussolini in Italien auf die reformorientierte Arbeiterbewegung übertragen. Er wird gleichzeitig zu einem höchst unklaren abwertenden Begriff für alle politischen Gegner. Vgl. insgesamt zur Geschichte und zu den Folgen des Faschismusvorwurfs: Bahne, Siegfried: „Sozialfaschismus“ in Deutschland. Zur Geschichte eines politischen Begriffs. In: International Review of Social History, 10(1965), 211 - 245; vgl. als immer noch lesenswerte Dokumentensammlung mit erhellender Einleitung: Weber, Hermann (Bearb.): Die Generallinie. Rundschreiben des Zentralkomitees der KPD an die Bezirke 1929 - 1933. Düsseldorf 1981 (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Dritte Reihe. Weimarer Republik. Band 6); aus der Sicht der parteioffiziellen DDR-Historiographie interpretiert vgl. auch: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Band VIII. Januar 1924 - Oktober 1929. Berlin 1975. 860 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (Hg.): Für Dich und die Deinen. Die sozialen Leistungen der Republik und die Kämpfe der deutschen Sozialdemokratie für...a.a.O. (=Anm. 833), 3. 861 Ebenda, 30 f. ; im Original durch Fettdruck hervorgehoben. Die Gegenwehr der Sozialdemokratie gegen diese Parlamentsstrategie der KPD findet sich umfassend dokumentiert in den entsprechenden Bänden der ReichstagsHandbücher der I. bis VI. Wahlperiode der SPD, die zwischen 1920 und 1932 in Berlin erscheinen.

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2.2.3 Entstehung und Folgen des Arbeitsgerichtsgesetzes Als die Vorarbeiten für ein Arbeitsgerichtsgesetz vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um ein einheitliches Arbeitsrecht im „Unterausschuß IV betr. Arbeitsgerichte und Arbeitsbehördenorganisationen“ des Arbeitsrechtsausschusses im Mai des Jahres 1919 beginnen, besteht in Deutschland eine bereits mehr als hundertjährige Tradition von arbeitsgerichtlichen Vorschriften und Institutionen.862 Die Gewerbefreiheit, die Auflösung der Zunftverfassung, die einsetzende Industrialisierung und daraus resultierende sozialstrukturelle Änderungen und Konflikte in den frühindustriellen Zentren hatten schon früh ein entsprechendes „Bedürfnis“ wachsen lassen. Die daraus erwachsende Geschichte der sondergerichtlichen „Abarbeitung“ von Streitigkeiten zwischen Unternehmern und ihren Gesellen, Gehilfen und Lehrlingen begann mit „Schiedsgerichten“ deren Haupttätigkeit darin lag, „...Streitigkeiten nicht zu entscheiden, sondern nur im Güteverfahren beizulegen.“863 Der Ursprung dieser Entwicklung lag in den Mißständen der Lyoner Seidenindustrie. Das dortige Gericht trug die Bezeichnung „Tribunal Commun“. An seine Stelle setzte dann „...Napoleon I. auf den Vorschlag der Handelskammer von Lyon durch das Gesetz vom 18. März 1806 den ‘Con se il de Prud ’ho mme s ’, der aus fünf Arbeitgebern und vier Arbeitnehmern (Werkstattmeistern) bestand.“864 Die im Gesetz bezeichneten „Arbeitnehmer“ konnten selbst wiederum Fabrikarbeiter beschäftigen. „Normale“ Fabrikarbeiter und Tagelöhner waren von der Mitwirkung zunächst weitgehend ausgeschlossen. Die urtümlichen Institutionen sollten nun die unter den Fabrikanten und Arbeitern „täglich sich ergebenden kleinen Streitigkeiten“ im Wege der Güte schlichten oder durch Richterspruch entscheiden. Diese ersten Institutionen der modernen Arbeitsgerichtsbarkeit verbreiteten sich nunmehr in ganz Frankreich und fanden den Weg nach Belgien, in einige schweizerische Kantone, nach Elsaß-Lothringen und sie wurden auch für Österreich beispielgebend.865 Diese Gerichte, die ein zunächst zu praktizierendes Schlichtungs- bzw. Güte- und ein Entscheidungsverfahren kannten, wurden im Zuge der napoleonischen Kriege, durch die Bildung des Rheinbundes, auch im linksrheinischen Deutschland als „Räte von Gewerbeverständigen“ durch napoleonische Dekrete eingeführt. Diese „Räte“ bzw. „Fabrikengerichte“ wurden nach der Auflösung des Rheinbundes schließlich als „Königliche Gewerbegerichte“ von der preußischen Gesetzgebung ausgestaltet und gefördert und bestehen bis in 862 Dabei sind die Formen, die sich „im alten Handwerk“ und im sonstigen Gewerbewesen der vorindustriellen Zeit herausgebildet haben, nicht berücksichtigt; vgl. dazu: Brand, Jürgen: Untersuchungen zur Entstehung der Arbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland. Erster Teilband. Pfaffenweiler 1990; vgl. als Lokalstudie, die den Zeitraum von der Zunftverfassung bis zur Arbeitgerichtsbarkeit der Bundesrepublik umfaßt: Trinkhaus, Hans, Menkens, Heinz: Geschichte und Rechtsprechung der bremischen Arbeitsgerichtsbarkeit. Berlin 1967. 863 So: Sinzheimer, H.(ugo): Arbeitsgerichtsbarkeit. Berlin und Wien 1932, 9. 864 So die amtliche „Begründung zum Entwurf eines Arbeitsgerichtsgesetzes“; vgl.: Verhandlungen des Reichstags. III. Wahlperiode 1924. Band 407. Anlagen zu den Stenographischen Berichten. Berlin 1926, Drucksache Nr. 2065, 19; vgl. auch: Lecoq, Marcel: Die Jahrhundertfeier des ersten Gewerbegerichts. In: Das Gewerbeund Kaufmannsgericht, 11(1906)6, Sp. 213 - 217. 865 Vgl. grundlegend: Globig, Klaus: Gerichtsbarkeit als Mittel sozialer Befriedung, dargestellt am Beispiel der Entstehung der Arbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland. Frankfurt a.M., Bern, New York 1985; der Verfasser betont, daß bis etwa 1830 das Disziplinierungsinteresse der Unternehmer das entscheidende Motiv der Errichtung der Gewerbegerichtsbarkeit gewesen sei, ab dann sei das Befriedungsmotiv in den Vordergrund getreten. Mit Hinweisen auf die französischsprachige Forschungsliteratur: Schöttler, Peter: Französische Arbeitsgerichte in historischer und soziologischer Perspektive. In: Demokratie und Recht, 11(1983)1, 67 - 77; derselbe: Die rheinischen Fabrikengerichte im Vormärz und in der Revolution von 1848/49. In: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte, 7(1985), 160 - 180.

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die Zeit der Weimarer Republik. Dem Muster dieser französischen Einrichtungen folgte auch das Großherzogtum Berg mit einem Dekret „wegen der Errichtung der Fabrikgerichte“ vom 17. Dezember 1811.866 Darüber hinaus bestanden in anderen preußischen Provinzen Institutionen der Arbeitsgerichtsbarkeit aus eigener Rechtstradition. Hervorzuheben sind die Berliner und die westfälischen „Fabrikengerichtsdeputationen“. Auch das Königreich Sachsen, das Herzogtum Sachsen-Gotha, Hamburg und Lübeck kannten schon früh entsprechende Gewerbegerichte. In Preußen griff man darüber hinaus mit der „Verordnung, über den Mandats-, den summarischen und den Bagatellprozeß“ vom 1. Juni 1833 zum Mittel der Beschleunigung der Verfahren auch auf dem Gebiet bestimmter „Arbeitsrechtssachen“ vor der ordentlichen Zivilgerichtsbarkeit. Die preußische „Allgemeine Gewerbeordnung“ vom 17. Januar 1845 sah im § 137 beim Fehlen von besonderen Gerichtsbehörden und von gegebenenfalls entscheidungsbefugten Innungsvorsitzenden eine schlichtende und richtende arbeitsrechtliche Tätigkeit der „Ortspolizei-Obrigkeit“ vor. Damit war nun die Zivilgerichtsbarkeit ausgeschaltet. Diese Bestimmung galt jedoch als ungenügend. Sie löste eine Bewegung aus, die schließlich im Zuge der revolutionären Unruhen dieser Jahre zur „Verordnung über die Errichtung von Gewerbegerichten“ vom 9. Februar 1849 führte.867 Der Erfolg dieser Vorschriften war, da sie die Errichtung der nicht-paritätischen Gewerbegerichte in das Belieben der Gewerbetreibenden sowie der anzuhörenden „Korporationen“ und Gemeindevertreter stellten, recht bescheiden. Die „Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund“ vom 21. Juni 1869, die bald auf das Reich übernommen wurde, machte, ähnlich wie die preußische Gewerbeordnung von 1845, mit ihrem § 108 subsidiär wiederum die „Gemeindebehörde“ für die Entscheidung der Streitigkeiten selbständiger Gewerbetreibender mit ihren Hilfspersonen zuständig. Den Gemeinden wurde ausdrücklich gestattet, durch Ortsstatut an Stelle der „gegenwärtig hierfür bestimmten Behörden“ Schiedsgerichte mit der Entscheidung arbeitsrechtlicher Fragen zu betrauen: „Dieselben sind durch die Gemeindebehörde unter gleichmäßiger Zuziehung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu bilden.“ Der Erfolg dieser Vorschrift war nicht sehr bedeutend: „Von dem Rechte machten bis zum Jahre 1890 etwa 70 Städte Gebrauch.“868 Die bunte Vielfalt auf dem Gebiet der Gewerbe- bzw. Arbeitsgerichtsbarkeit wird dadurch komplettiert, daß unter der Parole der „Kräftigung des notleidenden Handwerks“ durch die Gewerbeordnungsnovelle vom 18. Juli 1881 den Innungen ausdrücklich die Befugnis zugestanden wird, ebenfalls „Schiedsgerichte zu errichten, welche berufen sind, Streitigkeiten... zwischen den Innungsmitgliedern und deren Gesellen an Stelle der sonst zuständigen Behörden zu entscheiden.“869

866 Durch Dekret vom 1. April 1808 wurde in Aachen-Burtscheid das erste derartige Gewerbegericht nach französischem Muster eröffnet, andere Städte folgten. Vgl.: Stieda, Wilhelm: Gewerbegerichte. In: Conrad, J., Elster, L., Lexis, W., Loening, Edg. (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Dritte gänzlich umgearbeitete Auflage. Vierter Band. Jena 1909, 880 - 895, hier: 882; vgl. vor allem: Stahlhacke, Eugen: Die Entwicklung der Gerichtsbarkeit in Arbeitssachen bis 1890. In: Die Arbeitsgerichtsbarkeit. Festschrift zum 100jährigen Bestehen des Deutschen Arbeitsgerichtsverbandes. Neuwied, Kriftel, Berlin 1994, 59 - 73, insbes. 61 - 68. Die Umbenennung und Ausgestaltung der französisch beeinflußten arbeitsgerichtlichen Institutionen erfolgte durch die „Verordnung, die Gewerbegerichte in der Rheinprovinz betreffend“ vom 7. August 1846; vgl.: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1846, 403. 867 Vgl.: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1849, 110. 868 Verhandlungen des Reichstags...a.a.O.(=Anm. 864), 20. 869 Vgl. den § 97a das „Gesetz, betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung“ vom 18. Juli 1881 (RGBl. 1881, 233, hier: 234).

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Diese Inhomogenität der Gewerbegerichtsbarkeit, die daraus erwachsenden Kompetenzstreitigkeiten, die lückenhafte Verbreitung der entsprechenden Institutionen, die das Gefühl der Rechtsverweigerung bei den auf diese Weise ausgeschlossenen gewerblichen Arbeitern hervorrufen konnte, führte zu einer Reformdiskussion, zu Forderungen und Gesetzesanträgen (auch der Sozialdemokratie) und zu Regierungsentwürfen eines entsprechenden Gesetzes.870 Erst vor dem Hintergrund des großen rheinisch-westfälischen Bergarbeiterstreiks vom Jahre 1889 und mit dem Auslaufen des Sozialistengesetzes sowie mit der Durchsetzung des „Neuen Kurses“ der Innen- bzw. Sozialpolitik ergab sich, wie bereits im I. Band erwähnt, die Möglichkeit der Reform durch das „Gesetz, betreffend die Gewerbegerichte“ vom 29. Juli 1890, das im Jahr 1901 eine Novellierung erfuhr.871 Eine starke Bewegung der Organisationen der Handlungsgehilfen und wiederholte Resolutionen des Reichstags trugen dazu bei, daß durch das „Gesetz, betreffend Kaufmannsgerichte“ vom 6. Juli 1904 organisatorisch und personell häufig mit den Gewerbegericht verbundene, ähnlich strukturierte Kaufmannsgerichte entstanden.872 Anknüpfend an eine entsprechende Vorschrift des Gewerbegerichtsgesetzes entstanden darüber hinaus Berggewerbegerichte. In Preußen wurde diese Entwicklung durch einen Erlaß des Ministers für Handel und Gewerbe vom 10. August 1890 eingeleitet. Auf der Grundlage von Anordnungen aus dem Jahre 1893 wurden fünf Berggewerbegerichte eingerichtet, das größte und bedeutendste davon in Dortmund.873 Die Fülle der Organisationsformen darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß bis in die Weimarer Republik hinein ganze Berufsgruppen bzw. Erwerbszweige von diesen Vorformen der Arbeitsgerichtsbarkeit ausgeschlossen blieben, so vor allem die Landarbeiter, die Hausgehilfen, die kommunalen Arbeiter und Angestellten. Die als Vorläufer der Arbeitsgerichtsbarkeit der Weimarer Republik besonders bedeutsamen und stilbildenden Gewerbegerichte waren als Einrichtungen der Gemeinden und Gemeindeverbände konzipiert. Sie sprachen ihre Urteile in Preußen gleichwohl im Namen des Königs und ließen so nach der Auffassung der Reichsregierung erkennen, daß sie staatliche Justizhoheit ausübten. Für Gemeinden mit mehr als 20.000 Einwohnern war seit 1901 die Errichtung von Gewerbegerichten zwingend vorgeschrieben, kleineren Gemeinden wurde sie freigestellt. Die Gewerbegerichte mußten aus einem „unparteiischen“ Vorsitzenden und Beisitzern bestehen, die in gleicher Zahl von den Arbeigebern und Arbeitnehmern zu wählen waren. Um den „Umsturz“ aus diesen Gerichten fernzuhalten, war das Wahlalter auf die Vollendung des 25. Lebensjahres festgelegt. Mitglied eines Gewerbegerichtes konnte nur werden, wer das 30. Lebensjahr vollendet hatte. Weitere Bedingungen traten hinzu. Die Wahl war unmittelbar und geheim. Trotz intensiver Diskussion sah das Gesetz in seiner ursprünglichen Fassung kein Frauenwahlrecht vor. § 29 bestimmte, was sich von „Anbeginn“ auch schon in anderen Gesetzen niedergeschlagen hat: „Rechtsanwälte und Perso870 Vgl. insgesamt hierzu auch: Berlepsch, Hans-Jörg von: „Neuer Kurs“ im Kaiserreich? ...a.a.O.(=Anm. 372), 84 ff.; vgl. auch: Michel, Bertram: Der Kampf der Gewerkschaften um die einheitliche Arbeitsgerichtsbarkeit (1926). In: Arbeitsgerichtsprotokolle der Richter am Arbeitsgericht Klaus Feser, Frankfurt, Dr. Heinz Kamphausen, Darmstadt, Marion Mattern, Darmstadt, Jürgen Schuldt, Kelkheim, Dr. Friedrich-W. Wegener, Frankfurt und des Rechtsanwaltes Kurt Thon, Frankfurt... Neuwied und Darmstadt 1978, 28 - 53, hier: 32. 871 Vgl. zum Gesetz: RGBl. 1890, 141; vgl. zur Novellierung das „Gesetz zur Abänderung des Gesetzes, betreffend die Gewerbegerichte vom 29. Juli 1890“ vom 30. Juni 1901 (RGBl. 1901, 249). 872 Vgl.: RGBl. 1904, 266. 873 Vgl. zum Erlaß vom 10. August 1890: Zeitschrift für Bergrecht, 32(1892), 1 - 6; vgl. zu den ministeriellen Anordnungen und insbesondere zur Dortmunder Behörde: Berggewerbe-Gerichte. In: Ebenda, 35(1894),12 - 35; vgl. dazu auch: Saldern, Adelheid von: Gewerbegerichte im wilhelminischen Deutschland. In: Manegold, KarlHeinz (Hg.): Wissenschaft, Wirtschaft und Technik. München 1969, 190 - 203, hier: 194.

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nen, welche das Verhandeln vor Gericht geschäftsmäßig betreiben, werden als Prozeßbevollmächtigte oder Beistände vor dem Gewerbegerichte nicht zugelassen.“ Die Anwälte seien für dieses Gebiet nicht qualifiziert. Sie galten als Angehörige einer Berufsgruppe, die aus Einkommensinteressen einer einfachen, schnellen und nicht kostspieligen Rechtsprechung entgegen wirken würden. Sie würden die Macht der Arbeitgeber stärken, da die Arbeiter geeignete Anwälte nicht oder nur schwer finden und bezahlen könnten. Der § 29 erschwerte damals aber auch die Tätigkeit von Gewerkschafts- bzw. Arbeitersekretären. Die Praxis der Gewerbe- und Kaufmannsgerichte bewegte sich im Kaiserreich zwischen genereller und fallweiser Zulassung. Manche Gerichte haben diese Form der Vertretung überhaupt vollständig abgelehnt.874 Das Gerichtsverfahren war nach dem Grundsatz der größtmöglichen Beschleunigung und Billigkeit ausgestaltet. Das Gewerbegericht konnte darüber hinaus mit dem Ziel der Verständigung und Konfliktbeendigung „...in Fällen von Streitigkeiten, welche zwischen Arbeitgebern und Arbeitern über die Bedingungen der Fortsetzung oder Wiederaufnahme des Arbeitsverhältnisses entstehen, als Einigungsamt angerufen werden“ (§ 61). Ergebnis eines solchen Verfahrens konnte eine „gemeinsame Vereinbarung“ oder ein nicht verbindlicher „Schiedsspruch“ sein. Diese Einigungsamtstätigkeit bewegte sich bis zur Jahrhundertwende auf niedrigem Niveau und war nicht „zufriedenstellend“, um danach, nicht zuletzt als Folge der Novellierung von 1901, deutlich zuzunehmen. Die Erfahrungen aus den Massenstreiks und Massenaussperrungen der vorhergehenden Jahre hatten dazu geführt, einen „Erscheinungszwang“ vor dem Einigungsamt durch die Novelle des Jahres 1901 einzuführen und es gab damals sogar schon Überlegungen dieses Zwangsmoment zur Verhinderung großer Streiks noch stärker auszugestalten.875 So wurde bereits die Arbeitsgerichtsbarkeit des Kaiserreichs auch zu einer „Friedensinstanz“ bei kollektiven Arbeitskonflikten. Als „Abglanz“ der älteren Diskussionen und der seit der Veröffentlichung der Februarerlasse des Jahres 1890 besonders intensiv erhobenen verschiedenartigen Forderungen nach Arbeits- bzw. Arbeiterkammern, wurde das Gewerbegericht auch dazu verpflichtet, auf Ersuchen der Staatsbehörden oder des Kommunalverbandes „Gutachten über gewerbliche Fragen“ abzugeben und berechtigt, entsprechende „Anträge an Behörden und an Vertretungen von Kommunalbehörden zu richten“ (§ 70). Insgesamt blieb aber die Tätigkeit auf diesen Gebieten geringfügig.876 Durch den bahnbrechenden Erfolg sozialdemokratischer Kandidaten bei den Beisitzerwahlen, durch das Engagement von sozialreformerisch orientierten Persönlichkeiten, durch die Spruchpraxis, durch Verbandsgründung und Verbandsmitteilungen wurden die Gewerbe- und Kaufmannsgerichte dennoch allmählich bereits im Kaiserreich zu „Pflegestätten des neu heranwachsenden Arbeitsrechts.“877 Sie waren die Institutionen, die sich besonders intensiv mit den Rechtsfragen des Arbeits- und Tarifvertrages auseinanderzuset874 Vgl. dazu die Ergebnisse einer Umfrage wiedergegeben im: Protokoll der Verhandlungen des sechsten Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands. Abgehalten zu Hamburg vom 22. bis 27. Juni 1908. Berlin o.J., 220. 875 Vgl.: Berlepsch, Hans-Jörg von: „Neuer Kurs“...a.a.O.(=Anm. 372), 118 f. Diese Ausgestaltung sollte sich in Richtung eines Verhandlungszwanges bewegen. Bezogen auf Gewerbe, welche die „Licht- und Wasserbeschaffung“ betrieben und für den „öffentlichen Verkehr“ sorgten, war sogar an eine „Zwangsvollstreckung“ der „einigungsamtlichen Schiedssprüche“ gedacht; vgl.: von Schulz: Ausstände, Aussperrungen und Verhandlungszwang vor dem Einigungsamt. In: Das Gewerbe- und Kaufmannsgericht, 11(1905)2, Sp. 125 - 130. 876 Vgl.: Berlepsch, Hans-Jörg von: „Neuer Kurs“...a.a.O.(=Anm. 372), 121 ff. 877 So: Sinzheimer, H.(ugo): Arbeitsgerichtsgesetz...a.a.O.(=Anm. 863), 10; grundlegend in diesem Zusammenhang auch: Weiß, Jochen: Arbeitsgerichtsbarkeit und Arbeitsgerichtsverband im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Frankfurt a. Main, 1994.

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zen hatten, sie führten als Einigungsämter selbst Tarifverträge herbei, sie setzten sich mit „uneinsichtiger“ Rechtsprechung und Gesetzgebung auseinander. Sie versuchten auch vorbeugend tätig zu werden, indem sie z.B. Formulare mit dem Ziel der Abschließung „klarer und Zweifel ausschließender Arbeitsverträge“ entwickelten und abgaben. Sie verstanden sich als die einzige Behörde für die Fortentwicklung des Arbeitsvertrages, auf dem doch die „gesamte Volkswirtschaft beruht.“ Unter anderem hier wurde die Forderung nach einem einheitlichen oder zu vereinheitlichendem Arbeitsrechts früh erhoben. Auch das Verlangen nach einem „Reichsarbeitsgericht“ über den Landgerichten, die damals quasi die „Arbeitsgerichte zweiter Instanz“ darstellten, stammt aus diesem Umfeld und wurde mit der Notwendigkeit einer einheitlichen Rechtsprechung begründet. Gewerbegerichtsvorsitzende übernahmen freiwillig Funktionen in tarifvertraglich vereinbarten Schlichtungs- und Entscheidungsinstanzen. Gewerbegerichte wurden in Tarifverträgen nicht selten als Schiedsgerichte im Sinne der Zivilprozeßordnung vorgesehen. Sie übernahmen auch die Verlautbarung und Aufbewahrung von Tarifverträgen, führten Tarifregister. Vorsitzende der Gewerbegerichte wurden als Leiter des paritätischen Kuratoriums von Arbeitsnachweisen vorgesehen.878 In diesen Gerichten, die von Seiten bestimmter Kreise der Unternehmerschaft grundsätzlich oder wegen des Engagements der Sozialdemokratie nicht ohne heftige Anfeindung blieben,879 und die auch in den Reihen der sozialistischen Arbeiterbewegung keineswegs völlig unbestritten waren,880 wurden aber zweifellos, wie in den anderen „klassengemischten“ Institutionen des Kaiserreichs (vor allem in der Sozialversicherung) auch, vielfältige Fäden zwischen „hüben“ und „drüben“, zwischen „Arbeit und Kapital“ geknüpft. Während der langen Jahre der Auseinandersetzung um die Ausgestaltung der Arbeitsgerichtsbarkeit bestehen die lückenhaften und buntscheckigen wilhelminischen Institutionen der Gewerbegerichtsbarkeit fort. Sie erleben die Revolution und „Räteherrschaft“ ohne existenziell in Frage gestellt zu werden. Mehrfach werden sie an die neuen Gegebenheiten angepaßt. Sie erhalten auch Konkurrenz. Die aus dem Hilfsdienstgesetz vom 5. Dezember 1916 resultierenden Schlichtungsausschüsse wurden, wie bereits erwähnt, durch die „Tarifvertragsverordnung“ vom 23. Dezember 1918 für Tarif- bzw. Gesamtstreitigkeiten zuständig gemacht, soweit „...nicht beide Teile ein Gewerbegericht, ein Berggewerbegericht, ein Einigungsamt einer Innung oder ein Kaufmannsgericht als Einigungsamt anrufen“ (§ 20). Bestimmte Demobilmachungsverordnungen erweiterten die Funktion der Schlichtungsausschüsse auf dem Gebiet der Einzelstreitigkeiten. Das Betriebsrätegesetz vom 4. Februar 878 Vgl. mit weiteren Hinweisen: Wenzel, Leonhard: 75 Jahre deutsche Arbeitsgerichtsbarkeit. In: Juristenzeitung, 20(1965)22, 697 - 702; Heft 23/24, 749 - 754, hier: 701; vgl. zur Diskussion um ein einheitliches bzw. zu vereinheitlichendes Arbeitsrecht im Kaiserreich: Becker, Martin: Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis in Deutschland. Vom Beginn der Industrialisierung bis zum Ende des Kaiserreichs. Frankfurt a. M. 1995, 299 ff.; vgl. auch die Beiträge in der Verbandszeitschrift „Das Gewerbegericht“, die bald nach der Verabschiedung des „Kaufmannsgerichtsgesetzes“ unter dem Titel „ (Das) Gewerbe- und Kaufmanngericht“ fortgesetzt wird. 879 Vgl.: Saldern, Adelheid von: Gewerbegerichte...a.a.O.(=Anm. 873), 197 f. 880 Die „Liebe“ der „Arbeiter“ zu diesen wilhelminischen Institutionen wird in der Primär- und Sekundärliteratur überbetont. Es finden sich in den Protokollbänden und in der Tagespublizistik der Arbeiterbewegung auch eine ganze Menge von kritischen Anmerkungen. Auch im Zusammenhang mit den von diesen Kreisen ausgehenden Vorstößen zur Schaffung einer gesetzlichen Regelung des Tarifvertrages wird die Gefahr einer extremen Schädigung der Arbeiterbewegung etwa durch Haftungsregelungen bei „Tarifbruch“ und die generelle Gefahr durch eine „gesetzgeberische Bureaukratisierung des Tariflebens“ durchaus gesehen. Vgl. insgesamt auch: Martiny, Martin: Integration oder Konfrontation? Bonn-Bad Godesberg 1976, 72 ff.; vgl. als „Kuriosum“ auch die durchweg positive Stellungnahme in dem Beitrag: Lenin, W. I.: Über Gewerbegerichte. In: W.I. Lenin. Werke. Band 4. Berlin 1963, 291 - 304.

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1920 führte zu einer erneuten Ausweitung der Aufgaben der Schlichtungsausschüsse. Insbesondere haben sie seitdem über Einsprüche des Betriebsrates gegen ordentliche und außerordentliche Kündigungen zu entscheiden. Die vom Kabinett Stresemann erlassene ebenso bedeutsame wie umstrittene „Verordnung über das Schlichtungswesen“ vom 30. Oktober 1923 hingegen signalisiert eine grundsätzliche Trennung von Schlichtung und Rechtsprechung. Erstmals wird ein Teil des künftigen Zuständigkeitsbereichs der noch gar nicht existierenden Arbeitsgerichte umrissen. Den überlasteten Schlichtungsausschüssen soll die Kompetenz zur Entscheidung bzw. Beilegung von „Einzelstreitigkeiten“ nur verbleiben, falls keine Gewerbe- und Kaufmannsgerichte für den Bezirk bestehen. Diese gelten nun bis zur Neuregelung dieses Gebiets als Arbeitsgerichte. Auch Streitigkeiten nach dem Betriebsrätegesetz und der „vorläufigen Landarbeitsordnung“ gehören nun vor diese Gerichte. Diese Vorschriften, die durch Ausführungsbestimmungen konkretisiert werden,881 und mit ihnen die Gewerbe- und Kaufmannsgerichte sowie die „arbeitsgerichtlichen Kammern der Schlichtungsausschüsse“, gelten nur noch bis zur Errichtung „allgemeiner Arbeitsgerichte“ als zuständig. Den Gewerbe- und Kaufmannsgerichten wird gleichzeitig die Zuständigkeit als Einigungsamt entzogen. Durch Gesetz vom 14. Januar 1922882 wird die Stellung der Verbände von Arbeit und Kapital im Gewerbegerichtswesen verstärkt. Während Rechtsanwälte und Personen, die das Verhandeln vor Gericht geschäftsmäßig betreiben, weiterhin als Prozeßbevollmächtigte oder Beistände vor den Gewerbe- und Kaufmannsgerichten nicht zugelassen sind, werden „...Vertreter von Vereinigungen von Arbeitgebern oder Arbeitern, insbesondere Gewerkschaftsbeamte...“ nunmehr ausdrücklich zugelassen, soweit sie für die Mitglieder der vertretenen Vereingung auftreten. Außerdem können auch „Personen weiblichen Geschlechts“ zu Mitgliedern (Beisitzern) der einschlägigen Gerichte gewählt und berufen werden. Eine Abänderungsverordnung vom 12. Mai 1920 hatte ihnen, die Gleichberechtigungsbestimmungen der Artikel 109 und 128 der Verfassung nicht erfüllend, lediglich aktives Wahlrecht gegeben.883 Obwohl die Gewerbe- und Kaufmannsgerichte auf die geschilderte Weise nur noch Übergangslösungen darstellen und konkurrierende Institutionen bestehen, nimmt die Zahl der Verfahren vor diesen überwiegend von den abhängig Beschäftigten angerufenen Gerichte zu: „Die Zahl der Verfahren vor den Gewerbegerichten stieg zwischen 1919 und 1926 von 59 820 auf 147 425... Bei den Kaufmannsgehilfen nahmen die Verfahren im gleichen Zeitraum sogar um mehr als das Vierfache zu, von 11 235 auf 45 759.“884 Vor diesem Hintergrund, der auch zahllose Ungereimtheiten, Unzuträglichkeiten und Fehler in der Anwendung und Umsetzung der verkomplizierten Rechtsnormen umfaßt, zieht sich die eigentliche Vorgeschichte des Arbeitsgerichtsgesetzes hin. Der mit der Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs befaßte „Unterausschuß IV“ des beim Reichsarbeitsminister bestehenden Arbeitsrechtsausschusses legt knapp ein Jahr nach seiner Konstituierung, im April des Jahres 1920, einen ersten Gesetzentwurf über Arbeitsgerichte 881 Vgl. die „Verordnung zur Ausführung der Verordnung über das Schlichtungswesen“ vom 10. Dezember 1923 (RGBl. I 1923, 1191). 882 Vgl. das „Gesetz zur Abänderung des Gewerbegerichtsgesetzes vom 29. Juli 1890/30. Juni 1901 und des Gesetzes, betreffend Kaufmannsgerichte, vom 6. Juli 1904“ vom 14. Januar 1922 (RGBl. I 1922, 155). 883 Vgl. die „Verordnung zur Abänderung des Gewerbegerichtsgesetzes vom 29. Juli 1890/30. Juni 1901 und des Gesetzes betreffend Kaufmannsgerichte vom 6. Juli 1904“ vom 12. Mai 1920 (RGBl. 1920, 958). 884 Bähr, Johannes: Entstehung und Folgen des Arbeitsgerichtsgesetzes von 1926. In: Tenfelde, Klaus (Hg.): Arbeiter im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1991, 507 - 532, hier: 511 f.

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vor.885 Dieser erste Entwurf, der nicht ohne interne Konflikte zustande gekommen war, geht auf einen Vorentwurf zurück, der vom Vorsitzenden des Gewerbegerichts Charlottenburg, Magistratsrat Dr. Landsberger, verfaßt worden war.886 Dieser ist auch Vorsitzender des Unterausschusses. Der Entwurf sieht eine Verbindung der Arbeitsgerichtsbarkeit in der ersten und zweiten Instanz mit den Sozialbehörden vor. Ansonsten wird an Grundzügen des „bewährten Systems“ der Gewerbe- und Kaufmannsgerichte festgehalten. „In dem vorgestellten Entwurf sollten die Arbeitsgerichte, verbunden mit den Schlichtungsausschüssen, als selbständige Reichsarbeitsbehörden geschaffen werden.“887 Eine Angliederung der Arbeitsgerichte an die Gemeinden oder an die ordentlichen Gerichte ist nicht vorgesehen. Es handelt sich bei dieser Organisationsform um eine Anlehnung an die von Kreisen der bürgerlichen Sozialreform, der Freien Gewerkschaften und vom „Verband der Gewerbe- und Kaufmannsgerichte“ erhobene bzw. vertretene Forderung nach einem richtenden, schlichtenden und verwaltenden „Haus der Arbeit“. Dieses soll dem abhängig Beschäftigten „...in allen mit dem Arbeitsverhältnis zusammenhängenden Fragen sein Recht gewähren, ob es sich nun um Versicherungsangelegenheiten, um Fragen des Einzelarbeitsvertrages oder des Tarifrechts oder auch des mit dem Arbeitsverhältnis zusammenhängenden Strafrechts handelte. Auch der Arbeitsnachweis sollte hier seinen Platz finden.“888 Nach der weitgehend zustimmenden Verhandlung des nie veröffentlichten Entwurfs des IV. Unterausschusses auf dem Verbandstag der Gewerbe- und Kaufmannsgerichte vom 27. September 1920,889 wird dem Reichsarbeitsministerium ein gegen Ende des Jahres 1920 von Seiten des Arbeitsrechtsausschuß umgearbeiteter neuer Entwurf vorgelegt.890 Der auch in „Ausschußkreisen“ umstrittene „kühne Gedanke“ einer einheitlichen Arbeitsbehörde ist in diesem Entwurf bereits nicht mehr erkennbar, auch wenn der Arbeitsrechtsausschuß ihn noch vertritt.891 Die Organisationsfrage ist in diesem Entwurf so gelöst, daß Arbeitsgerichte für den Bezirk der unteren Verwaltungsbehörden selbständig aufgebaut werden sollen. Die Landesarbeitsgerichte sollen für „größere Bezirke“ (Länder, Provinzen) und das Reichsarbeitsgericht soll beim Reichsgericht errichtet werden.

885 Vgl.: Weiß, Jochen: Arbeitsgerichtsbarkeit...a.a.O.(=Anm. 877), 123. 886 Vgl. die „Niederschrift der kommissarischen Besprechungen im Reichsarbeitsministerium über grundsätzliche Fragen zum Entwurf eines Arbeitsgerichtsgesetzes am 16. und 17. Juli 1920.“ BA Abt. Potsdam. 06.01 Präsidialkanzlei, Nr. 156, Bl. 13 ff., hier: Bl. 15. 887 Weiß, Jochen: Arbeitsgerichtsbarkeit...a.a.O.(=Anm. 877), 123; über das umfangreiche Vorhaben eines einheitlichen Arbeitsrechts, über die insgesamt 17 Unterausschüsse des Arbeitstrechtsausschusses, die vorgelegten Gesetzentwürfe und die damals beschlossenen leitenden Gedanken informiert zusammenfassend: Protokoll der Verhandlungen des elften Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands...abgehalten zu Leipzig vom 19. bis 24. Juni 1922. Berlin 1922, 166 ff. 888 Martiny, Martin: Integration...a.a.O.(=Anm. 880), 104; der Aufbau des „Hauses der Arbeit“, das im wesentlichen gefordert wird, um eine „billige“ und leicht zugängliche Behörde für die bereits bestehenden und damals noch geplante sozialpolitische Projekte zu bekommen, wird kurz skizziert bei: P.(otthoff), H.(einz): Das Arbeitsamt. In: Arbeitsrecht, 9(1922), Sp. 255 - 258. 889 Vgl.: Michel, Bertram Der Kampf...a.a.O.(=Anm. 870), 38. 890 Abgedruckt in der „Beilage Nr. 2 des 'Gewerbe- und Kaufmannsgericht' vom November 1921“. Eine maschinenschriftliche Fassung findet sich, nebst Begründung und Erläuterung, in den Beständen des Bundesarchivs. BA Abt. Potsdam. 06.01 Präsidialkanzlei, Nr. 156, Bl. 135 ff.; abgedruckt ist der Entwurf außerdem noch bei: Potthoff, Heinz: Die Arbeitsgerichte vor der Entscheidung. In: Arbeitsrecht, 9(1922), Sp. 219 - 254, hier Sp. 225 ff.; über den genauen Hergang bestehen in den Quellen im Detail abweichende Auffassungen. 891 Vgl. zu dieser Konzeption und ihren Vertretern auch die differenzierten Angaben bei : Michel, Bertram: Der Kampf...a.a.O.(=Anm. 870), 34 - 37.

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In dieser Form finden nun, nach den bisher überwiegend nur internen Auseinandersetzungen,892 die Vorarbeiten zur Errichtung einer einheitlichen Arbeitsgerichtsbarkeit auch eine umfassende öffentliche Kritik. Die Grundstruktur der bürgerlichen Gesellschaft gleichsam spiegelnd, finden sich zwei Grundpositionen. Die Gewerkschaften aller Richtungen möchten ihren Einfluß zumindest in dem Umfang sichern, den sie auf die Gewerbe- und Kaufmannsgerichte gehabt haben. Sie treten für die Ernennung von Laienbeisitzern aus den Verbänden ein. Sie befürworten den Ausschluß von Rechtsanwälten und die Zulassung von Gewerkschaftssekretären als Rechtsvertreter und lehnen eine Integration in die „ordentliche Justiz“ ab. Dahinter stehen „erfahrungsgesättigte“ Vorbehalte gegen die Justiz, die sich auch auf die Richter erstrecken. Beide Gruppen, die Rechtsanwälte und die Richter, werden auf diese Weise auf die Seite der oppositionellen Auffassung getrieben.893 Hinsichtlich der Frage der „Arbeitsbehörden“ besteht in Gewerkschaftskreisen allerdings beträchtliche Uneinheitlichkeit und Unklarheit. Die weitgehend entgegengesetzte Auffassung, die sich scharf gegen den Gesetzentwurf des Ausschusses wendet, wird von der Unternehmerschaft und der organisierten Juristenschaft vertreten. Sie fordern und befürworten die Integration der Arbeitsgerichtsbarkeit in die „ordentliche Gerichtsbarkeit“, lehnen die Bildung von „Arbeitssondergerichten“ und erst recht die Eingliederung in „Reichsarbeitsbehörden“ also ab. Sie wollen den Anwaltszwang zumindest in den „höheren Rechtswegen“ und die Zulassung der Anwälte im ersten Rechtszug. Darüber hinaus treten sie für eine Besetzung der Gerichte nur mit „rechtsgelehrten Richtern“ ein. Dies steht in mehr oder weniger großem Gegensatz zur Rechtslage und Praxis der damaligen Zeit, die bei den Kaufmannsgerichten Vorsitzende und stellvertretende Vorsitzende kennt, die die Fähigkeit zum Richteramt erlangt haben oder die die „Fähigkeit zum höheren Verwaltungsdienste“ besitzen, also keinesfalls immer klassische „Justizjuristen“ sind. Selbst von diesen Vorschriften sind Ausnahmen zugelassen. Noch ausdrücklicher sehen die Vorschriften des geltenden Gewerbegerichtsgesetzes vom „rechtsgelehrten Richtertum“ ab. Sie fordern lediglich, daß der Vorsitzende und sein Stellvertreter weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer sein dürfen. Aus gewerkschaftlicher Sicht war diese Regelung ausreichend, „...um einen Kreis sozial geschulter Männer für das Arbeitsrecht zu gewinnen und diesen Gerichten das Vertrauen weiter Volkskreise zu sichern.“894 Der Hintergrund der Forderungen der organisierten Juristen und Unternehmer ist „...zum einen die Furcht der Richter, das Amtsgericht könne ‘ausbluten’, und die der Rechtsanwälte, es könne bei ihrem Ausschluß auch bei den neuen Arbeitsgerichten bleiben, zum anderen die Furcht der Unternehmerschaft vor selbständigen Arbeitsgerichten, wie es

892 Vgl. auch den Hinweis bei: Bähr, Johannes: Entstehung...a.a.O.(=Anm. 884), 512. 893 Vgl. denselben, ebenda, 513 ff.; vgl. zu den Ursachen dieser Frontstellung auch: Jasper, Gotthard: Justiz und Politik in der Weimarer Republik. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 30(1982)2, 167 - 205. 894 Zum Entwurf eines Arbeitsgerichtsgesetzes. In: Korrespondenzblatt des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, 33(1923)28, 321 - 323, hier: 321. Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Martiny, Martin: Integration...a.a.O.(=Anm. 880), 104 f.; vgl. auch: Landsberger: Deutscher Juristentag und Arbeitsgerichte. In: Gewerbeund Kaufmannsgericht, 27(1921)1, Sp. 1 - 4; Silberschmidt: Die Eingliederung der Arbeitsgerichte in die bürgerlichen Gerichte. In: Ebenda, 27(1922)12, Sp. 257 - 263; Levin: Empfiehlt es sich, die Arbeitsgerichte und ähnliche Spruchbehörden den ordentlichen Gerichten einzugliedern? In Reichs-Arbeitsblatt (Nichtamtl. Teil), N.F., 1(1921)26, 1093 - 1097, Heft 27, 1151 - 1155; Landsberger: Sollen die Arbeitsgerichte und ähnliche Behörden den Amtsgerichten angegliedert werden? In: Reichs-Arbeitsblatt (Nichtamtl. Teil), N.F. 2(1922)6, 191 - 193; Erdel: Zum Aufbau der künftigen Arbeitsgerichte. In: Ebenda, Heft 19, 577 - 578.

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sich schon 1890 und 1904 anläßlich der Diskussion um das Gewerbe- und das Kaufmannsgerichtsgesetz gezeigt hatte.“895 Das Reicharbeitsministerium und andere Teile der Staatsbürokratie haben den „Ausschuß-Entwurf“ von vornherein abgelehnt. Der Gedanke an ein „Haus der Arbeit“ spielt bereits auf einer internen „kommissarischen Besprechung“ im Reichsarbeitsministerium über grundsätzliche Fragen zum Entwurf eines Arbeitsgerichtsgesetzes am 16. und 17. Juli 1920 keine Rolle mehr. Um so intensiver werden unter den anwesenden Ministerialbeamten die sachlichen und politischen Gründe erörtert, die eine neue und umfassende Arbeitsgerichtsbarkeit erforderlich machen. Insbesondere wird auf die Unzufriedenheit und Unruhe unter den Landarbeitern hingewiesen. Eine Regelung für die Landwirtschaft sei sehr dringend. Wenn bekannt würde, daß die Regelung hinausgeschoben werde, „...würde die Erregung der Landarbeiter nicht mehr zu zügeln sein. Der Arbeitsfriede würde dadurch auf das äusserste gefährdet werden.“896 Darüber hinaus werden alle Streitpunkte und die Mängel der Gewerbe- und Kaufmannsgerichte diskutiert: Die Lückenhaftigkeit, der Ausschluß bestimmter Arbeiter- und Angestelltenkreise, das anzustrebende Verfahren, die Frage der Sondergerichtsbarkeit bzw. der Eingliederung in die „ordentliche Gerichtsbarkeit“, die Kostentragung, die „Laienbeteiligung“, der Zeitpunkt der Reform (ob sofort oder nach der angestrebten Reform der ZPO), die Frage des „richterlichen Vorsitzenden“, der Instanzen, der Zulassung der Anwälte, deren wirtschaftliche Not groß sei, des Wahlrechts und der Beisitzertätigkeit der Frauen. Während die Zulassung der Anwälte ausdrücklich unter dem Gesichtspunkt der Sicherung eines „intakten und wirtschaftlich gesicherten Anwaltstandes“, der nicht entbehrt werden könne, thematisiert wird, wird hinsichtlich des passiven Wahlrechts der Frauen die Frage nach der „Befähigung der Frau, als Obrigkeit zu fungieren“ gestellt und befürchtet, daß das große Publikum in den Frauen noch keine Autorität sehe. Manche der anzustrebenden Regelungen, wie die „Beisitzer“- bzw. „Laienfrage“, die Zulassung der Frauen, finden auf dieser internen Sitzung nur „aus politischen Gründen“ Akzeptanz. Ebenfalls aus „politischen Gründen“, nämlich um den Einfluß der politischen Parteien auf die kommenden Arbeitsgerichte zu schwächen, wird eine starke Stellung des „gelehrten Richtertums“ beim Kammervorsitz gewünscht. Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, daß der „Ausschuß-Entwurf“ in der Kabinettssitzung vom 20. Juni 1921 fallengelassen wird und daß schon im Dezember 1921 vom Reichsarbeitsministerium in Abstimmung mit dem Reichsjustizministerium ein Referentenentwurf ausgearbeitet wird, der in organisatorischer Hinsicht den Forderungen der Justiz entspricht. Ein Kernpunkt dieses Entwurfs ist mithin die Eingliederung der Arbeitsgerichte in die ordentliche Gerichtsbarkeit.897 Der verantwortliche damalige sozialdemokratische Justizminister Gustav Radbruch verfolgt in diesem Zusammenhang offensichtlich die Vorstellung, die Arbeitsgerichtsbarkeit als Modell für die gesamte Justiz anzusehen und sie in diese vielbescholtene Institution einzufügen, um auf diese Weise zumindest einen Mentalitätswandel in der Justiz, wenn nicht eine grundlegende Justizreform anzustoßen. Er stößt mit diesem Entwurf auf einen derart heftigen Widerstand insbesondere aus den Kreisen der Freien Gewerkschaften, daß er zurückgezogen, „...gründlich umgearbeitet und am

895 Weiß, Jochen: Arbeitsgerichtsbarkeit...a.a.O.(=Anm. 877), 124. 896 Niederschrift der kommissarischen Besprechungen...a.a.O.(=Anm. 886), Bl. 17. 897 Vgl.: Weiß, Jochen: Arbeitsgerichtsbarkeit...a.a.O.(=Anm. 877),124; der Entwurf ist abgedruckt bei: Potthoff, Heinz: Die Arbeitsgerichte...a.a.O.(=Anm. 888), Sp. 225 ff.

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25. Mai 1923 im Kabinett erneut verabschiedet“ wird.898 Dieser umgearbeitete Entwurf wird am 16. Juni 1923 veröffentlicht.899 Er enthält bereits wichtige Grundzüge des schließlich verabschiedeten Arbeitsgerichtsgesetzes. Nunmehr sollen die Arbeitsgerichte als selbständige Gerichte „...durch die Landesjustizverwaltung im Einvernehmen mit der obersten Landesbehörde für die Sozialverwaltung regelmäßig für den Bezirk eines Amtsgerichts errichtet“ werden (§ 11). Die zweite und dritte Instanz soll in die ordentliche Justiz eingegliedert werden. Die Landesarbeitsgerichte sollen bei den Landgerichten durch die Landesjustizverwaltung im „Einvernehmen“ mit der obersten Landesbehörde für die Sozialverwaltung gebildet werden. Das Reichsarbeitsgericht soll bei dem Reichsgericht nach den für dessen Zivilsenate geltenden Vorschriften gebildet werden. Vorsitzende und stellvertretende Vorsitzende sollen in allen Instanzen regelmäßig „ordentliche Richter“ sein. Gewisse Ausnahmen sind für die Arbeitsgerichte vorgesehen. Dem Prinzip der gütlichen Einigung und der Verfahrensbeschleunigung ist ein hoher Stellenwert eingeräumt. Während bei den Kammern der Arbeits- und Landesarbeitsgerichte normalerweise je ein Beisitzer aus dem Kreis der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer mitwirkt, das „Laienelement“ gegenüber dem Vorsitzenden numerisch überwiegt, wirken beim Reichsarbeitsgericht fünf Mitglieder des Reichsgerichts und je zwei Vertreter der Arbeitnehmer und Arbeitgeber mit. Sehr genau wird aus gewerkschaftlicher Sicht registriert, daß zwar „wirtschaftliche Vereinigungen“ von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in der Bestellung ihrer Prozeßbevollmächtigten oder Beistände unbeschränkt sind, daß aber Rechtsanwälte, die normalerweise nicht zugelassen werden sollen, schon beim Überschreiten einer relativ geringen Streitwertsumme (1/20 des veranlagungsfreien Jahreseinkommens) tätig werden können. In den oberen Instanzen sollen Rechtsanwälte unbeschränkt zugelassen sein. Nicht nur aus diesem Grund erntet der Entwurf aus gewerkschaftlicher Sicht viel Kritik. Es sei bezeichnend für das soziale Niveau der regierenden Kreise, daß diese im fünften Jahre der Republik Hand an die Selbständigkeit der Gewerbegerichte zu legen wagten, „...die 28 Jahre lang unter dem wilhelminischen Regime unangetastet blieb.“ Die Verkuppelung der Arbeitsgerichtsbarkeit mit der ordentlichen Gerichtsbarkeit durchzusetzen, sei der ganze Zweck des Entwurfs.900 Da sich zugleich auch die „Justizjuristen“ und die Arbeitgeber recht unzufrieden zum Entwurf äußern und das Finanzministerium finanzielle Bedenken geltend macht, zieht am 22. Oktober 1923 „...die Regierung ihren Entwurf trotz der bereits angelaufenen Beratungen im Reichswirtschaftsrat erneut zurück.“901 Neben anderen Motiven haben die chaotischen Bedingungen der Hyperinflation zu dieser Entwicklung beigetragen.902 Mit Datum vom 5. Juni 1924 liegen drei Anträge bürgerlicher Parteien vor, die die Reichsregierung ersuchen, dem Reichstag den Entwurf eines Arbeitsgerichtsgesetzes vorzulegen; alle Anträge, die die Grundstrukturen der geforderten Arbeitsgerichtsbarkeit enthal898 Vgl.: Martiny, Martin: Integration...a.a.O.(=Anm. 880), 112; zu Radbruchs Position: 108 ff. 899 Vgl.: Entwurf eines Arbeitsgerichtsgesetzes. In: Reichsarbeitsblatt. Amtlicher Teil. (1923)12, 385 - 393; die Begründung findet sich ebenda, 393 ff. 900 Zum Entwurf...a.a.O.(=Anm. 894), 323. 901 Martiny, Martin: Integration...a.a.O.(=Anm. 880), 113; vgl. auch: Weiß, Jochen: Arbeitsgerichtsbarkeit ...a.a.O.(=Anm. 877), 125. 902 Michel vermutet, daß die inzwischen bürgerliche Regierung mit dem „Rückzug“ und dem hinhaltenden Taktieren gehofft habe, doch noch eine Chance für die restlose Eingliederung in die „ordentliche Justiz“ zu erhalten; vgl.: Michel, Bertram: Der Kampf...a.a.O.(=Anm. 870), 40.

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ten, entsprechen nicht den Vorstellungen der Freien Gewerkschaften. Das trifft auch auf zwei weitere Anträge des Jahres 1924 zu.903 Auf den 6., 8. und 12. Januar 1925 datiert, erfolgen Vorstöße des Zentrums, der DDP und der DNVP.904 Angesichts solcher Anträge vermutet der Abgeordnete und führende Sozialpolitiker der KPD, Siegfried Rädel, die Antragsteller wollten im allgemeinen Justizwesen „... ausgesprochene Klassengerichte schaffen, auch auf dem Gebiete des Arbeitsrechts.“905 In seiner wiederholt von „stürmischen“ Zwischenrufen unterbrochenen Regierungserklärung vom 19. Januar 1925 erklärt als Kanzler einer bürgerlichen Mehrheitsregierung der parteilose Politiker Hans Luther, auch auf dem Gebiet des Arbeitsrechts solle kein Stillstand der Sozialreform eintreten: „Insbesondere glaubt die Reichsregierung, dem Wunsche aller Parteien entsprechend, ohne Verzug den Entwurf eines Arbeitsgerichtsgesetzes den gesetzgebenden Körperschaften unterbreiten zu können.“906 Zu dieser Zeit kommt es zwischen dem Reichsarbeits- und dem Reichsjustizministerium in der Frage der Zulassung der Rechtsanwälte zu zunächst unüberbrückbaren Gegensätzen. Auf der Kabinettssitzung vom 5. Februar 1925 argumentiert Reichsarbeitsminister Brauns, eine solche Zulassung auch im ersten Rechtszug würde „...zum mindestens von der gesamten Arbeitnehmerschaft als eine unerträgliche Verschlechterung der Rechtslage empfunden werden.“ Er erhält daraufhin mit Unterstützung des Reichskanzlers die Zustimmung des Kabinetts für seinen Vorschlag, eine solche Parteivertretung im ersten Rechtszug auszuschließen.907 Mit Schreiben vom 7. Juli 1925 geht dem Kabinett ein neuer Entwurf zu. Er wurde im Einvernehmen mit dem Reichsminister der Justiz ausgearbeitet, mit den Vertretern anderer Behörden und den Länderregierungen besprochen und noch einmal überarbeitet. Auf der Kabinettssitzung vom 16. Juli 1925 moniert der Reichswirtschaftsminister, daß nach diesem Entwurf ausnahmsweise auch Personen zu Vorsitzenden oder stellvertretenden Vorsitzenden der Arbeitsgerichte bestellt werden dürfen, die „nur“ die Befähigung zum Richteramt haben, aber keine „ordentlichen Richter“ seien. Erst nach der Zusicherung, daß regelmäßig an „ordentliche Richter“ gedacht sei, nur in Ausnahmefällen z.B. an „rechtskundige Bürgermeister oder Rechtsanwälte“, und daß diese Vorschrift des Entwurfs der Linken des Reichstags die Zustimmung ermögliche und nach der Anmerkung des Reichswehrministers, daß er diese Vorschrift des Entwurfs „für außerordentlich glücklich“ halte, stellt er seine Bedenken zurück.908 Daraufhin wird der Regierungsentwurf beschlossen. Er wird am 18. Juli dem Reichrat und dem Reichswirtschaftsrat übersandt und am 24. Juli 1925 im Reichsarbeitsblatt veröffentlicht. Er orientiert sich weitgehend am Entwurf des Jahres 1923.909

903 Vgl. die Anträge Nr. 168, 176, 181 vom 5. Juni 1924. In: Verhandlungen des Reichtags. II. Wahlperiode 1924. Band 382. Anlagen... Berlin 1924; darauf folgt der Antrag Nr. 341 in: Ebenda. Band 383; dieser Antrag verlangt den „berufsständischen Umbau“ des Schlichtungswesens und der Arbeitsgerichtsbarkeit. Vgl. desweiteren den Antrag Nr. 18 vom 18. Dezember 1924 in: Ebenda. Band 397. 904 Vgl. die Anträge Nr. 85 und 119 in: Verhandlungen des Reichstags. III. Wahlperiode 1924. Band 397. Anlagen... Berlin 1925, sowie den Antrag Nr. 264 in: Ebenda. Band 382. 905 Verhandlungen des Reichstags. III. Wahlperiode 1924. Band 384. Stenographische Berichte. Berlin 1925, 68. 906 Vgl. ebenda, 94. 907 Vgl. das Dokument Nr. 16 bei: Minuth, Karl-Heinz (Berarb.): Die Kabinette Luther I und II...Band 1...a.a.O.(=Anm. 703 ), 57. 908 Vgl. das Dokument Nr. 126 , ebenda, 441 f.; der Entwurf nebst Anschreiben vom 7. Juli 1925 befindet sich im BA Abt. Potsdam. 06.01 Präsidialkanzlei. Nr. 157, Bl. 6 ff. 909 Vgl.: Reichsarbeitsblatt. Amtlicher Teil. (1925), 309 ff.; vgl. auch: Joachim, Richard: Zum Entwurf eines Arbeitsgerichtsgesetzes. In: Reichsarbeitsblatt. Nichtamtlicher Teil, N.F. 5(1925)28, 457 - 460.

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Der Entwurf löst eine Vielzahl von Tagungen, Kongressen und Besprechungen und eine Flut von Veröffentlichungen aus, wobei der Hauptwiderstand aus den Reihen der „bürgerlichen Juristen“ kommt. Sie führen ihren an sich gar nicht unterbrochenen Kampf um die „Eroberung“ der Arbeitsgerichte mit erneuter Wucht. Die Freien Gewerkschaften, die den Entwurf von 1923 noch heftig attackiert hatten, verhalten sich nunmehr „wohlwollender.“910 Sie tun dies zu Lasten ihrer eigenen Vorstellungen nicht ohne innere Auseinandersetzungen mit dem Ziel, den Gesetzgebungsprozeß nicht scheitern zu lassen und um nicht einiger Vorteile, die der Entwurf aus Gewerkschaftssicht bietet, verlustig zu gehen.911 Bemerkenswert ist, daß sich auch ein Vertreter bergbaulicher Interessen, der Jurist Werner Mansfeld, anerkennend zum Entwurf verhält. Er scheine die Garantien für eine schnelle und objektive Rechtsprechung zu bieten, breche mit vielen unhaltbaren, gegenwärtig in Kraft befindlichen Bestimmungen. Alles in allem könne man „...trotz mannigfacher Bedenken sagen, dass mit diesem Entwurf der Boden für eine einheitliche Rechtsprechung in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten bereitet ist.“912 Am 27. April 1926 erfolgt die erste Beratung des Gesetzentwurfs im Reichstag.913 Reichsarbeitsminister Brauns läßt die Geschichte der Arbeitsgerichtsbarkeit Revue passieren und erinnert an die großen Streitpunkte dieses Gesetzgebungsvorhabens. Für die SPD geht der Vorsitzende der „Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände“ (AfA), Siegfried Aufhäuser, noch einmal auf die Konzeption einer „einheitlichen Arbeitsbehörde“, einer „Verbindung zwischen Arbeitsverwaltung und Arbeitsrechtspflege“ ein und übt Einzelkritik am Entwurf. Er bezeichnet die Bestimmung, daß die Vorsitzenden der Gerichte und ihre Stellvertreter die Befähigung zum „ordentlichen Richteramt“ haben sollen, als „...so ziemlich das Unerträglichste an dem Gesetzentwurf.“914 Auch die Vorbehalte gegen die Anwälte werden noch einmal betont. Ablehnende Kritik erfährt durch Aufhäuser ein Gutachten der Arbeitgeberabteilung des „Vorläufigen Reichswirtschaftsrats“, das die Schaffung einer Sondergerichtsbarkeit als „Bankerott des deutschen Rechtsstaates“ qualifiziert habe.915 Begrüßt wird die Vorlage vom Sprecher der DNVP und des Zentrums. Ausgesprochen antisozialdemokratisch und antigewerkschaftlich fällt die Parlamentsrede des Sprechers der DVP aus. Das Ziel der Kräfte der Arbeiterbewegung laufe offenbar darauf hinaus: „Ausschaltung der Justizverwaltung, Preisgabe der Unabhängigkeit der Richter, Preisgabe des Grundsatzes der Trennung von Verwaltung und Rechtsprechung, alles in allem nach und nach die gesamte Gerichtsbarkeit den Verwaltungsbehörden unterstellen und auf dieser Grundlage die von Ihnen (nach links) erstrebten sozialen Behörden aufbauen, von denen Sie sich einen größeren parteipolitischen Machtzuwachs für Sie in unserem 910 So: Martiny, Martin: Integration...a.a.O.(=Anm. 880), 113 f.; eine Chronologie der auf den Referentenentwurf folgenden Aktivitäten enthält: Michel, Bertram: Der Kampf...a.a.O.(=Anm. 870), 41 f.; zur Haltung des ADGB: Ebenda, 42 f. 911 Vgl. dazu: Protokoll der Verhandlungen des 12. Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands...Abgehalten in Breslau vom 31. August bis 4. September 1925. Berlin 1925, bes. 284 ff. 912 Mansfeld, W.(erner): Der Entwurf eines Arbeitsgerichtsgesetzes. In: Hannoverscher Kurier. Beilage: Rechtsund Steuerfragen. Nr. 392/93 vom Samstag, 23. August 1925. 913 Grundlage ist die umfangreiche Drucksache Nr. 2065 vom 11. März 1926, die den Entwurf, die Beschlüsse des Reichsrats und die Ergebnisse der Befassung des Vorläufigen Reichswirtschaftsrates enthält; vgl.: Verhandlungen des Reichstags. III. Wahlperiode 1924. Band 407. Anlagen zu den Stenographischen Berichten. Berlin 1926. 914 Verhandlungen des Reichstags. III. Wahlperiode 1924. Band 390. Stenographische Berichte. Berlin 1926, 6880. 915 Vgl. ebenda, 6882.

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sozialen Leben versprechen.“916 Eine „unbestechliche und unabhängige Justiz“ auch in Arbeitsrechtsstreitigkeiten sei eine grundlegende Forderung für jedes Volk, für „...jeden Ordnungsstaat, gleichviel ob Republik oder Monarchie.“917 Den „Kontrapunkt“ zu dieser Auffassung setzt als Sprecher der KPD der Abgeordnete Siegfried Rädel. Er bestreitet, daß der Weimarer Staat eine Synthese schaffen könne, weil er die Interessen beider Klassen zu wahren habe. Reichskanzler Luther habe mit seinen Ministern bewiesen, daß die Regierung weiter nichts sei als das „...ausführende Organ der gegenwärtig herrschenden Klasse.“918 Dem „Unternehmerterror“ und der „Unternehmerwillkür“ in den Betrieben solle der Weg geöffnet werden, das sei die Absicht derjenigen, „...die hinter dem Entwurf der Regierung stehen.“ Er stellt den Entwurf als eine Verschlechterung des bisherigen, selbst wiederum keineswegs idealen Zustandes hin. Die Arbeiterklasse habe kein Zutrauen zum „deutschen Richterstande“. Der deutsche Richter sei ein „Klassenrichter“, er urteile vom Standpunkt der „herrschenden Klasse“, vom Standpunkt „der Bourgeoisie“ aus und werde sich immer gegen die Arbeiter kehren. Weder die Gewerbe- und Kaufmannsgerichte, noch die zukünftigen Arbeitsgerichte werden als Schutzmittel gegen Unternehmerwillkür angesehen. Die „Arbeiterklasse“ sehe in der Schaffung des Arbeitsgerichtsgesetzes lediglich eine Verstärkung des Unterdrückungsapparats der „herrschenden Klasse“.919 Sodann fordert er, die Arbeitsgerichte mit einem weitgehenden Strafrecht zur Bestrafung der Unternehmer zu versehen. Der Arbeitgeber, der die Arbeitskraft der Arbeiter schädige, der nachweisbar zu so verhängnisvollen gesellschaftlichen Schäden beitrage, wie das gegenwärtig der Fall sei, müsse bestraft werden. Diese großen „Saboteure“ der Wirtschaft müßten in die Gefängnisse und in die Zuchthäuser. Die Arbeitsgerichte müßten so zusammengesetzt sein, daß der Unternehmereinfluß verschwinde. Die Parität führe, schon wegen des Übergewichts des Unternehmerbeisitzers und des Vorsitzenden, des „bürgerlichen Klassenrichters“, zu einem „berufsmäßigen Klassengericht“. Es wird die Wählbarkeit der Arbeitsgerichtsmitglieder einschließlich des Vorsitzenden durch die Arbeiter in den Betrieben sowie ein „Rückberufungsrecht“ gefordert. Erst ein solches Arbeitsgericht, „...das sich aus dem Wollen der Arbeiterschaft selber aufbaut, wird bei der Arbeiterschaft Vertrauen gewinnen.“920 Wenn sich die Arbeiterschaft wirksamen Schutz schaffen wolle, müsse sie sich diesen Schutz erkämpfen, dann dürfe sie sich nicht auf dieses Parlament verlassen. Zweifellos bezieht sich Rädel an dieser Stelle auf den Entwurf eines Arbeitsgerichtsgesetzes der KPD. Dieser beinhaltet den völligen Ausschluß der Unternehmer und der unternehmerähnlichen Personen von der Arbeitsgerichtsbarkeit. Er weist den Paritätsgedanken zurück, fordert Sondergerichte und schließt neben der Justiz auch die Rechtsanwälte vollkommen aus, legt die Arbeitgerichtsbarkeit also ausschließlich in die Hände von gewählten Arbeitern, Angestellten und Beamten. Der Entwurf sieht darüber hinaus kein Vor- und Güteverfahren und eine nur beschränkte Berufungsmöglichkeit vor. Der Kündigungsschutz der Arbeitsgerichtsmitglieder hingegen soll umfassend sein und auch nach dem Erlöschen der Tätigkeit als Arbeitsrichter fortbestehen.921 Nach einem, auf 916 Ebenda, 6885. 917 Ebenda, 6886. 918 Ebenda, 6888. 919 Vgl. ebenda, 6891; analog interpretiert wird das fertige Arbeitsgerichtsgesetz im: Handbuch der Kommunistischen Reichstagsfraktion. Der Reichstag 1924 - 1928...a.a.O.(=Anm. 740), 363 - 365. 920 Vgl.: Verhandlungen des Reichstags. III. Wahlperiode 1924. Band 390...a.a.O.(=Anm. 914), 6891. 921 Vgl. zum Debattenbeitrag: ebenda, 6892; zum Arbeitsgerichtsgesetzentwurf der KPD vgl.: Bertz, Paul: Arbeitsgerichte. IV. Schluß. In: Die Rote Fahne Nr. 143 vom 23. Juni 1926, 9.

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die Vorstellungen der KPD nicht eingehenden Redebeitrag aus den Reihen der DDP wird der Entwurf mehrheitlich dem „Sozialpolitischen Ausschuß“ des Reichstags zur Beratung überwiesen.922 Am 11. Dezember findet die zweite und am 13. Dezember 1926 der Rest der zweiten und die dritte Beratung sowie die namentliche Abstimmung über das Arbeitsgerichtsgesetz statt. In nicht unerheblichem Umfang wird die Debatte dadurch geprägt, daß der „Deutsche Richterbund“ und der „Deutsche Anwaltverein“ mit Datum vom 25. November 1926 mit einer maßlos-demagogischen „Erklärung“ in die Auseinandersetzungen eingreifen. Die Bedürfnisse der Rechtspflege, heißt es, seien so gut wie ganz außer Betracht geblieben. Durch die Herauslösung der Arbeitsgerichtsbarkeit aus dem bestehenden einheitlichen Organismus der Gerichtsverfassung, durch die erweiterte Zuständigkeit der Arbeitsgerichte werde der ordentlichen Gerichtsbarkeit das Rückgrad gebrochen. Das Gesetz dränge den „rechtsgelehrten Richter“ und den „rechtsgelehrten Anwalt“ aus der Arbeitsgerichtsbarkeit mehr oder minder hinaus. Einem der wichtigsten Fundamente des Staates drohe der Einsturz. Dem Herrn Reichsjustizminister obliege die Pflicht sich mit der ganzen Kraft seines hohen Amtes einzusetzen, um die deutsche Rechtspflege von dem Abgrunde zurückzureißen, an dessen Rand sie heute geführt worden sei.923 Diese haltlosen Äußerungen werden im Reichstag audrücklich und umfassend vom Zentrum und insbesondere auch von der Sozialdemokratie zurückgewiesen. Sie stoßen bei Sprechern der DNVP auf Unterstützung, bei der DVP immerhin noch auf Verständnis. Der Sprecher der DNVP setzt sich darüber hinaus für die „wirtschaftsfriedlichen Verbände“ ein und kritisiert die „Monopolstellung“ der großen Gewerkschaften vor allem auf dem Gebiet der Bestellung der Beisitzer. So werde der „...weitaus größte Teil des in Frage kommenden Teils des deutschen Volkes von dieser arbeitsgerichtlichen Mitwirkung dauernd ausgeschlossen...“924 Er läßt sich in diesem Zusammenhang auch zu offen demokratiefeindlichen Äußerungen „hinreißen“. Im Verlaufe der umfänglichen Debatte wird der politische Kampf gegen das ursprünglich im Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommen vom 15. November 1918 vereinbarte „Gewerkschaftsmonopol“ noch so manches mal aufgenommen. Der sich dahinter verbergende Kampf der vielgestaltigen „wirtschaftsfriedlich-nationalen Arbeitnehmerbewegung“ mit ihrer scharfen Frontstellung gegen jede Art von „Sozialismus“ und die gegnerische Gewerkschaftsbewegung geht in diesem Punkt und zu dieser Zeit allerdings verloren.925 Bemerkenswert ist darüber hinaus ein sich in der Reichstagsdebatte dokumentierender Vorstoß des Handwerks zur Erhaltung der Innungsschiedsgerichte. Immerhin erreicht das Handwerk das Recht zur Bildung einer eigenen Kammer und eine fortdauernde Zuständigkeit für Streitigkeiten aus dem Lehrverhältnis. Eine eigene Kammer wird auch den Angestellten eingeräumt. Sprecher der KPD betonen weiterhin und auch abschließend ihren Standpunkt, es werde mit dem Arbeitsgerichtsgesetz eine „Klassenjustiz“ installiert. Von Interesse ist die Meinungsäußerung des Abgeordneten Franz Stöhr, ein ehemaliger Österreicher, der nach dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit Reichstagsabgeordneter wird. 922 Vgl. zu den Ergebnissen der Ausschußberatungen: Verhandlungen des Reichstags. III. Wahlperiode 1924. Band 411. Anlagen zu den Stenographischen Berichten. Berlin 1926, Drucksache Nr. 2795. 923 Vgl.: Erklärung. In: Juristische Wochenschrift, 55(1926)28, 2789 f. 924 Verhandlungen des Reichstags. III. Wahlperiode 1924. Band 391. Stenographische Berichte. Berlin 1927, 8444. 925 Einen Einblick in diese Bewegung gibt: Hüber, Reinhard: Wirtschaftsfriedliche Arbeitnehmerbewegung. In: Heyde, Ludwig (Hg.): Internationales Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens. 2. Band. Berlin 1932, 2038 2067.

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Er, der bald zur NSDAP wechselt und der im Reichstag als Sprecher der „Völkischen Arbeitsgemeinschaft“ auftritt,926 bemerkt, die Arbeitsgerichte könnten ein Faktor des nationalen Aufbaus sein. „Sie werden dazu beitragen, daß verschiedene Reibungsflächen unter den Trägern der schaffenden Arbeit verschwinden und wir allmählich doch dazu kommen, das Volk zu sein, das bereit ist, um sein höchstes Recht, um seine Freiheit in der Welt zu kämpfen.“927 Mit den Stimmen der SPD, der DDP, beinahe aller Stimmen des Zentrums und der Völkischen Arbeitsgemeinschaft, einiger Stimmen der DVP und der Bayerischen Volkspartei, ganz weniger Stimmen der DNVP und bei kompletter Ablehnung durch die KPD, die „Linkskommunisten“ und der „Wirtschaftlichen Vereingung“ wird das Gesetz mit 210 zu 140 Stimmen bei sieben Enthaltungen angenommen.928 Das „Arbeitsgerichtsgesetz“ vom 23. Dezember 1926 tritt teilweise mit dem Tag der Verkündung, im übrigen mit dem 1. Juli 1927 in Kraft.929 Mit dem Juni des Jahres 1927 endet die Vorgeschichte der Arbeitsgerichtsbarkeit. Soweit Gewerbegerichte, Kaufmannsgerichte, arbeitsgerichtliche Kammern der Schlichtungsausschüsse oder Innungsschiedsgerichte für entsprechende Streitigkeiten zuständig waren, treten an ihre Stelle die neuen Arbeitsgerichte. Das durch Kompromisse geprägte Arbeitsgerichtsgesetz, das letztlich in bedeutendem Umfang doch einen Sieg der Justiz symbolisiert und das bald eine entsprechende Text- und Kommentarliteratur nach sich zieht,930 und das als Schritt zur Erfüllung des in der Verfassung enthaltenen Versprechens angesehen wird, ein einheitliches Arbeitsrecht zu schaffen (Art. 157 der WRV), wird von den Freien Gewerkschaften „ambivalent“ aufgenommen. Es bringe, heißt es, ein lückenloses Netz „...von Arbeitsgerichtsbehörden mit dreiinstanzlichem, gleichmäßigem Aufbau für alle Arbeitnehmer (außer den Beamten) im ganzen Deutschen Reich, mit weitestgehender Zuständigkeit für nahezu alle dem Arbeitsleben entspringenden Rechtsstreitigkeiten. Es räumt den w ir tsch af tlichen V er e inigung en der Arbeitgeber und Arbeitnehmer und der diesen gemäßen Vertragsformen dem T a r ifv er tra g, einen bedeutenden Einfluß ein, indem die Organisationen die Beisitzer und durch diese die Beisitzerausschüsse stellen, indem sie ein bevorzugtes Prozeßvertretungsrecht haben, indem sie in allen organisatorischen Angelegenheiten zu hören sind, indem der Tarifvertrag Einfluß auf die örtliche Zuständigkeit hat und nahezu das Monopol der Schiedsgerichtsbarkeit besitzt und indem schließlich der Gesamtbereich kollektivrechtlicher Vertragsstreitigkeiten und Delikte der Zuständigkeit der Arbeitsgerichte unterliegt.“931 Andererseits sei nicht zu übersehen, daß die Arbeitsgerichte in eine enge Verbindung mit den „ordentlichen Gerichten“ gebracht seien. Vorbehalte und Erinnerungen an gewerkschaftsfeindliche Traditionen der Vorkriegsjustiz drängen sich dem Kommentator in dieser Stunde auf, in der 926 Diese Arbeitsgemeinschaft ist zur damaligen Zeit ein Zusammenschluß der „Deutschvölkischen Freiheitspartei“ und der NSDAP. Eine (Kurz-)Biographie findet sich bei: Huber, Ernst Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Band VI...a.a.O.(=Anm. 227),284. 927 Verhandlungen des Reichstags...a.a.O.(=Anm. 924), 8469. 928 Vgl. ebenda, 8505 ff. 929 Vgl.: RGBl. I 1926, 507; zum in Kraft treten den § 122 (S. 524). 930 Vgl. z.B.: Dersch, H.(ermann), Volkmar, E.(rich): Arbeitsgerichtsgesetz. Dritte erweiterte Auflage. Mannheim, Berlin, Leipzig 1928; Aufhäuser, (Siegfried), Nörpel, (Clemens): Arbeitsgerichtsgesetz. Sechste, vollständig neu bearbeitete Auflage. Berlin 1931; Flatow, Georg, Joachim, Richard: Arbeitsgerichtsgesetz vom 23. Dezember 1926...Berlin 1928; Baumbach, Adolf: Arbeitsgerichtsgesetz vom 23. Dezember 1926. Berlin 1927; Schmincke, (Henri), Sell, (Karl): Kommentar zum Arbeitsgerichtsgesetz mit einer systematischen Inhaltsübersicht und einer Formularsammlung. Zweite, völlig neubearbeitete Auflage. Stuttgart 1928. 931 Das Inkrafttreten des Arbeitsgerichtsgesetzes. In: Gewerkschafts-Zeitung, 37(1927)27, 365 f., hier: 366.

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„...die Durchführung und Fortführung des Arbeitsrechts in die Hand der deutschen Richter gelegt ist.“ Die Vorschrift, daß nur solche Personen zum Richter bestellt werden sollen, „...die auf arbeitsrechtlichem und sozialem Gebiet Kenntnis und Erfahrung besitzen“ (§ 18), findet in dem zitierten freigewerkschaftlichen Beitrag zum Inkrafttreten des Arbeitsgerichtsgesetzes nicht einmal Erwähnung. Die Gerichte erkennen regelmäßig in der Besetzung mit einem „rechtsgelehrten Richter“ und je einem Arbeitgeber und Arbeitnehmer als Beisitzer. Da für die Arbeitsgerichte die einschlägigen Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes gelten, folgt daraus, daß die „Arbeitnehmerbeisitzer“ bei den Arbeits- und Landesarbeitsgerichten leicht überstimmt werden können. Erst recht trifft dies auf die Verhältnisse beim Reichsarbeitsgericht zu. Beim Reichsarbeitsgericht fungieren ein „richterlicher“ Vorsitzender, zwei „richterliche“ Beisitzer und je ein Beisitzer aus dem Kreis der Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Die nichtrichterlichen Beisitzer werden von näher bezeichneten (Sozial-)Verwaltungsbehörden im Einvernehmen mit der Justizverwaltung berufen, sie werden nicht mehr, wie bei den Gewerbe- und Kaufmannsgerichten, gewählt. Bei Streitigkeiten aus dem Tarifvertrag und aus Arbeitskämpfen sind je zwei Beisitzer aus den Reihen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer hinzuzuziehen.932 Die Arbeitsgerichte sind damit insgesamt, endgültig und im Gegensatz zu den Gewerbe- und Kaufmannsgerichten aus dem Bereich des kommunalen Lebens herausgerückt und zu einem Teil der staatlichen Justiz geworden. Im Jahre 1927 nehmen 527 Arbeitsgerichte, 79 Landesarbeitsgerichte und das Reichsarbeitsgericht ihre Tätigkeit auf. Diese große Anzahl der Arbeitsgerichtsbehörden und die noch größere Anzahl der Kammern schafft für die Gewerkschaften das Problem, qualifizierte Beisitzer und zusätzlich kundige Prozeßvertreter zu stellen.933 Die Arbeitsgerichte werden zunächst außerordentlich stark beansprucht. Die Zahl der Verfahren liegt im Jahre 1928 bei 379.689 und im Jahre 1929 bereits bei 427.614.934 Im Jahre 1928 hat allein das Berliner Arbeitsgericht nicht weniger als 16,5 % der gesamten Arbeitsgerichtsprozesse zu entscheiden, mehr als Bayern und Sachsen zusammen.935 Im Jahre 1931 erreicht die Zahl der Verfahren mit insgesamt 441.423 ihren Höhepunkt. Die Zahl der Berufungen und Revisionen nimmt ebenfalls zu. Im Rahmen dieser Rechtsprechung erfährt das lückenhafte Weimarer Arbeitsrecht vielfältige Auslegung und Fortbildung.936 Die im Vorfeld der Verabschiedung des Arbeitsgerichtsgesetzes geäußerten Befürchtungen, die Skepsis und die teilweise vehemente Ablehnung der zu erwartenden Arbeitsgerichtsurteile findet in der Judikatur dieser Gerichte aus der Sicht ihrer Kritiker reiche Nahrung. Das Bezieht sich einmal insbesondere auf die Spruchpraxis in spektakulären Einzelfällen, etwa im Zusammenhang mit dem Ruhreisen932 Eine nicht zu umfangreiche Besprechung des Gesetzes bietet: Sinzheimer, H.(ugo): Arbeitsgerichtsbarkeit...a.a.O.(=Anm. 863). 933 Vgl. hierzu: Kukuck, Horst-A., Schiffmann, Dieter (Bearb.): Die Gewerkschaften von der Stabilisierung...Halbband I...a.a.O.(=Anm. 285), 36 f. mit Hinweisen auf die entsprechenden Dokumente. Zur Zahl der Arbeitsgerichtsbehörden vgl.: Jahrbuch 1927...a.a.O.(=Anm. 609),108. 934 Vgl.: Bähr, Johannes: Entstehung...a.a.O.(=Anm. 884), 519. 935 Vgl.: Leich, Sabine Hanna, Lundt, André: Zur Geschichte der Berliner Arbeitsgerichte. In: Gesamtrichterrat der Berliner Gerichte für Arbeitssachen (Hg.): 60 Jahre Berliner Arbeitsgerichtsbarkeit 1927 - 1987. Berlin 1987, 39 - 131, hier: 62. 936 Vgl.: Jahrbuch 1931 des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes. Berlin 1932, 149; vgl. zu den Anfängen der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung: Ein Jahr Arbeitsgerichtsbarkeit. Stuttgart 1929; diese gewerkschaftlich orientierte Schrift umfaßt die Rechtsprechung zum Betriebsrätegesetz, Tarifrecht, Arbeitsvertragsrecht und das arbeitsgerichtliche Verfahren.

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streit,937 zum anderen ist es die generelle „Tendenz“ der Rechtsprechung, die zur Kritik herausfordert. Besonders pointiert wird die Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts „von links“ kritisiert. Otto Kahn-Freund veröffentlicht als Richter am Arbeitsgericht Berlin im Jahre 1931 eine Schrift mit dem Titel „Das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts“.938 Diese aufsehenerregende und vielkritisierte Schrift unternimmt es, nachzuweisen, daß der höchstrichterlichen Rechtsprechung der „Wirtschaftsfriede“ als „objektiv feststellbares Sozialideal“ zugrunde liegt. Sie weist auf die Folgen einer durch Gemeinschafts- und patriarchalische Fürsorgeideale geprägten Rechtsprechung hin, etwa in der Form der Mitvertretung des Betriebsrisikos durch die Arbeitnehmer oder in der Form wirklich „sozialer Entscheidungen“, die keineswegs auf Gegenliebe bei den Unternehmern stoßen.939 Die Grundlage der „demokratischen Sozialpolitik“ der Weimarer Republik wird mit Mitteln der Rechtsprechung schließlich dadurch berührt, daß das Reichsarbeitsgericht aber auch untere Instanzen der Arbeitsgerichtsbarkeit die durch das Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommen vom 15. November 1918 privilegierte Stellung der Freien, der HirschDunckerschen und der Christlichen Gewerkschaften angreifen. „In den Jahren 1927 und 1928 ist von einer Reihe von Amts-, Land- und Landesarbeitsgerichten sowie von Schlichtungsausschüssen nicht nur die Tariffähigkeit der Werkvereine bejaht worden..., sondern auch deren Partei- und Vertretungsfähigkeit im arbeitsgerichtlichen Verfahren...“940 Das Reichsarbeitsgericht folgt diesem Weg zugunsten der wiedererstarkten „Gelben“, der „Wirtschaftsfriedlichen“ mit drei grundlegenden Entscheidungen aus den Jahren 1928/29. Ausschlaggebend für die Tariffähigkeit sei die Unabhängigkeit und Selbständigkeit gegenüber dem „anderen Teile“, diese müsse äußerlich wie innerlich bestehen. Die Vereinigung müsse in der Lage sein, das Ziel der Förderung der wirtschaftlichen Interessen durch den Abschluß von Tarifverträgen auch durch die „Tat“ verfolgen zu können. Unbeachtlich sei, daß die Mitgliedschaft von der Betriebszugehörigkeit abhängig ist, daß die Vereinigung internationale Verbindung ablehne und daß sie grundsätzlich ihre Ziele im Wege „wirtschaftsfriedlicher Verständigung“ zu erreichen versuche.941 937 Vgl. dazu: Winkler, Heinrich August: Der Schein der Normalität...a.a.O.(=Anm. 601), 557 ff. 938 Wiederabdruck bei: Ramm, Thilo (Hg.): Arbeitsrecht und Politik. Quellentexte 1918 - 1933. Neuwied am Rhein, Berlin-Spandau 1966, 149 - 210; zu seiner Biographie vgl.: Gesamtrichterrat...a.a.O.(=Anm. 935), 166 170; der „Skandal“, den diese Schrift auslöst, wird dadurch vergrößert, daß er das Sozialideal des Reichsarbeitsgerichts in Beziehung zu arbeitspolitischen Anschauungen und Praktiken des italienischen Faschismus setzt. Vgl. im Zusammenhang mit der Kritik an der Rechtsprechung der Arbeitsgerichtsbarkeit auch die Beiträge des Arbeitsrechtlers Heinz Potthoff und der prominenten sozialdemokratisch-freigewerkschaftlichen Juristen Ernst Fraenkel und Franz Neumann in dem oben angemerkten Band von Thilo Ramm sowie die entsprechenden Wiederabdrucke bei: Fraenkel, Ernst: Reformismus und Pluralismus. Hamburg 1973. 939 Vgl. dazu auch schon: Heller, Fritz: Sozialpolitik und Reichsarbeitsgericht. Leipzig 1932; diese Schrift berücksichtigt die Literatur bis zum Herbst 1930, ist also ein Vorläufer der Schrift von Kahn-Freund. Vgl. zur Ablehnung „sozialer Entscheidungen“ aus Unternehmersicht: Berg, Ernst: Erfahrungen mit der neuen Arbeitsgerichtsbarkeit. O.O., o.J. (1929), 20 ff. 940 Tatarin-Tarnheyden, E.: Rechtsgutachten zur Frage der Monopolstellung der drei herrschenden Gewerkschaftsrichtungen...Berlin o.J. (1929), 19 und 22. 941 Vgl. denselben, ebenda, 22 f.; in einem Urteil vom 5. Dezember 1928 geht es zudem um die, so der Kommentar, „außerordentlich wichtige“ und „namentlich in der Verwaltungspraxis“ streitig gewordene Frage der Tarifund damit der arbeitsgerichtlichen Partei- und Vertretungsfähigkeit der Arbeitnehmergruppen der Landbünde. Hier hat das Reichsarbeitsgericht noch Zweifel an der Selbständigkeit und Unabhängigkeit und daran, ob diese Gruppen ausschließlich aus Arbeitnehmervertretern bestehen; vgl. dazu und zu den anderen wegweisenden „Streitigkeiten“ bzw. Urteilen, die sich auf das Umfeld des „Reichsbund vaterländischer Arbeiter- und Werkvereine E.V.“ beziehen: Dersch, Hermann u.a. (Hg.): Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts und der Landesarbeitsgerichte. Band 4. Mannheim, Berlin, Leipzig 1929, 239 - 245, 294 - 304; ebenda Band 5, 217 - 220.

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Die großen Gewerkschaftsrichtungen und die Sozialdemokratie, die das Arbeitsgerichtsgesetz bei aller „Ambivalenz“ doch immer auch als „Fortschritt“ oder „sozialpolitische Errungenschaft“ begrüßt hatten, reagieren nicht nur auf diese Bedrohung ihrer „Monopolstellung“ sondern auch auf manch andere Produkte der Rechtsprechung mit Unbehagen, da sie erhebliche Erwartungen mit dem neuen Arbeitsrecht und mit dieser Judikatur verknüpft hatten.942 Auf der Seite der KPD, die derartige „Illusionen“ nie hatte, herrscht eine durchgängig scharfe Ablehnung der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte. Dies betrifft insbesondere die Tendenz und die Entscheidungen, die ausdrücklich konträr zur Konfliktund Klassenkampfperspektive dieser Bewegung stehen und auch jene Urteile, die eine „normale“, insbesondere aber eine „oppositionelle“, eine „radikale“ Gewerkschafts- und Betriebsratstätigkeit zu gefährden geeignet sind. Der Sozialfaschismusvorwurf wird auch auf diesem Gebiet erhoben.943 Falls nicht sogar ein sachlicher Zusammenhang besteht, werden nicht selten Parallelen zur ebenfalls heftig abgelehnten Schlichtung gezogen. Von einer „Klassenjustiz gegen das Streikrecht“, von „faschistischer Erdrosselung des Koalitionsrechts“ ist im Zusammenhang mit der Rechtsprechung die Rede. Das Parteiorgan „Die Rote Fahne“ malt im Rahmen von Unternehmerbrutalität und „Leuteschinderei“ das Bild von Arbeitsgerichten, vor denen die klagenden Arbeiter doch nie zu ihrem Recht kommen, sie betont die Benachteiligung der Arbeiter im justiziellen Verfahren, kritisiert die Häufigkeit der Vergleiche, „dieses A und O der Arbeitsgerichte“, die schnelle Abfertigung der Klagen, greift Vorsitzende und Beisitzer auch persönlich an. In einem Beitrag der „Roten Fahne“ wird das Handeln „klassenbewußter Arbeiterinnen und Arbeiter“ in bemerkenswerter Form idealisiert. Was in den einem „Metallkampf“ folgenden Wochen alles in ihm vorübergezogen sei an Zähigkeit, Opfermut, Siegesbewußtsein und Klassenkraft, habe den „Herrn Amtsgerichtsrat Schulz“ in Staunen gesetzt und zermürbt, berichtet die „Rote Fahne“ vom 10. Dezember 1930. Der Schilderung des kämpferischen Auftritts einer gemaßregelten „roten Betriebsrätin“ folgt als Schlußsentenz, der Amtsgerichtsrat habe mehrfach versucht zu unterbrechen, die ruhige Stimme der Metallarbeiterin habe sein „Prozeßordnungsgezeter“ jedoch übertönt und der Prozeßbeobachter fährt fort: „Das sind also Arbeiterfrauen. Der Herr Amtsgerichtsrat kriegt Minderwertigkeitskomplexe, er glaubt nicht mehr an die Ewigkeit seiner Klasse. Sie sind zu sicher, sie haben zu gutes Menschenmaterial, die Kommunisten.“ 944

2.2.4 Die Entwicklung und das Schicksal der Arbeitsmarktpolitik Die Institutionalisierung und die Formveränderungen der Arbeitsmarktpolitik gehören in vielerlei Beziehungen zu den bedeutsamsten und interessantesten sozialpolitischen Vorgän942 Vgl.: Michel, Bertram: Der Kampf...a.a.O.(=Anm. 870), 43 f.; vgl. auch die Analyse der Berichterstattung des „Vorwärts“ bei: Leich, Sabine Hanna: Die Berliner Arbeitsgerichte im Spiegel der Tagespresse oder: „Happy End“ vor dem Arbeitsgericht? In: Gesamtrichterrat der Berliner Gerichte für Arbeitssachen (Hg.): 60 Jahre Berliner Arbeitsgerichtsbarkeit...a.a.O.(=Anm. 935), 215 ff. 943 Vgl. dazu die Belege in: SAPMO-BA. KPD-ZK. I 2/703/101; vgl. zum „Sozialfaschismusvorwurf“: Reinfall der OTIS-Werke. In: Die Rote Fahne Nr. 117 vom 6. Juli 1929, 9; Kast, P.: Unternehmer, Arbeitsgericht und Gewerkschaften Hand in Hand. In: Die Rote Fahne Nr. 120 vom 10. Juli 1929, 6; zur Maßregelung eines „revolutionären Arbeiters“: Nur der Eid eines Betriebsleiters wiegt. In: Die Rote Fahne Nr. 271 vom 19. November 1930, 4. 944 So treten Arbeiterfrauen vor dem Richter auf. Rote Betriebsrätin kämpft um ihr Recht. In: Die Rote Fahne Nr. 288 vom 10. Dezember 1930, 3.

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gen in der Weimarer Republik. Zweifellos zielt dieser Teilbereich der staatlichen Sozialpolitik nicht auf ein untergeordnetes Phänomen sondern auf den „Krebsschaden“ der bürgerlichen Gesellschaft. Die Arbeitslosigkeit und das darauf bezogene Instrumentarium der Arbeitsmarktpolitik wird schließlich zu einem Zentralproblem der gesamten deutschen Innenpolitik. Die bittere Arbeitslosennot und die fehlende oder mangelhafte Unterstützung der Erwerbslosen tragen zu jenen Entwicklungen bei, die in der NS-Diktatur münden. Insofern kann man der Entstehung und dem Schicksal der Arbeitsmarktpolitik in der Weimarer Republik sogar ein weltpolitisch bedeutsames Gewicht zuordnen.945 Versteht man unter moderner Arbeitsmarktpolitik einen aus der Armenpflege herausgelösten Komplex von Maßnahmen unterstützender, beratender, fördernder und interventionistischer Art, getragen von öffentlich-rechtlichen Institutionen, an deren Verwaltung Vertreter von Arbeit und Kapital beteiligt sind und der ganz oder teilweise aus Beiträgen finanziert wird, so kann eine deskriptive Erklärung dieses Politikbereichs nur unvollkommen geleistet werden, wenn man nicht in die Zeit des Kaiserreichs zurückgreift. Dabei wird es bei einem solchen Rückblick darauf ankommen, die konzeptionellen und programmatisch-ideologischen Orientierungen der maßgeblichen gesellschaftlichen Kräfte zu skizzieren, die auf die moderne Arbeitsmarktpolitik der Republik vorausweisen. Auch das 1927 beschlossene „Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“, das AVAVG, dieses Grundgesetz der modernen Arbeitsmarktpolitik, ist alles andere als ein Akt „diskontinuierlicher Plötzlichkeit“. In der Weimarer Republik setzt die Politik eine Entwicklungsrichtung fort, deren Anfänge sich bereits im 19. Jahrhundert beobachten lassen. Schon damals, insbesondere seit den 1890er Jahren, setzen Diskussionen, Lernprozesse und tatsächliche Entwicklungen ein, die die sozialreformerische Entwicklung (auch) auf diesem Gebiet vorgeprägt und ermöglicht haben.946 In diesem Zeitraum beginnt die Abklärung sozialpolitischer Konzepte und der Anpassungs- und Annäherungsprozeß wichtiger politischer Kräfte, die später das Projekt der Arbeitslosenversicherung und der modernen arbeitsmarkpolitischen Instrumentarien tragen, bevor es in den niederreißenden und deformierenden Strudel der Weltwirtschaftskrise gerät. Von besonderer Bedeutung sind Erfahrungen und Stellungnahmen der Gewerkschaften zur Arbeitsvermittlung. Die Freien Gewerkschaften, die trotz der Arbeiterversicherungspolitik bis 1914 ein umfangreiches eigenes Unterstützungswesen aufgebaut hatten, besaßen im Jahre 1893 rund 3.500 Vermittlungsdienste. Sie forderten deshalb zunächst, daß sie allein Träger von Arbeitsnachweisen sein sollten. Es war auch in erheblichem Maße unbestritten, daß die gewerkschaftseigenen Arbeitsnachweise Hilfsmittel im Klassenkampf sein sollten. Das galt insbesondere gegenüber unternehmerischen Arbeitsvermittlungsaktivitäten. Es fehlte aber auch nicht an Stimmen, die behaupteten, gewerkschaftliche Unterstützungs- und Vermittlungsdienste verwischten den „Klassen- und Kampfcharakter“ der Arbeiterorganisationen. Erst nach entsprechenden negativen Erfahrungen und programmatischen Mäßigungen947 setzten sich allmählich freigewerkschaftliche Fürsprecher einer 945 Ähnlich die Einleitung bei: Wermel, Michael T., Urban, Roswitha: Arbeitslosenfürsorge und Arbeitslosenversicherung in Deutschland. Teil I. München 1949, 9f. 946 Konzeptionell ähnlich: Faust, Anselm: Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversorgung in Deutschland von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Kaiserreichs. In: Benöhr, Hans-Peter (Hg.): Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversorgung in der neueren deutschen Rechtsgeschichte. Tübingen 1991, 105 - 135, bes. 105 f. 947 Vgl. etwa die Diskussionen auf dem Gewerkschaftskongreß des Jahres 1899 im: Protokoll der Verhandlungen des dritten Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands. Abgehalten zu Frankfurt a.M.-Bockenheim vom 8. bis 13. Mai 1899. Hamburg o.J. (1899).

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paritätisch verwalteten öffentlichen (kommunalen) Arbeitsvermittlung durch: „1908 verlangte der Gewerkschaftskongreß sogar den Ausbau der ‘paritätischen’ Kommunalvermittlung mit reichsgesetzlicher Hilfe, und der des Jahres 1913 empfahl den Einzelverbänden, ihre Nachweise als Fachnachweise der öffentlichen Vermittlung anzugliedern.“948 Diese Vorstöße waren typischerweise mit der Forderung nach Auflösung der Arbeitgebernachweise verbunden. Öffentliche, paritätische Nachweise wurden darüber hinaus zu dieser Zeit auch von der Sozialdemokratie gefordert. Selbst das Zentrum und die Freisinnige Vereinigung sprach sich für eine gesetzliche Fixierung der entsprechenden „Kommunalnachweise“ aus. Auf der Seite der Arbeitgeber ließ sich nach entsprechenden Erfahrungen mit den als Kampfinstrumente konzipierten Arbeitgebernachweisen ebenfalls eine gewisse „Ernüchterung“ und Entradikalisierung beobachten. Gleichzeitig wuchs „...in der Öffentlichkeit die Zahl derer, die die Arbeitsvermittlung nicht länger dem Kampf der Interessenten überlassen wollten, die Maßregelungspraxis der Arbeitgebernachweise vehement kritisierten und eine reichsgesetzliche Festschreibung der ‘paritätischen’ öffentlichen Nachweise verlangten.“949 Eine gewisse Annäherung der „Klassenstandpunkte“ auf dem Gebiet der Arbeitsnachweise signalisierte auch die Vereinbarung einiger paritätischer „Facharbeitsnachweise“ zwischen Arbeit und Kapital. 950 Vor diesem Hintergrund eröffnete sich für die Gemeinden ein gewisser Spielraum, der zur Erzielung quantitativer und qualitativer Fortschritte in der öffentlichen Arbeitsvermittlung genutzt wurde. Aus diesem Zustand des „Experimentierens“, des Neben- und Gegeneinanders erwuchsen Überlegungen zur Vereinheitlichung und zur politischen Neutralisierung der nichtgewerbsmäßigen Arbeitsvermittlung. Es existierte jedoch keine gemeinsame Grundvorstellung und kein entsprechender Handlungsspielraum im politisch-administrativen System der damaligen Zeit.951 Allerdings betätigen sich deutsche Bundesstaaten im Einzelfall anregend und fördernd. Als bedeutsame Bewegung hin zu der modernen Arbeitsmarktpolitik der Weimarer Republik müssen auch jene bürgerlich-sozialreformerischen Diskussionen aus dem Kaiserreich gelten, die sich mit dem „Ob“ und „Wie“ der Arbeitslosenunterstützung und der Frage der Finanzierung solcher Sozialleistungen auseinandersetzten. Vor dem Hintergrund einer Arbeitslosigkeit von durchschnittlich 2 - 3 v.H. der gesamten Arbeiterschaft,952 einiger krisenbedingter „Arbeitsmarkteinbrüche“ und einer bedeutenden saisonalen Beschäftigungslosigkeit, setzt die Diskussion um neue Wege einer von der Armenpflege zu lösenden Arbeitslosenunterstützung schon sehr früh ein. Durch die Arbeiterpolitik Bismarcks zunächst in den Hintergrund gedrängt, dann durch entsprechende Gründungen in der Schweiz zu Beginn der 1890er Jahre angeregt, spielte die Idee einer versicherungsförmigen Bewältigung des Problems des Einkommensausfalls bei Arbeitslosigkeit eine von Anfang an bedeutende Rolle. Bereits vor der deutschen Arbeiterversicherungsgesetzgebung der 1880er Jahre verlangte der Sozialreformer Lujo Brentano im Jahre 1879 eine Versicherung der 948 Faust, Anselm: Arbeitsvermittlung...a.a.O.(=Anm. 946), 118; zur Haltung der noch unbedeutenden H.-D. Gewerkvereine und der Christlichen Gewerkschaften vgl. denselben: Arbeitsmarktpolitik im deutschen Kaiserreich. Stuttgart 1986, 86 ff. 949 Derselbe: Arbeitsvermittlung...a.a.O.(=Anm. 946), 119. 950 Vgl. denselben: Arbeitsmarktpolitik...a.a.O.(=Anm. 948), 60 ff. 951 Vgl. dazu zusammenfassend die Ausführungen bei demselben, ebenda, 103 ff. 952 Eine tragfähige Arbeitslosenstatistik existierte nicht. In Übereinstimmung mit neueren Untersuchungen findet sich obige Abschätzung bei: Kumpmann, K.(arl): Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenversicherung. In: Elster, Ludwig, Weber, Adolf, Wieser, Friedrich (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Erster Band. Vierte, gänzlich umgearbeitete Auflage. Jena 1923, 791 - 824, hier: 801.

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Arbeiter für den „Fall der Arbeitslosigkeit“. Da die „heutige“ Wirtschaftsordnung keinerlei Garantie eines Einkommens („Recht auf Arbeit“) kenne, ermögliche nur die Versicherung einer Unterstützung bei Arbeitslosigkeit, daß der Arbeiter, wenn er keine Beschäftigung finde, sich selbständig erhalten könne „...und die zur Sicherung der Unterstützung für den Fall von Krankheit, Invalidität und Alter, zur Sicherung des Unterhalts und der Erziehung seiner Kinder im Fall seines Todes nötigen Beiträge zahle.“953 Die Arbeitslosenversicherung geriet im Laufe der Zeit mit allen ihren Aspekten zu einem prominenten Gegenstand der sozialreformerischen Diskussion im Kaiserreich.954 Dabei wurden Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung durchaus aufeinander bezogen. In großer Vielfalt wurden im Rahmen einer umfangreichen sozialreformerisch-fachwissenschaftlichen Diskussion die Formen, die Möglichkeiten und Grenzen einer Arbeitslosenunterstützung bzw. -versicherung erörtert. Die mangelhaften statistischen Grundlagen zur „Absicherung“ des „Risikos“ Arbeitslosigkeit, die Besonderheiten dieses „Risikos“, wie die Abhängigkeit von Konjunktur und Krise, die Gefahr der mutwilligen Herbeiführung des „Versicherungsfalls“ aus Arbeitsscheu, die Probleme der Abgrenzung gegenüber der Arbeitslosigkeit wegen Unfall, Krankheit, Invalidität, die Arbeitslosenunterstützung bei „Strikes“, die Frage der zumutbaren Arbeit, der „Wegschaffung der Arbeitslosigkeit“ durch die Nachweisung unbesetzter Stellen, Beitrags- und Unterstützungsmodalitäten usw. usf. wurden schon früh erörtert und analysiert.955 Auch auf die Diskussionen um die Arbeitslosenunterstützung reagierten die interessierten gesellschaftlichen Kräfte der damaligen Zeit. Vor allem in Kreisen der Freien Gewerkschaften wurde das Projekt einer staatlichen Arbeitslosenunterstützung kontrovers diskutiert. Die Auseinandersetzungen wurden dadurch geprägt, daß die Gewerkschaften ein umfangreiches eigenes Unterstützungssystem als Ausdruck ihrer Selbsthilfebestrebungen bereits besaßen. Dieses umfaßte auch die Arbeitslosenunterstützung.956 Von den Gewerkschaften wurde die eigene Arbeitslosenunterstützung als werbendes Mittel, als Unterstützung des gewerkschaftlichen Kampfes interpretiert. Weit verbreitet war die Forderung, daß die Gemeinden nach dem Vorbild der Stadt Gent zu den gewerkschaftlichen Arbeitslosenunterstützungen beischießen sollten.957 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts taucht in allen Gewerkschaftsrichtungen die Perspektive einer reichsgesetzlichen Arbeitslosenversicherung auf. Die Diskussion in den Freien Gewerkschaften strahlt über personelle und programmatische Verflechtungen auf die SPD ab. Bis zur Realisierung einer allgemeinen öffentlichrechtlichen, obligatorischen Reichsversicherung sollten die Gemeinden den Gewerkschaf953 Vgl.: Brentano, Lujo: Die Arbeiterversicherung gemäß der heutigen Wirtschaftsordnung. Geschichtliche und ökonomische Studien. Leipzig 1879, 200. 954 Vgl. mit zahlreichen Literaturhinweisen auch: Herkner, Heinrich: Die Arbeiterfrage. Eine Einführung. Fünfte, erweiterte und umgearbeitete Auflage. Berlin 1908, 318 ff.; vgl. auch den folgenden Besprechungaufsatz: Oldenberg, K.: Arbeitslosenstatistik, Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. In: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschhen Reich, 19(1895), 631 - 660. 955 Vgl. z.B. Boenigk, Freiherr Otto von: Die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 51(1895), 689 - 721; mit ausführlichen Literaturangaben: Faust, Anselm: Arbeitsmarktpolitik...a.a.O.(=Anm. 948), 149 ff.; Wermel, Michael T., Urban, Roswitha: Arbeitslosenfürsorge...a.a.O.(=Anm. 945), 15 ff. 956 Vgl. dazu mit Statistiken über Deutschland, die USA und zahlreiche europäische Staaten: Hüber, Reinhard: Arbeitslosenunterstützung der Gewerkschaften. In: Heyde, Ludwig u.a. (Hg.): Internationales Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens. 1. Band. Berlin 1931, 106 - 116. 957 Ausführlicher zu diesen kontroversen und sich im Zeitverlauf ändernden Diskussionen: Faust, Anselm: Arbeitsmarktpolitik...a.a.O.(=Anm. 948), 159 ff.

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ten mit Arbeitslosenunterstützung eine finanzielle Beihilfe leisten, hieß es in einer Resolution dieser Partei aus dem Jahre 1913.958 Daß zu dieser Zeit in der Arbeiterbewegung durchaus auch abweichende organisatorische und sperrige „verteilungspolitische“ Vorstellungen existierten, zeigte eine Entschließung auf dem internationalen Sozialistenkongreß zu Kopenhagen aus dem Jahre 1910: „Der Kongreß fordert von den öffentlichen Gewalten, die von den Arbeiterorganisationen verwaltete, allgemeine obligatorische Arbeitslosenfürsorge (im Sinne einer ausreichenden Arbeitslosenversorgung, E. R.), deren Kosten die Besitzer der Produktionsmittel zu tragen haben.“959 Die industrielle Unternehmerschaft, die sich zwar zur Notwendigkeit einer Arbeitsvermittlung bekannte, bot das Bild einer geschlossenen Abwehrfront gegen das „ungeheuerliche Projekt“ einer Arbeitslosenversicherung. Es wurde von dieser Seite sogar die Existenz von „echter“ Arbeitslosigkeit bestritten. Die Schwierigkeiten einer Arbeitslosenversicherung wurden als unüberwindbar dargestellt. Die Arbeitslosenversicherung sei zudem ethisch verwerflich. Sie mindere das Freiheitsgefühl und die Selbständigkeit. Sie führe zu „öder Gleichmacherei“, reize die „Begehrlichkeit der Massen“, entlaste die Gewerkschaften, fördere Klassenhaß und Sozialdemokratie. Man richte die Industrie durch „maßlos gesteigerte“ soziale Lasten zugrunde und zwinge sie durch die enormen Abgaben und Steuern, in das Ausland abzuwandern. Das Handwerk stand an Polemik und Schärfe in seiner Mehrheit der industriellen Unternehmerschaft nicht nach. Ablehnend verhielten sich auch die landwirtschaftlichen Interessenorganisationen.960 Die Haltung der Gemeinden war skeptisch-uneinheitlich. Sie forderten in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg über ihre Interessenvertretung eine Reichsinitiative auf diesem Gebiet, insbesondere um dem dringendsten Fall, der „winterlichen Arbeitslosigkeit“ zu begegnen. Die Gemeinden unterhielten auch selbst Versicherungen bzw. versicherungsähnliche Institutionen und es lassen sich Beispiele der finanziellen Beteiligung an der gewerkschaftlichen Arbeitslosenunterstützung, für das „Genter System“, finden. Mit den Gemeinden waren sich die bundesstaatlichen Regierungen in der Auffassung einig, daß die Arbeitslosenunterstützung eigentlich Reichssache sei. Vor allem die drei süddeutschen Staaten, in denen Liberalismus, Zentrum und Sozialdemokratie Druck auf die Regierung ausüben konnten, wurden aktiv, ohne daß es letztlich zu einer Regelung kam.961 Auf der Ebene des Reichstages war in den letzten Friedensjahren „...eine informelle Mehrheit für eine Arbeitslosenversicherung vorhanden.“962 Sozialdemokratie und Zentrum, die „Freisinnige Vereinigung“, später die „Fortschrittliche Volkspartei“ starteten bemerkenswerte Initiativen. Es wurde umfangreiches Material zu dieser Frage gesammelt. Insgesamt taktierte die Reichsregierung jedoch „hinhaltend“ und bedeutsame reichspolitische Initiativen blieben aus. Immerhin zeigten zwei Gesetze, daß auf Reichsebene ein gewisser Spielraum für Projekte einer materiellen Absicherung von Arbeitslosigkeit bestand. Das im Rahmen der damaligen Finanzreform verabschiedete „Gesetz wegen Änderung des Tabaksteuergesetzes“ vom 15. Juli 1909963 enthielt in seinem Artikel IIa die Bestimmung, daß bestimmte Arbeiter, falls sie als Folge dieses Gesetzes arbeitslos werden sollten, unter bestimmten Voraussetzungen bis zu zwei Jahre unterstützt werden sollen. Das „Gesetz über 958 Vgl. denselben, ebenda, 169. 959 Zitiert nach: Handbuch der Kommunistischen Reichstagsfraktion...a.a.O. (=Anm. 854), 329 f. 960 Vgl. zur Argumentation im einzelnen: Faust, Anselm: Arbeitsmarktpolitik...a.a.O.(=Anm. 948), 170 - 177. 961 Vgl. denselben, ebenda, 180. 962 Derselbe, ebenda, 182. 963 Vgl.: RGBl. 1909, 705.

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den Absatz von Kalisalzen“ vom 25. Mai 1910 schließlich enthielt für bestimmte, durch die Gesetzgebung negativ betroffene Beschäftigte eine Verpflichtung des Kaliwerksbesitzers zu einer finanziellen Unterstützung.964 Als jedoch am 5. Dezember 1913 die Frage einer reichsgesetzlichen Arbeitslosenversicherung erneut und letztmalig vor dem Ersten Weltkrieg zur Sprache kam „...erklärte Staatssekretär Dr. Delbrück im Namen der Regierung die Einführung ... unter den derzeitigen Umständen aus verschiedenen Gründen für ausgeschlossen.“965 Er wies insbesondere auf die durch die RVO des Jahres 1911 verursachten neuen Lasten hin und machte sich damit die Argumente der Wirtschaft zu eigen.966 Bekanntlich gab es zwar im Ersten Weltkrieg im Rahmen einer kriegsbezogenen „Menschenökonomie“ erhebliche arbeitsmarktpolitische Aktivitäten,967 ein grundlegender Durchbruch zu einer modernen Arbeitsmarktpolitik wurde jedoch nicht erzielt. Die Freien Gewerkschaften, die bald einen erheblichen Machtgewinn erzielten, haben sich jedoch in ihren Anschauungen weiter gemäßigt und ihre Konzeptionen waren für andere sozialreformerische Kräfte „anschlußfähiger“ geworden. Vor allem haben die finanziell ruinösen Erfahrungen mit der gewerkschaftlichen Arbeitslosenunterstützung im Kriege zu einem Abrücken vom „Genter System“ geführt. Auch eine paritätische Verwaltung von Arbeitslosenversicherungskassen rückte in den Bereich des Vorstellbaren. Eine Finanzierung über Beiträge der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber bei gleichzeitigem Reichszuschuß erschien den freigewerkschaftlichen Führungsgremien gegen Kriegsende als annehmbar.968 Vor dem zeitweise hochdramatischen Hintergrund der ersten deutschen Republik, einer Situation, die zur Sozialreform als Mittel der Stabilisierung der Gesellschaft treibt, vollzieht sich die Entwicklung zu einer modernen Arbeitsmarktpolitik in zweierlei Formen. Einmal kann die aus den Kriegswirren hervorgehende, die Gemeinden verpflichtende Arbeitslosenfürsorge nicht, wie ursprünglich vorgesehen, nach einem Jahr „überwunden“ werden. Es entstehen im Zuge einer bis in das Jahr 1927 fortgesetzten Praxis dieser arbeitsmarktpolitischen Strategie Vorschriften, Organisationsstrukturen und Verfahrensweisen, die im engeren Sinne als Vorbilder und Vorläufer des AVAVG vom 16. Juli 1927 anzusehen sind.969 Zum anderen und damit verknüpft werden mehrere Entwürfe eines umfassenden Arbeitslosenversicherungsgesetzes bzw. eines Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vorgelegt und in der Öffentlichkeit sowie im politischadministrativen System kontrovers diskutiert, erst der letzte Entwurf führt zu einem umfassenden Gesetz.970 Im Rahmen der weitergeführten Erwerbslosenfürsorge kommt es durch die „Verordnung über die Errichtung eines Reichsamts für Arbeitsvermittlung“ vom 5. Mai 1920971 zur Begründung einer selbständigen, dem Reichsarbeitsminister nachgeordneten Reichsbehör964 Vgl.: RGBl. 1910, 775; zur Unterstützungsregelung siehe den § 19, ebenda, 780 f. 965 Wermel, Michael T., Urban, Roswitha: Arbeitslosenfürsorge...a.a.O.(=Anm. 945), 57. 966 Vgl. dieselben, ebenda, 58. 967 Vgl. dazu das 6. Kapitel des I. Bandes. 968 Vgl.: Schönhoven, Klaus (Bearb.): Die Gewerkschaften in Weltkrieg...a.a.O.(=Anm. 42), 521 ff. („Leitsätze zur gesetzlichen Regelung der Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosenvermittlung“ vom 1. November 1918). 969 Vgl. zu dieser Entwicklung bis ins Jahr 1925: Wende, A.: Erwerbslosenfürsorge. In: Elster, Ludwig, Weber, Adolf, Wieser, Friedrich (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Dritter Band. Vierte, gänzlich umgearbeitete Auflage. Jena 1926, 883 - 891. 970 Grundlegend dazu: Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 162 ff.; vgl. auf wesentlich „dünnerer“ Quellengrundlage auch: Fukuzawa, Naoki: Staatliche Arbeitslosenunterstützung in der Weimarer Republik und die Entstehung der Arbeitslosenversicherung. Frankfurt a.M. 1995. 971 Vgl.: RGBl. 1920, 876.

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de, nachdem bereits am 1. Januar 1920 eine gleichnamige Abteilung des Reichsarbeitsministeriums seine Tätigkeit aufgenommen hatte. Dieser neuen Behörde werden zahlreiche Aufgaben und Kompetenzen zugewiesen, die sich auf die Beobachtung des Arbeitsmarkts und auf die einheitliche Regelung der Arbeitsvermittlung beziehen. Dies ist ein Aufgabengebiet, für das das Reich durch Artikel 7 (9.) der Weimarer Reichsverfassung zuständig gemacht worden war. Hinzu treten Aufsichtsfunktionen und Aufgaben wie die Sammlung der Tarifverträge und ihre Auswertung, die Beobachtung der Ausstände und Aussperrungen, die Beobachtung der Entwicklung der Berufsvereine von Arbeitgebern und Arbeitnehmern.972 Die insgesamt schwachen Einwirkungsmöglichkeiten auf die untergeordneten Arbeitsnachweise schließen allerdings eine wirksame „Regelung“ der Arbeitsvermittlung weitgehend aus: „Infolge dieser beschränkten Zuständigkeit konnte das Reichsamt nur durch Erteilung von Ratschlägen und Anregungen auf eine schrittweise Angleichung und Zusammenarbeit der Arbeitsnachweise hin arbeiten...“973 Eine gewisse weitere Steuerungsmöglichkeit ist durch die Vergabe von Reichsgeldern möglich. Durch eine von Friedrich Ebert und Alexander Schlicke unterzeichnete Urkunde vom 23. April 1920 wird der Vortragende Rat im Preußischen Ministerium für Handel und Gewerbe, Friedrich Syrup, zum Präsidenten dieses Reichsamtes ernannt und bestellt.974 Eine grundlegende Änderung tritt erst mit dem „Arbeitsnachweisgesetz“ vom 22. Juli 1922 ein.975 Der erste Entwurf zu diesem Gesetz wird nach langen Vorarbeiten seit 1919 vom Arbeitsrechtsausschuß im Herbst 1920 vorgelegt. Er findet viel Kritik. Es folgt ein 1921 veröffentlichter Regierungsentwurf, den Friedrich Syrup gemeinsam mit seinem „vertrauten Kollegen“ Oskar Weigert im Reichsarbeitsministerium ausgearbeitet hat.976 Auch er findet noch manche Veränderung. Das schließlich verabschiedete, umfangreiche Gesetz knüpft an die geschichtlich gewordene Struktur der Arbeitsnachweise an und schafft einen dreistufigen Verwaltungsaufbau. Es entspricht damit in einem gewissen Ausmaß dem langjährigen Verlangen nach einer klaren und nicht nur vorläufig gedachten Rechtsgrundlage für eine einheitliche Organisation. „Arbeitsnachweisämter“ der unteren Stufe werden die öffentlichen Arbeitsnachweise. Ihnen obliegt die Arbeitsvermittlung und die Mitwirkung bei der Durchführung von „gesetzlichen Unterstützungsmaßnahmen“. Zahlreiche weitere Aufgaben können ihnen übertragen werden. Jede Gemeinde muß nunmehr von einem öffentlichen Arbeitsnachweis erfaßt werden. Die öffentlichen Arbeitsnachweise bleiben bzw. werden kommunale Behörden. § 7 bestimmt: „Für jeden öffentlichen Arbeitsnachweis ist ein Verwaltungsausschuß zu bilden. Der Verwaltungsausschuß besteht aus dem Vorsitzenden des öffentlichen Arbeitsnachweises oder einem seiner Stellvertreter und mindestens je drei Arbeitgebern und Arbeitnehmern als Beisitzern. Die Zahl der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer muß gleich sein. Unter den Beisitzern sollen sich Frauen befinden.“ Die 972 Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Drießen, Martha: Die Entwicklung der Reichsarbeitsbehörden 1919 1929. Köln 1932, 46 ff. 973 Dieselbe, ebenda, 50. 974 Vgl.: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm.422), 21; eine von Hansjoachim Henning verfaßte Kurzbiographie von Friedrich Syrup (1881 - 1945) befindet sich in: Jeserich, Kurt G. A., Neuhaus, Helmut (Hg.): Persönlichkeiten der Verwaltung. Stuttgart, Berlin, Köln 1991, 385 - 390. Danach gehörte Syrup einer Gesprächsrunde um Friedrich Ebert an, die sich mit Problemen der Demobilmachung und Sozialpolitik befaßte; er arbeitete vorübergehend im DMA; vgl. ebenda, 386. 975 Vgl.: RGBl. I 1922, 657. 976 Vgl.: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 422), 21; vgl. auch: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 277. Umfangreiches Material zur Entstehung des Arbeitsnachweisgesetzes enthält auch: BA Abt. Potsdam. 06.01 Präsidialkanzlei, Nr. 168.

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Errichtungsgemeinde kann Vertreter mit beratender Stimme entsenden. Die Beisitzer werden von den Kommunen bestellt. Diese sind, was die Beisitzer betrifft, an Vorschlagslisten der „wirtschaftlichen Vereinigungen“ gebunden, insofern solche eingereicht werden. Den Haushalt setzt die Errichtungsgemeinde auf Vorschlag des Verwaltungsausschusses fest. Die einzurichtenden „Landesämter für Arbeitsvermittlung“, die an entsprechende Vorläufer, wie z.B. die „Provinzialämter für Arbeitsnachweise“, anschließen, sind „...die fachlichen Aufsichts- und Beschwerdestellen gegenüber den öffentlichen Arbeitsnachweisen. Sie haben den Arbeitsmarkt zu beobachten und den Ausgleich von Angebot und Nachfrage zwischen den einzelnen Arbeitsnachweisen zu fördern.“ Weitere Aufgaben treten gegebenenfalls hinzu. Die Errichtung ist im Rahmen der im Gesetz gegebenen Vorschriften der Organisationsgewalt der Länder überlassen, sie erfolgt aus diesen Gründen uneinheitlich. Auch für jedes Landesamt muß ein Verwaltungsausschuß gebildet werden. § 19 schreibt vor: „Der Verwaltungsausschuß besteht aus dem Vorsitzenden des Landesamts oder einem seiner Stellvertreter und mindestens je vier Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Vertretern der Errichtungsgemeinden im Bezirke des Landesamts als Beisitzern. Die Zahl der Arbeitgeber, Arbeitnehmer und der Vertreter der Errichtungsgemeinden muß gleich sein... Unter den Beisitzern sollen sich Frauen befinden.“ Das „Reichsamt für Arbeitsvermittlung“ mit Sitz in Berlin untersteht der Aufsicht des Reichsarbeitsministers und besteht aus dem Präsidenten und der erforderlichen Zahl von Beamten. Für das Reichsamt wird ein Verwaltungsrat gebildet. Er besteht nach § 29 aus dem Präsidenten des Reichsamts oder seinem Stellvertreter als Vorsitzendem sowie aus Vertretern der öffentlichen Körperschaften, der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. Unter ihnen muß sich mindestens eine Frau befinden. Die Zahl der Vertreter muß jeweils mindestens vier betragen und gleich sein. Die Arbeitgeber bzw. Arbeitnehmer werden von den entsprechenden Abteilungen des Vorläufigen Reichswirtschaftsrats gewählt. Nach den §§ 32 ff. sind bei den öffentlichen Arbeitsnachweisen nach Bedarf (Fach-)Abteilungen für Angestellte zu bilden. Diese Vorschriften finden für die Landesämter und für das Reichsamt sinngemäße Anwendung. Insgesamt zeigt der Aufbau der Arbeitsverwaltung als organisatorische Eigenart eine Verbindung der Reichs-, Staatsund Kommunalverwaltung mit der Selbstverwaltung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer.977 Das Gesetz zeichnet sich darüber hinaus durch eine Betonung der Fachlichkeit und „unparteiischen“ Tätigkeit der Arbeitsvermittlung aus. „Neutralisierende“ Bestimmungen zur Arbeitsvermittlung bei Streik und Aussperrung sind vorhanden. Das Tarifvertragswesen ist berücksichtigt. Andere nichtgewerbsmäßige Arbeitsnachweise können noch bestehen bleiben. Die gewerbsmäßige Stellenvermittlung soll vom 1. Januar 1931 an verboten sein. Von den Konflikten, die die Entstehung des Arbeitsnachweisgesetzes begleiten, ist ein Vorstoß des damaligen Verbandssekretärs der Hirsch-Dunkerschen Gewerkvereine des Abgeordneten der DDP, Anton Erkelenz, erwähnenswert, der zum Ziel hat, den „behördlichen Charakter“ des Gesetzentwurfs und der zu errichtenden Institutionen zu überwinden. Er erhebt die Forderung, den öffentlichen Arbeitsnachweis auf eine völlig neue Grundlage zu stellen. Er will ihn ausschließlich der Selbstverwaltung der „wirtschaftlichen Vereinigungen“ der Arbeitgeber und Arbeitnehmer überantworten. Es sollen nach seiner Auffassung eigenständige „Selbstverwaltungskörper“ unter „loser“ Aufsicht des Staates gebildet werden, „...deren Kosten durch Beiträge der Mitg lied er aufgebracht werden sollten.“978

977 Vgl.: Drießen, Martha: Die Entwicklung...a.a.O.(=Anm. 972), 53. 978 Dieselbe, ebenda, 55.

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Dieser Antrag wird im Reichstagsausschuß abgelehnt. Erreicht wird lediglich eine Verstärkung der Mitwirkung der „wirtschaftlichen Interessenten“.979 Angesprochen ist damit ein weiterer Streitpunkt der damaligen Arbeitsmarktpolitik, die Art der Kostentragung für den organisatorischen Aufbau und für die Leistungen an die Arbeitslosen. Die der Forderungstradition der sozialistischen Gewerkschaften durchaus entsprechende Kostentragung durch die „öffentlichen Hände“ (durch die Gemeinden bzw. Länder/Provinzialverbände bzw. das Reich) wird durch eine Bestimmung des „Arbeitsnachweisgesetzes“ in Frage gestellt, die beinhaltet, daß diese Form der Finanzierung nur noch bis zur Verabschiedung eines besonderen Gesetzes gelten soll. Vor dem Hintergrund der Hyperinflation ergeht ohne parlamentarische Beteiligung auf der Grundlage des Ermächtigungsgesetzes vom 13. Oktober 1923 die in diesem Zusammenhang einschlägige „Verordnung über die Aufbringung der Mittel für die Erwerbslosenfürsorge“ vom 15. Oktober 1923.980 Sie bestimmt, daß die Mittel, die zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sowie zur Fürsorge für Erwerbslose erforderlich sind, bis zu einer Obergrenze zu vier Fünfteln durch Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu decken sind. Sofern diese Mittel und ebenfalls begrenzte Mittel der Gemeinden nicht ausreichen, sind Beihilfen des Reiches und der Länder vorgesehen. Durch diese später leicht modifizierten verteilungspolitischen Bestimmungen ziehen sich die „öffentlichen Hände“ in hohem Maße aus der Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik zurück. Der entscheidende unmittelbare Anlaß für diese Verordnung ist die katastrophale Finanzlage des Reiches, die durch den Ruhrkampf und die ihn unterstützende großzügige Handhabung der Erwerbslosenfürsorge hervorgerufen wird. Durch die Verordnung vom 15. Oktober 1923 und die „Verordnung über Erwerbslosenfürsorge“ in der Fassung vom 16. Februar 1924 wird zudem das Schwergewicht der Fürsorge für die Erwerbslosen endgültig von den kommunalen Fürsorgeausschüssen in die Hände der öffentlichen Arbeitsnachweise gelegt. Damit wird auch den Arbeitnehmern und Arbeitgebern ein verstärkter Einfluß auf die Erwerbslosenfürsorge eingeräumt. Dieser Vorgang entspricht der neuen Form der Mittelaufbringung.981 Mit diesen Bestimmungen hat die Erwerbslosenfürsorge denselben Entwicklungsgang genommen, wie die Arbeitsvermittlung. Beide waren einmal „fakultative Gemeindeeinrichtungen“ bzw. Gemeindemaßnahmen. Nunmehr, zu Beginn der „relativen Stabilisierung“, sind sie „Pflichteinrichtungen“ geworden. Noch jedoch ist der Bezug zur (Errichtungs-) Gemeinde sehr eng. Der öffentliche Arbeitsnachweis wird von den Gemeinden verwaltet. Diesen stehen noch wichtige Befugnisse zu und es besteht kein Vermittlungsmonopol. Forderungen nach einem „Benutzungszwang“ und nach einer Meldepflicht sind chancenlos. Die Konturen eines einheitlich gesteuerten dreistufig aufgebauten Instrumentariums der Arbeitslosenunterstützung und der Arbeitsvermittlung beginnen sich aber schon deutlich abzuzeichnen.982 An die Stelle einer staatsfernen „gemeinsame(n) Regelung und paritäti979 Vgl. dieselbe, ebenda, 56. 980 Vgl.: RGBl. I 1923, 984; diese Verordnung war bereits am 13. Oktober 1923 (RGBl. I 1923, 946) rechtsfehlerhaft ausgefertigt worden. Sie wird durch die gleichlautende Verordnung vom 15. Oktober 1923 aufgehoben noch bevor sie in Kraft tritt. 981 Vgl. mit Ergänzungen und Änderungen der Mittelaufbringung die „Verordnung zur Änderung der Verordnungen über Erwerbslosenfürsorge und über die Aufbringung der Mittel für die Erwerbslosenfürsorgen und des Arbeitsnachweisgesetzes“ vom 13. Februar 1924 im: RGBl. I 1924, 121; vgl. zur Neufassung der Erwerbslosenfürsorge: RGBl. I 1924, 127; vgl.: Drießen, Martha: Die Entwicklung...a.a.O.(=Anm. 972), 65. 982 Vgl. dazu auch: Bender, Gerd: Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversorgung in der Weimarer Republik. In: Benöhr, Hans-Peter (Hg.): Arbeitsvermittlung...a.a.O.(=Anm. 946), 137 - 169, hier:143 ff.

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schen Verwaltung des Arbeitsnachweises“, im „Stinnes-Legien-Abkommen“ vom 15. November 1918 in Aussicht gestellt, ist die das „Mitverwaltungsrecht“ der Verbände von Arbeit und Kapital durchaus anerkennende Reichsinitiative getreten. Durch die Einführung einer Beitragszahlung wird darüber hinaus ein Schritt in Richtung auf die langdiskutierte Arbeitslosenversicherung getan. Bedingt durch Zuschüsse der Gemeinden, durch Beihilfen der Staaten und des Reiches und durch die nicht aufgegebene Bedürftigkeitsprüfung wird allerdings „nur“ eine gewisse Zwitterstellung erreicht, die jedoch dem Gedanken einer Überführung in eine Arbeitslosenversicherung mächtig Auftrieb gibt. Durch die Verbindung von Beitragspflicht und Bedürftigkeitsprüfung ist aus freigewerkschaftlicher Sicht allerdings die schlechteste Ausgestaltungsform zustande gekommen. Dies führt dazu, daß sich nunmehr im ADGB die schon vorher von der Mehrheit bevorzugte rein versicherungsrechtliche Lösung noch stärker durchsetzt. Dabei soll der Beitragspflicht allerdings ein Recht auf Unterstützung unter Wegfall der Bedürftigkeitsprüfung gegenüber stehen.983 Der alte Gedanke einer allgemeinen Fürsorgeverpflichtung des Staates für unverschuldete Arbeitslosigkeit ist damit fallen gelassen. Zu Beginn des Jahres 1924 ist „...die als Maßnahme der Demobilmachung gedachte grundlegende Verordnung über Erwerbslosenhilfe ... vom 13. 11. 1918 insgesamt 18mal geändert und viermal neu verkündet worden.“984 Die Fassung der „Verordnung über Erwerbslosenfürsorge“ vom 16. Februar 1924985 dokumentiert bereits einen weit fortgeschrittenen Stand des Leistungsrechts und des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums. Aus der Anfangszeit der Erwerbslosenfürsorge übernommen ist die Verpflichtung, im Bedarfsfall eine Fürsorge für Erwerbslose einzurichten, die nicht den „Rechtscharakter der Armenpflege“ haben darf. Ebenfalls aus der ersten Zeit dieser „Fürsorge“ stammt die Bestimmung, daß die Fürsorge nur arbeitsfähigen und arbeitswilligen Personen gewährt werden soll, die sich „infolge des Krieges“ durch gänzliche oder teilweise Erwerbslosigkeit in „bedürftiger Lage“ befinden, eine Vorschrift, die nunmehr extrem weit ausgelegt wird. Die Verordnung in der Fassung vom 16. Februar 1924 unterscheidet darüber hinaus zwischen der unterstützenden und der produktiven (wertschaffenden) Erwerbslosenfürsorge, die es schon seit 1919 gibt und unter der auch weiterhin Notstandsarbeiten bzw. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu verstehen sind. Zur Förderung solcher Maßnahmen kann das Reich Darlehen oder Zuschüsse bewilligen. Die unterstützende Erwerbslosenfürsorge kennt als restriktive Voraussetzungen der Inanspruchnahme: (unfreiwillige) Erwerbslosigkeit, Bedürftigkeit, eine kranken- oder angestelltenversicherungspflichtige oder seemännische Beschäftigung im Deutschen Reich von mindestens drei Monaten in den letzten 12 Monaten und bis auf Ausnahmen: Vollendung des 18. Lebensjahres. Die Wartezeit beträgt mindestens eine Woche, in Ausnahmefällen bis zu drei Tage. Sie kann auch ganz entfallen. Für die Kurzarbeiterunterstützung gelten Sondervorschriften. Es ist Sorge dafür getragen, daß Ausstand oder Aussperrung keinen Anspruch auf Erwerbslosenfürsorge nach sich ziehen; die auf diese Weise verursachte Arbeitslosigkeit gilt nicht als „Kriegsfolge“. § 3 bestimmt: „Frühestens vier Wochen nach Abschluß des Ausstandes oder der Aussperrung können die Gemeinden den Arbeitnehmern beim Vorliegen der allgemeinen Voraussetzungen Erwerbslosenunterstützung gewähren.“ 983 Vgl.: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 363 f. 984 Bogs, Walter: Die Sozialversicherung...a.a.O.(=Anm. 426), 110. 985 Vgl. als ergänzende Erläuterung: Weigert, Oscar: Die Verordnung über Erwerbslosenfürsorge in der Fassung vom 16. Februar 1924. In: Reichsarbeitsblatt (Nichtamtlicher Teil) (1924)6, 121 - 124.

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Zur Hauptunterstützung hinzu treten gegebenenfalls Familienzuschläge, Krankenversorgung, Reisebeihilfen, Anlernzuschüsse, Zahlung eines Schulgeldes. Gegebenenfalls wird Kurzarbeiterunterstützung gezahlt. Die Teilnahme an einer beruflichen Fortbildung, Umschulung oder allgemeinbildende Maßnahmen kann Leistungsvoraussetzung sein. Die Unterstützung kann von einer Arbeitsleistung (Pflichtarbeit) abhängig gemacht werden. Durch diese und weitere Bestimmungen wird den Gemeinden die Definitionsmacht über Art, Höhe und Dauer der Unterstützung genommen. Die Verordnung vom 16. Februar 1924 wird bis in das Jahr 1927 hinein mehrfach geändert und durch Ausführungsvorschriften konkretisiert. Insbesondere die „Rationalisierungskrise“ führt zu arbeitsmarktpolitischem Handlungsbedarf. Diese Krise zeigt erneut, daß das Jahr 1918 einen schlimmen Wendepunkt in der Geschichte der Arbeitslosigkeit in Deutschland darstellt und daß sich eine ganze Kette höchst beunruhigender Arbeitsmarkterscheinungen fortsetzt. Vor diesem Hintergrund erfährt die Erwerbslosenfürsorge eine bedeutsame Erweiterung durch das „Gesetz über eine Krisenfürsorge für Erwerbslose“ vom 19. November 1926.986 Dieses umstrittene Gesetz stellt einen Kompromiß dar „...zwischen der Forderung der Arbeitervertreter aller Fraktionen auf Verlängerung der Unterstützungsdauer, den finanziellen Bedenken der Reichsregierung und den Entlastungswünschen der Gemeinden...“987 Der Anlaß dieses Gesetzes ist die Arbeitsmarktkrise des Jahres 1926, die zu einer großen Zahl von „Ausgesteuerten“ aus der damals praktisch in den meisten Fällen 52 Wochen leistenden Erwerbslosenfürsorge führte.988 Für diese Personengruppe werden nun Leistungen vorgesehen, die zu drei Vierteln vom Reich finanziert werden. Diese Leistungen sind keine Leistungen der öffentlichen Fürsorge. Das Krisenfürsorgegesetz gilt zunächst bis zum 31. März 1927. Die Geltungsdauer wird schon bald bis zum in Kraft treten des AVAVG verlängert. Die Diskussionen im Kaiserreich, die Entwicklungen im Kriege, die „Beschlußlage“ der Gewerkschaften, der SPD und der anderen sozialen Kräfte tragen dazu bei, daß schon Ende 1918 die bis in das Jahr 1927 reichende Weiterführung und Ausgestaltung der (Kriegs-)Erwerbslosenfürsorge „nur“ als vorläufige Übergangsmaßnahme angesichts sich überstürzender innen- und außenpolitischer Ereignisse angesehen wird. Hinzu kommt der dauernde Veränderungsdruck, der von den „ruinierten“ Reichsfinanzen ausgeht. Schließlich sind es einige als bedenklich angesehene Formen, Auswirkungen und Verfahrensweisen der Erwerbslosenfürsorge, die Initiativen motivieren, den Übergang zu einer Reichsarbeitslosenversicherung in Angriff zu nehmen. Die Tatsache, daß die Erwerbslosenfürsorge als Übergangsmaßnahme zunächst nur für maximal ein Jahr geplant ist, erhöht den Handlungsdruck.989 Dementsprechend wird nach Ablauf dieses „Jahreszeitraums“ anläßlich der Beratung des Haushalts des Reichsarbeitsministeriums aus der Mitte der Verfassunggebenden Nationalversammlung von verschiedener Seite der Übergang zu einer Reichsarbeitslosenversicherung dringlich verlangt.990 In der Regierung ist es der Reichsfinanzminister, der

986 Vgl.: RGBl. I 1926, 489. 987 Faust, Anselm: Von der Fürsorge zur Arbeitsmarktpolitik: Die Errichtung der Arbeitslosenversicherung. In: Abelshauser, Werner (Hg.): Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat. Stuttgart 1987, 260 - 279, hier: 266. 988 Vgl.: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 366. 989 Vgl. den § 18 der „Verordnung über Erwerbslosenfürsorge“ vom 13. November 1918; vgl. insgesamt Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 152 ff. 990 Vgl.: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Band 330. Berlin 1920, 3226, 3255, 3284.

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angesichts der erwarteten hohen Arbeitslosigkeit im Winter 1919/20 zu einer rascheren Gangart drängt.991 Vor dem Hintergrund dieser Situation wird im Reichsarbeitsministerium mit größter Eile an einem Entwurf gearbeitet, „...der in den Grundzügen bereits im Juli 1919 feststand“992 und im November wichtigen sozialpolitischen Interessengruppen zugesandt wird. Bei den „Interessenten“ zunächst scheinbar auf keinen grundsätzlichen Widerstand stoßend, erklärt das Fachministerium diesen Entwurf zur Kabinettsvorlage und am 15. April 1920 stimmt die Reichsregierung dem nur geringfügig geänderten Entwurf zu. Schon am folgenden Tag wird er dem Reichsrat zugeleitet und kurz darauf im Reichsarbeitsblatt veröffentlicht.993 Der Entwurf regelt die geplante Arbeitslosenversicherung in enger Anlehnung an das vorhandene Sozialversicherungssystem, das seine umfassende Kodifikation in der vielfach novellierten RVO des Jahres 1911 gefunden hat.994 Er bestimmt, im Gegensatz zu den gewerkschaftlichen Vorstellungen aus der letzten Kriegsphase,995 zur Trägerschaft: „Die Durchführung der Arbeitslosenversicherung liegt dem Kassenverband ob, zu welchem die Krankenkassen des Bezirkes vereinigt sind. Der Kassenverband errichtet eine Arbeitslosenkasse“ (§ 33). Die Arbeitgeber und die Versicherten sollen, der Sozialversicherungstradition entsprechend, zu gleichen Teilen Beiträge leisten. „Die Beiträge des Reichs und des Gemeindeverbandes betragen je ein Viertel der eingegangenen Beiträge der Arbeitgeber und Versicherten.“ Darüber hinaus sind Bestimmungen zur Versicherungspflicht, zur Wartezeit, zur Anwartschaft usw. getroffen. Für das Streitverfahren sind, analog zu den Vorschriften der RVO, die Versicherungsämter zuständig gemacht. In dieser Form, wegen der Anlehnung an die RVO, insbesondere an die „sachfremde“ Krankenversicherung, wegen der Nichtberücksichtigung der Arbeitsnachweise, die nur den Status eines „begutachtenden Hilfsorgans“ bekommen sollen, findet der Entwurf in der Öffentlichkeit und Fachpublizistik überaus heftige Kritik, ja einhellige Ablehnung.996 Vor allem ist der alte, der „vernünftige“ Gedanke, daß nur die öffentlichen Arbeitsnachweise der Gemeinden und Gemeindeverbände als Träger auch der Arbeitslosenversicherung in Frage kommen können, präsent: „...eine Arbeitslosenversicherung ohne Anschluß an den Arbeitsnachweis ist ungefähr ebenso hilflos und unwirksam wie eine Krankenkasse, die auf die Verbindung mit dem Arzt verzichten wollte.“997 Nur die Arbeitsnachweise könnten den Eintritt des „Risikos“ verhüten, unfreiwillige Arbeitslosigkeit feststellen, das „Kardinalproblem“ der Kontrolle der Arbeitslosen lösen und die Erwerbslosigkeit selbst beenden; demgegenüber sei die Unter-

991 Vgl.: Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 162 f. 992 Derselbe, ebenda, 165. 993 Vgl. denselben, ebenda, 166 sowie: Der Entwurf des Arbeitslosenversicherungsgesetzes. In: ReichsArbeitsblatt, 18(1920)5, 391 - 398; eine maschinenschriftliche Fassung findet sich mit Begleitschreiben des Reichsarbeitsministers Schlicke vom 7. Februar 1920 im: BA Abt. Potsdam. 06.01 Präsidialkanzlei, Nr. 186, Bl. 46 ff. 994 Vgl. auch: Gaebel, Käthe: Der Entwurf eines Gesetzes über Arbeitslosenversicherung. In: Soziale Praxis, 29(1920)31, Sp. 718 - 720, Teil II: Sp. 739 - 743, hier: Sp. 718. 995 Die „Leitsätze zur gesetzlichen Regelung der Arbeitslosenversicherung und Arbeitsvermittlung“ vom 1. November 1918 sahen eine Anlehnung an die Invalidenversicherung vor; Vgl.: Schönhoven, Klaus (Bearb.): Die Gewerkschaften in Weltkrieg...a.a.O.(=Anm. 42), 521 ff. 996 Vgl. neben dem Beitrag von Käthe Gäbel z.B. die Beiträge in der „Sozialen Praxis“ Jg. 29, Sp. 919 - 922, 1036 - 1039, 1368 - 1370, 1392 - 1396; vgl. auch: Kumpmann, Karl: Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und die Reichsarbeitslosenversicherung. In: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche, 44(1920), 135 - 198, hier: 186 ff. 997 Derselbe, ebenda, 189.

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stützung subsidiär. Dieser Aspekt wird auch in den sehr kenntnisreichen Diskussionsbeiträgen der „Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ betont. Entscheidend für das Schicksal dieses ersten Entwurfs wird, daß nach der Reichstagswahl vom 6. Juni 1920 der sozialdemokratische Reichsarbeitsminister Schlicke durch den Zentrumspolitiker Heinrich Brauns abgelöst wird. Es kommt nun zu einem umfassenden Diskussions-, Aushandlungs- und Abstimmungsprozeß,998 in dessen Verlauf eine organische Eingliederung der Arbeitsnachweise in das Projekt der Arbeitslosenversicherung in den Vordergrund rückt. Inzwischen ist auch der Widerstand der Interessengruppen gegen den ersten Entwurf gewaltig gewachsen. Entscheidend sind Vorbehalte des Reichsfinanzministers und daß der Entwurf bei den Arbeitgebern und auch beim ADGB keine Gegenliebe findet. Auf der Seite der Unternehmer läßt sich sogar eine Stellungnahme gegen das ganze Projekt einer (Zwangs-)Arbeitslosenversicherung finden.999 Vor dem Hintergrund dieser vielstimmigen, teilweise vernichtenden Kritik und der schon früh vorhandenen Auffassung Brauns, eine Korrektur vornehmen zu müssen, kommt es am 9. November 1920 zur Zurücknahme des ersten Gesetzentwurfs. Intern vermerkt der Reichsarbeitsminister, durch den Entwurf sei eine wirksame Entlastung der Reichsfinanzen von den Aufwendungen für die Erwerbslosenfürsorge vorerst nicht zu erreichen.1000 In der Reichstagssitzung vom 23. Februar 1921, in der es um den Etat des Reichsarbeitsministeriums geht, betont Heinrich Brauns: „Der Umfang und die Dauer der Arbeitslosigkeit haben uns aber genötigt, diesen Entwurf in der damals vorliegenden Form zurückzuziehen. Eine Arbeitslosenversicherung in der strengen versicherungsrechtlichen Form erscheint gegenwärtig praktisch undurchführbar, solange unsere gesamte Wirtschaftslage und der Arbeitsmarkt ihren gegenwärtigen krisenhaften Charakter bewahren. Es ist übrigens bezeichnend, daß auch in England, das schon länger eine Arbeitslosenversicherung besitzt, die Arbeitslosenfürsorge jetzt neben der Versicherung hat in Tätigkeit treten müssen. Wir wollen zu dem gleichen System kommen und werden deshalb umgehend ein Gesetz über die vorläufige Arbeitslosenversicherung entwerfen.“1001 Diese Aussagen dokumentieren den hohen Stellenwert der sozialökonomischen und fiskalischen Rahmenbedingungen für das Projekt der Arbeitslosenversicherung.1002 Dabei ist bemerkenswert, daß die wirtschaftliche und soziale Zukunft in Kreisen der Ministerialbürokratie als unsicher und düster eingeschätzt wird. Insbesondere wird befürchtet, daß sich die damals im Ausland wahrhaft dramatische Nachkriegsarbeitslosigkeit auch bald im Deutschen Reich zeigen könne. Der neue „Anlauf“ zu einer Arbeitslosenversicherung ist darüber hinaus von den Erfahrungen mit und von der Kritik an dem ersten Gesetzentwurf geprägt. Am Anfang steht eine „Denkschrift über ein ‘Gesetz über eine vorläufige Arbeitslosenversicherung’“ von Dezember 1920.1003 Diese Denkschrift geht von drei Mängeln der Erwerbslosenfürsorge aus: von der fehlenden festen gesetzlichen Grundlage, von der nicht eng genug gestalteten Verbindung der Organisation der Erwerbslosenfürsorge mit der Ar998 Umfassend und vorbildlich aus den Akten und der Primärliteratur dargestellt bei: Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 168 ff. 999 Vgl. denselben, ebenda, 176. 1000 Vgl. denselben, ebenda, 179; vgl. zu weiteren Details auch: Führer, Karl Christian: Arbeitslosigkeit und die Entstehung der Arbeitslosenversicherung in Deutschland 1902 - 1927. Berlin 1990, 176 f. 1001 Verhandlungen des Reichtags. I. Wahlperiode 1920. Stenographische Berichte. Band 347. Berlin 1921, 2439. 1002 Der fiskalische Aspekt, die bürgerliche Kritik am Engagement des finanziell stark bedrängten Reichs an der Erwerbslosenfürsorge wird auch betont von: Führer, Karl Christian: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 1000), 170 ff. 1003 Vgl. dazu: BA Abt. Potsdam. 06.01 Präsidialkanzlei, Nr. 186, Bl. 113 ff.

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beitsvermittlung, von der ausschließlichen Kostentragung durch die „öffentlichen Verbände“ (Reich, Länder und Gemeinden). Dieses letzte Problem soll nunmehr dadurch gelöst werden, daß einerseits Pflichtbeiträge erhoben werden, die Leistungen andererseits jedoch den Versicherten „zunächst“ nur unter bestimmten Voraussetzungen nach dem Prinzip der Fürsorge zufließen sollen.1004 Damit ist das Projekt der „vorläufigen Arbeitslosenversicherung“ im Grunde als kostengünstige Form der Erwerbslosenfürsorge geplant. Nach internen Vorentscheidungen und Vorarbeiten erfolgt gegen Ende September 1921 die Veröffentlichung eines „Referentenentwurf über eine vorläufige Arbeitslosenversicherung“, der, wie der zuständige Referent im Reichsarbeitsministerium, Oscar Weigert, betont „...für die Reichsregierung noch in keiner Weise verbindlich ist.“1005 Auffallend ist, daß sich im Entwurf selbst das Fürsorge- bzw. Bedürftigkeitsprinzip als generelle und langfristige Maxime nicht findet. Sieht man von Ausnahmen ab, haben die Versicherten vielmehr im Gegensatz zu den Ausführungen der Denkschrift einen Rechtsanspruch auf Arbeitslosenunterstützung, falls sie arbeitsfähig, arbeitswillig und unfreiwillig arbeitslos sind, die Wartezeit erfüllt und den Anspruch noch nicht erschöpft haben. Die Wartezeit gilt als erfüllt, wenn die Versicherten vor der Arbeitslosigkeit im Rahmen von 24 Monaten für 26 Wochen Beiträge geleistet haben. Der Anspruch gilt als erschöpft, wenn innerhalb der letzten 24 Monate Arbeitslosenunterstützung für insgesamt 26 Wochen gewährt wurde. Mit der Veröffentlichung des Referentenentwurfs setzt eine intensive interne und externe Diskussion ein, die zu gewissen Modifikationen Anlaß gibt. Der veränderte Entwurf des Reichsarbeitsministers wird dem Kabinett vorgelegt. Dieses stimmt ihm am 19. Juni 1922 zu. Im gleichen Monat geht der Entwurf an den Reichsrat und zur Begutachtung an den „Vorläufigen Reichswirtschaftsrat“.1006 Die Weiterleitung an den Reichstag erfolgt durch eine Reichstagsdrucksache, die das Datum vom 29. Januar 1923 trägt.1007 Auch diese Fassung möchte das Fürsorgeprinzip nicht zur Leitmaxime der Arbeitslosenversicherung erheben. Der „vorläufige Charakter“ ergebe sich daraus, daß empfehlenswerte „versicherungstechnische Grundsätze“, wie das sichere „Prämienverfahren mit Kapitaldeckung“ nicht angewendet seien und der Referentenentwurf gleichzeitig den „Abbau der Fürsorge und (den) Aufbau der Versicherung“ in sich vereine.1008 Gleichwohl wird das (Haupt-)Ziel der „Denkschrift“, die Entlastung der „öffentlichen Verbände“ dadurch verfolgt, daß, ähnlich wie beim Referentenentwurf vom September 1921, 2/3 der Kosten für die Versicherung und für die Arbeitsnachweise durch gleiche Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber und 1/3 durch Zuschüsse des Reiches, der Länder und Gemeinden aufgebracht werden sollen (§ 65). Die fiskalpolitischen Regelungen des Entwurfs zusammenfassend und mit der Erwerbslosenfürsorge vergleichend, betont die Begründung: „Das bedeutet eine Entlastung 1004 Ebenda, Bl. 113 und Bl. 119. 1005 Vgl.: Weigert, Oscar: Zu dem Referentenentwurf des Gesetzes über eine vorläufige Arbeitslosenversicherung. In: Reichs-Arbeitsblatt. Nichtamtlicher Teil, 1(NF)(1921)24, 982 - 984, hier: 984; der Entwurf ist abgedruckt im Reichs-Arbeitsblatt. Amtlicher Teil, 1(NF)(1921)24, 839 - 845. 1006 Vgl.: Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 185. Hier zeigt sich, daß es im Sozialpolitischen Ausschuß gelingt, eine übereinstimmende Meinung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in allen Teilen des Entwurfs zu erzielen; vgl.: Der Gesetzentwurf...In: Soziale Praxis, 32(1923)15, Sp. 357 f., hier: Sp. 357; genauer dazu und zu den Positionen der gesellschaftlichen Kräfte: Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 186 ff. 1007 Vgl.: Verhandlungen des Reichstags. I. Wahlperiode 1920. Band 376. Anlagen zu den Stenographischen Berichten. Berlin 1924, Nr. 5531, S. 6166 ff.; diese Drucksache enthält auch eine kurzgefaßte Vorgeschichte der Arbeitslosenversicherung und einen Überblick über die ausländische Entwicklung. 1008 Vgl. ebenda, 6186 f.

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des Reichs um 66 2/3 %, der Länder um 75 %, der Gemeinden um 50 % gegenüber der bisherigen Inanspruchnahme.“1009 Die Beiträge zur Finanzierung der Leistungen (insbesondere der Arbeitslosenunterstützung, der Versorgung im Krankheitsfall, der Kurzarbeiterunterstützung) und der Arbeit der öffentlichen Arbeitsnachweise sollen von den Pflichtversicherten über die Krankenkassen eingezogen werden. Die öffentlichen Arbeitsnachweise sind als Träger der Versicherung und der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen im engeren Sinne vorgesehen. Sie sind auch für das Streitverfahren zuständig. Der Reichstag überweist den Entwurf nach der ersten Beratung mit erheblicher Verzögerung am 5. Juni 1923 an den zuständigen Ausschuß. In der ersten Reichstagsberatung sieht sich Reichsarbeitsminister Brauns zu dem Eingeständnis gedrängt, daß inzwischen andere Staaten, namentlich Italien, Österreich und Großbritannien, auf dem Gebiet der Schaffung einer öffentlich-rechtlichen Arbeitslosenversicherung vorangegangen sind. Während die Stellungnahme der vereinigten Sozialdemokratie kurz und relativ „lapidar“ ausfällt, bleibt es dem Sprecher der KPD überlassen, den Entwurf umfassend zu kritisieren, seine Leistungsmängel und seinen verteilungspolitischen Hintersinn hervorzuheben.1010 Im 6., im „Sozialpolitischen Ausschuß“, bleibt der zu einem wahrlich ungünstigen Zeitpunkt vorgelegte Entwurf jedoch unberaten, bis die Legislaturperiode im Frühjahr 1924 endet. Dem im Mai 1924 neu gewählten Reichstag wird er nicht erneut vorgelegt. Damit ist dieses sozialpolitische Vorhaben vorübergehend ein Opfer der Hyperinflation und der Stabilisierungskrise geworden. Die beabsichtigte Umstellung der Finanzierung zu Lasten der Arbeitsmarktparteien und Arbeitslosen jedoch gelingt in der bereits geschilderten Form auf ausnahmerechtlicher Basis im Oktober 1923.1011 Der bis zu diesem Zeitpunkt erreichte Stand der Erwerbslosenunterstützung, vor allem die überwiegende Finanzierung durch Beiträge und die restriktive Leistungsgewährung nach dem Fürsorgeprinzip „befriedigt“ zwar vorübergehend die am Sparziel orientierten Kräfte in Regierung und Verwaltung, ruft aber andererseits den fortdauernden Widerstand gewerkschaftlicher Kreise und der entsprechend beeinflußten Parteien hervor: „Schon im Herbst 1924 und Anfang 1925 wurde deutlich, daß die geltende Erwerbslosenfürsorge bei DDP, KPD, SPD und Zentrum auf wachsenden Widerstand stieß, wie sich in verschiedenen Anträgen und Interpellationen dieser Parteien im Reichstag zeigte.“1012 Im September 1924 legt das Reichsarbeitsministerium einen neuen Entwurf über ein Arbeitslosenversicherungsgesetz vor, um einem Initiativgesetz aus dem Reichstag zuvorzukommen und um das Veränderungsverlangen zu vertrösten.1013 Schließlich votieren Länder für eine „endgültige“ Lösung des Problems der Arbeitslosenversicherung. Dabei darf auch zu dieser Zeit eine erhebliche und blockierende Interessendifferenz in Grundzügen und Einzelfragen der Arbeitslosenversicherung bzw. der Arbeitsmarktpolitik nicht übersehen werden. Ablehnend gegenüber einer „echten“ Versicherungslösung verhalten sich die Arbeitgeber, da das die

1009 Ebenda, 6190. 1010 Vgl.: Verhandlungen des Reichstags. I. Wahlperiode 1920. Band 360. Stenographische Berichte. Berlin 1923, 11177 ff. 1011 Vgl.: Führer, Karl Christian: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 1000), 180 f.; Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 186. 1012 Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 229; vgl. dazu auch: Verhandlungen des Reichstags. II. Wahlperiode 1924. Band 382. Anlagen zu den Stenographischen Berichten. Berlin 1924. Drucksache Nr. 180; ebenda. Band 397, Drucksachen Nr. 78. 1013 Vgl.: Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 229.

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deutsche Wirtschaft zu stark belasten würde.1014 Schließlich gerät die „Arbeitslosenversicherungsfrage“, wie manch anderes Teilstück der staatlichen Sozialpolitik, in den Wahlkampf zu den am 7. Dezember 1924 stattfindenden Reichstagswahlen. Auf der Seite der Arbeiterbewegung wird insbesondere die unbeliebte „Pflichtarbeit“ angegriffen. Die KPD organisiert zu dieser und in späteren Zeiten eine nicht unerhebliche Agitation und Mobilisierung unter den Arbeitslosen, den „Opfern des Kapitals“.1015 Im Zentrum der Erwägungen im Staatsapparat steht die Frage nach den finanziellen Auswirkungen der Aufhebung der Bedürftigkeitsprüfung und damit auch jene nach der Belastung der Wirtschaft. Insbesondere von Seiten des Finanz- und Wirtschaftsministeriums werden Bedenken vorgebracht. Auf der Kabinettssitzung vom 26. Januar 1925 wird schließlich von der kurz zuvor gebildeten Rechtskoalition die Vorlage eines neuen Gesetzentwurfes beschlossen, ohne daß davon ausgegangen werden kann, daß der Widerstand der entsprechenden, nun der DNVP unterstehenden Ministerien aufgegeben worden ist.1016 Am 16. Juli 1925 trägt der Reichsarbeitsminister den Inhalt eines entsprechenden Entwurfs vor, ohne daß es zu einer Beschlußfassung kommt. Nach umfänglicher Diskussion und bei noch restriktiverer Ausgestaltung des Entwurfs stimmt das Kabinett am 14. August 1925 dem „Entwurf eines Gesetzes über Arbeitslosenversicherung“ zu.1017 Bei fortbestehenden Bedenken der DNVP-Minister, unter denen sich nunmehr auch der Innenminister hervortut, ist bei dieser Entscheidung das Bestreben von Bedeutung, die Arbeitslosenfrage durch ein Gesetz zu entpolitisieren. Darüber hinaus ist es im Entwurf zu Konzessionen an die Vorstellungen der DNVP gekommen. Schließlich tritt die Perspektive weiterer möglicher Veränderungen in einem langdauernden Gesetzgebungsprozeß ebenso hinzu, wie koalitionspolitische Rücksichtnahmen.1018 Der grundsätzliche Widerstand der DNVP, die sich den Standpunkt der Wirtschaft zu eigen gemacht hat, ist allerdings nicht überwunden. Am 8. September 1925 wird der Entwurf im Reichsarbeitsblatt veröffentlicht und löst, wie sein Vorgänger, eine breite öffentliche Diskussion aus.1019 Wie kaum anders zu erwarten, findet auch dieser im Regierungslager mühsam erreichte Ausgleich zwischen äußerst unterschiedlichen sozialpolitischen Positionen ein zwiespältiges Echo. Aus den Reihen der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie wird bei aller Kritik an Einzelheiten die Vorlage und die Aussicht auf eine Arbeitslosenversicherung begrüßt. In diesem Zusammenhang ist eine Entschließung des ADGB zur Organisation der 1014 Vgl. denselben, ebenda, 231 f. 1015 Vgl. denselben, ebenda, 234. Zu der kommunistisch orientierten Erwerbslosenbewegung vgl. als entsprechende Anweisung: Politisches Rundschreiben Nr. 39 des Direktoriums der KPD. (8. Januar 1924). SAPMO-BA. KPD/ZK. Politbüro. I 2/3/179, Bl. 1 - 6RS, hier: Bl. 2RS; vgl. zusammenfassend auch: Bahne, Siegfried: Die Erwerbslosenpolitik der KPD in der Weimarer Republik. In: Mommsen, Hans, Schulze, Winfried (Hg.): Vom Elend der Handarbeit. Stuttgart 1981, 477 - 496; McElligott, Anthony: Mobilising the Unemployed: The KPD and the Unemployed Workers´ Movement in Hamburg-Altona during the Weimar Republic. In: Evans, Richard J., Geary, Dick (Ed.): The German Unemployed. London, Sydney o.J. (1987), 228 - 260. 1016 Vgl. zu diesem Beschluß das Dokument Nr. 8 bei: Minuth, Karl-Heinz (Bearb.): Die Kabinette Luther I und II... Band 1...a.a.O.(=Anm. 703), 20 - 26, hier: 20; zu den internen Auseinandersetzungen: Führer, Karl Christian: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 1000), 183 ff. 1017 Vgl. die Dokumente Nr. 126 und 147 ebenda, 441 - 443; 521 - 525. 1018 Vgl.: Führer, Karl Christian: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 1000), 184 f.; mit zahlreichen Details zu den internen Auseinandersetzungen: Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 238 ff. 1019 Vgl.: Reichsarbeitsblatt (Amtlicher Teil), (1925)34, 423 ff.; zur Kommentierung, eine amtliche Begründung existiert zu dieser Zeit noch nicht, vgl: Weigert, O.(scar): Zu dem Entwurf des Gesetzes über Arbeitslosenversicherung. In: Reichsarbeitsblatt (Nichtamtlicher Teil) (1925)34, 551 - 555; vgl. auch: Wermel, Michael T., Urban, Roswitha: Arbeitslosenfürsorge... Teil II...a.a.O.(=Anm. 80), 47 ff.

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Arbeitslosenversicherung vom 26. April 1926 von Interesse, die dieser dem christlichnationalen „Deutschen Gewerkschaftsbund“ (DGB) zur Herausbildung eines gemeinsamen Standpunktes zusendet.1020 Diese Entschließung empfiehlt Arbeitsämter, Landesarbeitsämter und ein Reichsarbeitsamt als untere, mittlere und obere Selbstverwaltungskörperschaften mit Ausschüssen vorzusehen, die paritätisch aus Vertretern der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber und der Behörden zusammengesetzt sein sollen. Gedacht ist die Entschließung als Impuls für eine Abänderung des Arbeitsnachweisgesetzes, wobei betont wird, daß Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung von denselben Einrichtungen verwaltet werden sollten. Dieser Vorstoß beinhaltet nicht mehr oder weniger als die Konzeption eines selbständigen neuen Versicherungszweiges. Mag dieser Vorstoß auch zunächst ohne nachvollziehbare Resonanz bleiben, so sind auf andere Gebiete der Arbeitslosenfrage bezogen durchaus gemeinsame Vorstöße der großen Gewerkschaftsrichtungen nachzuweisen, die ihrerseits wieder die Unternehmer und ihre Verbände in einen sozialpolitischen Zugzwang bringen.1021 Die KPD lehnt den Gesetzentwurf in der „Roten Fahne“ als arbeiterfeindlich ab und profiliert auch für dieses Teilstück der staatlichen Sozialpolitik ihre Vorstellungen von einer „proletarischen Sozialpolitik“. Äußerst kritisch stehen auch die Arbeitgeber und die politische Rechte dem Entwurf gegenüber. Aber nach dem Regierungsbeschluß geht es angesichts der politischen Verhältnisse immer weniger um das „Ob“ als vielmehr um das „Wie“ einer Arbeitslosenversicherung. Das gilt für die Arbeitgeber spätestens seit der Verfertigung der vertraulichen VDA-Denkschrift mit dem Titel „Stellungnahme zu den Grundfragen der Arbeitslosenversicherung“ zu Anfang des Jahres 1926. Die politische Situation läßt es den Arbeitgebern geraten erscheinen, für das anstehende Gesetzgebungsverfahren gerüstet zu sein. Die finanzielle Beteiligung von Reich und Ländern, deutlich reduzierte Leistungen, die Beibehaltung der Bedürftigkeitsprüfung, ein Abbau des Statusschutzes für Arbeitslose, eine Verschärfung der Sperrfristenregelung durch Aussteuerung bei fortgesetzter „Arbeitsunwilligkeit“, eine Verlängerung der Wartezeit, eine für alle Arbeitslosen geltende Pflichtarbeit sind einige Grundzüge ihres Konzepts, das nach Bekanntwerden harte Reaktionen der Gewerkschaften hervorruft.1022 Bemerkenswert ist auch die Reaktion des „Deutschen Städtetages“. Er stellt einen eigenen Gegenentwurf zur Diskussion,1023 um seine besonderen Interessen deutlich zu machen. Die Interessen sieht er insbesondere durch die im Entwurf deutlich werdende Zurückdrängung der kommunalen Selbstverwaltung bedroht. Auch soll eine Überwälzung der Kosten der Arbeitslosigkeit auf die Gemeinden durch Leistungsverbesserungen vermieden werden. Im Gegenzug ist der Städtetag durchaus bereit, die „öffentlichen Körperschaften“ wieder stärker an der Mittelaufbringung zu beteiligen. Der Entwurf der Regierung möchte

1020 Vgl. das Dokument 98 in: Kukuck, Horst-A., Schiffmann, Dieter (Bearb.): Die Gewerkschaften von der Stabilisierung...Halbband I...a.a.O.(=Anm. 285), 662 ff. 1021 Vgl.: Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 262 ff. 1022 Vgl. denselben, ebenda, 266 ff. Zu Reaktionen der Gewerkschaften vgl.: Die Arbeitslosenversicherung I und II. In: Gewerkschafts-Zeitung, 36(1926)9, 122 - 123, Heft 10, 129 - 130. 1023 Vgl.: Das Gesetz über die Arbeitslosenversicherung. In: Zeitschrift für Kommunalwirtschaft, 16(1926)2, Sp. 49 - 88.

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die Kosten überwiegend durch Beiträge decken. Der Reichshöchstsatz soll maximal nur 2 % des Grundlohnes ausmachen dürfen.1024 Vor diesem Hintergrund kommt es im „Vorläufigen Reichswirtschaftsrat“, dem der Entwurf am 15. September 1925 zur Begutachtung übersandt wird, zu ausgesprochen langwierigen Verhandlungen. Die fehlende Begründung des Entwurfs dient den Gegnern des Vorhabens als Argument für eine „Verschleppung“. Das endgültige Gutachten liegt erst mit dem Datum des 5. Oktober 1926 vor und geht „...unmittelbar darauf zusammen mit den mittlerweile im RAM erarbeiteten Abänderungsanträgen dem Reichsrat zu.“1025 Die Beschlüsse des Reichswirtschaftsrats erweisen sich als lückenhaft und in sozialpolitischer Hinsicht wenig zufriedenstellend. In der wichtigen Frage der Bemessung der Unterstützung kann kein Beschluß gefaßt werden. In anderen zentralen Fragen besteht zwischen den Abteilungen Dissenz.1026 Dennoch zeigen sich auch Formen der Annäherung zwischen den Vertretern von Arbeit und Kapital. Insbesondere ist auf die Bereitschaft der Arbeitgeber zu verweisen, auf eine generelle Bedürftigkeitsprüfung zu verzichten. Dies eröffnet einer „wirklichen“ Arbeitslosenversicherung eine größere Chance. Einige andere Streitfragen werden im Konsens oder durch Mehrheitsbeschluß „ausgeräumt“ bzw. entschieden. Chancenlos verläuft allerdings der Versuch der Freien Gewerkschaften hier ihre Vorstellung einer einheitlichen, körperschaftlichen Organisationsform durchzubringen.1027 Im Dezember 1926 beendet der Reichsrat in Konsultation mit der Reichsregierung in einem raschen und problemlosen Verfahren seine Arbeit am Entwurf.1028 Die entsprechende Fassung des Entwurfs wird sodann mit Datum vom 16. Dezember 1926 dem Reichstag vorgelegt.1029 Eine Besonderheit des Entwurfs ist die Einführung einer Krisenunterstützung, die überwiegend aus öffentlichen Mitteln finanziert werden soll. Sie geht auf einen vertraulichen Referentenentwurf des Reichsarbeitsministeriums vom 18. August 1926 zurück. Diese Unterstützung soll vor allem die schwer zu erlangenden und nur für eine relativ kurze Zeit vorgesehenen Versicherungsleistungen ergänzen.1030 Die Begleitumstände für eine 1024 Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Memelsdorff, F.: Die Träger der Arbeitslosenversicherung nach dem Entwurf eines Arbeitslosenversicherungsgesetzes und die Vorschläge des Deutschen Städtetages. In: Soziale Praxis, 36(1927)6, Sp. 134 - 137. 1025 Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 279; vgl. auch den „Bericht des Sozialpolitischen Ausschusses zu dem Entwurf eines Gesetzes über Arbeitslosenversicherung“. In: Verhandlungen des Reichstags. III. Wahlperiode. Band 413. Anlagen zu den Stenographischen Berichten. Berlin 1927, Drucksache Nr. 288, 207 ff. 1026 Vgl.: Die Arbeitslosenversicherung vor dem Vorläufigen Reichswirtschaftsrat. In: Soziale Praxis, 35(1926)42, Sp. 1068 - 1070. 1027 Lewek führt das begrenzte Einlenken der Arbeitgeber in Fragen der Arbeitslosenversicherung auf das Verhalten des Reichsarbeitsministeriums zurück, den Wünschen der Arbeitgeber weit entgegenzukommen sowie auf Uneinigkeiten im Arbeitgeberlager, wobei Paul Silverberg als Vertreter der (neuen) Wachstumsbranchen Chemie und Elektroindustrie für ein Fortschreiten auf sozialpolitischem Gebiet und für eine Kooperation mit der Sozialdemokratie plädiert habe; vgl.: Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 285. Zu Einschätzung und Resonanz der in einer Rede geäußerten Auffassungen vgl.: Weisbrod, Bernd: Schwerindustrie...a.a.O.(=Anm. 705), 246 ff. In diesem Zusammenhang sind sicher auch die geheimen Bestrebungen zur Wiederbelebung der Arbeitsgemeinschaft zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern erwähnenswert, die auf die Jahre 1925/26 zu datieren sind; vgl. dazu: Kukuck, Horst-A., Schiffmann, Dieter (Bearb.): Die Gewerkschaften von der Stabilisierung...Halbband I...a.a.O.(=Anm. 285), 656 (Dok. 95). Vgl. zur Behandlung der Organisationsvorstellungen der Freien Gewerkschaften im „Vorläufigen Reichswirtschaftsrat“: Das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. In: Gewerkschafts-Zeitung, 37(1927)29, 397 - 398, hier: 398. 1028 Näheres bei: Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(Anm. 10), 320 ff. 1029 Vgl. die Drucksache Nr. 2885 in: Verhandlungen des Reichstags. III. Wahlperiode 1924. Band 413...a.a.O.(=Anm. 1025). 1030 Ausführlich analysiert bei: Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 305 ff.

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Weiterarbeit am Entwurf sind jedoch ungünstig. Am 17. Dezember stürzt das dritte Kabinett unter Reichskanzler Wilhelm Marx (Zentrum), eine Minderheitsregierung. Zur eigentlichen „Geburtsstunde“ der Einführung der Arbeitslosenversicherung in Deutschland werden, nach dem Scheitern der Pläne für eine große Koalition unter Einschluß der SPD, koalitionspolitische Abmachungen, die das Zentrum gegen die Rechtsparteien durchsetzt, mit denen es sich nach einer tiefen Regierungskrise vom 29. Januar 1927 bis zum 29. Juni 1928 zu einer Bürgerblockregierung zusammenbindet. Die Verabschiedung einer Versicherung gegen Arbeitslosigkeit auf der Grundlage der Entwürfe der Regierung wird als dringliche Aufgabe festgeschrieben. Der Einfluß des linken Flügels des Zentrums und der christlichen Gewerkschaften ist so groß, daß das „Sozialpolitische Manifest“ des Zentrums vom Januar 1927 „...eng mit den sozialpolitischen Richtlinien der künftigen Regierungspolitik korrespondierte, auf die das Zentrum, DVP und DNVP zeitgleich hatte verbindlich festlegen können.“1031 Das wiederum hat unmittelbar mit der entscheidenden koalitionspolitischen Bedeutung des linken Flügels des Zentrums zu tun. Ein Veto dieser Kräfte gegen irgendeine Vereinbarung unter den Koalitionsparteien hätte das Ende des Kabinetts bedeutet. Die „Rechte“ zahlt insofern einen erheblichen Preis für die Teilhabe an der Macht und für die Durchsetzung spezifisch bürgerlicher Interessen. Die starke Stellung dieser Parlamentarier, die in dieser Entwicklungsphase der Republik unentbehrlich sind, äußert sich auch in der Regierungserklärung vom 3. Februar 1927, die einen „gewaltigen“ sozialpolitischen Teil enthält.1032 Diese Koalitionsabsprachen, der Rückgang der Arbeitslosigkeit nach der Krise 1925/26 und die Nähe des sozialpolitischen Wollens des linken Zentrumsflügels zur SPD und zu den sozialdemokratischen Gewerkschaften öffnen im Jahr 1927 die Tür zu einer vorübergehenden breiten parlamentarischen Mehrheit und Mitarbeit in der „Arbeitslosenversicherungsfrage“.1033 Eine leichtfertig gegebene und aufrechterhaltene Zusage des Reichsfinanzministers der vorigen Regierung an die Länder und Gemeinden, diese mit Wirkung vom 1. April 1927 von den Kosten der unterstützenden Erwerbslosenfürsorge zu entlasten, beschleunigt einerseits die Beratungen im Reichsrat, führt jedoch andererseits absehbar zu einer fiskalischen Zwangslage des Reiches und setzt nunmehr auch den Reichstag unter erheblichen Handlungsdruck, „...in dieser Zwangssituation schien eine Nichtverabschiedung des Arbeitslosenversicherungsgesetzes undenkbar.“1034 Die erste Beratung über den als Drucksache Nr. 2885 vorliegenden „Entwurf eines Gesetzes über Arbeitslosenversicherung“ erfolgt am 7. und 8. Februar 1927. Reichsarbeitsminister Brauns betont vor diesem Hintergrund in seiner Einbringungsrede, daß auch er aus Gründen des Haushaltsplanes und des Finanzausgleichs die Verabschiedung zum 1. April 1927 dringend wünsche, möchte aber keine „absolute Garantie“ für diesen Termin übernehmen. Als verantwortlicher Ressortminister müsse er hinzufügen, daß er „...auf eine eingehende sachliche Prüfung des Entwurfs durch alle Parteien des Hauses den größten Wert lege.“1035 Alle Parteien, die zu dem Gesetzentwurf Stellung nehmen, mit Ausnahme der KPD, kündigen ihre positive Mitarbeit an. Der Sprecher der SPD äußert besonders viele 1031 Derselbe, ebenda, 291 f. 1032 Vgl. dazu als informierte Einschätzung: Heyde, Ludwig: 'Rechtsblock' und Sozialpolitik. In: Soziale Praxis, 36(1927)6, Sp. 138 - 142. 1033 Weitere Analysen bei: Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), insbesondere auch: 311 f. 1034 Ebenda, 328. 1035 Verhandlungen des Reichstags. III. Wahlperiode 1924. Band 392. Stenographische Berichte. Berlin 1927, 8898.

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Abänderungswünsche und kritisiert die „unzulänglichen Unterstützungssätze“. Der Vertreter der DNVP argumentiert sehr „wirtschaftsnah“ und erhebt zahlreiche Bedenken, zu denen auch wieder Vorwürfe der „Arbeitsscheu“ gegenüber den Beschäftigungslosen gehören, um dann doch zu resümieren: „Trotz der dargelegten schweren Bedenken begrüße ich dieses große und mutige Gesetzeswerk, den Schritt, der mit der Vorlegung des Gesetzentwurfes getan worden ist.“1036 Die auch im Zusammenhang mit diesem Gesetzgebungsvorhaben von interessierter Seite erhobene Forderung nach Ersatzkassen für Angestellte wird von ihm als prüfenswert angesehen.1037 Absonderungs- und Privilegierungsbestrebungen der Angestellten finden darüber hinaus Unterstützung durch den Sprecher der DVP1038 und DDP. Während die Unterstützungsleistungen, die auf einem Lohnklassensystem aufbauen, nicht nur von der SPD kritisiert werden, sondern auch von Sprechern anderer Parteien in spezifischer Weise als unzweckmäßig und unvollkommen angesprochen werden, bleibt es dem sozialpolitischen Sprecher der KPD, Siegfried Rädel, vorbehalten, den verteilungspolitischen Aspekt und die mangelhafte Höhe der Unterstützung zu skandalisieren und die Kritik ins Grundsätzliche zu vertiefen. Fast alle deutschen Arbeiterlöhne lägen unter dem Existenzminimum. Im Reichsetat seien die Ausgaben für die unterstützende Erwerbslosenfürsorge im Vorgriff auf die Arbeitslosenversicherung bereits um ein Drittel gekürzt. Das Ziel der Regierung sei die Abwälzung der Lasten der Erwerbslosigkeit. Der Gesetzentwurf sei einer der reaktionärsten der Nachkriegszeit. Es würden zwei Drittel der vorhandenen Erwerbslosen „...nach der von der Regierung herausgegebenen Statistik in ihren Unterstützungssätzen niedriger gestellt, als es gegenwärtig der Fall ist.“1039 Es handele sich bei der geplanten Staffelung der Unterstützung um einen Leistungsabbau für alle Erwerbslosen bis zur Lohnklasse V. Die Gesetzesvorlage sei mehr als nur eine „Schädigung der Arbeiterinteressen“. Es sei „...ein Verbrechen an der Gesellschaft, in solcher Zeit der Massenarbeitslosigkeit und der Massennot ein derartiges Gesetz auf die Tagesordnung zu stellen.“1040 Dem sozialdemokratischen Sprecher wirft er vor, den Boden der Beschlüsse der sozialistischen Internationale der Vorkriegszeit verlassen zu haben. Anschließend appelliert er an die „Werktätigen Deutschlands“ mit der KPD den Kampf zu führen: „Gegen die reaktionäre Versicherung, für ausreichende Erwerbslosenfürsorge.“1041 Auch der Einfluß der Arbeiter in den Organen wird als völlig unzureichend qualifiziert. Bedingt durch den „unparteiischen Vorsitzenden“, der ein Beamter, ein „aktiver Vertreter der kapitalistischen Interessen“ sei, sei die Mehrheit immer auf der Seite der „Kapitalisten“. Die eigentliche Arbeit an diesem Gesetzentwurf beginnt bereits am 9. Februar 1927 im „Sozialpolitischen Ausschuß“ des Reichstages. Dieser Ausschuß berät den Gesetzentwurf in zwei Durchgängen. Er absolviert nach den amtlichen Unterlagen 37 Sitzungen innerhalb von 5 Monaten „...und erledigte annähernd 1300 Abänderungsanträge.“1042 Im Ausschuß, der von der Regierung immer wieder zur Eile angehalten wird, versucht die SPD das Gesetz auf vielfältige Weise zu verbessern. Zu großer Konfusion kommt es in Fragen der Organisation. Bei erheblicher Beunruhigung der interessierten Fachöffentlichkeit1043 1036 Ebenda, 8908. 1037 Vgl. ebenda, 8909. 1038 Vgl. ebenda, 8924 f. 1039 Ebenda, 8914. 1040 Ebenda, 8915. 1041 Ebenda, 8916. 1042 Vgl.: Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 329. 1043 Vgl. z.B. die Beiträge des Jahres 1927 in der „Sozialen Praxis“.

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entsteht, wie es polemisch heißt, in der „Dunkelkammer des Sozialpolitischen Ausschusses“ die endgültige Organisationsstruktur der Träger der Arbeitsmarktpolitik. Sie entspricht den Grundzügen der freigewerkschaftlichen Vorschläge vom 26. April 1926. Ging es bis zu diesem Zeitpunkt bei dem Gesetzentwurf immer „nur“ um die Ausgestaltung einer Arbeitslosenversicherung, so geht es nunmehr auf der Grundlage eines Entwurfs des Reichsarbeitsministeriums, der am 16. März 1927 dem „Sozialpolitischen Ausschuß“ vorgelegt und als Antrag der Regierungsparteien eingebracht wird, um die Einbeziehung und Ausgestaltung der Arbeitsnachweise. Es wird sozusagen ein neues Arbeitsnachweisgesetz in den Entwurf eines Arbeitslosenversicherungsgesetzes „hineingeschoben“. Damit verändert sich auch der Titel des Gesetzentwurfs in „Entwurf eines Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung.“ Träger soll dementsprechend eine „Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“ werden. Ihr soll auch die öffentliche Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung obliegen. Die Reichsanstalt soll in eine Hauptstelle, Landesarbeitsämter und Arbeitsämter gegliedert werden. Damit werden die Arbeitsnachweise von der Gemeinde gelöst. Auch die Länder erleiden einen Funktionsverlust. Es entsteht ein neues, zentralistisches und abgegrenztes Stück öffentlicher Verwaltung. Die „öffentlichen Körperschaften“ sollen durch einen Einbezug in die Vertretungsorgane für ihren Einflußverlust entschädigt werden.1044 An der unnachgiebigen Haltung der SPD scheitert die Zulassung von Ersatzkassen für Angestellte im Rahmen der Arbeitslosenversicherung. Der Widerstand gegen eine Stärkung der rechten Angestelltenverbände durch die Zulassung einer besonderen, privilegierenden, mit den Rechtsverbänden und Rechtsparteien verknüpften Arbeitsmarktpolitik ist politischer Natur. In zahlreichen anderen Punkten kann die SPD jedoch ihre Vorstellungen nicht durchsetzen, so daß ansonsten in erheblichem Umfang „...für die konkrete Gestalt des Arbeitslosenversicherungsgesetzes von 1927 ... die Urheberschaft dem RAM und den Bürgerblockparteien ...“ zufällt.1045 Zu Beginn der zweiten Beratung, die am 4., 5. und 6. Juli 1927 im Reichstag stattfindet, will Siegfried Aufhäuser den Eindruck erwecken, daß sozialdemokratische Mitarbeit an der staatlichen Sozialpolitik unverzichtbar sei. Das Gesetz biete den eklatanten Beweis dafür, daß der Reichstag ohne die Sozialdemokratie außer Stande sei, „...echte Sozialpolitik zu machen.“1046 Die Stellung der Partei im Ausschuß sei eine starke gewesen und man habe „...diese starke Stellung benutzt, um das Gesetz sozial und gerecht auszubauen.“1047 Seiner Sichtweise wird von anderen Partei- bzw. Debattenrednern heftig widersprochen.1048 Von Seiten des Zentrums wird der Versuch zurückgewiesen, den Eindruck zu erwecken, daß die 1044 Vgl.: Verhandlungen des Reichstags. III. Wahlperiode 1924. Anlagen zu den Stenographischen Berichten. Band 417. Berlin 1927. Drucksache Nr. 3622, 11ff. und 281; vgl. auch: Die Verhandlungen über den organisatorischen Umbau der Arbeitsvermittlung und ihre Verschmelzung mit der Arbeitslosenversicherung...In: Soziale Praxis, 36(1927)11, Sp. 277 - 281; Der Entwurf für den organisatorischen Aufbau der Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. In: Ebenda, Heft 13, Sp. 318 - 320; umfassend auch: Führer, Karl Christian: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 1000), 259 ff., bes. 279 ff.; Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 331 ff.; Drießen, Martha: Die Entwicklung der Reichsarbeitsbehörden...a.a.O.(=Anm. 972), 101 ff.; Völlige Neuorganisation des öffAN geplant! In: Der öffentliche Arbeitsnachweis, 3(1926/27)12, Sp. 889 - 892. 1045 Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 356. 1046 Vgl.: Verhandlungen des Reichstags. III. Wahlperiode 1924. Band 393. Stenographische Berichte. Berlin 1927, 11250. 1047 Ebenda, 11251. 1048 Da Aufhäuser der Zeit seit 1918 einen erheblichen Stellenwert für die Entwicklung der staatlichen Sozialpolitik einräumt, bleibt es einem Abgeordneten der DNVP überlassen, auf die „kaiserlichen Botschaften zur Sozialpolitik“ als Ausgangspunkt zu verweisen; vgl. ebenda, 11257.

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Sozialpolitik mit der Bildung der bürgerlichen Regierung rückläufig gewesen sei und „...daß der ‘Bürgerblock’ die Krönung des Ganzen darstelle.“1049 Der Sprecher der KPD, Siegfried Rädel, kann auch dem veränderten Arbeitslosenversicherungsgesetz kaum eine positive Seite abgewinnen. Das Gesetz gilt ihm als Ausdruck der „Klassenpolitik der Bourgeoisie“. Drohend kündigt er für die Zukunft eine große Abrechnung an und meint: „Auch dieses Gesetz wird wie alle anderen Gesetze der Bourgeoisie dereinst im Feuer der Revolution verbrennen.“1050 Die gesellschaftliche und politische Polarisierung in der Weimarer Republik zeigt sich auch auf dem rechten Flügel des nicht in die Koalitionspolitik eingebundenen Parteienspektrums. Als Sprecher der im Reichstag noch völlig unbedeutenden NSDAP ist es der ehemalige Österreicher Franz Stöhr, der sich für Ersatzkassen einsetzt. Er weitet jedoch seine Argumentation auf die gesamte Innen- und Außenpolitik der Republik aus und sieht die Ursachen mangelnder Arbeitsgelegenheiten in der Auslieferung des größten Teils des „schaffenden deutschen Volkes“ an „unkontrollierbare kapitalistische Faktoren“, gibt den „Dawesiten“ und „Locanesen“, den „Erfüllungspolitikern“ die Schuld an der schlechten wirtschaftlichen Lage.1051 Der Redner der „Völkischen Arbeitsgemeinschaft“ geißelt ebenfalls die „Erfüllungspolitik“ und die Reparationen als Ursache der Schwierigkeiten der Arbeitsvermittlung und ergeht sich gegenüber einem sozialdemokratischen Abgeordneten in einem antisemitischen Ausfall. Anhand einer bestimmten Vorschrift, die den „Militäranwärtern“, d.h. den Inhabern eines Versorgungsscheines, kein Vorrecht bei der Stellenbesetzung einräumt, vermutet er, daß die Stellen im Apparat der Arbeitsmarktpolitik wahrscheinlich „irgendwelchen Gewerkschaftsbonzen“ offengehalten werden sollten.1052 Dieser Vorwurf sorgt für erhebliche Diskussion. Er hält den (anderen) Parteivertretern vor, es sei ihnen längst nachgewiesen, „...daß Sie nicht nur die Arbeiter, sondern das ganze deutsche Volk verraten haben.“1053 Nach weiterer kontroverser Beurteilung (auch) dieses sozialpolitischen Gesetzes geben sowohl die Fraktionen der KPD als auch der NSDAP Erklärungen ab. Die KPD lehnt darin, wie zu erwarten, das Gesetz grundsätzlich ab. Sie qualifiziert es als „Abbau der Sozialpolitik“ und bezieht sich wiederum auf die Vorkriegsbeschlußlage der internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung. Die NSDAP begrüßt die Einführung des Versicherungsprinzips für „...die schuldlosen Opfer falscher innen- und außenpolitischer Maßnahmen der Reichsregierung und des verfehlten Systems profitkapitalistischer Betriebsweise...“ Verschlechterungen der „materiellen Lage“ und keine Perspektive zum „Besseren“, parlamentarischer „Kuhhandel“, die Nichtzulassung von Ersatzkassen veranlassen diese Partei aber, ihre Ablehnung anzukündigen.1054 In namentlicher Abstimmung wird das AVAVG am 7. Juli 1927 mit 356 gegen 47 Stimmen bei 16 Enthaltungen angenommen. Enthalten haben sich neben einzelnen Parlamentariern der DNVP und solchen ohne Parteizugehörigkeit die gesamte „Völkische Arbeitsgemeinschaft“. Die KPD, die „Linken Kommunisten“, einige Vertreter der DNVP und die NSDAP stimmen gegen das Gesetz.1055 Das vom Reichstag verabschie1049 Ebenda, 11259. 1050 Ebenda, 11275. 1051 Vgl. ebenda, 11282 f. 1052 Vgl. ebenda, 11288. 1053 Ebenda, 11288. 1054 Vgl. ebenda, 11359. 1055 Vgl. ebenda, 11383; hier findet sich der Hinweis, daß bei 15 Enthaltungen 355 für und 47 gegen das Gesetz gestimmt haben. Möglicherweise sind diese Angaben später korrigiert worden. Die oben zitierten leicht abwei-

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dete AVAVG vom 16. Juli 1927,1056 das zum 1. Oktober 1927 in Kraft tritt, umfaßt 275 Paragraphen. Der Aufbau des neuen Versicherungszweiges erfolgt nicht ohne Konflikte. Nicht immer mit Rücksicht auf die politischen Grenzen der Länder und Provinzen werden durch Beschluß des Vorläufigen Vorstandes vom 2. und 4. November 1927 an die Stelle der 22 Landesämter für Arbeitsvermittlung nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten gestaltete 13 Landesarbeitsämter gesetzt. Durch Beschluß des Vorstandes der Reichsanstalt vom 24. Mai 1928 werden, ebenfalls ohne die jeweiligen Gemeindegrenzen als zwingend zu akzeptieren, die 885 öffentlichen Arbeitsnachweise zu zunächst 363 Arbeitsämtern umgestaltet.1057 Die Organe werden gebildet. „Als Präsident ist im völligen Einvernehmen mit den Vertretern des ADGB. der bisherige Präsident der früheren Reichsarbeitsverwaltung, Dr. S yrup, bestellt worden.“1058 Die personelle Besetzung der Behörden führt tatsächlich zu einem Kampf um die neuen Stellen. Fragen der Übernahme der Gebäude, Einrichtungen und Unterlagen und der Einbau des Personals der früheren Aufgabenträger müssen geregelt werden.1059 Als die Reichsanstalt „... im Oktober 1928 ihr einjähriges Bestehen feiern konnte, war der Neubau in den wesentlichen Zügen vollendet.“1060 Der Kreis der Pflichtversicherten entspricht dem Kreis der in der Kranken- und Angestelltenversicherung versicherten Personen, hinzu kommen Schiffsbesatzungen. Ausnahmen bestehen insbesondere für die Land- und Forstwirtschaft (§§ 69 ff.). Die Sperrzeit bei unberechtigter Arbeitsaufgabe und bei Ablehnung einer „zumutbaren Arbeit“ beträgt vier Wochen (§ 90). Pflichtarbeit ist unter bestimmten Voraussetzungen für Arbeitslose unter 21 Jahren vorgesehen (§ 91). Durch Streik oder Aussperrung arbeitslos gewordene Arbeitnehmer erhalten keine Arbeitslosenunterstützung (§ 94). Die Anwartschaftszeit ist beim Nachweis von 26 Wochen beitragspflichtiger Beschäftigung im Rahmen von 12 Monaten erfüllt. Die Wartezeit beträgt sieben Tage. Die Höchstdauer der Unterstützung beträgt 26, gegebenenfalls bis zu 39 Wochen (§ 99). Im § 101 wird für Zeiten „andauernd besonders ungünstiger Arbeitsmarktlage“ eine zu 4/5 vom Reich und zu 1/5 von den Gemeinden zu finanzierende Krisenunterstützung vorgesehen, die vom Reichsarbeitsminister gegebenenfalls eingeführt und ausgestaltet werden muß. Die „Krisenfürsorge“ findet sich statt dessen nicht mehr. Auch die Empfänger von Krisenunterstützung, die vor allem für Ausgesteuerte und für Personen gedacht ist, die einen Rechtsanspruch noch nicht erworben haben, können chende Zahlen finden sich bei: Das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. I. Ein Prinzip hat gesiegt. In: Gewerkschafts-Zeitung, 37(1927)29, 397 - 398, hier: 397; Berndt: Zur Verabschiedung des neuen Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. In: Die Reichsversicherung, 1(1927)7, 193 - 197, hier: 193 und in zahlreichen anderen zeitgnössischen Quellen. 1056 Vgl.: RGBl. I 1927, 187; vgl. als zuverlässigen Kommentar der ursprünglichen Gesetzesfassung: Weigert, Oscar (Bearb.): Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. Vom 16. Juli 1927. Berlin 1927. 1057 Vgl.: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 374 f.; vgl. ausführlicher: Erster Bericht der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung für die Zeit vom 1. Oktober 1927 bis zum 31. Dezember 1928. Beilage zum Reichsarbeitsblatt 1929 Nr. 6, 46 ff.; zur Gliederung der Arbeitsamtsbezirke die Anlage ebenda. 1058 Vgl.: Jahrbuch 1927...a.a.O.(=Anm. 609),72; vgl. auch: Jahrbuch 1928...a.a.O.(=Anm. 610), 69ff. 1059 Vgl. in diesem Zusammenhang z.B.: Syrup, (Friedrich): Zum 1. Oktober 1928. Zum Übertritt der Beamten und Angestellten der öffentlichen Arbeitsnachweise in die Reichsanstalt. In: Die Arbeitslosenversicherung, 5(1928/29)7, Sp. 319 - 322. 1060 Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 375; vgl. auch: Wunderlich, Frieda: Sozialpolitische Selbstverwaltung. In: Soziale Praxis, 37(1928)40, Sp. 945 - 948, sowie: Syrup, Friedrich: Die Deutsche Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung im ersten Jahr. In: Internationale Rundschau der Arbeit, 7(1929)1, 15 - 28, insbes. 15 - 17.

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zur Pflichtarbeit herangezogen werden. Die Höhe der Arbeitslosenunterstützung liegt tatsächlich für bestimmte, gering entlohnte Empfängerkreise unter den Sätzen der alten Erwerbslosenfürsorge und unter den Unterstützungsniveaus der Wohlfahrtspflege. „Insgesamt dürfte der Arbeitslose nicht selten das alte System zurückgewünscht haben.“1061 Ursprünglich sollten die Leistungen allerdings noch bedeutend niedriger ausfallen.1062 Die Krankenversicherung der Arbeitslosen gehört zu den Versicherungsleistungen. Aus Mitteln der Reichsanstalt sind auch die Anwartschaften in der Invaliden-, Angestellten- und knappschaftlichen Pensionsversicherung zu erhalten; in Härtefällen sind weitergehende Leistungen möglich.1063 Um den Preis des Verlusts der Arbeitslosenunterstützung sollen die Arbeitslosen gezwungen werden, sich mindestens dreimal pro Woche zur Überprüfung ihrer Anwartschaft persönlich zu melden (§ 173). In der Praxis wird häufig eine tägliche Meldung verlangt. Das vor allem führt schon bald zu den langen Schlangen von Hunderten, ja Tausenden Arbeitslosen vor und in den Arbeitsämtern, zu zermürbenden Wartezeiten, zur Massenabfertigung in den „Stempelstellen“, das bietet der Arbeitslosen- bzw. „Stempelstellenagitation“ Raum und Zeit, das nährt zusätzlich die Gefühle von Haß und Erniedrigung und trägt zur „aufreizenden Haltung“ der Arbeitslosen bei.1064 Das AVAVG kennt darüber hinaus eine Kurzarbeiterunterstützung, Notstandsarbeiten, berufliche Fortbildung, Umschulung, die Arbeitsvermittlung und einige weitere Mittel zur Verhütung oder Beendigung von Arbeitslosigkeit. Finanziert wird diese Arbeitsmarktpolitik aus Beiträgen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Der Reichshöchstsatz darf 3% des für die Bemessung maßgebenden Arbeitsentgelts nicht übersteigen. Diese Gelder sollen auch einen „Notstock“ speisen, der gegebenenfalls mindestens zur Unterstützung von 600.000 Arbeitslosen für drei Monate ausreichen soll (§§ 142 - 167). Falls alle Mittel erschöpft sind, hat der Arbeitsminister mit Zustimmung des Reichsministers der Finanzen Darlehen zu gewähren (§ 163).1065 Die geringen Leistungen und die erkennbar schwache finanzielle Ausstattung sind zweifellos ein hoher Preis, ohne dessen Entrichtung dieses Reformprojekt nicht durchsetzbar gewesen wäre. Da ohne große Phantasieanstrengung für den Fall einer schlechten Wirtschaftsentwicklung ein finanzielles Scheitern dieser Arbeitsmarktpolitik „erahnt“ werden kann, mag es erstaunlich sein, daß Zentrum und SPD (weiterhin) in besonders pointierter Weise darum wetteifern, das Gesetz ihrem jeweiligen Wirken zuzuschreiben. Der ADGB bemüht sich, das AVAVG als Konsequenz der nationalen gewerkschaftlichen Forderungsund Programmtradition sowie seines fortdauernden Kampfes darzustellen. Bei aller Kritik an Einzelpunkten ist doch von einem „eigenen Werk“, vom „Sieg eines Prinzips“, vom

1061 Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(Anm. 10), 387; vgl. auch die Tabellen ebenda, 429 ff.; vgl. die §§ 104 - 107 des AVAVG. 1062 Vgl. denselben, ebenda, 388. 1063 Vgl.: §§ 117 - 129 des AVAVG. 1064 In Stuttgart z.B. unterliegen im Februar 1930 5.000 bis 6.000 Arbeitslose der täglichen Meldefrist. Die langen, sich durch angrenzende Straßen ziehenden Schlangen der Arbeitslosen werden geradezu stilbildend für das Elend der Republik, das auch in der zeitgenössischen Literatur, im Theater, in der modernen Poesie, sogar auf Schallplatten seinen Niederschlag findet; vgl.: Uhlig, Otto: Arbeit - amtlich angeboten. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1970, 264 f. 1065 Vgl. als relativ instruktive Besprechung des AVAVG auch: Das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, 8(1927)8, 215 - 218.

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„Schlußstein der Sozialversicherung“ die Rede.1066 Zweifellos wird mit der Rolle der „wirtschaftlichen Vereinigungen“ und des „Vorläufigen Reichswirtschaftsrats“ bei der Besetzung der Organe, mit der besonderen Regelung der Angestellten- und Frauenvermittlung, mit der Anerkennung des modernen Arbeitsrechts im und durch das AVAVG noch einmal ein typisches, ein in die sozialpolitische Landschaft der Republik eingepaßtes Gesetz geschaffen. Dadurch, daß ein Arbeitsloser die Annahme untertariflich bezahlter Arbeit ohne Gefahr des Unterstützungsverlustes ablehnen kann, dadurch, daß untertariflich bezahlte Arbeit ohne Rechtsnachteile in der Versicherung aufgegeben werden kann, durch das Recht zur Ablehnung von Arbeit, die durch Arbeitskampf frei geworden ist, durch die Unterstützung selbst, auf die beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen ein Anspruch besteht, ist die Arbeitslosenversicherung zweifellos „...ein Schutzwall, eine Rückzugslinie der Arbeiterschaft geworden, die ihr den Widerstand gegen rücksichtslose Ausnutzung konjunktureller Rückschläge ermöglicht und somit eine wesentliche Ergänzung der auf gewerkschaftlicher Machtentfaltung und Solidarität beruhenden Widerstandsfähigkeit bildet.“1067 Die offizielle Auffassung, man dürfe in der Arbeitslosenversicherung, der Arbeitsvermittlung und Arbeitsbeschaffung „...mit Fug und Recht ein gut Stück ‘Lösung’ der sozialen Frage auf dem Boden der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung“ sehen1068 wird schon bald durch die Realität erschüttert. Bereits angesammelte Mittel der Erwerbslosenfürsorge in Höhe von 93,5 Millionen Reichsmark und eine Morgengabe des Reiches in Höhe von 50 Millionen Reichsmark führen dazu, daß die Reichsanstalt mit einem Vermögensbestand von 143,5 Millionen ihre Arbeit beginnt, Finanzmittel zu denen die laufenden Einnahmen fließen. Mit diesen Geldern gelingt es über den Winter 1927/28 hinweg zu kommen „..., aber doch so knapp, daß der Bestand der Hauptstelle am 1. Mai 1928, also am Ende der winterlichen Arbeitslosigkeit, nur noch 1,9 Millionen betrug.“1069 Mit der zurückgehenden Arbeitslosigkeit und den fortlaufenden und wachsenden Einnahmen gelingt es, nachdem die Reichsanstalt gerade an der Notwendigkeit eines Reichsdarlehens vorbeigeschrammt war, wieder ein Vermögen aufzubauen, so daß „...das neue Lebensjahr der Versicherung, also der 1. Oktober 1928, mit einem Vermögensstande von 89 Millionen RM erreicht wurde.“1070 Bereits mit der „Verordnung über Krisenunterstützung für Arbeitslose“ vom 28. September 19271071 wird die in § 101 des AVAVG vorgesehene, überwiegend vom Reich finanzierte Sonderfürsorge ausgestaltet. Eine aus Ersparnisgründen vom Verwaltungsrat der 1066 Vgl. z.B.: Das Gesetz über Arbeitsvermittlung...a.a.O.(=Anm. 1055), 397; Broecker, Bruno: Probleme der Arbeitslosenversicherung. In: Die Arbeit, (1928)10, 597 - 609; umfassend vgl.: Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 369 ff. 1067 Broeker, Bruno: Probleme...a.a.O.(=Anm. 1066), 598. 1068 So: Deutsche Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 405), 9. 1069 Vgl.: Fischer: Die Finanzprobleme der AlV. Die finanzielle Lage der Reichsanstalt und ihr Voranschlag für 1929. In: Die Arbeitslosenversicherung, 5(1928/29)12, Sp. 623 - 631, hier: Sp. 623. 1070 Vgl. die Begründung des „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“. In: Reichsarbeitsblatt I. Amtlicher Teil,(1929)24, 199 ff., hier: 206. 1071 Vgl.: RGBl. I 1927, 315; weitere wichtige auf die Krisenunterstützung bezogene Rechtsquellen sind die „Verordnung zur Ergänzung der Verordnung über Krisenunterstützung für Arbeitslose“ vom 23. März 1928 (RGBl. I 1928, 110), die „Verordnung über die Höchstdauer der Krisenunterstützung für ältere Arbeitslose“ vom 13. August 1928 und 27. August 1928 (RGBl. I 1928, 367, 373), die „Verordnung über die Prüfung der Bedürftigkeit bei der Krisenunterstützung für Arbeitslose“ vom 6. November 1928 (RGBl. I 1928, 385), die sehr restriktive „Verordnung über die Krisenfürsorge für Arbeitslose“ vom 11. Oktober 1930 (RGBl. I 1930, 463); vgl. zu näheren Einzelheiten: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 420 f. Bereits die Verordnung vom 28. September 1927 gilt als unzureichend; vgl.: Die neue Krisenfürsorge. In: Vorwärts, Nr. 238 vom 4.10.1927, 3.

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Reichsanstalt beschlossene „Verordnung über die Wartezeit für Arbeitslose“ vom 2. Dezember 19271072 soll zu einer Verlängerung der Wartezeit bei Arbeitnehmern der Saisonberufe, bei der sogenannten berufsüblichen Arbeitslosigkeit (z.B. in der Bauwirtschaft) führen, eine Form der Arbeitslosigkeit, die in Deutschland klimabedingt und aus Gründen der Beschäftigtenstruktur einen erheblichen Stellenwert hat. Zweifellos kommt die Reichsanstalt nur äußerst glimpflich und auf dem Polster des zugeschossenen Anfangsvermögens über ihr erstes Lebensjahr. Nur bei einer zunehmenden Besserung des Arbeitsmarktes hätte sie überhaupt eine realistische Chance gehabt, sich ganz überwiegend aus Beiträgen und eigenem Vermögen zu erhalten.1073 Mit ihrer erkennbar fahrlässigen Finanzausstattung geht die Reichsanstalt in den Winter 1928/29, der früh einsetzt, spät endet und fast die Form einer Naturkatastrophe annimmt. Dieser Winter führt zwangsläufig zu einer außergewöhnlichen Zunahme der Saisonarbeitslosigkeit. Nach Angaben der Freien Gewerkschaften steigt „...die Arbeitslosigkeit ihrer Mitglieder in der sogenannten Saisongruppe bis auf 68,1% im Februar 1929 gegenüber 30,1% im Februar 1928.“1074 Da die Verlängerung der Wartezeit bei den Saisonarbeitskräften nicht zu den gewünschten Einspareffekten geführt hat, wird nun durch das bis zum 30. September 1929 befristete „Gesetz über eine Sonderfürsorge bei berufsüblicher Arbeitslosigkeit“ vom 24. Dezember 19281075 ein weiteres Fürsorgeelement in das AVAVG eingeführt.1076 Vier Fünftel des Aufwandes trägt das Reich, ein Fünftel wird aus Beiträgen finanziert. Die beitragsfinanzierte Arbeitslosenunterstützung für berufsüblich Arbeitslose wird durch Verordnung vom 18. Dezember 1928 auf höchstens nur noch sechs Wochen beschränkt.1077 Auch diese Sparaktionen können das finanzielle Debakel der Reichsanstalt nicht verhindern, zumal sich nunmehr bald auch konjunkturelle „Abschwungserscheinungen“ nicht mehr übersehen lassen und auf dem Haushalt lasten. Bereits im Januar 1929 sind die Gelder der Reichsanstalt erschöpft und sie muß Darlehen des Reiches nach § 163 in Anspruch nehmen. Bis Ende Juni 1929 beansprucht sie 275 Millionen Reichsmark an Reichsdarlehen. Der Reichsanteil an den Kosten der Sonderfürsorge für die berufsübliche Arbeitslosigkeit beläuft sich auf insgesamt 105 Millionen Reichsmark. Das ist eine andere Dimension als die 28 Millionen, die im Gesetz vom 24. Dezember für das Haushaltsjahr 1928 vorgesehen sind. Hinzu kommen Mittel für die Krisenunterstützung.1078 Gleichzeitig wird jedem einsichtigen Beobachter deutlich, daß an eine Rückzahlung kaum zu denken ist,

1072 Vgl.: Reichsarbeitsblatt I. Amtlicher Teil, (1927)35, 548. 1073 So wäre die Reichsanstalt, bei gegebener Finanzausstattung, auch nicht annähernd in der Lage gewesen, die Arbeitsmarktprobleme der Jahre zwischen 1924 und 1927 durchgehend finanziell zu bewältigen; vgl. dazu die entsprechenden Berechnungen bei: Lewek, Peter: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 10), 394 ff. 1074 Weisbrod, Bernd: Die Krise der Arbeitslosenversicherung und der Bruch der Großen Koalition (1928 1930). In: Mommsen, Wolfgang J., Mock, Wolfgang (Hg.): Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates in Großbritannien und Deutschland 1850 - 1950. Stuttgart 1982, 196 - 212, hier: 202. 1075 Vgl.: RGBl. I 1929, 1. 1076 Ausführlich erläutert bei: Lehfeldt, Bernhard: Arbeitslosenunterstützung bei berufsüblicher Arbeitslosigkeit. In: Reichsarbeitsblatt. Teil II (Nichtamtlicher Teil), 9. (N.F.) (1929)1, 1 - 4. 1077 Vgl. die Verordnung und die Anordnung über berufsübliche Arbeitslosigkeit vom 18. Dezember 1928 im: Reichsarbeitsblatt I (Amtlicher Teil) (1928)36, 282 - 284, sowie die Ausführungsbestimmungen ebenda, 284 285. 1078 Vgl.: Wermel, Michael T., Urban, Roswitha: Arbeitslosenfürsorge und Arbeitslosenversicherung in Deutschland. Teil III. München 1949, 9.

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zumal nun auch die „Sockelarbeitslosigkeit“ gegenüber den Jahren 1927 und 1928 erheblich angestiegen ist.1079 Diese Entwicklung führt zu äußerst erregten und entsprechend demagogischen Debatten über die Arbeitslosenversicherung, die einen festen Platz in der damals ganz allgemein verschärften „Sozialstaatskritik“ einnehmen. Schwere Mißbräuche werden beklagt, die das inzwischen dem Sozialdemokraten Rudolf Wissell unterstehende Reichsarbeitsministerium allerdings im Gegensatz zu den geläufigen Vorwürfen sehr pointiert auf der Seite der Arbeitgeber ansiedelt. Nicht wenige Betriebe seien in den letzten Jahren dazu übergegangen, selbst einen kurzfristigen Rückgang der Beschäftigung auf die Arbeitslosenversicherung abzuwälzen, um die Selbstkosten so niedrig wie möglich zu halten.1080 Auch von mit dem Ziel der Leistungsausschöpfung begründeten Scheinarbeitsverhältnissen ist viel die Rede. Andere Kräfte sehen das Unheil auf der Seite der Arbeitslosen und sind von einer Zersetzung der Arbeitsmoral durch die neue Versicherung überzeugt. Die Arbeitgeber publizieren mit Datum vom 1. Mai 1929 in Form einer Denkschrift ihre drastischen Einsparvorschläge in Höhe von 400 bis 500 Millionen Reichsmark jährlich.1081 Die Angriffe auf die Arbeitslosenversicherung lösen naturgemäß heftigen Widerstand des ADGB und der anderen Gewerkschaften aus.1082 Der ADGB erwägt eine Beitragserhöhung von drei auf vier Prozent und eine Niederschlagung der Reichsdarlehen. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion erklärt sich zu einer notwendigen und „befristeten Beitragserhöhung“ bereit.1083 Auch das Zentrum ist unter bestimmten Bedingungen zu einer geringfügigen Beitragserhöhung bereit. Dem Gedanken einer Beitragserhöhung von drei auf vier Prozent neigt dementsprechend auch der sozialdemokratische Reichsarbeitsminister Wissell zu.1084 Eine solche Beitragserhöhung hätte übrigens die durch alle Sozialversicherungen (mit Ausnahme der Knappschaft) bedingte Gesamtbeitragshöhe von rund 15,5% auf 16,5% des versicherten Lohnes angehoben, wobei formal rund die Hälfte von den Arbeitgebern und die andere von den Arbeitnehmern zu zahlen gewesen wäre.1085 Den inzwischen in der „Großen Koalition“ offen ausgebrochenen Streit zwischen SPD und DVP um die Arbeitslosenversicherung dokumentierend, lehnt Reichswirtschaftsminister Curtius im Kreise der Ministerkollegen und auch in der Reichstagssitzung vom 5. Juni 1929 eine solche Erhöhung im Namen seiner Partei ab. Er beklagt, in Übereinstimmung mit den Unternehmerdenkschriften dieser Zeit, eine „Überspannung der Sozialpolitik“ und schwere Schäden für die Arbeitsmoral. Eine grundsätzliche Reform der Arbeitslosenversicherung könne auch den Kreis der Versicherungspflichtigen nicht unangetastet lassen.1086 1079 Anfang März 1929 unterstützt die Arbeitslosenversicherung 2,4 Millionen Arbeitslose, darunter nicht weniger als 1,3 Millionen Saisonarbeitslose; vgl. die Ausführungen Wissells: Verhandlungen des Reichstags. IV. Wahlperiode 1928. Band 424. Stenographische Berichte. Berlin 1929, 1694. 1080 Vgl.: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung...a.a.O.(=Anm. 1070), 205. Ein Erlaß des Präsidenten der Reichsanstalt vom 4. Mai 1929 versäumt es nicht, besonderes Gewicht auf die Kontrolle und den Zwang zur Annahme einer zumutbaren Arbeit für Arbeitslose zu legen; vgl.: Maßnahmen gegen ungerechtfertigte Inanspruchnahme der Arbeitslosenversicherung. In: Reichsarbeitsblatt. Teil I (Amtlicher Teil),9(1929)14, 93 - 97. 1081 Vgl.: Wermel, Michael T., Urban, Roswitha: Arbeitslosenfürsorge...Teil III...a.a.O.(=Anm. 1078), 11f. 1082 Arbeitslosenversicherung und Arbeitsmarktkrise. In: Gewerkschafts-Zeitung, 39(1929), 177 - 179. 1083 Vgl.: Kampf um die Arbeitslosenversicherung. In: Gewerkschafts-Zeitung, 39(1929), 281 - 282. 1084 Vgl.: Sanierung oder Abbau der Arbeitslosenversicherung. In: Gewerkschafts-Zeitung, 39(1929)24, 369 371, hier: 369; vgl. auch: Longerich, Peter: Deutschland...a.a.O.(=Anm. 574), 255. 1085 Vgl. dazu: Sozialaufwand und Reichshaushalt. In: Soziale Praxis, 38(1929), Sp. 1233 - 1241; 1257 - 1263, hier: 1234. 1086 Vgl.: Verhandlungen des Reichtags. IV. Wahlperiode 1928. Band 424. Stenographische Berichte. Berlin 1929, 2089.

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Eine Sachverständigenkommission wird eingesetzt und macht Vorschläge, zu denen auch eine befristete Beitragserhöhung um 1/2 Prozent gehört.1087 Eine besondere Brisanz und Dringlichkeit gewinnt die „Sanierung“ der Reichsanstalt zu dieser Zeit dadurch, daß sich das Reich in erheblichen Haushaltsschwierigkeiten befindet. Die Zahlungsfähigkeit kann nur mit Hilfe teilweise abenteuerlicher Mittelbeschaffungsverfahren sichergestellt werden. Zugleich fordert die Wirtschaft mit hoher Dringlichkeit neben Sozialbeitrags- auch Steuerentlastungen. Die Löhne gelten sowieso als viel zu hoch. Diese Fragen sind darüber hinaus mit außenpolitischen Entwicklungen, mit den Verhandlungen über den Young-Plan zur Neuregelung der Reparationszahlungen verknüpft.1088 Aus der tiefgehenden Kontroverse zwischen Arbeit und Kapital, deren Vertreter als „Fachminister“ in die Regierung und insbesondere über die Flügelparteien in das Parlament „inkorporiert“ sind, entwickelt sich nun in der Zeit der beginnenden Depression ein bedeutender politischer Kampf um ein Änderungsgesetz zum AVAVG. Im August 1929 wird nach erheblichen Auseinandersetzungen von der Regierung dem Reichsrat und dem „Sozialpolitischen Ausschuß“ des Reichstags ein „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“ vorgelegt.1089 Er sieht u.a. eine befristete Beitragserhöhung um 1/2 % vor. Auch im Reichsrat und Ausschuß kommt es zu Konflikten um die Alternativen Leistungsabbau bzw. Beitragserhöhung und „maßvolle“ Reform. Der gesamte Stoff der Gesetzesänderung wird schließlich in zwei Vorlagen geteilt und im Reichsrat angenommen.1090 Diese beiden Vorlagen werden am 18. September 1929 dem „Sozialpolitischen Ausschuß“ des Reichstags erneut unterbreitet. Dieser nimmt nur den Entwurf eines Änderungsgesetzes an und überläßt die Entscheidung über befristete Änderungen der Arbeitslosenversicherung, insbesondere über eine Beitragserhöhung, dem Reichstag. Angesichts der vielfältigen Problemverknüpfungen und Konflikte äußert sich der Reichsernährungs- und Landwirtschaftsminister im Rahmen einer Ministerbesprechung über die krisenhafte politische Lage und die Reform der Arbeitslosenversicherung: „Letzten Endes handele es sich jetzt um die endgültige Entscheidung im Kampf um die Republik.“1091 Zwei Tage nach dieser Feststellung, am 30. September 1929, beginnen die Beratungen im Reichstag. Sie werden am 1. und 3. Oktober fortgesetzt. Am 3. Oktober 1929 findet auch die Verabschiedung der einen Vorlage, des Änderungsgesetzes, im Reichstag statt. Die andere Vorlage, die u.a. eine Beitragserhöhung um 1/2 % vorsieht, wird teils in die verabschiedete Vorlage übernommen und ansonsten von Reichsarbeitsminister Wissell zurückgezogen. Für das „Änderungsgesetz“ werden 237 Stimmen abgegeben, dagegen 155. 40 Abgeordneten darunter die gesamte DVP enthalten sich der Stimme. Für die Gesetzesvorlage stimmen die Sozialdemokraten, das Zentrum, die DDP und die Bayerische Volkspartei. Dagegen stimmen (bei einer Enthaltung) die DNVP, die KPD, die NSDAP und die „Reichspartei des Deutschen Mittelstandes (Wirtschaftspartei)“.1092 Das Ergebnis dieses 1087 Vgl.: Wermel, Michael T., Urban, Roswitha: Arbeitslosenfürsorge... Teil III...a.a.O.(=Anm. 1078), 13 - 15. 1088 Vgl. zu den Haushalts- bzw. Kassenschwierigkeiten und zur Sicherstellung der Zahlungsfähigkeit des Reiches: Bachmann, Ursula: Reichskasse und öffentlicher Kredit in der Weimarer Republik 1924 - 1932. Frankfurt a.M. 1996, insbes. 127 ff.; vgl. insgesamt auch: Maurer, Ilse: Reichsfinanzen und Große Koalition. Bern, Frankfurt a.M. 1973 sowie in Kurzfassung: Longerich, Peter: Deutschland...a.a.O.(=Anm. 574), 255 f. 1089 Vgl. zu dem Entwurf: Reichsarbeitsblatt I (Amtlicher Teil) (1929)24, 199 - 220. 1090 Näheres bei: Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 30), 425 f. 1091 Vogt, Martin (Bearb.): Das Kabinett Müller II. Band 2. Boppard am Rhein 1970, 975. 1092 Zu den Beratungen vgl.: Verhandlungen des Reichstags. IV. Wahlperiode 1928. Band 426. Stenographische Berichte. Berlin 1930, 3122 ff., 3163 ff., 3228 ff.; die Stimmenthaltung der DVP ist dem Einsatz Gustav Strese-

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weitverzweigten und aspektreichen Konflikt- und Aushandlungsprozesses ist das „Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“ vom 12. Oktober 1929.1093 Die Beratung dieses Änderungsgesetzes bietet den Sprechern der Parteien Ende September und Anfang Oktober 1929 Gelegenheit zu heftigsten wechselseitigen Angriffen auf der Bühne des Parlaments. Insbesondere die Redebeiträge der KPD, der NSDAP aber auch der DVP dokumentieren nunmehr einen Zerfall, eine nicht mehr überbrückbare haßerfüllte Feindschaft untereinander und gegenüber der SPD. Die KPD beschwört den Kampf „Klasse gegen Klasse“ und gibt der Überzeugung Ausdruck, „....daß die Proletarier...Kämpfer sein werden, denen trotz der Sozialdemokratie der Sieg über den mörderischen Kapitalismus sicher ist.“1094 Der Sprecher der NSDAP führt sich als Interessenvertreter der Arbeitslosen und als Verteidiger der Verfassung auf. Es sei „...nicht das erstemal, daß wir Nationalsozialisten das Papier von Weimar, die Weimarer Verfassung, in Schutz nehmen müssen...“1095 Er wirft den Sozialdemokraten vor „...überall Büttel, Zuhälter und Einpeitscher der Kapitalisten gewesen...“ zu sein und fährt fort: „...Sie werden es bleiben bis zu Ihrem hoffentlich bald bevorstehenden unrühmlichen Ende.“1096 Am Ende dieser Entwicklung stehe nicht nur unerbittliche Abrechnung sondern auch „...ein neues sauberes Reich, unser Reich, ein großdeutsches Reich auf nationalistischer und sozialistischer Grundlage.“1097 Der Abgeordnete der DVP, der Bergwerksdirektor Adolf Hueck, spricht für Leistungskürzungen und gegen jede weitere Belastung des Kapitals. Seine Rede führt auf Seiten der KPD zur Drohung, die „Herren von der DVP“ würden den Tag noch erleben, wo die revolutionäre Arbeiterschaft sie auf Fürsorgeration setzen werde. Die Zeit werde einmal kommen, „...wo Unternehmerfrechheit, Unternehmerprovokation und Unternehmerbrutalität ihr Ende haben werden, und dann werden die Arbeiter mit Ihnen abrechnen...“1098 In der Sitzung vom 3. Oktober 1929, die zunächst unter dem Eindruck des Todes des Außenministers Gustav Stresemann steht, werden die Vorwürfe der KPD gegen die SPD um die Zuschreibung des „Sozialfaschismus“ ergänzt. Der Sprecher der DNVP schließlich sieht im Zusammenhang mit der Arbeitsmarktpolitik eine „Katastrophe eines Systems“, des „demokratischen Systems.“1099 Im Ergebnis löst das Änderungsgesetz vom 12. Oktober 1929 weder die Bestandsprobleme der Reichsanstalt noch jene des Reichsetats, es ist ein „Vertagungskompromiß“.1100 manns zu verdanken, der kurz vor seinem Tod den Bruch der großen Koalition noch einmal verhindert; vgl.: Weisbrod, Bernd: Die Krise der Arbeitslosenversicherung...a.a.O.(=Anm. 1074), 206 f. 1093 Vgl.: RGBl. I 1929, 153; mit Datum vom 12. Oktober 1929 wird das AVAVG neu gefaßt; vgl. ebenda, 162. 1094 Verhandlungen des Reichstags...a.a.O.(=Anm. 1092), 3147. 1095 Ebenda, 3176. 1096 Ebenda, 3179. 1097 Ebenda, 3180. 1098 Ebenda, 3207. 1099 Vgl. ebenda, 3139. 1100 Zur Beseitigung der „Mißbräuche“ und „Mißstände“ und zur Mitteleinsparung bzw. Einnahmeerhöhung werden vor allem folgende Änderungen vorgenommen: Die Definition des Begriffs „Arbeitslosigkeit“ wird genauer gefaßt, um Personen auszuschließen, für die das Gesetz „nicht gedacht“ ist, etwa: Selbständige, Handwerksmeister, Land- und Gastwirte, bestimmte Kategorien von verheirateten Frauen. Bestimmte geringfügige Beschäftigungen können nicht mehr zum Erwerb einer Anwartschaft führen. Zwischenmeister werden ebenfalls aus der Versicherung ausgeschlossen. Die Sperrfrist kann auf acht Wochen heraufgesetzt werden. Die Unterstützung der Saisonarbeiter wird herabgesetzt. Die Wartezeitregelungen werden mit dem Ziel der Mitteleinsparung verändert, die Kontrolle der Arbeitslosen wird verschärft, die Lehrlinge werden stärker zur Beitragszahlung herangezogen. Renten, Wartegelder und Ruhegehälter werden in gewissem Umfang auf die Arbeitslosenunterstützung angerechnet. Größere Ersparnisse soll die Herabsetzung der Beiträge zur Krankenversicherung bringen. Vgl.:

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Selbst nach einer vorsichtigen Schätzung vom Herbst 1929 bleibt in der Arbeitslosenversicherung eine Finanzierungslücke von 130 bis 180 Millionen Reichsmark für den Winter 1929/30.1101 Auch die auf der Basis von Parteiabsprachen am 3. Oktober vertagte, die schließlich bis zum 30. Juni 1930 befristete Erhöhung des Beitrages auf 3 ½ Prozent durch das Gesetz vom 27. Dezember 1929,1102 reicht erkennbar nicht aus. Hinzu kommt, daß die Sonderfürsorge für „berufsüblich Arbeitslose“ nun wieder im AVAVG geregelt ist und aus Beitragsmitteln bestritten werden muß, eine Bestimmung, die auf die Zeit bis zum 31. März 1931 befristet ist. Der Plan einer Zwangsanleihe der Angestellten- und Invalidenversicherung an die Reichsanstalt in Höhe von 200 Millionen Reichsmark wird zwischenzeitlich aufgeworfen, findet aber viel Kritik. Vorübergehend scheinen sich Finanzierungsmöglichkeiten durch den Young-Plan, der vergleichsweise „geringe“ Jahresraten bei den Reparationen festschreibt, und gegen den im Rahmen eines (fehlschlagenden) Volksentscheids heftigste Kampagnen geführt werden, zu ergeben. Doch auch die so „freiwerdenden“ Mittel können für diese Zwecke nicht mobilisiert werden. Jetzt fallen auch noch die Steuereinnahmen und der „Börsenkrach“ in New York, der „Schwarze Freitag“ vom 25. Oktober 1929 hat bereits den Beginn der Weltkrise signalisiert. So geht die Auseinandersetzung um die Finanzierung der Reichsanstalt zwangsläufig weiter. Während im Hintergrund bereits „Sondierungen“ des Reichspräsidenten von Hindenburg und seiner Berater stattfinden, die auf einen Bruch der Großen Koalition und die Installierung eines Rechtskabinetts unter Heinrich Brüning hinauslaufen, kann sich, womit die wenigsten Beobachter gerechnet haben, das Kabinett der Großen Koalition am 5. März 1930 auf Deckungsvorschläge für den Reichshaushalt 1930 einigen und am 12. März werden die Young-Gesetze mit Unterstützung der SPD angenommen.1103 Auf die Deckungsvorschläge für den Reichshaushalt, die eine Erhöhung der Industriebelastung, eine Verschiebung der Steuersenkungen und eine Ermächtigung zur Erhöhung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge auf 4 % umfassen, reagiert die unter dem starken Druck der Schwerindustrie stehende DVP mit einer glatten Ablehnung. Auch die Unternehmerverbände selbst legen Verwahrung ein. Insbesondere nach der Verabschiedung der Young-Gesetze mit Unterstützung der SPD, sinkt in diesen Kreisen die Neigung, diese Partei weiter an der Regierung zu beteiligen. Der sich nun entfaltende Interessenkampf, in den auch wieder von Hindenburg und seine „Umgebung“ einbezogen ist, führt ein weiteres Mal zu Kompromißbildungen in der Frage der Deckung des Haushalts und der damit zusammenhängenden „Konsolidierung“ der Reichsanstalt. Von besonderer Bedeutung wird ein aus den vorhergehenden Verhandlungen erwachsender Vorschlag, den der damalige Vorsitzende der Zentrumsfraktion, Heinrich Brüning, am 27. März 1930 einer Parteiführerbesprechung unterbreitet.1104 Dieser „BrüningKompromiß“ sieht für 1930 einen festen Zuschuß des Reichs in Höhe von 150 Millionen Reichsmark vor. Der Position der Wirtschaftsverbände und der DVP folgend, wird eine Beitragserhöhung über 3 ½ Prozent abgelehnt. Der Vorstand der Reichsanstalt soll durch entsprechende Maßnahmen Einnahmen und Ausgaben ausgleichen und gegebenenfalls der Lehfeldt, Bernhard: Die Reform der Arbeitslosenversicherung durch das Gesetz vom 12. Oktober 1929. In: Reichsarbeitsblatt, Teil II (Nichtamtlicher Teil), (9. Jahrg. (N.F.)(1929)30, 435 - 442. 1101 Vgl. denselben, ebenda, 442. 1102 Vgl.: RGBl. I 1929, 244. 1103 Vgl.: Winkler, Heinrich August: Weimar...a.a.O.(=Anm. 38), 366 ff. 1104 Vgl. das Dokument Nr. 487 bei: Vogt, Martin (Bearb.): Das Kabinett Müller II...Band 2...a.a.O.(=Anm. 1091), 1602 ff.; zur Reichsanstalt: 1604.

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Regierung Vorschläge für gesetzliche Änderungen machen. Erst wenn das alles im Falle einer „unvorhergesehenen Verschlechterung des Arbeitsmarktes“ zur Konsolidierung nicht mehr ausreichen sollte, soll eine Darlehensverpflichtung des Reiches eintreten „...jedoch nur mit der Maßgabe, daß entweder Leistungsbeschränkungen oder eine Erhöhung der Beiträge zur Deckung dieser Darlehen zu beschließen waren.“1105 In der Ministerbesprechung des gleichen Tages spricht sich „nur“ Arbeitsminister Wissell gegen den „BrüningKompromiß“ aus. Er halte es für fraglich, ob die Parteien dem Vorschlag zustimmen würden.1106 Die übrigen Minister, darunter auch Reichsfinanzminister Moldenhauer (DVP), stimmen zu. In dieser Situation vertagt Reichskanzler Hermann Müller die Sitzung auf 17 Uhr „...zwecks Stellungnahme zu den bis dahin erwarteten Entscheidungen der Fraktionen.“1107 Drei Fraktionen (Zentrum, DVP und DDP) stimmen dem „Gesamtprogramm zur Regelung der Finanzfragen“ ohne Vorbehalte zu. Die SPD lehnt unter dem Druck der Vertreter der Freien Gewerkschaften die vorgeschlagene Strategie der Sanierung der Arbeitslosenversicherung ab, stimmt ansonsten jedoch dem Gesamtprogramm zu. Die Bayerische Volkspartei lehnt das Gesamtprogramm ohne Ausnahme ab. Diese Vorgänge führen noch in der gleichen Sitzung zum Bruch der Großen Koalition, der letzten „...demokratischparlamentarisch gebildete(n) Regierung der Weimarer Republik“, ein ganz entscheidender Bruch „...in der Entwicklung des demokratischen Parlamentarismus in Deutschland.“1108

2.3 Resümee Die Eigenarten und die Entwicklungsrichtung der staatlichen Sozialpolitik in der Weimarer Republik werden schon in den ersten Tagen und Wochen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges festgelegt. Diese Zeit ist voller Dramatik. Die äußeren Formen und Funktionsträger des Bismarckschen Reiches, die historischen Gewalten, Kaiser, Bundesrat und Reichstag, die Bundesfürsten und Landtage sind hinweggefegt. Politische Streiks, Räte- und Sozialisierungsbewegungen, Übergriffe in Betrieben und Verwaltungen, „Stöße“ von außen und unten scheinen den inneren und äußeren Bestand Deutschlands in Frage zu stellen. Diese Revolutionserscheinungen rufen jedoch Abwehrreaktionen hervor und die Niederlage der Rätebewegung, das Versanden der Sozialisierung, die Wendung gegen eine „Diktatur des Proletariats“ in einem „Sowjetdeutschland“, der frühzeitige Übergang zu parlamentarischen Formen der politischen Herrschaftsausübung verweisen die Sozialpolitik auf den Weg der Reform und bestimmen ihre Reichweite und Gestalt. Diese nicht nur argumentativ und über entsprechende Organe sondern auch mit Hilfe von Gewaltanwendung ausgefochtenen „Richtungsentscheidungen“ beinhalten die Notwendigkeit, die „soziale Frage“ bzw. das 1105 Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm.30), 428. 1106 Vgl. das Dokument Nr. 488 bei: Vogt, Martin (Bearb.): Das Kabinett Müller II...Band 2...a.a.O.(=Anm. 1091), 1605 ff., hier: 1607. 1107 Ebenda, 1607. 1108 Timm, Helga: Die deutsche Sozialpolitik und der Bruch der Großen Koalition im März 1930. Düsseldorf 1952, 7; ausführlich zu diesen Vorgängen dieselbe, ebenda, 149 ff; eine ausführliche Darstellung auch bei: Winkler, Heinrich August: Der Schein der Normalität...a.a.O.(=Anm. 601), 736 ff., Vgl. auch die „Erklärung des ADGB-Bundesvorstandes zum Zerfall der Regierung der Großen Koalition“ vom 1. April 1930, die die Bedeutung der ADGB-Interventionen herunterspielt in: Kukuck, Horst-A., Schiffmann, Dieter (Bearb.): Die Gewerkschaften von der Stabilisierung bis zur Weltwirtschaftskrise 1924 - 1930. Halbband II. Köln 1986, 1439 (Dok. Nr. 254). In den Fußnoten zahlreiche Hinweise auf die unterschiedliche Einschätzung dieser für die Weimarer Republik , die deutsche und die Weltgeschichte so entscheidenden Situation.

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„proletarische Problem“ (G. Briefs) auf dem Boden der überkommenen in eine krisenhafte Bewegung geratenen kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung angehen zu müssen. Der von der „Linken“ angestrebte Umsturz und Neuaufbau der sozialen, ökonomischen und politischen Grundlagen Deutschlands, der unter anderem mit dem Argument angestrebt wird, die „soziale Frage“ sei konstitutiv mit der herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verbunden und nur durch die „Überwindung“ dieser Ordnung „lösbar“, kann und braucht zu dieser Zeit seine Tauglichkeit in Deutschland nicht erweisen. Mit dem Begriff des „Sozialismus“ verbundene, häufig diffuse und weitreichende Erwartungshaltungen werden in weitem Umfang nicht eingelöst. Sie entgehen damit auch der Gefahr, durch die Realitäten in einem verarmten Nachkriegsdeutschland enttäuscht zu werden. Vor diesem Hintergrund verharrt die staatliche Sozialpolitik der Weimarer Republik in den Bahnen der Kriegssozialpolitik und schöpft weiterhin auch aus dem „Schatz“ von Diskussionen und Institutionen, die ihre Wurzeln in der Kaiserzeit haben. Bereits in der noch „unklaren“ Situation der Revolutionsepoche erfolgen aus der Kriegssozialpolitik erwachsende wegweisende Entscheidungen auf dem Gebiet des kollektiven Arbeitsrechts, der Schlichtung und der betrieblichen Mitbestimmung. Diese setzen mit ihrer „arbeitsgemeinschaftlichen“ Struktur die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung voraus und modifizieren sie nicht unerheblich. Die Grundrichtung dieser in vorkonstitutionellen Rechtsquellen niedergelegten sozialpolitischen Ansätze wird durch Bestimmungen bestätigt, die in der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 ihren Platz finden. Die in ihr ebenfalls eingeschriebenen Artikel zur Sozialisierung und zu den Arbeiter- und Wirtschaftsräten haben mit den Zielen der radikalen Sozialisierungs- und Rätebewegung bereits nichts mehr zu tun. Der Räteaufbau der Verfassung bleibt in der Realität unvollendet. Eine gleichberechtigte Mitwirkung der abhängig Beschäftigten an der „wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte“ bleibt ein weitestgehend unerfülltes Versprechen. Ein daraus erwachsendes Drängen der Arbeiterbewegung, im wirtschaftlichen Kammerwesen mitverwaltend beteiligt zu werden, führt nicht zum Ziel. Ein bis ins Jahr 1920 hinein exorbitant hoher Anteil von „Verordnungen“ regulärer und vorübergehender Regierungs- und Verwaltungsstellen, dokumentiert den überaus großen Anteil der Reichsbürokratie an der Ausgestaltung des „demokratischen Sozialstaats.“ Nach der Beseitigung aller Provisorien ist es das Reichsarbeitsministerium, das aus dem Reichsamt des Innern ausgegliedert wird und das sich ausdifferenziert und organisatorisch ergänzt, welches gestaltend und/oder vorbereitend die Maßnahmen für die zahlreichen Opfergruppen von Krieg und Inflation und sonstige sozialpolitische Tätigkeitsgebiete bearbeitet. Dabei bilden die zeitgeschichtliche Situation, die in ihr wirkenden Kräfte, die beratende Tätigkeit der (bürgerlichen) Sozialreform und sodann die parlamentarische Rückbindung der Ministerialbürokratie wichtige Bedingungsfaktoren für die entsprechenden Politikergebnisse. Der mit der Verfassung vollzogene endgültige Übergang zum „demokratischparlamentarischen Volksstaat“, der alle Staatsbürger zum gleichen Stimmrecht beruft, ist zwar einerseits die Negation des Gedankens der Diktatur einer Minderheit und der „Lösung“ der sozialen Frage im Rahmen einer neuen „rein proletarischen Gesamtlösung“ und des „Obrigkeitsstaats“, in dem sich Regierung und Parlament noch relativ zusammenhangslos und fremd gegenüber standen und die Minister in ihrem staatsmännischen Dasein von einem „allerhöchsten Ratschluß“ abhängig sind, wenngleich Tendenzen zu einer gewissen

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„De-facto-Parlamentarisierung“ überdeutlich waren.1109 Andererseits räumt diese Ordnung den zur Sozialpolitik drängenden Kräften und Parteien großen Einfluß ein und führt zu einem erheblichen Gewicht dieses Politikfeldes.1110 Die Vielzahl der Parteien und ihre teilweise extrem gegensätzlichen Ideologien und Interessen führen zu den bekannten Schwierigkeiten der Koalitionsbildung und zu häufigen Koalitionskrisen. Diese Erscheinungen tragen auch dazu bei, daß kein Parlament für die normale Dauer einer Legislaturperiode amtiert. Dies nährt den Zweifel am parlamentarischen Regierungssystem, trägt zu Hohn und Spott, zur „Krisis der Demokratie“ bei. So wächst den „Mittelparteien“ eine überragende Bedeutung zu. Durch Koalitionen mit rechts oder links oder unter sich verbürgen sie eine gewisse Stetigkeit der (Sozial-)Politik. Sie verhindern, daß sich weder die Linke noch die Rechte vollkommen durchsetzen kann. Das Wesen einer solchen Koalitionspolitik ist der Kompromiß. Solange sich diese Mechanismen behaupten ergibt sich daraus so etwas wie eine „große Linie“ der staatlichen Sozialpolitik der Weimarer Republik. Diese Zusammenhänge spielen nicht nur für die verordnende Tätigkeit von Regierung und Ministerialbürokratie eine große Rolle, sie äußern sich auch gut sichtbar bei den Beratungen und der Verabschiedung der sozialpolitischen Parlamentsgesetze. Diese gehen, rein numerisch betrachtet, in ihrer Bedeutung schon in den späten 20er Jahren stark zurück und spielen in der großen Wirtschafts- und Existenzkrise der Republik aus noch darzustellenden Gründen keine Rolle mehr. Am Beispiel des Arbeitsgerichtsgesetzes von 1926 und des AVAVG von 1927 konnte zudem nachgewiesen werden, daß für bestimmte „konservative“ Maßnahmen der staatlichen Sozialpolitik Unterstützung jenseits der Koalition auch von der DNVP und der „Völkischen Arbeitsgemeinschaft“ und im Falle des AVAVG auch von einer oppositionellen SPD gewonnen werden konnte. In der Tatsache, daß sich bei solchen Vorgängen zwangsläufig ein System von Bündnissen und Kompromissen, von Absprachen und Rücksichtnahmen herausbildet, wurzelt ein großer Teil der „Verratsvorwürfe“ der KPD gegenüber der SPD. Dabei wird übersehen, daß in dem „klassengespaltenen“ Weimarer Parlament nur durch Kompromisse überhaupt Mehrheitsbeschlüsse zu erzielen sind, und daß die Kompromißlosigkeit den „Volksstaat“ gefährden muß. In diesem Rahmen ist besonders hervorzuheben, daß der sozialpolitische Kurs durch die politische Einflußnahme der Gewerkschaften auf das gegen Ende des Krieges entstehende Reichsarbeitsministerium bzw. „ihren“ Arbeitsminister und auf die ihnen nahestehenden Parteien besonders nachhaltig mitgeprägt wird. Dabei ist wiederum von großer Bedeutung, daß sich Mandatsträger der Christlichen Gewerkschaften bis weit in das rechte Parteienspektrum nachweisen lassen. Den Gewerkschaftsflügeln kommt mitunter eine hohe koalitionspolitische Bedeutung zu, was ihre Einflußmöglichkeiten enorm steigert.1111 Diese Einflußstrategien sehen sich einem ganzen Feld von entgegengesetzten und modifizierenden Interessen ausgesetzt. Auch diese Kräfte wirken teilweise von außen und/oder sind in Regierung und Parlament verkörpert. Vor dem Hintergrund dieser politisch-institutionellen 1109 Sehr instruktiv die kurzgefaßten Ausführungen bei: Möller, Horst: Weimar. Die unvollendete Demokratie. München 1987, 180 ff.; als lesenswerte Primärliteratur vgl.: Preuß, Hugo: Vom Obrigkeitsstaat zum Volksstaat. In: Anschütz, Gerhard u.a. (Hg.): Handbuch der Politik. Dritter Band. Die politische Neuordnung. Dritte Auflage. Berlin und Leipzig 1921, 16 - 26; Thoma, Richard: Sinn und Gestaltung des deutschen Parlamentarismus. In: Harms, Bernhard (Hg.): Recht und Staat im Neuen Deutschland. Berlin 1929, 98 - 126. 1110 Vgl. auch: Schmidt, Manfred G.: Sozialpolitik in Deutschland. Opladen 1998, 161 f. 1111 Vgl. dazu die Statistik und die Ausführungen bei: Thieringer, Rolf: Das Verhältnis der Gewerkschaften zu Staat und Parteien in der Weimarer Republik. Tübingen 1954 (Diss. phil.), 87 ff.

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Vorgaben und Interessenverflechtungen begleitet ein typisches Politikmuster die Erweiterung des sozialpolitischen Funktionskreises des Staates und wird bis in das Jahr 1930 auch nicht ernsthaft in Frage gestellt: Seit im Hilfsdienstgesetz von Dezember 1916 erstmals in der deutschen Geschichte in einem Reichsgesetz den „wirtschaftlichen Organisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer“ das Recht auf Repräsentation in staatlichen Organen eingeräumt worden ist, ist die paritätische Beteiligung von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden an der Umsetzung der staatlichen Sozialpolitik geltender, wenngleich umstrittener „Standard“. Während die staatliche Sozialpolitik insgesamt keineswegs republikanischen Ursprungs ist, ist die Verbändebeteiligung eng an den Aufstieg dieser Staatsform und an durchsetzungsstarke Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer gebunden. Das gilt auch für das kollektive Arbeitsrecht, das es vorübergehend erlaubt, einen Teil der sozialpolitischen Entwicklung von der staatlichen in die gesellschaftliche Sphäre zu verlegen. Dieser „Standard“, diese „große Linie“ der deutschen „demokratischen Sozialpolitik“ harmoniert zudem mit dem Programm und der Besetzung der Organe des Internationalen Arbeitsamtes in Genf, er ermöglicht eine Integration Deutschlands in die internationale sozialpolitische Entwicklung. Die paritätische Verbändebeteiligung bildet zudem einen Eckstein im Konzept der „Wirtschaftsdemokratie“, das Alternativen und Abweichungen von rein kapitalistischen Formen der Ökonomie als vorteilhaften, graduellen und erkämpften Fortschritt begrüßt und so die Vorstellung eines sinnerfüllten, zielgerichteten historischen Prozesses aus der Tradition des Denkens in der Arbeiterbewegung noch einmal skizziert. Durch die Verbändebeteiligung erfahren die für das Kaiserreich typischen sozialkonservativen (Arbeiter-)Schutz und „Fürsorgekonzepte“ in der staatlichen Sozialpolitik eine Modifikation und Ergänzung. Dieser Vorgang dokumentiert, daß die kaiserzeitlichen Machtstrukturen überwunden sind. Er macht auch deutlich, daß die zu Macht und Einfluß gekommenen Kräfte der Arbeiterbewegung, daß die ehemaligen „Reichsfeinde“ sich nicht unter Bruch der alten Gesellschaftsform an die Stelle der alten Mächte gesetzt haben. Als Ergebnis vielfältiger Entscheidungen und komplexer Auseinandersetzungsprozesse ist es vielmehr im politisch-administrativen System, beim Vollzug der Sozialpolitik und bei der Regelung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen zu einer Teilung der Macht, zu einer Mitwirkung und Mitregierung der Arbeiterbewegung gekommen. In bestimmten „bürgerlichen“ bzw. politischen Kreisen, bei den tatsächlich oder vermeintlich Benachteiligten dieser Entwicklung wird diese Mitwirkung jedoch nicht als begrüßenswerte Demokratisierung sondern als Gefährdung der Wirtschaft, als sozialer und politischer Degradationsprozeß empfunden. Die unter den damals geläufigen Begriffen des „sozialen Rechtsstaats“ oder der „sozialen Demokratie“ verfolgten oder propagierten Strategien der Ausweitung demokratischer Entscheidungsverfahren auf ehedem unpolitisch-autoritär geregelte Gesellschaftsbereiche, die auch im Konzept der „Wirtschaftsdemokratie“ deutlich werdenden aktivistischen und vom Objekt her entgrenzten Demokratieauffassungen werden als offenkundiger oder „schleichender“ Sozialismus verdammt und gefürchtet. Die Demokratie als Leitidee gesellschaftlicher Organisation und als Regierungssystem verfällt der Ablehnung. Die Beteiligung der Verbände erfüllt nunmehr alle Merkmale des „modernen“, die Verbände von Arbeit und Kapital einschließenden Korporatismus. Sie ist öffentlichrechtlich strukturiert und abgesichert. Die Verbände, namentlich die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände als gesellschaftliche Hauptorganisationen, haben das Recht sich gesellschaftlich frei zu konstituieren und zu entwickeln. Ihre Handlungsbereiche, ihre Mit-

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wirkungsmöglichkeiten sind jedoch überwiegend staatlich vorgegeben. Eine insgesamt detailreiche Verrechtlichung der „Lohnarbeit-Kapital-Beziehung“ und der Betriebsverfassung, der Handlungsbereiche der Organe des Sozialstaats, der Schlichtungs- und Arbeitsgerichtsinstanzen ist die Folge. Interessenvermittlung, sachverständige Entscheidungen und dadurch: sozialer Friede sind die Erwartungen der Befürworter dieser Konzeption. Der Vollzug der Sozialpolitik erfolgt nicht mehr staatlich-autoritär, oder unter Mitwirkung von Vertretern von Arbeit und Kapital, die nicht verbindlich von den Verbänden vorgeschlagen werden können, sondern in der Form der Teilhabe der Verbände an der Ausübung der sozialpolitischen Staatsgewalt. Die Durchdringung der Sozialverwaltung mit Vertretern der Verbände, die in den zentralen Verwaltungsstellen und Körperschaften der militärischen und zivilen Kriegswirtschaft begann, führt zu einem mitunter durch Konfrontation, häufig aber auch durch Kompromiß und Kooperation geprägten Einfluß auf den Vollzug der Sozialpolitik. Sie führt zu Empfehlungen, zu quasi-parlamentarischen Entscheidungen, Beschlüssen und auch zu einer ausgedehnten Normsetzung im Rahmen des geltenden staatlichen Sozialrechts. Diese Normsetzung tritt zu jener hinzu, die auf dem Gebiet der Gestaltung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen durch die Verbände erfolgt. Diese Normsetzung unterwirft unter bestimmten Bedingungen auch solche Arbeitgeber und Arbeitnehmer der Verbandsgewalt, die den Verbänden als Mitglieder nicht angehören. Die Verbände repräsentieren sozusagen die „Klassengesellschaft“ im Sozialstaat. Die in der Weimarer Republik beobachtbare Zunahme der (Sozial-)Staatstätigkeit entspricht nunmehr immer auch einer Zunahme der Funktionen der Verbände. Man wird dies als Demokratisierung der staatlichen Sozialpolitik bzw. als „demokratische Sozialpolitik“ bezeichnen insofern auch hier ein repräsentatives über Verbände vermitteltes Moment eingeführt worden ist. Dabei spielt bei der Besetzung der Organe sozialpolitischer Institutionen, nicht zuletzt als Folge einer allgemeinen Politisierung, die aus allen Wahlen in der Weimarer Republik einen dramatischen politischen Kampf machen möchte, das Prinzip des bloßen Vorschlags von Repräsentanten der „wirtschaftlichen Vereinigungen“ und der Ernennung durch Staatsbehörden eine bedeutsame Rolle. Im Rahmen dieses Politikmusters bezieht sich der Weimarer Staat in zwei Formen auf die beiden großen „organisierten Gemeinschaften“ mit teils gemeinsamer, teils entgegengesetzter aber im Idealfall kompromißfähiger Willensrichtung. Einerseits fördert er die Klassenorganisationen. Er läßt ihren Bestand zu, er sichert ihre Bedeutung und Attraktivität durch Vorschlagsrechte, durch das „Vertretungsmonopol“ bei den Arbeitsgerichten, durch die Einräumung eines Einflusses der Gewerkschaften auf die Betriebsräte, auf die Schlichtungsapparatur, durch die Unabdingbarkeit von Tarifverträgen. Zum anderen stellt er die Verbände umfassend in den Dienst des (Sozial-)Staats indem er sie zur Bildung von Staatsorganen der verschiedensten Art heranzieht. Darüber hinaus unterstützen die staatlichen Rechtsnormen eine kooperative Konzeption der jeweiligen Verbandspolitik. „Radikale“ Auffassungen können sich nicht auf normative Regelungen berufen. Sie sind nunmehr erkennbar illegitim oder illegal. Sie ziehen negative Konsequenzen etwa in Form von Schadensersatzpflichten nach sich. Die entsprechenden Rechtsnormen verschaffen der „Klassenkooperation“ auch Legitimation gegenüber widerstrebenden Mitgliedern. Sie sollen im Lichte sozialreformerischer Interpretationen „pädagogische“ Wirkung entfalten und zur Auflösung der Polarität des Verhältnisses von Arbeit und Kapitel beitragen.1112 1112 Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Kahn-Freund, Otto: Der Funktionswandel des Arbeitsrechts. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 67(1932), 146 - 174, hier: 153 ff.

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In viel größerem Ausmaß als es im Rahmen der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“ möglich war, ist den von der Rechtsordnung anerkannten Gewerkschaften der Weg zu einer Gestaltung der Existenzbedingungen der abhängig Beschäftigten in der kapitalistischen Industriegesellschaft eröffnet. Der Arbeitsvertrag verliert umfassend seine „Natur“ als ausschließlich „freie“ individuelle Privatvereinbarung. Die Macht des Unternehmers beim Vertragsabschluß und gegenüber den Arbeitnehmern im Betrieb nimmt einen immer noch weiten, aber weichenden Raum ein. Das staatliche und das kollektive Moment hat an Wichtigkeit gewonnen. Dem Prozeß der Verrechtlichung sind neue Felder erschlossen worden. Auf diese Weise äußert sich der „entindividualisierende“ Zug der gesamten „Sozialreform“ der Nachkriegszeit. Diese Sozialpolitik hat in der Arbeitswelt eine eigenartige „Gemengelage“ typisch werden lassen: eine Mischung von Fremd- und organisierter Mitbestimmung, von Legalisierung und Fesselung bestimmter Streikformen, von kollektiver Verhandlung und Konflikt, einen Dualismus von Tarifvertragssystem und sozialintegrativer Betriebsverfassung. Der Differenzierung auf der Seite der abhängig Beschäftigten wird durch die Zulassung der drei großen Gewerkschaftsrichtungen und durch eine besondere Repräsentation der Angestellten und die Fortsetzung einer spezifischen Angestelltensozialpolitik Rechnung getragen. Die „Geschlechterordnung“ wird durch einige frauenspezifische Vorschriften, die auf bestimmten Gebieten eine Mindestrepräsentation bzw. Mitarbeit von Frauen sicherstellen sollen, Beachtung geschenkt. Es handelt sich bei diesem grundlegenden (Sozial-) Politikmuster der Weimarer Republik, bei der „demokratischen Selbstverwaltung“ im Sozialstaat um eine tripartistische Organ- bzw. Institutionenbildung. Das System der Repräsentation der beiden sozialökonomischen Produzentengruppen im Sozialstaat kennt den staatlichen „Rahmen“, etwa in Form eines staatlichen Vorsitzenden, der Staatsaufsicht bzw. bestimmter Staatsbefugnisse. Es entsteht auf diese Weise auf sozialpolitischem Gebiet eine neuartige Staat-Verbände-Beziehung. Die paritätische Form der Mitwirkung beinhaltet dabei lediglich das Faktum einer gleichzahligen Repräsentation. Durch den staatlichen Vorsitzenden oder Richter oder andere Mechanismen hat keine „Klassenkraft“ ein zahlenmäßiges Übergewicht. Zustände der Nichteinigung oder der antagonistischen Konfrontation können staatlicherseits „überbrückt“ und „aufgelöst“ werden. Eine bemerkenswerte Ausnahme im Sinne einer Mehrheit der Versicherten findet sich bei bestimmten Krankenkassen. Im Falle einer pluralen Besetzung bestimmten Organe, wie dies häufig jenseits der Regulierung der „sozialen Frage“ im engeren Sinne der Fall ist (z.B. im Reichswirtschaftsrat, im Reichskohlenrat), befinden sich die Repräsentanten der Gewerkschaften, bei „rein bürgerlicher“ Orientierung der übrigen Organmitglieder, sogar in einer krassen Minderheits- und Außenseiterposition. Diese Formen der Anerkennung, der „Gleichberechtigung“ und des Einbaues der großen Verbände in den Sozialstaat stellen unter den gegebenen Verhältnissen einen gemeinsamen „Vorrat“ der Auffassungen in den drei großen Gewerkschaftsrichtungen, in der Ministerialbürokratie und bei den maßgebenden Kräften in den Parteien der parlamentarischen Koalitionsregierungen dar. Diese Gemeinsamkeiten waren auch schon Bestandteil der Politikentwicklung in der Kriegs- und Revolutionsphase, die ganz im Banne der Suche nach haltgebenden Kräften angesichts der „destruktiven“ Potentiale der damaligen Gesellschaft stand. Hiervon zu unterscheiden sind die im politischen Prozeß der Weimarer Republik deutlich werdenden, chancenlosen Konzepte einer „proletarischen Sozialpolitik“. Diese Kon-

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zeptionen der leitenden Kräfte der KPD zeichnen sich einmal durch Forderungen nach einem erheblich höheren und reichhaltigeren Leistungsniveau aus, die alle Handlungsspielräume und Sachzwänge negieren oder unbeachtet lassen. Die steigende Zahl der Sozialleistungsempfänger wird zudem nicht als Fortschritt begriffen. Sie dient häufig sogar als Illustration der Verelendungstheorie, wie sie sich im Kommunistischen Manifest von 1848 findet. Die in die Millionen gehenden Unterstützungsempfänger dienen mithin als lebender Beweis „...dass die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben... weil sie unfähig ist, ihren Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern...“1113 Die leitenden Funktionäre der kommunistischen Bewegung konzipieren alle staatliche Sozialpolitik darüber hinaus als „Klassenangelegenheit“, als zu erkämpfende, durch Staatsgesetze sanktionierte und ausgestaltete Bastionen ausschließlich „proletarischer“ Selbstverwaltung und Selbsthilfe im und gegen den Kapitalismus. Betriebsräte als Organe und Pioniere einer neuen Wirtschaftsordnung, als Planungs- und Lenkungsinstanzen der Produktion, die ausschließlich von Vertretern der abhängig Beschäftigten getragene Einheitssozialversicherung, die nur mit gewählten „Arbeiterrichtern“ besetzten Arbeitsgerichte mit Tribunalcharakter gegenüber der „Bourgeoisie“, eine vom „Proletariat“ getragene Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversorgung, finanziert von den „Besitzern von Produktionsmitteln“ und versehen mit harten Eingriffsrechten in die Dispositionsfreiheit der Betriebe und Verwaltungen, ein Tarifvertragsgeschehen, das nicht als Ziel sondern lediglich als „Etappe“ einer machtgreifenden Gewerkschaftsstrategie interpretiert wird, verweisen letztlich auf die revolutionäre Einbettung dieser Konzeptionen und in eine „neue Welt“ sozialer und wirtschaftlicher Erscheinungen. Sie sind Bestandteil der Klassenkampfstrategie als „kommunistische Antwort auf die soziale Frage“. Diese gipfelt in der Konzeption der Lösung der „sozialen Frage“ durch Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft mitsamt dem Lohnarbeitsverhältnis.1114 Solche Vorstellungen weisen für die nichtkommunistischen Kräfte in die Sphäre des „Unheimlichen“, des Unerprobten und Gefahrvollen, für viele auch in die Sphäre des abzulehnenden „Bolschewismus“. Die Praxis der paritätischen Beteiligung, die ja die bürgerliche Gesellschaft voraussetzt und die eben „nur“ Mitwirkung, nicht jedoch die Alleinherrschaft der Arbeiterbewegung beinhaltet, erscheint in dieser Perspektive als „Negation“ der „proletarischen Sozialpolitik“ und als „Verrat“ an den radikalen Machteroberungsstrategien. Deshalb existiert von dieser Seite auch keine Übereinstimmung mit dem Bürgertum in Bezug auf das Wirtschaftssystem und Konflikte werden im Lichte dieser Konzeption nicht primär um die Lohn- und Arbeitsbedingungen geführt, sondern mit dem Ziel der Vernichtung des Klassengegners. Von ambivalenter Wirkung ist, daß auch die Basis der unterstützenden staatlichen Sozialpolitik und der Arbeit und des Lebens der abhängig Beschäftigten, daß das Tarifvertragswesen, das nach Anfängen im Ersten Weltkrieg im Dezember 1918 seine juristische Gestalt findet, mit der Zeit eine ganz besondere tripartistische Grundlage bekommt. Einerseits ist ein autonom-paritätisches Konfliktregelungs- und Normsetzungsverfahren vorgesehen, gleichzeitig werden Schlichtungsmöglichkeiten stark betont und ausgebaut.1115 Als in dem von Ruhrkampf und Inflation geprägten Krisenjahr 1923 ein Kumulationspunkt eines 1113 Dieses Zitat aus dem „Kommunistischen Manifest“ findet sich im Schulungsmaterial und in der zahlreichen Broschürenliteratur der KPD; hier zitiert aus: SAPMO-BA. KPD-ZK. I 2/708/143, Bl. 73. 1114 Vgl.: Ruben, Peter: Die kommunistische Antwort auf die soziale Frage. In: Berliner Debatte INITIAL, 9(1998)1, 5 - 18. 1115 Vgl. die erhellenden Ausführungen bei: Müller-Jentsch, Walther: Soziologie der industriellen Beziehungen. Frankfurt a.M., New York 1986, 159 ff.

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„...jahrelangen Erosionsprozesses gewerkschaftlicher Macht- und Einflußpositionen...“ erreicht ist,1116 kommt es zu einem weitreichenden „staatlichen Patronat“ über diese Basisinstitution der modernen Gesellschaft und zu einer folgenschweren Politisierung der industriellen Beziehungen. Als sich schwerindustrielle Unternehmer unter Bruch gesetzlicher und tariflicher Bestimmungen zu einer einseitig-autoritären Durchsetzung einer längeren Arbeitszeit verständigen und damit ein Symbol der Revolution, den „Achtstundentag“ zerstören möchten, als die Gewerkschaften beinahe macht- und mittellos sind, reagiert die Reichsregierung auf der Grundlage eines Ermächtigungsgesetzes mit zwei umstrittenen Verordnungen, von denen die eine zwar einerseits den „Achtstundentag“ arg durchlöchert aber andererseits die Bedeutung des Tarifvertrags in diesem Zusammenhang betont und von denen die andere subsidiär die Möglichkeit der staatlichen Zwangsschlichtung eröffnet. Auf diese Weise wird an dieser Stelle ein der herrschenden Sozialreform fremdes Element staatlicher Lohnführung und Arbeitsgestaltung in die sozialpolitische Ordnung eingeführt. Zustände der Nichteinigung und Konfrontation können nunmehr auch auf dem Gebiet des Tarifgeschehens überbrückt werden. Dem Staat ist nunmehr unter bestimmten Umständen die Zuständigkeit für die Gestaltung der Lebenslage bedeutender Bevölkerungskreise zugewachsen und die „verantwortliche“ Wahrnehmung der tarifpolitischen Aufgaben durch die Verbände ist im Ergebnis nicht gefördert worden. Das zunächst ganz auf die autonomen Tarifparteien gebaute kollektive Arbeitsrecht hat dadurch eine entscheidende Änderung erfahren. Mit dem Rückgang der „Tarifwilligkeit“ tritt der Staat in den Vordergrund. Der verbindlich erklärte Schiedsspruch ist nicht mehr das Resultat von Verhandlung und Arbeitskampf sondert spiegelt die Ziele der staatlichen Sozialpolitik wider. Er hängt letztlich von politischen Machtfaktoren ab. Die Gestaltung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen wird gegebenenfalls aus der gesellschaftlichen in die politische Sphäre zurück verlegt. Dabei gilt der für verbindlich erklärte Schiedsspruch als Tarifvertrag. Das hat zur Folge, daß die Verbände während der Laufzeit des verbindlich erklärten Schiedsspruches der Friedenspflicht unterliegen und daß sie ihre Mitglieder zur Erfüllung des Schiedsspruches anzuhalten haben. Auf diese Weise bedient sich nunmehr der Staat der Verbände zur Durchführung seiner eigenen Lohn- und Arbeitspolitik. Das kollektive Prinzip wird schon durch diese Mechanismen unterhöhlt, bevor es durch Notverordnungen gegen Ende der Weimarer Republik aufgehoben wird. Die Rechtsordnung der Republik betrachtet den für verbindlich erklärten Schiedsspruch jedoch nicht als staatliche Regelung, bewehrt mit öffentlich-rechtlichen Sanktionen, sondern als „fingierten Vertrag“ mit der Folge, daß die Verbände mit ihrem Vermögen für die Beachtung und Durchführung haften müssen. Die Tarifvertragsparteien werden so in erheblichem Umfang zu mehr oder weniger widerwilligen Garanten und Instrumenten der Staatspolitik. Der Staat gibt der tarifverwaltenden und friedenssichernden Funktion der Verbände den Inhalt und die Frist vor. Durch diese Form der Sicherstellung des Tarifvertragswesens bleiben auch bei Kompromißunfähigkeit und Tarifunwilligkeit die zahlreichen Gesetze aus- und durchführbar, die auf tarifvertragliche Regelungen Bezug nehmen und die damit einen Tarifvertrag voraussetzen. In die Sozialpolitik ist hiermit für den „Ausnahmefall“ eine ganz entscheidende Reservemaßnahme eingebaut worden, vergleichbar etwa der Notstands-Funktion des Reichspräsidenten auf staatlich-politischer Ebene. Die sich in der Praxis der Zwangsschlichtung aus1116 Ruck, Michael: Von der Arbeitsgemeinschaft zum Zwangstarif. Die Freien Gewerkschaften im sozialen und politischen Kräftefeld der frühen Weimarer Republik. In: Matthias, Erich, Schönhoven, Klaus (Hg.): Solidarität und Menschenwürde. Bonn 1984, 133 - 152, hier: 133.

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drückende Aversion gegen den Klassenkonflikt wird gegen Ende der 1920er Jahre durch eine am Ideal des Betriebsfriedens ausgerichtete Rechtsprechung der Arbeitsgerichte und durch eine exzessive Allgemeinverbindlichkeitserklärung von solchen Tarifverträgen ergänzt, die nur eine kleine Minderheit betreffen.1117 „Zwangstarife“ und spektakuläre Aufkündigungen des autonom-paritätischen Interessenausgleichs, zu denen vor allem auch das Zerbrechen der Zentralarbeitsgemeinschaft im Januar 1924 und der sogenannte RuhreisenStreit im Spätherbst des Jahres 1928 gehören, geben einen tiefen Einblick in die unsicheren und wankenden Grundlagen des „demokratischen Sozialstaats.“ In drastischer Weise verdeutlichen schon die Jahre bis 1923, daß die staatliche Sozialpolitik und die Gewerkschaftsbewegung immer auch eine abhängige Größe des gewaltigen sozialökonomischen Entwicklungs- und Krisenprozesses sind. So sinkt mit dem Verlauf der Hyperinflation nicht nur die Macht der Gewerkschaften, auch die Kaufkraft der Geldleistungen des gesamten „Systems“ der staatlichen Sozialpolitik geht gegen Null, begleitet von der abstürzenden Kaufkraft der Löhne. Erst nach der Stabilisierung und nicht ernsthaft unterbrochen durch die kurze Stabilisierungs- und Rationalisierungskrise erlebt die Gewerkschaftsbewegung, erleben die Reallöhne und die Sozialleistungen erneut einen Aufschwung. Der nach 1924 einsetzende Konzentrations- und Wachstumsprozeß der Wirtschaft erreicht jedoch nicht mehr das stürmische Tempo der Entwicklung der Vorkriegszeit und beunruhigende Krisensymptome bleiben sichtbar. Sozialökonomische und politische „Turbulenzen“ führen dazu, daß die staatliche Sozialpolitik der Republik in manchem ein Torso bleibt und nicht systematisch ausgestaltet werden kann. Das betrifft nicht nur die sozialreformerisch konzipierte „Räteverfassung“, die im Aufbau nicht vollendet wird, obwohl ein Verfassungsauftrag vorliegt. Andere Gebiete erfahren eine lediglich „vorläufige“ Regelung. Dazu gehört das Tarifvertragswesen, das Schlichtungswesen, die Regelung der landwirtschaftlichen Arbeitsverhältnisse. Das Vorhaben eines umfassenden Arbeitsgesetzbuches kommt über Vorarbeiten nicht hinaus. Die Tatsache, daß diese „Sozialreform“ die alte gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung in modifizierter Form „gerettet“ und nicht „überwunden“ hat, macht sich bald auch auf der Ebene der machtpolitischen Grundlagen dieser Politik bemerkbar. Die unter den krisenanfälligen Koalitionsregierungen verabschiedeten Sozialgesetze, Verordnungen und anderen sozialpolitischen Maßnahmen bedingen Belastungs-, Begünstigungs- und Verteilungsformen, die aus Kreisen des Unternehmertums als völlig überzogen und untragbar aufgefaßt und kritisiert werden. Es setzt jener „Krieg der Denkschriften“ und jene maßlose Sozialstaatskritik ein, die insbesondere ab 1928 das sozialpolitische Klima verschärft. Vor diesem Hintergrund und unter dem Eindruck der Stimmenverluste bei den Reichstagswahlen von 1928 sowie der immer aggressiveren „Mobilmachung“ ihrer jeweiligen industriellen und mittelständischen Flügel, bewegen sich die Parteien der Mitte, das Zentrum, die BVP und die DDP nach rechts, gefolgt von der DVP.1118 So finden die Divergenzen, Antagonismen, die politischen Strömungen in der Gesellschaft und die sich verschiebenden Kräfteverhältnisse ihren Niederschlag in der Orientierung, Vielfalt und Zerklüftung der Parteien. Diese Entwicklung und andere Faktoren schwächen den gewerkschaftlichen Einfluß im demokratisch-parlamentarischen Raum.

1117 Vgl. insgesamt: Kahn-Freund, Otto: Der Funktionswandel...a.a.O.(=Anm. 1112), hier: 160 ff. 1118 Vgl. auch: Schiffmann, Dieter: Die Freien Gewerkschaften und das Scheitern der Regierung Müller 1930. In: Matthias, Erich, Schönhoven, Klaus (Hg.): Solidarität...a.a.O.(=Anm. 1116), 187 - 208, hier: 197.

Resümee

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An den Gang und den Entwicklungsstand der weiterhin kapitalistischen Wirtschaftsform nach dem Weltkrieg gebunden, verbindet sich der politische und sozialreformerische „Fortschritt“ dieser Epoche auch in den besten Jahren der Republik nur vorübergehend mit relativer Sicherheit und wirtschaftlicher Prosperität. Die damals und heute geläufige „Dialektik“ von Krise und abnehmender (sozial-)staatlicher Gestaltungsmacht bleibt bestehen. Gegen eine labile und vielfach „gestörte“ Bewegung der Ökonomie kann eine durchgreifende Verbesserung der Lebenslage der abhängig Beschäftigten und Sozialleistungsempfänger nicht durch die Betätigung der Sozialpolitik erzwungen werden. Noch mehr gilt dies für die bald anbrechende geradezu katastrophische Weltwirtschaftskrise. Einem wachsenden Elend steht ein „hilfloser“ Sozialstaat gegenüber. Als die Phase der „relativen Stabilität“ 1929/30 abrupt ihr Ende findet, eine dramatische Staatsfinanzkrise hinzutritt, bildet sich eine brisante und umfassende innere Krisensituation aus. Eine sozialpolitische Kontroverse bietet den Anlaß des Scheiterns der Fortsetzung des demokratischen Parlamentarismus. Es geht um die „Sanierung“ der Arbeitslosenversicherung. Diese „Sanierungsfrage“ ist allerdings nur ein Teilstück eines schon lange schwelenden politischen und gesellschaftlichen Kampfes um die Lohnhöhe, um die Bedingungen der Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie, um das Ausmaß der „Soziallast“, den Anteil der großen Gesellschaftsklassen am Sozialprodukt, um damit zusammenhängende Zoll- und Steuerfragen. Neben die „Unwilligkeit“ der Klassenorganisationen auf dem Felde der Tarifpolitik, die durch das Handeln der Schlichtungsbehörden „geheilt“ wird, tritt nunmehr die Koalitions- und Kooperationsunwilligkeit bestimmter Kreise in den bürgerlichen Parteien gegenüber der Sozialdemokratie. Diese Szenerie wird „ergänzt“ um eine in dieser Situation besonders gut nachvollziehbare Hinneigung der SPD zur Oppositionsrolle. Nun stößt die Parallelentwicklung von Demokratie und „demokratischer Sozialpolitik“ an ihre Grenzen. Es kündigt sich das Ende einer Entwicklung an, die im Ersten Weltkrieg begann, als der Staat sich unter dem Druck von Kriegsnotwendigkeiten, von „innerer Schwäche“ und äußerer Bedrohung gezwungen sah, die Mitarbeit der Arbeiterbewegung zu motivieren und sicher zu stellen und dafür mit Konzessionen an die sozialreformerische und demokratische Bewegung „bezahlte“.

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3 Die Krise der „alten“ und die Wegbereiter der „neuen Sozialpolitik“

„Das Tarifrecht hat an realem Wert gewaltig verloren, seitdem der Tariflohn unter staatlicher Förderung einen kaum mehr lebenssichernden Tiefstand erreicht hat. Das staatliche Schlichtungswesen ist seiner sozialen Funktion beraubt und zu einer Waffe gegen die Arbeiterschaft dort geworden, wo sie aus eigenen Kräften noch Widerstand zu leisten in der Lage wäre. Der wirtschaftliche Druck ... bedroht die freie Ausübung der Betriebsratsrechte. Die gesetzlichen Arbeitszeitbestimmungen sind durch die wirtschaftliche Entwicklung überholt ... Die Sozialversicherung erfüllt heute in wesentlichen Teilen ... weniger denn je die Aufgabe einer ausreichenden Versorgung. Die Arbeitslosenversicherung ist ... in ihren Leistungen selbst bereits dem Niveau der untersten Fürsorge angepaßt... Mit dieser Entwicklung einher ging die Zurückdrängung des Einflusses der Gewerkschaften in allen öffentlichen Funktionen.“1 „Es ist nicht Sache des Rassenhygienikers, in die politische Entwicklung als solche einzugreifen. Er muß sich damit begnügen, die Wege, welche zur Gesundung der Rasse führen, aufzuzeigen. Sie zu beschreiten ist Sache des Staatsmannes, auf den wir warten. Der Rassenhygieniker muß aber betonen: Die Frage der Erbqualität der kommenden Geschlechter ist hundertmal wichtiger als der Streit um Kapitalismus oder Sozialismus und tausendmal wichtiger als der um Schwarz-Weiß-Rot oder Schwarz-Rot-Gold.“2 „Sie (die Werksgemeinschaftsbewegung, E.R.) ist wirtschaftliche Selbsthilfe oder der Versuch einer wirtschaftlichen Selbsthilfe gegen den Kollektivismus, soweit dieser unmittelbar den Gang der Wirtschaft und ihren Erfolg bedroht, also gegen Sozialismus, Marxismus, Klassenkampf, Wirtschaftsdemokratie, Gewerkschaftsmonopolismus, Tarifschematismus, Proletarisierung, Arbeitssabotage, Minderleistung. Sie versucht, die soziale Frage vom Betriebe her aufzuwickeln, von der Betriebsverfassung, der Arbeitsordnung, Arbeitstechnik, Funktionengliederung, vor allem vom menschlichen Verhältnis zwischen Unternehmer und Arbeiter her. Sie versucht, das Mißtrauen der Arbeiterschaft oder ihrer Vertretungen durch ein H ö c h s t m a ß v o n a n g e w a n d t e m S o z i a l i d e a l i s m u s zu brechen und zu überwinden, die ‘Arbeiterseele dem Marxismus zu entreißen’ und so den Marxismus und seine Träger, die Gewerkschaften, aus dem praktischen Arbeitsleben auszuschalten.“3

3.1 Die Brüningsche Notverordnungspolitik Mit dem Bruch der Großen Koalition beginnt der Prozeß der Auflösung und Zerstörung der Republik. Zwei zentrale Krisenentwicklungen mit zahlreichen Nebenwirkungen und Erscheinungsformen beenden die Phase der „relativen Stabilität“ und haben bereits im Handeln der zweiten Regierung unter Reichskanzler Hermann Müller deutliche Spuren hinter1 Jahrbuch 1931 des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes. Berlin 1932, 85. 2 Lenz, Fritz: Menschliche Auslese und Rassenhygiene (Eugenik). Dritte, vermehrte und verbesserte Auflage. München 1931, 418 f. 3 Karrenbrock: Soziale Frage und ständische Ordnung. In: Ruhr und Rhein, 12(1931), 469 - 471, 486 - 489, hier: 469.

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lassen. Eine zunächst von den Zeitgenossen noch gar nicht angemessen deutbare wirtschaftliche Rezession wächst sich zu einer globalen, zu einer niederdrückenden, vorübergehend scheinbar unaufhaltsam-finalen Wirtschaftskrise aus. Darüber hinaus folgt auf die Demission der Großen Koalition ein Prozeß der Umformung des politischen Systems, der sich rasch zu einer offenen Staatskrise auswächst. Am Anfang des politischen Krisenprozesses steht die Beauftragung von Heinrich Brüning durch den Weltkriegsheroen und Reichspräsidenten von Hindenburg mit der Bildung einer neuen Regierung.4 Es läßt auf eine „gute“ Vorbereitung dieser Aktion schließen, daß es Brüning gelingt, innerhalb von zwei Tagen in allerdings nicht unproblematischen Verhandlungen ein neues Kabinett zu bilden.5 Mit Heinrich Brüning wird erstmals ein Vertreter der Kriegsgeneration Reichskanzler. Aus der Weltkriegszeit resultieren auch seine guten Kontakte zur Reichswehrführung, insbesondere zu Kurt von Schleicher, der im Oktober 1929 zum Chef des Ministeramts im Reichswehrministerium aufsteigt. Nach dem Krieg, den er im Militärdienst erlebt, wird Brüning Geschäftsführer des christlich-nationalen DGB. 1924 wird er in den Reichstag gewählt. Er macht sich einen Namen als Finanz- und Haushaltsexperte und wird 1929 Chef der Zentrumsfraktion. Er genießt als Mann ungebrochener obrigkeitsstaatlicher Tradition und mit seinen fachlichen und politischen Fähigkeiten des Vertrauens des Reichspräsidenten und seiner Umgebung. Er beginnt sein Amt mit der Zusage, gegebenenfalls mit Hilfe der Befugnisse des Reichspräsidenten, auf der Basis von Notstandsmaßnahmen nach Artikel 48 und mit dem Instrument der präsidialen Möglichkeit der Reichtagsauflösung gemäß Artikel 25 der Weimarer Reichsverfassung regieren zu können. Sein Kabinett, das am 30. März 1930 vor die Öffentlichkeit tritt und das mit einer Ministerbesprechung vom 31. März 1930 seine Tätigkeit beginnt, gehören Minister des Zentrums, der Wirtschaftspartei, der BVP, DDP und DVP an. Reichsarbeitsminister wird, als Nachfolger des Sozialdemokraten Rudolf Wissell, Adam Stegerwald. Dieser besitzt bereits Regierungserfahrung und ist als ehemaliger Vorsitzender des „Gesamtverbandes Christlicher Gewerkschaften“ und des DGB Brünings politischer Mentor gewesen. Er hat dieses Amt während der gesamten Dauer der Regierungszeit Brünings inne.6 Das vom Reichspräsidenten berufene bzw. ernannte Kabinett Brüning agiert im Reichstag auf unsicherer Grundlage. Es erreicht nicht die Tolerierung durch die DNVP und auch die Unterstützung durch die SPD ist zunächst, wie sich bei einem entsprechenden Gespräch zeigt, mit großer Unsicherheit behaftet.7 Auf dieser nach rechts und links ungesicherten Basis, vor dem Hintergrund eines jederzeit möglichen Mißtrauensvotums gemäß Artikel 54 der Reichsverfassung, tritt Brüning am 1. April 1930 dem Reichstag gegenüber. Er bezeichnet in der von ihm vorgetragenen „Erklärung der neuen Reichsregierung“ sein Kabinett als eine Regierung, die an keine Koalition gebunden sei und fügt hinzu: „Das Kabinett ist gebildet mit dem Zweck, die nach allgemeiner Auffassung für das Reich lebensnotwendigen Aufgaben in kürzester Frist zu 4 Vgl. zu diesen vielbeschriebenen Vorgängen die Quellen und die Einleitung bei: Koops, Tilman (Bearb.): Die Kabinette Brüning I u. II. Band 1. Boppard am Rhein 1982, XX ff. 5 So fordert der als „Reichsernährungsminister“ vorgesehene Abgeordnete und Präsident des „Reichslandbundes“ Martin Schiele, neben umfassenden Hilfen für die Landwirtschaft, auch die Beseitigung der Weimarer Koalition in Preußen unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Otto Braun. Eine Aufkündigung der Koalition in Preußen durch das Zentrum hätte den vollständigen Bruch mit der SPD bedeutet, was Brüning in dieser Situation nicht für opportun hält; vgl. denselben, ebenda, XX f. Im April tritt Schiele aus der DNVP aus. 6 Vgl. zu biographischen Daten und zeitgeschichtlichen Details aus spezifischer Sicht auch: Brüning, Heinrich: Memoiren 1918 - 1934. Stuttgart 1970. 7 Vgl. dazu: Huber, Ernst Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Band VII. Ausbau, Schutz und Untergang der Weimarer Republik. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1984, 751 f.

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lösen. Es wird der letzte Versuch sein, die Lösung mit diesem Reichstage durchzuführen.“8 Nach dieser Drohung skizziert er einige Grundrisse seines politischen Programms. Unter anderem kündigt er an: Sanierung der Finanz- und Kassenlage, Sanierung der Arbeitslosenversicherung, Steuersenkungen, Ausgabenersparnis, ein „Rettungswerk“ für die in „schwerstem Ringen um die Existenz kämpfende Landwirtschaft.“ Die Reichsregierung werde an diesen Vorstellungen und an ihrer schnellsten Umsetzung unter allen Umständen festhalten. Parteipolitische Erwägungen müßten in dieser Stunde in den Hintergrund treten.9 Die Drohung Brünings gegenüber dem Reichstag wird vom Sprecher der SPD am 2. April aufgegriffen.10 Die Voraussetzungen des Artikel 48, eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, sei keinesfalls gegeben. Brüning paktiere mit Kräften, deren Ziel die Diktatur sei. Im Namen der SPD wird der Regierung das Mißtrauen ausgesprochen, man wolle eine ruhige Fortentwicklung auf dem Boden der Verfassung.11 Reichskanzler Brüning betont am darauf folgenden Tag, der Artikel 48 solle nur angewendet werden, wenn die Regierung keine Hoffnung mehr habe, daß das Parlament und seine Parteien „ihre Mission“ erfüllten. Der neue Vorsitzende der DNVP, der ehemalige Großindustrielle und Herrscher über einen rechtslastigen Medienkonzern, Alfred Hugenberg, äußert ein „weitgehendes Mißtrauen“ gegenüber der Regierung und er begründet es „in erster Linie“ mit der „Aufrechterhaltung der Koalition mit dem Marxismus in Preußen“ und der Haltung gegenüber der „nationalen Rechten“. Die am 3. April 1930 zur Abstimmung gestellten Mißtrauensanträge der SPD und KPD scheitern jedoch. Die parlamentarische Szenerie erhält dadurch eine besondere Note, daß der Staatssekretär in der Reichskanzlei, Hermann Pünder, den Abgeordneten demonstrativ eine rote Mappe zeigt, die die vorbereitete Auflösungsorder des Reichspräsidenten enthält.12 Damit sind die Mechanismen bereits bezeichnet, die zu weiteren Etappen der Zerstörung der Demokratie führen werden. Nur noch unter Anwendung parlamentarischer Finessen und bei erneuter Drohung mit der Auflösung des Reichstags gelingt es der Regierung Brüning das angekündigte Agrarund Finanzprogramm durch den Reichstag zu bringen. Zu den in diesem Zusammenhang beschlossenen Gesetzen gehört das die Arbeitsmarktpolitik betreffende „Gesetz zur Vorbereitung der Finanzreform“ vom 28. April 1930.13 Dieses Gesetz zeigt nicht nur, in wie hohem Maße die Regierung Brüning die Probleme der Großen Koalition geerbt hat, es zeigt wie andere Maßnahmen auch, daß sie mit ihren Lösungsstrategien auch dort anknüpft. Die zunächst nur befristete Erhöhung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung auf 3 ½ % soll nun bis auf weiteres fortgelten. Das Reich soll, nach Erschöpfung aller Finanzreserven der Reichsanstalt, einen Reichszuschuß leisten. Für das Rechnungsjahr 1930 einen solchen in Höhe von 150 Millionen Reichsmark. Darüber hinaus sollen gegebenenfalls nach § 163 AVAVG Darlehen gewährt werden „...jedoch mit der Maßgabe, daß die Reichsregierung nach Prüfung weiterer Ersparnismöglichkeiten auf dem Wege der Gesetzgebung alsbald eine Gesetzesvorlage einzubringen hat, die entweder durch Erhöhung des Beitrags die Rückzahlung der Darlehen ermöglicht oder durch eine Reform des Gesetzes ... den Ausgleich zwischen Einnahmen und Ausgaben herstellt oder zur Deckung der für die Darlehen 8 Verhandlungen des Reichstags. IV. Wahlperiode 1928. Band 427. Stenographische Berichte. Berlin 1930, 4728. 9 Vgl. ebenda, 4730. 10 Vgl. ebenda, 4737 ff. 11 Vgl. ebenda, 4739. 12 Vgl. ebenda, 4769, 4772, 4773 sowie: Winkler, Heinrich August: Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933. Berlin, Bonn 1987, 127. 13 Vgl.: RGBl. I 1930, 145.

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aufzuwendenden Beträge dem Reiche die notwendigen Mittel zuführt.“14 Dem Notstock der Reichsanstalt sollen für das Rechnungsjahr 1930 50 Millionen Reichsmark aus einer „Industrieaufbringungsumlage“ sowie das 1.425 Millionen Reichsmark übersteigende Lohnsteueraufkommen bis zum Höchstbetrage von 30 Millionen Reichsmark zugeführt werden. Darüber hinaus wird ein gewaltiges Sparprogramm skizziert, um die Grundlage für eine Steuersenkung zu schaffen. Damit soll die von den Unternehmerverbänden schon lange angemahnte Kapitalbildung begünstigt und der gesunkene „Unternehmungswille“ ermutigt werden. Gleichzeitig mit der Verabschiedung dieses Gesetzes faßt der Reichstag eine Entschließung, nach der bis zum 1. Juli 1930 Vorkehrungen zur Herstellung des finanziellen Gleichgewichts der Arbeitslosenversicherung gefordert werden, „...falls es sich herausstellen sollte, daß die Durchschnittsziffer von 1,2 Millionen Arbeitslosen überschritten werden sollte.“15 Das Gesetz vom 28. April 1930 gehört zu den letzten sozialpolitischen Gesetzen, die bis in das Jahr 1945 überhaupt noch in einem parlamentarisch-demokratischen Verfahren zustande kommen. Gesetzesform und damit einhergehende parlamentarische Behandlung findet nur noch die vorübergehende Regelung und Entschädigung der gewerbsmäßigen Stellenvermittler.16 Bis auf eine später anzumerkende Ausnahme werden alle anderen sozialpolitischen Entscheidungen durch gesetzesausführende Verordnungen oder durch gesetzesvertretende Notverordnungen des Reiches getroffen. Diese werden ergänzt durch häufig in sehr konfliktreichen Verfahren zustande kommende Rechtsetzungsakte der Länder, Gemeinden, Gemeindeverbände und der Sozialleistungsträger selbst. Die Länder wiederum machen von der Möglichkeit Gebrauch, eigenständige Notverordnungen nach entsprechenden Vorschriften der Länderverfassungen zu erlassen. Im Rahmen der „normalen“ sozialpolitischen Verordnungsgebung fällt eine große Zahl von Rechtsquellen auf, die eine Befreiung von der Beitragspflicht zur Arbeitslosenversicherung für Untertagearbeiter und ihre Arbeitgeber im Steinkohlenbergbau beinhalten. Diese Befreiungen gehen auf eine Notverordnung vom 30. September 1931 zurück. Sie werden durch ausführende Verordnungen auf jeweils spezielle Bergbaugebiete erstreckt und in ihrer Geltungsdauer verlängert.17 Im Zuge dieser Entwicklung wird der Artikel 48 Absatz 2 der Reichsverfassung nicht mehr im Sinne und in der Tradition der Abwehr eines vorübergehenden Not- oder Gefahrenzustandes, etwa zur Bekämpfung von Unruhen, eingesetzt. Er wird, wie es die Sozialdemokratie bereits im April im Reichstag vermutet hat, immer mehr zu einer eigenständigen „Gesetzgebungsgrundlage“ der Präsidialkabinette.18 Dieser Artikel, der für die Entwicklung und vor allem: die Zerstörung des „demokratischen Sozialstaats“ von so großer Bedeutung ist, kann auch deshalb so exzessiv ausgelegt und angewendet werden, weil seine 14 Vgl. den § 4 des „Gesetzes zur Vorbereitung der Finanzreform“. 15 So: Wermel, Michael T., Urban, Roswitha: Arbeitslosenfürsorge und Arbeitslosenversicherung in Deutschland. Teil III. München 1949, 27. 16 Vgl. das „Gesetz über eine vorübergehende Regelung der gewerbsmäßigen Stellenvermittlung“ vom 19. Dezember 1930 (RGBl. I 1930, 629) und das „Gesetz über die Entschädigung der gewerbsmäßigen Stellenvermittler“ vom 25. März 1931 (RGBl. I 1931, 69). 17 Sie sollen den Bergbau von der Kostenseite her entlasten und seine Wettbewerbsfähigkeit sichern. Vgl. als Ausgangspunkt die „Zweite Verordnung über die Beilegung von Schlichtungsstreitigkeiten öffentlichen Interesses“ vom 30. September 1931 (RGBl. I 1931, 521). Einen Überblick über die zahlreichen sich daran anschließenden „Befreiungsverordnungen“ bietet die Chronologie der sozialpolitischen Rechtsquellen bei: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre Staatliche Sozialpolitik 1839 - 1939. Stuttgart 1957, 568 ff. 18 Vgl.: Boldt, Hans: Der Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung. In: Stürmer, Michael (Hg.): Die Weimarer Republik. 2., erweiterte Auflage. Königstein/Ts. 1985, 288 - 309, hier: 297 ff.

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Konkretisierung durch ein in dem Artikel 48 der Reichsverfassung selbst gefordertes Gesetz über den Entwurfstatus nie hinaus gekommen ist. Die entsprechenden Bemühungen, die das Militär stärker an die zivile Macht binden und die Machtfülle des Reichspräsidenten konkretisierend einschränken sollten, führten zu unüberwindbaren Widerständen eben dieser „negativ“ betroffenen Kräfte.19 Die sich bestenfalls noch hart an der Peripherie der Staatsverfassung bewegende Praxis der Entmachtung des Parlaments durch eine Inanspruchnahme des Artikel 48 wird dadurch erleichtert, daß dieser auch schon in den Jahren 1922 - 1924 zur Bekämpfung von „wirtschaftlichen Notständen“ im weiteren Sinne gedient hatte. In der Hand eines nunmehr offen antidemokratisch agierenden, politisch rechtsgerichteten Reichspräsidenten und vor dem Hintergrund sich verschiebender Kräfteverhältnisse eröffnet dieser „Notstandsartikel“ im Zusammenspiel mit anderen ebenfalls spezifisch interpretierten Verfassungsartikeln schon bald die Möglichkeit, dauerhaft auch ohne oder gegen ein Parlament zu regieren, „...welches als notwendig angesehene Gesetze ablehnte oder gem. Art. 48 Abs. 3 S. 2 WRV die Aufhebung von Notverordnungen verlangte.“20 Der Prozeß der Zerstörung der Demokratie und der „demokratischen Sozialpolitik“ durch ein Instrument, das einst dem Selbstschutz der Republik dienen sollte,21 die Gestalt, die Abfolge und der Inhalt der Notverordnungen wird wesentlich durch die konkrete Verlaufsform und Dimension der Weltwirtschaftskrise bestimmt. Hinzu treten Interessen, spezifische Ansichten und Ideologien, die vom wirtschaftlichen Niedergang nicht unbeeinflußt bleiben. Die umfassende Krisensituation mit ihren fallenden und bald schon negativ werdenden ökonomischen Kenngrößen, den sinkenden Einnahmen und steigenden Ausgabeverpflichtungen, verlangt darüber hinaus, ganz unabhängig von der Sinnhaftigkeit der getroffenen Maßnahmen, rasche politische Reaktionen. Das Jahr 1930 wird in Deutschland das erste ausgesprochene Krisenjahr mit fallender Produktion, fallenden Einkommen und dramatisch steigender Arbeitslosigkeit. Im Geschäftsleben breitet sich tiefe Hoffnungslosigkeit aus, Firmenzusammenbrüche und der Untergang selbständiger Existenzen häufen sich. Die landwirtschaftliche Krise kann durch das bald auf den Weg gebrachte „Rettungswerk“ der Regierung Brüning nicht abgewendet werden. Kapitalflucht, eine schwere Kreditkrise und eine damit zusammenhängende Bankenkrise im Jahre 1931 hinterlassen ihre Spuren. Bald zeigen die gesamtwirtschaftlichen Kennzahlen ein erschreckendes Ausmaß des wirtschaftlichen Niedergangs: „Verglichen mit 1928, dem letzten depressionsfreien Jahr, erreichten die Indices in jeweiligen Preisen 1932, d.h. etwa auf der Talsohle des deutschen Abschwunges, beim Volkseinkommen 62 % , bei den Bruttoanlageinvestitionen 30 %, beim Einzelhandelsumsatz 63 %, bei der industriellen Gesamtproduktion 61 %, bei der Produktionsmittelerzeugung 50 % und der Konsumgüterindustrie 78 %.“22 Die deut-

19 Ein regelrechtes, nicht durch interpretative Winkelzüge herbeigeführtes, ein an bestimmte Voraussetzungen gebundenes gesetzesvertretendes „Notverordnungsrecht“ ist der deutschen und ausländischen Verfassungstradition durchaus bekannt; vgl. dazu etwa: Arndt, Bruno: Die Notverordnungen nach dem Verfassungsrechte der modernen Staaten, vergleichend dargestellt. Berlin 1909 (Diss. jur.); die umstrittene „Notverordnungspraxis“ ab 1930 löst eine umfassende verfassungsjuristische und -politische Diskussion aus; vgl. als Primärquelle, die eine Erschließung dieses Schrifttums erlaubt: Anschütz, Gerhard: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. 14. Auflage. Berlin 1933 (Nachdruck: Darmstadt 1965), 267 ff.; vgl. als interessante, die Länderebene betonende Schrift: Dürre, Günter: Preußische Notverordnungen. Marburg 1934 (Diss. jur.). 20 Gusy, Christoph: Die Weimarer Reichsverfassung. Tübingen 1997, 108. 21 Vgl. denselben, ebenda, 109. 22 Hardach, Karl: Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Göttingen 1976, 51.

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schen Ausfuhren sinken zwischen 1928 und 1932 von 12,3 Milliarden auf 5,7 Milliarden Reichsmark.23 Die Regierung Brüning hält bis zu ihrem Ende am 30. Mai 1932 an ihrer schon beim Regierungsantritt skizzierten deflationären Spar- und Abbaupolitik fest. Sie begleitet und vertieft so die desaströse wirtschaftliche Entwicklung. Dabei verfolgt sie so etwas wie ein spezielles „Konzept“, eine ganz bestimmte Vorstellung von den Voraussetzungen einer wirtschaftlichen Gesundung im Rahmen der Weltwirtschaft ohne dieses Ziel je zu erreichen. Durch eine „planvolle“ Senkung der Arbeitslöhne und aller sonstigen Kosten soll der Anschluß an eine Reihe wichtiger Weltmarktpreise gesucht werden, um so zu einer Erweiterung des Exports zu kommen. Integraler Bestandteil einer solchen Strategie ist der Budgetausgleich durch Ausgabenersparnisse, denn eine Einnahmeerhöhung vor allem zu Lasten des Kapitals paßt nicht in dieses Bild. Dabei gehen die Träger dieses gewaltigen „Sanierungswerks“ und „Wirtschaftsexperiments“ davon aus, daß sich auf den Binnenmärkten ein niedriges Lohn- und Preisniveau einlebt und die Lebenshaltung der „Massen“ als Fundament der weitaus meisten Gewerbezweige erhalten bleibt. Dieser „...ganze Gedankengang ist in vielfältigen Variationen vom deutschen Unternehmertum seit Jahren verfochten worden.“24 Dieses fatale, im krassen Gegensatz zur „Kaufkraft-“ und Konjunkturtheorie der gemäßigten Arbeiterbewegung stehende Konzept,25 das mit seinen Konsequenzen die Organisationen der abhängig Beschäftigten fundamental schwächt, wird bald auch von gemäßigt sozialreformerischer und von wirtschaftswissenschaftlicher Seite kritisch kommentiert.26 Von Stufe zu Stufe fortschreitend bleiben nicht nur beinahe alle erhofften positiven wirtschaftlichen Wirkungen dieser Politik aus, sie trägt auch dazu bei, den Prozeß der politischen Radikalisierung zu vertiefen und zu beschleunigen. Dieses mit den sich in der Weltwirtschaftskrise herausbildenden „Sachzwängen“ und Kräfteverhältnissen in der Zielsetzung einigermaßen kompatible „Sanierungsprogramm“27 hat in erheblichem Maße die Widersprüche der kapitalistischen Produktion und Weltmarktorganisation vertieft und auf die Spitze getrieben. Panik, Ratlosigkeit und antikapitalistische Massenstimmungen breiten sich aus. Hinzu kommt, daß die Strategie, den Absatz bei ausgeglichenem Staatshaushalt und gesenkten Preisen und Löhnen ins Ausland zu drücken und vom Ausland her die Wirtschaft anzukurbeln, einen unübersehbaren „Schönheitsfehler“ hat: „Die Völker kapseln sich vollständig voneinander ab. Alle wollen verkaufen und 23 Vgl. denselben, ebenda, 51; eine leicht erreichbare Zusammenstellung wichtiger Zahlenreihen enthält: Petzina, Dietmar: Die deutsche Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit. Wiesbaden 1977, 169 ff. 24 Neues Jahr - Jahr der Entscheidung. In: Soziale Praxis, 40(1931)1, Sp. 1 - 11, hier: Sp. 7; insgesamt sind die Stimmen der „Wirtschaft“ zur Brüningschen Politik und zu bestimmten Maßnahmen im Detail vielgestaltig und wandelbar; vgl. dazu etwa: Kim, Hak-Ie: Industrie, Staat und Wirtschaftspolitik. Berlin 1997; Grübler, Michael: Die Spitzenverbände der Wirtschaft und das erste Kabinett Brüning. Düsseldorf 1982; vgl. in diesem Zusammenhang auch die Einleitung und Quellen bei: Maurer, Ilse, Wengst, Udo (Bearb.): Politik und Wirtschaft in der Krise 1930 - 1932. Quellen zur Ära Brüning. Erster und zweiter Teil. Düsseldorf 1980. 25 Von dieser Seite kommt bald die Forderung nach „aktiver Konjunkturpolitik“ und nach einem „Stop“ für den wirtschaftspolitischen „Wahnsinn“; vgl. z.B: Woytinsky, Wladimir: Die Flut des wirtschaftlichen Wahnsinns. In: Betriebsräte-Zeitschrift für die Funktionäre der Metallindustrie, (1930)25, 781 - 790; 26 Vgl. z.B. die Ausführungen und Anmerkungen bei: Grotkopp, Wilhelm: Die grosse Krise. Düsseldorf 1954, 11 ff. 27 Ob es eine realistische Handlungsalternative in dieser politischen Situation gegeben hat, ob eine rechtzeitige politische Lösung oder Abschwächung der Krise möglich gewesen wäre, kann hier nicht erörtert werden. Auch diese Fragen sind mit Blick auf die politischen Folgen dieser Deflationspolitik im Rahmen der „Borchardt Kontroverse“ der 80er Jahre diskutiert worden; vgl. dazu z.B. die in der Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“ im Jahr 1985 geführte Diskussion.

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niemand will kaufen. In Deutschland heißt es: ‘kauft deutsche Waren’, in England ‘kauft englische’ usw. Die Welt befindet sich in einem w ir ts ch af tlich en Kr iegs zus tand. Wir kehren ins Mittelalter zurück. D ie Man che s te r lehre is t endgü ltig to t. “ 28 Diese Beobachtung gibt schon einen Hinweis darauf, warum die Deflationspolitik krisenverschärfend und nicht krisenlösend wirkt. Der Welthandel ist insgesamt rückläufig, auch andere Länder deflationieren, die sinkende Preistendenz kann von Deutschland nur schwer eingeholt, geschweige denn überholt werden. Im Inland stellt sich der „Gleichklang“ von sinkenden Preisen und Löhnen nicht her. Von der erhofften Wirtschaftsbelebung durch die den Lohnsenkungen vorauseilenden Preissenkungen kann keine Rede sein.29 Es bleibt die sich in den gesamtwirtschaftlichen Indikatoren spiegelnde „Spirale nach unten.“30 In und an dieser politisch „regulierten“ und noch verstärkten Krise zerbrechen Zukunftsperspektiven und -hoffnungen, Lebensziele und Lebenssinn. Alte Parteipräferenzen vergehen, neue bilden sich aus. Die Legitimität der politischen Ordnung wird in Frage gestellt. Feindbilder haben Konjunktur, Verantwortlichkeiten werden je nach politischem Standort ganz unterschiedlich „dingfest“ gemacht. Vorhandene antidemokratische und autoritäre Dispositionen werden verstärkt. Ein reichhaltiges Weltbild- und Ideologieangebot erhält Zugkraft und Plausibilität. Propaganda und Gegenpropaganda, Gewalt und Gegengewalt auf den Straßen und in Sälen, eine erneute Verdichtung der Klassenkampfatmosphäre und vielfältige andere psychische, soziale und politische Folgen begleiten den Wirtschaftszerfall.31 Die vielfältigen Opfergruppen der Krise machen ihre Erfahrungen mit den zunehmend ohnmächtigen, überlasteten und bald „feindselig-restriktiv“ verfahrenden Institutionen der staatlichen Sozialpolitik. An ihnen wird, wie schon während der Inflation, das „eherne Gesetz“ vollzogen, daß der Sozialstaat immer dann, wenn er am dringendsten gebraucht wird, am wenigsten Schutz und Unterstützung bieten kann, weil er ja selbst in die sozialökonomische Krisen- und Zusammenbruchsdynamik eingebunden ist. Hervorstechendes Merkmal der frühen 30er Jahre und Krisenfaktor ersten Ranges für die staatliche Sozialpolitik ist die alle Annahmen und sozialpolitischen Kalkulationen zur Makulatur machende Entwicklung der Massenarbeitslosigkeit. Soweit amtliche Statistiken dieses Geschehen widerspiegeln können, ergibt sich das folgende Bild:

28 Ufermann, Paul: Das wirtschaftliche Chaos an der Jahreswende. In: Deutsche Krankenkasse, 19(1932)2, Sp. 44 - 56, hier: Sp. 55. 29 Vgl. als Beitrag, der die Risiken der Deflationspolitik gut abwägt: Bohnstedt, Werner: Lohnabbau, Preisabbau und Wirtschaftsbelebung. In: Soziale Praxis, 39(1930)25, Sp. 588 - 592. 30 So: Fischer, Wolfram: Deutsche Wirtschaftspolitik 1918 - 1945. 3., verbesserte Auflage. Opladen 1968, 45. 31 Vgl. zu den psychischen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise den immer noch lesenswerten Beitrag von: Vierhaus, Rudolf: Auswirkungen der Krise um 1930 in Deutschland. Beiträge zu einer historisch-psychologischen Analyse. In: Conze, Werner, Raupach, Hans (Hg.): Die Staats- und Wirtschaftskrise des Deutschen Reichs 1929/33. Stuttgart 1967, 155 - 175.

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Tabelle 1: Gemeldete Arbeitslose im Deutschen Reich 1928 - 1932 (in Millionen) Jahr 1928 1929 1930 1931 1932 Quelle:

Januar 1,862 2,850 3,218 4,887 6,042

April 1,128 1,712 2,787 4,358 5,739

Juli 1,012 1,251 2,765 3,990 5,392

Oktober 1,171 1,557 3,252 4,623 5,109

Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich. 57. Jahrgang 1938. Berlin 1938, 371. Zahlen vom Verfasser gerundet.

Die für die sozialpolitische Regierungstätigkeit und Gesetzgebung so relevanten Jahresdurchschnittszahlen der gemeldeten Arbeitslosen steigen von 1,679 Millionen im Jahre 1929 auf 3,0756 im Jahre 1930. 1931 sind bereits durchschnittlich 4,5197 Millionen Menschen arbeitslos. 1932 hat sich die Zahl auf 5,5755 Millionen erhöht. Dabei liegt die Bevölkerungszahl zur damaligen Zeit bei rund 65 Millionen Menschen.32 Die Not der Menschen ist ohne die dazu zu zählenden „unsichtbaren Arbeitslosen“ nicht ausreichend zu beziffern, eine Größe, die in unterschiedlicher Höhe berechnet wird und die es plausibel erscheinen läßt, daß im Jahre 1932 zeitweise eine „Spitzenarbeitslosigkeit“ von rund acht Millionen Menschen geherrscht hat.33 Auf dem Höhepunkt der offiziellen Arbeitslosigkeit während der Weltwirtschaftskrise, im Februar und März 1932, sind rund 45 % der Gewerkschaftsmitglieder ohne Arbeit, der Prozentsatz der Arbeitslosen unter sämtlichen gewerblichen Arbeitern dürfte zu diesem Zeitpunkt um die 40 % schwanken.34 Ebenso beachtlich wie bezeichnend ist die Zahl der Kurzarbeiter, die unter den Gewerkschaftsmitgliedern nach einem steilen Anstieg seit 1928 im Jahre 1931 die 20 % - Marke in allen beobachteten Branchen deutlich überschritten hat.35 Vor diesem Hintergrund vollzieht sich die Einbeziehung der Löhne und Gehälter in die Politik der Kosten- und Preis- sowie die Ausgabenbegrenzung in zweierlei Formen. Einmal im Rahmen von Tarifverhandlungen und Schlichtungsverfahren, die für spezifische Fälle schon bald eine rechtliche Änderung erfahren. Andererseits in Form von direkten Eingriffen in laufende Arbeitsverträge durch umfangreiche Notverordnungen. Der erste Weg der Absenkung der Löhne und Gehälter im Tarifgebäude wird schon bald nach der Ernennung der Regierung Brüning beschritten. Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist der Schiedsspruch von Oeynhausen, der das Gebiet von „Arbeit-Nordwest“ betrifft. Der Schiedsspruch vom 26. Mai 1930 beseitigt eine Akkordsicherungsklausel. Dieser Schiedsspruch wird, da er mit erheblichen Einkommensverlusten verbunden ist, von allen drei Gewerkschaftsrichtungen abgelehnt. Die Vertreter der Eisenindustrie jedoch möchten beim 32 Zahlen aus: Weller, Bernhard: Arbeitslosigkeit und Arbeitsrecht. Stuttgart 1969, 37; zur Entwicklung der Bevölkerungszahl: Statistisches Handbuch von Deutschland 1928 - 1944. München 1949, 18; zu ähnlichen Zahlen der jahresdurchschnittlichen Arbeitslosigkeit : ebenda, 484. 33 „Natürlich“ war und ist diese Zahl umstritten; vgl. zu weiteren Details: Homburg, Heidrun: Vom Arbeitslosen zum Zwangsarbeiter. In: Archiv für Sozialgeschichte, 25(1985), 251 - 298, hier: 255 f.; zahlreiches Material auch bei: Winkler, Heinrich August: Der Weg ... a.a.O.(=Anm. 12), 19 ff. 34 Vgl.: Jahrbuch 1931...a.a.O.(=Anm. 1), 29. 35 Vgl. zu diesen ebenfalls auf die Mitglieder der freien Gewerkschaften bezogenen Zahlen: ebenda, 34 ff.; weitere detaillierte Angaben bei: Winkler, Heinrich August: Der Weg...a.a.O.(=Anm. 12), 68 ff.

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Reichsarbeitsminister eine Verbindlichkeitserklärung erwirken. Nach der Zusicherung der Eisen- und Stahlindustriellen, eine Senkung der Preise für ihre Produkte vornehmen zu wollen, wird der Schiedsspruch am 10. Juni 1930 vom neuen Reichsarbeitsminister Stegerwald bei Vereinbarung einer Lohnsenkung in Höhe von 7,5 % für verbindlich erklärt. Es ist dies die erste Verbindlichkeitserklärung Stegerwalds überhaupt.36 Der Schiedsspruch, der einen Abbau übertariflicher Löhne mit einer letztlich nur schleppend und ungenügend verlaufenden Preissenkung verbindet, markiert für die abhängig Beschäftigten und ihre Gewerkschaften einen schmerzhaften und zerstörerischen Richtungswechsel in der Lohnpolitik und es ist absehbar, daß nach den übertariflichen Akkordlöhnen nun auch bald die Senkung der Tariflöhne zur Debatte stehen wird. Gegen Ende des Jahres 1930 kommt es aus Anlaß eines Tarifkonfliktes in der Berliner Metallindustrie zu einer entsprechenden Entscheidung. Am 8. November 1930 ergeht der Schiedsspruch eines prominent besetzten Schiedsgerichts, der im voraus von den Arbeitgebern und Arbeitnehmern als „endgültig“ akzeptiert worden ist. Der Schiedsspruch sieht bedeutende Senkungen der Tariflöhne vor. Damit haben die Arbeitgeber erstmals mit Hilfe des staatlichen Schlichtungswesens eine Tariflohnsenkung erzielt. Auch diese Lohnsenkung wird in den Zusammenhang einer Preissenkungsaktion gestellt.37 Langsam und nicht zuletzt auch unter der Wirkung des Oeynhausener Schiedsspruchs, werden ab Sommer 1930 die „nicht unbeträchtlichen“ übertariflichen Löhne auf das Tarifmaß gesenkt. Das geschieht außerhalb der Schlichtung und weitgehend unbemerkt von der öffentlichen Meinung.38 Zu einer Veränderung des Schlichtungsverfahrens kommt es, als Ende Dezember 1930 Schlichtungsverhandlungen im Ruhrbergbau ergebnislos abgebrochen werden und es zu einem spektakulären, blutigen kommunistisch geführten Streik kommt. Da unter diesen Bedingungen die Staatsautorität im Schlichtungsverfahren zu versagen droht, ergeht die „Verordnung des Reichspräsidenten über die Beilegung von Schlichtungsstreitigkeiten öffentlichen Interesses“ vom 9. Januar 1931.39 Diese ermächtigt den Schlichter „...in Fällen dringenden Staatsinteresses auf Anordnung des Reichsarbeitsministers zwei ... unparteiische Beisitzer zu berufen, mit denen zusammen er einen Schiedsspruch fällen konnte, so bald sich sämtliche Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeisitzer der Schlichtungskammer der Mitwirkung am Spruch entzogen oder eine Mehrheit nicht zu erzielen war.“40 Ob ein „dringendes Staatsinteresse“ vorliegt, soll jeweils von der Reichsregierung festgestellt werden. Diese Neuregelung ist praktisch eine Folge des Reichsarbeitsgerichtsurteils vom 22. Januar 1929, das einen Alleinentscheid des Schlichters für ungültig erklärt hatte. Die Schlichtungsnotverordnung ist auf den 31. Juli 1931 befristet und bewährt sich im obigen Fall. Sie wird allerdings unter dem 27. September 1931 bis zum 10. Oktober erneut in Kraft gesetzt, da im Ruhrbergbau Schlichtungsverhandlungen mit dem Ziel der Lohnsenkung wiederum nicht zum Ziel kommen.41 Schließlich wird im selben Zusammenhang durch eine Notver36 Vgl. dazu: Steiger, Karsten: Kooperation, Konfrontation, Untergang. Stuttgart 1998, 163 ff.; ausführlich auch: Grübler, Michael: Die Spitzenverbände…a.a.O. (=Anm. 24), 157 ff.; dort auch auf den Seiten 154 ff. die Vorgeschichte der Lohnsenkung, die Lohnverhandlungen bei der Stahlwerk Becker AG. 37 Vgl.: Winkler, Heinrich August: Der Weg...a.a.O.(=Anm. 12), 235; Steiger, Karsten: Kooperation ...a.a.O. (=Anm. 36), 182; vgl. ausführlich: Hartwich, Hans-Hermann: Arbeitsmarkt, Verbände und Staat 1918 - 1933. Berlin 1967, 167 ff. 38 Vgl.: Preller, Ludwig: Sozialpolitik in der Weimarer Republik. Kronberg/Ts. 1978, 410. 39 Vgl.: RGBl. I 1931, 1; ausführlich: Steiger, Karsten: Kooperation...a.a.O.(=Anm. 36), 186 ff. 40 Preller, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 38), 411. 41 Die geschieht durch die gleichlautende „Verordnung des Reichspräsidenten über die Beilegung von Schlichtungsstreitigkeiten öffentlichen Interesses“ vom 27. September 1931 (RGBl. I 1931, 513).

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ordnung vom 30. September 1931, die vor dem Hintergrund einer bedrohlichen „Klassenkampfszenerie“ aus Dringlichkeitsgründen zunächst über den Rundfunk verbreitet wird, bestimmt, daß der Reichsarbeitsminister die Laufdauer von Schiedssprüchen, die aufgrund der Verordnung vom 27. September 1931 ergangen sind, „ohne Zustimmung der Parteien“ ändern kann.42 Zweifellos lassen die beiden Schlichtungsverordnungen vom September 1931 einen raschen Übergang zur staatlichen Lohnführung vor dem Hintergrund einer brisanten Krisensituation erkennen. Im Ergebnis entsprechen die so verbindlich erklärten Schiedssprüche dem Wunsch der Arbeitgeber nach Lohnsenkung bzw. Kostenentlastung. Die Verordnungen „beruhigen“ eine Konfliktlage, die auszuufern drohte. Jenseits dieser spektakulären Aktionen ist das Tarifvertrags- und Schlichtungsgeschehen vielgestaltig und durch einen erheblichen Machtverlust der Arbeiterbewegung gekennzeichnet. Im Baugewerbe etwa, daß durch eine extrem hohe Arbeitslosigkeit geprägt ist, wird im Jahre 1932 verschiedentlich ein Schiedsspruch in letzter Minute in „freier Vereinbarung“ zum Tarifvertrag erhoben. Erhebliche Lohneinbußen sind die Regel. Die Parteien des Tarifvertrags tragen vor den Schlichtungsbehörden ihre kontroversen Standpunkte in Form der „Lohnkostentheorie“ bzw. der „Kaufkrafttheorie“ vor. Gebunden an Leitlinien des Reichsarbeitsministers kommt es häufig zu Schiedssprüchen, die eine „vernünftige“ und „angemessene“, eine mittlere Linie zu finden versuchen. So begründet der „Schlichtungsausschuss Gross-Berlin“ seinen Schiedsspruch vom 4. April 1932, noch unter der Regierung Brüning also, folgendermaßen: „Der Schlichtungsausschuss wird nach wie vor denen entgegentreten, die immer noch glauben, die kranke Wirtschaft nur von der Lohnseite her sanieren zu können und die das Arbeitsentgelt unter das Existenzminimum drücken wollen. Die Kammer konnte aber auch nicht die Verantwortung dafür übernehmen, dass die Bauarbeiterlöhne in Berlin in einer Höhe aufrecht erhalten werden, für die die ökonomischen Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind. Ein Bauarbeiterlohn von 1,25 M für die Stunde ist unter den heutigen Verhältnissen nicht mehr tragbar.“43 Die direkten Eingriffe der Reichspolitik in laufende Arbeitsverträge durch umfangreiche Notverordnungen vollziehen sich im Rahmen der umfassenden „Konsolidierungspolitik“, die schon bald nach der Verabschiedung des „Gesetz zur Vorbereitung der Finanzreform“ vom 28. April 1930 vorbereitet und in einem ebenfalls konfliktreichen politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungsprozeß geprägt und realisiert wird. Der von der wachsenden Arbeitslosigkeit förmlich überrollte Vorstand der Reichsanstalt sieht sich gemäß § 3 des „Finanzreformgesetzes“ gezwungen, der Regierung Vorschläge zur Umgestaltung der Arbeitslosenversicherung zu unterbreiten, um den „Ausgleich zwischen Einnahmen und Ausgaben“ der Reichsanstalt zu erleichtern. Nach Verhandlungen im Vorstand, die mehr als einmal zu scheitern drohen, und unter Berücksichtigung gewisser Leitlinien, die Reichsarbeitsminister Stegerwald in einer programmatischen Rede vom 5. Mai 1930 in Dortmund anspricht,44 legt der Vorstand der Reichsanstalt am 14. Mai seine Sanierungsvor-

42 Vgl. die „Zweite Verordnung über die Beilegung von Schlichtungsstreitigkeiten öffentlichen Interesses“ vom 30. September 1931 (RGBl. I 1931, 521). 43 BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 2178, Bl. 6; vgl. auch die Verfahren in der Akte Nr. 2179. 44 Vgl. zu dieser Rede: Stegerwald, (Adam): Die Sozialpolitik im Rahmen der deutschen Gesamtpolitik. In: Soziale Praxis, 39(1930)19, Sp. 441 - 448.

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schläge dem Reichsarbeitsminister vor.45 Die Vorschläge sind in wesentlichen Punkten gegen die Stimmen der Vertreter der Freien Gewerkschaften zustande gekommen. Die sich durch die wachsende Arbeitslosigkeit und Steuerausfälle verschlechternde Finanzsituation des Reiches führt nun dazu, daß die im Rahmen eines umfassenden (Haushalts-) Sanierungsprogrammes vorgelegten Vorschläge der Reichsregierung zu einer „Reform“ der Arbeitslosenversicherung, die am 11. Juni 1930 über eine Publikation im sozialdemokratischen „Vorwärts“ bekannt werden, noch weit über die Vorschläge des Vorstands der Reichsanstalt hinausgehen und auf empörte Ablehnung bei den Freien Gewerkschaften stoßen.46 Bald geht dieses „Reformvorhaben“ als „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“ dem Reichstag zu. Darüber hinaus werden als sozialpolitische Vorlagen im Rahmen der Haushaltssanierungsdebatten gegen Ende Juni/Anfang Juli 1930 auch noch ein „Entwurf eines sechsten Gesetzes zur Änderung des Reichsversorgungsgesetzes und des Altrentnergesetzes“ sowie ein dazu gehörendes Verfahrensänderungsgesetz und ein „Gesetzentwurf über Änderungen in der Krankenversicherung“ beraten.47 Alle diese Gebiete der staatlichen Sozialpolitik sind zu dieser Zeit auch Gegenstand fortwährender außerparlamentarischer Kontroversen. Hervorzuheben sind die „Vorschläge“ der deutschen Arbeitgeberverbände, die in der Reform der Sozialversicherung eine „Schicksalsfrage des deutschen Volkes“ sehen.48 Diese Vorschläge kritisieren insbesondere die Krankenversicherung, den „...wichtigsten und finanziell bedeutungsvollsten Faktor im Rahmen des deutschen Sozialetats ...“49 Die Denkschrift argumentiert schwerpunktmäßig mit der vorgeblich gesunkenen „Versichertenmoral“, der „übertriebenen“ bzw. „mißbräuchlichen“ Inanspruchnahme. Sie sieht deshalb vor allem finanzielle Selbstbeteiligungsregelungen, Maßnahmen zur Vermeidung der Inanspruchnahme bei „Bagatellfällen“ und sonstige Beitrags- und Leistungshöchstgrenzen vor. Sie möchte auch den Unternehmereinfluß auf die Krankenversicherung verstärkt sehen. Sie setzt sich für den „freien Arztberuf“, gegen die eigenwirtschaftliche Betätigung der Kassen in Form von Ambulatorien und Abgabestellen für Arzneien usw. und für Sonderkassen ein. Allein auf dem Gebiet der Krankenversicherung sieht die Vereinigung der Arbeitgeberverbände Ersparnismöglichkeiten von ungefähr 500 Millionen Reichsmark und sie fügt den Entwurf eines entsprechenden Spargesetzes bei. Selbstverständlich votiert die Stellungnahme gegen die Vorstellungen der Arbeiterbewegung von einer allgemeinen Staatsbürgerfürsorge und gegen die „zentralisierte Einheitsversicherung“. Immerhin spricht sich die Vereinigung gegen das damals kursierende „Zwangssparsystem“ aus und möchte die öffentlich-rechtliche Sozialversicherung in allen Zweigen erhalten sehen. Mit der durch Einsparungen ermöglichten Herabsetzung der Beiträge eröffne sich die Perspektive, im Rahmen des gesamten Finanz- und Steuerprogramms „...zur Sanierung unseres innerwirtschaftlichen Lebens erheblich beizutragen.“50

45 Vgl. zu den Verhandlungen im Vorstand der Reichsanstalt und zu den Vorschlägen: Kampf um die Arbeitslosenversicherung. In: Gewerkschafts-Zeitung, 40(1930)21, 321 - 324; Israel, Gertrud: Die Reformvorschläge zur Arbeitslosenversicherung. In: Soziale Praxis, 39(1930)24, Sp. 573 - 578. 46 Vgl.: Die Reichsregierung gegen die Arbeitslosen. In: Gewerkschafts-Zeitung, 40(1930)24, 369 - 370. 47 Vgl.: Verhandlungen des Reichstags. IV. Wahlperiode 1928. Stenographische Berichte. Band 428. Berlin 1930, 5923 ff., 5970 ff., 6072 ff. 48 Vgl.: Die Reform der Sozialversicherung - eine Schicksalsfrage des deutschen Volkes. Berlin 1930. 49 Ebenda, 15. 50 Ebenda, 39.

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Die angesprochenen sozialpolitischen Gesetzesvorlagen der Regierung Brüning lösen in der Fach- und Verbandspresse eine kontroverse Diskussion aus.51 Sie erfahren eine ausgedehnte parlamentarische Beratung und selbst die entsprechenden Ausschüsse werden noch mit der Materie befaßt. „Zielführend“ sind diese Aktivitäten jedoch nicht. Im Reichstag kommt es im Zuge der langen und kontroversen Verhandlungen noch einmal zu einer ebenso bezeichnenden wie grundsätzlichen „Sozialstaatsdebatte“. Diese geht weit über den Kreis der vorliegenden Gesetzentwürfe hinaus. Im Jahre 1929 habe man die Steuersenkung für den einzig rettenden Weg aus der Krise gehalten, augenblicklich sei die Lohnsenkung allenthalben zum Schlagwort geworden, betont der Reichsarbeitsminister. Den Kernbestand der Weimarer Sozialpolitik ansprechend und auf neueste tarifpolitische Entwicklungen reagierend fährt er fort: „Wenn wir das Schlichtungswesen halten wollen, wenn wir die Tarifverträge halten wollen, dann müssen diese Einrichtungen in großen wirtschaftlichen Depressionsperioden mit einer gewissen Elastizität gehandhabt werden.“52 Sein Beitrag läßt erneut erkennen, daß für die Reichsregierung der Übergang zu Mitteln der Diktatur durchaus im Bereich des Möglichen liegt. Die im Rahmen der Deflationspolitik angestrebte „Vereinfachung der Lebensführung“ mit Mitteln der Sozialpolitik bietet, da sich diese Mittel samt und sonders gegen die jeweilige Lebenslage der abhängig Beschäftigten richten, hervorragende Ansatzpunkte für die Parlamentsagitation der KPD. Brüning werden „faschistische Herrschaftsmethoden“ vorgeworfen. Gleichzeitig mit dem „Generalangriff der Bourgeoisie“ auf die Rechte der Arbeiterklasse, durch brutalen Lohnabbau und brutale Arbeitszeitverlängerung, solle ein brutaler und unerhörter Abbau der sozialen Versicherung durchgeführt werden.53 Rußland wird wiederum als leuchtendes Beispiel hingestellt. Die Lage der Arbeiter sei nicht durch soziale Reformen sondern nur durch die soziale Revolution zu verbessern.54 Wirtschaftsnahe Stimmen, „Sprecher der Bourgeoisie“ im Parlament, sehen die Ökonomie unter der Sozialgesetzgebung zusammenbrechen, betonen den Leistungsmißbrauch und die aus der Sozialversicherung erwachsenden schweren Schäden für die Moral. Die letzten zehn Jahre hätten gezeigt, daß es mit der „starren Regelung unseres Arbeitsrechts“ nicht vorwärts gehe. Die Freiheit allein sei es, die die Wirtschaft vorwärtsbringe.55 Als der Reichstag am 16. Juli 1930 mit 256 gegen 193 Stimmen der Regierung Brüning bestimmte Maßnahmen zur Deckung des wachsenden Defizits im Reichshaushalt verweigert, kommt es zu einer Entwicklung von wahrhaft grundlegender Bedeutung.56 Brüning erklärt im Namen der Regierung „...daß sie auf die Fortführung der Beratung keinen Wert mehr legt.“57 Die Regierung greift noch am selben Tag „...zu dem stets bereit

51 Vgl. z.B.: Die Pläne der Reichsregierung zur Reform der Krankenversicherung. In: Soziale Praxis, 39(1930)26, Sp. 622 - 629; G.(ertrud) I.(srael): Die Regierungsvorlage zur Reform der Arbeitslosenversicherung. In: Ebenda, Heft 27, Sp. 646 - 649; Regierungsentwurf zum Abbau der Arbeitslosenversicherung. In: Gewerkschafts-Zeitung, 40(1930)27, 419 - 420; Abbau der Krankenversicherung. In: Ebenda, 420 - 422. 52 Verhandlungen des Reichstags...a.a.O.(=Anm. 47), 5926; Hervorhebungen wie im Original. 53 Vgl. ebenda, 5982. 54 Vgl. ebenda, 6056. 55 Vgl. ebenda, 6052 f. 56 Vgl. als Kurzfassung: Huber, Ernst Rudolf (Hg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Band 4. Stuttgart, Berlin, Köln 1961,474; die oppositionelle Mehrheit setzt sich aus der NSDAP, der DNVP, der SPD und KPD zusammen. 57 Vgl. in diesem Zusammenhang: Artikel 48-Diktatur! In: Die Rote Fahne, 13. Jahrgang Nr. 164 vom 17. Juli 1930, 1.

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gehaltenen Stock des Diktaturartikels 48 der Reichsverfassung.“58 Sie erläßt die vom Reichstag verweigerten und ergänzende, nicht in der Deckungsvorlage enthaltene Maßnahmen als „Verordnung des Reichspräsidenten auf Grund des Artikel 48 der Reichsverfassung über Deckungsmaßnahmen für den Reichshaushalt 1930“59 und als „Verordnung des Reichspräsidenten auf Grund des Artikel 48 der Reichsverfassung über die Zulassung einer Gemeindegetränkesteuer.“60 Am 18. Juli 1930 verhandelt daraufhin der Reichstag über die Anträge der SPD und KPD, die eine Außerkraftsetzung der beiden Notverordnungen verlangen, eine Möglichkeit, die in Artikel 48 Absatz 3 vorgesehen ist. Darüber hinaus steht je ein Mißtrauensvotum dieser beiden Parteien nach Artikel 54 der Weimarer Reichsverfassung zur Debatte, die bei Annahme zu einem Rücktritt der Regierung hätte führen müssen.61 Der Sprecher der SPD weist auf die Unmöglichkeit und Unzulässigkeit der beiden „Artikel-48-Notverordnungen“ hin. Artikel 48 lasse eine Ausschaltung des Reichstags oder der Verfassung nicht zu. Ein abgelehntes Gesetz durch Notverordnungen in Kraft zu setzen, sei sinnwidrig. Es sei doch damit zu rechnen, daß der Reichstag diese mit derselben Mehrheit ablehne, die das Gesetz abgelehnt habe.62 Die Reichsregierung sei auf vorgeschlagene andere Wege der Sanierung nicht eingegangen. Bestimmte Maßnahmen in den Notverordnungen hätten nicht in der Deckungsvorlage gestanden. Sie seien auf Wunsch bestimmter Regierungsparteien in die Notverordnung gekommen. Auf entsprechende Vorhaltungen betont der Sprecher der SPD: Ebert habe nie vom Reichstag abgelehnte Vorlagen als Notverordnungen vorgelegt. Die Reichsregierung habe Möglichkeiten einer Verständigung nach links nicht nur nicht ausgenutzt sondern abgelehnt, um ausschließlich nach rechts zu handeln. Es handele sich um ein ausgesprochen „plutokratisches Deckungsprogramm.“63 Der Reichsinnenminister rechtfertigt die Maßnahmen mit der dramatischen Finanzlage. Regierungssturz und Reichstagsauflösung würden zu einer Krise des „Systems der Demokratie“ führen und alles nur noch viel schwieriger machen.64 Auch die DNVP beklagt die mangelnde Bereitschaft der Regierung zur Zusammenarbeit, wendet sich gegen die Herrschaft des „Marxismus“ in Preußen und möchte durch die „Lösung der Preußenfrage“ den Weg zur „Generalbereinigung aller Krisennöte“ durch „wirkliche Sparsamkeit“ und den Verkauf von entbehrlichen Reichsbetrieben gehen.65 Die KPD entwirft das Bild einer tiefgreifenden Verelendung und eines drohenden „Massensterbens“ der Arbeiterschaft und wendet sich ihrerseits auch gegen die preußische Sparpolitik, um den Debattenbeitrag mit Streik- und Kampfaufrufen zu beenden.66 Der Abgeordnete der NSDAP, der Verfasser ihres Parteiprogramms, Gottfried Feder, prognostiziert für den Fall der absehbaren Reichstagsauflösung und als Folge der dann abzuhaltenden Neuwahlen 100 nationalsozialistische Abgeordnete.67

58 Vgl.: Reichstags-Auflösung und Neuwahl. In: Gewerkschafts-Zeitung, 40(1930)30, 465 - 466, hier: 465. 59 Vgl.: RGBl. I 1930, 207. 60 Vgl.: RGBl. I 1930, 212. 61 Vgl.: Verhandlungen des Reichstags...a.a.O.(=Anm. 47), 6501 ff. 62 Vgl. ebenda, 6502. 63 Vgl. ebenda, 6505. 64 Vgl. ebenda, 6507. 65 Vgl. ebenda, 6509. 66 Vgl. ebenda, 6509 ff. 67 Vgl. ebenda, 6521.

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Als der „Antrag Dr. Breitscheid und Genossen“ zur Abstimmung gestellt wird, ergibt sich eine Mehrheit von 236 gegen 221 Stimmen für die Außerkraftsetzung der Notverordnungen bei keiner Enthaltung.68 SPD, ein Teil der DNVP, die KPD und die NSDAP haben sich zu dieser „negativen“ Koalition aus ganz unterschiedlichen Motiven zusammengefunden. Unter „lärmenden Zurufen“ der Kommunisten verliest daraufhin Brüning die vorbereitete Auflösungsverfügung des Reichspräsidenten gemäß Artikel 25 der Reichsverfassung. Noch am 18. Juli 1930 richtet die Reichsregierung einen Aufruf an das deutsche Volk. Der Reichstag habe die Mittel verweigert, die Notverordnungen seien von einer „geringen Mehrheit“ abgelehnt worden, „...die in sich uneinig und zur Übernahme der Verantwortung nicht fähig ist.“ Als spätest möglicher Wahltermin wird der 14. September 1930 benannt. Die Reichsregierung werde dafür sorgen, „...daß Reich, Länder und Gemeinden ihre Aufgaben erfüllen können.“69 Der Verfassung in diesem Punkte entsprechend, fügt sich der Reichspräsident dem Votum des Reichstags und hebt die vom Reichstag abgelehnten Notverordnungen durch Verordnung vom 18. Juli 1930 auf.70 Jedoch schon mit Datum vom 26. Juli 1930 ergeht eine umfangreiche „Verordnung des Reichspräsidenten zur Behebung finanzieller, wirtschaftlicher und sozialer Notstände.“71 Diese Notverordnung umfaßt nicht nur die beiden aufgehobenen Notverordnungen, sondern auch die geplanten, im parlamentarischen Verfahren „steckengebliebenen“ Änderungen bzw. Abbaumaßnahmen für die Arbeitslosen- und die Krankenversicherung sowie die Reichsversorgung und weitere Maßnahmen.72 Die überwiegend aus den „Trümmerstücken“ der parlamentarisch gescheiterten Sparpolitik zusammengesetzte Notverordnung vom 26. Juli 1930 enthält als Deckungsmaßnahme für die öffentlichen Haushalte eine „Reichshilfe“ in Höhe von 2 ½ vom Hundert, die bei der Berechnung des Einkommens der öffentlich Bediensteten abgezogen wird. Hinzu treten ein Einkommenssteuerzuschlag für höhere Einkommen, eine Ledigensteuer, eine Änderung des Tabaksteuergesetzes, die zu Mehreinnahmen führen soll. Darüber hinaus geht diese Notverordnung nicht, wie noch ihre Vorläufer, „schweigend“ an der Finanznot der Gemeinden vorbei.73 Sie beinhaltet die Berechtigung und für den Fall, daß die kommunalen Realsteuern erhöht werden müßten, zur Vermeidung einer solchen „wirtschaftsschädlichen“ Maßnahme, auch die Pflicht, eine Gemeindebier-, eine Gemeindegetränke- bzw. Bürgersteuer zu erheben. Die Bürgersteuer ist nach der Einkommenshöhe gestaffelt. Diese Maßnahmen sollen den Gemeinden und Gemeindeverbänden vor allem helfen, die steigenden Aufwendungen für die ausgesteuerten Arbeitslosen, für die „Wohlfahrtserwerbslosen“, zu tragen.74 Daneben findet sich die „Osthilfe“ im dritten Abschnitt der Verordnung. Im fünften Abschnitt ist ein Maßnahmeprogramm zur „Verhütung unwirtschaftlicher Preisbindungen“ vorgesehen. Es erlaubt „...von Staats wegen in die Preisbildung der Tausende von 68 Vgl. ebenda, 6523. 69 Wiedergegeben nach: Huber, Ernst Rudolf (Hg.): Dokumente... Band 4 ...a.a.O.(=Anm. 56), 475. 70 Vgl. die „Verordnung des Reichspräsidenten auf Grund des Artikel 48 der Reichsverfassung über Außerkraftsetzung von Verordnungen“ vom 18. Juli 1930 (RGBl. I 1930, 223); zum Wahltermin die „Verordnung über die Neuwahl des Reichstags“ vom 18. Juli 1930 (RGBl. I 1930, 299). 71 Vgl.: RGBl. I 1930, 311. 72 Vgl. als Erläuterung zur Entstehung und als eingehende Kommentierung der sozialversicherungsbezogenen Bestimmungen: Grieser, Sauerborn, Eckert (Bearb.): Erläuterung der Notverordnung zur Sozialversicherung vom 26. Juli 1930. München o.J. (1930). 73 Vgl. den Leitartikel: Stein, Günther: Das Not-Programm. In: Berliner Tageblatt. Abendausgabe, Jg. 59 vom 29. Juli 1930, 1 f., hier: 1; vgl. den ersten Abschnitt der Notverordnung. 74 Vgl. den zweiten Abschnitt der Notverordnung.

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Kartellen einzugreifen, mit denen wir gesegnet sind.“75 Schließlich legt ein sechster Abschnitt fest, daß das Reich von einem Haushaltsplan ausgeht, der im wesentlichen dem entspricht, was vom Reichstag in der zweiten Lesung eines entsprechenden Entwurfs festgestellt wurde. Der wesentliche Teil des dort veranschlagten Defizits von 760 Millionen Reichsmark (bei einem Etat von rund 12 Milliarden Reichmark in den Einnahmen und Ausgaben), soll durch den sozialpolitischen Um- und Abbau erbracht werden. Die entsprechenden Bestimmungen zur Krankenversicherung und zur Arbeitslosenversicherung stützen sich auf die vom Reichstag nicht verabschiedeten Regierungsentwürfe und berücksichtigen die Beschlüsse des „Sozialen Ausschusses.“ Diese Beschlüsse beinhalten gegenüber dem Regierungsentwurf bestimmte Abmilderungen. Mit dem Ziel der Herabsetzung der Krankenversicherungsbeiträge werden die Versicherten zu den Kosten für die ärztliche Behandlung und die Heilmittel durch Krankenscheingebühr und eine Heilmittelkostenbeteiligung herangezogen. Die Kosten in der nun obligatorisch gemachten Familienkrankenpflege werden, soweit es sich um Arznei und kleine Heilmittel handelt, nur zur Hälfte erstattet. Die Krankengeldzahlungen und das Hausgeld werden deutlich eingeschränkt. Umfassend werden die Berufspflichten der Kassenärzte durch die Notverordnung im Sinne einer „wirtschaftlichen“ Behandlung modifiziert. Einem vertrauensärztlichen Dienst werden umfangreiche kontrollierende und gutachtende Kompetenzen eingeräumt. Die Notverordnung beschränkt „... die Krankenkassen im Erwerb von Grundstücken, in der Errichtung von Gebäuden und Anstalten und in der Festsetzung des Beitrages.“76 Damit entspricht die Notverordnung vom 26. Juli 1930 in ihrer Stoßrichtung der fortgesetzten und teilweise wüsten (antisozialistischen) Agitation und ideologischen Diffamierung von Eigeneinrichtungen der (Orts-)Krankenkassen wie z.B. von Zahnkliniken, Röntgen- und Lichtinstituten, Erholungsstätten, Selbstabgabestellen, Schwangeren- und „Geschwulstberatungsstellen“ und Ambulatorien, die namentlich den freiberuflichen Herstellern und Dienstleistern ein Dorn im Auge sind.77 Eine stärkere Überprüfung des Wirtschaftsgebahrens der Kassen wird vorgeschrieben. Mit diesen Vorschriften wird der Spielraum der Selbstverwaltung und der Entwicklung der Eigenwirtschaft erheblich eingeschränkt. Zugleich werden die Kassen zur Neufestsetzung bzw. Herabsetzung der Beiträge verpflichtet: „Im allgemeinen kann die Gesamtausgabe, ohne Gefahr für den Zweck der Krankenversicherung, um mindestens 10 v.H. gesenkt werden.“78 In der Arbeitslosenversicherung wird die Versicherungsfreiheit und damit die Unterstützungslosigkeit für geringfügige Beschäftigungen jetzt schlechthin ausgesprochen. Unter diese Bestimmung fallen Beschäftigungen, die nicht mehr als 30 Stunden in der Woche umfassen oder gering entlohnt sind. Jugendliche unter 17 Jahren (die versicherungspflichtig bleiben) haben nunmehr nur noch dann einen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung, „...wenn ihnen kein familienrechtlicher Unterhaltsanspruch zusteht.“79 Die Wartezeit beträgt für alle Arbeitslosen ohne zuschlags75 Stein, Günther: Das Not-Programm...a.a.O.(=Anm. 73), 2. 76 Zarden: Die Verordnung des Reichspräsidenten zur Behebung finanzieller, wirtschaftlicher und sozialer Notstände vom 26.7.1930. In: Deutsches Steuerblatt, 13(1930), Sp. 679 - 688, hier: Sp. 686. 77 Vgl. als entsprechende Hetzschriften aus den letzten Monaten der Republik bzw. dem Beginn des „Dritten Reiches“: Ronau, Curt: Die roten Hochburgen. Die Schuld der roten Sozialversicherung an Deutschlands Niedergang. Berlin 1933; Engel, Johannes, Eisenberg, Franz: Millionen klagen an. Aktenmäßige Aufdeckung marxistischer Mißwirtschaft in der Krankenversicherung. München 1932. 78 So eine ministerielle Erläuterung der Verordnung vom 26. Juli 1930; vgl.: Reichsarbeitsblatt. Teil IV. Amtliche Nachrichten für Reichsversicherung, (1930)24, 373 - 375, hier: 375. 79 Die Aenderungen in der Arbeitslosenversicherung nach der Notverordnung vom 26. Juli 1930. In: Soziale Praxis, 39(1930)36, Sp. 857 - 859, hier: 858.

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berechtigte Angehörige 14 Tage. Die regelmäßige Sperrfrist ist auf sechs Wochen (statt bisher vier) erhöht worden. Krankheitstage sollen nicht mehr zum Erwerb einer Anwartschaft beitragen. Lehrlinge sind von dieser Vorschrift ausgenommen. Die Höchstbezugsdauer und Höhe der Unterstützungsleistungen werden herabgesetzt. Die vollen Unterstützungssätze erhalten von den Arbeitslosen der Lohnklassen VII - XI nur noch diejenigen, „...die in den letzten 18 Monaten mindestens 52 Wochen versicherungspflichtig beschäftigt waren. Anderenfalls werden die v er mind er ten Un te rstü tzungssätze der Krisenunterstützung gewährt.“80 Beim Zusammentreffen von Hauptunterstützungen von zwei Ehegatten wird unter bestimmten Bedingungen die niedrigere um die Hälfte gekürzt. Die Beiträge werden, zunächst bis auf den 31. März befristet, um ein Prozent erhöht und auf 4 ½ v. H. festgesetzt. Vor dem Hintergrund der „Hochflut der Arbeitslosigkeit“, des Verbrauchs der Mittel und drohender weiterer Reichszuschüsse, werden die Beiträge, kurz nach der Reichstagswahl bis auf weiteres auf 6 ½ v.H. des maßgeblichen Arbeitsentgelts festgesetzt.81 Bald nach dem Erlaß der Notverordnung wird der Außendienst bei den Arbeitsämtern verstärkt, um eine in großem Umfang vermutete „mißbräuchliche“ Inanspruchnahme von Mitteln der Arbeitsverwaltung zu bekämpfen.82 Die in der Notverordnung vom 26. Juli 1930 enthaltenen Veränderungen der Versorgung der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen sollen vor allem den „Zustrom“ neuer Versorgungsberechtigter eindämmen und Anträgen vorbeugen, „...die nicht mehr auf Grund von Schädigungen infolge Kriegsdienstes begründet erscheinen.“83 Darüber hinaus soll für bestimmte Fälle die Möglichkeit des Rekurses ausgeschlossen werden. Die Reaktion in der Presse der Arbeiterbewegung auf diese Notverordnung entspricht ihrem Inhalt. Der „Vorwärts“ resümiert, die Regierung Brüning habe jeden Zweifel beseitigt und zeige eindeutig, daß sie entschlossen sei, den Weg der Verfassungsverletzung, der sozialen Reaktion und der steuerlichen Ungerechtigkeit mit den Mitteln der Diktatur zu Ende zu gehen.84 Die „Gewerkschafts-Zeitung“ spricht von einem „Verbrechen an den Arbeitslosen.“85 Sie sieht im Abbau, in der Reform der Krankenversicherung überhaupt keinen sozialpolitischen, sondern einen finanzpolitischen, einen fiskalischen Akt, „...der unbekümmert um die sozialen Bedürfnisse und Auswirkungen das Ziel der Ersparnis bestimmter Summen verfolgt.“86 Sie spricht damit die Tatsache an, daß die Regierung Brüning signalisiert hat, durch eine Beitrags- bzw. Leistungssenkung in der Krankenversicherung die Beitragserhöhung in der Arbeitslosenversicherung ausgleichen zu wollen. „Die Rote Fahne“ schließlich sieht schon anläßlich der beiden vorhergehenden, der aufgehobenen Notverordnungen eine „faschistische Finanzdiktatur“ und „Steuerraub“. Sie stellt einen Bezug des „Raubprogramms“ zur Haushaltsbelastung durch Reparationszahlungen her. Vor allem wendet sie sich vehement gegen die Politik der SPD, die mit eigenen Vorstellungen nach parlamentarischen Wegen der Modifikation der Sparpolitik gesucht hat und nicht 80 Ebenda, Sp. 858. 81 Vgl. die „Verordnung über den Beitrag zur Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“ vom 30. September 1930 (RGBl. I 1930, 458). 82 Vgl.: Verstärkung des Außendienstes bei den Arbeitsämtern. In: Soziale Praxis, 39(1930)36, Sp. 859. 83 Die Aenderung der Reichsversorgung nach der Notverordnung vom 26. Juli 1930. In: Soziale Praxis, 39(1930)33, Sp. 797 - 798, hier: 797. 84 Vgl.: Es wird weiter verordnet. Sozialreaktion für Interessentenpolitik. In: Vorwärts, Jg. 47, Nr. 347 vom 27. Juli 1930, 1. 85 Vgl.: Das Verbrechen an den Arbeitslosen. In: Gewerkschafts - Zeitung, 40(1030)31, 482 - 484. 86 Das Abbaugesetz zur Krankenversicherung. In: Gewerkschafts - Zeitung, 40(1930)33, 517 - 518, hier: 518.

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bereit ist, dem Agitations- und Gewaltkurs der KPD gegen die Notverordnungspolitik zu folgen.87 Die durch die Annahme des sozialdemokratischen Antrags auf Außerkraftsetzung der Notverordnungen veranlaßten Wahlen vom 14. September 1930 führen, was kundige Beobachter nicht überrascht, zu einem politischen Erdrutsch. Die NSDAP wird zur zweitstärksten Partei in Deutschland. Von etwas mehr als „...800 000 Stimmen im Mai 1928 war sie auf 6,4 Millionen angewachsen; prozentual bedeutete das einen Anstieg von 2,6 auf 18,3 %; die Zahl der Mandate schnellte von 12 auf 107 empor.“88 Einen Wahlerfolg hat auch die KPD zu verzeichnen. Ihr Stimmenanteil steigt von 10,6 % im Mai 1928 auf 13,1 %. Sie wird zur drittstärksten, in Berlin sogar zur stärksten Partei.89 Alle anderen Parteien gehören zu den Wahlverlierern. Die Stimmen der DVP sinken von 8,7 auf 4,5 %. Insbesondere die DNVP verliert. Ihr Stimmenanteil geht von 14,2 (1928) auf 7,0 % zurück. Die frühere DDP, die nun als „Deutsche Staatspartei“ firmiert, kommt auf 3,8 %. Bescheiden sind die Verluste des Zentrums; es verbucht nun 11,8 %. Die BVP bleibt in etwa gleich stark. Die immer noch größte deutsche Partei, die SPD, fällt von 29,8 % auf 24,5 %.90 Der Aufstieg der NSDAP im Jahre 1930, der sich vor allem aus dem Reservoir der Nichtwähler sowie aus dem liberalen und konservativen Lager speist, verändert die politischen Koordinaten grundlegend. Da weder die NSDAP noch die SPD als Regierungspartei aus der Sicht der Regierung und des Reichspräsidenten in Frage kommen, führt Brüning noch im September 1930 „ganz geheime“ Gespräche mit Vertretern der SPD, die das Ziel haben, eine Tolerierungsmehrheit im Reichstag herbeizuführen, um so die Aufhebung von Notverordnungen und erfolgreiche Mißtrauensvoten zu verhindern. Vor allem von dem Ziel motiviert, eine Rechtsregierung unter offener oder verdeckter Beteiligung der NSDAP im Reich zu vermeiden und in der Absicht, die Koalitionsregierung aus SPD, Zentrum und Deutscher Staatspartei in Preußen nicht zu gefährden und einen NSDAP-Einfluß dort zu verhindern, erklären sich entscheidende Kräfte der SPD im Oktober zu einer solchen Politik bereit. Zur Begründung heißt es unter anderem, die Sozialdemokratie kämpfe für die Demokratie, „...um die Sozialpolitik zu schützen und die Lebenshaltung der Arbeiterschaft zu heben.“ Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion werde „...unter Wahrung der Lebensinteressen der arbeitenden Massen für die Sicherung der parlamentarischen Grundlage und für die Lösung der dringenden finanzpolitischen Aufgaben eintreten.“91 Derart abgesichert legt die Regierung Brüning

87 Vgl. Artikel 48-Diktatur...a.a.O.(=Anm. 57); Youngsteuern aus „Kanaille Volk“. In: Die Rote Fahne, 13. Jg., Nr. 173 vom 27. Juli 1930, 1; Aufhebung aller Notverordnungen. In: Ebenda, 2; SPD. im Dienste BrüningHindenburg. In: Ebenda, Nr. 175 vom 30. Juli 1930,1; Eine halbe Milliarde Youngtribute. In: Ebenda, Nr. 178 vom 2. August 1930, 5. 88 Winkler, Heinrich August: Weimar 1918 - 1933. München 1993, 388; der „Septemberwahl“ vorausgehend, hatte die NSDAP in Landtags- und Kommunalwahlen bereits bedeutende Stimmgewinne erzielen können; Vgl.: Falter, Jürgen W.: Hitlers Wähler. München 1991, 33 f. 89 Vgl. die Statistik bei: Falter, Jürgen, Lindenberger, Thomas, Schumann, Siegfried: Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik. München 1986, 72. 90 Vgl.: Winkler, Heinrich August: Weimar...a.a.O.(=Anm. 88), 388; vgl. zur Wahlstatistik auch: Kolb, Eberhard: Die Weimarer Republik. München 1998, 285; als umfassendere Wahlanalyse: Falter, Jürgen: Hitlers Wähler...a.a.O.(=Anm. 88), 364 ff. 91 Vgl. den Abdruck der in diesem Zusammenhang entscheidenden „Entschließung der Reichstagsfraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zur Lage nach den Septemberwahlen“ vom 3. Oktober 1930. In: Huber, Ernst Rudolf (Hg.): Dokumente...Band 4...a.a.O.(=Anm.56), 476 f.

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zum 1. Oktober „dem deutschen Volke“ ein Sanierungsprogramm vor.92 Auf Grundzüge dieses Programms hatte sich das Kabinett am 29. September 1930 verständigt.93 Den Hintergrund dieses Programms bildet der dramatische Abzug ausländischer Gelder von deutschen Banken, eine Folge der Beunruhigung, die von dem Wahlerfolg der NSDAP und den Gerüchten über Putschpläne dieser Partei ausgehen.94 Unbeirrt hält das Programm am bisherigen Kurs der Deflationspolitik als „sachgerecht“ fest. Das Brüningsche Sanierungsprogramm umfaßt vor allem direkte Einsparungen im Etat des Reichs, der Länder und Gemeinden, eine Vereinfachung des Steuersystems und Steuererleichterungen zur „Entlastung der Wirtschaft“, die Fortführung und den Ausbau der „schützenden“ und unterstützenden Agrargesetzgebung, eine Neuregelung der Wohnungswirtschaft, Einsparungen durch eine Vereinfachung der Verwaltung und Rechtspflege, eine endgültige Regelung des Finanzausgleichs und gesetzliche Begrenzungen für die Ausgaben der öffentlichen Hand. Einen bezeichnenden Stellenwert in der Erklärung nimmt die Senkung der Realsteuern ein. Es finden sich „Sanierungsvorschläge“ für die Arbeitslosenversicherung und das Versprechen, für die Arbeitsbeschaffung Mittel bereit zu stellen. Insgesamt sollen wiederum die „produzierenden Stände“ erleichtert und die Arbeiter, Angestellten und Beamten direkt oder indirekt belastet werden. Die soziale Schieflage dieses Programms verdeckend heißt es abschließend: „Bezüge und Lebenshaltung aller Unternehmerund Arbeitnehmerschichten sowie der Preisstand der deutschen Waren müssen uns gestatten, im Wettbewerb der Welt zu bestehen. Nur so werden die Produktionsstätten wieder belebt...“95 Brüning verbindet mit diesem Programm bekanntlich nicht nur das Ziel als (außen-)wirtschaftlicher sondern auch als außenpolitischer „Sieger“ aus der Weltwirtschaftskrise hervorzugehen. Durch außenwirtschaftliche Erfolge solle der Ruf nach einer Streichung der deutschen Reparationen in der Welt „geweckt“ werden.96 Die Reaktionen der öffentlichen Körperschaften und freien Verbände auf das „Sanierungsprogramm“ sind vielfältig. Bei den Spitzenverbänden der Wirtschaft sind sie zurückhaltend positiv. Bei den Gewerkschaften überwiegt die Ablehnung, ohne daß etwa der ADGB das Programm total verwirft.97 In der Reichstagssitzung vom 16. Oktober 1930 gibt Brüning eine Regierungserklärung ab, in der er die wirtschaftliche, soziale und fiskalische Krisensituation schildert. Sein Sanierungsprogramm bezeichnet er als einen großen „Wirtschafts- und Finanzplan“ zur Überwindung der Krise. Er kündigt an, daß die damit verbundenen einzelnen Gesetzesvorlagen in Kürze dem Reichsrat zugehen werden. Voraussetzung für die Durchführung des Sanierungsplanes sei die Nichtaufhebung der Notverordnung vom 26. Juli 1930. Tatsächlich stellt sich der Sprecher der SPD in der Reichstagssitzung vom 17. Oktober auf die Seite der Regierung. Er betont jedoch „Bedenken“ zu einzelnen Punkten der Juli-Notverordnung,

92 Vgl.: Das Sanierungsprogramm der Reichsregierung. In: Soziale Praxis, 39(1930)41, Sp. 957 - 959; vgl. zur Tolerierungspolitik umfassend: Winkler, Heinrich August: Der Weg...a.a.O.(=Anm. 12), 207 ff. 93 Vgl.: Koops, Tilman (Bearb.): Die Kabinette Brüning I u. II. ...Band 1...a.a.O.(=Anm. 4), 466 - 475; zum Programm vgl.: 470 ff. 94 Vgl.: Winkler, Heinrich August: Der Weg...a.a.O.(=Anm. 12), 216. 95 Das Sanierungsprogramm...a.a.O.(=Anm. 92), Sp. 959. 96 So jedenfalls die Strategieüberlegungen, die Brüning in einem Gespräch im Oktober 1930 gegenüber Hitler äußert; vgl.: Brüning, Heinrich: Memoiren ...a.a.O.(=Anm. 6), 193 f. 97 Näheres bei: Winkler, Heinrich August: Der Weg...a.a.O.(=Anm. 12), 223 ff.; vgl. auch: Das Echo des Sanierungsprogramms der Reichsregierung bei den wirtschaftlichen Verbänden. In: Soziale Praxis, 39(1930)43, Sp. 1009 - 1011.

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die in den Beratungen des Haushaltsausschusses vorgebracht werden sollten.98 Dementsprechend werden vor dem Hintergrund tumultuarischer Szenen im Reichstag u.a. die Anträge auf Aufhebung der Notverordnungen an den Haushaltsausschuß überwiesen und für den Antrag der Regierungsfraktionen, die Regierungserklärung zur Kenntnis zu nehmen und über alle Mißtrauensanträge zur Tagesordnung überzugehen, spricht sich eine ausreichend ’komfortable’ Mehrheit aus.99 Am 19. Oktober vertagt sich der Reichstag bis zum 3. Dezember 1930. Die Regierung nutzt die gewonnene Zeit, um die mit ihrem Programm verbundenen Gesetzentwürfe in den Reichsrat einzubringen, wo sie am 20. November mit großer Mehrheit angenommen werden.100 Es finden in dieser Zeit auch Haushaltsverhandlungen statt. Darüber hinaus verhandelt die Regierung mit Parteivertretern, namentlich auch mit solchen der SPD. Das eröffnet der Arbeiterbewegung einen gewissen Einfluß auf die Regierungspolitik. Ein begrenztes Entgegenkommen in Gestalt einer Revision einiger Bestimmungen der Notverordnung vom 26. Juli 1930 ist die Folge. Dies wiederum wird von der Sozialdemokratie als eine Voraussetzung für ihre Tolerierungspolitik betrachtet. Aufgrund der in den Parteien und zwischen ihnen herrschenden Meinungsverschiedenheiten nimmt die Regierung Brüning gegen Ende November davon Abstand, die Vorlagen durch den Reichstag verabschieden zu lassen. Nachdem sich die Regierung Brüning unter anderem wegen der abgesprochenen sozialpolitischen Verbesserungen der Unterstützung der SPD sicher sein kann, ergeht das „Konsolidierungsprogramm“ einschließlich weiterer Maßnahmen als „Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen“ vom 1. Dezember 1930.101 Die von der Sozialdemokratie beeinflußten sozialpolitischen Verbesserungen finden sich als Änderungen der Notverordnung vom 26. Juli 1930 im ersten Teil der umfangreichen Dezembernotverordnung. Die den Gemeinden zukommende Bürgersteuer ist nun noch stärker gestaffelt und für Bezieher höherer Einkommen auch deutlich erhöht worden. Sozialleistungsbezieher sind nunmehr von dieser Steuer befreit. Einige Vorschriften, die die Arbeitslosenversicherung betreffen, erfahren Abmilderungen zugunsten der Arbeitslosen: „Das Alter der Jug end lichen , die vom Bezuge der Arbeitslosenunterstützung ausgeschlossen sind, sofern sie familienrechtlichen Unterhaltsanspruch haben, ist vom 17. auf das 16. Lebensjahr heruntergesetzt worden.“102Der Mehraufwand wird bis zum 31. März 1931, dem Ende des Haushaltsjahres, auf etwa 4 Millionen Reichsmark veranschlagt. Eine weitere Vorschrift soll die negativen Auswirkungen abmildern, die durch unterlassene oder falsche Beitragszahlungen des Arbeitgebers für die Leistungsempfänger entstanden sind. Schließlich wird die Rahmenfrist für die Berechnung des Bezugs der vollen Unterstützungssätze in bestimmten Lohnklassen von 18 Monate auf zwei Jahre verlängert. Es wird klargestellt, daß der Arbeitslosenversicherungsbeitrag in Höhe von 6 ½ % auch über den 31. März 1931 hinaus „bis auf weiteres“ in Kraft bleibt. Weitere kleine Veränderungen treten hinzu.103 Zweifellos handelt es sich bei diesen Modi98 Vgl.: Verhandlungen des Reichstags. V. Wahlperiode 1930. Stenographische Berichte. Band 444. Berlin 1931, 48 ff. 99 Für den Antrag sprechen sich 317, dagegen 234 Abgeordnete aus; vgl.: Winkler, Heinrich August: Der Weg...a.a.O.(=Anm. 12), 243. 100 Vgl.: Brüning, Heinrich: Memoiren...a.a.O.(=Anm. 6), 206. 101 Vgl.: RGBl. I 1930, 517 - 604. 102 Arbeitslosenversicherung und Notverordnung vom 1. Dezember 1930. In: Soziale Praxis, 39(1930)50, Sp. 1168 - 1170, hier: Sp. 1168. 103 Vgl. dazu genauer: Lehfeldt, Bernhard: Die Bedeutung der Notverordnung vom 1. Dezember 1930 für die Arbeitslosenversicherung. In: Reichsarbeitsblatt. Teil II. Nichtamtlicher Teil, 10(N.F.)(1930)36, 549 - 551, hier: 550 f.; vgl. auch: Wermel, Michael T., Urban, Roswitha: Arbeitslosenfürsorge...Teil III...a.a.O.(=Anm. 15), 42 f.

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fikationen nicht um die „grundlegenden Reformen“, die im Sanierungsprogramm der Reichsregierung vom 1. Oktober 1930 mit dem Ziel angekündigt wurden, die Arbeitslosenversicherung künftig „ohne Inanspruchnahme des Reichshaushaltes“ sicher zu stellen.104 In der Krankenversicherung werden die Vorschriften der Notverordnung vom 26. Juli 1930 vor allem insofern abgemildert, als Sozialleistungsempfänger, bedürftige Tuberkulose- und Geschlechtskranke sowie bestimmte Leistungsempfänger nach dem Reichsversorgungsgesetz von Kostenanteilen (Selbstbeteiligungen) an den Arznei- und Heilmitteln befreit werden. Erleichterungen werden auf diesem Gebiet auch für längerfristig arbeitsunfähige Menschen vorgeschrieben. Einige weitere Bestimmungen betreffen das Hausgeld und die Familienhilfe und sehen gewisse Verbesserungen vor. Hinzu treten vor allem noch einige arbeitsrechtliche Verbesserungen, indem bestimmt wird, daß sechswöchige Lohnfortzahlungsansprüche von Handlungsgehilfen, Betriebsbeamten, Werkmeistern, Technikern nicht mehr durch Vertrag ausgeschlossen oder beschränkt werden können. Eine zunächst vorgeschriebene Ausdehnung auf „gewerbliche Arbeiter“ wird allerdings durch eine nachträgliche „Berichtigung“ der entsprechenden Passage der Dezembernotverordnung wieder zunichte gemacht.105 Die übrigen acht Teile der Notverordnung folgen wiederum der bereits bekannten „Logik“ der Sanierung und Entlastung der „produktiven Kräfte.“ Die Ausgaben der öffentlichen Haushalte aller Ebenen des Staatsaufbaues werden begrenzt. Die Dienstbezüge der im öffentlichen Sektor beschäftigten Menschen werden um 6 v.H. gekürzt, das umfaßt auch die Versorgungsbezüge und ähnliche Zahlungen. Aus politischen Gründen werden die Amtsbezüge während der Dienstzeit sowie das Übergangsgeld des Reichskanzlers und der Reichsminister um 20 v.H. gekürzt. Bestimmte Befreiungsvorschriften, analoge Pflichten zu einer sechsprozentigen Gehaltskürzung auf Landes- und kommunaler Ebene bzw. für andere juristische Personen des öffentlichen Rechts schließen sich an. Diese Bestimmungen umfassen auch die Angestellten im öffentlichen Sektor, für deren (Tarif-)Verträge ein Sonderkündigungsrecht zum Zwecke des Gehaltsabbaues vorgesehen wird. Die Tabaksteuer wird unter Erhöhung der Steuersätze neu geregelt, dabei wird u.a. für Angestellte und Arbeiter, die in der Folge dieser Vorschriften arbeitslos werden oder Einbußen durch Kurzarbeit hinnehmen müssen, eine besonders günstige Unterstützung festgeschrieben.106 Bestimmte andere Steuern werden beibehalten bzw. ausgebaut wie z.B. die Ledigensteuer, die Zuschläge zur Einkommenssteuer für „Besserverdienende“ bzw. Aufsichtsratsmitglieder, weitere Steuern werden vereinfacht. Direkt unternehmensrelevante Steuern werden gekürzt, die Grundsteuer um 10 %, die Gewerbesteuer um 20 % für das Rechnungsjahr 1931. Der Finanzausgleich und die Wohnungswirtschaft werden neu geregelt. Weitere Maßnahmen zugunsten der Landwirtschaft werden getroffen. Auch auf dem Gebiet der Rechtspflege sind „Vereinfachungen“ und Ersparnisse vorgesehen.

104 Vgl.: Das Sanierungsprogramm...a.a.O.(=Anm. 92), Sp. 959; zur kommunistischen Reaktion auf die ersten Notverordnungen unter Brüning vgl. die Flugschrift: DIE NOT GEHT UM. Vom Massenkampf gegen Hungeroffensive und Sozialreaktion. O.O., o.J., sowie insgesamt die entsprechenden Passagen im: Handbuch der Kommunistischen Reichstagsfraktion: 2 Jahre Brüning-Diktatur. Von Brüning zu Papen. O.O. (Berlin), o.J. (1932). 105 Vgl. detaillierter: Die neue Notverordnung. In: Gewerkschafts-Zeitung, 401930)50, 785 - 786, hier: 786; vgl. auch: Koeppel, Wilhelm: Die Notverordnung vom 1. Dezember 1930. In: Bankarchiv, 30(1930), 127 - 136. 106 Vgl. neben der Rechtsquelle selbst: Sozialpolitisch wichtige Bestimmungen der Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen vom 1. Dezember 1930. In: Soziale Praxis, 39(1930)50, Sp. 1165 - 1167.

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Der Reichstag tagt, wie beschlossen, am 3. Dezember unter schwerem Polizeischutz. Vom 4. Dezember an debattiert er „...drei Tage lang den Haushaltsplan und vor allem die neue Notverordnung.“107 Am 5. Dezember 1930 werden vor dem Hintergrund von Hungerdemonstrationen in mehreren Großstädten, darunter Berlin, mit Hilfe der großen Mehrheit der sozialdemokratischen Fraktion alle Aufhebungsanträge bezüglich der bisherigen Notverordnungen und auch alle Mißtrauensanträge gegen die Regierung Brüning niedergestimmt. Nach heftigen Tumulten und antisemitischen Ausfällen der Nationalsozialisten vertagt sich der Reichstag am 12. Dezember auf den 3. Februar 1931.108 Während dieser Zeit wächst die „Wirtschafts- und Finanznot“ im Grunde von Tag zu Tag. Die Hoffnung, daß es aufgrund gewisser Anzeichen wieder aufwärts gehen und die Arbeitslosigkeit sinken könnte, erfüllt sich nicht. Sie steigt vielmehr aus konjunkturellen und saisonalen Gründen exorbitant an und verharrt auf einem nie gekannten Niveau. Unter diesen Bedingungen setzen schon bald die Vorarbeiten zu einer „Neuauflage und Vertiefung“ des nun schon bekannten Musters der „prozyklischen Parallelpolitik“ ein. Zum „...große(n) Werk der Rahmengesetzgebung für die endgültige Stabilisierung der Finanzen...“ kann die Notverordnung vom 1. Dezember 1930 vom Ansatz her und unter diesen Rahmenbedingungen nicht werden.109 Im Frühjahr 1931 ist für die Regierung der Zeitpunkt gekommen, eine neue Notverordnung vorzubereiten, da sich die Reichsfinanzen erneut in einem bedrohlichen Zustand befinden. Auf Drängen der Regierung vertagt sich am 26. März 1931 der Reichstag mit den Stimmen der Sozialdemokratie auf den 13. Oktober.110 Die Gestaltung der kommenden Notverordnung wird mehr denn je zu einem „Werk“ der Ministerialbürokratie und der auf sie einwirkenden Kräfte sowie der in ihr verkörperten Anschauungen. Während die Sozialdemokratie auf die Gestaltung des überwiegenden Inhalts der kommenden Notverordnung recht wenig Einfluß gewinnt,111 gilt dies nicht in gleichem Umfang für eine „Gutachterkommission zur Arbeitslosenfrage“, die ab Ende Januar 1931 unter Vorsitz des früheren Reichsarbeitsministers Heinrich Brauns tagt.112 Am selben Tage an dem der Leipziger Parteitag der Sozialdemokratie zu Ende geht, unterzeichnet Reichspräsident von Hindenburg die schon lange erwartete „Zweite Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen“ vom 5. Juni 1931.113 Es ist nicht nur der Inhalt dieser Verordnung, der am folgenden Tag für Aufsehen sorgt, sondern auch die ihr beigeordnete Erklärung der Reichsregierung. In Übernahme der Terminologie der Rechtspresse wird in ihr eine Revision der „Tributzahlungen“ angemahnt. Es heißt dort: „Die Grenze dessen, was wir unserem Volke an Entbehrungen aufzuerlegen vermögen, ist erreicht!“ Die Regierung sei sich bewußt, „...dass die aufs äusserste bedrohte wirtschaftliche und finanzielle Lage des Reichs gebieterisch zur Entlastung Deutschlands von untragbaren Reparationsverpflichtungen zwingt. Auch die wirtschaftliche Gesundung der Welt ist hierdurch mitbedingt.“114 Zu 107 Winkler, Heinrich August: Der Weg...a.a.O.(=Anm. 12), 268. 108 Vgl. denselben, ebenda, 270 f. 109 So aber die „sibyllinische“ Formulierung bei: Brüning, Heinrich: Memoiren...a.a.O.(=Anm. 6), 213. 110 Vgl.: Winkler, Heinrich August: Der Weg...a.a.O.(=Anm. 12), 295. 111 Vgl. zu den Gesprächen, die mit der Sozialdemokratie geführt werden, denselben, ebenda, 317 ff. 112 Vgl.: Wermel, Michael T., Urban, Roswitha: Arbeitslosenfürsorge...Teil III...a.a.O.(=Anm. 15), 43 ff. 113 Vgl.: RGBl. I 1931, 279. 114 Die Reichsregierung erklärt...In: Berliner Tageblatt. Abend-Ausgabe. 60. Jg. Nr. 263 vom 6. Juni 1931, 1; abgedruckt auch unter dem Titel: An die deutsche Volksgemeinschaft - an das Weltgewissen! In: Die Reichsversicherung, 5(1931)5, 125 - 126.

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dieser Zeit befindet sich Brüning mit seinem Außenminister auf dem Landsitz des Premierministers in Chequers in England. Als sie von der Konferenz in Chequers zurückkehren, werden sie mit den Unruhen, die durch die Notverordnung ausgelöst werden, unmittelbar konfrontiert: Ihr Sonderzug wird in allen Bahnhöfen von Nationalsozialisten mit Schmähungen empfangen und mit Steinen beworfen. Die auch aus außenpolitischen Gründen bewußt „zugespitzte“ Notverordnung greift „...tief hinein in vieles, was für beständig und unantastbar galt.“115 Die wichtigsten sozialpolitischen Bestimmungen der Notverordnung vom 5. Juni 1931 sind die folgenden:116 Die Versicherungspflicht der Heimarbeiter in der Arbeitslosenversicherung wird in das „Belieben“ des Verwaltungsrates der Reichsanstalt gestellt. Jugendliche, die das 21. (bisher 16.) Lebensjahr noch nicht vollendet haben, haben nur noch Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung, wenn ihnen kein familienrechtlicher Unterhaltsanspruch zusteht. „Unterwertige“, der Vorbildung und früheren Tätigkeit nicht entsprechende Arbeit kann von vornherein nicht mehr abgelehnt werden. Die Berechnung der Lohnklassen wird verschlechtert. Die Hauptunterstützung wird um 6,3 bis 14,3 % herabgesetzt, die Krisenunterstützung wird damit ebenfalls gekürzt. Die Möglichkeit Sperrfristen zu verhängen wird erweitert. Der Vorstand der Reichsanstalt kann bei Gefahr eines Defizits die Beiträge erhöhen, die Unterstützungssätze noch weiter senken und die Höchstdauer der Unterstützung kürzen. Die Wartezeit wird für Arbeitslose ohne zuschlagsberechtigte Angehörige von 14 auf 21 Tage verlängert. Die Regelungen für die Unterstützung von Angehörigen werden ebenfalls verschlechtert. Verheirateten Frauen wird die Arbeitslosenunterstützung nur gewährt, soweit sie hilfebedürftig sind. Neben anderen Rentenzahlungen werden Kriegsversorgungsrenten angerechnet, die Freigrenzen für die Rentenanrechnung werden halbiert. Abfindungen und Entschädigungen sind ebenfalls nicht länger anrechnungsfrei. Die Krisenunterstützung muß nunmehr unter bestimmten Bedingungen zurückerstattet werden. Die Unterstützungsdauer der Saisonarbeiter wird auf normalerweise 20 Wochen verkürzt. Die Pflichtarbeit, bisher zulässig für Jugendliche bis 21 Jahre und für Krisenunterstützte, wird nun ganz allgemein zugelassen. Das Krisenfünftel der Gemeinden soll nunmehr als Vorschuß geleistet werden. Der Steinkohlenbergbau kann mit dem Ziel der Preis- und Lohnkostensenkung von den Beiträgen zur Arbeitslosenunterstützung befreit werden. Die Reichsregierung erhält das Recht, jederzeit den Verwaltungsaufbau der Arbeitsverwaltung mit dem Ziel der Vereinfachung und Verbilligung zu ändern.117 Die Arbeitslosenversicherung wird vollständig vom Reichshaushalt „gelöst“, alle Zuwendungen und Zuschüsse entfallen. Die Sonderunterstützung für Tabakarbeiter wird mit dem 30. Juni 1931 aufgehoben. Die Zuwanderung von Arbeitslosen in die größeren Städte wird erschwert. Die Notverordnung vom 5. Juni 1931 bringt, neben der „Verallgemeinerung“ der Pflichtarbeit, als weiteres Instrumentarium mit „erzieherischer Intention“ den „Freiwilligen Arbeitsdienst“ (FAD). Er ist die Verwirklichung einer Idee, die insbesondere in den Jahren der Inflation als „Arbeitsdienstpflicht“ unüberhörbar propagiert wurde. Die stärkste Propaganda für diese Idee kam in den Jahren der „vorläufigen Stabilisierung“ vom „Deutschnati115 Stein, Günther: Ein historischer Tag. In: Berliner Tageblatt. Abend-Ausgabe. 60. Jg. Nr. 263 vom 6. Juni 1931, 1. 116 Wiedergegeben anhand des Gesetzestextes und der folgenden Aufstellung: Die Sozialpolitik in der Notverordnung. In: Gewerkschafts-Zeitung, 41(1931)24, 372 - 375. 117 Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Die Neuregelung der Versorgung der Arbeitslosen. In: GewerkschaftsZeitung, 41(1931)38, 611 - 613; vgl. zur Loslösung der Reichsanstalt vom Reichshaushalt: Wermel, Michael T., Urban, Roswitha: Arbeitslosenfürsorge...Teil III...a.a.O.(=Anm. 15), 49.

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onalen Handlungsgehilfenverband“, vom „Jungdeutschen Orden“ und von der NSDAP. Im Zeichen der Krise verdichtet sich diese Diskussion. Sie ist in den Kreisen der nationalen Rechten überaus deutlich mit Wehrwirtschafts-, Wehrertüchtigungs-, Indoktrinierungs- und Disziplinierungsgedanken verknüpft und findet schon aus diesem Grunde auf der Seite der „Linken“ keine oder nur sehr begrenzte Gegenliebe. Ganz vehement ist die Ablehnung durch die KPD und durch die mit ihr mehr oder weniger eng verbundenen Organisationen. Es existiert in der Weimarer Republik eine regelrechte Arbeitsdienst- und Arbeitslagerbewegung, die sich mit den alten Ideen der Siedlung, der „inneren Kolonisation“, der Reagrarisierung verbindet. Die Versöhnung von „Kopf- und Handarbeit“, die Überwindung des „marxistischen Klassenkampfgesetzes“, die Erzeugung von „Kameradschaft“ und „Gemeinschaftsgesinnung“ im und durch den Arbeitsdienst sind weitere Ziele, die damals diskutiert werden. Zahlreiche parlamentarische Initiativen sollten seine Einführung herbeiführen. Hervorzuheben ist, daß im Jahre 1930 der später einflußreiche ehemalige Freikorpsführer Konstantin Hierl „Beauftragter des Führers für den Arbeitsdienst der NSDAP“ wird.118 Der durch die Notverordnung vom 5. Juni 1931 eingeführte FAD fördert gemeinnützige und zusätzliche Arbeiten bei einer Vielzahl von Trägern, zu denen auf der Seite der „Linken“, trotz grundsätzlicher Skepsis, gewerkschaftliche und sozialdemokratisch orientierte Organisationen zählen.119 Zwar soll nach dem Wortlaut der Ausführungsverordnung der Mißbrauch von Mitteln des FAD für „politische oder staatsfeindliche Zwecke“ ausgeschlossen werden,120 doch schon gut ein Jahr später findet sich der „Wortbombast“ aus dem rechtsgerichteten Milieu als Zielvorgabe der entsprechenden Maßnahmen in den Verordnungen selbst.121 Der FAD wird sozialpolitisch ausgestaltet und organisatorisch und verfahrensmäßig verfestigt.122 Die Betonung der „körperlichen und geistig-sittlichen“ Ertüchtigung, des „echten Gemeinschaftsgeistes, die Beschränkung der Maßnahmen auf „junge Deutsche“, der undemokratische Verwaltungsaufbau, die allerdings noch eher beiläufige Einführung des Begriffs „Führer“ in die sozialpolitische Rechtssprache des Jahres 1932 weisen auf den drohenden Kontinuitätsbruch in der Entwicklung des deutschen Sozialstaats voraus. Bei wachsender Teilnehmerzahl, Ende November 1932 sind es 285.000 Jugendliche,123 wird der FAD zu einem Stück staatlicher Sozialpolitik an dem schon früh die NSBewegung erheblichen Anteil hat, eine Bewegung, die seit ihren Wahlerfolgen auf Länderebene und in den Kreisen und Gemeinden unaufhörlich vordringt. Der FAD nimmt insbesondere in der Trägerschaft rechtsgerichteter Organisationen in vielem Strukturen vorweg, deren „große Zeit“ mit dem Jahre 1933 kommt: die Lagerexistenz, den militärischen Drill, 118 Vgl. insgesamt als neuere Studie: Dudek, Peter: Erziehung durch Arbeit. Arbeitslagerbewegung und freiwilliger Arbeitsdienst 1920 - 1935. Opladen 1988, 67; reichhaltiges Material zur „Arbeitsdienstfrage“ aus der Sicht nationalistischer Kräfte enthält auch: BA Abt. Potsdam. 90 Mu 3 Nachlaß Reinhard Mumm, Nr. 563; vgl. insbesondere das maschinenschriftliche „ganz vertrauliche“ Manuskript eines Polizeioffiziers mit den Titel „Der Arbeitsdienst“, Bl. 72 ff. 119 Vgl. als informationshaltige Arbeit: Bartz, Joachim, Mor, Dagmar: Der Weg in die Jugendzwangsarbeit. Maßnahmen gegen Jugendarbeitslosigkeit zwischen 1925 und 1935. In: Lenhardt, Gero (Hg.): Der hilflose Sozialstaat. Frankfurt a.M. 1979, 28 - 94; als ältere Studie: Köhler, Henning: Arbeitsdienst in Deutschland. Berlin 1967. 120 Vgl. die „Verordnung über die Förderung des freiwilligen Arbeitsdienstes“ vom 23. Juli 1931 (RGBl. I 1931, 398). 121 Vgl. den Artikel 1 der „Verordnung über den freiwilligen Arbeitsdienst“ vom 16. Juli 1932 (RGBl. I 1932, 352). 122 Vgl. die „Ausführungsvorschriften zur Verordnung über den freiwilligen Arbeitsdienst vom 16. Juli 1932“ vom 2. August 1932 (RGBl. I. 1932, 392). 123 Im Februar 1932 beträgt die Zahl der Teilnehmer erst 18.821 Jugendliche; vgl.: Bartz, Joachim, Mor, Dagmar: Der Weg...a.a.O.(=Anm. 119), 71.

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die nationale politische Indoktrination, die weitgehend rechtlose Stellung der Teilnehmer, die hoheitlich verfügte Löhnung, den ausgeübten Zwang zur Teilnahme trotz der formalen Freiwilligkeit. Die „Zweite Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen“ vom 5. Juni 1931 enthält darüber hinaus zeitlich befristete finanzielle Nothilfen für die Arbeiterpensionskasse der Reichsknappschaft mit der Maßgabe, die Leistungen durch Satzung zu mindern.124 Die Eingriffe in die Invaliden-, Unfall- und Krankenversicherung sind diesmal relativ unbedeutend. Zur finanziellen Entlastung der Gemeinden wird u.a. die Lohnsteuerrückerstattung abgeschafft und es werden den Gemeinden die entsprechenden Mittel zugewiesen. Die Gemeinden profitieren darüber hinaus auch von den Mitteln, die durch die Kürzung der Gehälter frei werden und sie bekommen höhere Einkommenssteueranteile. Es finden sich „Anreize“ zur Herabsetzung der Fürsorge auf das „Erforderliche und Angemessene“. Nicht nur Bestimmungen des AVAVG, sondern auch fürsorgerechtliche Bestimmungen sollen nunmehr die Mobilität der Armen hemmen. Erneut werden auch die Leistungen der Reichsversorgung gekürzt. Durch eine Ermächtigung der Reichsregierung soll im öffentlichen Bereich und „ohne Schematismus“ auch in der Wirtschaft die regelmäßige Arbeitszeit bis auf 40 Stunden wöchentlich herabgesetzt werden.125 Das ist eine Reaktion auf die Forderung der Arbeiterbewegung nach einer „40-Stunden-Woche“. Einem Vorschlag der „Brauns-Kommission“ folgend, wird der Weg der Ermächtigung der Regierung (bei Zustimmung des Reichsrats) und nicht der Weg der gesetzlichen Einführung gewählt. Durchführungsbestimmungen weisen den Weg zu entsprechenden Lohnkürzungen und zu Verfahrensweisen der „Arbeitsstreckung.“126 Eine entsprechende Eingriffsmöglichkeit in Tarifverträge ist vorgesehen. Es mutet wie eine Ironie der Geschichte an, daß sich nunmehr unter dem Druck der wirtschaftlichen Verhältnisse die 48-Stunden-Woche und damit eine Hauptforderung aus der Revolutionszeit, der „Achtstundentag“, faktisch durchsetzt, ohne allerdings rechtlich vorgeschrieben zu sein.127 Die Notverordnung vom 5. Juni 1931 eröffnet darüber hinaus einige, allerdings wenig ergiebige Möglichkeiten zur Finanzierung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Erneut wird durch die Notverordnung vom 5. Juni 1931 eine umfassende Kürzung von Gehältern und Löhnen im öffentlichen Dienst vorgenommen. Gekürzt werden auch die Einkünfte von Ruhegeldempfängern und Hinterbliebenen. Die Kürzungen liegen zwischen vier und acht Prozent, je nach der Höhe der Einkünfte. Betroffen sind Beamte, Angestellte und Arbeiter des Reichs, der Länder, der Gemeinden und Gemeindeverbände. Andere Körperschaften des öffentlichen Rechts werden zur Durchführung entsprechender Maßnahmen ermächtigt. Die Kürzungsvorschriften sollen zum 31. Januar 1934 außer Kraft treten.128 Zu den Maßnahmen zur unmittelbaren Haushaltssicherung zählen z.B. auch eine Zuckersteuer- und Mineralölzollerhöhung, eine Krisensteuer für die Rechnungsjahre 1931 124 Vgl. zur Finanzkrise dieser Sozialversicherung, die auch wesentlich daher rührt, daß ein Zuschuß in Höhe von 75 Millionen Reichsmark jährlich aus den Überschüssen der Lohnsteuer seit Juni 1930 weggefallen ist: Peters, Otto: Die Finanzkrise der knappschaftlichen Pensionsversicherung. In: Soziale Praxis, 39(1930)50, Sp. 1172 1173. 125 Vgl.: Bischoff, Sabine: Arbeitszeitrecht in der Weimarer Republik. Berlin 1987, 153 ff. 126 Vgl. die „Durchführungsbestimmungen zur Einschränkung der Arbeitszeit“ vom 30. September 1931 (RGBl. I 1931, 521). 127 Vgl.: Bischoff, Sabine: Arbeitszeitrecht...a.a.O.(Anm. 125), 158. 128 Vgl. zusammenfassend: Was die Notverordnung enthält: Die Opfer der Beamten und Sozialrentner. In: Berliner Tageblatt. Abendausgabe. 60. Jahrgang, Nr. 263 vom 6. Juni 1931, 2.

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und 1932 von Lohn- und Gehaltsempfängern sowie von Einkommenssteuerpflichtigen. Damit und mit anderen hier nicht dargestellten Maßnahmen129 bietet auch diese Notverordnung erneut und in „eindrucksvoller“ Weise ein Beispiel dafür, daß die Lasten der „Sanierungspolitik“ weiterhin höchst einseitig verteilt werden, insofern „...als sie mit ganzer Schwere auf die Beamten und Arbeitnehmer fallen, die anderen Bevölkerungsgruppen dagegen schonend behandelt werden.“130 Nur notdürftig kann die in den „amtlichen Verlautbarungen“ deutlich werdende „Theorie“ der Sparpolitik die Interessengebundenheit dieser Eingriffe verschleiern. Doch auf der Seite der Wirtschaft werden die angestrebten Ziele nicht erreicht. Unmittelbar trägt auch diese Notverordnung zur politischen Beunruhigung, zur „schärfsten politischen Spannung“ und zur Vertiefung der Wirtschaftskrise bei, die 1931 mit dem „Bankenkrach“ einen besonders spektakulären Höhepunkt erreicht. Der Inhalt dieser Notverordnung, der der Sozialdemokratie bis zum Tag vor der Unterzeichnung, folgt man ihren offiziellen Publikationen, nur grob und lückenhaft bekannt ist, kommt einem Affront dieser Partei gleich, die unter dem Eindruck dieser Maßnahmen und unter den Bedingungen der Tolerierungspolitik um Einigkeit und Geschlossenheit ringt. Das wird bereits auf ihrem Parteitag, der vom 31. Mai bis zum 5. Juni stattfindet, deutlich, ein Parteitag der den Inhalt der neuen Notverordnung noch gar nicht im Detail kennt.131 Die Notverordnung vom 5. Juni 1931 löst bei anderen Kräften aus unterschiedlicher Motivation heraus umfassenden Protest aus. Dabei spielt bei den politischen Parteien der Wunsch nach Einberufung des Reichstags oder zumindest des Haushaltsausschusses eine überragende Rolle.132 Brüning begegnet diesem Ansinnen mit einer Rücktrittsdrohung und gegenüber der SPD auch wiederum mit der Androhung der Auflösung der Koalition in Preußen. Als der Reichskanzler sich „in letzter Stunde“ zu Verhandlungen über die Notverordnungen und zu einer späteren Einberufung des Haushaltsausschusses bereit erklärt und bei den Ausführungsbestimmungen eine „Milderung der Härten“ verspricht, nimmt am 16. Juni 1931 „...die sozialdemokratische Fraktion von der Einberufung des Haushaltsausschusses angesichts der bedrohlichen Finanz- und Wirtschaftslage im gegenwärtigen Zeitpunkt Abstand.“133 Dieser Standpunkt, der zu einer Fortsetzung der Tolerierung der Regierung Brüning durch die SPD und die Freien Gewerkschaften führt, der die Erpreßbarkeit 129 So enthält der Haushalts-Entwurf für 1931 1.152 Millionen Reichsmark an Abstrichen, davon allein 406,4 Millionen beim Etat des Reichsarbeitsministers; vgl.: Neues Jahr - Jahr der Entscheidung. In: Soziale Praxis, 40(1931)1, Sp. 1 - 11, hier: Sp. 6; vgl. insgesamt auch: Die „Zweite Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen“ vom 5. Juni 1931. In: Ebenda, Heft 24, Sp. 758 - 763. 130 Wunderlich, Frieda: Nach der Notverordnung. In: Soziale Sicherheit, 40(1931)26, Sp. 833 - 840, hier: Sp. 836. 131 So kristallisiert sich der Protest nicht nur an der Frage der Tolerierungspolitik, sondern auch z.B. an der „Panzerkreuzerfrage“; vgl. insgesamt: Sozialdemokratischer Parteitag in Leipzig 1931 vom 31. Mai bis 5. Juni im Volkshaus. Protokoll. Leipzig 1931; insbes. die Reaktionen auf den „Bericht der Reichstagsfraktion“, 124 ff.; vgl. auch: Notverordnung und Parteitag. Die Grenzen der Tolerierungspolitik. In: Vorwärts, 48. Jg. Nr. 254 vom 3. Juni 1931, 1; genauere Informationen zur Notverordnung vermeldt erst der Vorwärts vom 4.06.1931, S. 1. 132 Vgl. aus der Sicht der KPD: Raub der Erwerbslosenunterstützung. Polizeisturm auf die Stempelstellen! In: Die Rote Fahne, 14. Jg. Nr. 118 vom 6. Juni 1931, 1; Die Hungersnotverordnung verkündet. In: Ebenda, Nr. 119 vom 7. Juni 1931, 1 (zum Inhalt S. 3); eine sachliche Inhaltsangabe findet sich im Beitrag: Die Notverordnung. In: Frankfurter Zeitung. Abendblatt. 75. Jg. Nr. 415 vom 6. Juni 1931, 1f. sowie: Die Notmaßnahmen der Reichsregierung. In: Ebenda, 1. Morgenblatt. Nr. 416, 1 f.; vgl. auch: Das Volksopfer für die Katastrophenpolitik. In: Neue Preußische Kreuz-Zeitung, 83 Jg. Nr. 157 vom 6. Juni 1931, I. Beiblatt, Ausgabe A, 3 f.; strikt ablehnende, demagogische Kommentare bringt auch das „Kampfblatt der national-sozialistischen Bewegung Großdeutschlands“ der „Völkische Beobachter.“ 133 Zitiert nach: Notverordnung, Finanzen und Wirtschaft. In: Gewerkschafts-Zeitung, 41(1931)25, 385; zu einer ausführlicheren Darstellung vgl. etwa: Winkler, Heinrich August: Weimar...a.a.O.(=Anm. 88), 408 ff.

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der nichtkommunistischen Arbeiterbewegung und die große indirekte Bedeutung der NSDAP für die Innenpolitik schon dieser Jahre dokumentiert, ermöglicht die problemlose Ausarbeitung und Inkraftsetzung einer weiteren, in der Öffentlichkeit weniger beachteten Notverordnung. Es handelt sich um die „Dritte Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen“ vom 6. Oktober 1931.134 Auf dem Weg zu dieser Notverordnung liegt der Zusammenbruch großer Banken, liegen die „Bankfeiertage“, die drohenden Bankrotte in Ländern und Gemeinden bzw. Gemeindeverbänden, gravierende Einschränkungen der Pressefreiheit, die Aussetzung der Reparationszahlungen (Hoover-Moratorium). Unter dem Schutz der Tolerierungspolitik wird auch eine Notverordnung erlassen, die parlamentarisch-demokratische Verfahrensweisen auf der Ebene der Länder und Gemeinden einschränkt. Es handelt sich um die auf Drängen von Landesregierungen erlassene „Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung der Haushalte von Ländern und Gemeinden“ vom 24. August 1931.135 Diese nach dem Ort der Unterzeichnung so genannte „Dietramszeller Verordnung“ ermächtigt die Landesregierungen alle Maßnahmen, die zum Haushaltsausgleich der Länder und Gemeinden (Gemeindeverbände) für erforderlich gehalten werden, im Verordnungswege vorzuschreiben und dabei gegebenenfalls von dem bestehenden Landesrecht abzuweichen. Damit erhalten die unter den politischen Gegensätzen in den Vertretungsorganen „leidenden“ und teilweise zur Handlungsunfähigkeit getriebenen Länder und Gemeinden undemokratische Ausnahmevollmachten. Eine Fülle von Spar- und Haushaltsverordnungen in den finanziell bedrängten Ländern ist die Folge. Diese haben wiederum Auswirkungen auf die unter den Einnahmeausfällen und Wohlfahrtslasten leidenden Gemeinden. Diese Verordnungen erleichtern und forcieren eine bereits in Gang befindliche Spar- und Konsolidierungspolitik, die bedrohliche Ausmaße annimmt und zum Abbau, zur Rationalisierung und Ausdünnung zahlreicher Behörden führt.136 Auch die Länder und Gemeinden folgen „notgedrungen“ der Logik der „Parallel-“ bzw. Deflationspolitik mit den entsprechenden verbitternden und politisch fatalen Folgen. Auf der Länderebene und in den Gemeinden bzw. Gemeindeverbänden ist die Sozialdemokratie nicht nur „tolerierend“ sondern auch aktiv handelnd an dieser Politik beteiligt, die zerstörerischen Auswirkungen durchaus sehend und meist in der Überzeugung, keine andere Wahl zu haben.137 134 Vgl.: RGBl. I 1931, 537; die Zählung als „dritte Notverordnung“ bezieht sich nur auf jene Vorgängerverordnungen ähnlichen Titels und Inhalts; insgesamt werden Notverordnungen in überaus großer Zahl erlassen, die nicht auf diese Weise durchnumeriert sind. 135 Vgl.: RGBl. I 1931, 453; vgl. auch: Koops, Tilman (Bearb.): Die Kabinette Brüning I u. II...Band 1...a.a.O.(=Anm. 4), XXXV f. 136 Die „Bedrückung“ der Gemeindefinanzen durch die aus der Arbeitslosen- und Krisenunterstützung ausgesteuerten Erwerbslosen ist ein großes Thema in der damaligen kommunal- und sozialpolitischen Zeitschriftenliteratur; vgl. z.B.: Elsas, Fritz: Wohlfahrtserwerbslose und Gemeindefinanzen. In: Der Städtetag, 24(1930)2, 53 - 56; Derselbe: Das Problem der Wohlfahrtserwerbslosen - das Schicksal der Gemeinden. In: Ebenda, Heft 11, 525 527; auf eine Stadt bezogen: Die Wohlfahrts-Erwerbslosenzahlen steigen weiter! In: Dortmunder Wohlfahrtsblätter, 6(1930)11, 1 - 4; mit zahlreichen statistischen Angaben: Memelsdorff, F.: Die gemeindliche Erwerbslosenfürsorge in den deutschen Großstädten in den Jahren 1927 - 1929. In: Städte und Statistik. Beilage zu „Der Städtetag“ Nr. 5 1930, 17 - 22; Theißig: Gemeindefinanzen und Wohlfahrtslasten nach der Notverordnung vom 5. Juni 1931. In: Blätter für Wohlfahrtspflege, 11(1931), 201 - 208; wichtige Hinweise auch bei: Homburg, Heidrun: Massenarbeitslosigkeit in Deutschland 1930 - 1933. In: Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium, 14(1985), 205 - 215, bes. 205, 212 ff. 137 In diesem Zusammenhang sehr instruktiv: Brüdigam, Heinz: Halt - oder Sturz in den Abgrund. Hamburger Finanz- und Sozialpolitik unter Krise und Notverordnungen (1930 - 1932). O.O., o.J. (Hamburg 1991), bes. S. 20

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Der Ausfertigung der Notverordnung vom 6. Oktober 1931 gehen tatsächlich die von Brüning zugesagten Verhandlungen mit der Sozialdemokratie voraus. Es werden dabei bestimmte Verbesserungen in der Arbeitslosenunterstützung vereinbart. Dieser Preis, den die Regierung für die Tolerierung durch die SPD bezahlen muß, führt zu einer definitiven Abwendung der meisten Schwerindustriellen von diesem Kabinett.138 Die Ende September/Anfang Oktober stattfindenden Kabinettsberatungen über den Entwurf dieser Notverordnung,139 werden durch den erwähnten Tarifkonflikt im Bergbau, der mit Hilfe einer eigens aus diesem Anlaß erlassenen Notverordnung vom 27. September 1931 geregelt wird, überschattet. Geprägt werden die Beratungen darüber hinaus auch durch die erhebliche Abwertung der englischen Währung, die Brüning noch einmal zusätzlich in seinem Deflationskurs bestärkt, der nun als besonders notwendig erscheint, um den bedrohten deutschen Außenhandel zu stützen.140 Die währungspolitische Situation wiederum führt dazu, daß sich die wichtigsten zentralen Unternehmerverbände und die „Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“ gemeinsam mit einer Erklärung vom 29. September 1931 an die politischen Funktionsträger und die Öffentlichkeit wenden. Sie fordern unter argumentativer Ausnutzung der zugespitzten Situation eine noch schnellere Gangart in der Deflationspolitik, eine individuelle Gestaltung der Löhne durch eine Reform des Tarif- und Schlichtungswesens bei Beseitigung der Verbindlichkeitserklärung, weitere Beitragssenkungen und Vereinfachungen in den Sozialversicherungen. Betont wird das Zielbild einer „freien“, einer „individualistischen“ Wirtschaft als „Rettungsweg“ aus der Not, für die die Wirtschaftsverbände jede Verantwortung ablehnen.141 Die Notverordnung vom 6. Oktober 1931 hinterläßt einen zwiespältigen Eindruck. Ihre Veröffentlichung wird von einer Verlautbarung begleitet, die betont, es handele sich nicht um das angekündigte große „Wirtschaftsprogramm“ der Regierung.142 Ihrer Natur nach ist diese Notverordnung wiederum ein „gesetzgeberisches Sammelsurium“ in vielen Teilen. Sie umfaßt neben Bestimmungen zur „Bekämpfung politischer Ausschreitungen“, zu Vereinfachungen und Ersparnissen in der Rechtspflege, zu Maßnahmen der Handelsund Wirtschaftspolitik auch solche auf dem Gebiet des Wohnungs- und Siedlungswesens. Sie erweitert den Kreis der Körperschaften des öffentlichen Rechts, die der Sparpolitik unterliegen, und verknüpft damit wiederum Besoldungs- und Pensionskürzungen bei den Beamten und Möglichkeiten der Gehaltsabsenkung. Der befürchtete Angriff auf das Tarifrecht, das im Zentrum des Sturms des organisierten Unternehmertums gegen die staatliche

und ebenfalls auf Hamburg bezogen natürlich: Büttner, Ursula: Hamburg in der Staats- und Wirtschaftskrise 1928 - 1931. Hamburg 1982; einen Überblick über die zahlreichen Notverordnungen auf der Basis der „Dietramszeller Verordnung“ bietet: Spangenberg, B.: Die Sparverordnungen der Länder auf Grund der Notverordnung des Reichspräsidenten vom 24.8.1931. In: Reich und Länder, 5(1931),278 - 286 und 308 - 320; vgl. für Preußen als rechtswissenschaftliche Untersuchung: Dürre, Günter: Preußische Notverordnungen. Marburg 1934 (Diss. jur.). 138 Vgl.: Winkler, Heinrich August: Der Weg...a.a.O.(=Anm. 12), 416 ff. 139 Vgl.: Koops, Tilman (Bearb.): Die Kabinette Brüning I u. II. Band 2. Boppard am Rhein 1982, 1755 ff., 1772 ff., 1778 ff., 1781 ff., 1801 ff. 1805 ff. 140 Vgl. dazu den Beitrag Brünings zur Ministerbesprechung vom 2. Oktober 1931 bei: Koops, Tilman (Bearb.): Die Kabinette Brüning I und II...Band 2...a.a.O.(=Anm. 139), 1782 ff. 141 Abgedruckt als Dokument Nr. 496 bei demselben, ebenda, 1764 ff.; daß diese Eingabe nicht als Lossagung oder Kampfansage an die Regierung Brüning zu verstehen ist, vermutet hingegen Staatssekretär Pünder; vgl. ebenda, Dok. 499, 1775 f. 142 Vgl.: Die dritte große Notverordnung. In: Frankfurter Zeitung. 76. Jahrgang. Nr. 748 - 749 vom 8. Oktober 1931, 1

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Sozialpolitik steht, unterbleibt jedoch.143 Einige Maßnahmen betreffen erneut die Arbeitsmarktpolitik. Für vorübergehend Entlassene bei einem Wechsel eines Teils der Belegschaft wird die Möglichkeit eröffnet, unter bestimmten Voraussetzungen Arbeitslosenunterstützung zu beziehen (sog. Krümpersystem). Der Vorstand der Reichsanstalt, der am 1. Oktober 1931 als Maßnahme für die Dauer des Winters (bis zum 31. März 1932) beschlossen hatte, die versicherungsmäßige Arbeitslosenunterstützung auf 20 Wochen, bei berufsüblicher Arbeitslosigkeit auf 16 Wochen zu kürzen, wird ermächtigt anzuordnen, daß die Arbeitslosenunterstützung bis zu einem Drittel in Sachleistungen erfolgen darf. Die Bezugsdauer der Krisenfürsorge wird um sechs Wochen verlängert.144 Daneben finden sich einige Abmilderungen der Härten der Notverordnung vom 5. Juni 1931, die das Ergebnis der Verhandlungen der Sozialdemokratie mit der Regierung Brüning dokumentieren. Saisonarbeitslose erhalten außerhalb der „Saison“ ab dem 28. März wieder die volle Unterstützung. Für die Berechnung der Unterstützung wird wieder der Arbeitsverdienst der letzten 26 Wochen zugrunde gelegt. Ein familienrechtlicher Unterhaltsanspruch von Jugendlichen unter 21 Jahren soll nur dann den Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung ausschließen, wenn die Versorgung des Jugendlichen auch tatsächlich gewährleistet ist. Die Verhängung von Sperrfristen wegen „Arbeitsscheu“ oder „selbstverschuldeter Arbeitsaufgabe“ wird an objektivere Kriterien gebunden. Die in der Notverordnung vom Juni vorgesehene, aber nie durchgeführte Rückzahlungspflicht der Krisenunterstützung wird offiziell aufgehoben. Beseitigt wird auch die Möglichkeit, einen Teil der Unterstützung für die Wohnungsmiete unmittelbar an den Vermieter zu zahlen. Trotzdem gelingt es, die Reichsanstalt zu Lasten der Arbeitslosen weiterhin vom Reichshaushalt „abzukoppeln“ und ohne Zuschüsse bzw. Darlehen im Haushaltsjahr 1931, einem Jahr enormer Arbeitslosigkeit, einen Überschuß von 24 Millionen Reichsmark im Haushalt der Reichsanstalt zu erwirtschaften.145 Um den Gemeinden zu helfen, die Wohlfahrtslasten zu tragen und ihre Haushaltswirtschaft aufrechtzuerhalten, bekommen sie über die 60 Millionen Reichsmark hinaus, die ihnen nach der Notverordnung vom 5. Juni zufließen, unter anderem weitere 170 Millionen Mark Reichshilfe.146 Nur einen Tag nach Erlaß der Notverordnung, am 7. Oktober 1931, nimmt Brüning den Rücktritt seines Außenministers zum Anlaß für eine Gesamtdemission des Kabinetts. Die eigentlichen Gründe sind die Forderungen des Reichspräsidenten, des Chefs des (Reichswehr-)Ministeramts Kurt von Schleicher, des „Reichslandbundes“ und maßgeblicher Industriellenkreise, der Regierung eine deutliche Wende nach rechts zu geben und sich von dem Einfluß bzw. der Tolerierung durch die Sozialdemokratie „endlich“ zu befreien. Zwar mißlingt eine solche radikale Wende, gleichwohl werden einige personelle Veränderungen im Sinne einer stärkeren Rechtsorientierung vorgenommen.147 Die Sozialdemokratie entschließt sich, nicht zuletzt unter dem Eindruck der Heerschau der „nationalen Oppositi143 Vgl.: Aufhäuser, S.(iegfried): Vor der neuen Notverordnung. In: Vorwärts. 48. Jahrgang. Nr. 461, Morgenausgabe vom 2.10.1931, 1f.; daselbst in der Abendausgabe vom 7. Oktober 1931 auf der Seite 1 auch eine Inhaltsangabe des „gebündelten Notrechts“. 144 Vgl.: Wermel, Michael T., Urban, Roswitha: Arbeitslosenfürsorge... Teil III ...a.a.O.(=Anm. 15), 56; vgl. die „Verordnung über die Krisenfürsorge für Arbeitslose“ vom 23. Oktober 1931 (RGBl. I 1931, 659). 145 Vgl. dieselben, ebenda, 58. 146 Vgl. dazu und überhaupt zum Gesamtinhalt der Notverordnung vom 6. Oktober 1931: Der Inhalt der Notverordnung. In: Berliner Tageblatt, 60. Jahrgang, Nr. 473 vom 7. Oktober 1931, 3; noch viel ausführlicher: Was bringt die Notverordnung? In: Vossische Zeitung. Abendausgabe. 1. Beilage zu Nr. 173 vom 7. Oktober 1931, 1 2. 147 Vgl.: Winkler, Heinrich August: Der Weg...a.a.O.(=Anm. 12), 426 f., 431.

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on“ am 11. Oktober in Bad Harzburg und der zunehmenden Wahl- und Organisationserfolge der NSDAP, zur Tolerierung auch des zweiten Kabinetts Brüning.148 Am 13. Oktober 1931 kommt es zur ersten Reichstagssitzung seit der Vertagung im März. Brüning gibt in dieser Sitzung eine Regierungserklärung ab, die eine Fortsetzung seiner Politik der Selbstkostensenkung in der Wirtschaft, der Herabsetzung der Ausgaben der öffentlichen Hand, der Lohn- und Preissenkungen umreißt und einen „Wirtschaftsbeirat“ ankündigt.149 Es folgen turbulente Sitzungen des Parlaments. Am 14. Oktober verläßt die NSDAP unter Heil-Rufen den Reichstag und die DNVP meldet sich zu Wort, um „Abrechnung zu halten“, „...um eine Kriegsansage auf den Tisch zu legen, (bravo! Bei den Deutschnationalen) eine Kriegsansage dem System, unter dem wir regiert werden und den Trägern dieses Systems.“150 Am 16. Oktober schließlich sieht sich das zweite Kabinett Brüning mit Mißtrauensanträgen konfrontiert, die mit 270 gegen 295 Stimmen bei drei Enthaltungen abgelehnt werden.151 Anschließend vertagt sich der Reichstag mehrheitlich auf Antrag eines Zentrumsabgeordneten auf den 23. Februar 1932.152 Der angekündigte „Wirtschaftsbeirat“, in dem etwa 20 Vertretern der Unternehmerschaft (des Handels, des Handwerks, der Industrie und der Landwirtschaft) nur 6 Vertreter der Arbeiter und Angestellten gegenüberstehen,153 beendet bereits am 23. November 1931 seine Arbeit. Er kommt aus der Sicht Brünings im wesentlichen zu einer Empfehlung einer Weiterführung der Deflationspolitik. Eine entsprechende Senkung von Löhnen und Gehältern sei unvermeintlich, dabei müsse der Grundsatz des Tarifvertrages erhalten bleiben.154 Gleichzeitig signalisiert der Reichspräsident anläßlich der Beendigung der Tätigkeit des „Wirtschaftsbeirats“, daß nunmehr die Reichsregierung die Pflicht der „Führung und des Handelns“ habe.155 Während sich SPD und ADGB äußerst besorgt und ablehnend zu den Ergebnissen der Verhandlungen im „Wirtschaftsbeirat“ äußern und die Tolerierungspolitik intern erneut aber wiederum vergeblich von oppositionellen Kräften in Frage gestellt wird, beginnt im Regierungsapparat der Prozeß des Aushandelns einer neuen Notverordnung.156 Vor dem Hintergrund von Arbeitslosenzahlen, die ihrem „Rekordhoch“ entgegenstreben und angesichts der Tatsache, daß nach Großbritannien 25 weitere Länder ihre Währung vom Goldstandard abkoppeln und sich eine Welle von Zollerhöhungen und Einfuhrbeschränkungen bei wichtigen „Handelspartnern“ Deutschlands ausbreitet,157 entsteht die 148 Vgl. denselben, ebenda, 433 f.; vgl. auch den Redebeitrag des Sozialdemokraten R. Breitscheid in der Reichstagssitzung vom 14. Oktober 1931 in den: Verhandlungen des Reichstags. V. Wahlperiode 1930. Stenographische Berichte. Band 446. Berlin 1932, 2085. 149 Vgl.: Verhandlungen des Reichstags...a.a.O.(=Anm. 148), 2071. 150 Vgl. ebenda, 2089, 2096; die KPD interpretiert das Kabinett Brüning I als „Vorbereitung der faschistischen Diktatur in Deutschland“, das Kabinett Brüning II als „Vorstufe für die faschistische Diktatur“; vgl. ebenda, 2090. 151 Vgl. ebenda, 2231 ff. (namentliche Abstimmung). 152 Vgl. ebenda, 2230. 153 Vgl. genauer: Jahn, Peter, Brunner, Detlev (Bearb.): Die Gewerkschaften in der Endphase der Republik 1930 1933. Köln 1988, 419 ff. 154 Vgl.: Koops, Tilman (Bearb.): Die Kabinette Brüning I u. II. Band 3. Boppard am Rhein 1990, 1991 ff. ( Dok. Nr. 564). 155 Vgl. ebenda, 1998. 156 Vgl.: Winkler, Heinrich August: Der Weg...a.a.O.(=Anm. 12), 438 u. 454 ff.; vgl. als Stellungnahme des Bundesausschusses des ADGB zur Arbeit des „Wirtschaftsbeirats“: Jahn, Peter, Brunner, Detlev (Bearb.): Die Gewerkschaften...a.a.O.(=Anm. 153), 430. 157 Vgl.: Winkler, Heinrich August: Der Weg...a.a.O.(Anm. 12), 454 f.; vgl. auch: Naphtali, Fritz: Notverordnung und Wirtschaft. In: Gewerkschaftliche Monatsschrift für Funktionäre und Betriebsvertretungen der Angestellten, (1932)1, 2 - 4.

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wiederum wahrhaft tiefgreifende und sozialpolitisch erneut höchst bedeutsame „Vierte Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens“ vom 8. Dezember 1931.158 Mit „verblüffender Kühnheit“, schreibt die Gewerkschafts-Zeitung, das Organ des ADGB, habe „...die Regierung Rechtsbeziehungen des wirtschaftlichen Lebens abgeändert - nicht nur die Tarifverträge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, sondern auch die Privatverträge zwischen Mietern und Vermietern, zwischen Gläubigern und Schuldnern.“159 ADGB und SPD bekunden in Entschließungen ihren fehlenden Einfluß und die Nichtberücksichtigung ihrer Vorstellungen. Die SPD kündigt allerdings wegen der befürchteten schlimmen Folgen einer offenen politischen Krise „unter Vorbehalten“ eine Fortsetzung ihrer Tolerierungspolitik an.160 Die umfangreiche Notverordnung,161 die im Reichsgesetzblatt 46 Druckseiten umfaßt, enthält erneut nicht nur wirtschafts- und sozialpolitische Bestimmungen, sondern auch solche gegen den Waffengebrauch, ein Uniform- und Abzeichenverbot, eine Verstärkung des „Ehrenschutzes“ und einen „Weihnachtsfrieden“, der bis zum 3. Januar 1932 gelten soll und den Gegnern der politischen Ordnung öffentliche politische Aktivitäten verbietet. Ganz im Sinne der Rechtfertigung dieser Notverordnung als Maßnahme, die der Steigerung der Kaufkraft des Geldes, der Belebung des Binnenmarktes und der Steigerung des Exports dienen soll, werden umfangreiche Preissenkungen verfügt: Die Kartellpreise sollen um 10 % fallen. Ein „Reichskommissar für die Preissenkung“ soll auf die nichtgebundenen Preise einwirken. Sein Handlungsspielraum ist bedeutend. Er soll eine unerträgliche Schrumpfung der Kaufkraft des deutschen Volkes vermeiden helfen und zu diesem Zweck dafür sorgen, daß die aus außenwirtschaftlichen Motiven angestrebte Senkung der Preise mit der Senkung der Löhne „Schritt hält“. Das Amt des Reichspreiskommissars wird von Carl Friedrich Goerdeler (DNVP) übernommen. Er hat dieses Amt bis zum Jahre 1935 inne. Umfassend sollen auch die Zinsen sinken. Für Wohnungen und gewerbliche Räume werden Mietsenkungen vorgeschrieben. Der Schutz gegen Zwangsvollstreckungen wird ausgedehnt. Hinzu treten weitere wirtschaftliche Maßnahmen wie z.B. eine Reichsfluchtsteuer für Personen, die aus Gründen der hohen Besteuerung ihren Wohnsitz in das Ausland verlegt haben und die bestimmte Einkommens- und Vermögensgrenzen überschreiten. Unter den Maßnahmen, die dem Haushaltsausgleich dienen sollen, fällt eine Erhöhung der Umsatzsteuer von 0,85 auf zwei Prozent ins Auge. Diese Maßnahme dürfte allerdings kaum geeignet gewesen sein, die Wirtschaft zu beleben. Wesentlich mit der Ankündigung von preissenkenden Eingriffen legitimiert, erfolgen erneut harte Abbaumaßnahmen bei den Löhnen, Gehältern und Sozialleistungen. In der Privatwirtschaft sollen die Löhne grundsätzlich dem Stande vom 10. Januar 1927 angeglichen werden, wobei ein gewisser Spielraum verbleibt und die Lohnsenkung höchstens 10 % betragen darf. Damit hat der von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen nicht unbeeinflußte Staat ein ihm angemessen erscheinendes Lohnniveau verfügt. Im Ergebnis ist 158 Vgl.: RGBl. I 1931, 699; diese Notverordnung wird am Abend der Unterzeichnung in einer Rundfunkrede über alle deutschen Sender von Brüning erläutert und gerechtfertigt; vgl.: Dr. Brünings Geleitwort zur Notverordnung. In: Neue Preußische Kreuz-Zeitung, 84. Jahrgang Nr. 343 vom 9. Dezember 1931, 1; vgl. auch: BrüningRede im Rundfunk. In: Vorwärts, 48. Jahrgang Nr. 575 vom 9. Dezember 1931, 2 f. 159 Sinn und Widersinn der vierten Notverordnung. In: Gewerkschafts-Zeitung, 41(1931)51, 801 - 802, hier: 801. 160 Vgl.: Gewerkschaften und Notverordnung. In: Gewerkschafts-Zeitung, 41(1931)51, 801; zum Beschluß der Reichstagsfraktion der SPD zur Notverordnung vgl. ebenda, 806 - 807. 161 Eine umfassende Inhaltsangabe findet sich unter dem Titel: Die Vierte Notverordnung. In: Vossische Zeitung Nr. 579 vom 9. Dezember 1931, 5 - 8.

Die Brüningsche Notverordnungspolitik

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das ein gravierender, ein „roher“ Eingriff in das Tarifrecht. Dieses Recht bleibt als solches zwar (noch) unangetastet, es gilt weiterhin die Unmittelbarkeit und Unabdingbarkeit des Tarifvertrags, die Durchführungspflicht und die Friedenspflicht (d.h. vor allem das Streikund Aussperrungsverbot) für die Verbände, ansonsten fehlt es aber an der „Tariffreiheit“. An deren Stelle ist das „Lohndiktat der Reichsregierung“ getreten.162 Die Regierung wird darüber hinaus ermächtigt, die „Sozialwahlen“ einschließlich der Betriebsrätewahlen durch Verlängerung der Amtszeit um ein Jahr zu verschieben. Vor allem die Verschiebung der Betriebsrätewahlen soll „politische Beunruhigungen“ verhindern helfen. Von dieser Wahlverschiebung profitiert vermutlich in hohem Maße der ADGB. Schon im Jahre 1931 hatte er unter dem Druck der „Revolutionären Gewerkschaftsopposition“ (RGO), die sich Ende der 20er Jahre formiert, mit großen regionalen Unterschieden spürbare Einbußen hinnehmen müssen.163 Der Einfluß der aus der Betriebszellenbewegung hervorgehenden, offiziell am 30. Juli 1928 gegründeten „Nationalsozialistischen Betriebszellen-Organisation“ (NSBO) fällt allerdings noch kaum ins Gewicht.164 Gekürzt werden wiederum auch die Gehälter der Beamten, diesmal um weitere 9 %. Versorgungsbezüge und andere Zahlungen an Beamte unterliegen ebenfalls der Kürzung. Umfangreich sind die Bestimmungen zur Sozialversicherung und Fürsorge, wobei Bestimmungen zur Arbeitslosenversicherung diesmal völlig fehlen. In der Krankenversicherung wird ein neues Ärzteabkommen, das bei den Ortskrankenkassen Zustimmung, sonst aber Ablehnung gefunden hat, durch diese Notverordnung in Kraft gesetzt. Die Leistungen der Krankenversicherung werden zeitweise auf Regelleistungen begrenzt. In der Unfallversicherung werden alle Renten bis zu 20 v.H. der Vollrente gestrichen, eine Maßnahme, die 400.000 Rentenbezieher betrifft. Von den zahlreichen weiteren Leistungseinschränkungen in der Sozialversicherung sind verlängerte Wartezeiten in der Invaliden- und Angestelltenversicherung zu erwähnen. Sieht man von einigen eher technischen Rechtsquellen und von einer Verordnung, die die Selbstverwaltung in der Arbeitslosenversicherung wesentlich einschränkt165 ab, so handelt es sich bei der Notverordnung vom 8. Dezember um die letzte bedeutende Aktion der Regierung Brüning auf dem Gebiet der staatlichen Sozialpolitik. In die Endhase der Regierung Brüning fällt die vom Zentrum und der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung mitgetragene Wiederwahl des greisen Feldmarschalls von Hindenburg als Reichspräsident am 10. April 1932, eine Strategie, die gegen die Kandidatur Hitlers und das spektakuläre Vor162 Vgl. auch: Die Vierte Notverordnung, ihr Inhalt - ihre Auswirkung. In: Gewerkschafts-Zeitung, 41(1931)51, 807 - 811, hier: 809; vgl. zum Eingriff in den Tarifvertrag auch: Wir müssen ein billiges Land werden! Stegerwald zur Notverordnung. In: Frankfurter Zeitung, 76. Jg. Nr.916. 2. Morgenblatt vom 9. Dezember 1931, 2; in der Frankfurter Zeitung vom 9. und 10. Dezember 1931 erfolgt ebenfalls eine relativ ausführliche Darstellung des Inhalts dieser „vierten Notverordnung“; vgl. als Stellungnahme, die naturgemäß die Repressivmaßnahmen sehr stark betont: Lohnabbau und Ausnahmezustand! In: Die Rote Fahne, 14. Jg. Nr. 227 vom 9. Dezember 1931, 1 f. sowie: Was bringt die vierte Notverordnung? In: Ebenda Nr. 229 vom 15. Dezember 1931, S. 1 der Beilage. 163 Vgl. dazu umfassend: Müller, Werner: Lohnkampf, Massenstreik, Sowjetmacht. Köln 1988, 46 ff.; vgl. zu ihrem Ziel, im Zuge einer spezifischen Einheitsfrontpolitik erneut eine revolutionäre Betriebsrätebewegung zu beleben: Protokoll der Reichsbetriebsräte-Konferenz am 30./31. Januar 1932...In: SAPMO-BA KPD/ZK. I 2/708/119, Bl. 1 ff. 164 Vgl. dazu: Mai, Gunther: Die Nationalsozialistische Betriebszellen-Organisation. In: Matthias, Erich, Schönhoven, Klaus (Hg.): Solidarität und Menschenwürde. Bonn 1984, 271 - 289; vgl. die statistischen Angaben im Beitrag: Betriebsrätewahlen. In: Soziale Praxis, 41(1932)3, Sp. 92 - 93. Der Anteil der Freien Gewerkschaften an der Zahl der Arbeiterratsmitglieder sinkt gegenüber 1930 von 86,9 auf 83,6 %. Der Ruhrbergbau ist eine Hochburg der RGO, die hier 25,8 % der Sitze erzielt. 165 Es handelt sich um die „Verordnung zur Vereinfachung und Verbilligung der Arbeitslosenversicherung“ vom 21. März 1932 (RGBl. I 1932, 157).

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dringen der NS-Bewegung gerichtet ist.166 In dieser Endphase zerbricht auch der bisher dominierende Deflationskonsens. Schon bei der Vorbereitung der Dezember-Notverordnung kommt es zu heftigen internen Auseinandersetzungen um die Frage der Belebung des Binnenmarktes durch Kreditausweitung.167 Auf Kreditausweitung beruht zu dieser Zeit auch der WTB-Plan der Freien Gewerkschaften, der am 26. Januar 1932 in endgültiger Gestalt vorliegt.168 Auch im „Wirtschaftsbeirat“ wurden solche Pläne erörtert. Der Präsident des „Statistischen Reichsamts“, Ernst Wagemann, legt im Januar 1932 einen Plan zur „Geld- und Kreditreform“ vor. Am 12. Februar 1932 werden Pläne des Oberregierungsrates im Reichswirtschaftsministerium, Wilhelm Lautenbach, zur „Schaffung zusätzlicher Kaufkraft durch Kreditausweitung“ erörtert. Vorstöße von Seiten des Finanz- und Arbeitsministeriums schließen sich im März des Jahres an.169 Während es zwischen SPD und ADGB in diesen Fragen zu einem tiefgreifenden Dissenz kommt, legen auch die „Flügelparteien“ ihre Vorstellungen zu einer expansiven Politik vor. Die NSDAP propagiert in der Reichstagssitzung vom 10. Mai ihr Programm zu einer umfassenden Arbeitsbeschaffung.170 Die KPD veröffentlicht in der „Roten Fahne“ vom 29. Mai 1931 ihre Vorstellungen zur expansiven Beschäftigungspolitik. Sie entfaltet weiterhin in Form von örtlichen Aktionen, Erwerbslosenausschüssen, Erwerbslosentagen, -konferenzen und -kongressen, Hungermärschen, Protestaktionen gegen Exmittierungen, Erwerbslosendemonstrationen, durch Arbeitslosenzeitungen und Flugblätter erhebliche Aktivitäten unter den Arbeitslosen.171 Soweit diese Vorstöße von „regierungsnahen“ Kräften vorgebracht werden, stoßen sie auf die Skepsis des Reichskanzlers, der die Krise weiterhin für seine keineswegs widerspruchsfreie Politik des „Durchhaltens“ und für reparations- bzw. außenpolitische Ziele auch um den Preis eines noch größeren sozialen Elends und einer noch stärkeren Radikalisierung ausnutzen möchte und der in diesem Zusammenhang vor einer sich ausbreitenden Inflationsfurcht meint warnen zu müssen.172 166 Im Freistaat Preußen steigt die Stimmenzahl der NSDAP von 346.771 in der Wahl vom 20. Mai 1928 auf 8.007.384 in der Wahl vom 24. April 1932 bzw. von 1,8 auf 36,3 % der Stimmen. Die Mandate vermehren sich von 6 auf 162; vgl.: Falter, Jürgen, Lindenberger, Thomas, Schumann, Siegfried: Wahlen und Abstimmungen...a.a.O.(=Anm. 89), 101. 167 Vgl.: Winkler, Heinrich August: Weimar...a.a.O.(=Anm. 88), 435; vgl. auch: Koops, Tilman (Bearb.): Die Kabinette Brüning I u. II...Band 1...a.a.O.(=Anm.4), LXXXVIII ff. 168 Vgl. dazu: Schneider, Michael: Das Arbeitsbeschaffungsprogramm des ADGB. Bonn-Bad-Godesberg 1975; der Plan ist nach den Anfangsbuchstaben seiner Verfasser benannt, des Leiters der statistischen Abteilung des ADGB, Wladimir Woytinsky, des Vorsitzenden des Holzarbeiterverbandes, Fritz Tarnow, und des Ökonomen und Reichstagsmitglieds Fritz Baade. 169 Vgl. dazu zusammenfassend: Longerich, Peter: Deutschland 1918 - 1933. Hannover 1995, 314 ff. 170 Vgl. denselben, ebenda, 316; vgl. zur Auseinandersetzung in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung auch die folgende Kontroverse: Woytinsky, Wladimir: Aktive Weltwirtschaftspolitik. In: Die Arbeit, 8(1931)6, 413 - 440; Naphtali, Fritz: Neuer Angelpunkt der aktiven Konjunkturpolitik oder Fehlleitung von Energien. In: Die Arbeit, (1931)7, 485 - 497; Woytinsky, Wladimir: Und dennoch Weltwährungspolitik gegen die Weltwirtschaftskrise! In: Ebenda, 498 - 509. 171 Vgl. dazu die im Stil der DDR-Historiographie argumentierende Arbeit von: Wimmer, Walter: Die Partei Thälmanns im Kampf für Arbeit und Brot. In: Einheit, 36(1981)2, 177 - 183; vgl. zur Arbeitsbeschaffung auch: Wolffsohn, Michael: Arbeitsbeschaffung als Wohlfahrtspolitik? Die Endphase der Weimarer Republik. In: Mommsen, Wolfgang J., Mock, Wolfgang (Hg.): Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates in Großbritannien und Deutschland 1850 - 1950. Stuttgart 1982, 213 - 251; hier auch Informationen über weitere Vorstöße und Diskussionen. 172 Vgl. zur „Inflationsangst, die damals zu erheblichen Teilen auch eine Angst vor der Reaktion der Bevölkerung auf inflationäre Prozesse ist und zu ihrer politischen Bedeutung: Pierenkemper, Toni: Die Angst der Deutschen vor der Inflation oder: Kann man aus der Geschichte lernen? In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, (1988)1, 59 - 84.

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Vor allem aus drei Gründen verdichten sich im Frühjahr 1932 die Anzeichen einer kommenden Regierungskrise: Die Schwerindustrie ist über die weiterbestehende Verbindung der Regierung Brüning zur Sozialdemokratie verbittert, die zu einigen sozialpolitischen Kompromißbildungen Anlaß gab. Die ostelbische Landwirtschaft ist über den Plan einer Aufteilung rettungslos überschuldeter Güter in Siedlungsstellen entsetzt und zwischen Brüning und von Hindenburg kommt es zu Kontroversen in der Frage der Behandlung der NS-Bewegung, eine Frage, die sich am schließlich doch durchgesetzten zeitweiligen SAVerbot zuspitzt. Vor diesem Hintergrund arbeitet die zweite Regierung Brüning, den Konflikt mit der ostelbischen Landwirtschaft vertiefend, an einer weiteren, an einer „Fünften Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen“, wie es in einem entsprechenden Entwurf heißt.173 Während dieser Entwurf wiederum wesentliche Maßnahmen zum Abbau der staatlichen Sozialpolitik umfaßt, öffnet er sich in begrenztem Maße und in spezifischer Form der „Arbeitsbeschaffung.“174 Diese „Wendung“ dient jedoch im Wesentlichen nur dem Zweck „...die Fortsetzung und Steigerung des Deflationskurses politisch durchsetzbar zu machen.“175 Zur Unterzeichnung dieser Notverordnung durch den Reichspräsidenten kommt es nicht mehr, weil Brüning an Unterstützung verliert und von Hindenburg nun endlich eine Regierung bilden will, die deutlich weiter rechts angesiedelt ist und die auf die Sozialdemokratie keine Rücksicht mehr nehmen muß. Am 30. Mai 1932 wird das Kabinett Brüning vom Reichspräsidenten entlassen.176

3.2 Die Sozialpolitik der Kabinette von Papen und von Schleicher Während die entlassene Regierung Brüning im Reichstag wenigstens noch eine Tolerierungsmehrheit hatte, fehlt diese bei der am 1. Juni 1932 ernannten Regierung Franz von Papen von vornherein. Die SPD beendet unmittelbar mit der Ernennung dieser Regierung ihre Tolerierungspolitik. Damit hat die Regierung keinen parlamentarischen Rückhalt. Das wesentlich auf Betreiben Schleichers zustande gekommene Kabinett, das „Kabinett der Barone“, das sich selbst als „Kabinett der nationalen Konzentration“ bezeichnet, zeigt mit seinen regierungsbeteiligten Adeligen, daß das 1918 zurückgedrängte „Alt - Preußentum“, daß die alte Herrenkaste vorübergehend sehr erfolgreich in Herrschaftspositionen zurückdrängt.177 Als Reichsarbeitsminister dient dem Kabinett ab dem 6. Juni 1932 Hugo Schäffer, ein ehemaliger Mitarbeiter und Direktor der Firma Krupp, der ab 1924 als Präsident des 173 Die Diskussion um den Entwurf dieser Notverordnung ist dokumentiert bei: Koops, Tilman (Bearb.): Die Kabinette Brüning I und II...Band 3...a.a.O.(=Anm. 154), 2508 ff.; 2516 ff., 2525 ff.; 2527 f.; 2528 ff.; 2530 ff.; 2539 ff.; 2544 ff.; 2565 ff.; 2571 ff. (mit einer Zusammenstellung der geplanten Maßnahmen); die Absicht, völlig überschuldete Güter versteigern zu lassen und in Neusiedlerstellen aufzuteilen, ist in dem Entwurf dieser Notverordnung enthalten. 174 Die Arbeitsbeschaffung soll sich auf Maßnahmen der ländlichen Stadtrandsiedlung, auf Bodenverbesserungen, den Straßen- und Wasserbau konzentrieren. Der vorgesehene Gesamtaufwand schrumpft während der Verhandlungen auf zuletzt nur noch 135 Millionen Reichsmark; vgl.: Winkler, Heinrich August: Der Weg...a.a.O.(=Anm. 12), 567 ff. 175 Derselbe, ebenda, 569. 176 Zur Schilderung der Umstände und Szenerie vgl. denselben, ebenda, 573 ff. 177 Insgesamt haben vier Freiherren, ein Graf und zwei sonstige Adelige Ministerämter inne. Die Regierung von Papen repräsentiert damit in erster Linie die Kräfte, die Brüning zu Fall gebracht haben, den ostelbischen Rittergutsbesitz und die eng damit verbundene militärische Führungsschicht; vgl.: Winkler, Heinrich August: Der Weg...a.a.O.(=Anm. 12), 612 ff.

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Reichsversicherungsamtes fungierte.178 In der vagen Hoffnung auf eine neue, diesmal rechte Tolerierungsmehrheit und auf der Basis vager Versprechungen Hitlers löst Reichspräsident von Hindenburg unter Bruch der Reichsverfassung „...am 4. Juni 1932 den Reichstag mit der Begründung auf, der Reichstag verkörpere nicht den Willen des Volkes.“179 Zu diesem Vorgang paßt, daß am 20. Juli 1932 die Regierung von Papen in Form eines staatstreichähnlichen Manövers gegen die preußische Regierung Braun-Severing vorgeht. Die SPD verliert damit ihre letzte bedeutende Machtposition. Eine bedeutende Bastion gegen die von rechts und links anstürmenden Kräfte fällt. In Form einer regelrechten „Säuberung“ wird in diesem Zusammenhang die Republikanisierung der preußischen Verwaltung rückgängig gemacht. Auch auf dieser Ebene gewinnt vorübergehend das „Alt-Preußentum“ an Einfluß. Die am 31. Juli 1932 durchgeführten Wahlen zum Reichstag bescheren der NSDAP den erwarteten großen Sieg. Sie kann ihren Stimmenanteil von 18,3 auf 37,4 % beinahe verdoppeln. Die KPD gewinnt ebenfalls leicht hinzu und erreicht mit 14,5 % ihr bis dahin bestes Ergebnis. Die „Mittelparteien“ werden geradezu vernichtet. Auch die SPD verliert. Weitgehend stabil bleibt das Zentrum. Als Folge dieser Wahl besitzen die beiden antidemokratischen Parteien die „negative absolute Mehrheit“ und lassen eine Fortsetzung einer parlamentarischen Politik als aussichtslos erscheinen. Nachdem Verhandlungen mit der NSDAP gescheitert sind, ist die Regierung von Papen parlamentarisch endgültig völlig isoliert. In der Reichstagssitzung vom 12. September 1932 wird von der KPD beantragt, der Regierung von Papen das Mißtrauen auszusprechen und die zwei sozialpolitisch bedeutsamen Notverordnungen vom 4. und 5. September 1932 aufzuheben. Die Regierung erleidet zwar „...mit 42 zu 512 Stimmen die höchste Niederlage einer Regierung in der deutschen Parlamentsgeschichte...“ Die Abstimmung erfolgt jedoch ohne Beachtung der auf dem Tisch des Reichstagspräsidenten bereits niedergelegten Auflösungsorder. Diese löst den Reichstag auf „...weil die Gefahr besteht, daß der Reichstag die Aufhebung meiner Notverordnung vom 4. September d. J. verlangt.“180 Bis zum Erlaß dieser noch zu analysierenden „Septembernotverordnungen“ hat die von der Arbeiterbewegung „getrennte“ Regierung von Papen schon einige dramatische und beunruhigende Auftritte auf dem Gebiet der staatlichen Sozialpolitik hinter sich gebracht. Daß sich das „Kabinett der Barone“, diese „einseitig feudal-militärisch“ zusammengesetzte Regierung,181 in keiner Weise an den demokratisch-arbeitsgemeinschaftlichen Grundkonsens des „Weimarer Sozialstaats“ gebunden fühlt, wird schon in der Regierungserklärung vom 4. Juni 1932 deutlich. Sie spricht von der „Mißwirtschaft der Parlamentsdemokratie“. Sie wirft den Nachkriegsregierungen „sich ständig steigernden Staatssozialismus“ vor. Diese hätten den Staat zu „einer Art Wohlfahrtsanstalt“ zu machen versucht und damit die „moralischen Kräfte der Nation“ geschwächt. Die Regierungserklärung spricht darüber hinaus vom „unseligen gemeinschaftsfeindlichen Klassenkampf“, vom „fressenden Gift des Kulturbolschewismus.“ Sie kündigt den Erlaß eines Teils der von der alten Regierung 178 In der kurzen Übergangszeit werden die Geschäfte des Reichsarbeitsministers vom Reichswirtschaftsminister geführt; vgl.: Minuth, Karl-Heinz (Bearb.): Das Kabinett von Papen. Band 1. Boppard am Rhein 1989, XXIV. 179 Wirsching, Andreas: Die Weimarer Republik. München 2000, 39. 180 Alle Zitate nach demselben, ebenda, 39; eine ausführlichere Darstellung bei: Winkler, Heinrich August: Der Weg...a.a.O.(=Anm. 12), 730 ff.; zum Plenarprotokoll: Verhandlungen des Reichstags. VI. Wahlperiode 1932. Band 454. Stenographische Berichte. Berlin 1932, 13 ff.; zur Auflösungsverordnung gemäß Artikel 25 der WRV vgl.: RGBl. I 1932, 441. 181 Zu dieser Qualifizierung des Kabinetts vgl.: Politischer Umschwung. In: Soziale Praxis, 41(1932)23, Sp. 697 704; hier: Sp. 698.

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noch geplanten Notverordnung an.182 Diese über den Rundfunk verbreitete Regierungserklärung ruft unmittelbar eine Gegenerklärung des demissionierten Kabinetts Brüning hervor.183 Sie wird allgemein als eine Kampfansage gegen den Sozialstaat verstanden. Dieser Eindruck wird durch den letztlich scheiternden Vorstoß verstärkt, die von der Arbeiterbewegung herbeigesehnte „sozialpolitische Fachbehörde“, das Reichsarbeitsministerium, zu schwächen bzw. aufzulösen und die Aufgaben auf andere, nicht primär sozialpolitisch motivierte Ressorts aufzuteilen. Dem Wirtschaftsministerium, der institutionellen Stütze des Unternehmertums auf Reichsebene soll, so ein Vorstoß, die Lohn- und Tarifabteilung des Arbeitsministeriums zugeordnet werden.184 Es ist kein Zufall, daß gerade das mit der demokratischen Republik entstandene Reichsarbeitsministerium Schwierigkeiten mit dem autoritären Präsidialregime unter Reichskanzler von Papen bekommt. Wenn es auch zu einer Reorganisation dieser Behörde nicht kommt, so wird das Ziel dieser Vorstöße doch dadurch erreicht, daß sich Reichsarbeitsminister Schäffer als Mann der Industrie versteht und so der natürliche „Antagonismus“ zwischen Reichsarbeits- und Reichswirtschaftsministerium aufgehoben wird. Am 31. August 1932 wird darüber hinaus Reichsarbeitsminister a.D. Rudolf Wissell seines Amtes als ständiger Schlichter für den Bezirk Brandenburg enthoben. Mit ihm muß der zuständige Referent für das Schlichtungswesen, Ministerialrat Dr. Richard Joachim, seinen Platz im Ministerium räumen. Entsprechende Interventionen der „Vereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände“, die unter anderem Wissells „strengste Objektivität und Unparteilichkeit“ anzweifelten und ein dem Kurs der neuen Reichsregierung zuwiderlaufendes Festhalten an der Verbindlichkeitserklärung, haben entscheidend zu seinem Sturz beigetragen. Eine bereits in der Regierungserklärung des „Kabinetts der Barone“ angekündigte sozialpolitisch bedeutsame Notverordnung ergeht, verbunden mit einem Aufruf der Reichsregierung, als „Verordnung des Reichspräsidenten über Maßnahmen zur Erhaltung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialversicherung sowie zur Erleichterung der Wohlfahrtslasten der Gemeinden“ vom 14. Juni 1932.185 Sie gilt der neuen Reichsregierung als erster Schritt vor der Inangriffnahme ihres eigentlichen Programms von „organisch neuaufbauenden Maßnahmen“186 und geht über die Vorarbeiten Brünings deutlich hinaus. Diese Notverordnung, die auf den heftigen Protest der Arbeiterbewegung aller Richtungen stößt, bringt den Gemeinden spürbare Entlastungen.187 Sie umfaßt aus fiskalischen Gründen eine Ermächtigung der Reichsregierung zu umfangreichen Änderungen der „Arbeitslosenhilfe“. Diese 182 Die Regierungserklärung ist abgedruckt bei: Minuth, Karl-Heinz (Bearb.): Das Kabinett von Papen...Band 1...a.a.O.(=Anm. 178), 13 f. 183 Vgl.: Politischer Umschwung...a.a.O.(=Anm. 181), Sp. 700 f. 184 Vgl.: Jastrow, J.: Die Abnagung des Reichsarbeitsministeriums. In: Soziale Praxis, 41(1932)25, Sp. 761 - 766, hier: Sp. 761; vgl. auch: Kundgebung der Gewerkschaften. In: Gewerkschafts-Zeitung, 42(1932)25, 385 f.; vgl. darüber hinaus: Steiger, Karsten: Kooperation...a.a.O.(=Anm. 36), 221 ff. 185 Vgl.: RGBl. I 1932, 273; zum Aufruf bzw. zur „Kundgebung“ der Reichsregierung vgl. z.B.: Kundgebung der Reichsregierung. In: Vossische Zeitung Nr. 285 vom 15. Juni 1932, 2. 186 So die Kundgebung der Reichsregierung. 187 Vgl. etwa: Hitlerstaat als Elendsanstalt! In: Vorwärts, 49. Jg. Nr. 277 vom 15. Juni 1932, 1; auf S. 2 den Beitrag: Notverordnung gegen die Krisenopfer; vgl. darüber hinaus: Sturm gegen faschistische Notverordnung! In: Die Rote Fahne, 15. Jahrgang Nr. 130 vom 15. Juni 1932, 1; Aderlaß am darbenden Volk! In: Ebenda, 1 f.; sowie in der „Roten Fahne“ vom 18. Juni 1932 die Artikel: „Hungersnot für sechs Millionen Arbeitslose diktiert!“ bzw. „Der Notverordnungsraub in Zahlen“ auf der S. 1; vgl. auch: Winkler, Heinrich August: Der Weg...a.a.O.(=Anm. 12), 626 f; sowie: Erklärung der Gewerkschaften zur Notverordnung. In: Gewerkschafts-Zeitung, 42(1932)26, 401. Diese Erklärung ist von allen maßgebenden Gewerkschaftsrichtungen unterzeichnet, die sich nun, nach der Ausschaltung jeden Gewerkschaftseinflusses umso leichter zu einer „Ablehnungsfront“ verbinden können.

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Ermächtigung führt durch die „Verordnung über die Höhe der Arbeitslosenunterstützung und die Durchführung öffentlicher Arbeiten“ vom 16. Juni 1932188 und die „Verordnung über die Krisenfürsorge für Arbeitslose“ vom 17. Juni 1932189 bis auf einen symbolischen Rest zu einer faktischen Abschaffung der Arbeitslosenversicherung. „Versicherungsmäßige Arbeitslosenunterstützung“ wird nur noch für höchstens sechs Wochen (36 Tage) gewährt. Dabei werden 1932 nur noch 28,9 % der registrierten Arbeitslosen „versicherungsmäßig“ unterstützt, 1930 waren es immerhin noch 73,1 %.190 Nach den sechs Wochen erfolgt eine weitere Unterstützung nur noch, soweit der Arbeitslose hilfebedürftig ist. Diese Regelung dürfte die Arbeitslosen abgeschreckt und auch zu geringeren amtlichen Arbeitslosenzahlen geführt haben. War es bisher, aus politischen Gründen, stets das Ziel, der Arbeitslosenunterstützung bzw. der Erwerbslosenfürsorge nicht den „Rechtscharakter der Armenpflege“ zu unterlegen, so wird dieser Weg nun systematisch beschritten, indem den Gemeinden und Gemeindeverbänden die Aufgabe der Prüfung der Hilfsbedürftigkeit nach den Grundsätzen des Fürsorgerechts übertragen wird.191 Darüber hinaus werden die Unterstützungssätze um durchschnittlich 23 % gegenüber der bisherigen Unterstützung gekürzt. Verglichen mit den Unterstützungssätzen des Jahres 1927 hat eine Halbierung stattgefunden. In der Krisenfürsorge wird eine Kürzung um 10 % vorgenommen. Die Gemeinden haben über die Höhe der Fürsorge für Wohlfahrtserwerbslose weiterhin selbst zu entscheiden, wobei die Regierung bei ihren fiskalischen Berechnungen von einer Leistungskürzung von 15 % ausgeht und mit dieser Zahl auch eine gewisse Vorgabe liefert. 192 Zur Finanzierung des jahreszeitlichen Spitzenbedarfs wird eine auf den Winter 32/33 befristete „Abgabe zur Arbeitslosenhilfe“ für Lohn- und Gehaltsempfänger eingeführt. Sie tritt als „Massenbelastung“ zu den steuerrechtlichen Maßnahmen hinzu, die ebenfalls die Kaufkraft mindern. Die Wohlfahrtslasten der am finanziellen Abgrund stehenden Gemeinden sollen im Jahre 1932 durch eine „Wohlfahrtshilfe“ in Höhe von 672 Millionen Reichsmark erleichtert werden.193 Diese Hilfsgelder sollen aus den wachsenden Überschüssen der Arbeitslosenversicherung und der „Abgabe zur Arbeitslosenhilfe“ finanziert werden. Schließlich werden in der Notverordnung vom 14. Juni 1932 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bzw. Notstandsarbeiten vorgesehen. Die entsprechenden Vorschriften bilden die Grundlage des „Papenprogramms“, ein wechselfinanziertes Beschäftigungsprogramm, in das 302 Millionen Reichsmark fließen. Das Programm wird allerdings im Jahre 1933 und 188 Vgl.: RGBl. I 1932, 305. 189 Vgl.: RGBl. I 1932, 307. 190 Vgl.: Wermel, Michael T., Urban, Roswitha: Arbeitslosenfürsorge...Teil III...a.a.O.(=Anm. 15), 59; demgegenüber befinden sich 1932 31,9 % in der Krisenfürsorge und 38,9 % sind anerkannte „Wohlfahrtserwerbslose“. Viele fallen nach der Überprüfung der Hilfsbedürftigkeit vollständig aus dem Unterstützungsbezug heraus. 191 Zu den Einzelheiten: Lehfeldt, Bernhard: Die Arbeitslosenhilfe nach der Notverordnung vom 14. Juni 1932. In: Reichsarbeitsblatt II (Nichtamtl.Teil)12(1932)18, 225 - 229; dort auch eine Berechnung der fiskalischen Effekte und der Finanzierung der Unterstützung der veranschlagten 5.950.000 Arbeitslosen, die im Jahr 1932 durchschnittlich erwartet werden. 192 Vgl.: Wermel, Michael T., Urban, Roswitha: Die Arbeitslosenfürsorge...Teil III...a.a.O.(=Anm. 15), 65. 193 Eine wichtige, zusammenfassende Darstellung des Rechtszustandes nach der Notverordnung vom 14. Juni 1932 bieten: Spliedt, Franz, Broecker, Bruno: Die Versorgung der Arbeitslosen nach dem neuesten Stande der Gesetzgebung. Berlin 1932 ; dort auch Hinweise zum freiwilligen Arbeitsdienst und zur Pflichtarbeit. Zur „Wohlfahrtshilfe“ vgl. auch: Die Gemeindefinanzen in der Notverordnung. In: Soziale Praxis, 41(1932)25, Sp. 779 - 781; die „Abgabe zur Arbeitslosenhilfe“ macht wiederum bestimmte Durchführungsverordnungen nötig; vgl. dazu die entsprechenden Rechtsquellen im RGBl. I 1932, 307, 312, 347. Die Kurzarbeiter, die der Bedürftigkeitsprüfung nicht unterliegen, erfahren eine drastische Kürzung ihrer Unterstützung; vgl. dazu: Die neuen Unterstützungssätze für Kurzarbeiter. In: Soziale Praxis, 41(1932)28, Sp. 880 - 882.

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teilweise auch erst im Jahre 1934, also wesentlich unter Hitler, durchgeführt.194 In manchen Punkten nähert sich die Notverordnung vom 14. Juni 1932 Vorschlägen, die dem Reichskanzler und anderen Stellen und Personen teilweise wiederholt im Februar und Mai des Jahres 1932 von der „Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“, dem „Deutschen Industrie- und Handelstag“ und dem „Reichsverband der deutschen land- und forstwirtschaftlichen Arbeitgebervereinigungen“ sowie anderen Interessenverbänden vorgelegt wurden. Diese verlangten unter anderem die Einführung einer „einzigen einheitlichen Arbeitslosenfürsorge“ unter Aufhebung der „Dreigliederung“ der Arbeitslosenunterstützung in Versicherung, Krisenfürsorge und Wohlfahrtserwerbslosenfürsorge und eine allgemeine Einführung der Bedürftigkeitsprüfung und machten zahlreiche weitere Einsparungsvorschläge zur „Entlastung der Wirtschaft“.195 Mit einem weiteren Schwerpunkt wendet sich diese erste Notverordnung des „Kabinetts der Barone“ der Kürzung der Ausgaben der sonstigen Sozialversicherung zu. Nach Berechnungen des „Instituts für Konjunkturforschung“ haben sich „...vom konjunkturellen Hochpunkt 1929 bis zum Jahre 1931 die E inn ah me n der Versicherungsträger gesenkt: in der Krankenversicherung um 31,3 %, in der Unfallversicherung um 9,4, Invalidenversicherung 25, Angestelltenversicherung 10,8, in der knappschaftlichen Pensionsversicherung um 45,9 %.“196 Bis in das Jahr 1931 hinein senkt lediglich die Krankenversicherung ihre Ausgaben nennenswert (um 19,5 %). In den anderen Versicherungszweigen wird nur wenig gespart, die Invaliden- und die Angestelltenversicherung zeigen sogar Ausgabenzuwächse. Die Problematik sinkender Einnahmen und nur schwer „liquidierbarer“ Vermögensanlagen und hoher Ausgaben wird in der Juni-Notverordnung vor allem mit umfassenden Leistungskürzungen angegangen. Die Leistungen werden durch die Notverordnung ganz allgemein auf den Stand von 1927 zurückgeführt: „Sie kürzt in der Invaliden-, Angestellten- und knappschaftlichen Pensionsversicherung die alten Renten um 6 RM bei den Invaliden, 5 RM bei den Witwen und 4 RM bei den Waisen für den Monat und mindert für die neuen Renten den Grundbetrag um 7 RM und den Kinderzuschuß um 2,50 RM im Monat.“197 Die Renten aus Unfällen werden ebenfalls herabgesetzt. Der Reichsregierung werden Eingriffsmöglichkeiten zur Erzwingung von „Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit“ eröffnet. Deutlich spürbare „Einschränkungen“ vor allem bei den Bezügen der „Leichtbeschädigten“, den Kinderzulagen und Waisenrenten erfährt auch die Reichsversorgung bzw. Kriegsopferversorgung, Kürzungen, die Fachleuten zuvor als nicht mehr möglich erschienen waren.198

194 Vgl.: Schlußbilanz der Arbeitsbeschaffungsprogramme. In: Wirtschafts-Nachrichten des Bundes für Nationalwirtschaft, 15(1939)10, 145 - 149; zit. aus: BA Abt. Potsdam. NS 5 VI Deutsche Arbeitsfront. AWI, Nr. 2455, Bl.19 - 21, hier: 19 RS. 195 Vgl.: BA Abt. Potsdam. R 8085 (70 Re 4) Reichsverband der deutschen land- und forstwirtschaftlichen Arbeitgebervereinigungen, e.V., Nr. 2, Bl. 15 ff., 38 ff., 49 ff. 196 Die Lage der deutschen Sozialversicherung vor der Juni-Notverordnung 1932. In: Soziale Praxis, 41(1932)34, Sp. 1077 - 1080, hier: Sp. 1077. 197 Inhalt der neuen Notverordnung. In: Vossische Zeitung Nr. 285 vom 15. Juni 1932, Zweite Beilage, 9, 10, 13, hier: 9; dieser Beitrag enthält eine gute, relativ ausführliche Darstellung des Inhalts der Juni-Notverordnung. 198 Vgl.: Die Einschränkungen der Reichsversorgung durch die Notverordnung. In: Soziale Praxis, 41(1932)25, Sp. 781 - 782; die Kriegsopfer machen in einer umfassenden Denkschrift auf ihre verzweifelte Lage aufmerksam; vgl.: Reichsbund der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer und Kriegshinterbliebenen: Die Rückläufigkeit der Versorgung und Fürsorge für die Kriegsopfer im Zeichen der Notverordnungen. Eine Denkschrift an die Reichsregierung und den Reichstag. Berlin 1932.

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Schon bald nach der Inkraftsetzung der Notverordnung vom 14. Juni 1932 beginnen die konkreteren Vorarbeiten zu dem Wirtschaftsprogramm der Regierung von Papen. Auf der Kabinettsitzung vom 15. August 1932, auf der ausführlich über das Scheitern Hitlers mit seinem Anspruch auf das Amt des Reichskanzlers diskutiert wird,199 wird bereits deutlich, daß die Abkehr von einem weiteren Schrumpfungskurs in der Wirtschaft von der Regierung von Papen durch einen weiteren Abbau staatlicher Sozialpolitik erreicht werden soll. Es komme ausschlaggebend darauf an, „...die Produktion zu steigern, ohne die Produktionskosten zu erhöhen. Die Tarifpolitik müsse weiter gelockert und die Höhe der Zinsen weiter herabgemindert werden.“200 Am 25. August 1932 findet ein Empfang von Vertretern des „Reichsverbandes der Deutschen Industrie“ (RDI) beim Reichskanzler statt, auf dem der Reichswirtschaftsminister den Plan für ein umfassendes Wirtschaftsprogramm vorstellt.201 Er entwickelt in groben Umrissen ein wirtschaftliches Entlastungsprogramm und wesentliche Veränderungen des Tarifvertragswesens, Vorstellungen, die schon bedeutende Grundzüge der kommenden Verordnungen vorweg nehmen. Der Reichskanzler schließt sich den Ausführungen seines Ministers an und betont die Abkehr von der Deflationspolitik. Der Präsident des RDI führt aus, „...mit den Grundsätzen, auf denen die Pläne aufgebaut seien, könne sich der Reichsverband einverstanden erklären.“202 Wenn es gelingen solle, die „staatlichen Unkosten“ bis auf den Stand „von etwa 1900“ zurückzuschrauben, dann werde das einschränkende Folgen für die Staatstätigkeit haben, betont der Präsident des RDI Gustav Krupp von Bohlen und Halbach. Vor zu großen Hoffnungen auf arbeitsmarktpolitische Effekte wird von der Seite des Unternehmertums wegen der Intensivierung der Arbeit gewarnt.203 Auf der Sitzung des Kabinetts vom 27. August 1932 legt der Reichsarbeitsminister den Entwurf einer Notverordnung über sozialpolitische Maßnahmen vor, der nach kurzer Aussprache keinen Widerspruch findet.204 Dieser Entwurf enthält eine Ermächtigung der Reichsregierung praktisch die gesamte Arbeits- und Sozialverfassung, auch soweit sie Gesetzesform gefunden hat, abzuändern. Vor der Einberufung des neuen Reichstags, am 28. August 1932, stellt Reichskanzler von Papen auf einer außerordentlichen Generalversammlung des „Westfälischen Bauernvereins“ in Münster sein Wirtschaftsprogramm vor. Nach weiteren Verhandlungen und Besprechungen, die mit dem Reichspräsidenten auf seinem Gut in Neudeck durchgeführt werden, findet das Wirtschaftsprogramm seine Form in der bereits angesprochenen „Verordnung des Reichspräsidenten zur Belebung der Wirtschaft“ vom 4. September 1932, 205 der eine ausführende „Verordnung zur Vermehrung und Erhaltung der Arbeitsgelegenheit“ vom 5. September 1932 folgt,206 die wiederum einige wichtige (Durchführungs- und Ergänzungs-)Verordnungen nach sich zieht.207 Daß es gerade diese beiden Verordnungen sind, 199 Hitler scheitert am 13. August an einer Weigerung von Hindenburgs ihn mit diesem Amt zu betrauen; vgl. zu diesem zeitgeschichtlich bedeutsamen Vorgang das Dok. 104 bei: Minuth, Karl-Heinz (Bearb.): Das Kabinett von Papen...Band 1...a.a.O.(=Anm. 178), 398. 200 So der Reichswirtschaftsminister ebenda, 403. 201 Vgl. das Dok. 111 ebenda, 436 ff. 202 Ebenda, 439. 203 Zur Stoßrichtung des Wirtschaftsprogramms der Regierung von Papen vgl. ebenda, 445 ff., 448 ff., 455 f. 204 Vgl. ebenda, 463. 205 Vgl.: RGBl. I 1932, 425. 206 Vgl.: RGBl. I 1932, 433. 207 Vgl. die „Verordnung zur Durchführung und Ergänzung der Verordnung zur Vermehrung und Erhaltung der Arbeitsgelegenheit vom 5. September 1932“ vom 14. September 1932 (RGBl. I 1932, 443); die zweite und dritte Durchführungsverordnung vom 21. September bzw. 3. Oktober 1932 (RGBl. I 1932, 446 u. 493).

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die die Regierung von Papen, wie eingangs beschrieben, einer vernichtenden Abstimmungsniederlage entgegenführen, wird bei einem Blick auf ihre Inhalte deutlich. Auf den entsprechenden Vorarbeiten aufbauend, enthält die Notverordnung vom 4. September 1932 Vorschriften zur Entlastung der Wirtschaft in Form von Steuergutscheinen auf Steuerzahlungen in der Zeit vom 1. Oktober 1932 bis zum 30. September 1933 und bei Mehrbeschäftigung von Arbeitnehmern im gleichen Zeitraum. Diese Steuergutscheine sollen in den Steuerjahren 1934 bis 1938 steuermindernd geltend gemacht werden können oder durch Verkauf oder Lombardierung zur Förderung der „Liquidität“ unmittelbar einsetzbar sein. Mit dieser Vorschrift „spekuliert“ die Notverordnung auf ein künftiges Wirtschafts- und Steuerwachstum. Immerhin werden erste, wenngleich unsicher gedeutete Anzeichen einer konjunkturellen Belebung im Sommer 1932 sichtbar.208 Neben weiteren steuerrechtlichen Vorschriften enthält der „zweite Teil“ der Notverordnung unter der Überschrift „sozialpolitische Maßnahmen“ die bereits im Entwurf enthaltene beinahe uferlose, das Gebiet der gesamten Sozialpolitik umfassende Ermächtigung zum Erlaß von Vorschriften mit dem Ziel, die sozialen Einrichtungen zu „vereinfachen und zu verbilligen.“ Die amtliche Erläuterung spricht in diesem Zusammenhang von einer Ermächtigung der Reichsregierung „...auf bestimmten Gebieten das so z ia le R e ch t in seinen Formen und Grenzen so zu gestalten, wie der wirtschaftliche Notstand und das soziale Bedürfnis, wie das Gebot der Einfachheit und Sparsamkeit es erfordern.“209 Es folgen kredit- und finanzpolitische Maßnahmen, die auch einige weitere lohnsenkende Eingriffsmöglichkeiten umfassen. Eine Thematisierung der Preissenkung unterbleibt.210 Die „Verordnung zur Vermehrung und Erhaltung der Arbeitsgelegenheiten“ vom 5. September 1932 ist eine unmittelbare „Nutzanwendung“ der sozialpolitischen Ermächtigung der Reichsregierung. Sie enthält weitere, diesmal besonders schwere Eingriffe in das Kernstück der „demokratischen Sozialpolitik“, in den Tarifvertrag. Unter Außerkraftsetzung der entsprechenden Bestimmungen der „Tarifvertragsordnung“ vom 23. November 1918 sieht die Verordnung vom 5. September eine „Ermäßigung“ der Tariflöhne für die einunddreißigste bis vierzigste Wochenarbeitsstunde vor, wenn der Arbeitgeber die Zahl seiner Arbeitnehmer erhöht. Durch eine begrenzte Entlastung des Lohnkontos soll ein Anreiz geschaffen werden, die Arbeitsplätze zu vermehren. Je größer die Vermehrung der Arbeitsplätze, desto höher die Abschläge vom Tariflohn, so daß maximal eine Senkung des Gesamtlohnes um 12,5 % erfolgen kann. Die Gesamtlohnsumme des Betriebes soll jedoch auf jeden Fall steigen. Diese Maßnahme ist bis zum 31. März 1933 befristet. Darüber hinaus sind Abschläge vom Tariflohn in Höhe von maximal 20 % für „besonders notleidende Betriebe“ vorgesehen: „Gefährdet die Erfüllung der dem Arbeitgeber obliegenden tarifvertraglichen Verpflichtungen die Weiterführung eines Betriebes oder seine Wiederaufnahme ..., so kann der Schlichter den Arbeitgeber ermächtigen, die tarifvertraglichen Lohn- und Gehaltssätze im bestimmten Umfang ohne Änderung des Arbeitsvertrags zu unterschreiten“

208 Vgl. zur Erläuterung: Die Notverordnung zur Belebung der Wirtschaft. In: Gewerkschafts-Zeitung, 42(1932)37, 581 - 583, bes. 582 f. 209 Amtliche Erläuterung. In: Die Notverordnungen der Reichsregierung mit Durchführungsbestimmungen. 14. Folge. Vom 1.7.1932 bis 5.9.1932. Zusammengestellt von der Frankfurter Zeitung, 20 - 30, hier 25. 210 Vgl. ausführlicher: Wunderlich, Frieda: Das Wirtschaftsprogramm der Reichsregierung und die Notverordnung vom 4. September 1932. In: Soziale Praxis, 41(1932)36, Sp. 1121 - 1130.

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(§ 7). Durch Ausführungsvorschriften soll insbesondere der Mißbrauch dieser Möglichkeiten durch das Unternehmertum ausgeschlossen werden.211 Die öffentlichen Reaktionen auf diese Bestimmungen fallen bei den Unternehmern und der unternehmerfreundlichen Rechtspresse grundsätzlich zustimmend aus. Ablehnend äußern sich die Linksparteien sowie die Nationalsozialisten. Teils kritische, teils positive Stimmen kommen aus dem Zentrum und finden sich in den liberalen Zeitungen. Die Gewerkschaftsorganisationen äußern sich ablehnend. Mit diesen beiden Verordnungen sehen die Freien Gewerkschaften das erreicht, was sie schon am 28. August anläßlich der Rede von Papens in Münster hatten kommen sehen, eine Verletzung des verfassungsmäßig garantierten Tarifrechts,212 eine mehrfache „Prämierung“ des Unternehmertums und „neue, schwere, erdrückende Opfer“ für die „Arbeiterschaft.“213 Im Wege der „privatwirtschaftlichen Initiative“ sei ein Auftrieb der Wirtschaft nicht zu erwarten, betont am 9. September 1932 als Vorsitzender des ADGB Theodor Leipart. Er fordert „öffentliche Arbeiten großen Stils“. Der Lohnabbau werde die „Ankurbelung der Wirtschaft“ durchkreuzen. „Entschiedener Protest“ und „Willen zum energischen Widerstand“ wird gegen den Lohnabbau und gegen die „Durchbrechung der Unabdingbarkeit der Tarifverträge“ angekündigt.214 Insbesondere die Verordnung vom 5. September, die mit ihren Vorschriften zur „Tariflockerung“ schwerindustriellen Wünschen nach einer Rückkehr zu einer „freien Wirtschaft“ und zur Zerstörung des Gewerkschaftseinflusses in der Grundrichtung durchaus entspricht,215 wird aus freigewerkschaftlicher Sicht als „unerträglich“ qualifiziert. Verbunden wird diese Auffassung mit der Forderung nach einer Abkehr von „überlebten Wirtschaftsformen“ und nach der Einleitung einer Neuorganisation der Wirtschaft „...mit dem Ziele planmäßiger Wirtschaftsführung.“216 Die Gefahr der Einleitung einer grundsätzlichen Veränderung der 211 Vgl. insgesamt zu den vielgestaltigen und komplizierten Maßnahmen: Goldschmidt, H.: Die Verordnung zur Vermehrung und Erhaltung der Arbeitsgelegenheit. In: Reichsarbeitsblatt. Teil II. (Nichtamtl. Teil), 12(1932)28, 424 - 427; zur besonderen Ausgestaltung für die Landwirtschaft vgl.: Koch: Die Stellung der Landwirtschaft in der Verordnung zur Vermehrung und Erhaltung der Arbeitsgelegenheit vom 5. September 1932. In: Ebenda, 427 429. 212 Vgl.: Winkler, Heinrich August: Der Weg...a.a.O.(=Anm. 12 ), 726 f. 213 Vgl.: Der Zwölf-Monats-Plan der Reichsregierung. In: Gewerkschafts-Zeitung, 42(1932)37, 577 - 578. 214 Vgl.: Die Gewerkschaften und die Notverordnung. In: Ebenda, 595. 215 Vgl. in diesem Zusammenhang die Analyse der allerdings durchaus divergierenden Stellungnahmen von Unternehmern und Unternehmerverbänden bei: Neebe, Reinhard: Unternehmerverbände und Gewerkschaften in den Jahren der Großen Krise 1929 - 33. In: Geschichte und Gesellschaft, 9(1983)2, 302 - 330; einschlägig, wenn auch schwerpunktmäßig auf die tarifpolitischen Auseinandersetzungen der „Ära Brüning“ bezogen: Weisbrod, Bernd: Die Befreiung von den „Tariffesseln“. In: Geschichte und Gesellschaft, 11(1985)3, 295 - 325; als Quellensammlung natürlich: Maurer, Ilse, Wengst, Udo (Bearb.): Politik und Wirtschaft in der Krise 1930 1932...a.a.O.(=Anm. 24). Dort und bei Neebe auch Hinweise zu den unter Brüning im Jahre 1930 immerhin noch unternommenen Bemühungen erneut zu einer arbeitsgemeinschaftlichen Form der Bekämpfung der Wirtschaftskrise zu gelangen. Die entsprechende nicht veröffentlichte und nicht tragfähige „Erklärung der Spitzenverbände der Arbeiter- und Unternehmerorganisationen“ findet sich ebenda, 496 ff.; siehe dort auch 518 f. und 520 ff. Als ältere Aufarbeitung: Wengst, Udo: Unternehmerverbände und Gewerkschaften in Deutschland im Jahre 1930. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 25(1977), 99 - 119. 216 So eine Entschließung der Bundesausschüsse des ADGB und des AfA-Bundes vom 18. Oktober 1932 mit dem Titel „Gegen die Lohntribute - für die Erhaltung des kollektiven Arbeitsrechts. In: Gewerkschafts-Zeitung, 42(1932)43, 673. Die geforderte Abkehr von „überlebten Wirtschaftsformen“ und hin zum Ziel einer planmäßigen Wirtschaftsführung bezieht sich offensichtlich auf die folgende damals gerade erst beschlossene wirtschaftspolitische Richtlinie: Der Umbau der Wirtschaft. Programmatische Richtlinien zur Wirtschaftspolitik. In: Gewerkschafts-Zeitung, 42(1932)27, 418 - 420; diese mit Hilfe von Wissenschaftlern zusammengestellte Orientierungshilfe soll, nach dem Selbstverständnis ihrer Verfasser, in Zukunft Katastrophen wirtschaftlicher und sozialer Art vermeiden helfen.

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„Sozialverfassung“, zur der zahlreiche mehr oder weniger klare Entwürfe bereits vorliegen,217 fürchtet auch der Pionier des Weimarer Arbeitsrechts, der freigewerkschaftlich orientierte Arbeitsrechtler Hugo Sinzheimer. Angesichts der sozialpolitischen „Generalermächtigung“ in der Notverordnung vom 4. September 1932 sieht er den Rechtsstaat für das Arbeitsrecht außer Kraft gesetzt. Der Weg zum „freien Arbeitsvertrag“ und damit zum Anfang der Arbeiterbewegung sei wieder geöffnet. Ein „Abwehrkampf“ gegen den Lohnabbau sei keine Verletzung der Friedenspflicht. Er habe keinen Zweifel, daß die Notverordnung der Regierung von Papen in diesem Punkte verfassungswidrig sei.218 Tatsächlich lösen die Verordnungen vom 4. und 5. September Streikbewegungen bzw. betriebliche Protestaktionen aus.219 In der am 12. September, dem Tag der Reichstagsauflösung, über alle deutschen Radiosender verbreiteten Regierungserklärung bekennt von Papen unter anderem, die Reichsregierung habe ihre Maßnahmen mit dem einheitlichen Ziel getroffen, „...die fürchterliche Not der Arbeitslosigkeit zu überwinden, die bisher unaufhaltsame Schrumpfung der Wirtschaft aufzuhalten und dem deutschen Volke zu ermöglichen, überhaupt wirtschaftlich weiter zu existieren.“220 In der umfangreichen Rede, die die antidemokratischen Ansichten und revisionistischen außenpolitischen Ziele der „nationalen Rechten“ umfassend darstellt und in diesem Zusammenhang den Wegfall der Reparationen durch das „Lausanner Abkommen“ würdigt, behauptet von Papen, die Regierung lasse sich „...von niemand im deutschen Volke an sozialer Gesinnung übertreffen.“221 Nach der Auflösung des erst im Juli gewählten Reichstags dauert es bis zum 17. September 1932, bis sich die Mehrheit des Kabinetts zu dem Entschluß durchringt, den 6. November 1932 als neuen (Reichstags-) Wahltermin festzusetzen. Noch deutlicher als bei den vergangenen Reichstagswahlen wird bei diesem letzten Wahlkampf der Republik eine regelrechte Bürgerkriegssituation offenbar. Der um die Oktobermitte einsetzende Wahlkampf ist in besonderem Maße „...von Streik- und Boykotthandlungen, von blutigen Ausschreitungen bei Straßen- und Versammlungskundgebungen und von terroristischen Einzelanschlägen begleitet.“222 Im Ergebnis verliert die NSDAP in der Wahl vom 6. November 1932 rund zwei Millionen Stimmen und kommt statt auf 37,4 % nur noch auf 33,1 % der Stimmen. Die DNVP erreicht statt 5,9 % nunmehr 8,3 % und ist „der Gewinner“ dieser Wahl. Das Zentrum kann seine Position mit 11,9 % beinahe unverändert behaupten. Die SPD verliert im Vergleich zur Juli Wahl etwas

217 Vgl. hierzu den Gliederungspunkt 3.3 dieses Kapitels. 218 Vgl.: Sinzheimer, Hugo: Über einige Grundfragen des neuen Tarifrechts. In: Soziale Praxis, 41(1932)40, Sp. 1249 - 1258. 219 Die offizielle Streikstatistik verzeichnet 1932 einen gewissen „Höhepunkt“ des Streikgeschehens mit 643 Streiks. Die Zahl der Streikenden und die jeweils verlorenen Arbeitstage sind aber stark rückläufig. Mit Schwerpunktsetzung auf die Aktionen der KPD und der RGO und eine RGO-Statistik zugrunde legend verzeichnet eine Dissertation von September bis Dezember 1932 insgesamt 1.185 „betriebliche Aktionen“; vgl. zur amtlichen Streikstatistik: Petzina, Dietmar, Abelshauser, Werner, Faust, Anselm: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. Band III. München 1978, 114; zur RGO-Statistik und generell aus der Sicht des „Marxismus-Leninismus“: Kücklich, Erika: Streik gegen Notverordnungen! (Diss. phil., MS) Berlin 1972, 186; vgl. auch: Kampf gegen den Lohnabbau. In: Soziale Praxis, 41(1932)41, Sp. 1310 - 1313. 220 Minuth, Karl-Heinz (Bearb.): Das Kabinett von Papen. Band 2. Boppard am Rhein 1989, 555. 221 Ebenda, 554. 222 Huber, Ernst Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Band VII. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1984, 1136.

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und erreicht nun 20,4 % der Stimmen. Der Anteil der KPD steigt um über zwei Prozent auf 16,9 %. Alle anderen Parteien erreichen nur unbedeutende Stimmenzahlen.223 Mitten in den Wahlkampf hinein ergeht auf der Grundlage der sozialpolitischen „Generalermächtigung“ im zweiten Teil der ersten September-Notverordnung die „Verordnung zur Ergänzung von sozialen Leistungen“ vom 19. Oktober 1932.224 Dieser letzte bedeutsame Akt der Regierung von Papen hebt einige Härten der Notverordnungspolitik auf. Bestimmte Arbeitslose erhalten zu ihrer Unterstützung eine wöchentliche Zulage. In der Krankenversicherung werden geringfügige Leistungsverbesserungen vorgenommen. Neuere Renten für Unfälle werden von der im Juni verfügten Rentenkürzung ausgenommen. In der Rentenversicherung werden Mehrleistungen ermöglicht, die die Regelleistungen in der Dauer, Höhe und Art ergänzen können. Sogar das Fürsorgerecht wird leicht verbessert. Hiermit und mit einigen weiteren Maßnahmen, wie dem erst später wirksamen „Papenprogramm“ zur Arbeitsbeschaffung, gewissen Beihilfen und Förderprogrammen225 ist die Sozialpolitik der Regierung von Papen hinlänglich charakterisiert, gekennzeichnet auch insofern, als geringfügige Leistungsverbesserungen in paternalistischer Manier und mit Blick auf die Wahl gewährt werden, die das „Weimarer Sozialstaatsmodell“ durchbrechenden Maßnahmen aber ebensowenig zur Disposition stehen, wie der Ausschluß demokratischer Verfahrensweisen und die Gefährdung des „Weimarer Sozialstaatsmodells“ durch die sozialpolitische „Generalermächtigung“. Insgesamt sind die Novemberwahlen für das Kabinett von Papen eine eklatante Niederlage. Die negative Mehrheit aus NSDAP und KPD besteht auch nach dem 6. November fort. In dieser Situation ergibt sich im Zuge herrschaftsstrategischer Umorientierungen eine letzte und nur vorübergehende Chance, die Grundlagen der „demokratischen Sozialpolitik“ noch einmal wiederherzustellen. Die Widerstände, die von Papen bei seinen Verhandlungen über eine Regierungsbildung findet, führen am 17. November 1932 zur Gesamtdemission seines Kabinetts, das allerdings geschäftsführend weiter amtiert. Nach der Erklärung der Reichswehr, im Falle von Unruhen als Folge eines staatsstreichähnlichen Umbaues des politischen Systems und bei einem möglichen Angriff Polens gegen die deutsche Ostgrenze, die Ordnung nicht aufrecht erhalten zu können, muß von Papen den Auftrag zur Regierungsbildung an den Reichspräsidenten zu dem Zeitpunkt zurückgeben, zu dem sich beinahe alle Minister weigern, dem Reichskanzler weiter zur Verfügung zu stehen. Am 2. Dezember 1932 bekommt Reichswehrminister von Schleicher den Auftrag zur Regierungsbildung. In das von ihm gebildete Kabinett tritt nach Absprache mit den Gewerkschaften Friedrich Syrup ein, der Präsident der „Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung.“ Er ist seit längerer Zeit mit dem neuen Reichskanzler befreundet. Der Reichskanzler ist als „sozialer General“ der Auffassung, daß eine autoritäre Regierung auch des Rückhalts bei den „breiten Massen“, insbesondere bei der organisierten Arbeiterschaft bedarf. Hierbei spielen offensichtlich Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg und der revolutionären Nachkriegskrise eine wichtige Rolle. Nicht zuletzt werden die herrschaftsstrate223 Vgl. z.B. die Tabelle bei: Kolb, Eberhard: Die Weimarer Republik...a.a.O.(=Anm. 90), 284 f.; vgl. auch: Winkler, Heinrich August: Der Weg...a.a.O.(=Anm. 12), 774 ff. 224 Vgl.: RGBl. I 1932, 499; die Auszahlung der durch diese Verordnung verbesserten Geldleistungen erfolgt in der Woche, die dem Wahltage vorausgeht und dies trägt möglicherweise zu dem „Bild“ des Wahlausganges bei; vgl.: Milderungen in der Arbeitslosenversicherung und Krisenfürsorge. In: Soziale Praxis, 41(1932)43, Sp. 1374 1376. 225 Vgl. zur schwach dimensionierten Arbeitsbeschaffungspolitik: Minuth, Karl-Heinz (Bearb.): Das Kabinett von Papen...Band 1...a.a.O.(=Anm. 178), XXXVI ff.

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gischen Überlegungen des neuen Reichskanzlers auch von seinem Lehrer, Förderer und „väterlichen Freund“, dem ehemaligen „Ersten Generalquatiermeister“ in der OHL und späteren Minister der Republik, Wilhelm Groener, geteilt. Aus dieser Auffassung heraus entfaltet von Schleicher schon seit längerer Zeit Aktivitäten, die dem Ziel dienen sollen, die zum Einsatz für Staat und Nation bereiten Kräfte der bürgerlichen Jugend, der Gewerkschaften und des „gemäßigten Teils“ (des Strasser Flügels) der NSDAP für die Unterstützung eines Präsidialkabinetts zu gewinnen.226 Diese „Querfrontkonzeption“, von der sich der neue Reichskanzler von Schleicher im Parlament eine freie Hand für eine längerfristige Parlamentsvertagung und für seine Regierungspolitik erhofft, führt schon in der „Anbahnungsphase“ zu einer Fülle von Kontakten und Besprechungen mit Parteien und Gewerkschaften. Im Gegensatz zur strikt oppositionellen SPD befindet sich die Spitze des ADGB zu dieser Zeit in einer Phase der Distanzierung vom „Parteienstaat“ und betont die „nationale“ Aufgabe der Gewerkschaften. Aus dieser Orientierung heraus signalisieren Vertreter des Vorstandes des ADGB bereits in einem Sondierungsgespräch mit dem noch als Reichswehrminister tätigen General von Schleicher am 28. November 1932 „...eine Art Waffenstillstand - bei entsprechenden Zugeständnissen einer Regierung v. Schleicher auf sozialem Gebiet.“227 Auf Wunsch des Reichswehrministers formuliert und begründet Theodor Leipart im Namen des Bundesvorstandes am 29. November die entsprechenden Forderungen des ADGB. Die Forderungen beinhalten die Aufhebung der Verordnung des Reichsarbeitsministers vom 5. September 1932. Ferner wird verlangt, das Geld, das nach der Notverordnung vom 4. September für Neueinstellungen vorgesehen ist, für die Arbeitsbeschaffung zu verwenden. Das System der Steuergutscheine solle so umgestaltet werden, daß die Gutscheine als Grundlage für die Finanzierung öffentlicher Arbeiten verwendet werden können. Die Arbeitszeit solle durch Gesetz auf 40 Stunden in der Woche verkürzt werden. Die durch frühere Verordnungen herbeigeführten Verschlechterungen der Sozialleistungen müßten im „Rahmen der Möglichkeit“ rückgängig gemacht werden. Die Versorgung der Arbeitslosen müsse namentlich in dem bevorstehenden Winter ausreichend verbessert werden. Jeder weitere Angriff auf die Löhne und Rechte der Arbeiter habe zu unterbleiben. Die Unabdingbarkeit der Tarifverträge müsse für die Zukunft unangetastet bleiben. Die Forderung nach einer Aufhebung der sozialpolitischen „Generalermächtigung“, das Verlangen nach Wiederherstellung demokratischer Verfahrensweisen fehlt überraschender- bzw. bezeichnenderweise.228 Obwohl die „Querfront“ eine Schimäre bleibt, namentlich der Eintritt von Teilen der NSDAP in diese Konzeption am absoluten Machtanspruch Hitlers scheitert und Gregor Strasser nach heftigen Konflikten aus der NS-Bewegung ausscheidet, gibt es zunächst keine geschlossene Abwehrfront gegen die Regierung von Schleicher, die vom 3. Dezember 1932 bis zum 30. Januar 1933 amtiert. 226 Diese Zusammenhänge sind Gegenstand zahlreicher Untersuchungen zur Weimarer Republik geworden; besonders umfassend sind die dargestellt bei: Schildt, Axel: Militärdiktatur mit Massenbasis? Die Querfrontkonzeption der Reichswehrführung um General von Schleicher am Ende der Weimarer Republik. Frankfurt a.M., New York 1981; vgl. auch: Winkler, Heinrich August: Der Weg...a.a.O.(=Anm. 12), 811 ff. mit zahlreichen weiteren Hinweisen zur taktischen Orientierung und zu den Aktionen der damaligen politischen und sozialen Kräfte. 227 Vgl.: Longerich, Peter: Deutschland 1918 - 1933...a.a.O.(=Anm. 169), 344. 228 Vgl. zu den Forderungen des ADGB: Der Weg zur Überwindung der Arbeitslosigkeit. In: GewerkschaftsZeitung, 42(1932)49, 769 - 770; zur völlig mangelhaften arbeitsmarktpolitischen Wirkung der Verordnung vom 5. September 1932 legen die Freien Gewerkschaften eine eigene Untersuchung vor; vgl.: Erhebung des ADGB. über die Neueinstellungen von Arbeitskräften auf Grund der Notverordnung vom 5. September 1932. In: Ebenda, 770 773.

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Am 7. und 9. Dezember 1932 wird im Reichstag über eine Änderung des sozialpolitischen Teils der Notverordnung vom 4. September debattiert. Bei den Abstimmungen wird der Gesetzentwurf des Zentrums auf Aufhebung des zweiten Teils der Notverordnung vom 4. September in der 2. und 3. Lesung am 9. Dezember 1932 gegen die Stimmen der DNVP und der DVP angenommen. Das in der Folge dieser Abstimmung ausgefertigte „Gesetz zur Änderung der Verordnung des Reichspräsidenten zur Belebung der Wirtschaft vom 4. September 1932 (Reichsgesetzbl. I S. 425)“ vom 17. Dezember 1932,229 das letzte in einem demokratisch-parlamentarischen Verfahren zustande gekommene sozialpolitische Reichsgesetz, hebt mit einem Satz die sozialpolitische „Generalermächtigung“ der Reichsregierung auf.230 Erwähnenswert ist, daß der Reichskanzler bewußt auf eine eigene Initiative zur Abänderung der Notverordnung verzichtet hat, um so die Glaubwürdigkeit seiner Bemühungen um den Rückhalt bei den Parteien und im Parlament zu unterstreichen.231 Mit Datum vom 14. Dezember ergeht die „Verordnung über die Aufhebung der Verordnung zur Vermehrung und Erhaltung von Arbeitsgelegenheiten.“232 Hiermit wird einem dringenden Wunsch des ADGB aus der Zeit der Anbahnung des Kabinetts von Schleicher entsprochen und es wird vorübergehend die „Bresche“ geschlossen, die unter der Regierung von Papen in das Tarifvertragsrecht geschlagen wurde. Das einseitige Recht der Unternehmer, unter bestimmten Umständen Tariflöhne ermäßigen zu können, entfällt und spätestens vom 1. Februar 1933 ab an gelten noch einmal ausnahmslos Tariflöhne „mit voller unabdingbarer Wirkung“, um sodann in die nationalsozialistischen Formen der Lohnpolitik einbezogen zu werden.233 So kommt es, daß vor dem „gespenstischen“ Hintergrund nunmehr zielführender Verhandlungen und Intrigen um ein „Kabinett Hitler“ der Gedanke und die Verbindlichkeit des Tarifvertrags, der Gleichberechtigung und Anerkennung der Arbeiterbewegung ein letztes mal profiliert wird. Der eigentliche Schwerpunkt der Sozialpolitik des Kabinetts von Schleicher ist jedoch die nicht nur vom ADGB sondern bekanntlich von vielen Kräften einschließlich der NSDAP geforderte Arbeitsbeschaffungspolitik.234 Die Arbeitsbeschaffung, der sozialpolitische Ausdruck der Abkehr von der „Schrumpfungspolitik“, steht auch im Zentrum der sozialpolitischen Aussagen des Regierungsprogrammes, daß der Reichskanzler am 15. Dezember 1932 über den Rundfunk verbreitet.235 In dieser mit Versatzstücken militärischen und nationalistischen Denkens durchwirkten Programmerklärung, in der er sein herrschaftsstrategisches Konzept mit den Worten zum Ausdruck bringt, es sitze sich schlecht auf der „Spitze der Bajonette“, man könne nur mit einer „breiten Volksstimmung“ hinter sich regieren, meint er sogar, sein Regierungsprogramm bestehe aus einem einzigen Punkt: „Arbeit schaffen!“236 Zwar ist dies angesichts der komplexen innen-, außen- und militärpolitischen Absichten der Regierung eine geradezu „atemberaubende“ Zuspitzung, der aber insoweit Bedeutung zukommt, als nun229 Vgl.: RGBl. I 1932, 547. 230 Vgl. zum Ablauf der entsprechenden Reichstagssitzungen: Thürauf, Ulrich (Hg.): Schulthess´ Europäischer Geschichtskalender, 73(1932), 218 f. 231 Vgl. das Dok. Nr. 5 bei: Golecki, Anton (Bearb.): Das Kabinett von Schleicher. Boppard am Rhein 1986 , 23. 232 Vgl.: RGBl. I 1932, 545. 233 Vgl.: Die Aufhebung der Notverordnung vom 5. September. In: Gewerkschafts-Zeitung, 42(1932)62, 817 819. 234 Die NSDAP stellt auch kurz vor der „Machtergreifung“ zahlreiche sozialpolitische Agitationsanträge; vgl. zur Forderung nach Arbeitsbeschaffung den Antrag Nr. 83 vom 6. Dezember 1932 in: Verhandlungen des Reichstags. VII. Wahlperiode 1932. Band 455. Anlagen. Berlin 1933. 235 Vgl. Dok. 25 bei: Golecki, Anton (Bearb.): Das Kabinett...a.a.O.(=Anm. 231), 101 ff. 236 Ebenda, 103.

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mehr alle wichtigen sozialpolitischen Rechtsquellen dieser Regierung sich auf die Arbeitsbeschaffung beziehen. Dies trifft mittelbar auf die „Verordnung über ausländische Arbeitnehmer“ vom 23. Januar 1933 zu,237 die restriktive und überwachende Maßnahmen mit dem Ziel der Zurückdrängung dieser Form der „Arbeitsmarktkonkurrenz“ beinhaltet. Direkt auf den Kern des Regierungsprogramms bezogen ist die „Verordnung des Reichspräsidenten über Maßnahmen zur Förderung der Arbeitsbeschaffung und der ländlichen Siedlung“ vom 15. Dezember 1932.238 Diese Notverordnung bestellt, neben einem Ausschuß für „ländliche Siedlung“ beim Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, zur einheitlichen und beschleunigten Förderung aller Maßnahmen auf dem Gebiet der Arbeitsbeschaffung einen „Reichskommissar für Arbeitsbeschaffung.“ Dieser „...untersteht dem Reichskanzler und hat seinen Sitz in Berlin. Er gilt als oberste Reichsbehörde.“ Bereits mit Ernennungsurkunde vom 3. Dezember 1932 wird als profilierter Vertreter des Arbeitsbeschaffungsgedankens der ehemalige Reichstagsabgeordnete und Führer der „Christlich-Nationalen Bauern- und Landvolkpartei“ Günther Gereke mit diesem Amt betraut. Er verfügt über enge Beziehungen zum Reichspräsidenten und dessen Umgebung. Seine Mitwirkung ist auch deshalb für von Schleichers Pläne einer Verbindung nationaler und sozialdemokratischfreigewerkschaftlicher Kreise von Interesse, weil er eine Organisation, ein überparteiliches Gremium für die Propagierung seiner arbeitsmarktpolitischen Pläne geschaffen hatte, den „Arbeitsbeschaffungsausschuß“ des Landgemeindetags. In ihm finden sich Vertreter der SPD, der NSDAP, Angehörige des „Stahlhelms“, des „Reichsbanners“ sowie verschiedene Gewerkschaften, Bauern- und Handwerkerbünde zur „...Mitarbeit an einem der Wirtschaftskrise zentral zu Leibe rückenden Konzept...“ zusammen.239 Die „Durchführungsbestimmungen zur Arbeitsbeschaffung“ vom 6. Januar 1933240 benennen als Träger der Arbeitsbeschaffung Körperschaften des öffentlichen Rechts sowie gemischt-wirtschaftliche Unternehmungen. Sie definieren den Charakter der förderungsfähigen Arbeiten und legen das Verfahren der Darlehensgewährung fest, die durch die „Deutsche Gesellschaft für öffentliche Arbeiten“ oder die „Deutsche Rentenbank-Kreditanstalt“ erfolgen kann. Durch eine „Verordnung des Reichspräsidenten über finanzielle Maßnahmen auf dem Gebiete der Arbeitsbeschaffung“ vom 28. Januar 1933241 werden unter spezifischer Einbeziehung der durch die Notverordnung vom 4. September 1932 ausgestalteten Steuergutscheine finanztechnische Ermächtigungen ausgesprochen. Eine Durchführungsverordnung vom 26. Januar 1933242 klärt Zuständigkeitsfragen im Zusammenhang mit der Darlehensfinanzierung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in einzelnen deutschen Ländern. Aus diesen Vorschriften erwächst das „Sofortprogramm“, welches insgesamt 600 Millionen Reichsmark umfaßt, die bis ins Jahr 1935 ausbezahlt werden. Damit kommt das „Sofortprogramm“ ebenso wie das „Papenprogramm“ dem NS-Regime zugute.243 Darüber hinaus wird erstmals für den Winter

237 Vgl.: RGBl. I 1933, 26. 238 Vgl.: RGBl. I 1932, 543. 239 Vgl.: Golecki, Anton (Bearb.): Das Kabinett von Schleicher...a.a.O.(=Anm. 231),XXXIII f.; vgl. auch: Winkler, Heinrich August: Der Weg...a.a.O.(=Anm. 12), 717 f. 240 Vgl.: RGBl. I 1933, 11. 241 Vgl.: RGBl. I 1933, 31. 242 Vgl.: RGBl. I 1933, 31. 243 Vgl.: Schlußbilanz...a.a.O.(=Anm. 194), 147.

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1932/33 verfügt, daß keine Aussteuerung aus der Krisenfürsorge mehr stattfinden darf. So wird einer dringlichen Forderung der Gemeinden nach Entlastung entsprochen.244 Mit dieser innenpolitisch nach „links“ neigenden Diktatur löst der „politische Soldat“ Reichskanzler Kurt von Schleicher erhebliche Widerstände aus und verfehlt sein Ziel der Abstützung seines Regierungskonzepts durch eine neue politische Gruppierung quer zu den bestehenden politischen Fronten und Parteiungen. Während er mit abnehmender Tendenz bei den Gewerkschaften einen gewissen Eindruck hinterläßt, verhalten sich SPD und Zentrum mißtrauisch und oppositionell. In Unternehmerkreisen ruft seine Politik erhebliche Nervosität hervor. Von einer im nationalen Lager erwarteten Neutralisierung der Arbeiterbewegung, ihrer Zerstörung oder Ausschaltung kann keine Rede sein. Diese Tatsache führt vor allem bei und im Umkreis des Reichspräsidenten zur Beunruhigung über den angeblich „linksradikalen“ Kurs. Der ostelbische Großgrundbesitz sieht das protektionistische Schutzsystem zugunsten der krisengeschüttelten Landwirtschaft in Gefahr. Vor dem Hintergrund einer zur bürgerkriegsähnlichen Entladung drängenden Staats-, Wirtschafts- und Sozialkrise setzen sich in den Kreisen der hochkonservativen Eliten die Kräfte durch, die ein „Regiment Hitler“ gegenüber einer „Rückkehr des Marxismus unter Schleicher“ bevorzugen. Sie tun das in Form einer Kette von Absprachen und Intrigen an denen führend Reichskanzler a.D. von Papen beteiligt ist. So scheint den bestimmenden gesellschaftlichen und politischen Führungsschichten Deutschlands und „...den einflußreichen wirtschaftlichen Gruppen, insbesondere der großen Industrie und dem Großgrundbesitz, ein ‘gezähmtes’ Kabinett HI TL ER letzten Endes besser zu sein als ein zwar autoritäres, aber linker Bestrebungen verdächtiges Regime, das womöglich gar wieder zum verhaßten Parteienstaat zurückführen könne.“245 Als der Reichspräsident der durch ein Mißtrauensvotum bedrohten Regierung von Schleicher am 28. Januar 1933 die Order zur Auflösung des Reichstags verweigert, erklärt der Reichskanzler den Gesamtrücktritt seiner Regierung. Ausgerechnet am 28. Januar 1933, am Tag des Rücktritts der Regierung von Schleicher, hält die für die Entwicklung der „demokratischen Sozialpolitik“ so bedeutsame „Gesellschaft für Soziale Reform“ ihre 12. Hauptversammlung im Alten Rathaus zu Hannover ab.246 Auf dieser trotz der „schwierigen Verhältnisse“ äußerst stark besuchten Versammlung treffen sich noch einmal die Repräsentanten von Arbeit und Kapital und andere an der sozialpolitischen Entwicklung interessierte Kräfte. Das Reichsarbeitsministerium würdigt die Bedeutung der Tagung durch die Entsendung des Staatssekretärs Dr. Andreas Grieser und des Ministerialdirektors Dr. Friedrich Sitzler.247 Die Hauptversammlung hat als einzigen Verhandlungsgegenstand das Thema „Sozialpolitik im Wandel der Staatspolitik.“ Die Inhalte der zu diesem Thema gebotenen Vorträge sind weit davon entfernt, auf den nun bald anstehenden Kontinuitätsbruch in der staatlichen Sozialpolitik vorauszuweisen. Sie hoffen auf Überwindung der Zeit „höchster politischer Spannung“, „schwerster 244 Vgl.: Wermel, Michael T., Urban, Roswitha: Arbeitslosenfürsorge...Teil III...a.a.O.(=Anm. 15), 69. 245 So zusammenfassend: Mommsen, Wolfgang J.: 1933: Die Flucht in den Führerstaat. In: Stern, Carola, Winkler, Heinrich August (Hg.): Wendepunkte deutscher Geschichte 1848 - 1945. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1980, 111 138, hier: 135. 246 Vgl. zur Einladung: Soziale Praxis, 42(1933)2. In einer geschlossenen Mitgliederversammlung am Freitag, den 27. Januar 1933, wird die Professorin Frieda Wunderlich zur Generalsekretärin der „Gesellschaft für Soziale Reform“ gewählt. Sie war während des Ersten Weltkrieges in der Kriegsamtsstelle in den Marken mit sozialpolitischen Fragen befaßt. Sie ist langjährige (Mit-)Herausgeberin der „Sozialen Praxis“ und Verfasserin zahlreicher Aufsätze und einiger Monographien. Vgl. die biographischen Notizen in: Sozialpolitik im Wandel der Staatspolitik. In: Kölnische Volkszeitung, 74. Jahrgang, Nr. 31 vom 31. Januar 1933, 4. 247 Vgl.: Sozialpolitik im Wandel der Staatspolitik. In: Soziale Praxis, 42(1933)5, Sp. 129 - 139, hier: Sp. 129.

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wirtschaftlicher Bedrängnis“ und auf weiteren „sozialpolitischen Fortschritt“. Staatssekretär Grieser bekennt, daß die Arbeit der „Gesellschaft für Soziale Reform“ dem Reichsarbeitsministerium erwünscht und daß sie notwendig sei. Sei schon der Abbau von Leistungen unvermeidlich, weil der Wirtschaft nichts Unmögliches zugemutet werden könne, dann könne der Leistungsabbau doch wohl durch den Aufbau von Rechten in der sozialen Verwaltung ausgeglichen werden. Kurz vor der Mittagspause gibt der Regierungspräsident z.D., das geschäftsführende Präsidialmitglied der „Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“, Roland Brauweiler, im Rahmen seines erstaunlich gemäßigten Beitrages dem Wunsche Ausdruck, „...daß die Frage, ob die deutsche Unternehmerschaft die Sozialpolitik für notwendig halte, endgültig aus der Diskussion ausscheide, da ihre Bejahung eine Selbstverständlichkeit sei.“ Er warnt jedoch vor Übertreibungen, betont die wirtschaftlichen Grenzen, spricht befürwortend das Tarifvertragswesen an, die Schlichtung jedoch ablehnend.248 Doch Krisenzeichen sind unübersehbar. Reichsarbeitsminister Syrup, der sein Erscheinen zugesagt hatte, ist durch die politischen Vorgänge ebenso verhindert, wie eine Reihe von sozialpolitisch engagierten Reichstagsabgeordneten. Während der Mittagspause gewinnt das Thema der Tagung, das Bemühen, den Zusammenhang des „allgemeinen Staatsschicksals“ mit den sozialpolitischen Bestrebungen zu ergründen, besondere Aktualität. Der Rücktritt der Regierung von Schleicher wird bekannt. Die Sorge, die durch diese Nachricht ausgelöst wird und „...die Erregung über die ungewisse Zukunft des sozialen Werkes (zittert) durch alle Referate und Diskussionsreden hindurch.“249 Vor diesem Hintergrund gestaltet sich die Aussprache zu einer eindrucksvollen Kundgebung für die Aufrechterhaltung der Sozialversicherung, für die soziale Selbstverwaltung, für Arbeitsbeschaffung, für Arbeitszeitverkürzung und insbesondere auch für die Aufrechterhaltung des kollektiven Arbeitsrechts.250 Gegen Ende Januar 1933 ist die Beschwörung des „demokratischen Sozialstaats“, die Kundgebung für die mit dem „Volksstaat“ gewachsene, in Abwehr der „Diktatur des Proletariats“ konzipierte, Anerkennung, Gleichberechtigung und Mitwirkung der Gewerkschaften verbürgende sozialpolitische Ordnung eine hilf- und machtlose Geste. Nachdem unter anderem Bedenken gegen eine möglicherweise drohende Parteidiktatur der NSDAP „zerstreut“ worden sind, wird Adolf Hitler am 30. Januar 1933 vom Reichspräsidenten von Hindenburg zum Chef eines Präsidialkabinetts der „nationalen Konzentration“ ernannt. Mit diesem Kabinett beginnt für manchen zeitgenössischen Beobachter überraschend und auf „ganz normale Art“ das „Dritte Reich.“251 Ahnungsvoll schreiben Kommentatoren der ersten Stunden der Regierung Hitler von einem „Sprung ins Ungewisse“ und sehen die Gefahr eines hemmungslosen Machtmißbrauchs, der sich weder an die Verfassung noch an das Gesetz hält.252 Tatsächlich beginnt nun in diesem außerordentlich kalten Winter jener „Sturm über Deutschland.“253 Es kommt schon in den ersten Tagen des 248 Vgl.: Sozialpolitik im Wandel der Staatspolitik (Schluß.). In: Soziale Praxis, 42(1933)6, Sp. 167 - 174, hier: 169 f. 249 Gefahr für den Sozialstaat! In: Vossische Zeitung. Morgenausgabe, Nr. 53 vom 31. Januar 1933, 3. 250 Vgl. ebenda. 251 Vgl.: Das neue Kabinett. In: Kölnische Zeitung Nr. 59. Abendausgabe, vom 30. Januar 1933, 1. 252 Vgl. den Kommentar der Kölnischen Zeitung Nr. 60. Morgenausgabe vom 31. Januar 1933,1; vgl. auch: Der Sprung. In: Vossische Zeitung Nr. 50. Abendausgabe vom 30. Januar 1933, 1. Dieser Beitrag endet mit den Sätzen: „Hindenburg hat Hitler betraut. Die Zeichen stehen auf Sturm.“ Vgl. insgesamt zur Meinungslage in der deutschen und ausländischen Presse die Beiträge „Die deutsche Presse zum Kurswechsel“ bzw. „Wie das Ausland Hitler aufnimmt.“ In: Vossische Zeitung Nr. 51, Morgenausgabe vom 31. Januar 1933, 3. 253 So die Überschrift eines Artikels in der „Roten Fahne“ vom 1. Februar 1933, 1.

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neuen Kabinetts zu jenen weitgehend politisch gedeckten Gewalt- und Terroraktionen, die auch für die Zukunft kennzeichnend bleiben werden.

3.3 Geistesgeschichtliche Wurzeln und Wegbereiter der „völkischen Sozialpolitik“ 3.3.1 Dystopien, „völkische Rassenhygiene“ und „Eugenik“ Zweifellos haben bei der Ausformung der NS-Sozialpolitik spezifische weltanschauliche Faktoren eine bedeutende Rolle gespielt. Dabei variiert der Stellenwert derartiger Einflüsse von Gebiet zu Gebiet und er folgt auch einem zeitlichen Muster. Eine Erklärung des „nationalsozialistischen Typenwechsels des Sozialstaats“254 allein aus „freischwebenden“ weltanschaulichen Faktoren ist jedoch unzureichend. Nicht außer acht gelassen werden darf, daß es in einer komplexen historischen Situation Verknüpfungen der verschiedensten Art zwischen den zur Debatte stehenden Gedankengebilden und Interessen und anderen Rahmenbedingungen gibt. Zu beachten ist außerdem, daß auch manche Kontinuitäten der Sozialstaatsentwicklung zu beobachten und zu erklären sind. Die für einen entsprechend zu relativierenden „Typenwechsel“ des Sozialstaats maßgeblichen Weltanschauungselemente, die Ideologien und Ordnungsvorstellungen allein aus der Praxis und den Äußerungen der Exponenten der NS-Bewegung suchen zu wollen, ist zwar nicht ohne Erklärungskraft, greift aber deutlich zu kurz. Diese Partei und Bewegung ist selbst wiederum Endpunkt und Sammelbecken einer sowohl zeitlich weit zurück reichenden als auch zeitgleichen komplexen Ideen- bzw. Ideologieproduktion und es bestehen bedeutende ideologische Affinitäten zwischen dem Nationalsozialismus und der vielgestaltigen nationalen Rechten. Diese vorund übergreifende weltanschauliche Bewegung kennt bereits vor 1914 zahlreiche Einzelkämpfer, Kreise, lokale und überlokale Zirkel, Gesellschaften, Orden, Bünde, Parteien, fördernde Verlagsunternehmen und sie hat bereits zu dieser Zeit ein gewaltiges Schrifttum hervorgebracht. In diesem spiegelt sich so etwas wie der weit austrahlende „Zeitgeist“ im „gebildeten“ und nationalen Bürgertum.255 Weite Bereiche des auf seinen sozialpolitischen Kern hin zu untersuchenden ideologisch-intellektuellen Umfelds und Reservoirs für die nationalsozialistische Weltanschauung lassen sich mit dem Oberbegriff „völkisch“ bezeichnen. Da sich nun die zahllosen „völkischen“ Denkmuster und Reformvorschläge zur Sozialpolitik vom Kaiserreich über die Republik bis in das „Dritte Reich“ mit ihren jeweils zeittypischen Modifikationen verfolgen lassen und in der NS-Diktatur ihre praktische Wirkungskraft entfalten, ist es angemessen, die NS-Sozialpolitik als „völkische Sozialpolitik“ zu bezeichnen.256 Nun entbehrt allerdings der Begriff des „Völkischen“ der klaren Konturen, die Bewegung selbst war zersplittert, später ist das Verhältnis Hitlers zur „völkischen Bewegung“ nicht spannungsfrei und widersprüchlich. Trotzdem benutzt er den Begriff

254 So die Ausdrucksweise in der vom Herausgeber verfaßten Einleitung bei: Hockerts, Hans Günter (Hg.): Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. München 1998, 9. 255 Vgl. in diesem Zusammenhang als verdienstvolle Schrift: Puschner, Uwe, Schmitz, Walter, Ulbricht, Justus H. (Hg.): Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871 - 1918. München, New Providence, London, Paris 1996. 256 Ähnlich: Hockerts, Hans Günter: Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. In: Ruland, Franz, Maydell, Bernd Baron von, Papier, Hans-Jürgen (Hg.): Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats. Heidelberg 1998, 267 279, hier: 277.

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„völkisch“ und dieser ist auch in seiner Bewegung weit verbreitet.257 Es handelt sich bei den „völkischen“ Anschauungen um kein geschlossenes weltanschauliches System, um keine feste Substanz, sondern um ein Ideenkonglomerat ohne festgefügte und paßgenaue Begriffe und Konzepte. Auch in diesen Punkten sind sie der NS-Ideologie ähnlich. Die Bewegung ist in sich zerstritten und kennt divergierende Selbstbezeichnungen. „Völkisch“ heißt die hier angesprochene Denkrichtung zunächst einmal nach ihrem zentralen Gegenstand, dem „Volk“, „...der für das Ganze integrierende Funktion hatte...“258 Die Gemeinsamkeiten dieser in der Gesellschaft des Kaiserreichs wachsenden Denkrichtung259 gehen weit über den inflationären Gebrauch des Wortes „Volk“ und seiner Abarten (Volkstum, Volkskörper usw.) hinaus. Es existieren also weitere Anhaltspunkte, die es erlauben, einen unterscheidbaren Komplex intellektuell-ideologischer Positionsbestimmungen und Inhalte zu identifizieren, der von einer gewissen inneren Kohärenz ist, öffentliche Relevanz hat und für die sozialpolitische Entwicklung von Bedeutung ist. Auffallend ist bereits im 19. Jahrhundert der Bezug des „völkischen“ Denkens zu den Naturwissenschaften, insbesondere zur evolutionistischen Biologie, zu jener sinngebenden und folgenschweren Historisierung der Naturforschung und Naturanschauung im 19. Jahrhundert.260 Die in Deutschland von dem Zoologen Ernst Haeckel (1834 - 1919) popularisierten und auf den Menschen übertragenen Theorien Charles Darwins und die vom Sozialphilosophen Herbert Spencer (1820 - 1903) entwickelten Anschauungen vom Kampf ums Dasein und vom Überleben des „Stärksten“ entfalten auch im deutschen Sprachraum Wirkung. Spencer betrachtet die Armengesetzgebung aus sozialdarwinistischer Sicht bereits als schädliche Einmischung in das Prinzip der natürlichen Auslese. Sie begünstige die Vermehrung der Leichtsinnigen und Unfähigen und behindere die der Vorausschauenden und Tüchtigen. Zum so entstehenden Sozialdarwinismus bzw. Spencerismus treten diffuse Rassenlehren hinzu. So entstehen im Kreis der als „völkisch“ zu qualifizierenden Autoren und Organisationen wissenschaftlich verbrämte, parawissenschaftliche Weltanschauungen, entsprechende Weltgeschichtsentwürfe, Systembildungen und Klassifizierungen, pseudobiologische Seinsgesetze, sozialdarwinistische Auf- und Abstiegsszenarien von Völkern bzw. Rassen, Modelle höherer und niederer Rassen. Stufenleitern der Völker vom Herrenvolk zu den Heloten, Skalenbildungen intellektueller und sozialer Tüchtigkeit und Wohlbeschaffenheit werden konstruiert. Diese Auffassungen beinhalten die „Lehre“ vom Arier- bzw. Germanentum, von der „nordischen Rasse“. Sie gilt anderen Rassen gegenüber als schlechthin überlegen. Solche „Lehren“ umfassen bereits auch schon Vorstellungen „verderblicher Rassenmischung“ und anzustrebender „Rassenzüchtung“. Die „kontraselektorischen“ Wirkungen der Zivilisation, insbesondere der Medizin und Sozialpolitik, die den Trägern schlechter Erbanlagen das Überleben ermöglichen würden, sind bereits im deutschen Kaiserreich ein bedeutendes Thema geworden. Derartigen Stufungen von „Menschenrassen“ 257 Vgl. als ältere Aufarbeitung dieser Problematik: Broszat, Martin: Die völkische Ideologie und der Nationalsozialismus. In: Deutsche Rundschau, 84(1958), 53 - 68; derselbe: Der Nationalsozialismus. Weltanschauung, Programm und Wirklichkeit. Stuttgart 1960, bes. 21 ff. 258 Vgl.: Hartung, Günter: Völkische Ideologie. In: Puschner, Uwe, Schmitz, Walter, Ulbricht, Justus H. (Hg.): Handbuch...a.a.O.(=Anm. 255),22 - 41, hier: 22. 259 Die als solche wiederum nicht ohne Vorläufer und weiter zurückreichende ideengeschichtliche Wurzeln ist; vgl. dazu: Pieper, Markus: Der Körper des Volkes und der gesunde Volkskörper. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 46(1998)2, 101 - 119. 260 Grundlegend in diesem Zusammenhang: Weingart, Peter, Kroll, Jürgen, Bayertz, Kurt: Rasse, Blut und Gene. Frankfurt a.M. 1988, 15 - 366, sowie: Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Göttingen 1987, 11 - 125.

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gehen weit in die Geschichte zurückreichende Ideologien des Antisemitismus, Antislavismus und Antiziganismus voraus, die sich mit den neueren Anschauungen auf vielfältige Weise verbinden.261 Von besonderer Bedeutung sind im 19. Jahrhundert die Anschauungen des Joseph Arthur Comte de Gobineau, die dieser in seinem in der 1850er Jahren erscheinenden „Essai sur l'inégalité des races humaines“ formuliert.262 Die biologisch-rassistische Aufladung und Zuspitzung des Volksbegriffs, die im deutschen Reich lebendige germanozentrisch-deutschvölkische Hierarchisierung der Völker bzw. Rassen, umfaßt bei „völkisch“ argumentierenden Autoren meist auch mehr oder weniger vehemente antiromanistische und antibritische Stereotypen.263 Auf vage Weise verbunden mit den „solideren“ Einsichten der Anthropologie, der Biologie und Medizin erscheint Schriftstellern, denen es mit exakter Wissenschaft nicht „ernst“ ist und die zu unklaren Begriffen, Stereotypen, waghalsigen Konstruktionen, einer geradezu leidenschaftlich-verborten, in Extremen schwelgenden Sprache neigen, das Buch des Lebens und der Völker lesbar und das Volksschicksal gestaltbar. Größte Wirkung haben jene Autoren, die den Weg ins parawissenschaftlichpopuläre gehen, die, vom Nimbus der Wissenschaften zehrend, die Ideologisierung vorantreiben, die die spärliche Empirie weltanschaulich ausschmücken und anreichern, die immer neue Gegenstandsbereiche und Probleme „völkisch“ ausdeuten. Der Kreis der Beiträger zum „völkischen“ Ideenkonglomerat reicht schließlich bis in den „okkulten Untergrund“ des Kaiserreichs, wobei der Weg von zeitgebunden-unvollkommener Wissenschaft zu reiner Phantastik weit durchschritten wird.264 Politische Projekte, Visionen der Selektion und der Züchtung eines „neuen Menschen“ durch optimierende und eliminierende Eingriffe des Staats, der Umkehr einer vermeintlichen Rassendegeneration in -regeneration werden entworfen. Die Idee, das Menschengeschlecht durch Züchtung analog zu den Erfahrungen aus der Tierzucht zu verbessern, hat eine lange Vorgeschichte. Bereits Platon beschreibt in seinem „Staat“ entsprechende Strategien und ähnliche Ideen tauchen in den folgenden Jahrhunderten immer wieder auf. In England begründet der Reisende und Schriftsteller Sir Francis Galton (1822 - 1911), ein Vetter Darwins, die Lehre von der „Eugenik“ als Wissenschaft, deren Ziel die „Verbesserung“ der menschlichen Rasse durch eine bewußte Anwendung Darwinscher Selektionsprinzipien sein soll. Er fordert bereits die Prüfung der Erbqualitäten, kennt Ehe- und Fortpflanzungserlaubnisse bzw. entsprechende Verbote. In Deutschland entsteht gegen Ende des 19. Jahrhunderts als politisches Projekt die „Rassenhygiene“. Alfred Ploetz (1860 - 1940) prägt diesen Begriff im Jahre 1895. Er und der Arzt Wilhelm Schallmayer (1857 - 1919) stehen für den Beginn einer eigenständigen rassenhygienischen Bewegung im Deutschland der Jahrhundertwende. Schallmayer hatte den ersten Preis für seine Beantwortung der Preisfrage „Was lernen wir aus den Prinzipien der Deszendenztheorie in Beziehung auf die innerpolitische Entwicklung und Gesetzgebung der Staaten?“ 261 Vgl.: Wippermann, Wolfgang: Was ist Rassismus? In: Danckwortt, Barbara, Querg, Thorsten, Schöningh, Claudia (Hg.): Historische Rassismusforschung. Hamburg 1995, 9 - 33, hier: 14. 262 Vgl. zu diesen und anderen völkischen Ahnherren die immer noch sehr beachtenswerte Arbeit von: Becker, Peter Emil: Zur Geschichte der Rassenhygiene - Wege ins Dritte Reich. Teil I und II. Stuttgart, New York 1988 und 1990, hier: Teil I, 2 ff. 263 Vgl. am Beispiel Willibald Hentschels denselben, ebenda, Teil I, 220 ff.; vgl. insgesamt auch die Beiträge bzw. Textauszüge in: Altner, Günter (Hg.): Der Darwinismus. Die Geschichte einer Theorie. Darmstadt 1981 sowie: Marten, Heinz-Georg: Sozialbiologismus. Biologische Grundpositionen der politischen Ideengeschichte. Frankfurt a. M., New York 1983; Koch, Hannsjoachim W.: Der Sozialdarwinismus. München 1973. 264 Vgl.: Sieferle, Rolf Peter: Rassismus, Rassenhygiene, Menschenzuchtideale. In: Puschner, Uwe, Schmitz, Walter, Ulbricht, Justus H. (Hg.): Handbuch...a.a.O.(=Anm. 255), 436 - 448.

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bekommen. Für diese Aktion hatte der Großindustrielle Friedrich Alfred Krupp ein Preisgeld von 30.000 Mark ausgesetzt.265 Die rassenhygienische Bewegung kann sich in Deutschland in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts organisatorisch verfestigen.266 Insbesondere bei Ploetz mischt sich die Idee der Abwehr degenerativer Tendenzen in ganzen Populationen und der Hebung des „generativen Niveaus“ ganzer Völker mit der Vorstellung von überlegenen und unterlegenen Rassen. Der Schritt zum Ziel der Rassenreinheit und -züchtung, zu einer „germanozentrischen“ „völkischen Rassenhygiene“ ist im Kaiserreich bald getan. Diese Vorstellungen herrschen in der 1905 von Ploetz gegründeten „Gesellschaft für Rassenhygiene“ sogar vor. Der Hinweis auf die Kritik Schallmayers an der rassistischen und nationalistischen Einfärbung der „Sozialbiologie“ mag genügen, zu verdeutlichen, daß bereits zu dieser Zeit verschiedene Strömungen miteinander ringen. Die organisch-historische Einheit Volk, die sich auch mit geographisch-geopolitischen Vorstellungen verbindet, wird aus „völkischer“ Sicht zur wichtigsten geschichtlichen Wirkgröße. Das Verhältnis der Völker untereinander wird hierarchisiert und sozialdarwinistisch radikalisiert. Von hier verbindet sich „völkisches“ Denken mit dem Nationalismus, militärischem und imperialistischem Gedankengut. Die innere Ordnung des Volkstums wird dabei typischerweise monarchisch bzw. hierarchischmonokratisch in Begriffen der Herrschafts- und Gefolgschaftsideologie gedacht oder im Lichte vergangener Stammesstrukturen historisiert. Die Existenz, das Vordringen und die Faszination wesentlicher Bestandteile des „völkischen“ Ideenkonglomerats ist dabei keine Erscheinung, die ihren historischen und geographischen Ort nur im deutschen Reich hat. Das zeigt schon die außerdeutsche Herkunft mancher ihrer Protagonisten. Insbesondere der Rassismus und die „Rassenhygiene“ bzw. die gemäßigtere, auf die Verbesserung der Erbmasse abzielende „Eugenik“ sind in ihren verschiedenen Fassungen weitverbreitete Erscheinungen. Das trifft auch auf die biologisch begründete Apotheose des jeweils eigenen Volkes zu.267 Die „großen Ereignisse im Leben der Völker“, d.h. die Kriege sowie ethnische Gemengelagen und damit verbundene Herrschaftsgefährdungen, Privilegierungen bzw. Diskriminierungen, wie zum Beispiel im deutschen Osten oder im Österreich der Vorweltkriegszeit, der Kontakt mit fremden Völkern im Zuge der großen Entdeckungen und des Kolonialismus, haben die Entwicklung „völkischer“ Anschauungen gefördert. Die Faszination, die von wesentlich biologisch orientierten Gesellschafts- und Geschichtserklärungen ausgeht, hängt auch damit zusammen, daß diese ihre Leser an einem Geheimnis, an einem Enträtselungsprozeß teilnehmen lassen. Wenige Prinzipien genügen zu einer scheinbar wissenschaftlich soliden Welterklärung. Obwohl manche Bestandteile der fraglichen Erklärungsmuster in einem starken „Spannungsverhältnis“ zu Anschauungen der sozialistischen Arbeiterbewegung stehen, entfalten bestimmte

265 Vgl. in diesem Zusammenhang als wichtige Untersuchung: Labisch, Alfons, Tennstedt, Florian: Der Weg zum „Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ vom 3. Juli 1934. Teil 1 und 2. Düsseldorf 1985, 150 f.; vgl. als Überblick auch: Kranz, Harald: Eugenische Utopien der Menschenzüchtung - Zur Verwissenschaftlichung generativen Verhaltens. In: Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium, 14(1985)4, 278 - 287; vgl. als weitere preisgekrönte Schrift: Lütgenau, F.: Darwin und der Staat. Leipzig o.J.(1905). 266 Vgl.: Labisch, Alfons, Tennstedt, Florian: Der Weg... Teil 1...a.a.O.(=Anm. 265), 155 ff. 267 Statt vieler zusammenfassend: Mosse, George L.: Die Geschichte des Rassismus in Europa. Frankfurt a.M. 1990; Dikötter, Frank: Race Culture: Recent Perspectives on the History of Eugenics. In: The American Historical Review, 103(1998), 467 - 478; Kühl, Stefan: Die Internationale der Rassisten. Frankfurt a.M., New York 1997; für die Zeit vor dem I. Weltkrieg: 18 - 39; Hofstadter, Richard: Social Darwinism in American Thought. Boston 1955.

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Ansätze ihre Faszination schon in den 1870er Jahren bis in diese Kreise hinein,268 bekanntlich ohne die in dieser Bewegung herrschenden ökonomischen und klassentheoretischen sowie sozialreformerischen Anschauungen zu verdrängen oder völlig zu überwuchern. In einem „Spannungsverhältnis“ stehen zahlreiche Autoren, die bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts Vertreter des Gedankens der Tötung, der Sterilisierung oder des Eheverbots gegenüber „Unerwünschten“ sind, zu humanitären und christlichen Anschauungen. Alle Varianten der „Fortpflanzungsauslese“ anhand biologischer Kriterien, erst recht die randständigen Vorstöße einer gezielten Lebensvernichtung, erweisen sich im Kaiserreich als nicht politikfähig. Es herrschen, wie sich noch an einem Vorstoß aus dem Jahre 1918 nachweisen läßt, quantitativ-bevölkerungspolitische Bestrebungen und entsprechend orientierte politische Kräfte vor. Mit dieser Vorgeschichte durchleben diese Anschauungen die Wasserscheide des I. Weltkrieges, sie gewinnen an Bedeutung, differenzieren und radikalisieren sich als zeitgeprägte Gedankengebilde in und an diesem Fundamentalereignis des 20. Jahrhunderts. Der Krieg selbst wird bereits als „Rassenkrieg“, als Verschwörung von „Fremdrassen“ gegen das „Germanentum“ interpretiert.269 Unter den Bedingungen der ersten Nachkriegszeit und der demokratisch verfaßten Republik setzt sich das sozialbiologische Denken und Agieren in den bereits im Kaiserreich bestehenden zwei (Haupt-)Varianten fort. Eng verbunden mit dem rechten politischen Spektrum, mit der „Opposition von rechts“, finden „völkisches“ Denken und „völkische Rassenhygiene“ ihre sich radikalisierende Fortsetzung. In ihrem Rahmen werden die Pfade der Rassenungleichheit, des Arier- und Germanentums, der notwendigen „Aufnordnung“, der auf „Körperformgruppen“ basierenden beschreibenden Rassenanthropologie, des Antisemitismus und der nationalistisch-imperialistischen Einfärbung weiter beschritten. Auf der anderen Seite wächst innerhalb und im Umkreis der Trägergruppen der demokratischen Republik so etwas wie eine ebenfalls fragwürdige, sich aber durch eine relative Mäßigung der Ideen und Methoden auszeichnende liberale, eine „Weimarer Eugenik“ (P. Weindling). Diese „Eugenik“, nicht die „völkische Rassenhygiene“, hinterläßt im Weimarer Sozialstaat gewisse Spuren. Sie weist mit der „Rassenhygiene“ zwar gewisse Teilgemeinsamkeiten auf, verzichtet aber auf die angesprochenen „völkischen“ Auffassungen. Sie ist primär „nur“ an einer „Aufartung“, an einer Mehrung und Verbesserung der Nachkommenschaft durch ein weitgehend eugenisch aufgeklärtes Reproduktionsverhalten der Bevölkerung interessiert. Diese Richtung weist in erheblichem Umfang auch den Begriff „Rassenhygiene“ als Selbstbezeichnung zurück und bevorzugt jenen der „Eugenik“. Die „völkische“ Variante artikuliert sich als mehr oder weniger umfassende und radikale Weltanschauung gegen den „demokratischen Sozialstaat“ der Republik, der ansatzwei268 Vgl. als interessante Einzelschrift aus der Frühphase des Sozialismus: Stiebeling, Geo(rg) C.: Sozialismus und Darwinismus. New York 1879; umfassender: Becker, Peter Emil: Sozialdarwinismus...Teil II...a.a.O.(=Anm.262), 379 ff. und natürlich später ansetzend: Schwartz, Michael: Sozialistische Eugenik. Eugenische Sozialtechnologien in Debatten und Politik der deutschen Sozialdemokratie 1890 - 1933. Bonn 1995. 269 Es kann angesichts der Kriegstoten und Kriegsinvaliden vor dem Hintergrund dieses „Zeitgeistes“ nicht verwundern, daß in und nach diesem „Völkerringen“ eine Kontroverse ausbricht, ob der Krieg nun zur Rassenverbesserung oder zur Rassenverschlechterung geführt habe, ob also “rassisch wertvolle“ oder „minderwertige“ Menschen bevorzugt zu den Opfern des Krieges gehören; vgl. dazu die Hinweise bei: Nicolai, Georg Fr.: Die Biologie des Krieges. Vierte Auflage. Darmstadt 1985 (1919), 74 ff.; vgl. als bezeichnende eugenische Veröffentlichungen dieser Zeit z.B.: Trumpp: Eheerlaubnis und Eheverbote. In: Deutschlands Erneuerung, 1(1917), 348 356; Savorgnan, Franco: Krieg, Auslese und Eugenik. In: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Soziologie, 3(1927)1, 18 - 31.

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se zwar eugenische aber keine spezifisch „rassenhygienische“ Kriterien kennt.270 Die sich in die Physiognomie der Bevölkerung eingrabenden Alltagsnöte, soziale Gefährdungen, die „Vergeblichkeit“ der Sozialpolitik in den großen Krisen der Republik, die daraus hervorbrechende Radikalität, steigende Abgaben bzw. Ausgaben für „Soziales“ geben dieser Nachkriegsdikussion ihr besonderes Gepräge. Die Vertreter der „völkischen Rassenhygiene“ entwickeln Projekte, schärfen Begriffe und schlagen staatlich-gesetzgeberische Maßnahmen vor, die weit über das hinausgehen, was sich mit der demokratischen, die Menschenwürde achtenden Republik verbinden läßt. Von auffallender Radikalität und exemplarischer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die Beiträge des „völkisch“ argumentierenden Rassenhygienikers Fritz Lenz. Eine aus dem Kulturpessimismus und der Zivilisationskritik gespeiste Degenerationsangst verbindet sich bei ihm mit einem ungeheuren „therapeutischen Optimismus“. Er betont in extremer Weise die Pflichten jedes Einzelnen gegenüber „Staat und Rasse“. Die Rasse ist für ihn das einzig Wesentliche und diese sieht er bedroht: „Neben der Wahrscheinlichkeit des Untergangs aber steht die strahlendste und stolzeste Möglichkeit. Es ist zweifellos möglich, unsere Rasse zu einer Höhe und Blüte zu führen, wie sie noch niemals erreicht war. Versagen wir aber, so ist unsere Rasse endgültig verloren. Das deutsche Volk ist der letzte Hort der nordischen Rasse. Nicht nur das Werk von Jahrhunderten, das von Jahrtausenden bräche mit ihr zusammen. Vor uns liegt die größte Aufgabe der Weltgeschichte. An der Wende aller Weltalter stehen wir.“271 Im Jahre 1921 publiziert er den „subjektivsten“ und „temperamentvollsten“ Beitrag zu dem „rassenhygienischen“ Standardwerk der Weimarer Republik und des „Dritten Reiches“, zum „Baur-Fischer-Lenz“.272 Dieses zweibändige, mehrfach aufgelegte Standardwerk enthält einmal einen Abschnitt zur allgemeinen Variations- und Erblichkeitslehre, der den damaligen Kenntnisstand auf dem Gebiet der Tier- und Pflanzenwelt wiedergibt und einige Aussagen zur Vererbungslehre beim Menschen umfaßt. Dieser Beitrag ist als relativ seriös zu bezeichnen und bewegt sich auf dem Niveau der „Mendel-Genetik“ und von ähnlich „urtümlichen“ biologischen Forschungsansätzen. Der sich daran anschließende Beitrag von Eugen Fischer zu den „Rassenunterschieden des Menschen“ ist bereits sehr viel fragwürdiger. Er enthält nach einer Beschreibung der variierenden Merkmale des Menschen eine Darstellung der „Rassenentstehung und Rassenbiologie“, in die bereits fragwürdige Ansätze, dubiose „Erkenntnisse“ und zahlreiche Vorurteile eingehen, die aber als wissenschaftlich abgesichert ausgegeben werden. Der Anteil des „Rassenhygienikers“ Fritz Lenz, der mehr als drei Viertel zum Gesamtwerk beisteuert, darunter den gesamten zweiten Band, enthält zwar einige zutreffende Beobachtungen aus der Erblehre, der medizinischen Wissenschaft und Praxis. Mit seiner bleibenden Neigung zur Überbewertung der „nordischen Rasse“, zur entsprechenden Abwertung anderer Rassen, zur Erklärung psychischer, sozialer, kultureller 270 Vgl. als radikale und somit interessante Einzelschrift: Dahl, Friedrich: Der sozialdemokratische Staat im Lichte der Darwin-Weismannschen Lehre. Jena 1920; zur Deutung des I. Weltkrieges als „Rassenkrieg“ vgl. z.B.: Helmke, F.: Rassenfragen des Weltkrieges. Zeitz 1916. 271 Lenz, Fritz: Zur Erneuerung der Ethik. In: Deutschlands Erneuerung, 1(1917), 35 - 56, hier: 56 (im Original gesperrt); vgl. als weitere ähnlich gelagerte Veröffentlichung: Derselbe: Gedanken zur Erneuerung des deutschen Volkes. Ebenda, 2(1918),765 - 775. Die Zeitschrift „Deutschlands Erneuerung“ ist alldeutsch-völkisch orientiert und bekennt sich bald zum Nationalsozialismus. 272 Gemeint ist das zweibändige Werk „Menschliche Erblichkeitslehre und Rassenhygiene“ von Erwin Baur, Eugen Fischer und Fritz Lenz, das im Münchener Verlag J. F. Lehmann erstmals im Jahre 1921 erscheint; vgl. zur Bedeutung dieser Publikation und zur Rezensionsgeschichte: Fangerau, Heiner: Etablierung eines rassenhygienischen Standardwerkes 1921 - 1941. Frankfurt a.M., Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien 2001.

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und geschichtlicher Erscheinungen aus Rassenunterschieden, läßt er seinen „völkischen“ Ausgangspunkt auch in diesem Standardwerk deutlich erkennen. Nach der Darstellung der biologischen und sozialen Auslese beim Menschen und von verschiedenen Formen der „Rassenhygiene“ kommt Fritz Lenz zu dem Ergebnis: Mit der „individualistischen Kultur“, mit der Zivilisation, wie sie sich in den letzten 100 Jahren ausgebildet habe, sei das dauernde Gedeihen der Rasse unvereinbar. Sie bringe die Rasse dahin, zu „verpöbeln“ und zu „verkommen“. Er, der den „einseitigen Antisemitismus“ des Nationalsozialismus in der dritten Auflage dieses auch für die damalige Medizinerausbildung wichtigen Standardwerkes „bedauert“, dieser Partei aber bereits im Jahre 1931 offensichtlich nicht abgeneigt ist, steht mit solchen und ähnlichen Ansichten auch im Zentrum der umfangreichen zeitgenössischen Buchkritik. Diese fällt aber insgesamt relativ günstig aus und der „Baur-FischerLenz“ und mit ihm die „Rassenhygiene“ gelten als Wissenschaft.273 Dramatische Akzente erhält das „völkische“ Denken in der Weimarer Republik nicht nur durch die Kriegsverluste an Menschenleben und an Gesundheit sondern auch durch einen verstärkt thematisierten in Deutschland schon um die Jahrhundertwende einsetzenden „Absturz“ der Geborenenziffern, der mit der Entwicklung zum kapitalistischen Industriestaat einhergeht274 und auch andere europäische Staaten erfaßt.275 Diese „demographische Transition“ löst im „gebildeten Bürgertum“ eine beträchtliche Angst vor dem machtpolitischen und wirtschaftlichen Verfall des deutschen Nationalstaats aus und führt zu dementsprechenden wissenschaftspublizistischen und populärwissenschaftlichen Reaktionen. Von erheblichem Gewicht und exemplarischer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die Aktivitäten und zahlreichen Publikationen des Statistikers und leitenden Mitarbeiters im „Statistischen Reichsamt“ Friedrich Burgdörfer.276 Er entwickelt in seinem 1932 publizierten Hauptwerk „Volk ohne Jugend“277 und in seinen sonstigen Schriften zwar auch manche

273 Nicht ohne Grund schreibt sich Fritz Lenz das Verdienst zu, Ideengeber der NS-Weltanschauung zu sein; Hitler selbst soll beim Verfassen seiner Programmschrift „Mein Kampf“ aus der zweiten Auflage dieser Schrift geschöpft haben; vgl. Hammerschmidt, Peter: Die Wohlfahrtsverbände im NS-Staat. Opladen 1999, 52; weitere Autoren, die Hitler vermutlich mehr oder weniger direkt beeinflußt haben, verzeichnet: Vieler, Eric H.: The Ideological Roots of German National Socialism. New York, Washington D.C., Baltimore, Boston, Bern, Frankfurt a.M., Berlin, Brussels, Vienna, Canterbury 1999, 127 ff.; die Auffassungen von Fritz Lenz finden sich in: Lenz, Fritz: Menschliche Auslese und Rassenhygiene (Eugenik). Dritte, vermehrte und verbesserte Auflage. München 1931, 548 ff., bes. 551 f. 274 Vgl. dazu: Hohorst, Gerd: Von der Agrargesellschaft zum Industriekapitalismus: Der Kernprozeß der 'demographischen Transition' in Deutschland. In: Bade, Klaus J. (Hg.): Auswanderer, Wanderarbeiter, Gastarbeiter. Band 1. Ostfildern 1984, 110 - 134, hier: 111. 275 Vgl. dazu die Statistik bei: Burgdörfer, Friedrich: Bevölkerungsstatistische und bevölkerungspolitische Rundschau. In: Jahreskurse für ärztliche Fortbildung, 33(1942), 34 - 50, hier: 35; vgl. auch denselben: Der Geburtenrückgang in Deutschland und Europa. In: Medizinische Welt, 5(1931), 568 - 570; derselbe: Deutschland und der internationale Geburtenrückgang. In: Bayerische Ärztezeitung, 34(1931)12, 115 f. 276 Zu seiner Biographie vgl.: Labisch, Alfons, Tennstedt, Florian: Der Weg...Teil 2 ...a.a.O.(=Anm. 265), 389 f. 277 Vgl.: Burgdörfer, Friedrich: Volk ohne Jugend. Geburtenschwund und Überalterung des deutschen Volkskörpers. Ein Problem der Volkswirtschaft, der Sozialpolitik, der nationalen Zukunft. Berlin 1932; an die Publikation schließt sich u.a. eine Vortragsreihe an, die der Verfasser auf der „Deutschen Welle“ am 31. August und 7. Dezember 1932 hält; vgl. als Ausarbeitung der Rundfunkbeiträge: Burgdörfer, Friedrich: Volk ohne Jugend. In: Pädagogisches Zentralblatt, 12(1932)10, 461 - 481. Auf entsprechende Breitenwirkung hoffend ist der Titel der Schrift vermutlich bewußt dem Titel eines „Megasellers“ der damaligen Zeit nachgebildet; es handelt sich um den Roman: Grimm, Hans: Volk ohne Raum. München 1926. Mit dem Schlagwort „Volk ohne Raum“ betreibt darüber hinaus die nationalistische und mit Kriegsnotwendigkeiten rechnende Denkart Jahrzehnte Mißbrauch. Auch in Hitlers „Mein Kampf“ spielt die „Lebensraum-Frage“ eine bedeutende Rolle.

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interessante Einsicht und sinnhafte statistische Verfahren.278 Auffallend ist jedoch ein wahres „Horrorszenarium“ für die Zukunft des deutschen Volkes. Er teilt insoweit die durchgängige kulturpessimistische und katastrophische Sichtweise der zeitgenössischen Debatte. Ein Volk, das keine Jugend habe, habe keine Zukunft. Kein Volk sterbe eigentlich aus, es werde „ausgeboren“, bekennt er im Vorwort zu seiner als „Mahn-“, als „Weckruf zu völkischer Gesinnung“ gedachten Schrift. Seine Argumentation „gewinnt“ durch ihre „zwingende“ mathematisch-statistische Form, durch die Einbeziehung der Verluste durch Krieg und Kriegsfolgen, durch die Berücksichtigung von Bevölkerungseinbußen infolge nicht geborener Kinder und durch Bevölkerungsverluste als Folge der Gebietsabtretungen an Gewicht. Er bilanziert einen „Gesamtverlust“ von 12 bis 13 Millionen Menschen. Maßgebend ist für ihn, daß bei noch vorhandenem Geburtenüberschuß in Zukunft eine Aufrechterhaltung des Volksbestandes unter gegebenen Bedingungen als unmöglich erscheint. Insbesondere für die Großstädte, namentlich für Berlin, kann er einen erschreckenden „Sturz der Geburtenrate“ nachweisen. Dieser Autor, dessen Werk ein wichtiger Beitrag und eine wichtige Grundlage der bevölkerungspolitischen Diskussion in der Weimarer Republik ist, sieht im Osten einen Raum ohne „deutsches Volk“ entstehen, der Begehrlichkeit der „geburtenstarken östlichen Nachbarn“ ausgesetzt. Hiermit berührt Burgdörfer die eng mit national- und revisionspolitischen Zielen verknüpfte „Ostsiedlungsdebatte“, die nach Vorläufern im Kaiserreich in der Weimarer Republik mit besonderem Nachdruck ausgefochten wird und ihrer „Nutzanwendung“ harrt. Burgdörfer sieht darüber hinaus eine „qualitative Gefährdung des Volksbestandes“, eine „eugenisch“ höchst bedenkliche „Gegenauslese“ im inneren Gefüge des „Volkskörpers“, die aus der Geburtenbeschränkung in den „führenden Kreisen“, in den „kulturtragenden Bevölkerungsschichten“ resultiere.279 Hiermit schließt er sich den schon lange herrschenden und auf Francis Galton zurückgehenden Ansichten an, nach denen sich „auslesebedingt“ bei den „Erfolgreichen“ auch das bessere Erbgut häufe,280 bei den Randgrupppen aber das minderwertige und kranke. Einige immer wieder zur Sprache gebrachte Stammbäume „minderwertiger“ Familien, die, ausgehend von einem „erblich belasteten“ Paar oder Ehepartner, erblich bedingt Hunderte von Schwachsinnigen, von Bettlern, Verbrechern, Dirnen, Trinkern usw. hervorgebracht und immense öffentliche Kosten verursacht hätten, sollen diese Ansichten eindrucksvoll und zwingend belegen. Nicht selten spielen fragwürdige „eugenische“ Stammbaum- bzw. Familienstudien aus den USA zur Untermauerung dieser Sichtweisen eine erhebliche Rolle. So wird etwa die berühmt-berüchtigte Studie über die „Vererbung des Schwachsinns“ am Beispiel der Familie „Kallikak“ von Henry H. Goddard im deutschen Schrifttum intensiv rezipiert. Sie liegt bereits 1914 auch in deutscher Übersetzung vor. Der Hinweis auf die Abstammungsgeschichte von Familien, die auf bestimmten Gebieten (etwa der Kunst, der Wissenschaft) große Leistungen und bedeutende 278 Zur Bedeutung der demographischen Entwicklung für die „Soziallasten“, den Arbeitsmarkt usw. vgl. z.B.: Burgdörfer, Friedrich: Bevölkerungsentwicklung, Arbeitsmarkt und Soziallasten der Zukunft. In: Soziale Medizin, 4 (1931)6, Sp. 295 - 308. 279 Vgl.: Burgdörfer, Friedrich: Bevölkerungsentwicklung...a.a.O.(=Anm. 278), Sp. 300; relativ „zurückhaltend“ und bereits auch die Tedenz zur Geburtenzurückhaltung in Arbeiterkreisen und in anderen sozialen Schichten erkennend: Derselbe: Der Geburtenrückgang mit besonderer Berücksichtigung der verschiedenen Bevölkerungsschichten. In: Freie Wohlfahrtspflege, (1930), 438 - 452; derselbe: Bevölkerungszunahme und Geburtenbeschränkung in Deutschland. In: Zentralblatt für die gesamte Hygiene mit Einschluß der Bakteriologie und Immunitätslehre, 22(1930)11, 657 - 669, hier: 666 ff. 280 Vgl. auch mit Bezug auf das publizistische Wirken des Arztes Dr. Rainer Fetscher: Labisch, Alfons, Tennstedt, Florian: Der Weg...Teil 1...a.a.O.(=Anm. 265), 147 f.

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Vertreter hervorgebracht haben, sollen diese Aussagen untermauern. Methodische Fragen und der Einfluß der Lebensumstände werden unterschlagen oder nicht angemessen gewürdigt. Diese Auffassungen führen zu einem vernichtenden Urteil der „völkischen Rassenhygiene“ und auch der „Eugenik“ über die Fürsorge für sogenannte Gemütskranke, für Krüppel, für Alkoholiker, Schwachsinnige und „Asoziale“. Beide Richtungen tragen mit ihren Argumentationen zu innergesellschaftlichen Ausgrenzungen und Frontziehungen bei. Von einer „dumm humanen“ Sozialpolitik, von „törichter Humanität“, von einer „Minderwertigenfürsorge“ und „-aufzucht“ ist die Rede. Vornehmlich die Fürsorge erscheint als grundsätzlich falsch konstruiert, als geradezu widersinnig. Die Erwerbstätigkeit der Frau, die „künstliche Geburtenbeschränkung“ und Abtreibungen in den biologisch „höherwertigen“, in den besseren Kreisen werden kritisiert und mit den Methaphern eines allgemeinen Niedergangsszenariums, einer Dystopie der Degeneration, verbunden. Schwangerschaftsunterbrechungen aus „eugenischer“ Indikation hingegen werden teilweise durchaus befürwortet. Die „Tüchtigen“ müßten endlich erhalten, gestützt, vorwärtsgebracht werden. Von verschiedenen Autoren werden die Kosten bilanziert, die sich aus der Unterstützung „Minderwertiger“ ergeben. Vor dem Hintergrund solcher Gedankengänge findet die „negative Eugenik“ und der damit verbundene Sterilisierungsgedanke eine besondere Beachtung. Es werden aber auch Maßnahmen der „positiven Eugenik“ diskutiert.281 Zu den Verfechtern von positiv eugenischen Maßnahmen gehört auch Friedrich Burgdörfer. Als Vertreter einer qualitativen Bevölkerungspolitik mit deutlich „völkischem“ Einschlag befürwortet er die Unterstützung „wertvoller“ kinderreicher Familien, die „eugenische“ Ehe- und Sexualberatung, die Förderung der Siedlung usw. usf.,282 und er ist ein Kritiker der die Stellung der Familie erschütternden Notverordnungspolitik.283 Burgdörfers Untersuchungen beziehen sich auch auf die Messung des Bestandes und der Entwicklung des „Auslandsdeutschtums“.284 Er beklagt eine „ungeheure staatliche Zersplitterung des Deutschtums“, seine „biologische Erschlaffung“ auch im Ausland. Er sieht „gefährdete Außenpositionen“ des „Deutschtums“ inmitten „fruchtbarer Fremdvölker“. Durch Kolonisation erworbener „Volksboden“ sei in Gefahr, zumal sich wegen der ungesunden Bevölkerungsentwicklung im „Kernland“ kein „lebendiger Blutstrom“ mehr nach außen richte und der „Diaspora“ zugeführt werden könne. Die „ost-westliche Abstufung der Geburtenhäufigkeit“ führe zu schweren Gefährdungen an den östlichen Grenzen. Der „biopolitische Kampf“ um den „Volksboden“ entwickele sich zuungunsten des Deutschtums. Das „Volk ohne Raum“ habe sich durch Geburtenminderung auf die „zudiktierte Engräumigkeit“ eingerichtet. In der dauerhaften Aufnahme „volksfremder“ und „rassefremder 281 Vgl. auch: Reyer, Jürgen: Soziale Arbeit und Bevölkerungspolitik. In: neue praxis, 18(1988)5, 409 - 433. 282 Vgl. z.B.: Burgdörfer, Friedrich: Eheberatung, Sexualberatung und Krankenkasse vom bevölkerungspolitischen Standpunkt aus betrachtet. In: Soziale Medizin, (1930)2, Sp. 99 - 108; derselbe: Familie, Volk und Staat. In: Archiv für Sippenforschung und alle verwandten Gebiete,(1930), 125 - 132; derselbe: Die Schaffung der Ausgleichskassen - eine Maßnahme praktischer Familienpolitik. In: Fortschritte der Gesundheitsfürsorge, 7(1933), 261 - 268; derselbe: Die bevölkerungspolitische Lage und das Gebot der Stunde. In: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie einschließlich Rassen- und Gesellschaftshygiene, 23(1931), 166 - 221, bes. 191 ff.; vgl. zusammenfassend denselben: Der Geburtenrückgang und seine Bekämpfung. Berlin 1929, 171 ff. 283 Vgl.: Burgdörfer, Friedrich: Bevölkerungspolitische Auswirkungen der Notverordnung vom 5. Juni 1931. In: Der Beamte, (1931), 181 - 187. 284 Vgl. etwa: Burgdörfer, Friedrich: Entwicklung der Erdbevölkerung und des Deutschtums in der Welt. In: Zeitschrift für Geopolitik, 8(1931), 125 - 131; derselbe: Zur Biologie des Auslanddeutschtums. In: Ebenda, 10(1933), 609 - 617.

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Elemente“ sieht er eine Gefahr, insbesondere wenn es sich um einen Zuwachs von „rassenmäßig zweifelhafter Qualität“ handele. Auch die außen- bzw. militärpolitischen Gefahren des „Nebeneinanders“ stagnierender bzw. rückläufiger und „jugendkräftiger, fruchtbarer Völker“ werden thematisiert. Wie selbstverständlich antagonistische zwischenstaatliche Verhältnisse und gewaltsame Expansion unterstellend formuliert er: „Geburtenrückgang ist Resignation, ist Verzicht auf Weltgeltung, ist völkische Arterienverkalkung!“285 Mit solchen „Einsichten“ und seinem „völkischen Gesamtweltbild“ erlebt er die Machtübertragung und die Machtergreifung der Nationalsozialisten wie die Erlösung vom Alptraum des „Volksrückgangs“, des „rassischen Niedergangs“ und schließlich des „Volkstodes“. Adolf Hitler erscheint ihm in einem Beitrag im „Deutschen Ärzteblatt“ als der von ihm bereits vor Jahren ersehnte „starke Mann“. Alle, die von der Sorge um die Zukunft und Selbsterhaltung „unseres deutschen Volkes“ zutiefst gepackt seien, vertrauten darauf „..., daß der Führer des neuen Reiches das deutsche Volk auch in dieser seiner eigentlichen Lebensfrage zu einer klaren Entscheidung zwingen, ihm den Weg zum Leben weisen und bahnen wird.“286 Zweifellos kann Burgdörfer seine Hoffnung auf zahlreiche Äußerungen aus den Reihen der Nationalsozialisten stützen. Ein etwas genauerer Blick auf die gemäßigte „Weimarer Eugenik“ zeigt, wie weit diese von solchen und ähnlichen Ansätzen der im rechten politischen Spektrum siedelnden „völkischen Rassenhygiene“ entfernt ist. Er zeigt aber auch, in welch erschreckendem Maße die gehäufte Krisenerfahrung die Sprache der „Eugeniker“ radikalisiert hat und daß es zu einer Aufweichung von Prinzipien und zu einer Infragestellung demokratischer Individualrechte bereits gekommen ist. Es kann insofern nicht verwundern, daß in vornehmlich älteren Aufarbeitungen sicherlich notwendige Differenzierungen unterblieben sind und alle Ansätze unterschiedslos als Vorläufer der „arischen“ Rassentheorie und der Rassen- bzw. Volkspflegepolitik der Nationalsozialisten qualifiziert wurden. Da sich das Reich zu keiner „eugenischen“ Gesetzgebung „entschließen“ kann, muß sich der Blick in diesem Zusammenhang auch auf die Länder richten. Insbesondere auf dieser Ebene fällt die proeugenische Haltung bestimmter Kräfte in der SPD auf. Der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, die faszinierende Perspektive der Behebung sozialer Probleme durch die Anwendung des „wissenschaftlichen Fortschritts“, die Vorstellung, Mitschöpfer einer besseren Zukunft zu sein, begründen die Attraktivität der „Eugenik“ für die Sozialdemokratie, die ihre gesellschaftspolitischen Konzepte seit jeher als wissenschaftlich ausgewiesen hat. Wohlfahrtspflegerisch-lebensreformerische Kreise und die sozialistischen Ärzte zeigen sich offensichtlich besonders empfänglich. Eine traditionelle, tief verwurzelte Aversion und ein Abgrenzungsbedürfnis gegenüber dem „Lumpenproletariat“ haben vermutlich die Bereitschaft bei bestimmten sozialdemokratischen Kreisen verstärkt, Randgruppen als Sammelbecken „eugenischer Minderwertigkeit“ zu betrachten. Es besteht z.B. keine Scheu vor dem

285 Burgdörfer, Friedrich: Volk, Familie und Statistik. In: Allgemeines Statistisches Archiv, 17(1928), 349 - 369, hier: 358. 286 Burgdörfer, Friedrich: Die Lebenskrise des deutschen Volkes und ihre Überwindung. In: Deutsches Ärzteblatt, 62(1933), 27 - 31; den „Krisenpunkt der deutschen Bevölkerungsentwicklung“ sieht Burgdörfer in das Jahr 1936 fallen. Von da an werde die Besetzung der „generativen Bevölkerungsschicht“, die bisher stets zugenommen habe, erstmals rückläufig sein; vgl.: Burgdörfer, Friedrich: Die Dynamik der künftigen Bevölkerungsentwicklung im Deutschen Reich. In: Allgemeines Statistisches Archiv, 22(1932), 161 - 179, hier: 178. Natürlich steht auch das „Werk“ von Burgdörfer nicht allein; vgl. als ähnlich gelagerte Schrift: Engelsmann, Robert: Selbstmord des Volkes durch gewaltsame Geburtenverminderung. Eine Schicksalsfrage an das deutsche Volk. Dresden 1927.

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Thema Sterilisation. Sie wird für „sicherheitsverwahrte Gewohnheitsverbrecher“ gefordert, allerdings, und das ist entscheidend, unter Wahrung der Freiwilligkeit. Es wankt aber schließlich sogar dieser Grundsatz bei „klar definierten eugenischen Krankheitsmustern“. Gegenüber den „gemeingefährlich Irrsinnigen“, dem Eigensinn der „unverantwortlichen“ Randgruppen soll das Kriterium der Freiwilligkeit aufgehoben sein. Führende Exponenten der sozialistischen Frauenbewegung und der Ärzte, ein „medizinisch-feministisches Interessenbündnis“ aus Kreisen der SPD vertritt diesen Standpunkt. Gegenüber der notwendigerweise langjährigen Asylierungspolitik erscheint die Sterilisierung als die verhältnismäßigere, die preiswertere, die humanere Form der Prävention. Soll doch weder getötet, noch eingesperrt, noch die Eheschließung oder Sexualität genommen werden. Es soll „nur“ die Fortpflanzungsfähigkeit zerstört werden. In einer Zeit, in der weder die Heilung noch direkte Eingriffe in die Erbstruktur des Menschen möglich erscheinen, empfiehlt sich die Sterilisation auch diesen Kräften als effektiver und „humaner“ negativ-eugenischer Königsweg. Ehegesundheitszeugnisse, Eheberatung und der Schwangerschaftsabbruch sind weitere Themen, die auf der sozialdemokratischen Agenda stehen. Es sind vor allem die einschlägigen Strafrechts- bzw. Abtreibungsrechtsdiskussionen, die die entsprechenden Erörterungen aufleben lassen. Gedämpft werden die sozialdemokratischen Beiträge zur „Eugenik“ auf Reichsebene erst, als der Aufstieg der NSDAP die Gefahr aufscheinen läßt, daß im Zeichen des politischen Rechtsradikalismus alles das ausgemerzt werden soll, was dieser Partei nicht ins Programm paßt. Während eugenische Vorstöße auf Reichsebene bis zum Machtantritt Hitlers erfolglos bleiben, existieren auf Länderebene bestimmte Ansätze einer „pro-eugenischen“ Politik. In Preußen bleibt die SPD bis ins Jahr 1932 eine an gemäßigten „eugenischen“ Vorstellungen orientierte politische Kraft. Dieser bedeutende deutsche Staat favorisiert „...das Konzept der ärztlich geleiteten kommunalen ESBSn (Ehe- und Sexualberatungsstellen, E.R.), die ganz vorwiegend rassenhygienischen Zielvorstellungen dienen sollten.“287 Durch eine erbgesundheitliche Beratung soll das Ziel einer besseren „Fortpflanzungshygiene“ erreicht werden. Die den Gemeinden und Kreisen anempfohlenen Beratungsstellen können Heiratszeugnisse ausstellen. Dem Prinzip der Freiwilligkeit sind in Preußen größte Konzessionen gemacht. Freiwillig handeln die Gemeinden und Kreise bei der Einrichtung dieser Beratungsstellen. Freiwillig handelt auch der Einzelne, der diese Stellen aufsucht, um ein Heiratszeugnis zu erlangen, das dem Ehepartner nicht mitgeteilt werden muß. Gewisse Anreize sind allerdings vorgesehen. Die Einführung von Zwangsmomenten ist unter republikanischem Vorzeichen unerreichbar. Zahlreiche weitere amtliche und halbamtliche Aktivitäten konzentrieren sich seit dem Beginn der 1920er Jahre auf Strategien mit dem Ziel, unter Berücksichtigung der „menschlichen Vererbungslehre“ einen gesunden und „hochwertigen“ Nachwuchs im deutschen Volk zu fördern. Sächsische „Richtlinien für die Ehe- und Sexualberatung“ aus der zweiten Hälfte der 20er Jahre definieren „Erbleiden“, die zu „dauernder Eheuntauglichkeit“ und zu entsprechenden Beratungen führen sollen.288 Dieses Land

287 Vgl.: Reyer, Jürgen: Soziale Arbeit...a.a.O.(=Anm. 281), 413. „Rassenhygienisch“ ist hier im Sinne von „eugenisch“ zu verstehen. Zur „Weimarer Eugenik“ sei noch einmal auf das Buch von Michael Schwartz hingewiesen (vgl. Fußn. 268) sowie auf denselben: „Proletarier“ und „Lumpen“. Sozialistische Ursprünge eugenischen Denkens. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 42(1994), 537 - 570; Derselbe: Konfessionelle Milieus und Weimarer Eugenik. In: Historische Zeitschrift, Band 261(1995), 403 - 448. 288 Vgl.: Reyer, Jürgen: Soziale Arbeit...a.a.O.(=Anm.281), 415 f.; von Interesse mag sein, daß bereits im Jahre 1904 der vorübergehend der Sozialdemokratie angehörende Sozialhygieniker Alfred Grotjahn den durch „Erbübel

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baut zudem eine „Erbbiologische Kartei des Sächsischen Ministeriums der Justiz“ auf, um für die Justiz und Fürsorge entsprechende Daten zur Verfügung stellen zu können.289 Die katastrophische Zeitstimmung, die vornehmlich überall „sinkendes, verfallendes Leben, Dekadenz“, eine „fürchterliche Familienentartung“, „Gefahr in Verzug“, „absterbende Zweige“ an der „deutschen Eiche“ sieht,290 kann sich auf eine spezifische „Reichsgebrechlichkeitszählung“ aus dem Jahre 1925 stützen, deren Auswertung sich jedoch Jahre hinzieht.291 Vor dem Hintergrund einer solchen, offensichtlich weitverbreiteten Zeitstimmung und der großen „Zaghaftigkeit“ der in der Zeit der demokratischen Republik und während der Präsidialdiktatur diskutierten und getroffenen Maßnahmen, bleiben spektakuläre Vorstöße mit dem Ziel der Einführung einer ausufernden Zwangs-Eugenik nicht aus. Im Mai 1925 unterbreitet ein Arzt der sächsischen Staatsregierung eine Denkschrift und Leitsätze, die eine ausgreifende Praxis der Zwangssterilisierung empfehlen. Zu den ebenfalls und weiterhin chancenlosen Vorstößen auf biopolitischem Gebiet gehören erneut Vorschläge zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“, zur „Euthanasie“. Sie gehören ihrem Wesen nach nicht zur „Eugenik“. Diese will ja durch ihren auf den Zeugungsakt gerichteten Verhütungs- und Selektionswillen menschliches Leid und jede Selektion lebender Menschen möglichst verhindern. Zwischen freiwilliger Beratung und freiwilliger Sterilisation, Zwangssterilisation und der Tötung klaffen wahre Abgründe. Obwohl ohne Realisierungschance ist der Diskussionsaufwand nicht unerheblich und der Bezug zur Kosteneinsparung unüberlesbar. Zweifellos ist auch die Tatsache, daß ein hervorgehobener Repräsentant der Weimarer Rechtspflege zu den Auslösern der Diskussion um die „Euthanasie“ gehört, ein beunruhigendes Menetekel. 292 Dem Ziel einer „eugenischen“ Geburtenprävention soll auf andere Weise ein „Reichsbewahrungsgesetz“ dienen. Ein solches Gesetz wird über Jahre diskutiert und gefordert. Es soll nach verbreiteter Auffassung, aber ohne daß absolute Einigkeit besteht, „verwahrloste“ oder von „Verwahrlosung bedrohte“ Menschen, wenn dieser Zustand auf einer „krankhaften oder außergewöhnlichen Willens- oder Verstandesschwer Belasteten“ das Recht auf Fortpflanzung absprach; vgl.: Labisch, Alfons, Tennstedt, Florian: Der Weg...a.a.O.(=Anm. 265), 160. 289 Mit dieser Aufgabe befaßt ist der Arzt Dr. Rainer Fetscher, der relativ reflektiert argumentiert und schon früh die Gefahr des politischen Mißbrauchs der „Eugenik“ sieht. 1933 wird er von den NS-Machthabern aus allen Ämtern entlassen; vgl.: Fetscher, R.(ainer): Erbbiologie und Wohlfahrtspflege. In: Zeitschrift für das Heimatwesen, 33(1928)17, Sp. 514 - 532; vgl. auch denselben: Angewandte Erbbiologie. In: Archiv für Soziale Hygiene und Demographie, N.F. 2(1926/27), 128 - 130. 290 Vgl. zu den Sprachbildern: Hellmuth, D.: Eugenik im Dienste der Volksaufartung. In: Merseburger Blätter, (1929)4, 146 - 151. 291 Vgl. den insgesamt instruktiven Beitrag von: Waldenmaier, Paul: Die 'Minderwertigen' in der Volkswirtschaft. In: Freie Wohlfahrtspflege (1929)1/2, 20 - 39; Teil II ebenda, 62 - 78, hier: 29; daß die bei zahlreichen Autoren deutlich werdende Zeitstimmung auch mit diffusen Ängsten vor eigener Deklassierung und Bedrohung zu tun hat betont: Hammerschmidt, Peter: Die Wohlfahrtsverbände...a.a.O.(=Anm. 273), 43 f. 292 Eine solche „Euthanasie“ empfehlen: Binding, Karl Ludwig, Hoche, Alfred E.: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Leipzig 1920; Binding ist Reichsgerichtspräsident, Hoche Psychiatrie-Professor; als Primärquelle relativ umfassend zum Themenbereich „Euthanasie“: Wehrmann, F. A. B.: Euthanasie und Vernichtung unwerten Lebens. In: Archiv für Bevölkerungspolitik, Sexualethik und Familienkunde (1931), 101 - 113; im Kaiserreich wird die Euthanasie in der 1895 erschienenen Schrift von Jost mit dem Titel „Das Recht auf den Tod“ gefordert; vgl. ebenda, 101; vgl. zum Vorschlag der Zwangssterilisierung durch den Arzt Gustav Emil Böters: Marcuse, Julian: Die Unfruchtbarmachung Minderwertiger. In: Zeitschrift für Schulgesundheitspflege und soziale Hygiene, 38(1925)10, 441 - 445; vgl. darüber hinaus: Schütt, Ed.(uard): Die Sterilisierung Minderwertiger und Verbrecher. In: Zeitschrift für Medizinalbeamte, (1929)16, 360 - 364; hier wie anderswo werden auch entsprechende Änderungen des Strafgesetzbuches diskutiert.

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schwäche“ oder auf einer außergewöhnlichen „Stumpfheit des sittlichen Empfindens“ beruht, zwangsweise einer fürsorgerischen Bewahrung zuführen. Auf politische Initiativen hin entwickelt das Reichsministerium des Innern mit Datum vom 26. Januar 1928 sogar entsprechende Grundsätze. Der Vorstoß, gegenüber den als minderwertig deklarierten Randgruppen auf vermehrte Zwangsasylierung und Marginalisierung zu setzen, bleibt undurchführbar. Das Kostenargument versetzt dieser Strategie in der Weltwirtschaftskrise den Todesstoß.293 So bleibt schon an dieser Stelle für die „gemäßigte Eugenik“ festzuhalten: Die Ansätze zur „Fortpflanzungshygiene“ und sogar die weitergehenden zu Zwang und Asylierung ratenden Diskussionen atmen zwar den Zeitgeist und scheuen vor drastischen Sprachbildern wie z.B. dem „Völkertod“, der „Entartung von Seele und Körper“ nicht zurück, sie sind jedoch noch keine „Nutzanwendung“ der im „völkischen Reservoir“ der Republik verbreiteten rassenkundlichen Anschauungen vom „Arier“ bzw. von der „nordischen Rasse“ und ihrer Überlegenheit, von den Juden als „Gegenrasse“ und von diversen radikalen Rassenzüchtungsphantasien. Insbesondere der vom Land Preußen und vom Reich unterstützte und geförderte, im Jahre 1925 gegründete „Bund für Volksaufartung“ widersetzt sich solchen Denkweisen.294 Die mit den Prämissen der Republik, mit den Freiheits- und Menschenwürdeideen der demokratischen Ordnung unvereinbaren Strategien scheitern, obwohl man unter den zerrüttenden und desorientierenden Wirkungen der Weltwirtschaftskrise auch auf diesem Gebiet ein „Wanken“ und „Einknicken“ beobachten kann. Auch einige Entwicklungen auf dem Gebiet der Etablierung der „Eugenik“ im Wissenschaftsbereich sind noch kein unmittelbarer Abmarsch in die „völkische Rassenhygiene“. Im Bereich der Universitäten etabliert sich dieser Wissenschaftszweig zwar ab 1923, als der „völkische Rassenhygieniker“ Fritz Lenz in München ein Extraordinariat für „Rassenhygiene“ erhält, er bleibt jedoch zunächst relativ einflußlos. Im September 1927 wird in Berlin das „Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“ gegründet, dessen Direktor der Eugen Fischer wird.295 Zu den Arbeitsprinzipien dieses Instituts gehört die ausdrückliche Absetzung von der Linie der „politischen Eiferer und Dilettanten“ auf dem Gebiet der „Rassenhygiene“ und die wissenschaftliche Fundierung politisch-republikanischer Zielsetzungen. Die Haltbarkeit des mit den Prämissen der Republik kompatiblen „eugenischen“ Handlungsprogramms, ansatzweise aber auch schon das Betreten einer „schiefen Bahn“ in Richtung auf immer einengendere staatliche Eingriffe zeigt eine preußische Initiative aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise. Nunmehr gewinnt das auch international diskutierte und in den USA, in einem Kanton der Schweiz und befristet in Dänemark in geringem Umfang bereits angewandte Projekt einer gesetzlich geregelten „eugenischen Sterilisierung“ erneut an Schubkraft.296 Es kommt sogar zu einem von einer Kommission des „Preußischen Lan293 Vgl.: Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene...a.a.O.(=Anm. 260), 47; vgl. zu Details: Das Bewahrungsgesetz im System der Fürsorge. Zusammenfassender Bericht der Kommissionsverhandlungen im Deutschen Verein für Öffentliche und Private Fürsorge. Frankfurt a.M., o.J. (1924), sowie: Ruppert: Die Behandlung der Gemeinschädlichen im geltenden und zukünftigen Recht. In: Blätter für Wohlfahrtspflege, 10(1930)1, 2 - 15. 294 Vgl.: Labisch, Alfons, Tennstedt, Florian: Der Weg...Teil 1...a.a.O.(=Anm. 265), 162 ff. 295 Vgl.: Weingart, Peter, Kroll, Jürgen, Bayertz, Kurt: Rasse...a.a.O.(=Anm. 260), 239 ff. 296 Vgl.: Labisch, Alfons, Tennstedt, Florian: Der Weg...Teil 1...a.a.O.(=Anm. 265), 175; zum rechtfertigenden Hinweis auf die internationale Dimension vgl. z.B.: Zwei amerikanische Vorschläge für Gesetze über Sterilisierung zu eugenischen Zwecken. In: Volksaufartung, Erbkunde, Eheberatung, 5(1930), 132 - 135; Popenoe, Paul: Eugenics in the United States. In: Archiv für Soziale Hygiene und Demographie, N.F. 5(1930),281 - 286; England und die Frage der Sterilisation. In: Ebenda, 5 - 7. In den USA existieren damals in 30 Staaten Gesetze, die aus

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desgesundheitsrats“ vorgelegten Entwurf eines Sterilisierungsgesetzes, der das Datum vom 30. Juli 1932 trägt. In der Begründung heißt es unter anderem: Die rückläufige Bevölkerungsbewegung habe Zustände hervorgebracht, die das gesamte Volk in seinem „innersten Kern“ zu gefährden drohten. Die unheilvollste Erscheinung sei die nach Gruppen, Schichten und Familien völlig ungleichmäßige Beteiligung an der Geburtenabnahme. Gerade Familien, die als Träger schwerer körperlicher und vor allem geistiger Erbleiden unfähig seien, sich in die soziale Gemeinschaft einzugliedern, pflanzten sich „ungehemmt“ fort. Dabei steige die Zahl der „Geisteskranken, Schwachsinnigen, Fallsüchtigen, Psychopathen, erblich kriminellen und anderen Belasteten.“ Dies nehme den „gesunden arbeitstüchtigen Familien“ immer mehr unentbehrliche Mittel. Es sei alle Sorge darauf zu richten, daß diese bedrohliche Entwicklung nicht weitergehe.297 Eine Zwang und die Tötung oder auch nur Vernachlässigung „lebensunwerten Lebens“ wird jedoch weiter ausdrücklich abgelehnt. Diese und andere Vorgänge zeigen eine weite Verbreitung der Gedanken der „Eugenik“ und eine große Akzeptanz für das „gesellschaftsanitäre“ und kostensparende Projekt der Sterilisierung. Es handelt sich, wie bald erkennbar wird, nunmehr zweifellos um ein international verbreitetes und in Deutschland nunmehr auch politisch entgrenztes Vorhaben. Im politischen Raum und in der öffentlichen Meinung hat es zu dieser Zeit einen regelrechten Meinungsumschwung gegeben: „Die Nationalsozialisten gewiß, aber inzwischen auch die DNVP, hatten die Sterilisierung in ihr Programm aufgenommen. Maßgebende Vertreter des Zentrums befürworteten sie als sozialpolitisches Instrument. Die SPD schien nicht abzulehnen. Lediglich die ... Kommunisten sprachen ... gegen die Sterilisierung, insbesondere unter Zwang.“298 Wie an der Stellung des Zentrums deutlich wird, hat diese Partei in Preußen ihren wesentlich im Katholizismus wurzelnden Widerstand in der Sterilisierungsfrage aufgegeben. Bei erheblichem und in der Weltwirtschaftskrise wachsendem pro-eugenischen Binnen- und Außendruck und angesichts schwindender Mittel für die Asylierung im Rahmen der konfessionellen Anstaltspflege, sind Repräsentanten dieser Partei zu einer affirmativen Neubewertung der „Eugenik“ gekommen. Es dürfe, betont der Repräsentant des katholischen Flügels der „Eugenik“, Hermann Muckermann, wegen der Mängel der Asylierung immer notwendiger werden, durch operativen Eingriff die Stammbäume der „Minderwertigen“ gleichsam auszulöschen. Vor dem Hintergrund des durch die wachsende Fürsorgebedürftigkeit ausgelösten „Notstands des Volkes“ und bei entsprechenden Verfahrensweisen habe er keine „ethischen“ Einwendungen. Eheverbote auch bei niedrigen Vererbungswahrscheinlichkeiten von Krankheiten, Gesundheitszeugnisse, die Umschichtung von Mitteln aus dem Bereich der Heil- und Pflegeanstalten zugunsten der „Gesunden“, die vor drohender „Entartung“ geschützt werden müßten, für „Minderwertige“ eine „menschenwürdige Aufbewahrung bis zum Tode“ sind seine Vorstellungen zur Zukunft der Sozialpolitik. Die katholische Amtskirche verbleibt allerdings bei allen Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit auf strikt ablehnendem Kurs.299 „eugenischen Gründen“ Mischehen zwischen Weißen, Schwarzen, Indianern und Asiaten verbieten. Vorübergehend wird auch die Einwanderung nach „eugenischen“ Kriterien geregelt; vgl.: Wippermann, Wolfgang: Was ist Rassismus...a.a.O.(=Anm. 261), 26; vgl. als grundlegende Quelle aus der Vorkriegszeit: Hoffmann, Geza von: Die Rassenhygiene in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. München 1913. 297 Vgl.: Labisch, Alfons, Tennstedt, Florian: Der Weg...Teil 1...a.a.O.(=Anm.265), 176 ff. 298 Dieselben, ebenda, 179. 299 Der Repräsentant des „katholischen Flügels“ der Eugenik in der Weimarer Republik, Hermann Muckermann, der bis zur Mitte der 20er Jahre dem Jesuiten-Orden zugehört, entfaltet eine rastlose publizistische Aktivität und Vortragstätigkeit; vgl. zu seiner Biographie: Labisch, Alfons, Tennstedt, Florian: Der Weg...Teil 2...a.a.O.(=Anm.

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Auch im evangelischen Milieu ist es, getragen vor allem von gesundheitspolitisch engagierten Medizinern und sozialpolitisch motivierten Praktikern der Wohlfahrtspflege, zu einem pro-eugenischen „Dammbruch“ teilweise erheblicher Radikalität gekommen.300 Der führende Funktionär der „Inneren Mission“, der Arzt Hans Harmsen, bejaht die Sterilisierung. Er möchte eine entsprechende Strafrechtsreform auf den Weg gebracht sehen. „Asoziale Paare“ und „schwachsinnige Mädchen“ sieht er, mit der ihnen zugeschriebenen ungebändigten Sexualität und Fortpflanzung, als eine finanzielle Bedrohung finanzschwacher Gemeinden an. Neben die vor allem auch finanziell in Frage gestellte dauerhafte „Asylierung“ müsse der „künstlichen Unfruchtbarmachung“ von „Minderwertigen“ ein wachsender Stellenwert zukommen. Auch er wünscht sich die Umschichtung der knappen Finanzen von den ebenso teuren wie „minderwertigen“ und „aussichtslosen“ Klienten zugunsten der Stärkung der vorbeugenden Hilfen, der Selbsthilfe, der nachbarschaftlichen Hilfe und der Hilfe für die „tüchtigen kinderreichen Familien“, bzw. zugunsten der Menschen, die wieder zur vollen Leistungsfähigkeit kommen werden. Er zitiert Quellen, nach denen bereits damals viele tausend Frauen aus „sozialer Indikation“ heraus sterilisiert worden seien, bei Aussetzung der Strafverfolgung gegen die Mediziner durch die Staatsanwaltschaften.301 Es kann vor dem Hintergrund dieser gesellschaftspolitischen Diskussion nicht verwundern, daß auch von ihm entsprechende Änderungen des Strafrechts diskutiert werden.302 Trotz der zunehmenden Radikalität der Diskussion fällt es dem späteren Reichsgesundheitsführer, dem Arzt Leonardo Conti nicht schwer, aus nationalsozialistischer Sicht am 2. Juli 1932 die zentralen „Mängel“ der „Weimarer Eugenik“ zu benennen, den fehlenden staatlichen Zwang und den fehlenden Bezug zu „Rasse und Volkstum“, d.h. die Nichteinbeziehung der dubiosen Rassenkunde, hervorzuheben.303 „Eugenik“ und Rassismus stehen also keineswegs in einem direkten, einander ergänzenden Verhältnis, ein solches wird von den tragenden Kräften der untergehenden Republik weiterhin abgelehnt. In diesem weit zurückreichenden ideengeschichtlichen Kontext formuliert Adolf Hitler 1924 sein „Programm“ und seine Weltanschauung, zahllose Versatzstücke „völkischen“ Denkens aufgreifend, radikalisierend und popularisierend. Er formuliert damit das wahre Kontrastprogramm zur „gemäßigten Eugenik“. Zentral ist für ihn das Ziel der „Rassenreinheit“. Überzeugt ist er von der „Schädlichkeit der Rassenmischung“, der „Blutschande“ bzw. „Bastardisierung“. Gesunde Kinder dürften der Nation nicht vorenthalten werden, rassisch wertvolle kinderreiche Familien seien zu unterstützen. In diesem Zusammenhang wird von ihm eine rassenbiologisch begründete besonders infame und wahnhafte Juden265), 458 ff.; zu seinen Ansichten vgl. auch das Stichwort Eugenik in: Dünner, Julia (Hg.): Handwörterbuch der Wohlfahrtspflege. Zweite, völlig neubearbeitete Auflage. Berlin 1929, 210 - 213. 300 Der „Nachrichtendienst des Evangelischen Hauptwohlfahrtsamtes“ stellt seine Seiten für die „eugenische“ Diskussion zur Verfügung, weil die Probleme der „Eugenik“ in evangelischen Kreisen stark diskutiert, aber noch nicht abschließend abgeklärt seien; vgl. die Anmerkung der Schriftleitung zum Beitrag von: Harmsen, Hans: Wohlfahrtspflege und Eugenik. In: Nachrichtendienst des Evangelischen Hauptwohlfahrtsamtes (1931) 3/4, 26 31. 301 Vgl.: Harmsen, H.(ans): Bevölkerungspolitische Neuorientierung unserer Gesundheitsfürsorge. In: Gesundheitsfürsorge, 5(1931)1, 1 - 6; derselbe: Eugenetische Neuorientierung unserer Wohlfahrtspflege. Ebenda, 127 131 sowie: Die Unfruchtbarmachung Minderwertiger, ebenda, 171 - 175. 302 Vgl.: Harmsen, Hans: Die Unfruchtbarmachung...a.a.O.(=Anm. 301), 172 ff. 303 Vgl.: Labisch, Alfons, Tennstedt, Florian: Der Weg...Teil 1...a.a.O.(=Anm. 265),180; als interpretierende Wiedergabe der Sitzung vom 2. Juli 1932 vgl. auch: Senn, Marcel: Die Verrechtlichung der Volksgesundheit im Zeichen der Hygiene- und Rassenlehren. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 116(1999),407 - 435, bes. 415 ff.

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feindschaft propagiert. „Der Jude“ gilt in Hitlers Vorstellungen als universeller „Verderber“ und als „Parasit im Körper anderer Völker“. Er steht damit in der Tradition des RassenAntisemitismus, der sich gegen assimilierte und nicht assimilierte Juden richtet, durch den Weltkrieg ebenfalls eine Radikalisierung erfahren hat und nun durch den grassierenden, übersteigerten Biologismus geprägt wird. Alle von ihm abgelehnten Aspekte der Gesellschaftsentwicklung erscheinen ausschließlich oder doch überwiegend als Ergebnis einer parasitären jüdischen Unterwanderung oder Zersetzung. Auch Hitler interpretiert den „Abstieg“ aller großen Kulturen der Vergangenheit biologisch als Folge des Absterbens der „ursprünglich schöpferischen Rasse“ an „Blutvergiftung“.304 Der Arier gilt ihm als die zur Herrschaft berufene „wertvollste Rasse“. Dem Deutschen Reich, das als Staatsform alle Deutschen einschließen solle, wird eine rassenzüchterische Funktion zugeschrieben. Ein „völkischer Staat“ werde in erster Linie die Ehe aus dem Niveau einer dauernden „Rassenschande“ herauszuheben haben, um ihr die Weihe jener Institution zu geben, die berufen sei, Ebenbilder des Herrn zu zeugen und nicht „Mißgeburten zwischen Mensch und Affe.“305 Hitler fordert den Staatszwang zur Herbeiführung der „Zeugungsunfähigkeit“. Wer körperlich und geistig nicht „gesund und würdig“ sei, dürfe sein Leid nicht im Körper seines Kindes verewigen. Unter der Überschrift „Völkischer Staat und Rassenhygiene“ schwärmt er von dem Ausscheiden „unermeßlichen Unglücks“ und der Keime „unseres heutigen körperlichen und damit auch geistigen Verfalls“ durch eine „...nur sechshundertjährige Verhinderung der Zeugungsfähigkeit und Zeugungsmöglichkeit seitens körperlich Degenerierter und geistig Erkrankter...“306 Wenn er als erste Aufgabe des Staates „im Dienste und zum Wohle seines Volkstums“ die Erhaltung, Pflege und Entwicklung „der besten rassischen Elemente“ erkennt und insbesondere auf das „Heranzüchten kerngesunder Körper“ durch die Erziehungsarbeit des „völkischen Staates“ abhebt,307 so entspricht dies auch den 1929/30 publizierten Rassezuchtgedanken des NS-Aktivisten und späteren Reichsbauernführers Richard Walther Darré, der von Hitler 1930 den Auftrag erhält, die bäuerliche Welt mit seiner „Blut und Boden“-Mystik politisch und ideologisch für den Nationalsozialismus zu erobern.308 Der Blick auf andere Aktivitäten Hitlers, auf die Schriften des Chefredakteurs der Parteizeitung, des „Völkischen Beobachters“, Alfred Rosenberg,309 auf den Inhalt von Parteipublikationen,310 auf Vorstöße der NSDAP in den Landtagen und im Reichstag, auf das völkisch-rassistische Parteiprogramm vom 25. Februar 1920,311 auf professionsspezifische 304 Vgl.: Hitler, Adolf: Mein Kampf. XII. Auflage. München 1932, 316. 305 Vgl. denselben, ebenda, 444 f. 306 Derselbe, ebenda, 448. 307 Vgl. denselben, ebenda, 451 f. 308 Vgl. zu ihm und seinen Schriften: D'Onotrio, Andrea: Rassenzucht und Lebensraum: zwei Grundlagen im Blut- und Boden-Gedanken von Richard Walther Darré. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 49(2001)2, 141 - 157. 309 Vgl. vor allem: Rosenberg, Alfred: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. 105. - 106. Auflage. München 1937 (1930), 21 ff. 310 Vgl. z.B.: Rudolf: Nationalsozialismus und Rasse. München 1931. Der Verfasser bezieht sich insbesondere auf die folgende Schrift: Günther, Hans F.(riedrich) K.(arl): Rassekunde des deutschen Volkes. München 1923, die zum Beginn der 30er Jahre bereits in der 15. Auflage vorliegt. Günther ist einer der geistigen Hauptwegbereiter des NS-Rassismus und seit Mai 1932 auch Mitglied der NSDAP. 311 Vgl.: Feder, Gottfried: Das Programm der N.S.D.A.P. und seine weltanschaulichen Grundgedanken. 8. Aufl. 36. - 45. Tausend. München 1930; die „unabänderlichen“ 25 Programmpunkte daselbst, 8 f.; vgl. als ausführliche Analyse: Klepsch, Thomas: Nationalsozialistische Ideologie. Eine Beschreibung ihrer Struktur vor 1933. Münster 1990, 84 ff.

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Untergliederungen der Partei, vor allem auf die nationalsozialistischen Ärzte und auf andere Aktivitäten in der Weimarer Republik, dokumentiert für diese den Heroismus, die Jugendlichkeit, die Tat und den Kampf betonende Bewegung die ungeheure Bedeutung biologischer Gesellschafts- und Geschichtserklärungen, die Bedeutung des Antisemitismus und einer spezifischen „Rassenhygiene“, die die „nordische Rasse“ als Ziel- und Endpunkt der Auslese kennt. Im Parteiprogramm finden sich dementsprechend Forderungen nach einer „rassereinen“ Staatsbürgerschaft, einer Privilegierung der „deutschblütigen“ Staatsbürger gegenüber den „Fremden“, insbesondere gegenüber den Juden. Diese können dem Programm zufolge nicht Volksgenosse und Staatsbürger sein. Ihnen wird auch das Recht abgesprochen, über die Führung des Staates und die Gesetze des Staates zu bestimmen. Deshalb sollen öffentlicher Ämter nur von Staatsbürgern bekleidet werden können, eine Regelung, die Juden wiederum ausschließt.312 Wenn es nicht möglich sei, die Gesamtbevölkerung des Staates zu ernähren, so seien „...die Angehörigen fremder Nationen (NichtStaatsbürger) aus dem Reich auszuweisen.“ Die weitere Einwanderung „Nicht Deutscher“ sei zu verhindern, seit dem 2. August 1914 Eingewanderte seien zum Verlassen des Reiches zu zwingen. Diese Rücksichtslosigkeiten werden ergänzt um die Forderung nach einem „Groß-Deutschland“ und durch das Verlangen nach „Land und Boden (Kolonien)“ zur Ernährung des Volkes und Ansiedelung des „Bevölkerungsüberschusses“. Man verzichte, erläutert Gottfried Feder, auf keinen Deutschen im Sudetenland, in Elsaß-Lothringen, in Polen, in der „Völkerbundskolonie“ Österreich und in den Nachfolgestaaten des alten Österreich. Alle die „deutschen Blutes“ seien, egal ob sie derzeit unter dänischer, polnischer, tschechischer, italienischer oder französischer „Oberhoheit“ lebten, sollten in einem Deutschen Reich vereinigt sein. In der Weimarer Republik, auch noch unter den Bedingungen der Präsidialdiktatur, bricht sich die völkisch-biologistische Bewegung noch an Gegenkräften. Die „eugenisch“ motivierte Sterilisation auf freiwilliger Basis kommt nicht über einen Entwurf im vorparlamentarischen Raum hinaus. Überraschend artikuliert sich in der „linken“ Soziologie sogar ein später und zudem selbst nicht unproblematischer Widerspruch gegen eine zu unreflektiert verfahrende „Eugenik“. Der Soziologe Theodor Geiger etwa weist in seinen in der Phase der Machtergreifung erscheinenden Schriften schwerste Denk- und Konstruktionsfehler in den Lehren der „eugenischen Bewegung“ nach. Er qualifiziert die Annahme der „generativen Überwertigkeit der gehobenen Schichten“ als eine „Selbstverherrlichungsideologie der oben Geborenen“313 und verweist auf vielfältige Ideologisierungen, enge Grenzen der Aussagen und Annahmen und mangelnde wissenschaftliche Fundierungen. Er bemüht sich die Sozialpolitik „...grundsätzlich gegen Verdacht und Vorwurf der Erbschädlichkeit zu verteidigen.“314 Geiger erkennt die inhumanen Folgen einer Sozialpolitik, die ihr 312 Vgl. auch die Ausführungen dazu bei: Hitler, Adolf: Mein Kampf...a.a.O.(=Anm. 304), 488 ff. Schon in der Weimarer Republik existieren nationalsozialistische Vorarbeiten und Pläne für eine gegen die Juden gerichtete Gesetzgebung. Auch in Kreisen der „konservativen Revolution“ werden ähnliche Vorarbeiten unternommen; vgl.: Adam, Uwe Dietrich: Judenpolitik im Dritten Reich. Königstein/Ts., Düsseldorf 1979, 28 ff. 313 Vgl.: Geiger, Theodor: Natürliche Auslese, soziale Schichtung und das Problem der Generationen. In: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie, 12(1932/33),159 - 183, hier: 173; sehr kritisch auch: Derselbe: Eugenik. Soziologische Betrachtungen. In: Soziale Praxis, 42(1933)2, Sp. 35 - 43; Teil II: Ebenda, Heft 3, Sp. 65 - 70; zum Widerstand gegen die „Rassenhygiene“ in der Spätphase der Weimarer Republik vgl. auch: Weindling, Paul: Health, race and German politics between national unification and Nazism, 1870 - 1945. New York, New Rochelle, Melbourne, Sydney 1989, 480 ff. 314 Geiger, Theodor: Die Fürsorge im Licht der Volksbiologie. In: Freie Wohlfahrtspflege, 8(1933/34), 416 - 430, hier: 416.

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Werk nicht im Interesse des „Schützlings“, sondern der „Gesamtheit“ ausführt. Er wendet sich gegen die Überbetonung allein der „negativen Eugenik“, kritisiert das Beiseiteschieben sozialpolitischer, teilweise sogar sozialhygienischer Forderungen und Maßnahmen. Die eine praktische Anwendung erstrebende „Eugenik“ müsse, „bei Strafe der Abirrung ins Groteske“ eine Relativierung ihrer Thesen dulden.315 Trotz aller Kritik paßt er sich in seiner Begrifflichkeit und seinen Strategieempfehlungen der „Eugenik“ an. Er befürwortet den staatlichen Zwang, ohne die rassenzüchterischen und antisemitischen Gedankengänge zu übernehmen.316 Als ehemaliger Leiter der Berliner Arbeiterhochschule, als bekanntes SPD-, später möglicherweise sogar KPD-Mitglied, wird er jedoch 1933 als Hochschullehrer in Braunschweig entlassen und emigriert nach Dänemark.317

3.3.2 „Werksgemeinschaft“ und betriebliches „Führertum“ Sucht man nach einem weiteren ideologischen, personellen und institutionellen „Feld“, das, verglichen mit der völkisch-rassistischen Bewegung, ein vergleichbares Ausmaß an Verknüpfung mit der NS-Sozialpolitik aufweist, so stößt man auf die im weitesten Sinne ständisch orientierte Betriebs- bzw. Werksgemeinschaftsbewegung der Weimarer Republik318 und die damit verbundenen Institutionen. Auf älteren geistesgeschichtlichen und institutionellen Grundlagen basierend, ist sie vergleichsweise jungen Datums. Sie entfaltet sich, nach dem Zerfall der Zentralarbeitsgemeinschaft, erst ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zu bemerkenswertem Umfang. Während sich die völkisch-rassistischen Ideologiemuster zur Legitimation und inhuman-barbarischen Ausformung staatlicher Geld-, Sach- und Dienstleistungen eignen und auch „das Verhältnis der deutschen Sozialordnung zu fremdem Volkstum“319 prägen werden, beinhaltet und begründet die „Lehre von der Werksgemeinschaft“ häufig den vollständigen Bruch mit den Grundprinzipien der „demokratischen Sozialpolitik“ der Republik. Sie negiert die Anerkennungs-, Beteiligungs- und Gleichberechtigungsversprechen gegenüber der Arbeiterbewegung, die im Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommen vom 15. November 1918, im programmatischen „Aufruf des Rates der Volks315 Vgl.: Geiger, Theodor: Soziologische Kritik der eugenischen Bewegung. Berlin 1933, 7; einen Ausgleich der Interessen des Einzelnen und der Gesamtheit verlangt: Kautsky, Karl: Eheberatung. In: Arbeiterwohlfahrt, 2(1927)4, 100 - 114, hier: 114. 316 So ist er im Rahmen des sich radikalisierenden Schrifttums als Befürworter einer soziologisch aufgeklärten „Erbpflege“ zu lesen; vgl. insbesondere die im Winter 1932/33 abgeschlossenen Schrift: Geiger, Theodor: Erbpflege. Grundlagen, Planung, Grenzen. Stuttgart 1934; vgl. auch: Derselbe: Die Fürsorge...a.a.O.(=Anm. 314). 317 Vgl. den biographischen Eintrag bei: Strauss, Herbert A., Röder, Werner (Ed.): International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933 - 1945. Volume II. Part 1: A - K. München, New York, London, Paris 1983, 363; wohl nicht zufällig hat Geiger die Notwendigkeit der Machtferne, der fanatischen Redlichkeit und intellektuellen Sauberkeit einer Soziologie als „Oppositionswissenschaft“ nach diesen und anderen Erfahrungen später betont; vgl.: König, René: Theodor Geiger (1891 - 1952). In: Acta Sociologica, (1955)1, 3 - 9. 318 Dabei wird der Begriff „Werksgemeinschaft“ unvergleichlich viel häufiger benutzt als der Begriff „Betriebsgemeinschaft“. Von Betriebsgemeinschaft spricht z.B. der durch die „Aktennotiz-Affäre“ bekannt gewordene Geschäftsführer der „Vereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände“ Dr. Meissinger; vgl.: Erdmann, Lothar: Gewerkschaften, Werksgemeinschaften und industrielle Demokratie. In: Die Arbeit, (1925), 131 - 142, hier: 133. Der Begriff findet sich auch bei: Albrecht, Gerhard: Arbeitsgemeinschaft, Betriebsgemeinschaft, Werksgemeinschaft. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, (1928)1, 530 - 562; hier wird hinfort der geläufigere Begriff der „Werksgemeinschaft“ benutzt. 319 So der Titel einer Untersuchung aus dem „Arbeitswissenschaftlichen Institut der Deutschen Arbeitsfront“; vgl.: Das Verhältnis der deutschen Sozialordnung zu fremdem Volkstum. In: Arbeitswissenschaftliches Institut der Deutschen Arbeitsfront (Hg.): Wirtschafts- und Sozial-Berichte 1943, Heft 7/8. Berlin 1943, 135 - 153.

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beauftragten an das deutsche Volk“ vom 12. November 1918, in der vorkonstitutionellen Rechtsetzung, in der Verfassung der Republik und in der daraus fließenden Gesetzgebung niedergelegt worden sind. Der Gedanke der „Werksgemeinschaft“ ist damit gleichzeitig ein Bruch mit der sozialliberalen, der „bürgerlichen Sozialreform“ und mit den reformistischen Anschauungen und der Praxis der drei großen Gewerkschaftsrichtungen.320 Die Werksgemeinschaftsbewegung wendet sich gegen die „herrschende Meinung“ in der Lehre und in der Praxis der Sozial- und Arbeiterpolitik der Vorkriegszeit „..., daß der Kampf der Gewerkschaften gegen die Unternehmer und die Verbände der Arbeitgeber unerläßlich zur Erreichung einer sozialen und wirtschaftlichen Hebung der Arbeiterschaft, ja zur Behauptung gegen kapitalistische Unterdrückung und Entrechtung sei.“321 Die Auffassung, daß die sozialpolitisch regulierte Gewerkschafts- und Verbandstätigkeit einschließlich von Streik und Aussperrung eine notwendige Voraussetzung der Hebung und des Schutzes der abhängig Beschäftigten seien, wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits von dem Hochschullehrer Richard Ehrenberg widersprochen. Dieser „...viel verkannte, viel bekämpfte und einsame Vorkämpfer der Gemeinschaftsidee im industriellen und ländlichen Arbeitsverhältnis...“322 rückt bereits den Betrieb bzw. die Unternehmung in den Mittelpunkt seiner Betrachtung. Unternehmer wie Lohnarbeiter seien „Organe der Unternehmung“ und hätten deshalb ein gemeinsames Interesse an dessen Wohlergehen. Dieses gemeinsame Interesse sei viel wichtiger, als die zwischen ihnen bestehenden Interessengegensätze.323 Im Jahre 1909 bekennt Ehrenberg, die gegenwärtig herrschenden Anschauungen vom Wesen der „neuzeitlichen Unternehmung“ und von der Stellung der Handarbeiter in ihr, enthielten „folgenschwere Irrtümer“ und bedürften deshalb gründlicher Umgestaltung. Es werde von den herrschenden Anschauungen immer aufs schärfste der Gegensatz zwischen Unternehmern und Handarbeitern betont, sie behandelten das Arbeitsverhältnis „...vor allem als Vertrag, als Kampf oder auch als Herrschafts-Verhältnis.“324 Für Ehrenberg sind Tarifgemeinschaften so etwas wie Einrichtungen des „bewaffneten Waffenstillstandes“, der nicht Harmonie erstrebe, sondern Gleichgewicht.325 Bereits im Kaiserreich und erst recht in der Weimarer Republik werden solche Konzeptionen gegen die „Streik-“ oder „Kampfgewerkschaften“ gerichtet und sie entsprechen in vielen Punkten dem Ideenkreis, der in und im Umkreis der wirtschaftsfriedlichen, der „gelben“ Werkvereine gepflegt wird.326 Während der Weimarer Republik wird der wirtschaftsfriedliche Gedanke der „Werksgemeinschaft“ durch spezielle Institutionen gefördert. Zu ihnen zählt die unter führender Beteiligung von Karl Dunkmann im November 1926 gegründete „Gesellschaft für deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik.“ Karl Dunkmann, der 320 Dementsprechend bekundet die Schriftleitung des „Zentralorgans“ dieser sozialpolitischen Richtung, der „Sozialen Praxis“, ihren ablehnenden Standpunkt, als sie im Februar 1928 einen Beitrag eines Verfechters der Werksgemeinschaftsidee zur Förderung der Aussprache über diesen Gegenstand abdruckt; vgl. die Vorbemerkung zu: Vorwerck, (Karl): Werksgemeinschaft. In: Soziale Praxis, 37(1928)7, Sp. 145 - 151. 321 Albrecht, G.(erhard): Werksgemeinschaft. In: Elster, Ludwig, Weber, Adolf (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissensschaften. Vierte, gänzlich umgearbeitete Auflage. Ergänzungsband. Jena 1929, 945 - 960, hier: 946. 322 Vgl. zu dieser Charakterisierung: Eickstedt, Claus von: Wahre Arbeitsgemeinschaft auf dem Lande. Langensalza 1925, 12. Der Verlagsort Langensalza steht für den Verlag Hermann Beyer & Söhne (Vorm. Beyer & Mann), der sich durch zahlreiche gegen die Sozialpolitik der Republik gerichtete Schriften hervortut. 323 Vgl.: Albrecht, G.(erhard): Werksgemeinschaft...a.a.O.(=Anm. 321), 946. 324 Vgl.: Ehrenberg, Richard: Das Arbeitsverhältnis als Arbeitsgemeinschaft. In: Thünen-Archiv (1909)2, 177 202, hier: 176. 325 Vgl.: Ehrenberg, Richard: Klassenkampf und Sozialfrieden. Jena 1922, 19. 326 Vgl. z.B. die Hinweise bei: Moje, Arend: Die Werksgemeinschaft in Deutschland. Quakenbrück 1929, 5 f.

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Ende November 1932 verstirbt, arbeitet zunächst als Pastor und Religionswissenschaftler. Er widmet sich ab dem Ende des Ersten Weltkrieges soziologischen Fragestellungen. 1924 gründet er ein „Institut für angewandte Soziologie“ und wird Hochschullehrer an der Technischen Hochschule Berlin. Die „Gesellschaft für deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik“ besitzt eine Bürogemeinschaft mit dem soziologischen Institut und profitiert von ehrenamtlicher Unterstützung durch dieses Institut. In der „Gesellschaft für deutsche Wirtschaftsund Sozialpolitik“ sammeln sich mit Gerhard Albrecht, Willy Müller, August Heinrichsbauer, Walther Funk, Karl Vorwerck und Eberhard Koehler führende Vertreter wirtschaftsfriedlicher und werksgemeinschaftlicher Konzeptionen, die teilweise unter dem NS-Regime in wichtige Schlüsselpositionen einrücken sollen.327 Die Gründung der Gesellschaft ist eine Reaktion auf die in Unternehmerkreisen höchst umstrittene Rede Paul Silverbergs, in der dieser meint, das „deutsche Unternehmertum“ stehe restlos auf „staatsbejahendem Standpunkt“ und in der er bekennt, es könne nicht ohne die organisierte Arbeiterschaft regiert werden.328 Diese Gesellschaft, die später zunehmend in den Sog der NSDAP gerät, möchte ihren Aussagen zufolge als Sozialreformorganisation aus „Führern des deutschen Wirtschaftslebens und aus Führern der deutschen Wirtschaftswissenschaften“ an Stelle der Lehre vom Interessengegensatz und -konflikt den Gedanken der „Interessensolidarität“ fördern. Sie versteht sich, folgt man einer frühen und sehr „handzahmen“ Eigendarstellung, als dringend erforderliche Ergänzung zu den Organisationen der Arbeitgeber, der Gewerkschaften, zur staatlichen Sozialpolitik, zu dem „Verein für Sozialpolitik“ und zur „Gesellschaft für Soziale Reform“.329 Bereits 1931 meint Dunkmann jedoch, die Mission der „Gesellschaft für Soziale Reform“ sei erfüllt.330 Kurz darauf gibt die „Gesellschaft für deutsche Wirtschaftsund Sozialpolitik“ in ihren Publikationsorganen nationalsozialistischen Auffassungen Raum, diskutiert die staats-, wirtschafts- und sozialpolitische Entwicklung im faschistischen Italien und malt ein düsteres Gegenbild der Zustände in Rußland. Nach der Wahl vom 31. Juli 1932 gibt es kein Halten mehr. Das Programm der NSDAP wird geprüft und von berufener Seite kommentiert. Unter den Parteien, denen die Zukunft gehöre, stehe die NSDAP in allererster Linie. Man dürfe „...auf Mitarbeit maßgebender Führer der Partei ebenso rechnen wie auf Mitarbeit nahestehender, wohlwollend prüfender Wirtschaftswissenschaftler.“331 Bei dieser Aversion gegen Interessenkonflikte und gegen die Konfliktparteien bzw. „Klassenkampforganisationen“ verwundert es nicht, daß von dem wissenschaftlichen Mitarbeiter der „Gesellschaft für deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik“, Dr. Karl Vorwerck, die Zentralarbeitsgemeinschaft von Ende 1918 „folgerichtig“ als „Verrat an den Wirtschaftsfriedlichen“ qualifiziert wird.332 Mit den „Kampfgewerkschaften“, d.h. mit den drei 327 Vgl.: Trischler, Helmuth: Führerideal und die Formierung faschistischer Bewegungen. In: Historische Zeitschrift, 251(1990), 45 - 88; zu Funks „Sozialstaatskritik“ z.B.: Funk, Walther: Deutschlands wirtschaftliche und soziale Erneuerung. In: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik, 3(1929)9, 81 84. 328 Vgl.: Schuster, Helmuth: Industrie und Sozialwissenschaften. Opladen 1987, 142. 329 Vgl.: Dunkmann, Karl: Die Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialpolitik. In: Soziale Praxis, 35(1926)51, Sp. 1297 - 1300; kritisch dazu: Bienfeldt: Die Interessensolidarität oder die neue Werksgemeinschaft. In: Soziale Praxis, 36(1927)3, Sp. 54 - 56. 330 Vgl.: Dunkmann, K.(arl): Die Gesellschaft für soziale Reform. In: Neue Wirtschaft, 5(1931)12, 6 - 7. 331 An unsere Leser! In: Neue Wirtschaft, 6(1932)16, 1. 332 Vgl.: Vorwerck, Karl: Die wirtschaftsfriedliche Arbeitnehmerbewegung Deutschlands in ihrem Werden und in ihrem Kampf um Anerkennung. Jena 1926, 63.

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anerkannten großen Gewerkschaftsrichtungen, wird der „Klassenkampf“, werden Streik und Aussperrung, das „Klassenkampfdenken“ und der „Marxismus“ abgelehnt. Es gelte gegen alles anzukämpfen, was der Belebung des Gefühls der Gemeinschaft entgegen stehe, „...nicht zum mindesten gegen eine Zersetzung und Vergiftung der Volksseele wie sie heute Presse, Literatur, Kunst usw. betreiben.“333 Auch die Arbeitgeberverbände werden von den Vertretern der Werksgemeinschaftsbewegung als „Klassenkampforganisationen“ qualifiziert und zur Disposition gestellt.334 Mit der Ablehnung der „Kampfgewerkschaften“, deren „Monopolstellung“ und vielfältige Berücksichtigung im Arbeits- und Sozialrecht gegeißelt wird,335 verfällt auch der an die Existenz und das Handeln der Verbände gebundene überbetriebliche Tarifvertrag, das gesamte in der Weimarer Republik entstandene korporatistische Verhandlungs- und Konfliktschlichtungssystem, die Berücksichtigung der „wirtschaftlichen Vereinigungen“ in Selbstverwaltungsorganen, Schlichtungs- und Rechtsprechungsinstanzen der Ablehnung. Radikalen und pauschalen Ausdruck findet diese Ablehnung bei dem damaligen Inhaber der Ernst-Abbe-Professur in Jena, Gerhard Albrecht: „Durch die ne ue So z ia lpo l itik, deren früherer Grundcharakter als Ausgleichspolitik aufgegeben ist, ist der Interessenund Klassengegensatz überall dort gesetzlich sanktioniert worden, wo der Staat sozialpolitisch eingegriffen, wo er soziale Einrichtungen geschaffen hat. Die ganze neue Sozialpolitik ist durch den Interessen-, den Klassen-, den Machtkampf beherrscht. Die Klassenlehre hat öffentliche Sanktion erhalten. Ein ganz neues Rechtsgebiet, das Arbeitsrecht, das ganz zutreffend als gewerkschaftliches Arbeitsrecht bezeichnet wurde, ist auf dem Gedanken des unheilbaren Klassengegensatzes aufgebaut.“336 Ausdrücklich gelten die drei „Monopolgewerkschaften“ im Rahmen dieser Diskussion nicht als berufsständische Verbände, sondern als „Zerstörer des Volkskörpers“. Den Freien Gewerkschaften wird mitunter vorgehalten, in ihrer Führung hätten sich „Elemente orientalischer Herkunft“, fremde Kräfte befunden und diese hätten sie mit dem „Gift des Klassenhasses“ und des „Internationalismus“ infiziert.337 Die Weimarer Sozialpolitik habe den „Riß“ zwischen Arbeit und Kapital ständig offen gehalten, immer von neuem vertieft und zu „...einem nicht bloß wirtschaftlichen, sondern auch politischen und sozialen Gegensatz erweitert, der unser gesamtes Volksleben unheilvoll vergiftet und unsere nationale Stoßkraft, auf die heute alles ankommt, lahm legt.“338 Der Klassengegensatz sei eine „künstliche Erfindung“. Die „soziale Frage“ sei keine Magenfrage sondern eine Frage der Umwandlung eines jeden Menschen von einem egoistischen Menschen in ein dienendes Glied des „nationalen Volkskörpers“, bekennt ein Spre-

333 Vorwerck, (Karl): Werksgemeinschaft...a.a.O.(=Anm. 320), Sp. 149. 334 Vgl.: Spahn, Martin: Der Gedanke der Arbeitsgemeinschaft in der deutschen Wirtschaft und Politik. Langensalza 1927, 5. 335 Vgl. zur „Monopolstellung“ das im Auftrag des wissenschaftlichen Ausschusses der „Gesellschaft für deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik“ erstellte Gutachten: Die Monopolstellung der Gewerkschaften. Gutachten von Prof. Dr. Fr.(iedrich) Lent, Erlangen. Das Betriebsrätesystem als Grundlage zur Schaffung einer Interessensolidarität zwischen Unternehmer und Arbeiter im Betriebe. Gutachten von Prof. Dr. R.(obert) Wilbrandt, Tübingen. Berlin o.J. (1928). 336 Albrecht, G.(erhard): Deutschlands soziale Krise. In: Werk und Beruf, 3(1931)8, 225 - 231, hier: 229 f. 337 Vgl. z.B.: Czygan: Berufsständischer Aufbau und berufsständische Arbeit in der Landwirtschaft am Beispiel des Pommerschen Landbundes. In: Werk und Beruf, 3(1931)5, 129 - 137, hier: 130. 338 Rein: Zur Kritik der Idee der Werksgemeinschaft. In: Nationalwirtschaft, 2(1928/29), 235 - 238, hier: 236; ähnliche Gedanken bei: Peters, Werner: Neue Wirtschaftsformen. Von der Werksgemeinschaft zur Berufsgemeinschaft. In: Deutschlands Erneuerung, 12(1928),14 - 16.

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cher der „vaterländischen Berufsvereine“339 ganz im Sinne der „Werksgemeinschaftler“. Daß die „soziale Frage“ eine ethische, eine sittliche und keine materielle Frage sei, werde auch daran deutlich, daß Deutschland, das über fünf Milliarden Mark jährlich zwecks „sozialer Befriedung“ ausgebe, ein „klassenkämpferisches Musterland“ wirtschaftlicher und sozialer Zerissenheit sei. Der Schwerpunkt der Ausgestaltung der Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen soll wieder in den Einzelbetrieb verlegt werden. Als Mittel gegen die „Ueberfremdung der Betriebsgemeinschaftsformen durch Tarifvertrag und Gewerkschaft“ wird die „Betriebsvereinbarung“ favorisiert. Der Tarifvertrag wird als „leistungsuntergrabend“, als nicht auf die individuelle Situation des Werkes zugeschnitten abgelehnt.340 Die rein betriebliche Sozialpolitik, die „Betriebswohlfahrtspflege“ mit dem Ziel der Befriedung der Betriebe, der Herstellung des „Wirtschaftsfriedens“ findet hohe Wertschätzung. Die Ablehnung und „Verächtlichmachung“ dieser Bestrebungen der Unternehmer durch die Vertreter der Arbeiterschaft sei im Grunde nichts anderes „...als prinzipielle Ablehnung der geltenden Wirtschaftsordnung, sei es, daß man an ihrer Stelle die sozialistische erstrebt, sei es, daß man sie im Sinne wirtschaftsdemokratischer Forderungen ... umgestalten will.“341 Im Mittelpunkt der in verschiedener Fassung vertretenen „Werkgemeinschaftsideen“ steht unübersehbar der „Gemeinschaftsbegriff“ und damit häufig auch der Hinweis auf das Werk von Ferdinand Tönnies (1855 - 1936). Er, der ausdrücklich der Auffassung ist, daß die „heutige Gesellschaft“ in den Kämpfen der Interessen und Parteien den Motor ihrer Entwicklung hat und der sich zur sozialdemokratischen Arbeiterbewegung bekennt342 und als Ziel der Entwicklung kein rückwärts gewandtes Projekt „ursprünglicher Gemeinschaft“, sondern den Sozialismus sieht, kann gerade auch auf diesem Gebiet eine Instrumentalisierung seines Namens und wissenschaftlichen Werkes beobachten, ohne sie verhindern zu können. Der Auffassung von Ferdinand Tönnies, daß eine dauerhafte „Betriebsgemeinschaft“ aus strukturellen Gründen unmöglich sei, nicht folgend, bemühen sich die Vertreter des Werksgemeinschaftsgedankens, dem betriebsbezogenen Gemeinschaftsbegriff Konturen zu geben, um so eine Strategie zum „Betriebsfrieden“ begründen zu können.343 Dabei wird eine Abgrenzung zu den Arbeitsgemeinschaftsformen vorgenommen, die auf der Basis der Verbände von Arbeit und Kapital, der Parität und der gleichberechtigten Mitwirkung im Kriege und danach, gipfelnd in der Zentralarbeitsgemeinschaft der Revolutionszeit „versucht“ wurden. Diese seien allesamt im Zuge der Revolution gescheitert, als der Klassenkampf endgültig „...über die Idee der sozialen Gemeinschaftsarbeit gesiegt“ habe.344 Dementsprechend soll die „Werksgemeinschaft“ auch ganz anders ansetzen. Sie soll in „lebendiger Berührung“ von Arbeitgeber und Arbeitnehmer gedeihen. Wirtschaftliche Ge339 Vgl.: Gustav Ruhlands Leitsätze für vaterländische Berufsvereine. In: Werk und Beruf, 2(1930), 183 - 186, hier: 186. 340 Vgl.: Winschuh, Josef: Die psychologischen Grundlagen der Werksarbeitsgemeinschaft. In: Potthoff, H.(einz) (Hg.): Die sozialen Probleme des Betriebes. Berlin 1925, 254 - 279, hier: 262. 341 Albrecht, G.(erhard): Werksgemeinschaft...a.a.O.(=Anm. 321), 948. 342 Vgl. dazu: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Werksgemeinschaft. In: Soziale Praxis, 37(1928)7, Sp. 151 - 154, bes. Sp. 151; zu Tönnies und seinem Werk: Bernsdorf, W.(ilhelm): Tönnies, Ferdinand. In: Derselbe (Hg.): Internationales Soziologenlexikon. Stuttgart 1959, 569 - 574. 343 Mit dem „Friedensbegriff“ titeln auch einige einschlägige Publikationen; vgl. z.B.: Voigt, Andreas: Das wirtschaftsfriedliche Manifest. Stuttgart und Berlin 1921. Diese der wirtschaftsfriedlichen Studentengruppe an der Universität Frankfurt a.M. gewidmete Publikation möchte sich als Gegenschrift zum „Kommunistischen Manifest“ von 1848 verstehen.Vgl. weiter: Ehrenberg, Richard: Klassenkampf und Sozialfrieden...a.a.O.(=Anm. 325); Albrecht, Gerhard: Vom Klassenkampf zum sozialen Frieden. Jena 1932. 344 Albrecht, Gerhard: Vom Klassenkampf...a.a.O.(=Anm. 343), 49.

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meinschaft könne nur von Mensch zu Mensch, günstigstenfalls vom Betrieb aus geschaffen werden. Der „neue Weg“ zur Lösung der „sozialen Frage“ heiße Verbindung, statt Auseinanderstreben, Verständigung statt Kampf. Die Bahnung der „Werksgemeinschaft“ erfordere „Besinnung“. Diese gehe von der Ahnung aus „..., daß die Verewigung der sozialen Spannung, die Verewigung des Kampfes zwischen Kapital und Arbeit, des Klassenkampfes zum Untergange führt.“345 Der Werksgemeinschaftsgedanke gehe „...von dem Ideal einer friedlichen Verständigung zwischen Unternehmer und Arbeiter aus“ betonen Karl Vorwerck und Karl Dunkmann.346 Die „Werksgemeinschaft“ müsse zunächst als Idee verstanden werden. Die „Werksgemeinschaft“ sei „...der Zustand einer auf gegenseitigem Vertrauen, sowie auf gegenseitiger Achtung und Anerkennung beruhenden Zusammenarbeit in einem Betriebe.“347 Aus der Werksgemeinschaftsidee werden zwei Aufgaben abgeleitet. Erstens, die Beseitigung der „üblen Verkehrsformen der Werksbeamten“ und zweitens, die Sorge für die Gerechtigkeit der Entlohung nach dem Leistungsprinzip. „Werksgemeinschaft“ sei aber nicht nur Arbeits- sondern auch Schicksalsgemeinschaft. Ein „neuzeitlicher Patriarchalismus“, der sich allmählich ausbilden könne, sei möglich. Der Arbeiter werde als Persönlichkeit anerkannt, er erscheine als Mitarbeiter. Man betrachte und behandle ihn nicht als Angehörigen einer Klasse, sondern als Glied eines Berufsstandes.348 Die Werksgemeinschaftsidee stehe im Gegensatz zum Individualismus, „...weil sie von der Erkenntnis des Aufeinanderangewiesenseins, der gegenseitigen Abhängigkeit und der Gliedhaftigkeit ausgeht.“349 Mit diesen Überlegungen steht die Werksgemeinschaftsidee im wesentlichen auf dem Boden der kapitalistischen Moderne. Sie will keinen Eingriff in den Produktionsprozeß und erschöpft sich in dem Willen nach einer harmonisierenden Gestaltung der menschlichen Seite des Betriebes bei einer Regelung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen vom Betrieb her und bei einer Herausdrängung der „Kampfgewerkschaften“ aus den Betrieben. Die beigemischten ständischen Vorstellungen tun dieser Orientierung keinen Abbruch. Solche Vorstellungen brechen hingegen vollständig mit der alten Idee der „Novembertage“, durch sozialpolitische Konzessionen die großen Gewerkschaftsrichtungen in ein den Betrieb und die Gesellschaft integrierendes und befriedendes Bündnis einzubinden. Wie der Begriff „Gemeinschaft“ so mobilisiert auch der vieldiskutierte ständische Ideenkreis Vorstellungen von Einheit, Befriedung und Stabilität. Zudem erweist sich diese Leitidee der vorindustriellen Gesellschaft als hinreichend flexibel und wandelbar, um auch ein Formierungsprinzip der modernen Gesellschaft abzugeben, das den Einzelbetrieb überwölbt und das Bild einer zugleich festgefügten und harmonischen Gesamtordnung zeichnet, in die nicht nur die Einzelnen sondern auch die Betriebe eingeordnet sind. Dienstbar sind in diesem Zusammenhang u.a. auch die vielzitierten universalistischen bzw. „organischen“ Vorstellungen Othmar Spanns vom „Gesamtganzen“ und dem ein- und untergeordneten „Teilganzen“, für das es eine eigenständige Existenz nicht geben könne. Katholischen Kreisen wird zu dieser Zeit ständisches Gedankengut durch die Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“ aus dem Jahre 1931 nahegelegt und als Gegenentwurf zur Klassengesellschaft emp-

345 Albrecht, G.(erhard): Werksgemeinschaft...a.a.O.(=Anm. 321), 951. 346 Vorwerck, K.(arl), Dunkmann, K.(arl): Die Werksgemeinschaft in historischer und soziologischer Beleuchtung. Berlin o.J. (1928), 1. 347 Dieselben, ebenda, 8. 348 Vgl. dieselben, ebenda, 15. 349 Dieselben, ebenda, 21.

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fohlen.350 Karl Vorwerck gibt in einigen Artikeln den ständischen Einheits- und Ordnungsvorstellungen, wie sie in seinen Kreisen diskutiert werden, eine denkbar praktikable Gestalt, in der Gewerkschaftshandeln erwartungsgemäß keinen Platz findet.351 Er erkennt überall in der Wirtschaft „Ansätze berufsständischer Zusammenschlüsse“ und möchte am Vorhandenen anknüpfen. Seine kurzgefaßten „Richtlinien für den Aufbau der deutschen Industrie auf berufsständischer Grundlage“352 sehen auf der Basis werksgemeinschaftlich organisierter Unternehmungen und Betriebe gleicher oder ähnlicher Branchen örtlich oder bezirklich organisierte „Berufsstandsgemeinschaften“ vor. Solche Gemeinschaften sollen Fachverbände bilden. Verwandte Fachgruppen sollen sich zu „Teilberufsständen“ vereinigen, diese wiederum zum „Vollberufsstand Industrie“. Dieser ist dem „Reichsverband der Deutschen Industrie“ nachgebildet. Eine räumliche Untergliederung ist vorgesehen. Alle Glieder des „berufsständischen Aufbaues“ sollen Körperschaften des öffentlichen Rechts werden, um ihnen öffentliche Aufgaben übertragen zu können. Alle Organe im berufsständischen Aufbau von „Werksrat“ an aufwärts sollen von Arbeitgeber-, Beamten-, Angestellten- und Arbeitervertretern besetzt werden. Das Gewicht dieser Gruppen bzw. „Säulen“ von „Leistungsträgern“ bleibt unklar. In diese Ordnung wird ein Schiedsgerichtswesen integriert. Den Berufsständen werden „tarifgemeinschaftliche“ und sozialpolitische Aufgaben wie Sozialversicherung, Berufsausbildung, Arbeitsnachweis, Berufsberatung, Siedlungsund Wohnungspolitik zugeordnet. Die Entlohnungstarife sollen allgemeinverbindlich aber auch abdingbar sein. Streiks und Aussperrungen werden durch die „Richtlinie“ verboten. Die ständische Reorganisation des Handwerks soll sich an die bereits bestehende Innungsund Handwerkskammerorganisation anlehnen.353 Einen Einfluß des an der Spitze des berufsständischen Aufbaues stehenden „Hauses der Wirtschaft“ auf die wirtschafts- und sozialpolitische Gesetzgebung hält er für angebracht. Dadurch werde eine berufsständische „zweite Kammer“ unnötig und der Staat werde für seine „großen politischen Aufgaben“ frei.354 Mit Blick auf seine Bedeutung und auf die Grundstrukturen der NSBetriebsverfassung sind auch die werksgemeinschaftlichen Konzeptionen des Oberfinanzrats Dr. Paul Bang von erheblicher Bedeutung.355 Bang ist Vorstandsmitglied des „Alldeutschen Verbandes“ und an zahlreichen weiteren nationalistischen Organisationen führend beteiligt. Als ehemaliger Mitarbeiter im sächsischen Finanzministerium, eine Stelle, die er 1919 aus Gründen der Ablehnung der Revolution und der neuen Staatsform verläßt, engagiert er sich gegen „Versailles und die Tributversklavung“, beteiligt sich „folgerichtig“ am Kapp-Putsch und findet seine politische Heimat in der DNVP, für die er ab 1928 ein Reichstagsmandat wahrnimmt. In der DNVP gehört der „Oberscharfmacher und Gelbenzüchter“ Bang zur sozialreaktionären, industriell-agrarisch orientierten Hugenberg350 Vgl. in diesem Zusammenhang umfassend: Nolte, Paul: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. München 2000, 159 ff. 351 Vgl.: Vorwerck, Karl: Sind Gewerkschaften Berufsstände? In: Werk und Beruf, 4(1932), 180 - 184. 352 Eine Erstfassung der „Richtlinien“ findet sich in: Werk und Beruf, 4(1932), 208 - 213; leicht überarbeitet, erweitert und mit anderen Beiträgen, insbesondere mit der Darstellung des immer wieder als vorbildhaft erwähnten „Pommerschen Landbundes“ sind sie abgedruckt bei: Vorwerck, Karl (Hg.): Die berufsständische Wirtschaftsund Sozialordnung. Berlin 1933, 66 - 71. 353 Vgl. ebenda, Anlagen 2 und 3. 354 Vgl. denselben: Die berufsständische Neuordnung der deutschen Wirtschaft. In: Ebenda, 32 - 41, hier: 36. 355 Vgl. als ahnungsvollen Beitrag: Weber, Reinhard: Werksgemeinschaft. Ein 'wirtschaftsorganisatorischer Lösungsversuch' oder das sozialpolitische Programm der nationalistischen Diktatur? In: Die Arbeit,(1928)9, 533 546, hier: 543.

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Gruppe.356 Er ist sogar ein besonders enger Freund und Weggefährte des „Medienzaren“ und Politikers Hugenberg, der immerhin einmal das Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommen vom 15. November 1918 unterschrieb, den Geist dieser Vereinbarung aber wohl nie geteilt hat. Im Zuge reparationspolitischer Auseinandersetzungen im „Reichsverband der Deutschen Industrie“ ergreift Bang im Jahre 1924 die Initiative und wird zum Begründer der oppositionellen „Deutschen Industriellen-Vereinigung“, die sozusagen rechts vom Reichsverband angesiedelt ist. Es handelt sich um einen Zusammenschluß nationaler und „werksgemeinschaftlich denkender Unternehmer“, die schon zuvor unter dem Einfluß Bangs standen. Diese Vereinigung vertritt im Zusammenhang mit der Werksgemeinschaftsidee nationalwirtschaftlich-autarkisches Gedankengut. Aus ihr geht im Jahre 1926 unter Führung Bangs der „Bund für Nationalwirtschaft und Werksgemeinschaft“ hervor.357 Er macht aus seiner extrem nationalistischen und antidemokratischen Einstellung keinen Hehl.358 Bang, der sich auch auf dem Gebiet der ideologischen Untermauerung des „völkischen Wirtschaftsgedankens“ hervortut, sieht im „sozialen Problem“ ebenfalls weniger eine materielle als vielmehr eine „ethische Frage“. Der „Marxismus“ habe gesiegt, weil es ihm gelungen sei, die „sittliche und wirtschaftliche Betriebsgemeinschaft“ zwischen Unternehmern und Arbeitern zu zerstören, dadurch das Wirtschaftsleben aufzulösen und den gesamten Wirtschaftsorganismus in zwei feindliche „Heerlager“ zu zerreißen.359 Der Unternehmer könne mit den Arbeitnehmern über deren Interessen und über die Interessen des Betriebes keine „verbindlichen Abreden“ treffen: „Gar Führ er seiner eigenen Mitarbeiter zu sein, ist ihm gesetzlich verboten.“360 Über das Schicksal beider befänden „betriebsfremde Mächte“, worunter Bang die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände versteht. Die „Werksgemeinschaft“ gilt ihm als „Zelle der Wirtschaft“. Der Werksgemeinschaftsgedanke ist für ihn „...die denkbar stärkste V ern einung des Gewerkschaftsprinzips.“361 „Werksgemeinschaft“ heiße etwas sehr Einfaches: „Das Sichwiederfinden der Unternehmer und Arbeiter im E in z e lb e tr ieb und die Ermöglichung individuellbetrieblicher Abreden.“362 Das schließt für ihn die Beseitigung der „Gewaltherrschaft“ außerbetrieblicher Mächte, von „betriebsfremden Instanzen“ über den Betrieb, über Arbeiter und Unternehmer aus. Mehr als das Heil der Wirtschaft sei davon abhängig, daß der Unternehmer wieder „Führer“ seines Betriebes werde. Wie andere Propagandisten der „Werksgemeinschaft“ auch, ist Bang ein Verfechter des „Leistungslohnes“, und wie andere hat er einen „amerikanischen Traum“. Durch die 356 Vgl. zu Hugenbergs sozialpolitischen Auffassungen: Hugenberg, A.(lfred): Die Soziale Frage in Deutschland. Berlin 1932. 357 Vgl. zu biographischen Details die zahlreichen Hinweise in: Deutsches Biographisches Archiv (Neue Folge). Mikrofiche Ausgabe; darüber hinaus: Stadtler, Ed.(uard): Werksgemeinschaft als soziologisches Problem. Berlin 1926, 38 f.; die nicht ganz fehlerfreien Hinweise von: Heyde, (Ludwig): Werksgemeinschaft, Arbeitsgemeinschaft, Volksgemeinschaft. In: Die Verhandlungen des vierunddreißigsten Evangelisch-Sozialen Kongresses in Hamburg am 7. - 9. Juni 1927. Göttingen 1927, 95 - 106, hier: 102; zahlreiche Hinweise auch bei: Stupperich, Amrei: Volksgemeinschaft oder Arbeitersolidarität. Göttingen, Zürich 1982. 358 Vgl. schon seinen frühen Beitrag: Bang, (Paul): Durch Werksgemeinschaft zur Volksgemeinschaft. Eine Ansprache an die deutsche Industrie. In: Deutschlands Erneuerung, 7(1923)5, 247 - 264. 359 Vgl.: Bang, (Paul): Deutsche Wirtschaftsziele. Langensalza 1926, 165. 360 Derselbe, ebenda, 166. 361 Ebenda, 170; nicht alle Autoren sind so radikal antigewerkschaftlich eingestellt wie Bang. Sie wollen teilweise den Betriebsgemeinschafts- und Gewerkschaftsgedanken kompromißhaft kombinieren, was typischerweise zu einer bedeutenden Funktionseinschränkung der Gewerkschaften führt; vgl.: Moje, Arend: Die Werksgemeinschaft...a.a.O.(=Anm.326), 75. 362 Bang, (Paul): Deutsche Wirtschaftsziele...a.a.O.(=Anm. 359), 171.

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Einführung der „wissenschaftlichen Betriebsführung“, durch den Taylorismus, möchte er die Produktivität der Arbeit wesentlich erhöhen und er hofft auf diese Weise mittels technokratischer Verfahrensweisen auch zu Lohnerhöhungen kommen zu können.363 Dementsprechend gelten Zeitstudien und Refasystem als Wege zur „Werksgesundung“ und Wirtschaftsbelebung. Alle Widersprüche scheinen so auflösbar. Das Interesse an einem möglichst hohen Gewinn und Lohn soll durch erhebliche Produktivitätsfortschritte vereinbar gemacht werden. Da hohe Löhne auch Voraussetzung der Ersparnisbildung und der Kreditgewährung durch Banken und Sparkassen sowie erhöhter Kaufkraft und damit erhöhten Absatzes sind, habe auch die Volks- und Privatwirtschaft Interesse an hohen Löhnen. Eine ausgedehnte Produktion und Rentabilität seien dafür die Voraussetzung.364 Gegen die Lohnpolitik der Gewerkschaften gerichtet betont Bang, Lohnsteigerung ohne Produktionssteigerung komme einer Geldentwertung gleich: „Erzwingen die Gewerkschaften entgegen diesen Gesetzen Lohnerhöhungen, so wird nur eine Steigerung des Nominallohnes, niemals eine Steigerung des Reallohnes erreicht.“365 Wo man die „wissenschaftliche Betriebsführung“ eingeführt habe, betonen Paul Bang und Wilhelm Longert, „...stieg die Produktionsund Lohnquote zum Teil überraschend, und es schwand jeglicher Einfluß von außerbetrieblichen Instanzen.“366 So habe Amerika die „fachliche Werksgemeinschaft“, nicht hingegen Deutschland: „Wir gehen den entgegengesetzten Weg, indem wir an die Gegnerschaft zwischen Unternehmer und Arbeiter glauben, sie organisatorisch ausbauen, die ganze soziale und arbeitsrechtliche Gesetzgebung auf diesen Irrtum begründen und den Hütern dieses Irrtums, den Gewerkschaften, eine bevorzugte, wenn nicht eine beherrschende Stellung in Wirtschaft und Politik einräumen.“367 Als organisatorische Form einer „Werksgemeinschaft“ in den „wiederhergestellten Zellen der Wirtschaft“, in den Betrieben, favorisiert nicht nur Karl Vorwerck „betriebsratsähnliche“ Gebilde. Überhaupt gilt das Betriebsrätegesetz der Weimarer Republik häufig als die einzige gesetzliche Regelung, die vom Ansatz her werksgemeinschaftliche Grundzüge erkennen lasse,368 „verdorben“ allerdings durch das Eindringen der Gewerkschaften und von Grund auf „falsch angelegt“. Der Betriebsrat in seiner bestehenden gesetzlichen Ausgestaltung, so meint Gerhard Albrecht, alle integrativen Momente, alle „Gemeinschaftsformeln“ dieses Gesetzes unterschlagend, sei „...ein ausgesprochenes Interessenorgan, das dem Unternehmer bzw. Betriebsleiter entgegengestellt worden ist, ein Organ also, das der Kampfführung, der Interessenauseinandersetzung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Betriebe zu dienen bestimmt ist.“369 Er hält demgegenüber ein Organ zur beratenden 363 Vgl.: Longert, (Wilhelm), Bang, (Paul): Die Grundgedanken der Werksgemeinschaft. Langensalza 1927, 14 ff. 364 Vgl. dieselben, ebenda, 16. Diese Argumente sind bereits im Werk von Frederick W. Taylor enthalten, welches schon in den letzten Vorkriegsjahren auch in deutscher Übersetzung vorliegt und im Jahre 1913 zu einer Taylorismusdebatte auf der Hauptversammlung des „Vereins Deutscher Ingenieure“ Anlaß gibt. Zu weiteren Details vgl.: Ebert, Hans, Hausen, Karin: Georg Schlesinger und die Rationalisierungsbewegung in Deutschland. In: Rürup, Reinhard (Hg.): Wissenschaft und Gesellschaft. Erster Band. Berlin, Heidelberg, New York 1979, 315 334, hier: 319. 365 Bang, Paul: Organische Wirtschaft. Langensalza 1929, 59 f. (Fußn. 1). 366 Longert,(Wilhelm), Bang, (Paul): Die Grundgedanken...a.a.O.(=Anm. 363), 17. 367 Dieselben, ebenda, 20. 368 Vgl. z.B.: Vorwerck, K.(arl), Dunkmann, K.(arl): Die Werksgemeinschaft...a.a.O.(=Anm. 346), 45; vgl. auch: Die Monopolstellung...a.a.O.(=Anm. 335), 32, sowie: Moje, Arend: Werksgemeinschaft...a.a.O.(=Anm. 326), 88 ff. 369 Albrecht, Gerhard: Vom Klassenkampf...a.a.O.(=Anm. 343), 78.

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„Mitwirkung“ der Arbeitnehmer an der Gestaltung der sozialen Verhältnisse im Betrieb für zweckmäßig und wünschenswert. Für Paul Bang ist die „Werksgemeinschaft“ mehr als die „Kunst des Befehlens“ und des Führens „...des Verhandelns und Behandelns, die mit lebendigen Menschen rechnet...“370 Er geht von einer Selbstverwaltung der Wirtschaft aus. Die „Werksgemeinschaft“ ist seinen Auffassungen nach zunächst eine neben der technischen und kaufmännischen Betriebsführung stehende, alle Beteiligten des Werkes umfassende Sonderorganisation, die mit einem ausgebildeten Kassenwesen auch als vermögensrechtliche Sonderorganisation und öffentlich-rechtliches Gebilde gedacht ist. Sie solle von einem Organ (dem „Werksrat“) geleitet werden, das sich aus dem Unternehmer, Angestellten und Arbeitern zusammensetzen soll. Im Rahmen seiner Konzeption wird der Unternehmer in die Funktion des „Ertragswirtschaftlers“, der frei von jeder „Bevormundung“ und jedem „Dazwischenreden“ bleiben müsse, und die Funktion des „Arbeitgebers“ aufgeteilt. Dieser habe Führungsaufgaben und sozialpolitische Funktionen.371 Nur so sei die „Synthese“ zwischen Individualismus und Sozialismus zu finden. Man werde bei einer späteren (gesetzlichen) Ausgestaltung so weit gehen müssen, auch an die Fähigkeit Arbeitgeber zu sein, gewisse Voraussetzungen, vor allem sittlicher Art, zu knüpfen „...und auch die Möglichkeit vorzusehen, unter Umständen die Fähigkeit Arbeitgeber sein zu können, a bzu erk enne n...“372 Der „Werksgemeinschaft“ als Sonderorganisation sollen zahlreiche sozialpolitischen Aufgaben zuwachsen, darunter auch die staatliche Sozialversicherung.373 Davon ausgehend ist an schlichtende und streitentscheidende lokale, bezirkliche, provinzielle Zusammenschlüsse und an eine werksgemeinschaftliche Reichskörperschaft gedacht. Auf diesem Wege ergäben sich Mittel, vor allem auch durch Angliederung eines „Ehrengerichtes“ „...der Arbeitsehre und der Wirtschaftsehre wieder zu ihrem Rechte zu verhelfen.“374 Die übergeordneten Werksgemeinschaftsorgane seien zugleich Schlichtungs- und Schiedsstellen für alle Beteiligten. Sie seien Schutzstellen für die Arbeitnehmer gegen „unsoziale Unternehmer“, heißt es an anderer Stelle.375 Bang ist jedoch nicht nur „rein“ theoretisch-ideologisch am Projekt einer Neugestaltung der Arbeitsverfassung interessiert, er möchte dieses Vorhaben schon in der Republik auch praktisch vorantreiben. Obgleich es „...heute gesetzlich verboten (ist), daß sich Unternehmer und Arbeiter in e ine r Vereinigung zusammenfinden zur gemeinsamen Regelung ihrer Angelegenheiten“ und das Gesetz eine „Zerreißung des Betriebes“ in zwei sich als Gegner betrachtende Parteien wolle, könne heute schon viel im Sinne der zukünftigen „...auf der Werksgemeinschaft beruhenden Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsauffassung geschehen.“376 Einerseits beklagen sich Bang und sein Mitarbeiter Longert in diesem Zusammenhang darüber, daß sich Staatsbehörden und Gewerkschaften der bewußten Auflösung des Weimarer Sozialstaatsmodells in Form der Abschaffung einer bestimmten Arbeitsverfassung widersetzen. Andererseits können sie aber auch schon nachweisen, daß Gerichte und andere zuständige Behörden dieses Sozialstaatsmodell aufgegeben haben 370 So eine Charakterisierung bei: Winschuh, Josef: Sinn und Wert der Werksgemeinschaft. In: Wirtschaftliche Nachrichten für Rhein und Ruhr, 7(1926),885 - 889, hier: 889. 371 Vgl. zur Erläuterung auch: Weber, Reinhard: Werksgemeinschaft...a.a.O.(=Anm. 355),539. 372 Bang, Paul: Organische Wirtschaft...a.a.O.(=Anm. 365), 66. 373 Vgl. denselben, ebenda, 61 ff.; Bang denkt an eine werksgemeinschaftliche Sozialsparkasse und nähert sich damit den Gedankengängen von Gustav Hartz. 374 Vgl.: Bang, (Paul): Deutsche Wirtschaftsziele...a.a.O.(=Anm. 359), 192. 375 Vgl.: Bang, Paul: Organische Wirtschaft...a.a.O.(=Anm. 365), 70. 376 Longert, (Wilhelm), Bang, (Paul): Wie gründet man eine Werksgemeinschaft? Langensalza 1927, 1.

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bzw. seine Grundgedanken wesentlich „modifizieren“. Im Lichte der entsprechenden Entscheidungen und Urteile erscheinen auch Arbeitnehmer eines einzelnen Betriebes bei entsprechender Organisationsform und auch betriebliche „nationale Arbeitervereine“ als tariffähig. Die Tariffähigkeit wird gegen Ende der Weimarer Republik wiederholt auch der Arbeitnehmergruppe des „Pommerschen Landbundes“ zugesprochen.377 Der Aufbau des „Pommerschen Landbundes“ werde allerdings vom „gegenwärtigen politischen System“ bekämpft, „...denn für Gewerkschaftssekretäre und Syndici, die vom Unfrieden leben, ist im P. L. kein Platz.“378 Dabei geben Bang und Longert zu beachten „...,daß der Unternehmer der Vereinigung seiner Arbeitnehmer n ic h t angehören darf, weil diese dann als bestochen gelten und somit für den Klassenkampf untauglich sind.“379 Diese Vorgaben eröffnen den Weg zum Abschluß von „Werkstarifen“ und damit die Pforte zur „Werksgemeinschaft“, zur Rückverlagerung der Gestaltung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen in die von einer „rein marxistischen“ Gesetzgebungs- und Verwaltungspraxis „immer noch“ zerrissene „Zelle der Wirtschaft“. Diese „Werkstarife“ seien bei der Behörde einzureichen, gegen die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Verbandstarifen sei Einspruch zu erheben.380 In der betrieblichen Praxis, soweit sie von Bang und Longert mitgeteilt wird, zeigt sich, welche Formen und Verfahrensweisen die „Überwindung des Klassenkampfes“, die Herstellung des „Betriebsfriedens“ durch eine „Werksgemeinschaft“ annehmen kann: Austritt des Unternehmers aus dem Arbeitgeberverband, Gründung eines (vaterländischen) Arbeitervereins, dessen Mitglieder keiner Gewerkschaft, keinem linksgerichteten Vereinswesen zugehören dürfen, Ausschaltung der Mitglieder der Arbeiterbewegung durch Kündigung bzw. Nichteinstellung solcher Arbeitnehmer, „Säuberung“ und Wahl eines wirtschaftsfriedlichen Betriebsrates, Abschluß eines Werkstarifs und Entfaltung betrieblicher Sozialpolitik. In den Worten eines „forschen“ Unternehmers: „Die Werksgemeinschaft bringt im Laufe der Zeit erstens Werktarife und betriebliche Vereinbarungen, schwarzweiß-rote Vereine, dann Gesangsabteilung, Bibliothek, Feuerwehr und Abwehr, Betriebskrankenkasse, Kindergarten, Unterstützungskasse und ähnliches mehr. Frieden herrscht im Betriebe und gegenseitiges Vertrauen.“381 Im Anschluß an die Bangschen Überlegungen und Schriften entwirft der Jurist Gustav Treuner ein 452 Paragraphen umfassendes „Gesetz betreffend Werksgemeinschaft und Selbstverwaltung der Wirtschaft.“ 382 Dieser monströse Entwurf macht „...zum ersten Male Ernst mit dem Begriff der de u ts chen Wirtschaft“ und diskriminiert, sich auf völkische Schriften Bangs beziehend, „nicht deutschstämmige“ Personen mit oder ohne deutsche Staatsangehörigkeit, seien diese nun Unternehmer oder abhängig Beschäftigte, im Arbeitsbzw. Sozialrecht.383 Greift man auf die zur Erläuterung dieser Diskriminierung angeführten Schriften von Bang zurück, so artikuliert sich dort vor allem eine ausgeprägte Judenfeind377 Vgl. z.B.: Koepnick, H.: Die Tariffähigkeit der Arbeitnehmergruppe des Pommerschen Landbundes in ihrer Bedeutung für die berufsständische Bewegung. In: Werk und Beruf, 3(1931), 138 - 147. 378 Von Rohr: Der Aufbau des Pommerschen Landbundes. In: Werk und Beruf, 4(1932)1, 25 - 30, hier: 30. 379 Longert, (Wilhelm), Bang, (Paul): Wie gründet man...a.a.O.(=Anm. 376),11. 380 Vgl. dieselben, ebenda, 41; es folgen Muster der Konstituierung der Betriebsbelegschaften und der Gestaltung von „Werkstarifverträgen“ und „Werkskassen“. 381 Longert, (Wilhelm), Bang, (Paul): Aus der Praxis der Werksgemeinschaft. Langensalza 1927, 34; Ansätze der Durchführung der „Werksgemeinschaft“ sind auch verzeichnet bei: Hindelang, Rudolf: Werksgemeinschaft. München 1929. 382 Vgl. zum Gesetzentwurf: Treuner, Gustav: Das Gesetz betreffend Werksgemeinschaft und Selbstverwaltung der Wirtschaft. München 1929; der Verfasser dieses Gesetzentwurfs ist ein Mitarbeiter Bangs. 383 Vgl. denselben, ebenda, 121 ff.; §§ 7 - 8; 15 - 16, 200 - 203 des Gesetzentwurfs.

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schaft.384 Deutschen Arbeitern und Angestellten, so Treuner, sollten weitgehende Rechte eingeräumt werden. Nur „deutschstämmige Personen deutscher Staatsangehörigkeit“ können nach seinen Vorstellungen Arbeitgeber sein und auch nur sie könnten als Belegschaft gelten. Treuner merkt an, daß es noch an einer Legaldefinition des Begriffs der „Deutschstämmigkeit“ fehle.385 Die „Deutsche Wirtschaft im Ausland“ soll nach Möglichkeit ebenfalls werksgemeinschaftlich organisiert werden. Von diesen Grundsätzen aus und nur noch im weiteren Sinne als berufsständisch zu bezeichnen, gestaltet der Gesetzentwurf den Aufbau der „Werksgemeinschaft“ des Betriebes und legt die Aufgaben der Organe fest. Darüber hinaus bestimmt er die Gestalt der darauf aufbauenden Gemeindewerksgemeinschaften, der Provinzial- und Landeswerksgemeinschaften und der Reichswerksgemeinschaft. Dieser letzten und höchsten Ebene werden Einflußmöglichkeiten auf die Reichsgesetzgebung eingeräumt. Hinzu treten Sondervorschriften für spezielle Berufs- und Gewerbegruppen. Den Werksgemeinschaftsorganen werden in umfassender Weise Aufgaben der staatlichen Sozialpolitik und „innenwirtschaftliche Aufgaben“ sowie Aufgaben der eigenen Verwaltung und Kontrolle übertragen (§§ 204 ff.). Ein System von Werkssparkassen soll, mit Ausnahme der Unfallversicherung, die bisherige Sozialversicherung ersetzen. Das Siedlungswesen soll ebenfalls von der sich selbst verwaltenden Wirtschaft geregelt und durchgeführt werden. Umfassende Straf- und Belohnungsvorschriften gegen alle Beteiligten an der „Werksgemeinschaft“ enthalten auch Bestimmungen, die die Arbeitnehmer gegen ein Fehlverhalten der Arbeitgeber sichern sollen. Die Betriebsleitung bleibt ausschließlich dem Unternehmer vorbehalten. Neben zahlreichen weiteren Punkten der Werksgemeinschaftdebatte, die von Gustav Treuner in Rechtsvorschriften übersetzt werden, findet sich der Vorstoß, auch das Steuerwesen auf die „Werksgemeinschaften“ zu übernehmen. Gewaltig ist die Zahl der Gesetze, Verordnungen und Erlasse, die durch diesen Gesetzentwurf abgeändert und außer Existenz gesetzt werden sollen. Die Gesetzesänderungen reichen bis zur Änderung der Reichsverfassung und einer „völkischen“ Umgestaltung des „Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes“ vom 22. Juli 1913 durch das Konstrukt der „Deutschstämmigkeit“ bzw. der Zugehörigkeit zur „weißen (arischen) Rasse.“ „Was einst angebetet wurde und noch angebetet wird“, resümiert Gustav Treuner, „sinkt in den Staub; auch so manche junge Errungenschaft der Gesetzgebung, oft schon mit dem Zeichen des Todes geboren, muß daran glauben. So manches muß gründlich abgeändert werden, um den alten Geist zu bannen und dem neuen Raum zu geben... eine spätere Revision der Gesetzgebung wird erfolgen müssen, um den Körper der deutschen Wirtschaft und damit des deutschen Volkes von dem fremden Gift zu reinigen.“ Mit einem derart umfassenden Ansatz verlangt diese Konzeption eines werksgemeinschaftlichen Aufbaues beinahe schon so etwas wie einen Neubeginn der Innenpolitik aus dem Geist der „Gemeinschaft“ und des Rassimus. Die Grenzen des Verständnisses der drei großen Richtungsgewerkschaften und anderer Organisationen der abhängig Beschäftigten für diese Formen der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen sind schnell erreicht. Zwar kann man sich mit dem Anliegen der Verbesserung des „Werkstons“, einer Veränderung der „sozialen Haltung“ als Ergebnis „sozialer Diplo384 Vgl. die Schriften: Bang, (Paul): Staat und Volkstum. Dritte, erweiterte Auflage. Langensalza 1930; Derselbe: Volkswirtschaft und Volkstum. Zweite und dritte, erweiterte Auflage. Langensalza 1924. 385 Diese Aussage wird mit Blick auf das „Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz“ vom 22. Juli 1913 (RGBl. 1913, 583) getroffen; vgl. ansonsten hierzu und zum folgenden: Treuner, Gustav. Das Gesetz betreffend...a.a.O.(= Anm. 382).

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matie“ und eine sinnvolle Summe „guter Verkehrsformen“ zwischen Unternehmer und Arbeitern eines Betriebes noch identifizieren.386 Die Exponenten der Betriebs- bzw. „Werksgemeinschaft“ wollen jedoch mehr, wenn sie von der „Drachensaat des Marxismus“, von der „Germanisierung“ u.a. auch des Arbeitsrechts, von dem Betrieb als „Bollwerk gegen Entwurzelung“, vom Klassengedanken als „künstlicher Erfindung“ schreiben und reden, wenn sie die „Werksgemeinschaft“ als Grundlage der „Volksgemeinschaft“ konzipieren,387 wenn sie gerne auch das Handeln bzw. das Arbeitsrecht des Führers der italienischen Faschisten, des Benito Mussolini, als „massenpsychologisch richtigen Weg“ loben.388 Wenn die Strategie, den Betrieb als „Lösungsort der sozialen Frage“ anzusehen zudem mit einer Ablehnung der „überbetrieblich selbständigen Form“ der Gewerkschaften, mit der Ablehnung überbetrieblicher Tarife, der mehr oder weniger strikten Ausschaltung der Gewerkschaften und der Einführung des reinen Leistungslohnes einhergeht, wenn die Gewerkschaften als „Klassenkampforganisationen“, als „nationale Schädlinge“, als „Wirtschafts- und Staatsfeinde“, als Hindernis für Deutschlands „Wiederaufstieg“ bezeichnet werden, dann verwahren sich auch die rechtsstehenden Verbände und die Ablehnung ist naturgemäß ganz allgemein.389 Man wolle die Gewerkschaftsbewegung in betriebliche Atome zersprengen, „...um wieder zu dem ersehnten Patriarchalismus zu gelangen, der bestenfalls durch eine Art wohlwollenden Konstitutionalismus gemildert wäre...“ ist in der Theoriezeitschrift des ADGB, in der „Arbeit“, zu lesen.390 Jede „klassenmäßige Verbindung“ außerhalb des Werkes, sowohl Arbeitgeber- als auch Arbeitnehmerverbände seien mit dem Gedanken der „Werksgemeinschaft“ unvereinbar, erkennt kritisch auch ein Aufsatz in der „Deutschen Handels-Wacht“, in dem Organ des stramm antisozialistischen „Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes“. Der Schriftleiter in diesem Verband, Albert Zimmermann, spricht sich in mehreren Beiträgen gegen dieses Projekt in seiner gewerkschaftszerstörenden Form aus.391 Er signalisiert damit auch Widerstand im weltanschaulich-politischen Milieu der Vertreter des Werksgemeinschaftsgedankens.

386 Vgl.: Rössiger, Max: Werksgemeinschaft oder Gewerkschaft. In: Wirtschaftliche Nachrichten für Rhein und Ruhr, 7(1926)21, 884 - 885. 387 Vgl.: Mitscherlich, Waldemar: Moderne Arbeiterpolitik. Leipzig 1927, 61. 388 Vgl. denselben, ebenda, 88. 389 Vgl. z.B.: Nörpel, Clemens: Gewerkschaften oder Werksgemeinschaften. In: Wirtschaftliche Nachrichten für Rhein und Ruhr, 7(1926)21, 878 - 880; Wieber, Georg: Um den Sinn der Werksgemeinschaft. In: Ebenda, 881 883. Die „Wirtschaftlichen Nachrichten für Rhein und Ruhr“ werden von den Industrie- und Handelskammern Bochum, Dortmund, Duisburg, Wesel und Essen, dem „Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen im Rheinland und Westfalen“ und dem „Zweckverband Nordwestdeutscher Wirtschaftsvertretungen zu Essen-Berlin“ herausgegeben und stellen als wahrhaft groß- und schwerindustrielles Blatt die Ansichten zur Werksgemeinschaft zur Diskussion; vgl. den Vorspruch zu: Rößiger, Max: Werksgemeinschaft oder Gewerkschaft. In: GDA. Zeitung des Gewerkschaftsbundes der Angestellten, 7(1926), 242 - 243. Vgl. als weitere ablehnende Beiträge: Adolph, Arthur: Werksgemeinschaften? In: Deutsche Arbeit, 11(1926)10, 505 - 517; Zimmermann, A.(lbert): Gewerkschaften oder Werksgemeinschaften? In: Deutsche Handels-Wacht, 33(1926)14, 289 291. 390 Erdmann, Lothar: Gewerkschaften, Werksgemeinschaften und industrielle Demokratie. In: Die Arbeit, (1925), 131 - 142, hier: 137. 391 Vgl.: Z.(immermann, Albert): Positives zur Werksgemeinschaftsfrage. In: Deutsche Handels-Wacht, 35(1928), 28 - 29; Zimmermann, A.(lbert): Gewerkschaften oder Werksgemeinschaften? In: Ebenda, 33(1926)14, 289 - 291; Derselbe: Zur Werksgemeinschaftfrage. In: Der Türmer, 30(1927), 304 - 307; erleichtert darüber, daß die Werksgemeinschaften vom Schlichtungsausschuß Hagen nicht als tariffähig anerkannt sind: Derselbe: Die Werksgemeinschaften sind nicht tariffähig. In: Deutsche Handels-Wacht, 33(1926), 319 - 320; strikt ablehnend auch: Bröcker, Paul: Was ist die Werksgemeinschaft? In: Ebenda, 31(1924)16, 241 - 243.

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Vor allem in sozialdemokratischen und kommunistischen Kreisen wirkt die extrem nationalistische „Begleitmusik“ beunruhigend, die allerdings bei der politischen Beheimatung der hier zitierten Autoren nicht verwundern kann. Karl Vorwerck betont, alles was deutsch und soziale denke und fühle, solle mitkämpfen in der Werksgemeinschaftsbewegung, weil es nicht allein um den „sozialen Frieden“ gehe, sondern auch um die Form der Wirtschaftsführung, die geeignet sei, die „inneren Kräfte“ im Volke auszulösen: „Nur so werden wir einmal wieder Machtstaat werden, wird Deutschland den ihm gebührenden Platz an der Sonne wieder einnehmen und befähigt werden, die großen Aufgaben zu erfüllen, die wir im Bewußtsein unseres inneren Wertes als erster Kultur- und Sozialstaat noch zu lösen haben.“392 Die nationale Kraft „...kann nur gewonnen werden durch innere Einigung, und darum muß die erste Sorge sein, allen Kampf im Innern zu beseitigen,“ vermerkt Andreas Voigt in seinem „wirtschaftsfriedlichen Manifest.“393 In einer Schrift der „Guteborner Werksgemeinschaftsbewegung“, ein Ausbildungsprojekt, an dem auch Eduard Stadtler führend beteiligt ist, wird vermerkt, die Werksgemeinschaftsbewegung sei „politische Kampfbewegung“ zur Erneuerung des Volkstums von unten her, damit ein einheitliches Reich entstehe, das sich seine durch die „unfähige Politik der Nachkriegszeit“ verlorene „außenpolitische Freiheit“ so oder so zurück hole.394 Die Arbeiterschaft, hofft der Hochschullehrer Friedrich Lent, werde, befreit von dem „niederdrückenden proletarischen Gefühl“ darangehen, an der Gestaltung des Schicksals des Volkes mitzuarbeiten. Handele es gemeinschaftlich mit der Unternehmerschaft, sei der tödliche innere Gegensatz zwischen beiden geschwunden, dann schlage auch die Stunde der „Befreiung für das deutsche Volk.“395 Ganz in diesem Sinne raisoniert ein anderer Hochschullehrer, ohne eine dem „Volkstum gemäße“ Reichs- und Wirtschaftsverfassung aber „...ist an die Befreiung der Nation aus den Ketten der Fremdherrschaft nicht zu denken.“396 Den „Volkstumsgedanken“ mit der werksgemeinschaftlichen Literatur intensiv verknüpft zu haben, ist auch und wenig überraschend ein „Verdienst“ von Paul Bang.397 Das Herbeisehnen einer außenpolitischen Revision, einer notfalls blutigen Rache für die „Schmach von 1918“, einer Fortsetzung dessen, was sich als Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts rückblickend darstellt, erscheint in solchen Formulierungen als primär, die neue Arbeitsgesinnung und Arbeitsverfassung als sekundär, als Mittel zu diesem Zweck. So darf denn auch die Beschwörung des „Frontgeistes“ nicht fehlen. Den „Geist der Kameradschaft“ gelte es auf das Gesellschafts- und Wirtschaftsleben zu übertragen. Erst das Erlebnis des „großen Krieges“ habe die Bewegung vorangebracht und so sei es „...kein Zufall, daß gerade Fron tkä mp f er die Vorkämpfer des berufsständischen Gedankens wurden und dieser in der Frontgeneration zuerst festen Fuß faßte.“398 Die von dem Major a.D. Karl Vorwerck herausgegebene werksgemeinschaftlich-berufsständisch orientierte Zeitschrift „Werk und Beruf“ gilt geradezu als „Stahlhelm-Zeitschrift“. Sie bietet Autoren aus diesen Kreisen ein Sprachrohr. Sie rühmt u.a. die „Stahlhelm-Selbsthilfe“ als erste 392 Vorwerck, Karl: Die wirtschaftsfriedliche Arbeitnehmerbewegung...a.a.O.(=Anm. 332), 144. 393 Voigt, Andreas: Das wirtschaftsfriedliche Manifest...a.a.O.(=Anm. 343), 1. 394 Vgl.: Die Guteborner Werkgemeinschaftbewegung. O.O., o.J., 23 f. 395 Lent, (Friedrich): „Werksgemeinschaft“. Langensalza 1927, 17. 396 Spahn, Martin: Der Gedanke der Arbeitsgemeinschaft in der deutschen Wirtschaft und Politik. Langensalza 1927, 18. 397 Vgl. dazu die Zitatenauswahl bei: Weber, Reinhard: Werksgemeinschaft...a.a.O.(=Anm. 355). 398 Grundsätzliches zum berufsständischen Aufbau der Wirtschaft. Ein Rückblick und Ausblick. In: Werk und Beruf, 5(1933)12, 334 - 348, hier: 334.

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Arbeiterorganisation, die den berufsständischen Gedanken voll und ganz aufgegriffen habe399 und fördert auch die vom Stahlhelm ausgehende Initiative zur Gründung eines „Bundes für organischen Staats- und Wirtschaftsaufbau.“400 Mit den angesprochenen Orientierungen und ideologischen Versatzstücken paßt das Werksgemeinschaftskonzept durchaus in die NS-Weltanschauung der Jahre bis 1933. Der Gemeinschafts- und Führerbegriff, die Ablehnung des „Marxismus“, des „Klassenkampfes“, des parlamentarischen „Weimarer Systems“, die erkennbare außenpolitische Revisionsperspektive, die Unterordnung der „Werksgemeinschaft“ unter die Nation bzw. die „Volksgemeinschaft“ und ähnliche Begriffs- und Denkschemata stehen für solche Übereinstimmungen. Sie Dokumentieren auch auf diesem Gebiet die wechselseitigen Durchdringungsprozesse zwischen dem Nationalsozialismus und konservativen und „völkischen“ Anschauungen. Gleichzeitig fällt aber auf, daß in den maßgeblichen Quellen der NSIdeologie konkrete Vorstellungen zur Ausgestaltung einer künftigen Arbeits- und Sozialverfassung durchaus fehlen.401 Das Parteiprogramm ist weit entfernt von der Konkretheit der „Werksgemeinschaftsdebatte“. Die Federsche Kommentierung kennt zwar den Begriff „Werksgemeinschaft“. Diese soll allerdings von „allen Deutschen“ zur „Förderung der allgemeinen Wohlfahrt und Kultur“ gebildet werden.402 Das Programm der NSDAP vom 24. Februar 1920 betont den berufsständischen Gedanken. Es fordert die „...Bildung von Stände- und Berufskammern zur Durchführung der vom Reich erlassenen Rahmengesetze in den einzelnen Bundesstaaten.“ Das Programm dokumentiert mit dieser unklaren Formulierung die beachtliche Bedeutungsvielfalt „ständischer Konzepte“, ist doch hier offensichtlich nicht an eine Selbstverwaltung einer „ständisch“ reorganisierten Wirtschaft gedacht, wie dies in den Konzeptionen der „Werksgemeinschaft“ vor allem von Paul Bang gefordert wird.403 Das Parteiprogramm, das am 25. Februar 1920 in einer „gewaltigen Massenversammlung“ im Hofbräuhaus-Festsaal in München der Öffentlichkeit „übergeben“ wurde, enthält in grotesker Mischung damals gängiger politischer Forderungen einige weitere Aussagen zur Sozialpolitik. Gefordert wird u.a. eine „...Verstaatlichung aller (bisher) bereits vergesellschafteten (Trusts) Betriebe“, eine „Gewinnbeteiligung an Großbetrieben“, ein „großzügiger Ausbau der Altersversorgung“, die „Schaffung eines gesunden Mittelstandes“ und seine Erhaltung, eine „Bodenreform“, die „Hebung der Volksgesundheit“. Hitler setzt sich im „Kampf“ mit der „Gewerkschaftsfrage“ auseinander.404 Er erkennt sie als Mittel zur Verteidigung „allgemeiner sozialer Rechte“ und zur „Erkämpfung“ besserer Lebensbedingungen an. Er bejaht im zweiten Band seiner Schrift im Gegensatz zu den radikaleren Vertretern der „Werksgemeinschaft“ ihre Existenznotwendigkeit unter den 399 Vgl. ebenda, 335. 400 Ab dem Oktober 1931 fungiert die Zeitschrift „Werk und Beruf“ als Organ dieses Bundes; vgl.: Bund für organischen Staats- und Wirtschaftsaufbau. In: Werk und Beruf, 3(1931)10, 289 - 292, hier: 289. 401 Daß die dadurch gegebene „Offenheit“, das Globale und Floskelhafte, die Inhalts- und Konturlosigkeit, die nur negative Bestimmtheit für die NS-Weltanschauung geradezu typisch ist und nach der „Machtergreifung“ erheblichen Anreiz zur „Partizipation“ an dieser Bewegung und Chancen zur Durchsetzung eigener Ziele bestimmter Interessengruppen bzw. zum „Mitbau“ an der Weltanschauung eröffnet hat, betont auch: Lepsius, Oliver: Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. München 1994, bes. 101 ff. 402 Vgl.: Feder, Gottfried: Das Programm...a.a.O.(=Anm. 311), 23. 403 Vgl. aus nationalsozialistischer Sicht: Beyer, Justus: Die Ständeideologien der Systemzeit und ihre Überwindung. Darmstadt 1941; diese fragwürdige aber umfassende nationalsozialistische Schrift dokumentiert in ihrem umfassenden Literaturverzeichnis einen bedeutenden Teil des „ständischen“ Schrifttums. 404 Erstmals in seinem ersten Band; vgl.: Hitler, Adolf: Mein Kampf...a.a.O.(=Anm. 304), 48 ff.

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Bedingungen der Existenz eines „unsozialen Unternehmertums“. Er bezieht die Bejahung der Existenz der Gewerkschaften jedoch auf ihre Funktion zur Stärkung der „Widerstandskraft“ des Volkes im „Daseinskampf“ und fährt fort, die Gewerkschaften seien „...vor allem notwendig als Bausteine eines künftigen Wirtschaftsparlaments beziehungsweise der Ständekammern.“405 Ausdrücklich ist jedoch für ihn eine „nationalsozialistische Gewerkschaft“ kein „Organ des Klassenkampfes“, sondern ein Organ der „Berufsvertretung“. Sie habe mithin auch nicht die Aufgabe, „...durch Zusammenfassung bestimmter Menschen innerhalb des Volkskörpers diese allmählich in eine Klasse umzuwandeln, um mit ihr dann den Kampf gegen andere, ähnlich organisierte Gebilde innerhalb der Volksgemeinschaft aufzunehmen.“406 Nicht die Gewerkschaft sei „klassenkämpferisch“, sondern der „Marxismus“ habe aus ihr ein Instrument für „seinen Klassenkampf“ gemacht.407 Integrative, wirtschaftsfördernde, Mißstände beseitigende Funktionen sollen einer NS-Gewerkschaft zuwachsen. NS-Arbeitnehmer und NS-Arbeitgeber seien beide „Beauftragte und Sachwalter der gesamten Volksgemeinschaft“, die Gegenstände des schädigenden Arbeitskampfes sollten an höherer Stelle in Ständekammern und im zentralen Wirtschaftsparlament erledigt werden. An dieses Gewerkschaftsverständnis Hitlers knüpft die NSBO an, die sich als künftige nationalsozialistische Gewerkschaft begreift. Zwangsläufig lehnen die NSBO-Kader die Werksgemeinschaftspläne mit ihrer gewerkschaftfeindlichen Ausrichtung als „reaktionärbürgerliche“ Bestrebungen ab.408 Hitlers Ausführungen zur „Institution des vernichtenden Klassenkampfes“ und zur „nationalsozialistischen Gewerkschaftsidee“ bieten eine durchaus beachtliche „Schnittmenge“ zu den Vorstellungen in der Werksgemeinschaftsbewegung und beinhalten gewisse gleichgerichtete Orientierungen. Weniger erhellend ist in diesem Zusammenhang der Blick in die in der Weimarer Republik entstandene nationalsozialistische Buch- und Broschürenliteratur und in die parlamentarische und außerparlamentarische politische Agitation der deutschen faschistischen Bewegung.409 Ständefragen allerdings werden in der NSBewegung durchaus lebhaft und in vielfältiger Weise diskutiert.410 Allerdings wirkt sich auf diesem Gebiet die Tatsache aus, daß ständische Konzepte in Kreisen des organisierten Unternehmertums keinesfalls zu einer allgemein akzeptierten Perspektive werden. Das massive Gewicht wirtschaftlicher Interessen und die Bedeutung der Industrie für die außenpolitischen Ziele der NSDAP führen dazu, daß sich seit dem Spätsommer 1932 eine Zurückdrängung ständischer Bestrebungen in der NSDAP andeutet. Unterstützt werden die ständischen Bestrebungen hingegen insbesondere von Gottfried Feder, Gregor Strasser und Otto 405 Derselbe, ebenda, 672. 406 Derselbe, ebenda, 675. 407 Vgl. denselben, ebenda, 675. 408 Vgl.: Frese, Matthias: Betriebspolitik im „Dritten Reich“. Paderborn 1991, 33. 409 Bis zur „Erdrutsch-Wahl“ des Jahres 1930 ist die sozialpolitische Parlamentsagitation äußerst dürftig. Sie ruht auf Reichsebene über viele Jahre auf der Schulter ganz weniger Abgeordneter; vgl. dazu: Frick, Wilhelm: Die Nationalsozialisten im Reichstag 1924 - 1928. München 1928; zur Sozialpolitik: 50 ff. Zur sozialpolitischen „Parlamentsarbeit“ vgl. neuerdings umfassender: Döring, Martin: „Parlamentarischer Arm der Bewegung.“ Die Nationalsozialisten im Reichstag der Weimarer Republik. Düsseldorf 2001, 191 ff. , 260 ff.; 302 ff. 410 Vgl. die entsprechenden Hinweise bei: Vorwerck, (Karl): Berufsständischer Gedanke und Harzburger Front. In: Werk und Beruf, 4(1932), 98 - 104, hier: 98 ff. ; vgl. auch: Frauendorfer, Max: Der ständische Gedanke im Nationalsozialismus. München 1932. Der Verfasser ist Mitglied der „Innenpolitischen Abteilung bei der Reichsleitung der N.S.D.A.P.“ und sodann auch des „Amtes für ständischen Aufbau der N.S.D.A.P.“; vgl. den Hinweis bei: Frauendorfer, Max: Der ständische Gedanke. In: Werk und Beruf, 5(1933)10, 269 - 275, hier: 269. Mit Hinweisen auf die Zeit vor und nach 1933 vgl. als ältere Schrift: Rämisch, Raimund Hubert: Die berufsständische Verfassung in Theorie und Praxis des Nationalsozialismus. Berlin 1957 (Diss. rer. pol.).

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Wilhelm Wagener, von der „nationalsozialistischen Linken“ also. Im Unternehmertum finden sie als Formen der Überwindung der „Ordnung des Klassenkampfes“ und der Begrenzung des Einflusses des politischen Parlaments Rückhalt lediglich im Handwerk, in Teilen der mittelständischen Industrie und bei einigen Vertretern der Schwerindustrie.411 Bei der Suche nach Wurzeln und Vorläufern, nach ideellen, personellen und institutionellen Durchdringungen, nach Elementen der NS-Sozialpolitik, die bereits in der umstrittenen und politisch zerrissenen Republik und unter den Bedingungen der Präsidialdiktatur vorgeformt worden sind, nach „Gegeneliten“, die dann zu ideologischen Wegbereitern und zu Mitträgern und Mitgestaltern des NS-Sozialstaats werden, darf die Weimarer Schulungsbewegung bzw. die „Führerschulung“ im gewerblich-industriellen Bereich und die Hinwendung der Sozialwissenschaften zu den sozialen Problemen des Betriebes nicht unterschlagen werden. Veränderte betriebliche Strukturen und Rationalisierungsfolgen, die Krise des Herrschafts- und Hierarchiegefüges durch die erschütternden Wirkungen des Krieges und der Nachkriegsdesaster lassen nicht nur in Deutschland die Hebung der „Vorgesetztenqualität“ zu einem Desiderat der Vorgesetztenschulung und wirtschaftspädagogischer Theorie und Praxis werden.412 Aber auch die „Seele des Arbeiters“, sein Können und sein Wille geraten in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit der Werksgemeinschaftsidee teilt die „Führerschulung“ das Ziel: Höchste Produktivität, Qualitätsarbeit, „Entgiftung der Betriebsatmosphäre“, „Entsorgung der Werksangehörigen“413 bis auf den möglicherweise nicht zu beseitigenden Rest eines geheimen, dumpfen Grollens „unter dem Boden der Betriebe“, bis auf eine über dem Betriebe liegende leicht „gewittrige Atmosphäre.“414 Insofern erscheint die Schulungsbewegung als „ideale“ Ergänzung zur „Werksgemeinschaft“ in Theorie und Praxis, die mehr auf das „Theoretische“, das „Grobe“, die politische Initiative und juristische Durchformung orientiert ist, aber am Problem des Vorgesetztenverhaltens und der Psyche der Arbeiter und Angestellten auch nicht vorbeigegangen ist. Die Arbeitsschulung profitiert von den Erfahrungen schon bestehender Ausbildungsstätten bei Großbetrieben, der Staatsbahn sowie von Lehrplänen und Lehrgängen des „Deutschen Ausschusses für Technisches Schulwesen“ (DATSCH) und von den Arbeiten des „Ausschusses für Berufsausbildung“ (A.f.B.). Sie zehrt von den Ergebnissen, die im Zuge der Entstehung betriebs- und anwendungsbezogener Disziplinen und Institutionen anfallen, wie z.B. von der Psychotechnik oder „praktischen Psychologie“, von der an amerikanischen Vorbildern orientierte Physiotechnik der Arbeit, von der anwendungsorientierten Betriebssoziologie. In der „Forschungsstelle für industrielle Schwerarbeit“ in Gelsenkirchen arbeiten als Exponenten solcher Ansätze der Aachener Lehrstuhlinhaber, der Rationalisierungs- bzw. Betriebswissenschaftler Adolf Wallichs, 415 der Uni-

411 Vgl. dazu: Winkler, Heinrich August: Unternehmerverbände zwischen Ständeideologie und Nationalsozialismus. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 17(1969)4, 341 - 371. 412 Vgl.: Trischler, Helmuth: Führerideal...a.a.O.(=Anm. 327), 53 ff. 413 Vgl.: Freunde des Dinta! In: Arbeitsschulung, 1(1929)1, 2. 414 So einige Sprachbilder bei: Briefs, G.(oetz): Rationalisierung der Arbeit. In: Industrie- und Handelskammmer zu Berlin (Hg.): Die Bedeutung der Rationalisierung für das Deutsche Wirtschaftsleben. Berlin 1928, 32 - 52, hier: 50. 415 Vgl. in diesem Zusammenhang: Ebert, Hans, Hausen, Karin: Georg Schlesinger und die Rationalisierungsbewegung...a.a.O.(=Anm. 364), 315 - 334, zu Wallichs: 323.

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versitätslehrer und „praktische Psychologe“ Walther Poppelreuter aus Bonn und der für die Schulungsbewegung bedeutsame Oberingenieur Carl Arnhold zusammen.416 Auf eine politische Initiative hin wird im Jahre 1928 an der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg das „Institut für Betriebssoziologie und soziale Betriebslehre“ gegründet. Dieses wird unter führender Mitwirkung des amerikaerfahrenen, theoretisch bedeutsamen Nationalökonomen und Soziologen Goetz Briefs auf- und ausgebaut.417 Es ist durchaus als Hilfs- und Stabsinstitut für die Ingenieurausbildung gedacht und orientiert sich am Betrieb als einer möglichst befriedigend und harmonisch zu gestaltenden und von allen Beteiligten nach Möglichkeit bejahten Form menschlich-sozialen Zusammenlebens und Zusammenarbeitens.418 Briefs geht vom Betrieb als einem starken „sozialen Störungszentrum“, als einem „Flammpunkt sozialer Unruhe“ aus. Die Physis und Psyche des arbeitenden Menschen stünden in fortgesetzter Spannung dagegen, bloß Kostenfaktor und bloß Betriebsstoff zu sein. Die im Betrieb entstehende „psychische Spannung“ schlage nach außen und werde zu einem der „stärksten Auftriebe der sozialen Unruhe“, die sich gegen das Gesamtsystem von Wirtschaft und Gesellschaft richte.419 Von außen auf den Betrieb einwirkende „Faktoren“ führten zu einer Verhärtung der Fronten und erschwerten eine „positive Gestaltung“.420 Die staatliche Sozialpolitik habe den Betrieb auch wegen der Natur ihrer Zwecke und Maßnahmen in den Hintergrund gedrängt, denn sie „...kommt von oben, von außen, schematisierend an das Sozialproblem wie s ie es definiert heran...“, sichte mehr die äußerlich und objektiv feststellbaren Erscheinungen der sozialen Notstände „...als die psychischen und sozialen Quellpunkte der Unruhe.“421 Darüber hinaus wären noch andere Personen, Institutionen und Publikationen zu nennen.422 Besondere Bedeutung gewinnt die Arbeits- bzw. „Führerschulung“ durch eine Initiative der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie. Am 6. Oktober 1925 wird als Schöpfung der führenden Kräfte der Schwerindustrie im Rahmen einer Hauptversammlung des „Vereins deutscher Eisenhüttenleute“ das „Deutsche Institut für technische Arbeitsschulung“ (Dinta) in Düsseldorf gegründet.423 Protektor des Dinta wird der Düsseldorfer Oberbürger416 Vgl.: Arnhold, Carl: Arbeitsschulung im Rahmen des Betriebes, gemäß den Grundsätzen des DINTA. In: Soziales Museum e.V. in Frankfurt am Main (Hg.): Industrielle Arbeitsschulung als Problem. Berlin, Wien 1931, 29 - 50, hier: 32. 417 Vgl. dazu: Wilke, Manfred: Goetz Briefs und das Institut für Betriebssoziologie an der Technischen Hochschule Berlin. In: Rürup, Reinhard (Hg.): Wissenschaft...a.a.O.(=Anm. 364), 335 - 351. 418 Vgl.: Jost, Walter: Das Sozialleben des industriellen Betriebs. Berlin 1932. 419 Vgl.: Briefs, (Goetz): Vorwort. In: Derselbe (Hg.): Probleme der sozialen Werkspolitik. Erster Teil. Das Deutsche Institut für technische Arbeitsschulung (Dinta). Von Peter C. Bäumer. München und Leipzig 1930, V VIII, hier: VI. 420 Vgl.: Wilke, Manfred: Goetz Briefs...a.a.O.(=Anm. 417), 343 f. 421 Briefs, Goetz: Betriebsführung und Betriebsleben in der Industrie. Stuttgart 1934, VII. 422 Vgl. dazu die Hinweise bei: Hinrichs, Peter, Peter, Lothar: Industrieller Friede? Köln 1976 sowie: Hinrichs, Peter: Um die Seele des Arbeiters. Köln 1981; insgesamt auch die fundierte Untersuchung von: Schuster, Helmuth: Industrie und Sozialwissenschaften. Eine Praxisgeschichte der Arbeits- und Industrieforschung in Deutschland. Opladen 1987. Zum „Institut für Betriebssoziologie und soziale Betriebslehre“ mit zahlreichen biographischen Details vgl.: 351 ff.; auf Seite 376 auch Hinweise auf das Interesse des Reichsarbeitsministeriums und die daraus resultierende Förderung des Instituts. Vgl. als frühe Handreichung zur psychologisch richtigen Menschenbehandlung im Betrieb: Baumgarten, Franziska: Psychologie der Menschenbehandlung im Betriebe. Halle a. S. 1930; vgl. auch die zahlreichen entsprechenden Hinweise bei: Winschuh, Josef: Praktische Werkspolitik. Berlin 1923. 423 Vgl. zur Entstehung und Entwicklung des Dinta: Gesellschaft der Freunde des Dinta e.V. Protokoll der I. ordentlichen Mitgliederversammlung am 24. Oktober 1930 im Haus der Gesellschaft „Verein“, Düsseldorf. Evangelisches ZA. 1/A 2/147.

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meister, das Mitglied der DNVP und der spätere Steigbügelhalter der NSDAP Robert Lehr. Vorsitzender und auch eigentlicher Initiator dieses „Instituts“ ist der Großindustrielle, der Generaldirektor, danach Aufsichtsratsvorsitzende der Vereinigten Stahlwerke AG, der ehemalige Reichstagsabgeordnete der DVP und spätere Förderer der NSDAP Albert Vögler. Leiter wird der bereits erwähnte Oberingenieur Carl Arnhold, der sich nach einer Militärkarriere im Ersten Weltkrieg am „antibolschewistischen Kampf“, an der blutigen Niederschlagung der Ruhr - Kämpfe um die Sozialisierung in den Jahren 1918/19 sodann am Ruhrkampf gegen die Franzosen beteiligt sowie in weiteren ähnlichen Aktivitäten profiliert hat und auf eine beachtliche Industriekarriere zurückblickt.424 Seit Ende 1931 steht „...Arnhold im Kontakt zu Hitler und anderen Größen der NSDAP.“425 Erster Geschäftsführer wird Paul Osthold, der Verfasser der 1926 erscheinenden und Aufsehen erregenden Schrift „Der Kampf um die Seele unseres Arbeiters.“ Die Rechtslastigkeit des Dinta, das sich bald nach Österreich ausdehnt426 und sich mit Datum vom 25. September 1929 eine „Gesellschaft der Freunde des Dinta“ schafft, 427 und die damit verbundene Neigung auch dieser sozialpolitischen Initiative zum militärischen Sprachgebrauch wird vor allem in den Reihen der politischen Linken gesehen und heftig kritisiert.428 Insbesondere die Werkssport- und Werksschulleiter seien beinahe alle „Faschisten“ und die Tätigkeit ehemaliger Offiziere, Ingenieure, Stahlhelmführer und Kriegervereins-Vorsitzender usw. biete den Kapitalisten beste Gewähr, „...daß der ausgebeuteten Jugend militärischer Geist und Schliff nach altpreußischem Muster beigebracht wird.“429 Die Aufgaben und Aktivitäten des Dinta sind vielgestaltig. Sie bestehen in der Ausarbeitung von Eignungstests für Arbeiter, in der Entwicklung und Verwendung von Methoden für die optimale Gestaltung der Arbeitsplätze und Arbeitsvorgänge, in der Nachwuchsschulung in Lehrwerkstätten, in Lehrlingsecken und Werksberufsschulen oder Anlernwerkstätten. Über die Berufsausbildung weit hinausgehende Aktivitäten sportlicher Art, die Begründung von Lehrlingsorchestern und Theaterabteilungen, die Schrebergartengenossenschaften, Exkursionen in fremde Werke, die Segelfahrten auf der Ostsee und nach Helgoland, Elternabende, Weihnachts- und Barbarafeiern und Sprachkurse umfassen auch den Freizeitbereich und lassen den Eindruck entstehen, die Schwerindustrie strebe eine allgemeine „Jugendpflege“ bzw. eine umfassende Werks- und Arbeitspolitik vor allgemeinpolitischem Hintergrund an. Zumindest soll aus einem „betriebsfremden“ ein „betriebsverständiger“ Mensch mit einer persönlichen Beziehung zum Werk gemacht werden und erkennbar ist auch, daß er dem sozialen und mentalen Milieu der Arbeiterbewegung entfremdet werden soll. Von großer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang Maßnahmen zur Förderung einer spezifischen „Hygiene des Gemeinschaftslebens“. Hierzu zählen vor allem die von dem Dinta mitgestalteten Werkszeitungen. Sie tragen Namen wie z.B. „Hütten-

424 Vgl. mit weiteren biographischen Angaben Seubert, Rolf: Berufserziehung und Nationalsozialismus. Weinheim und Basel 1977, 64 f. 425 Vgl.: Trischler, Helmuth: Führerideal...a.a.O.(=Anm.327), 75. 426 Vgl. dazu: Deutsches Institut für technische Arbeitsschulung Düsseldorf: Tätigkeitsbericht für die Zeit vom 1. April 1928 bis zum 30. Juni 1929. Düsseldorf o.J., VII; vgl. zur Führerschulung in Österreich: Trischler, Helmuth: Führerideal...a.a.O.(=Anm. 327), 81 ff. 427 Vgl.: Freunde des Dinta! In: Arbeitsschulung, 1(1929)1, 2; zur Satzung: 3 f. 428 Vgl. z.B.: Winter, Emil: Tod dem Dinta-Faschismus. In: Ruhrecho Nr. 57 vom 8. März 1929, 5; in den Tätigkeitsberichten des Dinta werden die Pressepublikationen zur Arbeit dieser Institution gegliedert nach „Freunde und Mitarbeiter“ sowie „Kritiker und Gegner“ bibliographisch erfaßt. 429 Derselbe, ebenda.

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Zeitung“, „Die Schüttelrutsche“, „Zechenzeitung“, „Werksbote“, „Nach der Schicht“.430 Diese Blätter erreichen gegen Ende der 20er Jahre eine Auflage von mehr als einer Million Exemplare. Sie treten zu anderen sozialpolitischen Maßnahmen zur Befriedung der „Wechselwirkung zwischen Betrieb und Familie“ hinzu, wie z.B. zur „Werksfürsorge“, zur Errichtung und Führung von Werkskindergärten und -horten. Im Dinta, so beobachtet der Schriftsteller Erik Reger in der „Weltbühne“ zusammenfassend, „...werden kapitalistisches Ethos, Wandervogelkult, Sportbegeisterung, Religion, Nationalismus und fließendes Band in einem Schmelztiegel durcheinandergerührt. Die Aussichten dieses Seelenfangs sind am besten an der Nervosität abzulesen, womit ihm die Gewerkschaftsbureaukratie gegenübersteht.“431 Darüber hinaus wird die Schulung eines „Korps“ von „Führern“ für die verschiedenen Ebenen der betrieblichen Hierarchie angestrebt. Überall sieht Carl Arnhold im Jahre 1930 die Führerfrage aufgeworfen und wohl nur noch in der Industrie meint er, der mit Anspielungen an seine Militärzeit nicht geizt, wahres „Führertum“ erkennen zu können: „Der einzigste, der große Massen wertvollster Menschen um sich schart, ist der Be tr iebsfüh r er im weitesten Sinne dieses Wortes.“432 Mit der sich vertiefenden Weltwirtschaftskrise nehmen im Publikationsorgan des Dinta Führersehnsucht und Führerapotheose ebenso zu, wie die Kampf- und Gemeinschaftsrhetorik. Die Begriffe „Führertum“, „Führer“ und die Benutzung des Begriffs „Gefolgschaft“ durch Arnhold bereits im Jahre 1931, der Ruf nach einer Befreiung der Nation von „inneren und äußeren Fesseln“ begleiten den Weg des Dinta, seiner Publikationen und Aktionen in das „Dritte Reich“, das ausdrücklich begrüßt wird.433 Auffallend ist, daß bei den berufspädagogischen Überlegungen des Dinta, die ganz besonders eng, wenn auch nicht immer ideal und widerspruchsfrei mit der Großindustrie verknüpft sind, alle die mitunter geradezu byzantinischen Organisationsmuster ständischer Art fehlen, die manchen betriebs- bzw. werksgemeinschaftlichen Ansatz der damaligen Zeit auszeichnen. Das Dinta vertritt demgegenüber einen ausdrücklich betriebsbezogenen Ansatz. Die Reaktion, die diese „meisterliche Psychologie“ auf der Seite der Arbeiterbewegung erzeugt, speist sich vor allem aus ihrem uferlosen und umfassenden Charakter. Dieser läßt, zumindest der „Theorie“ nach und entgegen den Zusicherungen Arnholds, keinen genügenden Raum für andere gesellschaftliche Kräfte wie z.B. die Gewerkschaften. 434 Es gehe, vermerkt der bekannteste Kritiker der Dinta-Arbeit, der Leiter der Bundesschule des ADGB, Fritz Fricke, bei dem sich in der Weimarer Republik gern „recht harmlos“ und „völlig unpolitisch“ gebenden „industriellen Berufsbildungsinstitut“ um eine pädagogisch und psychologisch unterlegte Offensive der Unternehmerschaft.435 Er befürchtet als Ziel 430 Die Werkszeitungen des Dinta sind ebenfalls in den Tätigkeitsberichten verzeichnet. 431 Vgl. die Teilwiedergabe des Beitrags „Die wirkliche Arbeiterpresse“ in: Arbeitsschulung, 1(1929)1,18; vgl. insgesamt: Reger, Erik: Die wirkliche Arbeiterpresse. In: Die Weltbühne, 25(1929), 366 - 370, hier: 367. 432 Arnhold, Carl: Führertum in der Industrie. In: Arbeitsschulung, 1(1930)4, 5 - 9, hier: 8. 433 Die „Arbeitsschulung“, deren Titelblatt bis 1933 mit „Widmungen“ prominenter Industrieller prunkt, bringt nach der „Machtergreifung“ auf der Frontseite Stellungnahmen prominenter Nationalsozialisten, darunter auch Auszüge aus Hitlers „Mein Kampf“; vgl. auch A. Vöglers Bekenntnis zum NS-Regime in: Arbeitsschulung, 4(1933)3/4, 74. Der Begriff der „Gefolgschaft“ findet sich bei: Arnhold, Carl: Arbeitsschulung im Rahmen des Betriebs gemäß den Grundsätzen des Dinta. In: Soziales Museum e.V. in Frankfurt am Main (Hg.): Industrielle Arbeitsschulung...a.a.O.(=Anm. 416), 29 - 50, hier: 47. 434 Vgl. zu einer einschränkenden, den gesellschaftlichen Kräften Raum zusichernden Interpretation der DintaArbeit: Arnhold, Carl: Arbeitsschulung...a.a.O.(=Anm.433), 30. 435 Vgl.: Fricke, Fritz: Sie suchen die Seele! 2., vermehrte Auflage. Berlin 1927, 4, 17.

Resümee

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des Dinta die völlige Umbildung der Geisteshaltung von Millionen von Arbeitern und Arbeiterinnen. Die Unternehmer hätten sich eine „...sozialpädagogische Aufgabe von geradezu gigantischem Ausmaß gestellt.“436 Er weist sodann auf die vielfältigen Überschneidungen und Berührungspunkte zur werksgemeinschaftlichen Bewegung und zu ähnlichen pädagogischen Initiativen hin.437 Die ihr Klasseninteresse am stärksten empfindenden Unternehmer und ihre „geistigen Handlanger“ erstrebten teilweise eine „völlige Abtötung des Koalitionswillens der Arbeitnehmer“, andere wollten die Gewerkschaften in eine Richtung bringen, die den privaten Gewinninteressen der Unternehmer nicht mehr entgegenlaufe.438

3.4 Resümee Scharfe Verteilungskämpfe, die radikale Wendung der Unternehmer gegen den „Gewerkschaftsstaat“, sich vertiefende Segmentierungen und Polarisierungen politisch-sozialer Kräfte, bewußt auf Zerstörung und Umformung des politisch-administrativen Systems abzielende Handlungen der wieder zu Einfluß und Macht gekommenen alten Eliten zerstören die Basiskompromisse der Weimarer Republik und leiten zu autoritären Herrschaftsformen über. Die bereits zu Beginn der weltökonomischen Turbulenzen mit geringer Legitimation ausgestattete politisch-soziale Ordnung wird vor allem dadurch geschwächt, daß den demokratischen Kräften als Folge vielfältiger Krisenwirkungen das Handlungspotential für den Erhalt des „demokratischen Sozialstaats“ entzogen wird. Die umfassende, im herkömmlichen Rahmen scheinbar unüberwindbare Krisensituation gibt den sozialpolitischen Ordnungsideen und Ideologien der antisozialistischen, antiliberalen und antidemokratischen Kräfte Auftrieb und Beachtung. Vor diesem Hintergrund wird ein Streit um die Höhe des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung zum Anlaß des Zerbrechens der Großen Koalition und die Ausschaltung des Reichstags wird zur politischen Praxis. Die Unfähigkeit der Parteien zum Kompromiß und die bewußte politische Obstruktion führen zur antiparlamentarischen Präsidialdiktatur. Diese stützt sich auf die Notverordnungskompetenz des Artikel 48 Absatz 2, auf das Recht des Reichspräsidenten zur Auflösung des Reichstags nach Artikel 25 und auf das Recht des Reichspräsidenten den Reichskanzler und die Reichsminister zu ernennen und zu entlassen nach Artikel 53 der Weimarer Reichsverfassung. Die Anwendung dieser Instrumente überschreitet dabei die von der Verfassung allerdings nur undeutlich gezogenen Grenzen und die Kombination dieser „Befugnisse“ verschweißt „...den Reichspräsidenten mit der Reichsregierung zu einer funktionalen, antiparlamentarischen Einheit.“439 So geht der Einfluß der Parteien deutlich zurück. Umfassende und wiederholt erlassene Notverordnungen des Reichspräsidenten zerstören den „demokratischen Sozialstaat“ der Weimarer Republik. Als „Hungerdiktatur“ prägt sich die Reichskanzlerschaft Brünings in das kollektive Gedächtnis, ihm selbst wird der Titel eines „Hungerkanzlers“ zugeschrieben. Die demokratische Phase der Sozialstaatsentwicklung mündet unter ihm in eine autoritäre bzw. diktatorische. Diktatorische Strategien bestimmen in erheblichem Ausmaß bald auch das Geschehen in den Ländern und Gemeinden. Eingebunden in fiskal436 Derselbe, ebenda, 3. 437 Insbesondere zur ebenfalls industriell geförderten „Deutschen Volkshochschule“ und zur „Landarbeiterausbildung“; vgl. denselben, ebenda, 36 ff., 40 ff. 438 Vgl. denselben, ebenda, 50. 439 Sachße, Christoph, Tennstedt, Florian: Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus. Stuttgart, Berlin, Köln 1992, 21.

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und außenpolitische sowie außenwirtschaftliche Zielbindungen erfolgen Lohn- und Gehaltskürzungen durch Eingriffe in Tarifverträge, werden Preissenkungen initiiert, Sozialbeiträge und Selbstbeteiligungen erhöht, Leistungskürzungen und -streichungen vorgenommen, Wartezeiten verlängert, Aufsichts- und Überwachungsmaßnahmen verstärkt, Zollund Steuererhöhungen durchgesetzt. Vor dem Hintergrund einer abstürzenden Weltkonjunktur und einer Rekordarbeitslosigkeit werden jedoch durch diese zerstörerische „Parallelpolitik“ die wirtschaftlichen Zielsetzungen verfehlt. Die Logik dieser „Sanierungsarbeiten“, die im je konkreten Einzelfall zu einer Verminderung oder gar Vernichtung der sozialen Sicherung bei möglichster Schonung und Entlastung der in eine krisenhafte Bewegung geratenen „produktiven Kräfte“ führt, wirft tiefgreifende Gerechtigkeits- und Legitimationsfragen auf und bietet der politischen Agitation zahllose Angriffspunkte. Vor diesem Hintergrund können sich die Nationalsozialisten zu einer bedeutenden Partei und Bewegung entwickeln, wobei der genauere Beitrag der Katastrophe am Arbeitsmarkt und des „Sterbens der staatlichen Sozialpolitik“ letztlich ungemessen bleiben muß. Ansätze einer expansiven Politik der Arbeitsbeschaffung und direkten Wirtschaftsförderung wirken sich erst unter der Regierung Hitler aus. Der zielgerichtete Prozeß der Entparlamentarisierung, der Zerstörung demokratischer Grundstrukturen und der Verschiebung der politischen Konstellationen nach rechts mündet schließlich in der Vereidigung des Kabinetts der „nationalen Konzentration“. Die alternativen sozialpolitischen Ordnungsideen und Ideologien, die mit der Weltwirtschaftskrise Auftrieb erhalten und die teilweise bis in das 19. Jahrhundert zurückreichen, arbeiten sich in pointierter Weise an den Grundstrukturen und Weichenstellungen der demokratischen Weimarer Sozialpolitik und ihren geistesgeschichtlichen Grundlagen ab. Diese Stoßrichtung wird bei den Vertretern der Werks- bzw. Betriebsgemeinschaftsdebatte deutlich, sie gilt auch für die vielfältigen Ansätze der „völkischen Rassenhygiene“ bzw. „Eugenik“. Es wird im Gegensatz zu der Situation in der Ära des Imperialismus und im Ersten Weltkrieg keine wie auch immer eingeengte und taktisch verstandene Perspektive der Demokratisierung und der Beteiligung der Gewerkschaften am sozialökonomischen Prozeß entwickelt.440 Es wird nicht wie damals das Bild einer „gemauserten“, einer „vernünftigen“ Arbeiterbewegung entworfen, einer Erweichung von Klassenkampfpositionen, einer Aufgabe des Internationalismus und Marxismus. Es fehlt dementsprechend im Gegensatz zu damals jeder Ansatz, die Arbeiterbewegung durch eine anerkennend-fortschrittliche Sozialreform zu einem Mitträger der „großen Politik“ erziehen und machen zu wollen. Der Gedanke gar, daß eine auf Verbänden aufbauende, sozialpolitisch-demokratisch strukturierte Gesellschaft den Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben besser gewachsen sein könnte, der die Vertreter der „bürgerlichen Sozialreform“ in der Ära des Imperialismus bewegte, ist den sozialpolitisch argumentierenden Vertretern des „nationalen Deutschland“ in der Weimarer Republik völlig fremd. Die Erfahrung von Krieg, Niederlage, Versailles, Revolution, Inflation und Weltwirtschaftskrise, die konkrete Funktionsweise von Demokratie und „demokratischer Sozialpolitik“ verbunden mit einer spezifischen, weitverbreiteten Interpretation dieser Ereignisse, lassen jene Kräfte erstarken und die Stimmen vernehmbarer werden, denen die ganze Entwicklung einschließlich der Sozialpolitik als grotesker „Irrweg“ erscheint.

440 Vgl. dazu neuerdings: Llanque, Marcus: Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg. Berlin 2000.

Resümee

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Die sich organisierenden, durch Kriegsausgang, Friedensschluß und Republik frustrierten „Gegeneliten“ formulieren als denkbar stärkste Verneinung des Weimarer Sozialstaats alternative Ordnungsentwürfe für eine „Lösung der sozialen Frage“, die ohne die Arbeiterbewegung auskommen, bestenfalls wirtschaftsfriedlich-nationale Arbeitervereine einbauen möchten. Sie sehen in der kommunistischen, der sozialistischen aber auch der christlichen und liberalen Arbeiterbewegung und in der institutionellen Verankerung bzw. in der „Befestigung“ (G. Briefs) dieser Gewerkschaftsrichtungen geradezu das Haupthindernis für ein herbeigesehntes, autoritär geführtes, militärisch erstarktes, national geeintes und zur Revisions- und Expansionspolitik befähigtes Deutschland. In undifferenzierter Form wird die Radikalität und die Bedeutung der Weimarer Arbeiterbewegung dramatisiert. Von der Herrschaft des „wirtschaftszersetzenden und volksverderbenden Marxismus“, vom „marxistisch-gewerkschaftlich infiltrierten Staat“, von der „Gewerkschaftsdiktatur“ und dem „Parteiterror“ ist auch noch in der Zeit der Präsidialdiktaturen die Rede. Die „demokratische Sozialpolitik“ gilt geradezu als verderblicher „institutioneller Niederschlag der Gewerkschaftsbewegung“. Daß nunmehr keine „Bolschewistenfurcht“ das Unternehmertum in die Arme des „Marxismus“ treibe, ist Ziel und Überzeugung der sozialpolitischen Reaktionsbewegung, daß der Kitt des Nationalismus die Brücke zwischen Arbeit und Kapital bilden möge, ist ihre Hoffnung. Im weltanschaulichen Orientierungs- und Radikalisierungsgefüge der Epoche bietet der italienische Faschismus, dessen Terror- und Blutspur in der reaktionären sozialpolitischen Publizistik typischerweise unterschlagen wird, Orientierungspunkte, ohne daß er in bedeutendem Umfang zur Nachahmung empfohlen wird. Der theoretisch ambitionierteste Vertreter einer „neuen Sozialpolitik“, der Hochschullehrer Gerhard Albrecht, erkennt, daß der Faschismus „...der weltgeschichtliche Gegenschlag gegen das Vordringen der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung marxistischen Geistes in die mittel- und westeuropäischen Länder (ist), geführt aus einer neuen, gewissermaßen zukünftigen Sozialauffassung, die theoretisch am tiefsten von deutschem Geiste geformt und gestaltet ist. An den Punkten des geringsten Widerstandes, damals Deutschland und Italien, hatte der Bolschewismus seinen Vormarsch begonnen.“441 So treten an die Seite der in der sozialreformerischen Publizistik vieldiskutierten Fahrten in die Sowjetunion und nach (Nord-)Amerika nun jene sozialpolitischen Studienfahrten in das Italien des Benito Mussolini und manchem erscheint diese Form des Faschismus als „...Rettung der Völker, die am Westen krank geworden sind.“442 Unbeschadet, vielleicht sogar gefördert durch einen unübersehbaren Irrationalismus der Argumentation, lassen sich zentrale Gemeinsamkeiten der Vertreter einer „neuen Sozialpolitik“ ausmachen. Kennzeichnend, wenn auch im sozialpolitischen Schrifttum nicht immer ausformuliert und inhaltlich bestimmt, ist die Ablehnung des demokratischen Parlamentarismus, der dazu gehörigen Parteien und autonomen Gesellschaftsorganisationen, insbesondere jener, die mit dem Schlüsselwort „Marxismus“ gebranntmarkt werden. Negativ ist auch die Einstellung zum „Liberalismus“ im Sinne unbeschränkter und ungebundener Unternehmerherrschaft und von Krisen- und Zersetzungserscheinungen. Einigkeit besteht 441 Albrecht, G.(erhard): Deutschlands soziale Krise. In: Werk und Beruf, 3(1931)8, 225 - 231, hier: 226. Kurzgefaßt und vergleichend zur faschistischen Gewaltanwendung neuerdings: Reichardt, Sven: Formen faschistischer Gewalt. Faschistische Kampfbünde in Italien und Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. In: Sociologus, 51(2001)1/2, 55 - 88. 442 Winnig, August: Koalitionsrecht und Gewerkschaften im Neuen Staat. In: Neue Wirtschaft, 6(1932)24, 1 - 3, hier: 2 (im Original gesperrt); über die Grundstrukturen der italienischen Sozialpolitik informiert in „ursprünglicher Form“: Mussolini, Benito: Vom Kapitalismus zum korporativen Staat. Reden und Gesetze. Köln 1936.

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in der Ablehnung des „Individualismus“. Betont wird die Ein- und Unterordnung. Positiv beruhen die vorgeschlagenen sozialpolitischen Projekte auf wenigen „Großkonzepten“ bzw. Begriffen hinter denen sich ausufernde Gedankengebilde verbergen: Gemeinschaft, Führertum, Stand, Rasse und als Bezugsgröße und Schlüsselbegriff dieses ideengeschichtlichen Reservoirs: Volk. Trotz der teilweise geradezu ungeheuren Verbreitung und Interpretationsoffenheit dieser Begriffe sowie der entsprechenden Wortverbindungen und Weltanschauungen, so ist z.B. der Begriff „Volksstaat“ in der Sozialdemokratie geläufig, der Begriff „Volksgemeinschaft“ taucht auch im Görlitzer Programm der SPD von 1921 auf, ist zu beachten: Interpretationen, die auch nur in die Richtung einer Wertschätzung einer politischverfassungsmäßigen und staatsbürgerlichen Emanzipation verweisen, fehlen oder fallen einem Verdikt zum Opfer. Es handelt sich in diesem Zusammenhang immer um politischphilosophische Kampfbegriffe und Diskreditierungsformeln gegen das „System von Weimar“. Die mit der Gründung der Republik, ja die schon im Ersten Weltkrieg gestiegene Fähigkeit der abhängig Beschäftigten ihre Macht über außerparlamentarische Aktionen, über Wählerstimmen, gewerkschaftliche Organisationen und direkte oder indirekte Regierungsteilhabe zu mobilisieren, soll gebrochen, zumindest stark begrenzt werden. Die Negation der „demokratischen Sozialpolitik“, insbesondere die Ablehnung der kollektiven Ordnung, des kollektiven Arbeitsrechts als einer vom Staat anerkannten, den Arbeitnehmer schützenden und sichernden Institution ist nahezu total. Es wird vehement bestritten, daß die Sozialpolitik der Republik ihr eigentliches Ziel, die gesellschaftliche Integration, erreicht habe. Das glatte Gegenteil sei der Fall. Der Schaden für die Wirtschaft durch die staatliche Sozialpolitik sei unermeßlich. In diesem Sinne gilt auch die „Spitze“ dieser sozialpolitischen Ordnung, das mit der Republik entstandene Reichsarbeitsministerium, als „Reichsbehörde des Klassenkampfes“, der „Parteilichkeit“ und „Ungerechtigkeit“ gegenüber dem Unternehmertum. Die feindliche bzw. unverständige Masse, dargestellt durch die Zahl der Wähler, regiere im Reichsarbeitsministerium ebenso wie im Parlament. Die Konzeptionen des Ständischen, der „Werks-“ bzw. „Betriebsgemeinschaft“ und des Betriebsführertums und der „Gefolgschaft“ dienen vornehmlich der Begründung einer sozialpolitischen Umkehr im Sinne der Entinstitutionalisierung des Klassenkonfliktes, einer Unterdrückung, bewußten Verlegung und Verleugnung überwiegend gegensätzlicher Interessen in der Wirtschaftsgesellschaft. Sie beinhalten das Leitbild autoritärer Betriebsverhältnisse, mahnen aber auch eine verstärkte betriebliche Sozialpolitik an. Ständische Konzeptionen verfolgen darüber hinaus das Ziel der Einordnung der Betriebe, ihrer Führer und ihrer abhängig Beschäftigten in übergreifende Strukturen. Mitbestimmung und Demokratisierung in der Form einer mehr oder weniger konflikthaften „Klassenkooperation“ fehlen, eine „Mitsprache“ kennt nur noch betriebsbezogene und ständische Formen. Die Leistungen und Institutionen des Sozialstaats sollen auf die unterschiedlich konzipierten ständischen „Selbstverwaltungskörper“ überführt werden. Diese Überlegungen konzentrieren sich damit wesentlich auf die „soziale Frage“ im klassischen Sinne. Die mit der „völkischen Rassenhygiene“ verbundenen Ansichten weisen weit darüber hinaus. Diese Lehren eröffnen den Blick auf einen geradezu ungeheuren und ungeheuerlichen Interventionsbereich. Das „biologische Substrat“ der Nation gerät als „behandlungsbedürftig“, als dringend quantitativ und qualitativ „aufzufrischend“, als „reinzuhaltend“ und damit als bedroht in den Gesichtskreis sozialtechnologisch bzw. biologistisch orientierter „Fachleute“ und politischer Kräfte. Vor allem auf der Seite der NSDAP verbinden sich

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diese Anschauungen mit einem geradezu perfiden Antisemitismus. Ein auf schwachen und überwiegend höchst fragwürdigen naturwissenschaftlichen Grundlagen ruhender, von humanitären oder christlichen Skrupeln weitgehend befreiter Szientismus breitet sich aus. Im Lichte der rassenhygienischen Lehren der „Vor-Hitler-Zeit“ wird der Mensch zum instrumentalisierbaren Gattungsexemplar. Er wird „biologisches Material“ und potentielles Objekt von biologisch bzw. medizinisch orientierten, weitreichenden Staatseingriffen. Vorstellungen von Menschenwürde, Selbstbestimmung, zu schützender Willensfreiheit, körperlicher Unantastbarkeit und Gleichheit verfallen der Ablehnung. Eine auch grundsätzlich kritische Haltung der Protagonisten der „eugenischen“ bzw. „völkisch-rassenhygienischen“ Bewegung gegenüber der Erblehre und Evolutionsbiologie, den zahlreichen „Tier-MenschAnalogien“, der Rassenkonstruktion und -stufung fehlt weitgehend. Es herrscht vielmehr die Neigung vor, die dem Biologismus der Zeit sowieso schon innewohnenden Reduktionsund Simplifizierungstendenzen auf die Spitze zu treiben und die Begriffe und Konzepte so zu radikalisieren, so daß diese der Praxis weit vorauseilen und mit den Werten der demokratischen Republik gar nicht mehr vereinbar sind. Ein ausgesprochener „Menschenverbesserungseifer“, ein „Aufartungs- und Aufnordungseifer“ mischt sich vor allem vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise mit fiskalischen Einspar- und Umschichtungsstrategien. Den Heilberufen wird eine neue Rolle im Rahmen eines zu optimierenden biologischen Prozesses zugesprochen. Die Abwertung der Kranken und Schwachen, der gesellschaftlichen Randgruppen, des Einzelnen und seines Lebensschicksals, der „Feldzug“ gegen humane bzw. christliche Wertauffassungen, ein bemerkenswerter, aus dem verrohten Zeitgeist strömender Vernichtungswille, der mitleidslose Blick auf die Menschenwelt, der Bruch mit abendländischen „Kulturidealen“ zieht sich wie ein roter Faden durch die deutsche Geschichte vor 1933, ohne staatlich sanktionierte und massenhaft durchgeführte Praxis zu werden. Innergesellschaftliche Ausgrenzungen, scheinbar sinnvolle und dringend erforderliche Privilegierungen und Diskriminierungen, vorgeblich notwendige medizinische Eingriffe, „zweckdienliche“ Tötungen und Säuberungen der „nordischen Rasse“ werden diskutiert. Die dystopische Zentralvorstellung, nach der sich physische, psychische und soziale Probleme ausgehend von bestimmten Gruppen oder Paaren durch Vererbung an eine zu zahlreiche Nachkommenschaft in der Gesellschaft verbreiten, trifft auf fruchtbaren Boden. Im Lichte dieser Annahmen eröffnet sich ein „preiswerter“ und „gründlicher“ Ausweg für eine Fürsorge, die zwischen den Mühlsteinen wachsender Klientenzahlen und schwindender Mittel in eine Sinn- und Strukturkrise geraten ist, die sich nur noch mühsam, verstärkt durch Notprogramme, durch Hilfsaktionen, Leistungsabbau und Vernachlässigung ganzer Arbeitsgebiete „vorwärts“ bewegen kann. So wächst die Auffassung, daß sich die Gesundheits- und Wohlfahrtspflege der „biologischen Vernunft“ öffnen solle, zur Überwindung der Finanzkrise und mit dem Ziel der Konzentration der Mittel auf die „wertvollen“ Teile der Bevölkerung, die ihr u.a. durch die Aussteuerungsmechanismen der Arbeitslosenversicherung in übergroßer Zahl zufließen. Auf diese Weise schwinden im fiskalischen und sozialökonomischen Notstand der Weltwirtschaftskrise die „...Grundprinzipien einer demokratisch verantwortbaren, humanen Wohlfahrtsethik.“443

443 Lohalm, Uwe: Die Wohlfahrtskrise 1930 - 1933. Vom ökonomischen Notprogramm zur rassenhygienischen Neubestimmung. In: Bajohr, Frank, Johe, Werner, Lohalm, Uwe (Hg.): Zivilisation und Barbarei. Hamburg 1991, 193 - 225, hier: 217.

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Die Krise der „alten“ und die Wegbereiter der „neuen Sozialpolitik“

Solche Gefahren verbinden sich auch mit der gemäßigten, der „Weimarer Eugenik“, die mit der „völkischen Rassenhygiene“ nicht identisch ist, gleichzeitig aber bestimmte Anschauungsfelder mit ihr teilt. Beide verweisen auf die Gefahren einer schwerwiegenden „Ergänzung“, ja teilweise eines Bruchs mit der herkömmlichen Präventionskultur. Der Horizont der vorbeugenden Verhütung von Krankheiten durch Verhältnis- und Verhaltensoptimierung soll durch die biologische „Aufartung“ in spezifischer Weise überschritten werden. In unterschiedlichem Ausmaß wird eine Weigerung deutlich, Kranke, Behinderte, Unnormale oder gar bestimmte als „fremdrassig“ definierte Bevölkerungsgruppen überhaupt noch als legitimen Teil der Gesellschaft zu akzeptieren. Als Sozialideal eines großen Teils der „eugenischen“ Bewegung erscheint mit unterschiedlichen Nuancierungen der angepaßte, der leistungsstarke, der erbgesunde und an einem zahlreichen, gesunden Nachwuchs orientierte, der solide (Klein-)Bürger, der der „Degeneration“ der Gesellschaft entgegenwirkt. Die in diesem Sinne Normalen und Starken sollen zu ihrem Vorteil von den Schwachen und Unnormalen befreit werden. Die Menschen sollen das Produkt ebenso „wohldefinierter“ wie fremder „eugenischer“ Absichten werden. Sich insbesondere in der Weltwirtschaftskrise aufdrängende sozialökonomische Ursachen der „Gesellschaftsdegeneration“, die ganze Vielfalt der Entstehungsfaktoren von Krankheit, Gesundheit, „Normalität“ und „Abweichung“ geraten in den Hintergrund, biologische Erklärungsmuster treten einen Siegeszug an. Sowohl die „liberale“ und „gemäßigte“, sich mit zahlreichen politischen Strömungen verbindende „Eugenik“, als auch die dem rechten politischen Spektrum zuzuordnende rassistische Variante, die „Rassenhygiene“, lassen sich in einen globalen Zusammenhang einordnen, in eine internationale Bewegung für „Eugenik“ und „Rassenhygiene“ im 20. Jahrhundert. Insbesondere die Vereinigten Staaten mit ihren zahlreichen negativeugenischen Maßnahmen und ihren Strategien zur Pflege der weißen bzw. „kaukasischen Rasse“, mit ihrer Politik der Rassentrennung, bilden schon vor 1933 so etwas wie das „gelobte Land“ für eine eng verzahnte, mehr oder weniger global orientierte und in einem engen Austauschverhältnis stehende Expertenschaft.444 So existieren bereits vor 1933 als vermeintlich erstrebenswerte Zukunftsvisionen nicht nur die Bilder des Betriebsfriedens, der industriellen Führerschaft und der ständischen Ordnung, sondern auch solche der „Volksaufartung“ und Volksmehrung auf der einen, des „Rassenschutzes“ und der „Rassenpflege“ auf der anderen Seite. Konzipiert ist bereits auch die geschlossene, „biologisch homogene“, von ihren „Feinden“ und „Fremden“ gesäuberten „Betriebs-“ und „Volksgemeinschaft“. Hinzu treten auch Konzeptionen der (Ost-)Siedlung zur Ausdehnung und Stärkung eines „rassisch“ und kulturell-politisch homogenen Nationalstaats. Es wird außerdem das Prinzip der Rechtsgleichheit in Frage gestellt und eine Zuweisung oder Verweigerung von Rechten und Pflichten in Abhängigkeit von der Rassenzugehörigkeit bzw. „Deutschstämmigkeit“ erwogen. Schließlich eignen sich die biologisch fundierten Anschauungen, um jene Zukunftsprojekte und Fragen aus spezifischer Sicht zu illustrieren und zu vertiefen, die das „nationale Deutschland“ mit besonderer Intensität bewegen: Die Revision der Versailler Ordnung, der kommende, wiederum als unvermeid444 Zu dieser internationalen Dimension vgl.: Kühl, Stefan: The Nazi Connection. New York, Oxford 1994; derselbe: Die Internationale der Rassisten. Frankfurt a.M., New York 1997; der neben dem Begriff „white race“ gebräuchliche Begriff der „caucasian race“ geht auf eine Schrift von Johann Friedrich Blumenbach (1752 - 1840) zurück (De generis humani varietate nativa liber), die erstmals im Jahre 1775 erscheint und im 19. Jahrhundert auch in englischer Übersetzung vorliegt.

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lich angesehene Völkerkampf, das Bewegungsgesetz des Auf- und Abstiegs der Nationen. So kann man, in Abwandlung einer Einsicht des Schriftstellers Thomas Mann, diese sozialpolitischen Projekte auch beschreiben als Vorüberlegungen zu einem „Sich-in-FormBringen“ Deutschlands „...für harte und finstere, der Humanität spottende Läufte.“445 Inhaltliche Affinitäten, der gemeinsame Grundansatz einen Neubeginn der Sozialpolitik im „Geiste“ von Gemeinschaft, Führertum, Stand und Rasse unter Abbruch der demokratischen Entwicklung zu starten, erleichtert es insbesondere den im nationalistischen Milieu verankerten Vertretern einer „neuen Sozialpolitik“, sich in der offenen und vagen Programmatik und Ideologie der NS-Bewegung „wiederzuerkennen“.446 Wirklich „Interessant“ werden diese Übereinstimmungen und wird diese Partei bzw. Bewegung für die Organisationen und Vertreter einer „neuen Sozialpolitik“ jedoch erst mit dem Anschwellen der NSDAP und ihrer Unterorganisationen zu einer gewaltigen und gewalttätigen Massenbewegung im Zuge der Zerstörung des „demokratischen Sozialstaats“ und der Weimarer Republik. Mit dem Wahlerfolg der NSDAP am „schwarzen Sonntag“, am 14. September 1930, mit dem am 11. November 1931 in Bad Harzburg geschlossenen labilen Bündnis zwischen NSDAP, DNVP, Stahlhelm, Alldeutschem Verband und den sogenannten Vaterländischen Verbänden, schließlich und vor allem nach dem Reichstagswahlerfolg vom 31. Juli 1932, nach den damit einhergehenden Rekrutierungs- und Mobilisierungserfolgen, erfolgt jener keineswegs immer illusionsbefrachtete Annäherungskurs von prominenten Vertretern der „neuen Sozialpolitik“ an den Nationalsozialismus. Unübersehbar ist nunmehr die Tendenz das kommende bzw. anbrechende „Dritte Reich“ trotz mancher Vorbehalte als Ort der Einlösung eigener Vorstellungen anzusehen und sich dieser Bewegung „anzuschließen“, den sich eröffnenden Handlungsspielraum zu nutzen und den Kampf gegen den „Marxismus“ und einen „überlebten Liberalismus“ gemeinsam zu führen. Auch „Rasseexperten“ und „völkische Rassenhygieniker“, ja sogar Vertreter der gemäßigten „Eugenik“ richten schließlich ihre professions- und sozialpolitischen Hoffnungen auf den Nationalsozialismus und dieser versucht sich die Kooperation bekannter „Fachleute“ zu sichern.447 Die Vorstellung selektierender Mitakteur im Kampf um die (vermeintliche) Gesundheit, die Vervollkommnung, die „Reinheit“ und Geltung der „nordischen Rasse“ zu sein, übt eine nicht unerhebliche Anziehungskraft aus. Die von dieser Bewegung ausgehende terroristische Gewalt gegen „Links“, das zwitterhafte, halb reaktionäre, halb revolutionäre Verhältnis zur überkommenen Gesellschaft, Staatsordnung und Tradition, erst recht dubiose „Verstaatlichungsforderungen“ und die Rede vom „wahren“, „deutschen“ bzw. „nationalen Sozialismus“ tun dieser Orientierung keinen Abbruch. Zudem wird manch „beunruhigender Ansatz“ von berufenen Instanzen der NSDAP, mitunter sogar vom „Führer“ zur Beruhigung bürgerlicher Kreise „zurechtgerückt“. Der Übergang von einer Epoche der Sozialstaatsentwicklung in eine andere erfolgt bei zahlreichen Kontinuitäten im Ideologischen und Personellen jedoch nicht bruchlos und ohne Modifikationen bereits vorliegender Konzepte. Es bedarf der gewaltsamen Zerstörungsarbeit, die im Zuge der Machtergreifung an den noch bestehenden Strukturen der

445 Vgl. und zitiert nach: Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene...a.a.O.(=Anm. 260), 11. 446 Vgl. dazu konzeptionell: Raphael, Lutz: Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime. In: Geschichte und Gesellschaft, 27(2001)1, 5 - 40. 447 Zu Details vgl.: Weingart, Peter, Kroll, Jürgen, Bayertz, Kurt: Rasse...a.a.O.(=Anm. 260), 384 ff.

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Demokratie ausgeübt wird, damit aus der Ideengeschichte der „neuen Sozialpolitik“ Realgeschichte werden kann.448

448 Diese Auffassung und Phaseneinteilung in Ideen- und Realgeschichte liegt der bereits mehrfach angemerkten Arbeit von Hans-Walter Schmuhl zugrunde, auch das Standardwerk von Peter Weingart, Jürgen Kroll und Kurt Bayertz folgt diesem Muster. Bei der geringen ideologischen „Eigensubstanz“ der NS-Bewegung lassen sich derartige ideengeschichtliche „Vorläufer“ natürlich auch für zahlreiche andere Gebiete der NS-Politik ermitteln; vgl. z.B.: Elvert, Jürgen: Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918 - 1945). Stuttgart 1999.

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„Doch seien wir uns dessen bewußt, daß mit der A u s m e r z e u n d A u s l e s e , die durch unsere rassenhygienische und rassenpolitische Gesetzgebung eingeleitet werden, noch nichts erreicht ist, wenn wir nicht durch p o s i t i v e b e v ö l k e r u n g s p o l i t i s c h e M a ß n a h m e n die Familiengründung und die ausreichende Fortpflanzung der wertvollen erbgesunden deutschen Menschen erreichen ... Ich sehe es als die größte Aufgabe und Pflicht der Regierung der nationalen Revolution an, die A u f a r t u n g u n d B e s t a n d s e r h a l t u n g u n s e r e s d e u t s c h e n V o l k e s im Herzen Europas zu gewährleisten. Uns bei dieser Aufgabe zu unterstützen, darum bitte ich Sie. Es ist auch der Zweck der heutigen Tagung.“1 „Die Hervorhebung des F ü h r e r g e d a n k e n s in der deutschen Wirtschaft, die B e s e i t i g u n g d e r u n s e l i g e n K l a s s e n g e g e n s ä t z e , unter denen die deutsche Wirtschaft zusammengebrochen ist, und die Hervorhebung des Begriffs der sozialen Ehre in der Wirtschaftsführung sind die nationalen und sozialistischen Grundpfeiler, auf denen dieses neue Werk errichtet ist. Der U n t e r n e h m e r erhält als Führer des Betriebes die verantwortliche Stellung, die ihm nach den Grundsätzen nationalsozialistischer Weltanschauung nach dem Führerprinzip zukommt. Daß die Freiheiten, die ihm gegeben sind, richtig verwertet werden, und daß aus den verliehenen Rechten nicht eine Willkürherrschaft im Betrieb entsteht, dafür sorgt die s o z i a l e E h r e n g e r i c h t s b a r k e i t , die wohl zum erstenmal in der ganzen Welt durch dieses Gesetz begründet worden ist.“2 „Sozialpolitik ist ... kein mitleidiges Almosenspenden, sie ist auch keine Versicherungsprämie gegen die unvermeidlichen Schäden des Kapitalismus. Noch weniger ist sie Vorstufe und Wegbereiterin eines internationalen Sozialismus. Sozialpolitik ist nach nationalsozialistischer Auffassung als wesentlicher Bestandteil einer gesunden, verantwortungsbewussten Staatspolitik die Mitgestalterin des völkischen Gesamtschicksals durch beste Ordnung der Lebensbedingungen, die unser Volk zu höchsten Leistungen und damit zugleich zum höchsten Lebensstandard befähigen.“3

4.1 Die Entwicklung bis zur Entfesselung des Zweiten Weltkrieges 4.1.1 Die politischen und sozialen Ausgangsbedingungen Der äußeren Form nach handelt es sich bei der Regierung Hitler zunächst um eine Koalitionsregierung und die Nationalsozialisten sehen sich in dem „Kabinett der nationalen Konzentration“ durchaus noch in ihrem Machtstreben eingeengt. „Lediglich“ drei Nationalsozialisten sind von Exponenten der deutschnationalen Rechten und von hochkonservativen 1 Bevölkerungs- und Rassenpolitik. Ansprache des Reichsministers des Innern Dr. Frick auf der ersten Sitzung des Sachverständigenbeirats für Bevölkerungs- und Rassenpolitik am 28. Juni 1933. Langensalza 1933, 11 und 17. 2 Dr. Schmitt und Seldte über Sinn und Ziel des Gesetzes. In: Kölnische Zeitung. Morgenausgabe. Nr. 29 vom 17. Januar 1934, 4; es handelt sich um einen Auszug aus der Rede von Reichsarbeitsminister Seldte aus Anlaß der Vorstellung des AOG auf einem Presseempfang im „Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda“. 3 Syrup, (Friedrich): Die deutsche Arbeitsverwaltung im Kriege. In: Reichsarbeitsblatt. Teil V, (1942)18, 328 333, hier: 328.

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Fachministern „eingerahmt“. Die Nationalsozialisten verfolgen unter diesen Bedingungen fürs erste eine scheinbar legale Taktik und eskalieren ihre Strategien der Machteroberung und Einschüchterung beginnend auf der extrem linken Seite des politischen Spektrums nur allmählich. Dennoch ist der 30. Januar 1933 der Fluchtpunkt einer unaufhaltsamen nationalsozialistischen Machtergreifung, eines fortschreitenden Prozesses der Errichtung einer Diktatur.4 Alle von den nationalen und konservativen „Regierungspartnern“, insbesondere vom Vizekanzler von Papen geäußerten Hoffnungen und Absichten, die Nationalsozialisten in der Regierung zu „zähmen“ und zu kontrollieren, erweisen sich als Wunschvorstellungen. Schritt für Schritt verschieben sich die Kräfteverhältnisse zugunsten Hitlers und seiner Anhänger. Ein Trommelfeuer von Versammlungen und Aufzügen, die Rede von der „kommenden Abrechnung“, vom „anbrechenden Volkssturm“, vom Kampf „in aller Schärfe und Schonungslosigkeit“, von „eiserner Entschlossenheit“, „brutaler Rücksichtslosigkeit“ und „fanatischem Siegeswillen“ begleitet den Prozeß der Machtergreifung. Gewalt beherrscht die Sprache der Nationalsozialisten und die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Ein Klima der Angst und Einschüchterung sowie von Recht- und Hilflosigkeit entsteht. Der Prozeß der Machtergreifung endet in der Zerstörung bzw. Gleichschaltung aller zentralen institutionellen Gegenkräfte und traditionellen Schranken der Regierungsgewalt. Er kennt verschiedene „Stufen“ und ist vor dem Hintergrund des NS-Terrors und einer militanten Kampfrhetorik mit wegweisenden Entscheidungen und Rechtsetzungsakten verbunden. Auf Betreiben Hitlers wird der Reichstag mit einer Verordnung vom 1. Februar 1933 aufgelöst. Die Neuwahl wird für den 5. März anberaumt.5 Eine „Verordnung des Reichspräsidenten über Änderung des Reichswahlgesetzes“ vom 2. Februar 1933 verschafft u.a. den „Auslandsdeutschen“ das Wahlrecht, falls sie sich am Wahltage im Inland aufhalten.6 Reichskanzler Hitler wendet sich mit einem von der Reichsregierung unterzeichneten „Aufruf an das Deutsche Volk“ bereits am 1. Februar 1933 über Rundfunk an die Öffentlichkeit und fordert: „Nun, deutsches Volk, gib uns die Zeit von vier Jahren und dann urteile und richte uns!“7 Daß sich das neue Regime jedoch keinesfalls dem Urteil des deutschen Volkes stellen möchte, wird von nun an von Tag zu Tag deutlicher. Die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes“ vom 4. Februar 19338 vermehrt die Eingriffsbefugnisse des Staates gegenüber Versammlungen, Aufzügen, Druckschriften, Sammlungen und politischen Aktionen und richtet sich in der Praxis vor allem gegen die beiden großen Linksparteien. Auch der Wahlkampf zu den Märzwahlen zeigt Züge eines gegen den politischen Gegner gerichteten Terrors. Trotzdem kann die NSDAP in dieser „halbfreien“ Wahl nur 43,9 Prozent der abgegebenen Stimmen erreichen. Insgesamt erzielt die Koa-

4 Vgl. dazu als klassische Studie: Bracher, Karl Dietrich: Stufen der Machtergreifung. Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1983 (= Bracher, Schulz, Sauer: Die nationalsozialistische Machtergreifung. Band I). 5 Vgl. die „Verordnung des Reichspräsidenten über die Auflösung des Reichstags“ vom 1. Februar 1933 und die „Verordnung über die Neuwahl des Reichstags“ vom 1. Februar 1933 (beide: RGBl. I 1933, 45). Diese Wahl soll bereits den Charakter eines Plebiszits tragen. Die Reichstagsauflösung erfolge, „...damit das deutsche Volk durch Wahl eines neuen Reichstags zu der neugebildeten Regierung des nationalen Zusammenschlusses Stellung nimmt“, vermerkt die entsprechende Rechtsquelle. 6 Vgl.: RGBl. I 1933, 45. 7 Der Aufruf ist abgedruckt bei: Rühle, Gerd: Das Dritte Reich. Das erste Jahr 1933. 2. Auflage. Berlin o.J. (1934), 29 - 32, hier: 32; er wird natürlich auch über die Presse, durch Anschläge und zahlreiche Abdrucke verbreitet. 8 Vgl.: RGBl. I 1933, 35.

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litionsregierung von NSDAP und DNVP nur 51,9 Prozent der Stimmen.9 Spitzt man jedoch die Interpretation des Wahlergebnisses auf die Frage der Zustimmung oder Ablehnung der Republik mit der darin eingebundenen „demokratischen Sozialpolitik“ einschließlich der „Weimarer Eugenik“ zu, ergibt sich das Bild, daß nunmehr beinahe zwei Drittel der Wähler für Parteien votiert haben, die erklärte Gegner der Republik sind und daß die „...republiktreuen Parteien, zu denen man 1933 allerdings weder das Zentrum noch gar die Bayerische Volkspartei mehr ohne Einschränkungen zählen konnte, ... nur noch von einem knappen Drittel der Abstimmenden gewählt..“ werden.10 Wahlstatistiken und die nunmehr gegebene Möglichkeit für die Regierung Hitler, sich auf eine parlamentarische Mehrheit zu stützen, verlieren jedoch zunehmend an Bedeutung, da Hitler den Weg des „versagenden Parlamentarismus“ verläßt und die Unterdrückungsmaßnahmen den Rahmen des jeweils rechtlich Zulässigen rücksichtslos überschreiten. Dieser Handlungsspielraum wird fortlaufend erweitert. Einen Tag nach dem Reichstagsbrand zeigt sich, daß dieses Ereignis skrupellos genutzt wird, um die Weimarer Verfassungsordnung weiter zu demontieren. Auf einen Kabinettsbeschluß hin11 erläßt Reichspräsident von Hindenburg mit Datum vom 28. Februar 1933 die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat.“12 Diese „Reichstagsbrandverordnung“ hebt wichtige persönliche und politische Grundrechte der formell weiterbestehenden Weimarer Verfassung „bis auf weiteres“ auf, kriminalisiert Widerstandshandlungen gegen die neuen Machthaber und ermöglicht Eingriffe in die Länderhoheit. Im Prinzip ist mit dieser Notverordnung „...der permanente Ausnahmezustand erklärt, und die Verfolgung sowie Terrorisierung politischer Gegner durch die Regierung erhielten damit den Schein des Legalen.“13 Eine weitere Notverordnung vom gleichen Tag, die „Verordnung des Reichspräsidenten gegen Verrat am Deutschen Volke und hochverräterische Umtriebe“ enthält weitere herrschaftssichernde Strafverschärfungen, darunter ein spezifisches Verbot der Aufforderung zum Streik.14 In den Tagen und Wochen nach der Märzwahl brechen auch auf Länder-, Kreis- und Gemeindeebene Widerstände und Barrieren gegen den nationalsozialistischen Machtanspruch in schneller Folge zusammen. Schon mit Datum vom 17. Februar 1933 weist Hermann Göring als Preußischer Minister des Innern und Kommissar des Reichs die preußische Polizei an, alles zur Förderung der „nationalen Bewegung“ zu unternehmen. Dem Treiben „staatsfeindlicher Organisationen“ sei „...mit den schärfsten Mitteln entgegenzutreten. Gegen kommunistische Terrorakte und Überfälle ist mit aller Strenge vorzugehen und, wenn nötig, rücksichtslos von der Waffe Gebrauch zu machen.“15 Er, der An9 Vgl. zu dem Wahlergebnis: Hehl, Ulrich von: Nationalsozialistische Herrschaft. München 1996, 5. 10 Vgl.: Falter, Jürgen W.: Hitlers Wähler. München 1991, 40. 11 Vgl. die Dokumente Nr. 32 und 34 bei: Minuth, Karl-Heinz (Bearb.): Die Regierung Hitler. Teil I: 1933/34. Band 1. Boppard am Rhein 1983, 128 ff. und 132 f. 12 Vgl.: RGBl. I 1933, 83. 13 Hildebrand, Klaus: Das Dritte Reich. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. München 1987, 3. 14 Vgl.: RGBl. I 1933, 85; vgl.: Ein Verbot der Aufforderung zu Streiks...In: Soziale Praxis, 42(1933)10, Sp. 313. 15 Förderung der nationalen Bewegung. RdErl. d. MdI. (KdR.) v. 17.2.1933 - I 1272/17.2.33. In: Ministerial-Blatt für die Preußische innere Verwaltung. Teil I, Ausg. A, 94(1933)9, Sp. 169; vgl. zur Gleichschaltung auf der Länder-, Kreis- und Gemeindeebene, zur Vereinfachung der Landesgesetzgebung und zu anderen Maßnahmen der Machtergreifung auch: Kaisenberg: Die Gleichschaltung. In: Reichsverwaltungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt, 54(1933)15, 281 - 284. Der Verfasser ist Ministerialrat im Reichsministerium des Innern und hat an der Ausarbeitung des in diesem Zusammenhang einschlägigen „Gleichschaltungsgesetzes“ vom 31. März 1933 (RGBl. I 1933, 153) mitgewirkt. Immer noch lesenswert: Matzerath, Horst: Nationalsozialismus und kommunale Selbstverwaltung. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1970, 61 ff.

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fang Februar 1933 von seinen Beamten preußische Tugenden und absolute Loyalität fordert und der republikanischen Beamtenschaft unverholen droht, fällt darüber hinaus dadurch auf, daß er rund 40.000 SA- und SS-Leute zu Hilfspolizisten befördert.16 Vor dem Hintergrund der beginnenden Schutzhaft-Willkür, von Massenverhaftungen, Verfolgung und Folter, der Vertreibung und Emigration und des Entstehens erster Konzentrationslager, erfolgen weitere juristische Schritte zur Festigung der Diktatur. Mit Datum vom 21. März 1933 ergeht eine Amnestie für Straftaten „nationaler Kämpfer“17 und eine „Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung“,18 die bestimmte Formen des Kampfes gegen die „nationalen Verbände“ kriminalisiert. Am 21. März tritt der neugewählte Reichstag in der Garnisonskirche zu Potsdam zusammen. Er tagt danach, wegen der Zerstörung des Reichstagsgebäudes, in der Krolloper in Berlin, wo er am 23. März, unter Ausschluß der gewählten KPD-Abgeordneten, mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, das „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1933 gegen die Stimmen der SPD beschließt.19 Mit diesem Gesetz besiegeln die Parteien von der DNVP über das Zentrum bis hin zu den bürgerlichen Mittelparteien ihre Selbstentmachtung. Gesetze, einschließlich des Haushaltsgesetzes und von Gesetzen, die die Kreditbeschaffung ermöglichen, können nunmehr, auch wenn sie verfassungsändernden Inhalt haben, durch die Reichsregierung beschlossen werden. Derartige (Regierungs-)Gesetze werden vom Reichskanzler ausgefertigt. Das gesamte Verfahren der Reichsgesetzgebung (die Artikel 68 bis 77 der Weimarer Reichsverfassung) wird für diese Form der Gesetzgebung suspendiert. So macht das „Ermächtigungsgesetz“ Hitler von der Diktaturgewalt des Reichspräsidenten unabhängig und es festigt seine Stellung im Kabinett. Dabei ist allerdings zu beachten, daß die Zahl der Kabinettsitzungen mit der Konzentration der Macht bei Hitler stark rückläufig ist. Die letzte Sitzung des Reichskabinetts findet am 5. Februar 1938 statt. Die Ressortchefs entwickeln sich zu Fachexperten für ihre Aufgabenfelder. Die Zustimmung der Reichsminister zu den Gesetzentwürfen erfolgt bald nur noch im Umlaufverfahren.20 Selbst internationale Verträge können nunmehr auf diesem Wege geschlossen werden.21 Die aus verfehlten Annahmen und aus wachsender Angst der Parteien ermöglichte „Wende“ in der Gesetzgebung, letztlich eine Fortsetzung der schon am 28. Februar 1933 verfügten Verfassungsdurchbrechung, entbindet die von Hitler geführte Regierung vom Einfluß des Parlaments und von den in der Weimarer Verfassung verkörperten Wertentscheidungen. 16 Vgl.: Hildebrand, Klaus: Das Dritte Reich...a.a.O.(=Anm. 13), 2; vgl. zu Görings „Gruß“ an die Beamtenschaft: An alle Beamten der Preußischen Inneren Verwaltung. In: Ministerial-Blatt für die Preußische innere Verwaltung. Teil I, Ausg. A., 94(1933)6, Sp. 89 f. 17 Vgl. die „Verordnung des Reichspräsidenten über die Gewährung von Straffreiheit“ vom 21. März 1933 (RGBl. I 1933, 134). 18 Vgl.: RGBl. I 1933, 135. 19 Vgl.: RGBl. I 1933, 141; vgl. aus nationalsozialistischer Sicht: Medicus, Franz Albrecht: Programm der Reichsregierung und Ermächtigungsgesetz. Berlin 1933; das Gesetz wird an diesem Tag zweimal beraten, sodann beschlossen. Noch am Abend tritt der Reichsrat zusammen und nimmt das Gesetz einstimmig zur Kenntnis. Das Gesetz wird am nächsten Tag vom Reichspräsidenten ausgefertigt und verkündet. Bei Medicus auch der Abdruck der „Erklärung der Reichsregierung“, die mit einer deutlichen Gewaltdrohung für den Fall der Ablehnung des Gesetzes endet (s. S. 14); vgl. zur Entstehung des „Ermächtigungsgesetzes“ von 1933 (und der „Ermächtigungsgesetzgebung“ seit 1914) auch: Frehse, Michael: Ermächtigungsgesetzgebung im Deutschen Reich 1914 - 1933. Pfaffenweiler 1985, 145 ff. 20 Vgl. zu diesen Modifikationen des Gesetzgebungsverfahrens die näheren Hinweise in der Einleitung zu: Minuth, Karl-Heinz (Bearb.): Die Regierung Hitler... Teil I...Band 1...a.a.O.(=Anm. 11), XV ff. 21 Vgl. zu einer kurzgefaßten Interpretation: Hildebrand, Klaus: Das Dritte Reich...a.a.O.(=Anm. 13), 3 f.

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Nach der Aus- bzw. Gleichschaltung der noch nicht nationalsozialistisch geführten Länderregierungen und der Ernennung von Reichsstatthaltern, nach analogen Maßnahmen der Machtergreifung auf kommunaler Ebene verstärkt sich der Druck auf die verbliebenen nichtnationalsozialistischen Parteien. Am 22. Juni 1933 wird die vielfältigen Terrormaßnahmen ausgesetzte SPD verboten. Danach erfolgt die rasche Selbstauflösung der übrigen Parteien. Die DNVP liquidiert sich zum 27. Juni durch Aufnahme der Abgeordneten in die NSDAP-Fraktion. Die DVP löst sich am 27. Juni, die DDP am 28. Juni, die BVP am 4. Juli und das Zentrum am 5. Juli auf. Die KPD wird nicht verboten, sie ist zu dieser Zeit bereits faktisch zerschlagen.22 Das „Gesetz gegen die Neubildung von Parteien“ vom 14. Juli 193323 zementiert diesen Zustand. Es verbietet die Aufrechterhaltung der verbotenen Parteien, die Neugründung einer Partei und erklärt die NSDAP zur einzigen politischen Partei in Deutschland. Die NSDAP als „Trägerin des deutschen Staatsgedankens“, erlangt durch das „Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat“ vom 1. Dezember 193324 den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts und wird auf höchst unklare Weise mit dem Staat „verbunden“. Die Hoheitsrechte der Länder werden weitgehend beseitigt.25 Während der Reichstag als „Akklamationsorgan“ bestehen bleibt, am 12. November 1933 erfolgt eine Scheinwahl zum Reichstag, in der die NSDAP-Einheitsliste eine „Zustimmung“ von 92,1 % erfährt, wird der Reichsrat durch ein Gesetz vom 14. Februar 1934 beseitigt.26 Durch die „Deutsche Gemeindeordnung“ vom 30. Januar 1935 wird die damals schon sehr eingeschränkte „Kommunalautonomie“ im Sinne des Führerprinzips und des Einflusses der NSDAP abschließend „ausgestaltet“.27 Die Verdrängung des politisch ambitionierten ehemaligen Vorsitzenden der DNVP, des „Medienzarens“ Alfred Hugenberg, der am 27. Juni 1933 gezwungen wird, sein Amt als Minister für Wirtschaft, Ernährung und Landwirtschaft zu verlassen, die politische Entmachtung des Vizekanzlers Franz von Papen am 26. Juli 1934, die Ernennung weiterer NS-Funktonäre zu Reichsministern, die Schaffung und entsprechende Besetzung von Sonderbehörden besiegeln den unaufhaltsamen Niedergang der Einrahmungs- und Zähmungsstrategien der hochkonservativen „Koalitionspartner“ der Regierung Hitler und verursachen eine nicht unbeträchtliche Zersplitterung der Reichsgewalt. Gegenüber dieser für die Demokratie und für den „demokratischen Sozialstaat“ zerstörerischen Entwicklung verhält sich die Arbeiterbewegung weitgehend passiv. Darüber hinaus kommt es zu fragwürdigen Annäherungsmanövern. Dabei fehlt es zunächst nicht an „kraftvollen“ Resolutionen. Die Erfolgsaussichten von Streik- und Protestaktionen oder gar eines von den Kommunisten geforderten gemeinsamen Generalstreiks werden aber an entscheidender Stelle pessimistisch beurteilt und mit Appellen an die „Besonnenheit“ unterminiert. Von einer Überbrückung der wechselseitigen Feindschaft zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus in diesen Stunden höchster Gefahr kann keine Rede sein. Der gewaltsame von der NS-Bewegung ausgehende Terror, die Schwächung der Arbeiterbewegung 22 Vgl. in diesem Zusammenhang die klassische Studie: Matthias, Erich, Morsey, Rudolf (Hg.): Das Ende der Parteien 1933. Darstellungen und Dokumente. Königstein/Ts., Düsseldorf 1979. Zahlreiche Hinweise zum Schicksal der kommunistischen Vorfeld- und Unterorganisationen enthält: Schneider, Michael: Unterm Hakenkreuz. Bonn 1999, 800 ff. 23 Vgl.: RGBl. I 1933, 479. 24 Vgl.: RGBl. I 1933, 1016. 25 Durch das „Gesetz über den Neuaufbau des Reiches“ vom 30. Januar 1934 (RGBl. I 1934, 75). 26 Vgl. das „Gesetz über die Aufhebung des Reichsrats“ vom 14. Februar 1934 (RGBl. I 1934, 89). 27 Vgl.: RGBl. I 1935, 49.

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durch die vorausgegangenen politischen und wirtschaftlichen Krisenerscheinungen, das Erlöschen des revolutionären Impulses und der Legalismus in der SPD, die Perspektive eines vermutlich aussichtslosen blutigen Bürgerkrieges unter den Bedingungen des beginnenden „Dritten Reiches“ lassen aktionsbereite Anhänger und Unterorganisationen vergeblich auf ein Kampfsignal „von oben“ warten. Lokale Protestaktionen jedoch bleiben nicht aus.28 Unterdessen häufen sich Anzeichen einer Anpassungsbewegung an den „neuen Staat“. Vor dem Hintergrund der anrollenden nazistischen Lawine und von sich häufenden Schreckensmeldungen über Terrormaßnahmen gegenüber den Gewerkschaften, gegen die die staatliche Stellen keinen Schutz mehr bieten, finden sich in Aufrufen, Reden und in der Gewerkschaftspresse Anleihen und Konzessionen an die nationale Rhetorik, Hinweise auf die nationale Bedeutung der Arbeiterorganisationen und Versuche, die Arbeiterschaft mit der Idee der „nationalen Revolution“ zu „versöhnen“. Dahinter steht weniger die Unterwerfung unter die NS-Ideologie, als vielmehr vor allem auch die Hoffnung, die Organisation zu retten und nach dem „Abwirtschaften“ der Regierung Hitler zu traditioneller gewerkschaftlicher Politik zurückkehren zu können. Als markanter Ausdruck eines solchen „Anpassungskurses“ gilt eine am 20. März 1933 vom Vorstand des ADGB beschlossene, von Theodor Leipart unterzeichnete und an Hitler adressierte Erklärung, die man jedoch überwiegend auch als Einforderung einer „demokratischen Sozialpolitik“ verstehen muß und die nur teilweise als „Loyalitätserklärung“ gewertet werden kann. Mit ihren Hinweisen auf den Tarifvertrag, die Koalitionsfreiheit, die Interessenvertretung und die notwendige Unabhängigkeit der Gewerkschaften vom Unternehmertum beinhaltet sie, neben dem Versuch, den Platz der Gewerkschaften im „neuen Staat“ zu bestimmen, Grenzen der Anpassung und ein Festhalten an Strukturmerkmalen der „demokratischen Sozialpolitik“ bzw. der Republik.29 Die traditionell national orientierten Christlichen Gewerkschaften tun sich verbal ungleich leichter, sich in den „Dienst der großen Sache“ zu stellen. Am 13. April 1933 kommt es zu einer Besprechung zwischen Vertretern des ADGB und der „Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation“ (NSBO) über die Gewerkschaftsbewegung und ihre Zukunft. Der Vertreter der NSBO, Ludwig Brucker, fordert ohne demokratische Wahlverfahren personelle Änderungen beim ADGB vorzunehmen, den Bund unter die Leitung eines Nationalsozialisten zu stellen und auf wichtige Gewerkschaftsfunktionen zu verzichten. Dies führt zum Dissens. Schließlich wird die Besprechung abgebrochen. Sie soll aber baldigst fortgesetzt und wenn möglich auch abgeschlossen werden.30 Diese Verhandlungen werden vor dem Hintergrund von terroristischen Aktionen gegen die Gewerkschaften geführt, die diese bereits im März und April zu zerstören drohen. 28 Vgl. zur SPD die ältere aber immer noch lesenswerte Darstellung von: Matthias, Erich: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands. In: Matthias, Erich, Morsey, Rudolf (Hg.): Das Ende der Parteien 1933... a.a.O.(=Anm. 22), 101 - 278; kritisch dazu u.a.: Hebel-Kunze, Bärbel: SPD und Faschismus. Frankfurt a.M. 1977. 29 Vgl. zu diesen vielbeschriebenen, hier nur angedeuteten und sehr kontrovers diskutierten Zusammenhängen: Schneider, Michael: Unterm Hakenkreuz...a.a.O.(=Anm. 22), 34 ff.; Borsdorf, Ulrich (Hg.): Geschichte der deutschen Gewerkschaften von den Anfängen bis 1945. Köln 1987, 434 ff. In einem Begleitschreiben zu der Erklärung des 20. März 1933 bittet Leipart Reichskanzler Hitler um einen Besprechungstermin. Die Erklärung wird darüber hinaus dem Reichsarbeits- und dem Reichsinnenministerium zur „gefl. Kenntnisnahme“ übersandt. Vgl.: BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 6462, Bl. 56 ff. 30 Vgl. hierzu auch: Plener, Ulla: Theodor Leipart und das gewerkschaftliche Dilemma zwischen dem 30. Januar und 2. Mai 1933. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 41(1999)2, 14 - 30, hier: 24; das Besprechungsprotokoll findet sich bei: Jahn, Peter, Brunner, Detlev (Bearb.): Die Gewerkschaften in der Endhase der Republik 1930 - 1933. Köln 1988, 888 ff.

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Schließlich werden Verhandlungen zur Schaffung einer einheitlichen Gewerkschaftsbewegung in „letzter Minute“ zwischen Vertretern der Richtungsgewerkschaften mit dem Ziel geführt, eine staatliche Zwangsgewerkschaft zu verhindern.31 Der in diesem Zusammenhang gegründete „Führerkreis der vereinigten Gewerkschaften“, in dem die Christlichen und die Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften einen unangemessen großen Einfluß haben, diskutiert Ende April den Entwurf einer „Vereinbarung der gewerkschaftlichen Spitzenverbände“. Vor allem dieser Entwurf zeigt mit seinen nationalistischen Parolen und der Nichterwähnung klassischer gewerkschaftlicher Standpunkte, wie stark die Gewerkschaften in den Bannkreis der NS-Bewegung geraten sind und welche Konzessionen inzwischen erwogen werden. Der von einem Hochschullehrer verfaßte und ernsthaft diskutierte Entwurf zielt offensichtlich auf eine „Einordnung“ und „Mitarbeit“ im „neuen Staat“.32 Höhe- und Endpunkt der in der Literatur unterschiedlich interpretierten und gewerteten Anpassungsbewegung ist die Aufforderung des Bundesausschusses des ADGB an die Gewerkschaftsmitglieder, an den Feiern des Regimes zum 1. Mai 1933 teilzunehmen. Dieser 1. Mai wird als „Feuertaufe“ für das neu geschaffene „Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda“ unter der Leitung von Joseph Goebbels als nationalsozialistische „Riesendemonstration“ geplant und durchgeführt.33 Die Sorge vor noch stärkerem Terror und nachteiligen Folgen für Gewerkschaftsmitglieder im Falle einer Verweigerung oder gar bei der Teilnahme an separaten Maifeierlichkeiten der Gewerkschaften habe bei dieser Aktion eine nicht unbedeutende Rolle gespielt, erläutert im Jahre 1945 der ehemalige Vorsitzende des ADGB Theodor Leipart. Der 1. Mai war kurz zuvor durch Gesetz zum bezahlten Staatsfeiertag, zum „Tag der nationalen Arbeit“ erklärt worden - in bewußter Negation seiner Herkunft aus der Tradition der internationalen Arbeiterbewegung.34 Die Illusion, die Gewerkschaftsorganisationen mit dieser Strategie über die Zeit eines möglicherweise bald abwirtschaftenden Kabinetts Hitler zu retten, zerrinnt bereits am 2. Mai 1933: „Am Vormittag ... wurden mit einem Schlag alle wichtigen Gebäude des ADGB und der Einzelgewerkschaften von SA- und SS-Trupps besetzt; in Verhaftung, Folter und auch Mord tobte sich der Haß der Nazis gegen die Freien Gewerkschaften aus.“35 Dem „deutschen Arbeiter“ gegenüber ist in legitimatorischer Absicht insbesondere in der NS-Presse von Mißwirtschaft, von Korruptionsfällen und von einem „Verrat“ der „Bonzen“ an den Arbeiterinteressen die Rede.36 Einen Tag später ist auch für die anderen Richtungsgewerkschaften das Ende gekommen. Sie unterstellen sich dem „Aktionskomitee zum Schutze der deutschen Arbeit“. Dieses „Aktionskomitee“ untersteht dem Nationalsozialisten Robert Ley und es führt auch die Geschäfte der zerschlagenen Freien Gewerkschaften. Damit ist das Ende der 31 Vgl.: Borsdorf, Ulrich (Hg.): Geschichte...a.a.O.(=Anm.29), 439 f. 32 Vgl. zum Dokument mit den entsprechenden Erläuterungen: Jahn, Peter, Brunner, Detlev (Bearb.): Die Gewerkschaften ...a.a.O.(=Anm. 30), 907 ff. 33 Vgl. in diesem Zusammenhang: Schellack, Fritz: Nationalfeiertage in Deutschland von 1871 bis 1945. Frankfurt a.M., Bern, New York, Paris 1990, 287 ff. Hitlers Rede zum 1. Mai 1933 ist abgedruckt bei: Sell, Karl (Bearb.):Adolf Hitler und Staatsrat Dr. Ley zum Recht der Arbeit. München 1933, 3 ff. 34 Diese „Sinnumkehr“ unschwer und klar erkennend, begrüßt die „Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“ den 1. Mai 1933 mit dem Hinweis darauf, die deutsche Reichsregierung habe den 1. Mai , „...der früher ein Tag der Bekundung sozialer Zwietracht war, in einen Feiertag der nationalen Arbeit zur Ehrung der Arbeit im Sinne der Einheit des deutschen Volkes umgewandelt.“ Vgl.: Zum Feiertag der nationalen Arbeit. 1. Mai 1933. In: Der Arbeitgeber, 23(1933)8/9, 139 - 140, hier: 140. Zum „Feiertagsgesetz“ vgl.: RGBl. I 1933, 191. 35 Schneider, Michael: Höhen, Krisen und Tiefen. In: Borsdorf, Ulrich (Hg.): Geschichte...a.a.O.(=Anm. 29), 441. 36 Vgl. z.B. die einschlägigen Materialien in: BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 6462 und 6463; entsprechendes Material auch in: BA Abt. Potsdam. R 8034 II Reichslandbund. Pressearchiv, Nr. 8227.

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„alten“ Arbeiterbewegung als Massenbewegung gekommen. „Organisatorische, weltanschauliche und politische Traditionen und Gestaltungsansprüche lebten fort in Exilorganisationen und Emigrantenzirkeln sowie in Widerstandsgruppen, Zellen und eher informellen Kontakten im Reich.“37 Von hier erfährt die kommende NS-Sozialpolitik auch ihren kritischen Kommentar, allerdings ohne daß dieser von den „Massen“ gehört werden kann und ohne die Chance, auf die sozialpolitische Entwicklung Einfluß zu nehmen.38 Sowohl die fortlaufende terroristische Unterdrückung, als auch der „Schlußakt“, die Besetzung der Gewerkschaftshäuser, hinterlassen in den demokratischen Staaten ein negatives Echo. Eine internationale Folge der Zerschlagung der deutschen Arbeiterbewegung sind Auseinandersetzungen auf der von Vertretern von Arbeit und Kapital beschickten XVII. Internationalen Arbeitskonferenz im Juni 1933. Die Angriffe richten sich insbesondere gegen den rüpelhaft auftretenden Ley als „Vertreter“ der deutschen Arbeiterschaft.39 Die Kontroversen enden mit dem in einer Erklärung vom 19. Juni 1933 angekündigten Auszug der deutschen Delegation. Dieser Vorgang wird in der deutschen Presse weidlich ausgeschlachtet. Er zieht einen „Jubelempfang“ der „Arbeiter-Delegation“ am Anhalter Bahnhof sowie eine Massenkundgebung im Berliner Lustgarten nach sich.40 Mit Schreiben des Reichsarbeitsministers vom 26. Oktober 1933 wird dem Direktor des „Internationalen Arbeitsamtes“ mitgeteilt, daß sich der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund auch auf die „Internationale Arbeitsorganisation“ beziehe. Damit endet für Deutschland eine spezifische, auf den Gegensatz von Arbeit und Kapital organisatorisch bezogene internationale sozialpolitische Zusammenarbeit, die im Jahre 1919 mit entsprechenden Bestimmungen des „Versailler Vertrags“ begonnen hatte.41

37 So zutreffend: Schneider, Michael: Unterm Hakenkreuz...a.a.O.(=Anm. 22), 785; zahlreiche Dokumente dazu bei: Mielke, Siegfried, Frese, Matthias (Bearb.): Die Gewerkschaften im Widerstand und in der Emigration 1933 1945. Frankfurt/Main 1999. 38 Zu denken ist z.B. an die „Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1934 - 1940“, die inzwischen auch gedruckt vorliegen oder an die Quellenpublikation von: Stöver, Bernd: Berichte über die Lage in Deutschland. Die Lagemeldungen der Gruppe Neu Beginnen aus dem Dritten Reich 1933 - 1936. Bonn 1996; vgl. auch die sozialpolitischen Passagen in der DDR-Dissertation von: Reuter, Elke: Grundzüge des theoretischen und politisch-ideologischen Kampfes der KPD gegen die faschistische Wirtschafts- und Sozialpolitik und ihre Folgen für die soziale Lage der Industriearbeiter in den Jahren von 1933 bis 1939. Berlin 1989 (MS). 39 Auf einem Journalistenempfang äußert er: „Wir haben denen ein Mal einen Parlamentarismus vorgezeigt, wie sie noch keinen erlebt hatten. Bei jeder neuen Abstimmung schlugen wir, der Faschist und ich, abwechselnd einander vor. Das machte die Kerls ganz nervös. Wir haben uns köstlich amüsiert. Unsere Ueberlegenheit zu Zweien gegen diese s t u p i d e M a j o r i t ä t von 28 Ländervertretern war einfach ungeheuer. Das muß energisch gebrandmarkt werden: Daß solche I d i o t e n s t a a t e n hier dieselben Rechte mit der gleichen Stimme haben sollen wie Deutschland und Italien. S t e l l e n S i e s i c h v o r : K u b a ! U r u g u a y ! B o l i v i e n ! Was weiß ich, wie sie alle heißen, d i e I d i o t e n v o n S ü d a m e r i k a n e r n ! Ich glaube, der Faschist und ich, wir hatten mehr Millionen Bevölkerung hinter uns, als die ganze übrige Blase zusammen. Und was für eine Sorte von Menschen haben die! Gegenüber uns Kulturvölkern, Deutschen und Italienern! Und sowas soll die gleichen Rechte haben wie wir! Das ist doch Marxismus in Reinkultur...“ Diese von Ley nachträglich bestrittenen aber von Dutzenden von Journalisten mitgeschriebenen Äußerungen finden sich im folgenden Beitrag: Aus Genf davongelaufen. In: Neuer Vorwärts Nr. 2 vom Sonntag, den 25. Juni 1933, 8. 40 Zu den Vorgängen aus deutscher Sicht vgl.: Die deutsche Delegation verläßt die Internationale Arbeitskonferenz. In: Soziale Praxis, 42(1933)26, Sp. 785 - 789; als Pressemeldungen etwa: Die Deutschen verlassen die Arbeitskonferenz. In: Der Angriff vom 21.06.1933, 4; sowie: Gegen die Genfer Provokationen. In: Der Angriff vom 22. Juni 1933, 5; zur „Erklärung“, die aus diesem Anlaß abgegeben wird vgl.: Deutsche Antwort an Genf. In: Vossische Zeitung Nr. 293 vom 21. Juni 1933, Morgen Ausgabe, 3. 41 Vgl.: Deutschlands Austritt aus der Internationalen Arbeitsorganisation. In: Soziale Praxis, 42(1933)45, Sp. 1301 - 1302.

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Am 10. Mai 1933 wird die Gründung der „Deutschen Arbeitsfront“ (DAF) bekannt gegeben. Sie wird Ley unterstellt, der sich zu diesem Zeitpunkt nicht durch Gewerkschaftserfahrungen, wohl aber durch Führerloyalität und „echtes Organisationstalent“ auszeichnet. Die DAF selbst gerät bald in heftige Konflikte mit der gewerkschaftsähnlichen NSBO, die im Januar 1935 schließlich in die DAF eingegliedert wird. Gegen Ende des Jahres 1933 als Einheitsverband von Arbeitnehmern und Unternehmern organisiert, unterscheidet sich die DAF grundsätzlich von den zerschlagenen Gewerkschaften.42 Sie entwickelt neben ihren Propaganda-, Schulungs-, Betreuungs- und Unterstützungseinrichtungen auch solche der verdeckten Überwachung und Bespitzelung der Arbeiter und Angestellten. Diesem Zweck dient ein bereits im Rahmen der NSBO existierender, eigenständiger Geheimdienst, das „Amt Information“. Das Ziel dieses „Amtes“ soll sein „...die unterirdischen Arbeiten des Bolschewismus und Marxismus genauestens zu verfolgen, in sie hineinzudringen...“43 Dieser bis zum Frühjahr 1938 existierende Geheimapparat spielt im Kontext und in Kooperation mit anderen Aktivitäten und Diensten eine bedeutende Rolle bei der im Mai kumulierenden Zerschlagung der Arbeiterbewegung und bei der sich in großen Terror- und Verfolgungswellen äußernden Zerstörung des sich im Untergrund reorganisierenden Arbeiterwiderstandes.44 Vor dem Hintergrund einer Umorganisation der DAF und eines Aufrufs der Reichsregierung und des Führers der DAF beschließt am 14. Dezember 1933 die Mitgliederversammlung der „Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“ die Auflösung dieses Verbandes. Er wird als wirtschafts- und sozialpolitische Abteilung in den „Reichsverband der Deutschen Industrie“ überführt.45 Damit entfällt auch die zweite schon weitgehend funktionslos gewordene „Säule“ der korporativen sozialpolitischen Ordnung der untergegangenen Weimarer Republik. Diese Entwicklung und der Hintergrund einer weit darüber hinaus reichenden Gleichschaltung gesellschaftlicher Kräfte läßt andere, teilweise traditionsreiche und für die sozialpolitische Entwicklung nicht unbedeutende Organisationen nicht unberührt. Die „Gesellschaft für Soziale Reform“ verliert den wichtigsten Teil ihrer korporativen Mitglieder. Sie wird bald auch nicht mehr von staatlicher Seite unterstützt. Schließlich wird sie, einflußlos und unbedeutend geworden, im Jahre 1936 auf Veranlassung des Reichsarbeitsministers aufgelöst. Der traditionsreiche „Verein für Socialpolitik“ gerät unter den Druck der NSDAP. Diese fordert die Umwandlung in eine nationalsozialistisch orientierte Organisation. Im Dezember 1936 beschließt er endgültig seine Auflösung. Bereits in den Jahren 1933/34 werden zahlreiche „vaterländische“ Arbeiterverbände in die entsprechenden NS42 Zu Einzelheiten und zur Literatur vgl.: Schneider, Michael: Unterm Hakenkreuz...a.a.O.(=Anm. 22), 168 ff.; vgl. dazu aus NS-Sicht: Daeschner, L.: Die Deutsche Arbeitsfront. München o.J.(1934). 43 Schreiben des W. Reichart an den NSBO-Stabsleiter E. Klapper über den Aufbau eines NSBO-Geheimdiensts vom 7.10. und 9.10.1933; wiedergeg. als Dok. 2 bei: Roth, Karl Heinz: Facetten des Terrors. Bremen 2000, 66 70, hier: 67; zu den zahlreichen Aktivitäten der DAF aus Sicht ihres Geschäftsführers: Marrenbach, Otto: Fundamente des Sieges. Die Gesamtarbeit der Deutschen Arbeitsfront von 1933 bis 1940. Berlin 1940; zum Freizeitwerk „Kraft durch Freude“ vgl.: Buchholz, Wolfhard: Die nationalsozialistische Gemeinschaft „Kraft durch Freude“. München 1976 (Diss. phil.). 44 Vorgänge und einzelne Verfolgungsmaßnahmen sind in den Akten des Bundesarchivs erhalten, bes. im Bestand NS 5 IV. Vgl. z.B. die Fälle im BA Abt. Potsdam. 62 DAF 1. NS 5 IV, Nr. 82. Spitzelmaterial über die illegale kommunistische Bewegung enthält der „vertrauliche“ nur an einen begrenzten Kreis versandte „O-Dienst. Nachrichten über die bolschewistische Bewegung“; vgl. etwa die Exemplare im BA Abt. Potsdam. 62 DAF 1. NS 5 IV, Nr. 16. 45 Vgl.: Schumann, Hans-Gerd: Nationalsozialismus und Gewerkschaftsbewegung. Hannover und Frankfurt a.M. 1958, 84.

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Organisationen eingegliedert oder aufgelöst. Das Ende der „Deutschen Industriellenvereinigung“ bzw. des „Bundes für Nationalwirtschaft und Werksgemeinschaft“ kommt Anfang des Jahres 1934.46 Das DINTA wird bei Verlust seiner direkten Anbindung an die Großindustrie schon 1933 in die DAF eingegliedert und entfaltet in diesem Rahmen nun seine vielfältigen Aktivitäten.47 Das Ende der Parteien umfaßt typischerweise auch das Ende der Existenz bzw. Legalität der parteinahen sozialpolitischen Hilfs- und Vorfeldorganisationen. Die „braune Revolution“ nimmt vor dem Hintergrund der geschilderten Entwicklungen im ersten Halbjahr von 1933 derart „ungezügelte“ Formen an, daß im Juli von höchster Stelle wiederholt ihre Beendigung befohlen wird. Die SA, in der bedeutende antikapitalistische Tendenzen verbreitet sind und die eine Fortsetzung der revolutionären Bestrebungen in Form einer „zweiten Revolution“ verlangt, wird im Zuge des „Röhm-Putsches“ zwischen dem 30. Juni und 2. Juli 1934 entmachtet. Auch etliche konservative Oppositionelle, darunter der Reichskanzler a.D. Kurt von Schleicher, fallen dieser Mordaktion zum Opfer. Gezielt nutzt Hitler den propagandistisch extrem ausgewerteten Tod des greisen Reichspräsidenten Generalfeldmarschall von Hindenburg am 2. August 1934, um sich schon durch das „Gesetz über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches“ vom 1. August in die Befugnisse des Reichspräsidenten einzusetzen.48 Diese Vorgänge führen nicht zu einem rationalen Verwaltungsaufbau. Es entwickelt sich ein Mit- und Gegeneinander einer Vielzahl staatlicher und „parteiamtlicher“ Institutionen, das durch Rivalitäten und Konkurrenzbeziehungen verschärft wird. Es entstehen aus der Dynamik der NS-Bewegung führerunmittelbare Hilfsund Exekutivapparate sowie Sonderinstitutionen mit eigenen Handlungsspielräumen, Normierungs- bzw. Gesetzgebungsbefugnissen. Letztere werden typischerweise charismatisch begabten und „bewährten“ Parteigängern Hitlers übertragen und zeichnen sich als maßnahmestaatlich orientierte Organisationen durch besondere Rücksichtslosigkeit in der Durchsetzung politischer Zielsetzungen aus. Dabei entstehen weitere Rivalitäten und Kompetenzüberschneidungen unterhalb der Führerebene und sie „...beließen infolgedessen Hitler unangefochten Zielvorgabe und Prioritätensetzung, Entscheidungsbefugnis und Handlungsspielraum.“49 Vor dem Hintergrund dieser tiefgreifenden Veränderungen des Kontextes der sozialpolitischen Entwicklung ab 1933 ermöglicht ein erster Blick auf und in die sozialpolitisch bedeutsamen Ministerien genauere Einsichten in wichtige „Werkstätten“ der kommenden „völkischen Sozialpolitik“. Vor dem Hintergrund von erneut aufbrechenden Diskussionen um einen Abbau des Reichsarbeitsministeriums tritt als Reichsarbeitsminister Franz Seldte sein Amt an.50 Dieser 46 Diese Angaben sind dem Handbuch: Die bürgerlichen Parteien in Deutschland. Band I und II. Berlin 1968 und 1970 entnommen. 47 Vgl. dazu: Frese, Matthias: Betriebspolitik im „Dritten Reich“. Paderborn 1991, 252 ff. sowie auch: Seubert, Rolf: Berufserziehung und Nationalsozialismus. Weinheim und Basel 1977, 96 ff. sowie: Das Dinta in der Deutschen Arbeitsfront. In: Soziale Praxis, 42(1933)35, Sp. 1024 - 1027. 48 Vgl.: RGBl. I 1934, 747. 49 Morsey, Rudolf: Die verfassungspolitische Entwicklung. In: Deutsche Verwaltungsgeschichte. Band 4. Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus. Stuttgart 1985, 696 - 706, hier: 703. 50 Vgl.: Regierungswechsel. In: Soziale Praxis, 42(1933)5, Sp. 156 - 157; vgl. auch: Abbau des Reichsarbeitsministeriums? In: Mockenhaupt, Hubert (Hg.): Katholische Sozialpolitik im 20. Jahrhundert. Mainz 1976, 181 - 186; den Bestrebungen entsprechend, dem Reichsarbeitsministerium vor allem auch die „Arbeitsrechts-Abteilung“ zu nehmen und diese dem Wirtschafts- und Ernährungsminister Alfred Hugenberg zu übertragen sowie den Reichsarbeitsminister für den Arbeitsdienst und die „Jugendertüchtigung“ zuständig zu machen, wird der neue Reichsarbeitsminister als Minister für „Arbeiterschaft und Jugend“ in der „Kreuz-Zeitung“ bereits begrüßt; vgl.: Der

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ist Sohn eines Fabrikbesitzers und er ist auch selbst als Fabrikant tätig gewesen. Er war im Ersten Weltkrieg Führer einer Maschinengewehrkompanie und gründete gegen Ende des Jahres 1918 den „Stahlhelm“, einen bedeutenden antirepublikanischen Wehrverband ehemaliger Frontsoldaten, der sich im Kampf gegen die „Novemberdemokratie“ hervortat, den er jahrelang leitete und der nun bald in die SA überführt werden soll. Der neue Reichsarbeitsminister übernimmt am 31. Januar seine Dienstgeschäfte. Der bisherige Amtsinhaber, Friedrich Syrup, wünscht seinem Nachfolger schon ganz im Stil der „nationalen Wende“ „...eine glückliche und erfolgreiche Tätigkeit zum Wohle von Nation, Staat und Volk.“ Staatssekretär Grieser jedoch begrüßt im Namen der Beamten-, der Angestellten- und Arbeiterschaft des Ministeriums den neuen Minister und führt aus, daß ihm „...eine Beamtenschaft zur Verfügung stehe, die, keiner Partei dienstbar, nur das Wohl des Ganzen kenne.“ Franz Seldte entgegnet, daß er völlig ungebunden sein neues Amt übernehme. Der Wahlspruch für seine Amtsführung sei der altpreußische Grundsatz: „Ich dien'.“51 Unmittelbar danach wird dem Staatssekretär Grieser durch Friedrich Syrup, der sich in den Dienst der Regierung Hitler stellt, mitgeteilt, daß der neue Reichsarbeitsminister seinen sofortigen Rücktritt verlange. Grieser bittet, da seine „...Dienste in der Sozialpolitik von der neuen Regierung nicht mehr gewünscht werden...“ um Entlassung.52 Sprechen schon diese „Indizien“ aus den ersten Stunden des „Dritten Reiches“ für einen Abbruch der bisherigen Formen der sozialpolitischen Entwicklung, so kommt noch hinzu, daß Franz Seldte als ausgesprochener Feind der Gewerkschaften bekannt ist. Neuer Staatssekretär Seldtes wird sein „Regimentskamerade“ Johannes Krohn, bis 1933 Abteilungsleiter im Reichsarbeitsministerium.53 Da die sozialpolitische Entwicklung ab 1933 den „klassischen“ Bezugspunkt der Arbeiter- und Angestelltenfrage deutlich überschreitet und sich aus dem biologistischen und rassistischen Ungeist der Epoche heraus dem völkischen Projekt der „Erb- und Rassenpflege“, der „rassischen Volksgesundung“ bzw. einer ganz spezifischen „Bevölkerungspolitik“ verschreibt, tritt zum Reichsarbeitsministerium ein weiteres sozialpolitisch aktives Ministerium hinzu, welches bis zu diesem Zeitpunkt aus sozialpolitischer Perspektive von untergeordneter Bedeutung war: das Reichsministerium des Innern (RMdI). Es handelt sich um das einzige sozialpolitisch bedeutsame Ressort, das bereits zu Beginn des „Dritten Reiches“ von einem Nationalsozialisten dominiert wird. Dieses Ministerium, das schon als Gesetzgebungs- und Schlüsselministerium wesentlich an der Vernichtung der Reste der Demokratie und der politischen Opposition mitgewirkt und die Diktatur errichten geholfen hat, wird von Wilhelm Frick, einem Juristen und alten Mitstreiter des „Führers“ geleitet.54 Frick war schon vor der Machtübertragung und Machtergreifung ein bekannter und bekennender Minister für Arbeiterschaft und Jugend. In: Neue Preußische Kreuz-Zeitung. 86. Jahrgang, Nr. 32 vom 1. Februar 1933, 1. Vgl. als zeitgenössische, aus der „Stahlhelmsicht“ argumentierende Quelle zu seinem Leben und seinen Anschauungen: Kleinau, Wilhelm: Franz Seldte. Ein Lebensbericht. Berlin o.J. (1933). 51 Vgl.: Der Minister...a.a.O.(=Anm. 50), 1. 52 Vgl.: Sozialer Rückschritt. In: Berliner Tageblatt. Morgenausgabe. 62. Jahrgang Nr. 53 vom 1. Februar 1933, 1; vgl. zu Griesers Biographie: Tennstedt, Florian: Soziale Selbstverwaltung. Geschichte der Selbstverwaltung in der Krankenversicherung. Bonn o.J. (1977), 204. 53 Eine lesenswerte Einführung in die Geschichte, die Organisation und die Aufgaben des Reichsarbeitsministeriums enthält das entsprechende Findbuch zu den Beständen des Bundesarchivs; vgl.: Simon, Ute (Bearb.): Reichsarbeitsministerium. Bestand R 41. Koblenz 1991, VII ff. 54 Vgl. zu diesem die vorzügliche Biographie von: Neliba, Günter: Wilhelm Frick. Der Legalist des Unrechtstaates. Paderborn, München, Wien, Zürich 1992; zu seiner Mitwirkung an der Machtergreifung und Konsolidierung des NS-Regimes: 73 - 159.

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Antisemit und Vertreter von rassentheoretischen Anschauungen. Er bringt bereits in den ersten Monaten des „Dritten Reiches“ das Spezifische, die „Erb- und Rassenpflege“ in den Vordergrund der Regierungsaktivitäten. Sein Ministerium kann sich auch im Zuge der regimetypischen Kompetenzzersplitterungen recht gut behaupten. Es erhält sogar im Zuge der rassistischen und erbgesundheitlichen Neuorientierung der deutschen Innenpolitik einen zuvor nicht vorhandenen administrativen Unterbau. Im Juli 1934 wird der Reichsarbeitsdienst aus dem Reichsarbeitsministerium aus- und in das Reichsministerium des Innern eingegliedert. Das Reichsinnenministerium bearbeitet traditionell das Sachgebiet „Volksgesundheit“ und „...mit dem Führererlaß vom 31. Dezember 1935 wurden die Kompetenzen für die allgemeine Fürsorge, die Wandererfürsorge und die freie Wohlfahrtspflege vom RAM auf das RMdI rückverlagert.“55 Gegenüber diesen sozialpolitischen „Schlüsselministerien“ sind zwei weitere Ressorts von eher untergeordneter Bedeutung. Es handelt sich einmal um die Verwaltungsapparate, die zunächst von dem Führer der DNVP, von Alfred Hugenberg, geleitet werden. Als dieser neben Hitler vermeintlich „starke Mann“ zum 29. Juni 1933 resigniert die Reichsregierung verläßt, folgt ihm als Wirtschaftsminister der Generaldirektor der AllianzVersicherungsgesellschaft Kurt Schmitt, dessen Staatssekretär Gottfried Feder wird, der Mitverfasser des Parteiprogramms der NSDAP. Schmitt wiederum wird im Sommer des Jahres 1934 durch den Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht ersetzt. Als Landwirtschaftsminister folgt auf Hugenberg der Reichsbauernführer und Blut und Boden Propagandist, der exponierte Vertreter des „völkischen Rassismus“ Richard Darré.56 Im Rahmen der NS-Sozialpolitik gewinnt schließlich auch das Reichsministerium der Finanzen unter der Leitung von Graf Schwerin von Krosigk an Bedeutung. Es öffnet sich vor allem auf Initiative des neuen Staatssekretärs, des prominenten Nationalsozialisten Fritz Reinhardt, den Grundgedanken der „völkischen Sozialpolitik“. Diese auf die Auflösung der politischen Opposition, auf die Beseitigung aller demokratischen bzw. traditionellen Schranken der Regierungsgewalt, auf die Nazifizierung bzw. Gleichschaltung der Gesellschaftskräfte und auf das leitende Staatspersonal gerichtete Analyse ist zu ergänzen. Hinzu treten die gewaltsam-terroristischen, rechtsbrechenden, im nachhinein „legalisierten“ sogenannten Säuberungen des gesamten unmittelbaren und mittelbaren Staatsbereichs einschließlich der Justiz nach rassistischen und politischen Kriterien. Diese gehen weit über die erwähnten personellen Umbesetzungen der Ministerialbürokratie hinaus. In den begleitenden Kommentaren zu dieser Aktion und in den sie nachträglich legalisierenden Akten der Rechtsetzung wird die Beamtenpolitik der Weimarer Republik als Akt der Begünstigung von „Schädlingen“, von „völlig ungeeigneten“ und „artfremden“ Kräften, als Zerstörung eines Korps „national zuverlässiger“, fachlich geeigneter deutscher Kräfte denunziert. Dieselben Vorwürfe richten sich gegen die Behördenangestellten und die -arbeiterschaft.57 Die „Säuberungen“, die an die Vorgänge erinnern, die 55 Sachße, Christoph, Tennstedt, Florian: Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus. Stuttgart, Berlin, Köln 1992, 29; vgl. auch den Beitrag von Rebentisch in: Deutsche Verwaltungsgeschichte. Band 4...a.a.O.(=Anm. 49), bes. 742 f. Derselbe: Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Stuttgart 1989, 91 ff. sowie: Medicus, Franz Albrecht: Das Reichsministerium des Innern. Berlin 1940. 56 Vgl. zu einigen weiterführenden Hinweisen die Beiträge von R. Morsey und W. A. Boelcke in: Deutsche Verwaltungsgeschichte. Band 4. ...a.a.O.(=Anm. 49), 696 ff., 774 ff. 57 Vgl. in diesem Zusammenhang als offizielle Meinungsäußerungen aus der an der Legalisierung der Säuberungen beteiligten Ministerialbürokratie: Seel, Hanns: Erneuerung des Berufsbeamtentums. Berlin 1933; Seel, Hans, Krause, Arthur B.: Der Behördenangestellte im Neuen Reich. Berlin 1933.

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sich nach dem „Preußenschlag“ in der preußischen Verwaltung abspielten, lassen erkennen, daß die Nationalsozialisten den gesamten Staatsbereich als Beute des politischen Siegers ansehen, daß sie geradezu von einem „Wiedergutmachungsanspruch“ für den während der „Kampfzeit“ erfahrenen Widerstand und für die der Bewegung „dargebrachten“ vermeintlichen oder tatsächlichen Opfer ausgehen. Sie rücken im Rahmen lokaler Aktionen aber auch als Folge organisierter Hilfestellung in den Staatsdienst ein. Eine besondere Förderung erfahren die langjährigen Parteigenossen, die „alten Kämpfer“.58 Juden und republikanische Beamte, Angestellte und Arbeiter, insbesondere erklärte NS-Gegner werden aus ihren Dienststellen und Ämtern vertrieben, ohne daß sich die nachrückenden „nationalen Kräfte“ auf die Besetzung nur der gewaltsam frei gemachten Stellen beschränken. Die „national“ eingestellten Kräfte, auf die der Nationalsozialismus nicht verzichten kann, antworten auf diese Aktionen mit einer Eintrittswelle in die NSDAP und ihre Nebenorganisationen. Vorübergehend wird die Möglichkeit des Parteibeitritts gestoppt. Die neuen Parteimitglieder werden von den alten NSDAP-Mitgliedern als „Märzgefallene“ oder „Konjunkturritter“ verspottet. „Es wurde kein Ruhmesblatt in der Geschichte des deutschen Beamtentums, was sich in den Tagen nach dem 30. Januar abspielte.“59 Durch die angesprochene „Säuberung“ und Kollektiveinschüchterung der Beamten, der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst wird die nationalsozialistische Beherrschung und Manipulierbarkeit aller Zweige der Verwaltung gefördert. Die Möglichkeiten zu gesinnungsethischen, ideologischen oder aus dem professionellen Selbstverständnis resultierenden Oppositionshaltungen der verbliebenen nichtnationalsozialistischen Kräfte werden minimiert. Eigenmachtchancen der Bürokratie, institutionelle Hindernisse politischer Programme werden durch diese Vorgänge in gewissem Umfange zerstört. Das schließt nicht aus, daß an verschiedenen Stellen eine Tendenz, ein Bestreben der öffentlich Bediensteten zu beobachten ist, „...in einem System, das widerspruchsvolle und mit geordneter Staatstätigkeit allzuoft unvereinbare Anweisungen ungeduldig aufeinanderhäufte, wenigstens die Gesetzmäßigkeit des staatlichen Handelns gegenüber individueller Willkür und augenblicksbedingten Herrschaftslaunen zu gewährleisten.“60 Gleichzeitig ist hervorzuheben, daß die Propagierung einer „Wiederherstellung eines nationalen Berufsbeamtentums“ den Vorstellungen und Wünschen weiter Kreise der Beamtenschaft der damaligen Zeit durchaus entspricht. Vor dem Hintergrund der bereits laufenden gewaltsam-terroristischen „Säuberungen“ des gesamten Staatsapparats, kurz nach der ersten reichsweiten Boykottbewegung gegen das Judentum, wird in der Ministerbesprechung vom 7. April 1933 ein Gesetzentwurf des Reichsministeriums des Inneren diskutiert, der noch am selben Tag als „Gesetz zur Wie58 Vgl. dazu neuerdings auch: Bajohr, Frank: Parvenüs und Profiteure. Korruption in der NS-Zeit. Frankfurt a.M. 2001, 17 ff.; in der rechtsstehenden Zeitungspublizistik erscheint dies 1933 zunächst noch als Ersetzung alter Parteibuchbeamter durch neue Parteibuchbeamte mit (ebenfalls) zweifelhafter Qualifikation; vgl.: Morath, Albrecht: Berufsbeamtentum und Politik. In: Nationalliberale Correspondenz, 60(1933)37, 1 - 2. Zitiert aus: BA Abt. Potsdam. Deutsche Volkspartei. 60 Vo 1, Nr. 230, Bl. 152 f. 59 Hattenhauer, Hans: Geschichte des Berufsbeamtentums. Köln, Berlin, Bonn, München 1980, 377. Broszat führt in diesem Zusammenhang aus: „Bemerkenswert war aber die besonders hohe Quote der Neuzugänge unter Beamten und Lehrern (44 000 Beamte und 13 000 Lehrer gehörten der NSDAP vor dem 30.1.1933 an, 179 000 Beamte und 71 000 Lehrer traten ihr in den Monaten der Machtergreifung bei)... (es) waren nicht weniger als 20 Prozent aller Beamten ... Mitglieder der NSDAP...“ Diese Zahlen entsprechen der offiziellen Parteistatistik zum 1.1.1935; vgl.: Broszat, Martin: Der Staat Hitlers. 10. Aufl. München 1983, 254. 60 Vgl. mit Bezug auf die höheren Ränge der Beamtenschaft: Mommsen, Hans: Beamtentum im Dritten Reich. Stuttgart 1966, 15.

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derherstellung des Berufsbeamtentums“ (Berufsbeamtengesetz) veröffentlicht wird.61 Dieses auf der Grundlage des Ermächtigungsgesetzes vom 24. März 1933 als Regierungsgesetz verabschiedete Paragraphenwerk legalisiert und „steuert“ nunmehr die Nazifizierung der öffentlichen Verwaltung und setzt sich dabei über die Schutzvorschriften der Artikel 128 bis 130 der Weimarer Reichsverfassung „souverän“ hinweg.62 Dieses Beamtengesetz, das dem Umfang der „Säuberungsaktionen“ entsprechend, sinngemäß auch auf Angestellte und Arbeiter im öffentlichen Dienst Anwendung findet,63 wird nicht zuletzt auch wegen gesetzestechnischer Unvollkommenheiten mehrfach durch Durchführungsverordnungen konkretisiert. Es umfaßt explizit auch die Institutionen des Sozialstaats.64 Angelpunkte der Verdrängung des republikanischen Staatspersonals sind die §§ 2 und 4 des Berufsbeamtengesetzes. Nach diesen Vorschriften sind einmal die Personen aus dem öffentlichen Dienst zu entlassen, „...die seit dem 9. November 1918 (dem Tag der Abdankung des Kaisers, E.R.) in das Beamtenverhältnis eingetreten sind, ohne die für ihre Laufbahn vorgeschriebene oder übliche Vorbildung oder sonstige Eignung zu besitzen...“ Zum anderen können Beamte, Angestellte und Arbeiter entlassen werden, „...die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten...“ Diese Bestimmungen, die sich beide gegen politische Gegner richten, sollen dazu beitragen, den Umstand zu korrigieren, daß sich die demokratischen Kräfte im Zuge der Revolution zwar nicht zu einer wirklich durchgreifenden Erneuerung der monarchischen Bürokratie verständigen konnten, gleichzeitig jedoch mit gewissem Erfolg versucht haben, republikanischen Beamten Stellung und Einfluß zu verschaffen. Ähnliche Bestrebungen und Erfolge gab es auch für die Angestellten und Arbeiter. Dies geschah nicht zuletzt durch Absehen von bestimmten Ausbildungsbestandteilen, durch ihre Kompensation bzw. durch nachträglichen Erwerb. Dabei kam es auch zu gewissen nicht selten skandalisierten „Irregularitäten“ bei Stellenbesetzungen und Beförderungen. Es spricht für den nationalsozialistischen Geist dieser Gesetzgebung, daß der vor dem 30. Januar 1933 erfolgte Übertritt aus einer kommunistischen Organisation in eine solche, die sich hinter die Regierung der „nationalen Erhebung“ gestellt hat, nach einem Ergänzungsgesetz vom 20. Juli 1933 dazu führt, daß die entsprechenden Personen von diesen Entlassungsvorschriften ausgenommen werden können. Sie müssen sich allerdings in der „nationalen Bewegung“ hervorragend „bewährt“ haben. Dementsprechend werden solche Personen auch nicht von den Versagungen oder Kürzungen der Gehälter, der Ruhestandsbezüge, der Hinterbliebenenversorgung und anderer Zahlungen betroffen. Das Ergänzungsgesetz vom 20. Juli 1933 besagt auch, daß jene Beamten bzw. Angestellten und Arbeiter zu

61 Vgl.: RGBl. I 1933, 175; zur Behandlung des Gesetzentwurfs vgl. das Dok. 93 bei: Minuth, Karl-Heinz (Bearb.): Die Regierung Hitler. Teil I... Band 1... a.a.O.(=Anm. 11), 311 ff., hier 320 - 322; zur Entstehungsgeschichte vgl.: Mommsen, Hans: Beamtentum...a.a.O.(=Anm. 60), 39 ff., 151 ff. sowie: Adam, Uwe Dietrich: Judenpolitik im Dritten Reich. Düsseldorf 1979, 51 ff.; vgl. auch: Dimpker, Hinrich: Die 'Wiederherstellung des Berufsbeamtentums'. Nationalsozialistische Personalpolitik in Lübeck. Kiel 1981 (Diss. jur.). 62 Eine Möglichkeit, die sich aus Artikel 2 des Ermächtigungsgesetzes ergibt. 63 Die durch § 15 BBG gegebene Anwendbarkeit auf Angestellte und Arbeiter wird näher geregelt durch die „Zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 4. Mai 1933 (vgl. RGBl. I 1933, 233 sowie 458 und 678). 64 Vgl. den Hinweis auf die Träger der Sozialversicherung in § 1 des Gesetzes sowie: Knoll, Ernst, Heller, Wilhelm: Wiederherstellung des Berufsbeamtentums bei den Krankenkassen. Berlin 1934.

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entlassen seien, „...die sich in Zukunft im marxistischen (kommunistischen oder sozialdemokratischen) Sinne betätigen.“65 Das Berufsbeamtengesetz vom 7. April 1933 ist darüber hinaus, sieht man von gewissen „Vorläufern“ auf Landesebene ab, 66 der Beginn und Ausgangspunkt der vor allem gegen das Judentum gerichteten deutschen Rassengesetzgebung. Es enthält neben den macht- auch die rassenpolitischen Vorstellungen des NS-Regimes.67 Das Berufsbeamtengesetz ist das erste reichsweit geltende Resultat jener barbarischen Debatte zwischen Parteiideologen und Ministerialbeamten darüber, wie der zur Staatsdoktrin erhobene Rassenkult und Judenhaß am effektivsten in bürokratische und justizielle Alltagsroutine umzusetzen ist. In Übereinstimmung mit dem entsprechenden Punkt des NS-Parteiprogramms vom 24. Februar 1920 bestimmt der § 3 des Berufsbeamtengesetzes: „Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand ... zu versetzen; soweit es sich um Ehrenbeamte handelt, sind sie aus dem Amtsverhältnis zu entlassen.“ Es folgen später aufgehobene Ausnahmevorschriften für jene „nicht arischen“ Beamten (bzw. Angestellten und Arbeiter),68 die bereits seit dem 1. August 1914 Beamte gewesen sind oder die im Ersten Weltkrieg an der Front für das Deutsche Reich oder seine Verbündeten gekämpft haben oder deren Väter und Söhne im Weltkrieg gefallen sind.69 Das Verbleiben eines „nicht arischen“ Mitarbeiters70 im Dienst ist zunächst auch noch aus „dringenden Rücksichten der Verwaltung“ möglich. Das sich diese Vorschriften vor allem gegen die Juden richten, zeigt die erste Durchführungsverordnung zum Berufsbeamtengesetz, die bestimmt: „Als nicht arisch gilt, wer von nicht arischen, insbesondere jüdischen Eltern oder Großeltern abstammt. Es genügt, wenn ein Elternteil oder ein Großelternteil nicht arisch ist. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn ein Elternteil oder ein Großelternteil der jüdischen Religion angehört hat.“71 Die rassenpolitischen Vorschriften des Berufsbeamtengesetzgebung, die als eine vorübergehende Maßnahme gedacht ist, werden in das „Gesetz zur Änderung von Vorschriften auf dem Gebiete des allgemeinen Beamten-, des Besoldungs- und des Versorgungsrechts“ vom 30. Juni 1933 übernommen. Schließlich mündet diese Entwicklung im „Deutschen Beamtengesetz“ vom 26. Januar 1937.72 Schon das Gesetz vom 30. Juni 1933 65 Vgl. das „Gesetz zur Ergänzung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 20. Juli 1933 (RGBl. I 1933, 518). 66 Vgl.: Adam, Uwe Dietrich: Judenpolitik...a.a.O.(=Anm. 61), 64 f. sowie umfassender die Sammlung einschlägiger Rechtsquellen bei: Walk, Joseph (Hg.): Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Karlsruhe 1981, 3 ff. 67 Vgl.: Frick, (Wilhelm): Die Rassengesetzgebung des Dritten Reiches. München 1934, 7 f. 68 Vgl. zur Übertragung der Vorschriften des Berufsbeamtengesetzes auf Angestellte und Arbeiter wiederum die „Zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 4. Mai 1933. 69 Durchführungsvorschriften regeln die Details auch dieser Vorschrift und legen fest, was unter „Frontkämpfer“ im Sinne des Gesetzes zu verstehen ist. Den Juden war stets der Vorwurf gemacht worden, sich vor dem Dienst an der Front gedrückt und statt dessen Verwaltungsposten in der Etappe angestrebt zu haben; vgl.: Strauss, Herbert A.: Vom Sonderweg zur „Sonderbehandlung“. In: DIE ZEIT vom 7. Februar 1986, 67. Dementsprechend verschärft die dritte Durchführungsverordnung des Berufsbeamtengesetzes (RGBl. I 1933, 245) den Frontkämpferbegriff und legt fest: „Frontkämpfer ... ist, wer im Weltkrieg ... bei der fechtenden Truppe an einer Schlacht, einem Gefecht, einem Stellungskampf oder an einer Belagerung teilgenommen hat.“ 70 Der Begriff „Arier“ ist kein Begriff der damaligen Rassenkunde oder Anthropologie sondern bezeichnet sprachgeschichtlich die Indogermanen; vgl.: Adam, Uwe Dietrich: Judenpolitik...a.a.O.(=Anm. 61), 23, Fußn. 19. 71 Vgl. die „Erste Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 11. April 1933 (RGBl. I 1933, 195). 72 Vgl.: RGBl. I 1937, 39.

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greift insofern über das Berufsbeamtengesetz hinaus, „...als es deutschen Beamten bei Meidung der Dienstentlassung in Zukunft die Eingehung der Eh e mit e ine r N ich tar ier in untersagt und die künftige Berufung in das Beamtenverhältnis ausschließt, wenn der Beamtenanwärter mit einer Nichtarierin verheiratet ist.“73

4.1.2

Grundzüge der „Erb- und Rassenpflege“

So wurzelt die „Erb- und Rassenpflege“ der Nationalsozialisten letztlich in Maßnahmen aus der Phase der Machtergreifung. Unzweifelhaft und bei den skizzierten Kräfteverschiebungen und „weltanschaulichen“ Vorgaben nicht überraschend, ist es der Rassenantisemitismus, der den Kern einer nun bald beginnenden „Rassentrennungspolitik“ ausmacht. Er bedient sich des Kriteriums der Religionszugehörigkeit, der Inaugenscheinnahme und der Abstammung. Der Abstammungsnachweis, die Kriterien des „Arierparagraphen“ und der zahllosen dazu ergehenden rassenpolitisch motivierten Rechtsquellen und Schriften bestimmen über den Ein- oder Ausschluß aus der „Volksgemeinschaft“. In vielen Gesetzen und anderen Rechtsquellen, in Statuten von Verbänden, vor allem auch in entsprechenden Statuten der NSDAP und allen nationalsozialistischen Nebenorganisationen verankert, entscheidet die Erfüllung oder Nichterfüllung des Kriteriums der Zugehörigkeit zur „arischen Rasse“ über Chancen oder Chancenlosigkeit in der Gesellschaft des „Dritten Reiches“.74 Erstaunlich schnell ist damit der Übergang von der Rassenideologie und der NSParteiprogrammatik in Rechtsbegriffe und politische Praxis geschafft. Bereits im Beamtenrecht der Machtergreifungszeit wird die „abstrakte Gleichheit des Liberalismus“ zerstört und die „völkische Ungleichheit“ zum Prinzip erhoben. Die in der NS- und in der weiteren „völkischen“ Bewegung so traditionsreiche und verbreitete Gliederung und Abstufung der Menschen nach dubiosen Rassegesichtspunkten wird Rechtsnorm und Verwaltungspraxis. Weder eine wirksame innere Opposition, noch schwere Belastungen der auswärtigen Beziehungen, noch die negative Ausstrahlung auf „nichtarische Völker“, zu denen man aus machtpolitischen Erwägungen gute Beziehungen anstrebt (Japaner, Chinesen, Inder, Lateinamerikaner), halten das Regime davon ab, diesen Weg zu beschreiten.75 Diese sonderrechtliche Diskriminierung führt bei (definitorischen) Juden nicht nur zum Ausschluß aus dem öffentlichen Dienst. Sie werden bald auch nicht mehr zur Ausübung freier Berufe zugelassen, sie werden darüber hinaus von zahlreichen Leistungen einer sich als „völkisch“ verstehenden Sozialpolitik ausgeschlossen. Sie werden auch aus der Wirtschaft entfernt, zur Zwangsarbeit herangezogen, werden enteignet, steuerrechtlich diskriminiert, aus dem Kulturleben verbannt, der Freizügigkeit beraubt. Sie unterliegen einer Kennzeichnungspflicht, verlieren gegebenenfalls die Staatsangehörigkeit und schließlich ihr Leben.76 Die Juden gelten von Anfang an als völlig illegitime, als fremde Siedler im „deutschen Volksraum“ und ihre Überrepräsentanz in bestimmten Berufen dient der Recht-

73 Frick, (Wilhelm): Die Rassengesetzgebung...a.a.O.(=Anm. 67), 8. 74 Vgl. ausführlich und auf einen späteren Rechtszustand bezogen: Ulmenstein, Freiherr von: Der Abstammungsnachweis. Berlin 1941. 75 Vgl.: Hartmannsgruber, Friedrich (Bearb.): Die Regierung Hitler. Band II: 1934/35. Teilband 1. München 1999, XXXIX. 76 Vgl. als typische Schriften und frühe „Erfolgsbilanzen“: Berger, Erich: Berlin wird deutsch! Berlin 1934; Schulz, E.H., Frercks, R.: Warum Arierparagraph ? Berlin 1937.

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fertigung, sie schon bald mehr oder weniger vollständig zu verdrängen.77 Kulturelle Verarmung, Wirtschafts- und Arbeitsmarktstörungen, Versorgungsengpässe in bestimmten Bereichen, wissenschaftlicher Niedergang und andere ähnliche Erscheinungen sind den neuen Machthabern kein Hinderungsgrund, diesen von ihrer „Weltanschauung“ vorgezeichneten Weg zu gehen. Zudem läßt sich durch diese Politik so manche wirtschaftliche Konkurrenzsituation auflösen, so manche Anstellungschance realisiert sich und Karrieren können beschleunigt werden. So manches Vermögen kann vorteilhaft „arisiert“ oder auch Staatszwecken zugeführt werden. Das schon 1933 zu beobachtende Bemühen um eine „offene“ Interpretation des Begriffs „nicht arisch“ weist darauf hin, daß sich das rassistische Ausschlußkriterium auch auf weitere Bevölkerungsgruppen beziehen soll, auf Gruppen, die allesamt bereits im Diskurs früherer Tage als „unwert“ angesprochen worden sind. Zu denken ist an die entsprechende Publizistik und Politik gegenüber den „Zigeunern“. Sie teilen mit den Juden überdies das Schicksal, bereits in vergangenen Jahrhunderten einem Sonderrecht unterworfen und diskriminiert gewesen zu sein. Es waren dies Maßnahmen, die teilweise im „Dritten Reich“ neu belebt aber auch um neue der biologistischideologischen Sichtweise entsprungene Strategien ergänzt werden.78 Über weitere unerwünschte slawische, aber auch außereuropäische „Rassen“ oder „Rassenmischungen“ setzt sich eine entsprechende Diskussion fort, nunmehr allerdings unter den regimetypisch verbesserten Chancen für die Realisierung von Diskriminierungsmaßnahmen der verschiedensten Art. Vor dem Hintergrund dieser überkommenen und sich nun verallgemeinernden ideologischen Prägungen beginnt schon im Frühjahr des Jahres 1933 der sich hinziehende und nun auch äußerst folgenreiche Prozeß des Definierens, des Ermittelns, des Erfassens, des Einstufens, des Sichtbarmachens von Menschengruppen nach quasi-biologischen und nach politischen Kriterien. Die Prozesse der Assimilation und Integration werden gegenüber diesen unerwünschten Bevölkerungsgruppen mit brutaler Plötzlichkeit beendet. Archive, Kirchenbücher, Standesamtsunterlagen dienen ebenso der Erhebung bestimmter diskriminierender Merkmale oder „Geschehnisse“79, wie Fragebögen und Gutachten auf der Grundlage des „anthropologisch-rassenbiologisch“ geschulten Blicks.80 Sollen diese Instrumente das Vorliegen oder Fehlen eines „rassischen“ Ausschlußkriteriums ermitteln helfen, so 77 Vgl. als Dokumentation der entsprechenden Rechtsvorschriften: Walk, Joseph (Hg.): Das Sonderrecht für die Juden...a.a.O.(=Anm. 66) sowie als neuere Untersuchung der Judenverfolgung: Barkai, Avraham, Mendes-Flor, Paul: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Band IV. Aufbruch und Zerstörung 1918 - 1945. München 1997, 193 ff. 78 Über die Verfolgung der „Zigeuner“ bzw. Sinti und Roma informieren z.B.: Bonillo, Marion: „Zigeunerpolitik“ im Deutschen Kaiserreich 1871 - 1918. Frankfurt a.M., Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien 2001. Diese Schrift erscheint im Rahmen der von Wolfgang Wippermann herausgegebenen Sinti- und Romastudien. Als lesenswerte Studien zur Verfolgung im „Dritten Reich“ vgl.: König, Ulrich: Sinti und Roma unter dem Nationalsozialismus. Bochum 1989; Zimmermann, Michael: Verfolgt, vertrieben, vernichtet. Essen 1989 sowie: Wippermann, Wolfgang: „Wie die Zigeuner“. Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich. Berlin 1997. 79 Diese Strategien der Ausgrenzung kennen zahlreiche erschreckende Details. Dazu gehört sicher die Tätigkeit der „Kirchenbuchstelle Alt-Berlin“, ein kaum bekanntes Amt, in dessen Rahmen der evangelische Pfarrer Karl Themel seinen Beitrag zur „Aufspürung“ der Juden leistet; Vgl.: Gailus, Manfred: Für Gott, Volk, Blut und Rasse. In: DIE ZEIT Nr. 44 vom 25. Oktober 2001, 100. 80 Vgl. in diesem Zusammenhang: Aly, Götz, Roth, Karl Heinz: Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus. Frankfurt a.M. 2000. An den umfangreichen Prüfungen und Ermittlungen scheitert die geplante rasche Durchführung des Berufsbeamtengesetzes mit der Folge, daß die Durchführungsfrist verlängert werden muß; vgl.: Seel, Hanns: Erneuerung des Berufsbeamtentums. Nachtrag zum ersten bis achten Tausend. Berlin 1933, 3.

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sollen bereits im Rahmen des Vollzugs des Berufsbeamtengesetzes Selbstauskünfte, Denunziationen und Gesinnungsausforschungen, erbeutete Mitgliedschaftslisten und andere „Unterlagen“ dem Ziel dienen, die politischen Ausschluß- oder Diskriminierungskriterien zu ermitteln. Alle diese Strategien sollen dem Ziel der Schaffung einer „rassereinen“ und politisch homogenisierten Gesellschaft dienen. Bald schon nicht mehr nur an den öffentlichen Dienst, sondern an die ganze Gesellschaft adressiert, richtet sich der NS-Rassismus nicht primär auf eine „Neuordnung“ des Verhältnisses der beiden großen Gesellschaftsklassen zueinander. Er ist aus diesem Grunde weit entfernt von den klassischen, den arbeitsweltorientierten Materien der traditionellen deutschen Sozialpolitik. Er stellt in einem barbarisch-utopischen Sinne eine politische Strategie dar, die an der Vorstellung einer zu optimierenden „Nationalbiologie“ orientiert ist. Sehr wohl hinterläßt diese „Rassenpflege“ ebenso wie die Strategie einer politischen Homogenisierung bzw. Nazifizierung deutliche Spuren auch auf den Gebieten der klassischen, der arbeitsweltorientierten Materien und Institutionen der traditionellen deutschen Sozialpolitik. Sehr schnell gewinnen nicht nur die gegen „Fremdrassen“ gerichteten Maßnahmen und die politischen „Säuberungsstrategien“ an Fahrt. Auch die Konzepte der „Rassenpflege“ gewinnen unter den neuen Rahmenbedingungen an Durchsetzungskraft. Die durchaus in verschiedenen Varianten vertretene „Rassenpflege“ mit ihren spezifischen Degenerations- und Ungleichheitslehren, mit ihren imperialistischen Neigungen und Bildern, ihren Parolengebilden und Weltinterpretationen drängt in umfassender Weise nach vorne. Nach der Zerschlagung aller demokratisch-oppositionellen Kräfte, nach der Niederlage aller „Selbstkorrekturmechanismen“ einer demokratischen Gesellschaft durchdringt sie nicht nur die bereits bestehenden Bereiche der staatlichen Sozialpolitik und modifiziert diese, sie schafft sich auch jenseits der antisemitischen Maßnahmen eine eigenständige Infrastruktur, eine Apparatur der Vorbereitung und Umsetzung ihrer Strategien. Zunächst einmal „bestückt“ sich das nationalsozialistisch geleitete Reichsministerium des Innern81 mit weiterer „erb- und rassenpflegerischer Fachkompetenz“. Seit dem Mai 1933 existiert ein Sachverständigenbeirat für „Bevölkerungs- und Rassenpolitik“ als beratendes Organ und als Verbindungsglied zur nationalsozialistischen Bewegung.82 Auf der ersten Sitzung dieses Beirats, am 28. Juni 1933, entwirft Reichsinnenminister Wilhelm Frick sein umfassendes und zahlreiche Gesetzesvorhaben vorwegnehmendes erb- und rassenpflegerisches Programm.83 Von besonderer Bedeutung ist darüber hinaus eine ebenfalls bereits 1933 bestehende Sondergruppe für Staatsangehörigkeit und Rassefragen im Reichsinnenministerium, die später unter der Bezeichnung „Staatsangehörigkeit und Rasse“ vor allem an den antijüdischen Maßnahmen mitarbeitet. Mit der Abordnung des Wandsbeker Medizinalrats Arthur Gütt, eines Parteigenossen und alten Aktivisten aus der deutsch-völkischen Bewegung und Trägers eines „bewährten“ völkisch-rassenhygienischen Sendungsbewußtseins in das Reichs81 Im Jahre 1934 wird das Reichsinnenministerium mit dem entsprechenden preußischen Ressort vereint. Die offizielle Bezeichnung lautet nun „Der Reichs- und preußische Minister des Innern“. Mit der „Eingliederung“ Österreichs wird diese Bezeichnung auf Anordnung Hitlers wieder aufgegeben; vgl.: Rebentisch, Dieter: Innere Verwaltung. In: Deutsche Verwaltungsgeschichte...a.a.O.(=Anm. 49), 732 - 774, hier: 742. 82 Vgl. zu diesem Beirat, seinen Aufgaben und seinen Mitgliedern: Ganssmüller, Christian: Die Erbgesundheitspolitik im Dritten Reich. Köln, Wien 1987, 34 - 41. 83 Vgl.: Bevölkerungs- und Rassenpolitik...a.a.O.(Anm. 1); vgl. zu seinen Anschauungen auch den Inhalt einer Rede vor dem diplomatischen Korps und der ausländischen Presse vom 15. Februar 1934, veröffentlicht unter dem Titel: Frick, (Wilhelm): Die Rassengesetzgebung...a.a.O.(=Anm. 67).

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ministerium des Innern, mit der Errichtung einer besonderen „Medizinalabteilung“ unter seiner Leitung werden weitere Voraussetzungen für eine rassenideologische Innenpolitik geschaffen.84 Daneben existiert im Reichsministerium des Innern auch noch die Dienststelle eines „Sachverständigen für Rasseforschung“, die später als „Reichsstelle für Sippenforschung“ firmiert. Hinzu tritt mit teilweise „erb- und rassenpflegerischer“ Aufgabenstellung auch noch das „Reichsgesundheitsamt“ und der „Reichsausschuß für Volksgesundheitsdienst.“85 Die Umrisse dieser Infrastruktur des „Rassenstaates“86 und die entsprechenden personalpolitischen Weichenstellungen lassen sich problemlos ergänzen, etwa um einschlägige Parteiorganisationen, gleichgeschaltete und gleichgerichtete „Arbeitsgemeinschaften“. Das Bild wäre zu vervollständigen um den ab 1933 beschleunigten Vormarsch der „Erb- und Rassenpflege“ im schulischen und universitären Bereich vor allem bei der Medizinerausbildung usw. usf. Alles das trägt dazu bei, die nationalsozialistischen Vorstellungen einer „neuen Volksordnung“, die von so vielen rechtsgerichteten oder auf Anpassungskurs gegangenen Experten getragen werden, bis 1945 vollends unüberwindbar zu machen und große Schubkraft zu verleihen. Die im „Dritten Reich“ angestrebte „Erneuerung des gesamten Volks- und Staatslebens aus Rasse, Blut und Boden“87, bedarf auch auf der untersten Ebene im Staats- und Verwaltungsaufbau eines Verwaltungsträgers, der sich der „Reinigung“, der „Aufnordung“, der „Erbpflege“ verschreibt, der zumindest die notwendigerweise massenhaften Untersuchungen und die von der „völkischen Rassenhygiene“ geforderten „Feststellungen“ vornimmt. Im hohen Maße wird dies zur Aufgabe der neu gestalteten Gesundheitsämter. Die entsprechende Reorganisation des öffentlichen Gesundheitswesens ist eine Aufgabe, der sich Gütt mit aller Kraft widmet. Er trifft dabei durchaus auf heftige Widerstände, die allerdings nicht aus „fachlichen“ Motiven resultieren. Das Reichsfinanzministerium wehrt sich wegen der Kosten. Die Einzelstaaten und Gemeinden wehren sich über ihre Vertreter gegen die mit der Reform einhergehenden Zentralisierungsbestrebungen. Vertreter der NSDAP nehmen gegen die beabsichtigte staatliche Regie Stellung. Arthur Gütt, der innerhalb kürzester Zeit zu dem bis dahin ranghöchsten und mächtigsten Medizinalbeamten der deutschen Medizingeschichte avanciert, erweist sich als äußerst flexibel und hinnahmebereit, sofern der Kernpunkt seiner Vorstellungen gewahrt bleibt „...die rasche reichseinheitliche Organisation des öffentlichen Gesundheitswesens als organisatorischer Transmissionsriemen der Erb- und Rassenpflege, als Kernstück einer umfassenden Bevölkerungspolitik.“88 Das schließlich auf der Kabinettssitzung vom 3. Juli 1934 verabschiedete „Gesetz über die Ver-

84 Vgl.: Neliba, Günter: Wilhelm Frick...a.a.O.(=Anm. 54), 164; zur Biographie Gütts vgl.: Labisch, Alfons, Tennstedt, Florian: Der Weg zum „Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ vom 3. Juli 1934. Teil 2. Düsseldorf 1985, 423 f.; Gütt empfiehlt sich für seine Aufgabe mit einer umfangreichen Denkschrift mit dem Titel „Staatliche Bevölkerungspolitik“; vgl.: Neliba, Günter: Wilhelm Frick...a.a.O.(=Anm. 54), 175 ff. 85 Vgl.: Neliba, Günter: Wilhelm Frick...a.a.O.(=Anm. 54), 166 ff.; als knapper Überblick: Gütt, Arthur: Gesundheitswesen, öffentliches. In: Althaus, Hermann, Betcke, Werner (Hg.): Handwörterbuch der Wohlfahrtspflege. Dritte, völlig neubearbeitete Auflage. Berlin 1937 - 1939, Sp. 448 - 455. 86 So der Buchtitel der lesenswerten, mit einem „bibliographischen Essay“ versehenen Schrift von: Burleigh, Michael, Wippermann, Wolfgang: The racial state. Germany 1933 - 1945. Cambridge, New York, Port Chester, Melbourne, Sydney 1991. 87 So die Formel mit der das gleichgestaltete Reichsverwaltungsblatt seine Leser im Jahre 1933 begrüßt; vgl.: Das neue Deutschland...In: Reichsverwaltungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt, 54(1933)18, 341. 88 Labisch, Alfons, Tennstedt, Florian: Der Weg...Teil 2...a.a.O.(=Anm.84), 369.

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einheitlichung des Gesundheitswesens“89, das zum 1. April 1935 in Kraft tritt, genügt diesem Ziel obwohl es durch Kompromisse gezeichnet ist, die die Durchführung der Vereinheitlichung des Gesundheitswesens nicht unerheblich erschweren.90 Inhaltlich sieht das Gesetz mit gewissen Ausnahmemöglichkeiten in allen Stadt- und Landkreisen, häufig an bereits bestehende Behörden anknüpfend, Gesundheitsämter in verschiedenen Form vor. Diese werden überwiegend von staatlichen Amtsärzten geleitet und sie sind im allgemeinen auch staatliche Behörden. Das „Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ ist ein Organisationsgesetz mit nur summarischer Zuständigkeitsbeschreibung. Die zentrale Bedeutung der Gesundheitsämter ergibt sich aus den einschlägigen Gesetzen zur „Erb- und Rassenpflege“. Die Gesundheitsämter werden in unterschiedlichem Ausmaß mit der Ausführung dieser Gesetze betraut. Das Gesetz vom 3. Juli 1934 bündelt die klassischen staatlichen Aufgaben der Medizinal- und Sanitätsaufsicht, die unverzichtbaren Bestandteile der kommunalen Gesundheitsfürsorge und die nationalsozialistische „Erb- und Rassenpflege“ zu einer „Aufgabentrias.“91 In den Worten Gütts: „So wird demnach der öff en tlich e G esundh eitsd ienst zwar in Zukunft auch wie bisher die Bevölkerung vor Seuchen und Volkskrankheiten oder schädlichen Umwelteinflüssen zu bewahren haben, aber außer der Fürsorge für das Einzelwesen sind den Gesundheitsämtern und den in ihnen beschäftigten Personen nunmehr neue groß e Aufgaben der Gesundh eitspflege wie der Erb und Rassenpf lege übertragen worden, die das Ziel einer erb lichen und r assischen Vo lk sgesundung anstreben!“ 92 Dabei ist zu beachten, daß (auch) die Gesundheitsämter in den auf 1934 folgenden Jahren dem Prozeß einer Bedeutungsminderung und der Kompetenzappropriation durch Parteiorganisationen unterliegen, etwa durch das bis in die Kreise gegliederte „Amt für Volksgesundheit“ und durch entsprechende Abteilungen der DAF, so daß sich auch auf diesem Gebiet eine regimetypische „Unübersichtlichkeit“, Aufgaben- und Kompetenzüberschneidung und Konkurrenzsituation herausbildet.93 Unter den Gesetzen der „Erb- und Rassenpflege“, die dem Ziel der Herstellung eines im NS-Sinne „erbgesunden“ und „rassereinen“ Volkes dienen sollen, und die dem öffentlichen Gesundheitswesen Aufgabenstellung und Bedeutung verleihen, sind einmal solche, die den mit dem Berufsbeamtengesetz begonnen Prozeß der „Rassentrennung“, der „Säuberung des Volkskörpers“ vertiefen. Von erheblicher Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die Gesetze, die im September 1935 im Rahmen des „Reichsparteitages der Freiheit“ beschlossen werden, die berühmt-berüchtigten „Nürnberger Gesetze“.94 Durch das

89 Vgl.: RGBl. I 1934, 531; vgl. zu den abschließenden Kabinettsverhandlungen das Dok. Nr. 376 bei: Minuth, Karl-Heinz (Bearb.): Die Regierung Hitler. Teil I: 1933/34. Band 2. Boppard am Rhein 1983, 1359 - 1375, hier: 1362 f.; vgl. als umfassende Erläuterung: Gütt, Arthur: Der öffentliche Gesundheitsdienst. Berlin 1939. 90 Vgl. dazu: Labisch, Alfons, Tennstedt, Florian: Der Weg...Teil 2...a.a.O.(=Anm. 84), 371 f. 91 Dieselben, ebenda, 369; eine weitgegliederte und informationshaltige Übersicht über das öffentliche Gesundheitswesen des „Dritten Reiches“ beinhaltet das Stichwort: Gesundheitswesen. In: Meyers Lexikon. Achte Auflage. Vierter Band. Leipzig 1938, Sp. 1440 - 1444, hier: Sp. 1441 f. 92 Gütt, Arthur: Gesundheitswesen, öffentliches...a.a.O.(=Anm. 85), Sp. 455. 93 Vgl. zur NSV und ihren gesundheitspolitischen Ambitionen die gründliche Ausarbeitung von: Hansen, Eckhard: Wohlfahrtspolitik im NS-Staat. Augsburg 1991, bes. 288 ff. Als „Versuch“ einer Kompetenzharmonisierung zwischen den Gesundheitsämtern und den „Ämtern für Volksgesundheit der NSDAP“ vgl. den entsprechenden Runderlaß des Innenministeriums vom 12.03.1936 abgedruckt in: Ristow, Erich: Nachtrag zum Erbgesundheitsrecht. Stuttgart, Berlin 1936, 43 f. 94 Zu den abenteuerlichen Umständen der Entstehung der Rassengesetze von Nürnberg vgl.: Adam, Uwe Dietrich: Judenpolitik...a.a.O.(=Anm. 61), 125 ff.; neuerdings mit weiterführenden Hinweisen, Ansätzen und Korrekturen: Essner, Cornelia: Die „Nürnberger Gesetze“ oder Die Verwaltung des Rassenwahns 1933 - 1945. Paderborn 2002.

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„Reichsbürgergesetz“ vom 15. September 193595 wird der Zugehörigkeitsstatus eines „Reichsbürgers“ geschaffen: „Reichsbürger ist nur der Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, daß er gewillt und geeignet ist, in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen.“ Nur er wird als Träger der vollen politischen Rechte angesprochen. Damit solle „artfremder“ Einfluß auf das öffentliche Leben ausgeschlossen werden.96 Demgegenüber wird der Status des Staatsangehörigen abgewertet: „Staatsangehöriger ist, wer dem Schutzverband des Deutschen Reiches angehört und ihm dafür besonders verpflichtet ist.“ Mit diesem Gesetz, das an eine entsprechende Forderung des Parteiprogramms von 1920 anschließt, weicht das „Dritte Reich“ in pointierter Weise vom staatsrechtlichen Grundsatz der Gleichheit aller Staatsangehörigen ab. Die naheliegende Konsequenz der Aberkennung der Staatsangehörigkeit gegenüber „unerwünschten“ Personen und die Möglichkeit der Ergänzung des „Volkskörpers“ durch die Einbürgerung bzw. Zuwanderung von „erbgesunden“, „wertvollen“, „stammverwandten“ Menschen, ist allerdings bereits im Juli 1933 realisiert worden.97 Das Reichsbürgergesetz, das das Ziel hat, eine nach „Rassekriterien“ gestufte Zugehörigkeitsregelung zu schaffen und das eine ganze Kette von Normgebungsakten nach sich zieht, richtet sich vor allem gegen die Juden und trägt zu ihrer Ausschaltung und Vernichtung bei.98 Das Reichsbürgergesetz, so Staatssekretär Wilhelm Stuckart und Oberregierungsrat Hans Globke aus dem Innenministerium, „...verwirklicht die völkische Ordnung des deutschen Volkes auf der politischen Ebene. Es ist damit zum sichernden und tragenden Fundament der gesamten politischen Volksordnung des Dritten Reiches geworden. Kein nach der nationalsozialistischen Revolution erlassenes Gesetz ist eine so vollkommene Abkehr von der Geisteshaltung und der Staatsauffassung des vergangenen Jahrhunderts wie das Reichsbürgergesetz.“99 Ausgehend vom Staat als „völkisch-politischer Organisation“ wird damit die Staatsangehörigkeit auf eine „völkische Grundlage“ gestellt, ohne daß sich dies allein gegen die Juden richtet. Seit dem Inkrafttreten des Reichsbürgergesetzes von 1935 werden die Begriffe der „arischen“ bzw. „nichtarischen Abstammung“ des Berufsbeamtengesetzes endgültig durch die Legalbegriffe „deutsches oder artverwandtes Blut“ bzw. „nichtdeutsches oder nichtartverwandtes Blut“ ersetzt. 100 Im Zuge der zur Durchführung dieses Gesetzes ergehenden Vorschriften wird erneut und diesmal mit besonderer Gründlichkeit der Prozeß des Herausdefinierens „des Juden“ und der „jüdischen Mischlinge“ aus der Bevölkerung vorangetrieben. Das Hauptkri-

95 Vgl.: RGBl. I 1935, 1146; zur Entstehung des Gesetzes vgl. auch: Neliba, Günter: Wilhelm Frick...a.a.O. (=Anm. 54), 198 ff. sowie: Essner, Cornelia: Die „Nürnberger Gesetze“...a.a.O.(=Anm.94),113 ff. 96 Vgl.: Gütt, Arthur: Erb- und Rassenpflege. In: Althaus, Hermann, Betcke, Werner (Hg.): Handwörterbuch der Wohlfahrtspflege...a.a.O. (=Anm. 85), Sp. 259 - 277, hier: Sp. 269. 97 Durch das „Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit“ vom 14. Juli 1933 (RGBl. I 1933, 582), das sich insbesondere gegen die Einbürgerung der „Ostjuden“ während der Weimarer Republik richtet; vgl. ausführlicher: Majer, Diemut: „Fremdvölkische“ im Dritten Reich. Boppard am Rhein 1981, 195 ff.; vgl. zur rassistisch fundierten Einbürgerungspolitik auch: Gütt, Arthur: Erb- und Rassenpflege...a.a.O.(=Anm. 96), Sp. 263. 98 Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Ernst, Alexander: Das Staatsangehörigkeitsrecht im Deutschen Reich unter der Herrschaft der Nationalsozialisten und seine Auswirkungen auf das Recht der Bundesrepublik Deutschland. Düsseldorf 1999, 52 ff. 99 Stuckart, Wilhelm, Globke, Hans: Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935. Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. Sept. 1935. Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes (Ehegesundheitsgesetz) vom 18. Oktober 1935...München und Berlin 1936, 24 f. 100 Vgl.: Majer, Diemut: „Fremdvölkische“...a.a.O.(=Anm. 97), 202. Dort finden sich auch Hinweise auf neue „Legaldefinitionen“ des Judenbegriffs.

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terium ist gegenüber den Juden wiederum kein irgendwie anthropologisches sondern erneut die Religionszugehörigkeit.101 Zu den ausschließenden, den rein negativen Maßnahmen der „Rassenpflege“ gehören Gesetze, die den Abschluß „unerwünschter Ehen“ verhindern sollen. Das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ vom 15. September 1935, das „Blutschutzgesetz“, verbietet Eheschließungen „...zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes...“ und erklärt verbotswidrig geschlossene Ehen als nichtig. Es verbietet auch entsprechenden „außerehelichen Verkehr“ und bestimmt, daß Juden „weibliche Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes“ unter 45 Jahre in ihrem Haushalt nicht beschäftigen dürfen. Es verhängt für den Fall des Zuwiderhandelns gegen solche Bestimmungen (vor allem bei „Rassenschande“) hohe Zuchthaus- bzw. Gefängnisstrafen.102 Dieses Gesetz hat mit seinen Ausführungsbestimmungen, die die „Mischlingsfrage“ umfassen, komplizierte und komplexe Regelungen zur Frage der nunmehr zulässigen oder nichtzulässigen Ehen zur Folge.103 Die Auflösung bestehender „Mischehen“ wird durch eine der neuen Rechtsordnung angepaßte Rechtsprechung erleichtert.104 Durch den § 6 der „Ersten Verordnung zur Ausführung des Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ vom 14. November 1935105 soll eine Ehe auch dann nicht geschlossen werden, „...wenn aus ihr eine die Reinerhaltung des deutschen Blutes gefährdende Nachkommenschaft zu erwarten ist.“ Vor der Eheschließung muß jeder Verlobte durch ein „Ehetauglichkeitszeugnis“ des Gesundheitsamtes nachweisen, daß ein Ehehindernis im Sinne des § 6 nicht vorliegt. Die Bestimmungen richten sich explizit gegen die Eheschließung „...zwischen einem deutschblütigen Verlobten und einem Verlobten, der einer anderen artfremden Rasse als der jüdischen angehört.“106 Für den Fall des beabsichtigten Abschlusses einer genehmigungspflichtigen Ehe, lassen sich die Genehmigungsbehörden (der Reichsminister des Innern, der „Stellvertreter des Führers“) von dem „Reichsausschuß zum Schutze des deutschen Blutes“ beraten. In den Fällen des § 6 wirkt also das Gesundheitsamt „gutachtlich“ mit.107 In diesen Zusammenhang gehört auch das „Gesetz gegen Mißbräuche bei der Eheschließung und der Annahme an Kindes Statt“ vom 23. November 1933.108 Es soll nicht nur die reine Namensadoption verhindern. Auch der „rassischen Eigenart“ des Kindes soll Rechnung getragen werden. So dürfen deutsche Kinder nicht mehr von Juden

101 Vgl. insbesondere die „Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ vom 14. November 1935 (RGBl. I 1935, 1333); diese Verordnung basiert in allen wesentlichen Punkten auf einem Entwurf des „Reichsärzteführers“ Dr. Gerhard Wagner; vgl.: Adam, Uwe Dietrich: Judenpolitik...a.a.O.(=Anm. 61), 140. 102 Vgl. auch: Fenigstein-Sigg, Marianne: Das Rassestrafrecht in Deutschland in den Jahren 1933 - 1945 unter besonderer Berücksichtigung des Blutschutzgesetzes. Strasbourg o.J. (1949) (Diss. rer. pol.); vgl. auch: Rothaas, J.: Das Verbot der Beschäftigung in jüdischen Haushaltungen. In: Die Ortskrankenkasse, 23(1936)4, 273 - 274; sowie: Weigelt, Werner: Die Bedeutung des § 3 des Blutschutzgesetzes für die Sozialversicherungsträger. In: Volkstümliche Zeitschrift für die gesamte Sozialversicherung, 44(1938)13, 177 - 181. 103 Vgl.: Stuckart, Wilhelm, Globke, Hans: Reichsbürgergesetz...a.a.O.(=Anm. 99), 98 ff.; vgl. auch: Gütt, Arthur, Linden, Herbert, Maßfeller, Franz: Blutschutz- und Ehegesundheitsgesetz. München 1936, 201 ff. Zusätzlich zu diesen Kommentierungen, die allesamt von beteiligten Mitarbeitern der Ministerialbürokratie stammen, sei auf die Kommentierung eines NS-Rechtsanwalts verwiesen: Deisz, Robert: Das Recht der Rasse. München 1938. 104 Vgl.: Gütt, Arthur, Linden, Herbert, Maßfeller, Franz: Blutschutz- ...a.a.O.(=Anm. 103), 208 ff. 105 Vgl.: RGBl. I 1935, 1334. 106 Stuckart, Wilhelm, Globke, Hans: Reichsbürgergesetz...a.a.O.(=Anm. 99), 133. 107 Vgl.: Majer, Diemut: „Fremdvölkische“...a.a.O.(=Anm. 97), 187 f. 108 Vgl.: RGBl. I 1933, 979.

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angenommen werden. Die „Wohltat der Kindesannahme“ soll darüber hinaus nur noch „erbgesunden“ Kindern vermittelt werden.109 Zweifellos sind diese „Nürnberger Gesetze“ mit ihren rassistischen Ausschlußkriterien in besonders enger Weise mit den völkisch-nationalsozialistischen, dem antisemitischen Wahn der NS-Bewegung verbunden und mithin ganz besonders weit von den „solideren“ biologisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der damaligen Zeit entfernt. Das trifft nicht nur auf die verwegene Hilfskonstruktion zu, juristisch-administrativ bei der Feststellung der Rassenzugehörigkeit der Juden nicht auschließlich mit der biologischen Abstammung, sondern mit dem Rechtsbegriff der Religionszugehörigkeit der Großeltern zu arbeiten, Religionszugehörigkeit und „Rassenzugehörigkeit“ für diese Generation gleichzusetzen. Es zeigt sich auch an der Tendenz der gesetzesvorbereitenden Rassenexperten, Hitlers Schrift „Mein Kampf“ in spezifischer Weise ernst zu nehmen. Insbesondere seine völlig jenseits der Naturwissenschaften siedelnden Aussagen zur schädlichen, geradezu verhängnisvollen „Bastardierung“ wird zur Grundlage der Politik. Immerhin kennt aber die davon ausgehende Politik auch bestimmte Grenzen. Schon ganz auf der Linie eines Kampfes gegen die im Mimikry des Liberalismus, des Kapitalismus und des Bolschewismus vermeintlich nach Weltherrschaft strebende jüdische „Gegenrasse“ liegend, folgt die Rassengesetzgebung „nur“ der „Logik“ „jüdische“ und sonstwie „artfremde Rasseanlagen“ nicht weiter in den „Volkskörper“ eindringen zu lassen bzw. „fremde Blutsbeimischungen geringeren Grades“ immer „...mehr und mehr zu verdünnen und weniger in Erscheinung treten zu lassen.“110 Noch radikalere Konzepte, die von einer „absoluten“, durchschlagenden Schädlichkeit auch geringster „Blutbeimischungen“ ausgehen und die sich dann gegen alle „Mischlinge“ gerichtet hätten, können sich nicht durchsetzen. Hitler fürchtet einen zu großen Widerstand aus der betroffenen bzw. mitbetroffenen „arischen“ Bevölkerung. Aus dem der Gesetzgebung zugrundeliegenden überkommenen Ideenkonglomerat resultiert die sich in der Präambel des „Blutschutzgesetzes“ ausdrückende Auffassung, daß die „Reinheit des deutschen Blutes die Voraussetzung für den Fortbestand des Deutschen Volkes ist...“, daß man von dem „unbeugsamen Willen“ beseelt sei, die „Deutsche Nation“ auf diese Weise „für alle Zukunft“ zu sichern. Mit diesen Formeln wird an die alten Ideologeme angeknüpft, die den Aufstieg bzw. Niedergang der Völker bzw. Nationen aus der „Volksbiologie“ erklären wollten, die die „Rassen“ und den „Rassenkampf“ in den Rang eines Motors des Geschichtsprozesses heben. Darüber hinaus wird deutlich, daß es sich bei dieser Gesetzgebung um die Sicherung der Fortexistenz einer kriegerischen Gesellschaft durch Vernichtung ihrer „biologischen“ und politischen Feinde handeln soll. Die Geschichte lehre „...mit erschütternder Deutlichkeit, daß jede Vermischung mit Trägern artfremden Blutes zur Dekadenz und schließlich zum Untergang führt.“111 Nicht auf „Rassentrennung“ sondern sehr direkt auf eine „Verbesserung“ der „Rasseneigenschaften“ des deutschen Volkes zielt das gesamte „Erbgesundheitsrecht“ des „Dritten Reiches“. Das erste grundlegende Gesetz auf diesem Gebiet ist das von dem Münchener Psychiatrieprofessor Ernst Rüdin und von dem Ministerialbeamten Arthur Gütt wesentlich beeinflußte und von ihnen vorbereitete „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“

109 Vgl.: Gütt, Arthur: Erb- und Rassenpflege...a.a.O.(=Anm. 96), Sp. 263. 110 Derselbe, ebenda, Sp. 270. 111 Vgl.: Deisz, Robert: Das Recht...a.a.O.(=Anm. 103), 9.

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vom 14. Juli 1933.112 Es steht dem mit einem breiteren politischen Spektrum verbundenen „eugenischen Denken“ der Weimarer Republik nahe und ähnelt dem besprochenen preußischen Entwurf vom 30. Juli 1932. Das Gesetz ist allerdings weder von Zweifeln an der Eignung der „naturkundlichen Grundlagen eines Erbgesundheitsrechts“, an der „MendelGenetik“ und an ähnlich „urtümlichen“ Verfahren angekränkelt, noch machen sich nunmehr irgendwelche Vorbehalte gegen staatlichen Zwang auf diesem Gebiet bemerkbar.113 Nach dem Willen der Urheber und Kommentatoren soll dieses Gesetz der schon seit vielen Jahrzehnten befürchteten und diskutierten „kontraselektorischen Wirkung der Zivilisation“ dadurch entgegenwirken, daß Menschen im Falle des Vorliegens bestimmter „Erbkrankheiten“ unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden können, „...wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden.“ Der Begriff des „Nachkommen“ geht dabei bewußt über die Kinder hinaus und umfaßt mehrere Generationen. Als „Erbkrankheiten“ werden im § 1 des Gesetzes angesprochen: angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkuläres (manisch-depressives) Irresein, erbliche Fallsucht, erblicher Veitstanz (Huntingtonsche Chorea), erbliche Blindheit, erbliche Taubheit, schwere erbliche körperliche Mißbildung, ferner: schwerer Alkoholismus. Dabei ist von vornherein klar, daß es sich bei den im Gesetz angesprochenen „Krankheiten“ überwiegend um Sammelbezeichnungen für ganze Gruppen von Krankheiten handelt, daß es vor allem bei den „schweren erblichen körperlichen Mißbildungen“ Hunderte von Einzelformen gibt.114 Dieses Gesetz, das in der entscheidenden Kabinettssitzung vom 14. Juli 1933 nur noch beim Stellvertreter des Reichskanzlers, bei Franz von Papen, aus katholischer Motivation heraus Widerspruch erfährt, über den sich Hitler hinwegsetzt,115 zielt erkennbar auf „Anstaltsinsassen“ und auf die gesellschaftlichen Unterschichten, deren „ungehemmter“ Vermehrungsdrang auch in der Begründung zu diesem Gesetz angesprochen wird. Selbst das Argument der Kostenersparnis wird zu Gehör gebracht. Insgesamt ist die Fülle der Argumentationsmuster aus den Jahren und Jahrzehnten vor der „Machtergreifung“ auch auf diesem Gebiete präsent. Mit den „Erbgesundheitsgerichten“ schafft dieses Gesetz eine neue Sondergerichtsbarkeit und in den Gesundheitsämtern bzw. dem „beamteten Arzt“ findet diese Strategie eine „fachliche“ Stütze. Die „Erbgesundheitsgerichte“ sind sowohl mit einem Richter als auch mit einem beamteten Arzt sowie einem approbierten Arzt besetzt, der mit der „Erbgesundheitslehre“ besonders vertraut sein muß. Ein Zwang zur Sterilisierung liegt vor, „...wenn die Unfruchtbarmachung vom Erbgesundheitsgericht bzw. Erbgesundheitsoberge-

112 Vgl.: RGBl. I 1933, 529. Zur Entstehung vgl.: Labisch, Alfons, Tennstedt, Florian: Der Weg zum „Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ vom 3. Juli 1934. Teil 1. Düsseldorf 1985, 252 sowie: Neliba, Günter: Wilhelm Frick...a.a.O.(=Anm. 54), 174 ff. Inwieweit von diesem Gesetz bzw. der gesamten „Erb- und Rassenpflege“ der Nationalsozialisten Impulse auf das Ausland und die dortigen Diskussionen und Maßnahmen ausgehen, muß offen bleiben. Eine solche Untersuchung wäre von erheblichem Interesse. Einige zu überprüfende Hinweise gibt: Knobelsdorff, A. v.: Sozialpolitische Rundschau des Auslandes. In: Die Ortskrankenkasse, 25(1938)5, 146 - 147. 113 Die „naturwissenschaftliche“ Grundlage dieses Gesetzes wird beispielhaft und kurzgefaßt in der Einführung des einschlägigen Kommentares dargestellt; vgl.: Gütt, Arthur, Rüdin, Ernst, Ruttke, Falk (Bearb.): Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933...München 1934, 13 - 55. 114 Vgl.: Gütt, Arthur: Erb- und Rassenpflege...a.a.O.(=Anm. 96), Sp. 272. 115 Vgl. das Dok. Nr. 193 bei: Minuth, Karl-Heinz: Die Regierung Hitler...Teil I, Band 1...a.a.O.(=Anm. 11), 659 - 687, hier: 664 f.

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richt ausdrücklich durch Beschluß verfügt worden ist.116 Eine „Unfruchtbarmachung“ können die Betreffenden selbst, die gesetzlichen Vertreter, der beamtete Arzt und für „Insassen“ einer Kranken-, Heil- oder Pflegeanstalt oder einer Strafanstalt die Anstaltsleiter beantragen. Dadurch, daß die „Verordnung zur Ausführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 5. Dezember 1933117 approbierte Ärzte und andere an der Ausübung der Heilkunde Beteiligte verpflichtet, ihnen bekannt werdende Personen, die an einer „Erbkrankheit“ oder an schwerem Alkoholismus leiden, beim zuständigen Amtsarzt anzuzeigen, wird der Rechtslage nach praktisch die gesamte Bevölkerung einer „erbgesundheitlichen“ Beobachtung unterworfen. Die genaue Zahl der auf dieser Grundlage durchgeführten Sterilisierungen ist unbekannt. Im Zusammenhang mit Wiedergutmachungsprozessen wird ihre Zahl mehrfach amtlich geschätzt. Das Bundesjustizministerium geht 1959 für die Jahre von 1934 - 1945 von 350.000 aus, das Bundesfinanzministerium eher von 320.000 und eine Arbeitsgruppe des Jahres 1967 schätzt die Zahl auf höchstens 320.000.118 Aus der Sicht der Geschichtswissenschaft werden etwa 400.000 sterilisierte Menschen angenommen, „...wobei etwa 5000 - 6000 Frauen und 600 Männer zu Tode kamen.“119 Bei den Sterilisierungsgründen scheint der „angeborene Schwachsinn“, der häufig durch einen kurzen und groben „Intelligenztest“ erhoben wird, und die Schizophrenie eine große Rolle gespielt zu haben.120 Die Umsetzung des Gesetzes durch eine auf vielfältige Weise an die „Erb- und Rassenpflege“ herangeführte Ärzte- und Juristenschaft121 ist weder reibungs- noch widerspruchslos. Als organisierte Kraft mit noch bedeutendem Eigenwillen plädiert die katholische Kirche gegen den Zwang im „Sterilisierungsgesetz.“ Sie möchte vor allem eine Freistellung der Katholiken und des katholischen Personals in den entsprechenden Einrichtungen von der Mitwirkung nach diesem Gesetz erreichen. Insgesamt entspricht das „...Verhalten der Bischöfe gegenüber dem Sterilisierungsgesetz ... der vorsichtigen Politik des Episcopats gegenüber dem sich installierenden NS-Regime.“122 Dabei stellt der Katholizismus auch im „Dritten Reich“ kein „anti-eugenisches Bollwerk“ dar. Die Grenze der Eugenikfreundlichkeit ist jedoch überschritten, wenn es um die Abtreibung aus „eugenischen Gründen“, um eine „Aufnordnung“ bzw. den Rassismus (die „Rassenhygiene“ bzw. „körperliche Hochzüchtung im Sinne der Rassenhygiene“) und die „Euthanasie“ geht.123 Die Sterilisierung von Ausländern führt, wie die Theorie und Praxis der „Rassenhygiene“ überhaupt, zu einer Belastung der auswärtigen Beziehungen. Schließlich wird mit der Sterilisierung von Mischlingen („Bastarden“) im Jahre 1937, die nicht die Auslöschung von „Erbkrankheiten“ sondern die zukünftige „Reinheit“ der „nordischen Rasse“ zum Ziel hat, die Grenze zur Rassenpolitik übersprungen. Diese Grenzüberschreitung geschieht jenseits des offiziellen Apparats durch die Einschaltung anonymer Kommissionen. Damit prakti116 Gütt, Arthur, Rüdin, Ernst, Ruttke, Falk (Bearb.) Gesetz zur Verhütung...a.a.O.(=Anm. 113), 84. Dieser neue und spezifische Zweig der Gerichtsbarkeit wird in aller Eile aufgebaut; vgl.: 205 Erbgesundheitsgerichte, 31 Erbgesundheits-Obergerichte. In: Die Landgemeinde, 43(1934)12, 289. 117 Vgl.: RGBl. I 1933, 1021. 118 Vgl. dazu und zu weiteren Zahlenangaben: Bock, Gisela: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Opladen 1986, 230 ff. sowie: Ganssmüller, Christian: Die Erbgesundheitspolitik...a.a.O.(Anm. 82), 45 f. 119 Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Göttingen 1987, 362. 120 Vgl.: Ganssmüller, Christian: Die Erbgesundheitspolitik...a.a.O.(=Anm. 82), 46. 121 Vgl. denselben, ebenda, 51 - 115. 122 Derselbe, ebenda, 81. 123 Ein facettenreiches Bild der Positionen der katholischen Eugenik und ihrer Entwicklung bietet: Richter, Ingrid: Katholizismus und Eugenik in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Paderborn 2001, 313 ff.

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ziert man bereits „...im Frühjahr 1937 ein Verfahren, das in ähnlicher Form später auch bei der Tötung ‘geistig und körperlich Behinderter’ zur Anwendung kommen sollte...“124 Eine weitere Bedrohung des reibungslosen Vollzugs des Gesetzes und eine Quelle erheblicher Beunruhigung der Bevölkerung stellen die erwähnten Todesfälle bei den Sterilisierungsoperationen dar. Hinzu kommen „Verfahrensmängel“ und andere Faktoren.125 Eine durchaus bemerkenswerte Eskalationsstufe des politischen Programms der „Schaffung eines neuen Menschen und neuen Volkes“ durch staatliche Geburtenverhinderung, durch die präventive Verhinderung von Nachwuchs, dem man mit erbbiologischer Argumentation eine „Minderwertigkeit“ zuschreibt, stellt das „Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 26. Juni 1935 dar.126 Die Vorgeschichte dieses Gesetzes verweist auf die vor allem von Ärztinnen geführte Diskussion vor 1933, die das Ziel hatte, Schwangerschaftsunterbrechungen aus „eugenischen“ Gründen zu erlauben. Daß dieses Gesetz so spät kommt, hat seine spezifischen Gründe. Zu Beginn des „Dritten Reiches“ steht zunächst das bereits intensiv diskutierte Vorhaben der Zwangssterilisation im Vordergrund. Sodann wird, um dem befürchteten „Volkstod“ zu entgehen, ein Verbot von Mitteln zur Verhütung oder zur Unterbrechung von Schwangerschaften diskutiert. Eine zum 26. Mai 1933 vorgenommene Strafrechtsverschärfung erschwert bereits den Weg zur Abtreibung.127 Anfang 1934 erst gewinnt das Vorhaben einer Schwangerschaftsunterbrechung aus „erbpflegerischen“ Gründen als Ergänzung des Sterilisierungsgesetzes auf Initiative des „Reichsärzteführers“ Gerhard Wagner an Schubkraft. Nachdem sich auch Hitler für ein entsprechendes Vorhaben erklärt, werden im Reichsministerium des Innern entsprechende Gesetzesentwürfe erarbeitet. Diese enden schließlich in der Novellierung des Sterilisierungsgesetzes vom 26. Juni 1935.128 Die nunmehr freigegebene Vernichtung bereits entstandenen Lebens aus „erbpflegerischen“ Gründen, gegen die sich ohne jede Einflußchance vor allem nur noch die evangelische Kirche wendet,129 findet in einem § 10 a des Sterilisierungsgesetzes ihren Niederschlag. Eine Unterbrechung der Schwangerschaft aus „erbpflegerischen“ Gründen ist nunmehr vor Ablauf des sechsten Schwangerschaftsmonats mit Zustimmung der Schwangeren möglich. Voraussetzung ist darüber hinaus, daß „...ein Erbgesundheitsgericht rechtskräftig auf Unfruchtbarmachung einer Frau erkannt (hat), die zur Zeit der Durchführung der Unfruchtbarmachung schwanger ist...“ Zugleich schränkt diese Novelle die Unfruchtbarmachungen oder Schwangerschaftsunterbrechungen ein, die nicht nach den Vorschriften des Sterilisierungsgesetzes erfolgen sollen. Sie bedürfen der Einwilligung und sind nur noch „zur Abwendung einer ernsten Gefahr für das Leben oder die Gesundheit“ der Schwangeren erlaubt. So existiert zwar kein absoluter „Gebährzwang“ gegenüber Frauen, deren Gebähren erwünscht ist. Es werden jedoch statt des124 Ganssmüller, Christian: Die Erbgesundheitspolitik...a.a.O.(=Anm. 82), 89; bekannt ist die Sterilisierung der Kinder, die aus Verbindungen von deutschen Frauen mit „farbigen“ Soldaten des Ersten Weltkriegs hervorgegangen sind; vgl. dazu: Pommerin, Reiner: Sterilisierung der 'Rheinlandbastarde'. Düsseldorf 1979. 125 Vgl.: Ganssmüller, Christian: Die Erbgesundheitspolitik...a.a.O.(=Anm. 82), 89 ff. Die Todesfälle führen dazu, daß sich Hitler persönlich einschaltet und schließlich die Sterilisierung durch Strahlenbehandlung zugelassen wird. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Darstellung von elf Sterilisationsprozessen bei: Bock, Gisela: Zwangssterilisation...a.a.O.(=Anm. 118), 209 ff. 126 Vgl.: RGBl. I 1935, 773. 127 Vgl.: Ganssmüller, Christian: Die Erbgesundheitspolitik...a.a.O.(=Anm. 82), 116 - 119; es handelt sich um das „Gesetz zur Abänderung strafrechtlicher Vorschriften“ vom 26. Mai 1933 (RGBl. I 1933, 295). 128 Vgl. denselben, ebenda, 119 - 124. 129 Vgl. zur Stellung der Kirchen zu Sterilisierung und „Euthanasie“ vgl. auch: Nowak, Kurt: „Euthanasie“ und Sterilisierung im „Dritten Reich“. 2. Auflage. Göttingen 1980.

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sen Vorschriften erlassen, die Schwangerschaftsabbrüche und Unfruchtbarmachungen verhindern und bestrafen sollen. Als „Volksverrat“ qualifizierte Abtreibungen in den „besten deutschen Volkskreisen“ finden jedoch auch nach 1933 in erheblichem Umfang statt. Strafdrohungen und Strafen haben die „Abtreibungsseuche“ unterdrücken aber nicht „ausrotten“ können.130 Es liegt ganz auf der Linie des erb- und rassenpflegerischen Denkens und Handelns unter nationalsozialistischer Herrschaft, daß bald auch Eheschließungen zwischen Menschen „deutschen oder artverwandten Blutes“ unter „erbgesundheitlichen“ Kriterien betrachtet werden und gegebenenfalls auch verboten werden können. Diese Tendenz setzt sich schon sehr früh im Rahmen des Personenstandsrechts durch und auch ehefördernde Leistungen des Staates sollen nicht an „volksschädigende Ehen“ gegeben werden. Schon vor 1935 befaßt sich das Reichsjustizministerium mit dem Gedanken entsprechender Eheverbote.131 Nachdem entsprechende Regelungen im Rahmen der Gesetzgebung auf dem Nürnberger „Parteitag der Freiheit“ im September 1935 nicht mehr zum Tragen gekommen sind, kommt es am 25. September 1935 zu entscheidenden kommissarischen Beratungen über ein „Ehegesundheitsgesetz.“ Ihnen liegt ein von Hitler auf dem Parteitag gebilligter Entwurf zugrunde.132 Im Oktober 1935 konzentrieren sich die Verhandlungen auf die Kosten, die das angestrebte Gesetz verursachen wird. Dabei zeigt sich eine entscheidende Grenze der „Erb- und Rassenpflege“ der damaligen Zeit, die finanzielle Überforderung eines Staates, der neben der Verwirklichung einer umfassenden „Neugestaltung der Gesellschaft“ in Übereinstimmung mit rassistisch-eugenischen Kriterien auch den großen Krieg, den zweiten Anlauf zur Erringung einer Weltmachtstellung anstrebt. Das am 18. Oktober 1935 im Reichskabinett angenommene „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes (Ehegesundheitsgesetz)“133 zeigt durchaus die Spuren der fiskalischen „Zwangslage“ des damaligen Staates. Es zählt Ehehindernisse auf und verlangt, daß die Verlobten vor der Eheschließung „...durch ein Zeugnis des Gesundheitsamtes (Ehetauglichkeitszeugnis) nachzuweisen (haben), daß ein Ehehindernis... nicht vorliegt.“ Gesetzestechnische Vorkehrungen und eine erste Durchführungsverordnung sorgen jedoch dafür, daß diese Vorschrift erst später in Kraft treten soll und daß bis zu diesem Zeitpunkt ein Ehetauglichkeitszeugnis nur in Zweifelsfällen vorzulegen ist. Da die Gesundheitsämter aus Gründen ihrer personellen Ausstattung und der vielfältigen anderen Aufgaben im Zusammenhang mit der „Erb- und Rassenpflege“ hoffnungslos überfordert gewesen wären, bleibt es bei dieser „Übergangsvorschrift“. Spezielle Zeugnisse müssen nur in begründeten Zweifelsfällen vorgelegt werden.134 Eine ähnliche Ausgestaltung erfährt das „Recht des Blutschutzes“, das ebenfalls „Ehetauglichkeitszeugnisse“ kennt. Die „Vierte Durchführungsverordnung zum Sterilisierungsgesetz“ vom 31. August 1939135 schränkt die Pflicht zur Vorlage eines „Ehetauglichkeitszeugnisses“ kurz vor der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs noch weiter ein. Während des Zweiten Weltkrieges kommt es zu einer gewissen Wiederbelebung dieser Pflicht.136 Da jedoch bereits gegen Mitte der 30er Jahre „erbbiologische Karteien“ aufgebaut werden und sämtliche Aufgebote den Gesundheitsäm130 Vgl.: Bock, Gisela: Zwangssterilisation...a.a.O.(=Anm. 118), 158 ff. 131 Vgl.: Ganssmüller, Christian: Die Ehegesundheitspolitik...a.a.O.(=Anm. 82), 132 - 137. 132 Vgl.: Neliba, Günter: Wilhelm Frick...a.a.O.(=Anm. 54), 216. 133 Vgl.: RGBl. I 1935, 1246. 134 Vgl.: Ganssmüller, Christian: Die Erbgesundheitspolitik...a.a.O.(=Anm. 82), 140. 135 Vgl.: RGBl. I 1939, 543. 136 Vgl.: Ganssmüller, Christian: Die Erbgesundheitspolitik...a.a.O.(=Anm. 82), 141 f.

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tern mitgeteilt werden sollen, so daß „...rassenhygienisch unerwünschte Personen heute bereits vielerorts in weitestem Umfange bekannt sind...“137, werden zahlreiche „unerwünschte Ehen“ auf diesem Wege verhindert. Darüber hinaus sind die Standesbeamten gehalten, beim Aufgebot an jeden Verlobten die Frage nach Ehehindernissen im Sinne des „Ehegesundheitsgesetzes“ bzw. des „Blutschutzgesetzes“ zu richten.138 Die im „Ehegesundheitsgesetz“ ausgesprochenen Ehehindernisse sind ebenso umfassend wie überwiegend unbestimmt. Eine Ehe darf nicht geschlossen werden, wenn einer der Verlobten an einer ansteckenden Krankheit leidet, die „...eine erhebliche Schädigung der Gesundheit des anderen Teiles oder der Nachkommen befürchten läßt...,wenn einer der Verlobten entmündigt ist oder unter vorläufiger Vormundschaft steht...“ Eine „geistige Störung“, die, ohne daß sie eine Entmündigung nach sich zieht, die Ehe als „für die Volksgemeinschaft unerwünscht erscheinen läßt“, ist darüber hinaus ebenso ein Ehehindernis, wie das Vorliegen einer „Erbkrankheit“ im Sinne des Sterilisierungsgesetzes. Dieses Bild wäre noch um Sonderbestimmungen und Befreiungsvorschriften, um Durchführungsvorschriften und Kommentierungen zu ergänzen,139 die wiederum zeigen, wie sehr sich auch die Vorschriften des „Ehegesundheitsgesetzes“ gegen die als „antisozial“ oder „asozial“ qualifizierten Unterschichten richten sollen und in diesem Punkte den in der Weltwirtschaftskrise wuchernden dystopischen Anschauungen Rechnung tragen, die bereits vor 1933 „in Blüte“ standen. Vertieft und auf die Spitze getrieben werden die Eheschließungsbestimmungen durch Sondervorschriften für Angehörige der „Schutzstaffeln“ (SS), der Wehrmacht und Partei. Analog zu dieser Entwicklung erleichtert die Rechtsprechung schon bald die Ehescheidung durch extensive Auslegung der entsprechenden Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches. Das „im Lande Österreich“ und im „übrigen Reichsgebiet“ geltende „Ehegesetz“ vom 6. Juli 1938140 nimmt das gesamte „Blutschutz- und Ehegesundheitsrecht“ in sich auf. Es dient auch mit anderen Bestimmungen einer auf Bestandsmehrung und „-veredelung“ ausgerichteten „völkischen Sozialpolitik“. Die „unberechtigte Verweigerung der Nachkommenschaft“ oder die Anwendung „rechtswidriger Mittel“ zur Verhinderung der Geburt werden absoluter Scheidungsgrund. Objektiver Scheidungsgrund wird der „vorzeitige Eintritt der Unfruchtbarkeit“. Politische Gegnerschaft zum Nationalsozialismus kann nunmehr eine „schwere Eheverfehlung“ darstellen. Mit allen diesen hier nur unvollständig aufgeführten Vorschriften und Strategien ist die Ehe dem „größeren Ziel“, dem Ziel der „Vermehrung und Erhaltung der Art und Rasse“ untergeordnet, wie Hitler dies bereits in „Mein Kampf“ gefordert hat, ohne sich in „Details“ zu verlieren.141 Ganz im Sinne der unter den Bedingungen des „Dritten Reiches“ vollends zum Durchbruch kommenden Tendenz der Biologisierung sozialer Abweichungen, im engeren Sinne auch in Übereinstimmung mit den Standpunkten der älteren und zeitgenössischen Kriminalbiologie stehend, werden sowohl im Änderungsgesetz zum Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 26. Juni 1935 enthaltene als auch im „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ vom 24. 137 Gütt, Arthur: Erb- und Rassenpflege...a.a.O.(=Anm. 96), Sp. 268. 138 Vgl. denselben, ebenda, Sp. 269. 139 Vgl. dazu natürlich: Gütt, Arthur, Linden, Herbert, Maßfeller, Franz: Blutschutz- und Ehegesundheitsgesetz...a.a.O.(=Anm. 103). 140 Vgl.: RGBl. I 1938, 807. 141 Vgl. auch: Ramm, Thilo: Eherecht und Nationalsozialismus. In: Doeker, Günther, Steffani, Winfried (Hg.): Klassenjustiz und Pluralismus. Hamburg 1973, 151 - 166.

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November 1933 festgeschriebene Möglichkeiten der „Entmannung“ vom „erbpflegerischen“ Standpunkt aus begrüßt. So wird, nach dem Selbstverständnis der damaligen Zeit, mit der Einführung der „Entkeimung“ in Deutschland erstmals eine „naturkundliche (biologische) Verbrechensbekämpfung“ in Angriff genommen.142 Daneben könne durch eine längere Sicherheitsverwahrung eines Schwerverbrechers seiner Fortpflanzung vorgebeugt werden.143 Um bei diesem „Feldzug“ wider die „Gegenauslese“, die „individualistische“ Auffassung von Ehe und Familie, wider die „Verpöbelung der Rasse“ das Ziel, die Vermehrung der als erbgesund und wertvoll erachteten Menschen auch zu erreichen, fehlt es nicht an pronatalistischen Maßnahmen für die entsprechenden Volkskreise. Diese sind einmal propagandistischer Natur. Die „Erb- und Rassenpflege“ und der Kinderreichtum werden mit allen Aspekten auch in der Massenpresse zu einem großen Thema.144 Eine nunmehr ausufernde quasiwissenschaftliche Buch- und Broschürenproduktion zielt auf den interessierten „gebildeten“ Leser.145 Zur propagandistischen Aufwertung des Kinderreichtums wird ein „Ehrenkreuz der Deutschen Mutter“ (Mutterkreuz) gestiftet.146 Eheschulen oder (Heim-) Mütterschulen sollen verlobten oder verheirateten Frauen die „hohen Pflichten der Mutterschaft“ nahe bringen und zur hauswirtschaftlich-pädagogischen Schulung beitragen. Der „Bund Deutscher Mädel“ (BDM) engagiert sich im Sinne der Aufwertung von Mutterschaft und Kinderreichtum. 1936 wird das Stichwort vom „Geburtenkrieg“ als einem gewaltigen „Gemeinschaftskampf“ gegen den drohenden „Volkstod“ in Umlauf gebracht. Die „Kameradschaftsehe“ ohne Trauschein und vor allem ohne Nachwuchs und das „Jungferntum“ werden scharf abgelehnt. Die Geburtenbeschränkung in den Kreisen der „hochwertigen Bevölkerung“ gilt in den Augen der Nationalsozialisten als „unsittlich, unmoralisch und widernatürlich“, absichtliche Kinderlosigkeit wird als „völkischer Verrat“ qualifiziert. Der Wunsch nach Geburtenregelung sei ein Zeichen der „Minderung des biologischen Lebenswillens.“ Jede nicht zur Erhaltung des Lebens der Mutter ausgeführte Schwangerschaftsunterbrechung in Kreisen der hochwertigen Bevölkerung wird als „Anschlag auf das Dasein und die Zukunft der Nation“ qualifiziert.147 Homosexualität gilt als Untergrabung des „na-

142 Vgl.: Ristow, Erich: Nachtrag zum Erbgesundheitsrecht...a.a.O.(=Anm. 93), 237 ff.; vgl. zur Entstehung und Durchführung des damit angesprochenen „Gewohnheitsverbrechergesetzes“: Müller, Christian: Das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933. Baden-Baden 1997. Als Erläuterungen zu diesem Gesetz vgl.: Strafrechtliche Maßnahmen der Sicherung und Besserung. In: Wohlfahrtswoche, 8(1933)53, 435 - 437. Zum Projekt eines darüber hinausgehenden „allgemeinen Bewahrungsgesetzes“ vgl.: Gerl, Bruno: Die Grundlagen eines künftigen Bewahrungsgesetzes gegen Verwahrloste. In: Nationalsozialistischer Volksdient, 2(1934)12, 360 - 366. Der Verfasser, ein führender Nationalsozialist, erläutert den wahrhaft radikalen Plan eines „allgemeinen Bewahrungsgesetzes für alle minderwertigen Volkselemente.“ 143 Vgl.: Gütt, Arthur: Erb- und Rassenpflege...a.a.O.(=Anm. 96), Sp. 276. Zur Diskussion um die Einbeziehung des „eugenischen“ Prinzips in das Strafrecht im Zuge der Strafrechtsreformberatungen in den Jahren 1928 - 1932 vgl.: Schwartz, Michael: Sozialistische Eugenik. Bonn 1995, 293; vgl. zum Gesetz selbst: RGBl. I 1933, 995; die Vorschriften zur „Entmannung“ finden sich in § 42k. 144 Vgl. etwa die beinahe schon zahllosen Presseartikel in den Beständen des „Evangelischen Zentralarchivs“ in Berlin. 51/NI 66, 67, 68. 145 Von besonderer Bedeutung sind jene Publikationen, die sich an die NS-Bewegung selbst wenden; vgl. z.B.: Franke, Gustav: Vererbung, eine weltanschauliche Grundfrage. München 1937; Clauß, Ludwig Ferdinand: Rasse ist Gestalt. München 1937; es handelt sich um die Hefte 2 und 3 der „Schriften der Bewegung“. 146 Vgl. das Stichwort „Ehrenkreuz“ in: Zentner, Christian, Bedürftig, Friedemann (Hg.): Das große Lexikon des Dritten Reiches. München 1985, 139. 147 Vgl.: Stichwort „Geburtenregelung.“ Ebenda, 204; vgl. auch: Dr. Wagner über das Gesundheitswesen im Dritten Reich. In: Deutsches Ärzteblatt, 64(1934)22, 583 - 587, hier: 585.

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türlichen Lebenswillens“ und wird offiziell bekämpft.148 Zu den propagandistischen Maßnahmen treten Förderungsmaßnahmen aus dem Umkreis der NSDAP. Eine „Kinderlandverschickung“ wird von der NSV in Verbindung mit der Hitlerjugend organisiert.149 Mit dem im Dezember 1935 gegründeten und eingetragenen Verein „Lebensborn“ im Rahmen des „Rasse- und Siedlungsamtes“ der SS verbindet sich ein Programm rassistischer Menschenauslese.150 Die NSV errichtet ein „Hilfswerk Mutter und Kind“, das sich mit seinen Hilfsangeboten, wie alle erwähnten Initiativen und Maßnahmen, ausschließlich an die „erbgesunde deutsche Bevölkerung“ wendet.151 Von großer Vielgestaltigkeit sind auch die staatlichen Maßnahmen, die zur materiellen Förderung des Kinderreichtums bei deutschen „erbgesunden“ Familien ergriffen werden. Recht früh schon, im Rahmen des fünften Abschnitts des „Gesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit“ vom 1. Juni 1933,152 werden Ehestandsdarlehen für „arische“, „politisch zuverlässige“ und sowohl physisch als auch „erbgesunde“ deutsche Reichsangehörige vorgesehen. Die Heirat muß im Sinne der damaligen Anschauungen insbesondere mit Blick auf die zu erwartenden Kinder erwünscht sein.153 Mittels Durchführungsverordnungen ausgestaltet, soll die Hingabe des Darlehens in Form von Bedarfsdeckungsscheinen für Möbel, Hausgeräte usw. mit einem Wert von höchstens 1.000 RM auch der Belebung der Wirtschaft dienen. Eine Förderung des Kinderreichtums wird dadurch angestrebt, daß der Staat im Falle jedes in der Ehe lebend geborenen Kindes 25 % der Darlehensschuld erläßt. Das Ergebnis dieser Strategie ist jedoch nicht überwältigend: „Auf eine Gesamtzahl von 878 016 Ed. (Ehestandsdarlehen, E.R.), die in der Zeit vom August 1933 bis Dezember 1937 gegeben wurden, entfallen in der gleichen Zeit in diesen Ehen 707 867 lebend geborene Kinder.“154 Immerhin nimmt die Gesamtzahl der Eheschließungen und die Geburtenziffer im Vergleich zu den Jahren der Weltwirtschaftskrise schon in den Jahren 1933 und 1934 markant zu, was aber auch auf „aufgeschobene“ Eheschließungen und Kinderwünsche zurückgeführt werden kann.155 Finanziert wird diese Maßnahme nach den Vorschriften des 148 Vgl.: Stichwort „Homosexualität.“ Ebenda, 269. 149 Vgl.: Stichwort „Kinderlandverschickung.“ Ebenda, 308 f. 150 Vgl.: Stichwort „Lebensborn.“ Ebenda, 345; vgl. als ältere Untersuchung: Lilienthal, Georg: Der „Lebensborn e.V.“ Ein Instrument nationalsozialistischer Rassenpolitik. Stuttgart 1985. 151 An der Finanzierung wird die Sozialversicherung beteiligt; vgl.: Beteiligung der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte an dem „Hilfswerk für Mutter und Kind.“ In: Amtliche Nachrichten für Reichsversicherung (1935)1, 57. Material in Form von Zeitungsausschnitten zum Hilfswerk „Mutter und Kind“ und zur „Kinderlandverschickung“ enthält: BA Abt. Potsdam. 62.03 DAF, Nr. 4737. 152 Vgl.: RGBl. I 1933, 323. 153 Insgesamt zehn Voraussetzungen für den Bezug von Ehestandsdarlehen listet der folgende Beitrag auf: Die Durchführung des Gesetzes über Förderung von Eheschließungen durch die Gemeinden. In: Die nationalsozialistische Gemeinde, 1(1933)5, 107; vgl. auch: Biewendt, Albert: Können Sie ein Ehestandsdarlehen erhalten? In: Wohlfahrtswoche, 8(1933)39, 319 - 320. 154 Betcke, Werner: Kinderreiche. In: Althaus, Hermann, Betcke, Werner (Hg.): Handwörterbuch der Wohlfahrtspflege...a.a.O. (=Anm. 85), Sp. 597 - 614, hier: Sp. 601. 155 In diesem Zusammenhang schlägt weiterhin die Stunde Friedrich Burgdörfers, der als anerkannter (Bevölkerungs-)Experte und Nationalsozialist auch Kritik an den staatlichen Maßnahmen äußern kann; vgl.: Burgdörfer, Friedrich: Bevölkerungsentwicklung im Dritten Reich. Heidelberg, Berlin 1935, 73. Er integriert nunmehr die Maßnahmen der NS-Sozial- bzw. Bevölkerungspolitik in seine Schriften; vgl. z.B.: Burgdörfer, Friedrich: Aufbau und Bewegung der Bevölkerung. Leipzig 1935, 179 ff. Seine kriegerische bzw. imperialistische Mentalität bzw. seine kriegstheoretischen Auffassungen finden sich nunmehr zusammenfassend in seinen Schriften: Volks- und Wehrkraft, Krieg und Rasse. Berlin 1936 sowie: Bevölkerungsentwicklung und Wehrkraft. In: Wissen und Wehr, 16(1935), 365 - 400. Er plädiert für einen Umbau der Bevölkerungsstatistik zur „statistischen Volkskunde im Dienst der Volks- und Rassenpflege“ und berichtet über „Fortschritte“ auf diesem Gebiet. Er befaßt sich schließ-

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Gesetzes vom 1. Juni 1933 zunächst durch eine „Ehestandshilfe“, eine Art Sondersteuer für Ledige.156 Ergänzt werden die Ehestandsdarlehen durch ein System von einmaligen und laufenden Kinderbeihilfen. Auch diese Maßnahmen, die allesamt durch den Reichsminister der Finanzen und, bei gutachtlicher Mitwirkung der Gemeinde, durch die Finanzverwaltung vollzogen werden, kennen die üblichen Kriterien. Die Eltern müssen vor allem Staatsangehörige „deutschen oder artverwandten Blutes“ sein, die Ehrenrechte besitzen, gewillt und geeignet sein, „in Treue dem deutschen Volk und Reich zu dienen.“ Sie müssen eine zweckentsprechende Verwendung der Gelder erwarten lassen und es dürfen keine „schwerwiegenden gesundheitlichen Bedenken“ bestehen.157 Die einmaligen Kinderbeihilfen können auch für (Klein-)Siedlungszwecke gewährt werden. Der Wohnungsbau, die Anschaffung von Geräten, Vieh usw. ist ebenfalls förderungswürdig. Schon bald ist, nach Angaben der NS-Statistik, dem größten Teil der „minderbemittelten“ Familien mit vier oder mehr Kindern unter 16 Jahren eine einmalige Kinderbeihilfe gewährt worden.158 Hinzu treten „laufende Kinderbeihilfen“ deren Bezug nach Inkrafttreten des „Gesetz über den Ausbau der Rentenversicherung“ vom 21. Dezember 1937159 wesentlich erleichtert wird. Nun werden im Zeichen der Rüstungskonjunktur und sich füllender Kassen der Sozialversicherung weitere Mittel für das entsprechende Sondervermögen des Reiches bereitgestellt. Für das Jahr 1938 gilt, „...daß für den Kreis der Sozialversicherten beim Vorliegen der geforderten Voraussetzungen für das 3. und 4. Kind je 10 RM und für das 5. und jedes weitere Kind 20 RM l. Kb. (laufende Kinderbeihilfe, E.R.) gezahlt werden.“160 Die Gesamtausgaben für Ehestandsdarlehen und Kinderbeihilfen betragen von 1933 bis 1944 rund 6,8 Milliarden Reichsmark. Hinzu treten, beginnend mit der Steuerreform des Jahres 1934, gewisse nicht sehr bedeutsame Entlastungen bei der Steuer.161 Darüber hinaus existieren, teilweise auch schon vor 1933, Ermäßigungen und Verbilligungen bei der Inanspruchnahme bestimmter Güter und Dienstleistungen. Es gibt Gebührenbefreiungen, Fördermaßnahmen für Beamte sowie Angestellte und Arbeiter im öffentlichen Dienst, ergänzende Maßnahmen der Gemeinden für kinderreiche Familien. Kinderreiche werden bei der Arbeitsvermittlung und Anstellung bzw. Beförderung, im Verkehr mit den Behörden, bei der Vergabe von Apothekenkonzessionen usw. bevorzugt.162 Die Gesamtheit dieser und anderer Faktoren führt dazu, daß bis zum Jahr 1939, verglichen mit den Jahren der Weltwirtschaftslich auch mit der statistischen Erfassung des Judentums; vgl.: Burgdörfer, Friedrich (Hg.): Die Statistik in Deutschland nach ihrem heutigen Stand. Band 1. Berlin 1940, 157 ff.; derselbe: Die Juden in Deutschland und in der Welt. In: Forschungen zur Judenfrage. Band 1 - 3. Hamburg 1937/38, 152 - 198. In zahlreichen Veröffentlichungen verfolgt er auch seine aus der Weimarer Republik bekannten Interessenschwerpunkte weiter. 156 Vgl. die §§ 4 - 16 des „Gesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit“ vom 1. Juni 1933. 157 Zu Ausnahmen und „Weiterungen“ vgl.: Betcke, Werner: Kinderreiche...a.a.O.(=Anm. 154), Sp. 601 f. Entsprechende Rechtsquellen sind vermerkt bei: Lampert, Heinz: Staatliche Sozialpolitik im Dritten Reich. In: Bracher, Karl Dietrich, Funke, Manfred, Jacobson, Hans-Adolf (Hg.): Nationalsozialistische Diktatur 1933 - 1945. Eine Bilanz. Bonn 1983, 177 - 205, hier: 195 f. 158 Vgl.: Betcke, Werner: Kinderreiche...a.a.O.(=Anm. 154), Sp. 605; der Durchschnittsbetrag liegt bei 62 RM. 159 Vgl.: RGBl. I 1937, 1393. 160 Betcke, Werner: Kinderreiche...a.a.O.(=Anm. 154), Sp. 606. 161 Vgl. dazu: Sachße, Christoph, Tennstedt, Florian: Der Wohlfahrtsstaat...a.a.O.(=Anm. 55), 180; vgl. auch: Voegeli, Wolfgang, Willenbacher, Barbara: Das realisierte System der familienpolitischen Leistungen im Nationalsozialismus. In: Voegeli, Wolfgang (Hg.): Nationalsozialistische Familienpolitik zwischen Ideologie und Durchsetzung. Hamburg 2001, 17 - 47. 162 Vgl. das Inhaltsverzeichnis von: Hofmann, Horst: Was jeder Kinderreiche wissen muß, wiedergegeben bei: WK.: Maßnahmen für einen gerechten Familienlastenausgleich. In: Die Ortskrankenkasse, 26(1939)8, 255.

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krise, die Geburtenzahlen tatsächlich auf einem relativ hohen Niveau verbleiben, um dann unter dem Eindruck des Krieges wieder zurückzufallen. Eine Rückkehr zu den hohen Geburtenzahlen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wird jedoch nicht erreicht.163 Ein weiteres Panorama der Umsetzung „völkisch-rassenhygienischer“ Anschauungen in praktische Politik eröffnet sich bei Betrachtung der Maßnahmen, die sich um Siedlungswesen und Bauerntum, um „Blut und Boden“ ranken. Die bereits im 19. Jahrhundert wurzelnde antislawische preußische Ostsiedlung, die der Stabilisierung „gefährdeter“ Ostgebiete dienen sollte, die Versuche der Initiierung einer „West-Ost-Siedlung“ in der Weimarer Republik, ein ganzer Strang von ideologischen Versatzstücken der Zivilisations- bzw. Stadtkritik, der Agrarromantik, entsprechende Aussagen in Hitlers „Mein Kampf“, agrarpolitische Bekundungen aus der NS-Bewegung usw. usf. gehören zu den Voraussetzungen des baldigen Beginns einer Politik, bei der in erheblichem Umfang „ausgelesene“ Bauern die Basis einer Politik der „...rassischen Aufartung des deutschen Volkskörpers bilden sollten.“164 Bereits durch das umfangreiche preußische „Bäuerliche Erbhofrecht“ vom 15. Mai 1933165 wird die „unlösbare Verbundenheit von Blut und Boden“ als „unerläßliche Voraussetzung für das gesunde Leben eines Volkes“ betont. Dieses auf der Grundlage des „Gleichschaltungsgesetzes“ vom 31. März 1933 vom preußischen Staatsministerium beschlossene Gesetz soll den beliebigen Verkauf, die Überschuldung und „schädliche Zersplitterung“ des Bauernlandes durch erbrechtliche Vorschriften (Anerbenrecht) verhindern und ein „bodenverbundenes“ Bauerntum auf „Erbhöfen“ begünstigen. Einen solchen Erbhof kann „...als Bauer nur besitzen, wer deutscher Staatsbürger und deutschen oder stammgleichen Blutes ist.“166 Eine Person „jüdischer“ oder „farbiger Herkunft“ bis ins „zweite Glied“, eine zukünftige Eheschließung „mit einer derartigen Person“ schließen den Eigentümer bzw. seine Nachkommen davon aus, „...als Besitzer eines Erbhofs Bauer zu sein.“ Spezifische „Anerbenbehörden“ sollen diese Vorschriften überwachen und anwenden.167 Das „Reichserbhofgesetz“ vom 29. September 1933168 folgt, verschärft und ergänzt die preußische „Logik“ und bestimmt, daß Eigentümer eines Erbhofes nur sein kann, „...wer deutscher Staatsbürger, deutschen oder stammesgleichen Blutes und ehrbar ist.“ Dieses von „Reichsbauernführer“ Darré geprägte Gesetz möchte ein nach rassischen und erbgesundheitlichen Faktoren ausgewähltes Bauerntum als „Blutsquell des deutschen Volkes“ erhalten, Bauernhöfe als „Erbe der Sippe“ sichern und auf eine „gesunde Verteilung“ der landwirtschaftlichen Besitzgrößen hinwirken. Die „rassenhygienischen“ Anforderungen sind noch bedeutend höher als bei der preußischen Regelung. Hinzu treten Kriterien der wirtschaftlichen und politischen Eignung und Zuverlässigkeit. Im Ergebnis erweisen sich diese Vorstellungen als illusorisch. Die Zahl der „Neubauern“ bleibt gering, geht sogar zurück nicht zuletzt wegen der strengen Auswahlkriterien. Die mit dem Gesetz verbundenen Vorstellungen werden durch den Machtanspruch regionaler Herrschaftsträger (Gauleiter) verwässert und modifiziert. Der „Siedlungswille“ der Bevölkerung ist gering. Raumplaneri163 Vgl. die Tabellen bei: Burgdörfer, Friedrich: Bevölkerungsstatistische Rundschau. In: Jahreskurs für ärztliche Fortbildung, 35(1944)2, 1 - 37 sowie: Statistisches Handbuch für Deutschland 1928 - 1944. München 1949, 47. 164 Vgl.: Mai, Uwe: „Rasse und Raum“. Agrarpolitik, Sozial- und Raumplanung im NS-Staat. Paderborn, München, Wien, Zürich 2002, 49. 165 Vgl.: Preußische Gesetzsammlung 1933, 165. 166 Vgl. den § 2 dieses Gesetzes. 167 Vgl. zur Erläuterung des Gesetzes: von Zwehl: Das Erbhofrecht. In: Juristische Wochenschrift, 62(1933)22/23, 1289 - 1292. 168 Vgl.: RGBl. I 1933, 685.

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sche Initiativen bleiben in Ansätzen stecken. Die Erbhofbildung stößt auch auf Vorbehalte in der Bauernschaft selbst. Die Landflucht verstärkt sich im Zeichen der Rüstungskonjunktur. Der Versuch des „Reichsbauernführers“ Darré, der auf die gerade geschilderte Weise mit dem Projekt der „Neubildung des deutschen Bauerntums“ im „Altreich“ scheitert, auf das Projekt der „Ostsiedlung“ Einfluß zu gewinnen, führt zu Konflikten mit Heinrich Himmler. Dieser verfolgt eine andere Konzeption. Die daraus resultierenden Auseinandersetzungen leiten schließlich die Entmachtung Darrés ein.169 Die nichtbäuerliche Siedlung, die sogenannte Kleinsiedlung bzw. die Abgabe von Heimstätten, die gegen Mitte der 1930er Jahre an Bedeutung gewinnt, fügt sich ebenfalls in dieses ideologische Muster. Sie kombiniert die bis in das frühe 19. Jahrhundert zurückgehende Vorstellung, die „kleinen Leute“, insbesondere die Arbeiter durch Haus und Gartennutzung krisenfester zu machen, mit typischen Ansätzen der „Erb- und Rassenpflege“ und weiteren ns-spezifischen Bevorzugungs- und Benachteiligungsmustern. So werden bei der Vergabe von Heimstätten kinderreiche „erbgesunde“ Familien, daneben Frontkämpfer, „Kämpfer für die nationale Erhebung“, Kriegsopfer, „Opfer der nationalen Erhebung“ und bestimmte ehemalige Angehörige der Wehrmacht besonders bevorzugt.170 Heuerlingsstellen, die über die „Preußische Landesrentenbank“ in Berlin finanziert werden, dürfen nur mit „Heuerlingsfamilien“ besetzt werden, die „...die deutsche Reichsangehörigkeit besitzen, arischer Abstammung, ehrbar, erbgesund und politisch zuverlässig...“ sowie zur Bewirtschaftung geeignet sind.171 Im Hintergrund der finanziell durchaus begrenzten positiven „erb- und rassenpflegerischen“ Maßnahmen und der bereits erwähnten negativen Maßnahmen gewinnt das barbarische Vorhaben der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ Gestalt. Nachdem Hitler auf dem Reichsparteitag von 1935 diesem Vorhaben grundsätzlich zugestimmt hat, es aber auf einen späteren Zeitpunkt vertagt haben möchte, wird parallel zur „Kindereuthanasie“ die „Erwachseneneuthanasie“ vorbereitet. Im Unterschied zur „Erb- und Rassenpflege“, die offen propagiert und praktiziert wird, wird die „Euthanasie“ in geheimer und getarnter Form vorbereitet. Ein auf den Kriegsbeginn, den 1. September 1939 rückdatierter Schreiben Hitlers, eine Tötungsermächtigung, dokumentiert seine Absicht, diese ungeheuerlichen Aktionen hinter der ablenkenden „Geräuschkulisse“ des Krieges durchzuführen.172 Der Krieg wird aber nicht nur zum Auslöser der „Euthanasie“, er wirft auch seine Schatten voraus. Insbesondere in den Jahren 1938/39 geht das Regime mit großer Brutalität gegen die sich den Anforderungen der Kriegsvorbereitung entziehenden „Asozialen“ bzw. „Arbeitsscheuen“ vor, die nunmehr in den Konzentrationslagern eine rasch wachsende Häftlingskategorie bilden. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, daß sich die kommenden, bereits seit Jahrzehnten diskutierten Euthanasieaktionen nicht problemlos in das „erb- und rassenpflegerische“ Begründungsparadigma fügen. Als gesundheitlich schwer beeinträchtigte Menschengruppen der „Asylierung“ unterworfen und als bevorzugte Zielgruppe des Sterilisierungs- und Ehegesundheitsgesetzes, ist ihre „Ausschaltung“ aus dem „Erbstrom des deut169 Vgl. insgesamt: Mai, Uwe: „Rasse und Raum“...a.a.O.(=Anm. 164). 170 Vgl.: Bernsee, Hans: Siedlungswesen. In: Althaus, Hermann, Betcke, Werner (Hg.): Handwörterbuch der Wohlfahrtspflege...a.a.O. (=Anm. 85), Sp. 929 - 939, hier: Sp. 931 f. 171 Derselbe, ebenda, Sp. 936. 172 Vgl.: Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene...a.a.O.(=Anm. 119), 180 f.; insgesamt natürlich auch die zahlreichen Beiträge von Ernst Klee, vgl. vor allem: Klee, Ernst: „Euthanasie“ im NS-Staat. Frankfurt a.M. 1983. Auf den Seiten 168 f. ein „Organisationsschema der Euthanasie“, das die beteiligten leitenden Personen und Institutionen benennt.

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schen Volkes“ bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in vollem Gange. Wie schon in den Jahren vor 1933 stehen bei diesen Planungen intern die Argumente der Kosteneinsparung und der „Freimachung“ von Einrichtungen für Zwecke der „Volksgemeinschaft“ im Vordergrund.173 Bei der Betrachtung und Analyse der „Erb- und Rassenpflege“ und der gesamten übrigen „völkischen Sozialpolitik“ ist zu beachten, daß sich diese Politik schon vor dem Zweiten Weltkrieg auf einen ständig vergrößerten Gebietsbestand und immer größere Bevölkerungszahlen bezieht. Alle diese Gebiete haben ihre eigene Vorgeschichte, kennen spezifische Formen der Machtergreifung einschließlich der „Säuberungen“ und Gleichschaltungen. Den Bestimmungen des Versailler Vertrages entsprechend, kommt es am 13. Januar 1935 zu einer Volksabstimmung im Saarland, bei der sich 90,8 % der stimmfähigen Saarländer für eine Rückgliederung an das Deutsche Reich aussprechen. Am 1. März 1935 kehrt das Saarland zum Deutschen Reich zurück. In den Jahren 1938/39 setzt das NS-Regime seine außenpolitischen Aktivitäten mit großer Energie und mit dem Ziel fort, sich einen „großdeutschen Wirtschaftsraum“ als Ausgangsbasis für den mit aller Macht angestrebten Krieg zu schaffen. Am 12. und 13. März 1938, im „Schatten der Weltpolitik“ (spanischer Bürgerkrieg, seit 1937 japanisch-chinesischer Krieg), erfolgt der „Anschluß“ Österreichs. Die vom 29. bis zum 30. September 1938 tagende „Münchener Konferenz“ beschließt die Abtretung des Sudetengebietes an Deutschland, das am 1. Oktober von deutschen Truppen besetzt wird. Am 16. März 1939 wird, nach einer planmäßigen Unterminierungspolitik, das „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“ errichtet. Am 23. März 1939 erfolgt der deutsche Einmarsch in das litauische Memelgebiet; es wird an das Reich „rückgegliedert“. Soweit dies mit vertretbarem Aufwand möglich ist, soll der Prozeß der Angleichung der Sozialpolitik dieser Gebiete an die Grundmuster der „völkischen Sozialpolitik“ nachvollzogen werden. Die Darstellung beschränkt sich zunächst auf die Benennung der wichtigsten Rechtsquellen und Grundstrukturen für den Zeitraum bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges. Für das Saargebiet gilt, daß das gesamte Reichsrecht schrittweise und mit Modifikationen übernommen wird und damit auch die „Erb- und Rassenpflege“. Da die memelländischen Standesbeamten, wie jene in Österreich, von deutschen Reichsangehörigen vor der Eheschließung ein Ehefähigkeitszeugnis verlangen, wirken auf beide Länder erb- und rassenbiologische Konstrukte schon vor der „Wiedervereinigung“ bzw. dem „Anschluß“ ein.174 Im Memelland tritt zum 1. Mai 1939 durch das „Gesetz über die Wiedervereinigung des Memellandes mit dem Deutschen Reich“ vom 23. März 1939175 das gesamte Reichsrecht in Kraft und in Österreich wird die „Erb- und Rassenpflege“ sukzessive übernommen.176 Das Sudetengebiet wird ebenfalls umfassend in diese deutsche „völkische Sozialpolitik“ einbezogen.177

173 Vgl. auch: Weingart, Peter, Kroll, Jürgen, Bayertz, Kurt: Rasse, Blut und Gene. Frankfurt a.M. 1988, 523 ff. 174 Vgl.: Gütt, Arthur, Linden, Herbert, Maßfeller, Franz: Blutschutz...a.a.O.(=Anm. 103), 339. 175 Vgl.: RGBl. I 1939, 559. 176 Vgl.: Talos, Emmerich: Staatliche Sozialpolitik in Österreich. Rekonstruktion und Analyse. Wien 1981, 293 f. 177 Vgl. die leider nur aspekthaft auf die staatliche Sozialpolitik eingehende Schrift von: Braumandl, Wolfgang: Die Wirtschafts- und Sozialpolitik des Deutschen Reiches im Sudetenland 1938 - 1945. Nürnberg 1985.

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4.1.3 Die Entstehung und Entwicklung der neuen Arbeitsverfassung Durch das gewaltsame Zerstörungswerk der NS-Bewegung an den Grundfesten und Institutionen des Weimarer Sozialstaats eröffnet sich für dieses Regime schon zu Beginn des Jahres 1933 die Möglichkeit und Notwendigkeit der Neuregelung des Verhältnisses von Arbeit und Kapital. Bereits der Aufruf des Kabinetts der „nationalen Konzentration“ an das deutsche Volk vom 1. Februar 1933 deklariert, daß sich die Männer dieser Regierung „vor der deutschen Geschichte“ verantwortlich fühlten, für die „...Wiederherstellung eines geordneten Volkskörpers und damit für die endgültige Ueberwindung des Klassenwahnsinns und Klassenkampfes.“178 Der Weg zu diesem Ziel ist jedoch zunächst noch höchst unklar. Es existieren keine konkreten Planungen und Vorarbeiten. Die in der NS-Bewegung und in ihrem „nationalen Umfeld“ verbreiteten Auffassungen vom betrieblichen „Führertum“, von der „Gefolgschaft“, der „Werksgemeinschaft“, dem „Wirtschaftsfrieden“, von der Notwendigkeit einer „berufsständischen“ Ordnung gewinnen natürlich im Zuge der Machtergreifung „Oberwasser“. Die Tatsache, daß als führende Repräsentanten der Werksgemeinschaftsbewegung Paul Bang im „Hugenberg-Ministerium“ Staatssekretär wird und daß Karl Vorwerck als Mitarbeiter in das Reichsarbeitsministerium einrückt, verstärkt diesen Eindruck noch. Zudem verweisen zahlreiche Eingaben von interessierter Seite vor allem an das Reichsarbeits- und an das Reichswirtschaftsministerium in diese Richtung.179 Nationale Verbände geben Loyalitätsbekundungen zur „nationalen Staatsführung“ ab, weisen auf ihre Tätigkeit zur „Wiederaufrichtung einer starken Nation“ hin. Sie rühmen ihren eigenen Kampf gegen den „Klassenwahnsinn.“ Sie verlangen eine „Gutmachung“ des ihnen durch die „nachrevolutionäre Gesetzgebung“ bzw. die „marxistischen Regierungen“ zugefügten „Unrechts“ und fordern zumindest eine Aufhebung der „Monopolstellung“ der drei großen Gewerkschaftsrichtungen.180 Zu diesem Zweck möchten sie wenigstens eine Modifikation der zahlreichen arbeits- und sozialrechtlichen Bestimmungen über die Anerkennung als „wirtschaftliche Vereinigung“ im Rahmen des Sozialstaats erreichen, um an den zahlreichen Funktionen solcher „Vereinigungen“ zum Schaden der großen Gewerkschaftsrichtungen teilnehmen zu können.181 Auch hier setzen sich also Bestrebungen aus der Zeit der Weimarer Republik fort. Während dieser Wochen kommt es auch in zahlreichen Betrieben zu „nationalen Erhebungen“ in Form von Gewaltaktionen gegen linksgerichtete politische Kräfte. Zahlreiche Arbeiter und Angestellte, die sich im kommunistischen, aber auch freigewerkschaftlichen oder republikanischen Sinne engagiert hatten, verlieren ihre Arbeitsplätze, nationale und nationalsozialistische Organisationen verlangen mit allem Nachdruck, mitunter in ultimativer Form, die Einstellung „ihrer“ Arbeitslosen.182 Es fehlt auch nicht an Eingriffen von Nationalsozialisten in die Wirtschaftsführung, was ein entsprechendes Verbot der NSDAP

178 Aufruf an das Deutsche Volk; In: Rühle, Gerd: Das Dritte Reich. Das erste Jahr...a.a.O.(=Anm. 7), 31 f. 179 Vgl. dazu z.B. die Hinweise bei: Mason, Timothy W.: Sozialpolitik im Dritten Reich. 2. Auflage. Opladen 1978, 101. 180 Zahlreiche Eingaben aus der Zeit vom 24. Februar bis zum 5. Mai 1933 enthält: BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 6462. 181 Vgl. die kurze Zusammenstellung zur Rechtsstellung der „Arbeitnehmerverbände“ durch Ministerialrat Dr. Steinmann vom 8. März 1923. Ebenda, Bl. 4 ff. 182 Vgl. das Schreiben der Bayerischen Motoren Werke vom 16. Juni 1933 an den Reichsarbeitsminister. BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 6463, Bl. 246 f.

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an ihre Mitglieder nach sich zieht.183Schließlich kumulieren diese Aktionen im Zusammenhang mit den Betriebsrätewahlen im Frühjahr 1933. Dabei zeigen die Wahlergebnisse sowohl gewisse Erfolge vor allem der NSBO als auch eine fortdauernde starke Bindung vor allem der Arbeiter an die Freien Gewerkschaften.184 Wirklich bedeutsam werden diese Wahlergebnisse nicht mehr, da die Reichsregierung mehrfach mitteilt, eine grundlegende „Neuordnung“ der „Arbeits- und Wirtschaftsverfassung“ anzustreben.185 Bevor es jedoch zu Beginn des Jahres 1934 zu einer solchen Neuordnung kommt, wird auf dem Gebiet der Arbeitsverfassung eine bemerkenswerte „Übergangsgesetzgebung“ verfügt. Im Bestreben, staatlicherseits auf die Vorgänge in den Betrieben wieder Einfluß zu gewinnen, auf Drängen industrieller Kräfte nach gesetzlicher Absicherung von Entlassungen vor allem kommunistischer Betriebsräte und Arbeitnehmer und unter Berücksichtigung der Wünsche zahlreicher nationaler Verbände nach Fortbestand und Einfluß versucht die Regierung in einem Wurf einer Vielzahl von Interessen gerecht zu werden. Das Ergebnis ist das „Gesetz über Betriebsvertretungen und über wirtschaftliche Vereinigungen“ vom 4. April 1933.186 Es erlaubt, um die Betriebsverhältnisse zu beruhigen, eine Aussetzung der Betriebsratswahlen „aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ bis längstens zum 30. September 1933.187 Daneben legalisiert und ermöglicht das Gesetz die Anordnung des „...Erlöschen(s) der Mitgliedschaft solcher Betriebsvertretungsmitglieder..., die in staats- oder wirtschaftsfeindlichem Sinne eingestellt sind“ und die Ernennung neuer Mitglieder aus dem Kreis der wählbaren Arbeitnehmer. Es beseitigt darüber hinaus das im Falle einer Kündigung schützende Einspruchsrecht nach § 84 des Betriebsrätegesetzes für den Fall, daß eine solche Kündigung „...mit dem Verdacht staatsfeindlicher Einstellung begründet wird.“188 Mit diesen Vorschriften bewirkt das Gesetz vom 4. April 1933 nicht nur eine Legalisierung bereits abgelaufener Aktionen, es unterstützt und verstärkt auch eine umfassende Welle von Ab- und Umbesetzungen in den Betriebsvertretungen. Es forciert nicht nur entsprechende Maßnahmen des Unternehmertums sondern auch mit Drohungen und Gewalt unterlegte Aktionen der NSBO. Gleichzeitig werden die Möglichkeiten der Gegenwehr entscheidend beschnitten.189 Darüber hinaus beseitigt die nationalsozialistisch dominierte Reichsregierung mit dem „Gesetz über Betriebsvertretungen und über wirtschaftliche Vereinigungen“ vom 4. April 1933 und mit dem „Gesetz über den vorläufigen Reichswirtschaftsrat“ vom 5. April 1933190 die schon vor 1933 von der „nationalen Bewegung“ umstrittenen „Monopole“ der drei anerkannten Gewerkschaftsrichtungen. Ganz im 183 Vgl.: Keine Eingriffe in Wirtschaftsunternehmen! In: Berliner Börsen-Courier vom 8. April 1933. Zit. aus: BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 6462, Bl. 82; das Verbot bezieht sich auch auf Angriffe gegen Gewerkschaften. 184 Vgl. zu diesen Vorgängen: Frese, Matthias: Betriebspolitik ...a.a.O.(=Anm. 47), 52 ff.; Schneider, Michael: Unterm Hakenkreuz...a.a.O.(=Anm. 22), 74 ff., dort auch Zahlenangaben zu den Wahlergebnissen; vgl. auch: Neuwahl und Umbildung der Betriebsräte. In: Soziale Praxis, 42(1933)17, Sp. 528 - 530. 185 Vgl. z.B. die Pressenotiz des Reichsarbeitsministers vom 11. April 1933. BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 6462, Bl. 110 ff. 186 Vgl.: RGBl. I 1933, 161. 187 Durch das „Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Betriebsvertretungen und über wirtschaftliche Vereinigungen“ vom 26. September 1933 (RGBl. I 1933, 667) wird diese Möglichkeit bis zum 31. Dezember 1933 verlängert. 188 Vgl. in diesem Zusammenhang: Koch, Rainer: Das Kündigungsschutzrecht im Übergang vom Betriebsrätegesetz zum Arbeitsordnungsgesetz als Instrument faschistischer Herrschaftssicherung... Bremen o. J. (1988), (Diss. jur.), bes. 40 ff. 189 Vgl.: Frese, Matthias: Betriebspolitik...a.a.O.(=Anm. 47), 65 ff. 190 Vgl.: RGBl. I 1933, 165.

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Sinne der Eingaben und Interventionen der wirtschaftsfriedlichen und nationalen Verbände werden die entsprechenden „privilegierenden“ Vorschriften zur Natur der „wirtschaftlichen Vereinigungen“ gestrichen und dem Reichsarbeitsminister weitere Regelungsbefugnisse übertragen. Tatsächlich entsteht nun, durch die gesetzesausführende Tätigkeit des Reichsarbeitsministers, eine sozialpolitische „Zwischenwelt.“ In Fortsetzung der Tendenzen in der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts vor 1933 werden nunmehr die nationalen Verbände als „wirtschaftliche Vereinigungen“ angesehen. Es handelt sich dabei um jene Vereinigungen, die im „Hauptausschuß nationaler Industriearbeiter- und Berufsverbände“, im „Reichslandarbeiterbund“, in der „Reichsverbindung nationaler Gewerkschaften“ und in dem „Reichsbund Deutscher Angestellten-Berufsverbände“ zusammengeschlossen sind.191 Diese Entscheidung zugunsten der vor allem in den „Arbeitermassen“ nur schwach verankerten „Vereinigungen“ mit nationalistischer oder unternehmerfreundlicher Orientierung wird von der historischen Entwicklung nicht getragen. Faktisch befindet sich diese Verbändelandschaft bereits in Auflösung zugunsten der nach einem wirklichen Monopol strebenden NS-Formationen.192 Dennoch setzt sich diese erkennbar vom deutschnationalen „Regierungspartner“ getragene Strategie der Aufrechterhaltung eines „Pluralismus“ im rechten Verbändespektrum bis Ende Mai mit Gesetzgebungsakten fort. Ganz auf die Ausweitung des Begriffs der „wirtschaftlichen Vereinigung“ auf nationale und nationalsozialistische Organisationen zielen auch die Bestimmungen der Verordnungen über die Zulassung zur Prozeßvertretung vor den „Arbeitsgerichtsbehörden“ vom 8. April, 12. Mai und 22. Mai 1933.193 In einer Situation des sozialpolitischen Übergangs und der sozialpolitischen Unklarheit, in der zunächst auch die langdiskutierten Fragen und Konzepte einer berufsständischen Neuordnung der Wirtschafts- und Sozialpolitik eine wesentliche Rolle spielen,194 stellt sich bald mit Dringlichkeit die Frage nach der zukünftigen Form der Regelung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen, nach dem Tarifvertragswesen und der Schlichtung. Hier bringt sich die in heftige Konflikte mit der NSBO verwickelte DAF in Stellung.195 Sie strebt zu dieser Zeit das Ziel an, zu einer Organisation für alle Fragen der Gestaltung des Arbeitslebens und der Sozialpolitik zu werden. Mitte Mai gelingt es ihr, in Form einer parteiinternen Kompetenzabgrenzung eine Zuständigkeit für das Gebiet der Regelung und Kontrolle der Tarif- und sonstigen Arbeitsbedingungen zu erlangen.196 Dieser Vorstoß der wegen ihrer Aktionen von vielen Unternehmern mißtrauisch beäugten DAF in einen Kernbereich der staatlichen Sozialpolitik wird bereits mit dem wegweisenden „Gesetz über

191 Vgl. den Erlaß des Reichsarbeitsministers III a 4926/33 vom 18. April 1933. In: Reichsarbeitsblatt, Teil I (1933)12, 111; vgl. auch den Erlaß III a 3510/33 vom 6. April 1933. Ebenda, 107. 192 Vgl. dazu z.B. den Aufruf und die Anweisung zu einer „Generalsäuberung“ und zu einer Stärkung von DAF und NSBO unter der Überschrift: Deutsche Arbeiter in Stadt und Land! In: Der Angriff Nr. 144, 1. Beilage vom 22. Juni 1933, 5. 193 Vgl.: RGBl. I 1933, 193, 282, 367. Zur Verlängerung der Amtszeit und anderen Bestimmungen siehe auch das „Gesetz über die Beisitzer der Arbeitsgerichts- und Schlichtungsbehörden und die Vertreter bei den Fachausschüssen für Hausarbeit sowie über Betriebsvertretungen“ vom 27. Dezember 1933 (RGBl. I 1933, 1117). 194 Vgl. die vom Bearbeiter verfaßte Einleitung in: Minuth, Karl-Heinz (Berb.): Die Regierung Hitler. Teil I...Band 1...a.a.O.(=Anm. 11), LIII ff. 195 Vgl. zu diesen Konflikten zusammenfassend: Schneider, Michael: Unterm Hakenkreuz...a.a.O.(=Anm. 22),172 ff. 196 Vgl.: Frese, Matthias: Betriebspolitik...a.a.O.(=Anm. 47), 75.

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Treuhänder der Arbeit“ vom 19. Mai 1933 beendet.197 Schon mit diesem Gesetz ist beinahe erreicht, was mit der endgültigen Regelung der Arbeitsverfassung „vollendet“ wird, die juristische „Verschüttung“ zentraler Möglichkeiten der kollektiven Interessenvertretung für abhängig Beschäftigte.198 Das in der NS-Propaganda als entscheidender Schritt zur „Überwindung des Klassenkampfes“ durch „Ausschaltung aller einseitigen Interessen“ gefeierte Treuhändergesetz dokumentiert dementsprechend ein Wesensmerkmal der NS-Arbeitsverfassung: die Ersetzung der „Klassenorganisationen“ durch Staatsorganisationen und die direkte Zuständigkeit des Staates für zentrale Konfliktbereiche zwischen den Klassen.199 Die Kompetenz der DAF entscheidend begrenzend und in wegweisender Form bestimmt das Treuhändergesetz: „Bis zur Neuordnung der Sozialverfassung regeln die Treuhänder an Stelle der Vereinigungen von Arbeitnehmern, einzelner Arbeitgeber oder der Vereinigungen von Arbeitgebern rechtsverbindlich für die beteiligten Personen die Bedingungen für den Abschluß von Arbeitsverträgen. Die Vorschriften über die Allgemeinverbindlichkeit ... bleiben unberührt ... Auch im übrigen sorgen die Treuhänder für die Aufrechterhaltung des Arbeitsfriedens ... Sie sind ferner zur Mitarbeit bei der Vorbereitung der neuen Sozialverfassung berufen.“ Zu dieser Zeit wird auch in Regierungskreisen immer noch an die Errichtung einer (irgendwie) berufsständischen Sozial- und Wirtschaftsordnung gedacht.200 Das Treuhändergesetz besiegelt das Ende der Tarifautonomie einschließlich der Schlichtung201 und damit der Gestaltungsidee, die dem Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommen vom 15. November 1918 zugrunde lag. Eine ganze Epoche der Sozialstaatsentwicklung ist damit offiziell zu ihrem Ende gekommen. Neben dem Staat behauptet aber auch das Unternehmertum seine Einflußchancen. Das zeigt sich vor allem in der personellen Zusammensetzung des „Treuhänderkorps“. An der Spitze dieser für bestimmte Gebiete zuständigen neugeschaffenen Verwaltungs- und Lenkungsbehörden, die der Umsetzung der arbeitspolitischen Ziele der Staatspolitik dienen sollen, stehen meist Personen aus Wirtschaftsverbänden, aus der staatlichen Sozialverwaltung sowie ehemalige deutschnational gesinnte Freikorpskämpfer, „...die den Interessen der Industrie nahestanden und dort Erfahrungen gesammelt hatten. Allerdings kamen auch zwei der 13 Treuhänder 1933 (aus) den Reihen der NSBO.“202 Vor dem Hintergrund der Zerschlagung der Gewerkschaften, eines Mitte Mai vereinbarten „Wirtschaftswaffenstillstands“, d.h. eines vereinbarten Verbots von Streiks und 197 Vgl.: RGBl. I 1933, 285; vgl. als Erläuterung des Gesetzes: Richter, Lutz: Treuhänder der Arbeit. In: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht, 13(1933)6, Sp. 283 - 290. 198 Vgl.: Hachtmann, Rüdiger: Die Krise der nationalsozialistischen Arbeitsverfassung - Pläne zur Änderung der Tarifgestaltung 1936 - 1940. In: Kritische Justiz, 17(1984)3, 281 - 299, hier: 282. 199 Vgl.: Spohn, Wolfgang: Betriebsgemeinschaft und innerbetriebliche Herrschaft. In: Sachse, Carola, Siegel, Tilla, Spode, Hasso, Spohn, Wolfgang: Angst, Belohnung, Zucht und Ordnung. Opladen 1982, 140 - 208, hier: 143. In diese Richtung weist auch der nicht verabschiedete, intern kontrovers diskutierte „Entwurf eines Gesetzes über Reichsbeauftragte zur Befriedung des Arbeitslebens“ vom April 1933, bei dem es allerdings in erster Linie um die Verhinderung von Betriebsabbrüchen und -stillegungen geht; vgl.: BA Abt.Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 6462, Bl. 116 ff. Im Zusammenhang hiermit werden auch die Übergriffe in den Betrieben zur Sprache gebracht; vgl.: BA Abt. Potsdam. 30.01 Reichsjustizministerium, Nr. 2178, Bl. 386 ff. 200 Vgl.: Minuth, Karl-Heinz (Bearb.): Die Regierung Hitler. Teil I...Band 1...a.a.O.(=Anm. 11), LIII ff. 201 Vgl. zusätzlich das „Gesetz über die Übertragung der Restaufgaben der Schlichter auf die Treuhänder der Arbeit“ vom 20. Juli 1933 (RGBl. I 1933, 520). 202 Frese, Matthias: Betriebspolitik...a.a.O.(=Anm. 47), 77; die Wirtschaftsgebiete werden durch die „Durchführungsverordnung zum Gesetz über Treuhänder der Arbeit“ vom 13. Juni 1933 (RGBl. I 1933, 368) festgelegt. Die ersten Treuhänder werden am 15. Juni 1933 auf Vorschlag der Länderregierungen von Hitler ernannt; vgl.: Schumann, Hans-Gerd: Nationalsozialismus...a.a.O. (=Anm.45), 82.

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Aussperrungen und von provisorischen Vorkehrungen zur „Ordnung der Tarifverhältnisse und zur Überwachung des Arbeitsschutzes und -rechts“, ist das Treuhändergesetz auch deshalb nötig geworden, weil unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise stehende Teile der Unternehmerschaft versuchen, die geschwächte Stellung der abhängig Beschäftigten auszunutzen. Unter diesen Bedingungen droht ein Zusammenbruch der bereits in der Weimarer Republik unter der Notverordnungsdiktatur drastisch verschlechterten Arbeits- und Entlohnungsbedingungen mit weitreichenden massenpychologischen Folgen.203 Da das Gesetz einerseits zwar die von der NS-Bewegung ausgehenden radikalen Aktionen zur Verbesserung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen illegalisiert, andererseits eine vollkommen betriebsbezogene, autoritär-unternehmergeprägte Regelung nicht vorsieht und politisch motivierte Eingriffe in die Wirtschaft über die Treuhänder zu erwarten sind, fällt die Resonanz aus Unternehmerkreisen für diese arbeitsverfassungsrechtliche Neuregelung durchaus zwiespältig aus. Die Aktionen der NSBO und der DAF hat diese Gesetzgebung zunächst kaum begrenzt. Es wird sogar die gewerkschaftliche Praxis kollektiver Tarifverhandlungen weitergeführt. So droht vorübergehend der mit der Gesetzgebung des NS-Staates formal beseitigte „Klassenkampf“ aus der nationalsozialistischen Bewegung heraus wieder aufzuleben. Teile der überkommenen unteren Gewerkschaftsbürokratie arbeiten weiter. Zudem gibt es eine gewisse, für die betreffenden Personen gefahrvolle Übertritts- und Unterwanderungsbewegung in die NSBO und DAF aus den Reihen der Weimarer Arbeiterbewegung.204 Hinzu tritt der Einfluß der noch nicht erfolgreich unterdrückten machtgierigen, antikapitalistischen, kleinbürgerlichen „linken“ Richtung des Nationalsozialismus. So werden „unvermutet“ neben reaktionären auch bestimmte sozialpolitische Forderungen und Programmpunkte aus der Diskussion der Weimarer Linken im „Dritten Reich“ virulent. Mit der Entmachtung der NSBO und der nie vollkommen erfolgreichen „Zähmung“ der DAF ändert sich diese Situation.205 Es gelingt erneut und wiederum nicht reibungs- und widerspruchslos, die DAF auf dem Gebiet der Betriebs- und Tarifpolitik weiter zu entmachten. Diese Organisation, die mit ihren Umorganisationsbestrebungen, mit ihrem ÄmterChaos, ihrer Überbürokratisierung und ihren ständigen Kompetenzstreitereien ein Spiegelbild der typischen NS-Herrschaftspraxis bietet, gerät zunehmend zu einer Großorganisation, die vor allem jenseits der Arbeitsverfassung im engeren Sinne durch ihre geheimdienstliche Tätigkeit und „...durch soziale und kulturelle Betreuung, sowie fachl. Weiterbildung und durch soziale Befriedung der Arbeitnehmer die Ziele des Regimes unterstützte.“206 Bezeichnend ist für diesen Weg eine Proklamation vom 27. November 1933 über die Rolle und Zuständigkeit der DAF207, die eine baldige Neuregelung der Arbeitsverfassung verspricht und zum Eintritt in die Arbeitsfront auffordert. Die an das italienische Vorbild angelehnte Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“ etwa dürfte der DAF nicht unerhebliche Sympathien eingebracht haben. Auf diesem Entwicklungsweg der DAF landen nun neben „alten Kämpfern“ aus der SA auch „...NSBO- und DAF-Funktionäre im Konzentrationslager, als marxistische Verbrecher, die sich in die NSDAP eingeschlichen hätten, abgestempelt.“208 Erst nach einer gründlichen „Entgewerkschaftlichung“ der DAF ist auch der nun203 Vgl.: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre Staatliche Sozialpolitik 1839 - 1939. Stuttgart 1957, 473. 204 Vgl.: Mason, Timothy W.: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 179), 102 ff. 205 Vgl.: Frese, Matthias: Betriebspolitik...a.a.O.(=Anm. 47), 90 ff. 206 Stichwort: „Deutsche Arbeitsfront“. In: Zentner, Christian, Bedürftig, Friedemann: Das große Lexikon...a.a.O. (=Anm. 146), 114 f., hier: 114. 207 Vgl. z.B. die Wiedergabe dieses Aufrufs bei: Mason, Timothy W.: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 179), 115 f. 208 Schumann, Hans-Gerd: Nationalsozialismus...a.a.O.(=Anm. 45), 90.

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mehrige „Reichsstand der Deutschen Industrie“ bereit, die Unternehmer zum Beitritt in die DAF aufzurufen.209 Mit diesen Vorgängen, die einen Teilaspekt der Ausschaltung und des „Untergangs des sozialistischen Flügels der NSDAP“ und der Machtfestigung der am Interesse des Eigentums und an den alten Machteliten orientierten Parteiführung um Hitler darstellen,210 hängt es auch zusammen, daß sich die Arbeitgeberverbände so spät auflösen. Zu den wesentlichen und prägenden Entscheidungen, die bereits vor der Neuregelung der Arbeitsverfassung gefallen sind, gehört nicht nur die Zerschlagung der drei großen Gewerkschaftsrichtungen und die Auflösung der wirtschaftsfriedlich-nationalen Vereine, die Entstehung und „Mäßigung“ der DAF sowie ihre Verdrängung aus dem „Geschäft“ der Regelung der Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen, die damit kompatible Treuhändergesetzgebung und die personelle „Säuberung“ der Organe der Weimarer Arbeitsverfassung. Von großer Bedeutung ist auch eine Vereinbarung vom 14. Juli 1933 zwischen dem Reichsarbeits- und dem Reichswirtschaftsministerium: „Danach ergehen die von der Abteilung III des Reichsarbeitsministeriums (Sozialverfassung, Arbeitsrecht, Arbeitsschutz, Lohnpolitik, Treuhänder der Arbeit) zu treffenden wichtigen Entscheidungen im Einvernehmen mit dem Reichswirtschaftsministerium.“211 Mit dieser Entscheidung ist zwar die Forderung nach Auflösung des Arbeitsressorts nicht zum Ziel gekommen, gleichwohl soll damit die alte, dem Klassengegensatz entspringende „Spannung“ zwischen dem Arbeits- und Wirtschaftsressort weiter minimiert werden. Für eine solche Annäherung sorgen auch personelle Umbesetzungen unterhalb der ministeriellen Ebene. Leiter der Abteilung III im Reichsarbeitsministerium wird Werner Mansfeld, der am 26. April 1933 zusammen mit seinem Minister der NSDAP beitritt. Er ist als Arbeitsrechtsexperte, Vertreter unternehmerischer Interessen, Parteigänger der nationalen Rechten und Privatdozent der Universität Münster für seine Aufgabe gut „qualifiziert.“ Eine Doppelfunktion im Reichsarbeits- und Reichswirtschaftsministerium nimmt Wolfgang Pohl ein.212 Er ist ein Schüler Heinrich Herkners, der seine Karriere in der sozialpolitischen Abteilung des AEG-Konzerns begonnen hatte und auf Grund seiner vielfältigen Aktivitäten und Positionen die personifizierte Schaltstelle zwischen der DAF, der Ministerialbürokratie und der Wirtschaft darstellt. Die in der Weimarer Republik so exponierten Propagandisten von „Werksgemeinschaft“ und betrieblichem Führertum, Paul Bang und Karl Vorwerck gewinnen in diesem Zusammenhang keinen unmittelbaren Einfluß. Bang demissioniert im Zusammenhang mit Hugenbergs Entmachtung und eine prägende Beteiligung Vorwercks läßt sich nicht nachweisen. Vor diesem Hintergrund besteht in Wirtschaftskreisen über die endgültige neue Wirtschaftsverfassung zunächst keine einheitliche Auffassung. Es wird im März 1933 sogar der Plan erwogen, eine spezifische Art von Zentralarbeitsgemeinschaft wieder aufleben zu lassen.213 Auch die Idee, die in der „Übergangsgesetzgebung“ ihren Platz gefunden hat, 209 Vgl.: Mason, Timothy W.: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 179), 116. 210 Vgl.: Schumann, Hans-Gerd: Nationalsozialismus...a.a.O.(=Anm. 45), 107. 211 Münz: Die sozialpolitische Gesetzgebung seit dem 30. Januar 1933. In: Reichsarbeitsblatt. Teil II, 13(1933)24, 329 - 335, hier: 330. 212 Vgl. die biographischen Hinweise bei: Roth, Karl Heinz: Intelligenz und Sozialpolitik im „Dritten Reich“. München, New Providence, London, Paris 1993, 79, 216 - 218; vgl. auch: Frese, Matthias: Betriebspolitik...a.a.O.(=Anm. 47), 100 f. 213 Vgl.: Frese, Matthias: Betriebspolitik...a.a.O.(=Anm. 47),101; diese Idee wird durch eine Rede C. F. von Siemens im März 1933 einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht; vgl. den Zeitungsausschnitt „Umbau der Gewerkschaften“. BA Abt. Potsdam. 39.01 Reichsarbeitsministerium, Nr. 6463, Bl. 41+ RS; vgl. auch den Beitrag: Um eine neue Arbeitsgemeinschaft. In: Nationalliberale Correspondenz, 60(1933)50, 1 - 2; zitiert aus: BA Abt. Potsdam. Deutsche Volkspartei. 60 Vo 1, Nr. 230, Bl. 53 f.

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nämlich nationale und nationalsozialistische „Verhandlungs-„ und „Vertragspartner“ für die noch bestehenden Arbeitgeberverbände zu konstituieren, hält sich und wird zunächst sogar von Werner Mansfeld vertreten. Die Diskussion um berufsständische Modelle verstummt auch weiterhin nicht.214 In engem Kontakt mit Partei- und Regierungsstellen gelingt es offensichtlich jedoch prominenten Vertretern der Industrie bzw. von Industrieverbänden und hier vor allem der Schwerindustrie des Ruhrgebietes, die Gestaltung der industriellen Arbeitsbeziehungen zu beeinflussen.215 Mit Datum vom 29. November 1933 legt das Reichsarbeitsministerium einen „vorläufigen“ Entwurf eines „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ (AOG) dem Reichsjustizministerium mit der Bitte um Durchsicht vor. Das Begleitschreiben betont, der Führer habe die allgemeinen Grundgedanken bereits gebilligt und er wünsche eine „alsbaldige Verabschiedung.“216 Der Plan, den Entwurf zeitnah zur Deklaration über die Rolle und Zuständigkeit der DAF vom 27. November 1933 bereits Anfang Dezember in das Kabinett zu bringen, scheitert allerdings an offensichtlich befürchteten und vorausgesehenen zahlreichen Änderungswünschen des Reichsjustizministeriums. So wird durch den Entwurf eines AOG z.B. die Arbeitsgerichtsbarkeit berührt, die ursprünglich auch für Kollektivstreitigkeiten zuständig war. Dieser Anlaß wird benutzt, um den alten Wunsch nach stärkerer Einschaltung der Rechtsanwaltschaft in die Arbeitsgerichtsbarkeit zu reaktivieren.217 Als Folge der eintretenden Verzögerung ergeht sich der Reichswirtschaftsminister in der Kabinettssitzung vom 1. Dezember 1933 nur in allgemeinen Ausführungen zur nunmehr deutlich beschränkten Rolle der DAF und skizziert Grundzüge des kommenden „Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit,“218 dessen Entwurf zu dieser Zeit bereits erstaunlich weitgehende Übereinstimmungen mit der Endfassung aufweist. Nach entsprechenden Absprachen zwischen dem Reichsarbeits- und dem Reichsjustizministerium wird mit Schreiben vom 8. Dezember ein überarbeiteter Entwurf des AOG219 an den Staatssekretär in der Reichskanzlei mit der Bitte übersandt, ihn auf die Tagesordnung der nächsten Kabinettssitzung, „jedenfalls noch vor Weihnachten“, zu setzen. Nachdem nunmehr die Arbeitsfront in ihrer endgültigen Form gebildet worden sei „...und daraufhin die Arbeitgeberverbände ihre Liquidation beschlossen haben, fallen die letzten Stützen für das bisherige Lohntarifsystem fort. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer umgehenden Schaffung eines neuen Sys214 Vgl.: Frese, Matthias: Betriebspolitik...a.a.O.(=Anm. 47), 105. 215 Vgl.: Frese, Matthias: Betriebspolitik...a.a.O.(=Anm. 47),113. Ein Teil des Netzwerkes und der Aktionen zur Beeinflussung des Prozesses der Entstehung der endgültigen NS-Arbeitsverfassung wird in dem Schreiben deutlich, daß Carl Köttgen, der Generaldirektor der Siemens-Schuckert Werke, mit Datum vom 14. November 1933 an den Generaldirektor der Vereinigten Stahlwerke und Förderer der NSDAP und der DINTA-Aktivitäten Dr. Albert Vögler richtet. Diesem Schreiben ist eine Denkschrift „Lohnbildung und Festsetzung der Arbeitssatzung“ beigefügt, die in Übereinstimmung mit weiteren Initiativen und Vorstellungen aus dem Bereich der Industrie Begrifflichkeiten und Grundorientierungen der kommenden Gesetzgebung zur Arbeitsverfassung „vorwegnimmt“. Vgl.: Historisches Archiv Krupp, FAH 4 E 179; schon Reichardt betont u.a., daß „...einige Hitler persönlich nahestehende Unternehmer zur Beratung über das (kommende, E.R.) Gesetz hinzugezogen“ wurden; vgl.: Reichardt, Hans Joachim: Die deutsche Arbeitsfront. Berlin 1956 (Diss.), 98, Fußn. 1. 216 Zu Schreiben und Entwurf: BA Abt. Potsdam. 30.01 Reichsjustizministerium, Nr. 2179, Bl. 86 ff. Zur Beteiligung Hitlers im November 1933 vgl. auch: Frese, Matthias: Betriebspolitik...a.a.O.(=Anm. 47), 93. 217 Vgl.: BA Abt. Potsdam. 30.01 Reichsjustizministerium, Nr. 2179, Bl. 135 ff. Zu der letztlich wohl kaum zur vollen Zufriedenheit dieser Berufsgruppe gelösten „Rechtsanwaltsfrage“ vgl. auch die Dok. 266 und 269 bei: Minuth, Karl-Heinz (Berab.): Die Regierung Hitler. Teil I...Band 2...a.a.O.(=Anm. 89), 1016 f. und 1022 - 1024. 218 Vgl. das Dok. Nr. 258 in: Ebenda, 985 ff. 219 Entwurf eines Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit. Vom Dezember 1933. BA Abt. Potsdam. 30.01 Reichsjustizministerium, Nr. 2179, Bl. 160 ff.

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tems. Die Grundlagen dieses Systems, auf denen der anliegende Gesetzentwurf ausgearbeitet worden ist, sind von uns - im Einvernehmen mit dem Führer der Deutschen Arbeitsfront, Herrn Staatsrat Dr. Ley - dem Herrn Reichskanzler bereits Anfang November vorgetragen und von ihm gebilligt worden.“220 Im Rahmen weiterer ministerieller Interventionen verlangt in letzter Minute der Reichsminister des Innern, Wilhelm Frick, kurz vor Einberufung der angezielten Kabinettssitzung, eine Absetzung von der Tagesordnung wegen bereits formulierter oder noch zu formulierender Änderungsanträge und weil für den „überaus bedeutsamen Gesetzentwurf“ keine schriftliche Begründung vorliege.221 Tatsächlich haben zu diesem Zeitpunkt nicht nur der Reichsarbeitsminister, sondern auch Vertreter der Wirtschaft, bei aller Übereinstimmung in den Grundzügen, zahlreiche Änderungswünsche formuliert,222 die kurzfristig einen weiteren Entwurf beeinflussen.223 Auf der Grundlage dieses Entwurfs gibt der Reichswirtschaftsminister auf der Kabinettssitzung vom 12. Januar 1934 einen allgemeinen Überblick über Inhalt und Aufbau des geplanten AOG. Der Reichsminister des Innern moniert seine mangelnde Beteiligung und erneut auch die fehlende Begründung. Nach einigen weiteren Anmerkungen und Kontroversen wird der Entwurf sodann „grundsätzlich“ verabschiedet.224 Er wird als „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ vom 20. Januar 1934 im Reichsgesetzblatt vom 23. Januar 1934 veröffentlicht.225 Das AOG, das an einem Freitag „grundsätzlich“ verabschiedet wurde, wird am Sonntag, den 14. Januar 1934, mit bestellten Kundgebungen im ganzen Reich „gefeiert“. Im Berliner Lustgarten, einem alten Versammlungsort der sozialistischen Arbeiterbewegung, versammeln sich, einem zeitgenössischen Zeitungsbericht zufolge, beinahe 200.000 Männer und Frauen.226 Als „Fundament der Sozialverfassung“, als „radikaler Umbruch“ in der Gestaltung des „materiellen Arbeitsverfassungsrechts“, als „‘Magna charta’ der nationalsozialistischen Sozialpolitik“ bezeichnet,227 setzt dieses Gesetz die Betriebsrätegesetzgebung, die Tarifvertragsordnung, die Verordnung über das Schlichtungswesen, die Verordnung betreffend Maßnahmen gegenüber Betriebsabbrüchen und -stillegungen und die an diese Gesetzgebung anschließenden Rechtsquellen sowie die gesamte NS-Übergangsgesetzgebung auf dem Gebiete der Arbeitsverfassung außer Kraft.228 Diese Neuregelung der Arbeitsverfassung für den Bereich der Privatwirtschaft macht eine in § 63 bereits angekündigte Neuregelung für den öffentlichen Dienst unumgehbar, hat doch auch hier z.B. das Betriebsrätegesetz Geltung. In Übernahme wesentlicher Prinzipien des AOG wird ein entsprechendes Gesetz vorbereitet und als „Gesetz zur Ordnung der Arbeit in öffentlichen Verwal-

220 Schreiben des Reichsarbeits- und Reichswirtschaftsministers an den Staatssekretär in der Reichskanzlei vom 8. Dezember 1933. BA Abt. Potsdam. 30.01 Reichsjustizministerium, Nr. 2179, Bl. 158 f., hier Bl. 158. 221 Vgl. das Schreiben des Reichsinnenministers W. Frick vom 11. Januar 1934. Ebenda, Bl. 182 + RS. 222 Vgl. das Schreiben des Reichsarbeits- und Reichswirtschaftsministers vom 8. Januar 1934 an den Staatssekretär der Reichskanzlei nebst Anlage. Ebenda, Bl. 183 ff. 223 Vgl. ebenda, Bl. 187 ff. 224 Die offen gebliebenen Fragen sollen in einer Chefbesprechung behandelt werden, deren Protokoll nicht ermittelt ist; vgl. als Protokoll der Kabinettssitzung vom 12. Januar 1934 das Dok. Nr. 284 bei: Minuth, KarlHeinz (Bearb.): Die Regierung Hitler. Teil I...Band 2...a.a.O.(=Anm. 89), 1070 -1074. 225 Vgl.: RGBl. I 1934, 45. 226 Vgl.: Schutz der nationalen Arbeit. In: Kölnische Zeitung und Handelsblatt Nr. 25 vom 15. Januar 1934. Ausgabe C. Morgenblatt, 1. 227 So einige Charakterisierungen; vgl. z.B.: Bohnstedt, Werner: Grundzüge der neuen Sozialverfassung. In: Soziale Praxis, 43(1934)4, Sp. 99 - 109 sowie bei: Rauecker, Bruno: Der Begriffswandel der deutschen Sozialpolitik. In: Geist der Zeit. Monatsschrift für Wissenschaft und Hochschule, 16(1938)2, 96 - 103, hier: 100. 228 Vgl. den § 65 des AOG.

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tungen und Betrieben“ vom 23. März 1934 von der Regierung verabschiedet.229 Im Zusammenhang mit der Vorbereitung dieses Gesetzes sieht sich das Reichsarbeitsministerium veranlaßt zu gestehen: „Das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit habe in der Arbeiterschaft nicht die Aufnahme gefunden, wie es nach der Stellungnahme der Presse und nach den öffentlichen Kundgebungen den Anschein haben könne... Das Reichswehr-Min. bestätigte die Ansicht des Reichsarbeitsministeriums über die Stimmung in der Arbeiterschaft.“230 Da das AOG wesentliche Teile des Hausarbeitsgesetzes von 1923 aufgehoben hat, wird auch auf diesem Gebiet ein Neuansatz unabdingbar. Das „Gesetz über die Heimarbeit“ vom 23. März 1934231 beseitigt die paritätische Beteiligung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern an den für die Lohnfestsetzung zuständigen Lohnämtern und an den Fachausschüssen und überträgt diese Aufgaben in Übereinstimmung mit den Regelungen des AOG den „Treuhändern der Arbeit.“ Insgesamt ist das Gesetz geeignet die Verhältnisse in dieser prekären Beschäftigungsform zu verbessern.232 In wesentlichen Teilen tritt auch dieses Gesetz, wie die beiden Gesetze zur „Ordnung der nationalen Arbeit“, bewußt und aus propagandistischen Gründen zum „Tag der nationalen Arbeit“, zum 1. Mai des Jahres 1934, in Kraft. Mit den Arbeitsordnungsgesetzen, die in der gleichgeschalteten Presse, insbesondere auch in den Verbandsorganen der Unternehmerschaft begeistert begrüßt werden,233 mit der darin enthaltenen Negation der überbetrieblich-kollektiven Regelung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen, verläßt Deutschland einen arbeitsrechtlichen bzw. sozialpolitischen Entwicklungspfad, der „...in fast allen anderen Staaten des europäischamerikanischen Kulturkreises...“ bis zu diesem Zeitpunkt beschritten wird.234 Diese „Schlußdokumente“ der Niederlage der Arbeiterbewegung und (Wirtschafts-)Demokratie, diese vielfach novellierten und durch ausführende Rechtsquellen konkretisierten „Ordnungen der nationalen Arbeit“ bedienen sich der Begriffe und folgen über weite Strecken den Intentionen der Werksgemeinschaftsdebatte.235 Sie enthalten sich aber aller Ausführungen 229 Vgl.: RGBl. I 1934, 220. Die Beratung dieses Gesetzes, für das wiederum keine Begründung vorlgelegt wird, ist ebenfalls aktenmäßig gut belegt; vgl.: BA Abt. Potsdam. 30.01 Reichsjustizministerium, Nr. 2179, Bl. 217 ff. Es wird, wie das AOG, in Kooperation des Reichsarbeits- und Reichswirtschaftsministeriums erarbeitet, unter Berücksichtigung von Einwendungen der anderen Ressorts. Die Abstimmungsprozesse sind konflikthaft. Über den Kreis der „Betriebe der öffentlichen Hand“, die diesem Gesetz unterstellt werden sollen, kann im Rahmen einer „Chefbesprechung“ sogar überhaupt keine Einigung gefunden werden. Schließlich gerät das Projekt unter Zeitdruck, da das Gesetz zusammen mit dem AOG am 1. Mai 1934 in Kraft treten und bis dahin auch noch die Bildung der Vertrauensräte erfolgen soll, so das Schreiben an den Herrn Staatssekretär in der Reichskanzlei mit der Bitte, den Entwurf auf die Tagesordnung der nächsten Kabinettssitzung zu setzen. Das Schreiben trägt das Datum des 16. März 1934. Vgl. ebenda, Bl. 272 f. 230 Vgl. ebenda, Bl. 223RS. 231 Vgl.: RGBl. I 1934, 214. 232 Vgl. insgesamt auch: Kranig, Andreas: Lockung und Zwang. Stuttgart 1983, 55 ff. 233 Vgl.: Spohn, Wolfgang: Betriebsgemeinschaft...a.a.O.(=Anm. 199), 145; Hachtmann, Rüdiger: Die Krise der nationalsozialistischen Arbeitsverfassung ...a.a.O.(=Anm.198), 298. 234 Vgl.: Bohnstedt, Werner: Grundzüge...a.a.O.(=Anm. 227), Sp. 99. 235 Diese Traditionslinie wird in der NS-Arbeitsrechtsliteratur allerdings nicht betont. Statt dessen wird versucht, das AOG als Ausfluß älterer germanischer bzw. genuin nationalsozialistischer Grundsätze zu interpretieren. Es fehlt auch nicht an Versuchen, diese Arbeitsverfassung als in Übereinstimmung mit „Rasseeigenschaften“ stehend zu interpretieren, eine Übereinstimmung, die durch die „Aufnahme des römischen Rechts“ zerstört worden sei. Vgl. in diesem Zusammenhang: Steitz, Karl-Eduard: Verwirklichung grundlegender nationalsozialistischer Rechts- und Wirtschaftsgrundsätze im Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20. Januar 1934. Marburg 1935 (Diss. jur.); Tegtmeyer, W.(ilhelm): Arbeitsrecht I. Grundlagen und Wesen des Arbeitsrechts. 2. Auflage. Leipzig 1941. Nicht zufällig finden sich Hinweise auf die „Gelben“ und ihre Programmatik als Vorläufer der

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zu einer „berufsständischen“ Gliederung der Wirtschaft. Solche Konzeptionen haben übrigens immer auch Selbstverwaltungselemente umfaßt, die dem Aufbau der NSArbeitsverfassung fremd sind. Lediglich eine Kompetenzzuweisung zugunsten der DAF für den Fall der Durchführung eines solchen Aufbaues findet sich als „Merkposten“ im § 23(2) des AOG. Vor dem Hintergrund der Vorgaben der „Übergangsgesetzgebung“, äußerer Interventionen und interner Abstimmungsprozesse im politisch-administrativen System des Reiches ist es einer konzeptionell denkenden, „formulierungsstarken“ und unter erheblichem Druck arbeitenden kleinen Gruppe in der Ministerialbürokratie gelungen, den arbeitspolitischen Grundkonsens zwischen den nationalsozialistischen, den nationalkonservativen und wirtschaftsnahen Kräften, deren wirtschafts- und sozialpolitische Zielsetzungen und Vorstellungen im einzelnen durchaus Nuancierungen aufweisen,236 auf den Begriff zu bringen: Die Stärkung der Stellung des Unternehmers im Betrieb, die Niederhaltung und „Verstellung“ des „Klassenkampfes“ und ein wirtschaftsfriedlicher, begrenzter Ausgleich von Interessendivergenzen zwischen Arbeit und Kapital. Dementsprechend wird der aus der Diskussion vor 1933 bekannte Begriff der „Betriebsgemeinschaft“ in den Rang einer Schlüsselkategorie des (gar nicht so neuen) „...vollkommenen Umbruchs des Denkens auf dem Gebiet des Arbeitsrechtes...“ gehoben.237 Dabei entfaltet sich nun auch der Gedanke, daß die Betriebsgemeinschaft nur als Gemeinschaft „arischer“ bzw. „deutschblütiger“ bzw. „artverwandter“ Menschen verstanden werden könne. Gegenüber den Juden wird dieser Zustand nach zunehmender Diskriminierung im Wirtschaftsleben schließlich mit der „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12. November 1938238 mehr oder weniger erreicht. Soweit überhaupt noch jüdisch geleitete Betriebe bestehen, muß nunmehr der „Reichstreuhänder der Arbeit“ einen Führer des Betriebes bestellen, „...der die blutmäßigen Voraussetzungen für den Erwerb des Reichsbürgerrechts erfüllt...“239 Zur Gefolgschaft sind ab 1939 nur noch diejenigen zu zählen, „...die einer Betriebsgemeinschaft angehören können, in der zum gemeinsamen Nutzen des ganzen Volkes und der nationalsozialistischen Gemeinschaft gearbeitet wird. Einer solchen germanischen Gemeinschaft sind jüdische Arbeiter nicht fähig. Sie gehören also auch nicht zur Gefolgschaft... Gleiches muß für solche Angehörigen nichtdeutschen Volkstums gelten, denen die nationalsozialistische Gemeinschaft stets fremd bleiben wird.“240 Die Strukturen und die Organe der „Betriebsgemeinschaft“ besiegeln und gestalten „endgültig“ die Entrechtung der abhängig Beschäftigen. Sie festigen die Herrschaft des Unternehmers oder seines Stellvertreters im Betrieb unter spezifischer Beteiligung staatlicher und nationalsozialistischer Stellen. Die „Betriebsgemeinschaft“, dieser wichtige Ansatzpunkt zur vorgeblichen Überwindung der „Epoche des Kapitalismus“, diese juristische Schlüsselkategorie der Vernichtung des „kollektivistisch-gewerkschaftlichen Systems“,

Konzeption des AOG in einer konfessionellen Zeitschrift; vgl.: Klante, Lydia: Vorläufer des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit. In: Evangelisch-Sozial, 39(1934)2, 83 - 88. 236 Vgl. ähnlich und mit Bezug auf Mason: Kranig, Andreas: Lockung und Zwang...a.a.O.(=Anm. 232), 39. 237 So die Formel des Herausgebers und Verlages der Heerschild-Schriftenreihe „Das Recht der Deutschen Arbeit.“ 238 Vgl.: RGBl. I 1938, 1580; diese Verordnung folgt der „Reichskristallnacht“ vom 9. auf den 10. November 1938; vgl. auch: Kranig, Andreas: Lockung und Zwang...a.a.O.(=Anm. 232), 228 ff. 239 Mansfeld, W.(erner): Die Ordnung der nationalen Arbeit. Handausgabe mit Erläuterungen. Berlin 1941, 14. 240 Derselbe, ebenda, 15.

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diese Form der Zerschlagung der „gesellschaftlichen Ordnung des Klassenkampfes,“241 ist nicht „harmonisch“ sondern streng hierarchisch-autokratisch aufgebaut. Die Arbeitsrechtslehre der damaligen Zeit wird allerdings nicht müde, den wirklichen Gemeinschaftscharakter als Grundlage oder Ziel der Arbeitsverfassung zu beschwören. Darüber hinaus ordnet sie die „Betriebsgemeinschaft“ in die um- und übergreifende „Volksgemeinschaft“ ein und betont ihre dienende Stellung mit Blick auf die übergeordneten Interessen des Volkes bzw. der Nation.242 Die „Überwindung“ der Weimarer Arbeitsverfassung wird durch das den gesamten staatlichen und gesellschaftlichen Bereich nunmehr durchdringende Führerprinzip bewerkstelligt: „Wie im nationalsozialistischen Staatswesen so herrscht auch im Betrieb das Pr in zip d er au tor itär en Füh rung, aber auch der ungeteilten und strengen Verantwortlichkeit des Führers.“243 Der zum Führer des Betriebes avancierte Unternehmer244 entscheidet „... künftig allein unter eigener, allerdings besonders hervorgehobener Verantwortung in allen sozialpolitischen Fragen des Betriebes. An die Stelle von Vereinbarungen mit Interessenvertretern der Arbeitnehmerschaft ist die En tscheidung d es Führers getreten.“245 Die Gestaltungsbefugnisse des Arbeitgebers werden dementsprechend bewußt ausgeweitet. Betriebliche Mitspracherechte und Kontrollmöglichkeiten der abhängig Beschäftigten werden weitgehend beseitigt. Das Arbeitsverhältnis wird ein „Treue- und Fürsorgeverhältnis“. Der § 2 Absatz 2 des AOG bestimmt, der „Führer des Betriebes“ habe „...für das Wohl der Gefolgschaft zu sorgen. Diese hat ihm die in der Betriebsgemeinschaft begründete Treue zu halten.“ An die Seite wird dem „Führer des Betriebes“, wenn dieser in der Regel mindestens 20 Beschäftigte hat, ein aus „Vertrauensmännern“ bestehender „Vertrauensrat“ gestellt, der nicht Vertreter „einseitiger“ Interessen sein soll. Er hat beratende Funktion. Der „Führer des Betriebes“ gehört ihm ebenfalls an. In diesen Regelungen deutet sich eine „Schwundstufe“ des Betriebsrätegesetzes von 1920 an. Nach § 6(1) des AOG hat er die Pflicht „...das gegenseitige Vertrauen innerhalb der Betriebsgemeinschaft zu vertiefen.“ Weitere unbedeutende Funktionen treten hinzu.246 An der Aufstellung der Vertrauensmänner-Listen wird die NSBO bzw. DAF beteiligt: „Die Gefolgschaft hat zu der Liste alsbald durch geheime Abstimmung Stellung zu nehmen.“247 Die Mitglieder des Vertrauensrates legen, so bestimmt es der § 10(1) des AOG, „...vor der Gefolgschaft am Tage der 241 Vgl. als knappe, lesenswerte nationalsozialistische Interpretation der Entwicklung der Arbeits- und Betriebsverfassung von der Zeit des „klassischen Liberalismus“ bis zum Nationalsozialismus: Huber, Ernst Rudolf: Betriebsgemeinschaft und Arbeitsverhältnis. In: Juristische Wochenschrift, 66(1937), 1111 - 1115. 242 Vgl.: Hientzsch, Ulf: Arbeitsrechtslehren im Dritten Reich und ihre historische Vorbereitung. Marburg 1970, 14 f. 243 Andres, Karl: Das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20. Januar 1934. Ein Überblick über die Grundgedanken. In: Reichsarbeitsblatt II (Nichtamtlicher Teil) (1934)4, 37 - 39, hier: 37. 244 Nähere Ausführungen zum „Führer des Betriebes“ und zur nationalsozialistischen Betriebs- und Arbeitsverfassung etwa in: Gerhardt, Johannes: Deutsche Arbeits- und Sozialpolitik. Berlin 1939, 79 ff.; aus juristischer Sicht vgl. als maßgeblichen (Referenten-)Kommentar: Mansfeld, W., Pohl, W., Steinmann, G., Krause, A.B.: Die Ordnung der nationalen Arbeit. Kommentar zu dem Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit und zu dem Gesetz zur Ordnung der Arbeit in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben... Berlin, Leipzig, Mannheim, München 1934. Als weitere bekannte Kommentare der damaligen Zeit vgl.: Hueck, Alfred, Nipperdey, Hans Carl, Dietz, Rolf: Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit...Kommentar. München und Berlin 1934; Herschel, Wilhelm: Arbeitsrecht II. Die gesetzliche Regelung des Arbeitsrechts. 8. durch Nachtrag ergänzte Auflage. Leipzig 1941; Siebert, Wolfgang: Die deutsche Arbeitsverfassung. 2. Aufl. Hamburg-Wandsbek 1942. 245 Mansfeld, Werner: Die Ordnung der nationalen Arbeit. Dritte unter Berücksichtigung der Durchführungsbestimmungen neubearbeitete Auflage. München o.J. (1934), 11. 246 Vgl. § 6 (2) des AOG. 247 § 9 (1) AOG.

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nationalen Arbeit (1. Mai) das feierliche Gelöbnis ab, in ihrer Amtsführung nur dem Wohle des Betriebes und der Gemeinschaft aller Volksgenossen unter Zurückstellung eigennütziger Interessen zu dienen und in ihrer Lebensführung und Diensterfüllung den Betriebsangehörigen Vorbild zu sein.“ Im Falle innnerbetrieblicher Konflikte um die Zusammensetzung und das Zustandekommen des Vertrauensrates, im Falle auch der fehlenden „fachlichen oder persönlichen Eignung“ ist dem „Treuhänder der Arbeit“ ein Eingriffsrecht vorbehalten. „Gegen Entscheidungen des Führers des Betriebes über die Gestaltung der allgemeinen Arbeitsbedingungen, insbesondere der Betriebsordnung…, (an deren Gestaltung der Vertrauensrat nur beratend beteiligt ist, E. R.) kann die Mehrheit des Vertrauensrates des Betriebes den Treuhänder der Arbeit unverzüglich schriftlich anrufen, wenn die Entscheidungen mit den wirtschaftlichen oder sozialen Verhältnissen des Betriebes nicht vereinbar erscheinen.“248 Die bereits in der sozialpolitischen Übergangsgesetzgebung vorgesehenen „Treuhänder der Arbeit“, die nun in den §§ 18 - 25 des AOG ihren Platz gefunden haben, haben umfassende Funktionen und sind Reichsbeamte, die der Dienstaufsicht des Reichsarbeitsministers unterstellt und weiterhin an Richtlinien und Weisungen der Reichsregierung gebunden sind. Sie haben eine umfassende schlichtende und überwachende Funktion. Sie berufen die Vertrauensmänner und berufen diese gegebenenfalls auch ab. Sie wirken genehmigend an der Arbeitsstreckung und Entlassung mit, eine Funktion, deren Bedeutung vor allem im Rahmen der „Überwindung der Arbeitslosigkeit“ von Bedeutung ist. Spezifische Strafvorschriften stehen den „Treuhändern“ zur Verfügung. Auf dem Gebiet der Heimarbeit nehmen sie namentlich die Aufgaben der Entgeltfestsetzung, des Entgeltschutzes und des Arbeitszeitschutzes wahr.249 Für den Bereich der öffentlichen Verwaltung und Betriebe wird ein „Sondertreuhänder für den öffentlichen Dienst“ eingesetzt. Zu den Sonderregelungen für die Arbeiter und Angestellten dieses Bereichs zählt auch, daß den „Führern der öffentlichen Verwaltung“ im Bereich der „hoheitlichen Verwaltungstätigkeit“ oder in anderen ministeriell zu bestimmenden Verwaltungsbereichen kein „Vertrauensrat“ zugeordnet wird. Den „Treuhändern der Arbeit“ (ab April 1937 „Reichstreuhändern der Arbeit“) mangelt es zunächst an administrativer Substanz und Unterbau. Diese Situation ändert sich, als es im Zuge der Kriegsvorbereitung und Aufrüstungspolitik zu bedenklichen Lohnund Arbeitsmarkterscheinungen kommt.250Auf dem wichtigen Gebiet des Erlasses von überbetrieblichen Tarifordnungen kommt die Tätigkeit der „Treuhänder“ nur schleppend voran. Eine Bestandsaufnahme unverzichtbar erscheinender Tarifverträge durch das Reichsarbeitsministerium ergibt, „...daß vom 1. Juli 1937 an noch ca. 3000 Tarifverträge als Tarifordnungen weitergalten... Dem standen nur 3090 Tarifordnungen gegenüber, die in der Zeit von 1934 bis zum 30. September 1937 von den Treuhändern der Arbeit erlassen worden waren.“251 Insgesamt gesehen machen diese Strukturmerkmale deutlich, daß das AOG zwar die bis 1945 endgültige Besiegelung jeder wirksamen, organisierten und offenen Einflußnahme der abhängig Beschäftigten beinhaltet, daß es aber keineswegs die „...Rückkehr zur

248 § 16 AOG. 249 Vgl. in diesem Zusammenhang die „Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Heimarbeit“ vom 23. März 1934 (RGBl. I 1934, 225). 250 Vgl. zu Einzelheiten: Kranig, Andreas: Lockung und Zwang...a.a.O.(=Anm. 232), 168 ff. 251 Derselbe, ebenda, 183; vgl. in diesem Zusammenhang auch die juristisch-administrativen Ausführungen zu dieser Behörde bei: Richter, Lutz: Treuhänder der Arbeit. 2. Auflage. München o.J. (1934).

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kapitalistischen Betriebsverfassung vor 1918“ bedeutet.252 Im ganzen entwickelt sich eine außerordentlich „gebundene“ Arbeitsverfassung, die nur teilweise in den Vorschriften des AOG verankert ist. Schon bald vereinigen sich „...insbesondere zwingende gesetzliche Regelung, Tarifordnung, Richtlinie, Verwaltungsakt, Betriebsordnung, Vereinbarung und einseitige Erklärung in dieser Rangfolge zur Gestaltung der Arbeitsverhältnisse.“253 Von diesen „Gestaltungsmitteln“ fallen die niederrangigen, nämlich die in den §§ 26 ff. geregelte Betriebsordnung, die Vereinbarung und die einseitige Erklärung in den Kompetenzbereich des „Führers des Betriebes“. Die anderen stehen dem „Treuhänder der Arbeit“ bzw. dem Staat zur Verfügung. Aus rechtsdogmatischer Sicht ergibt sich: „Die Betriebsordnung soll in dem ihr gestatteten Rahmen die Rechtsstellung der Beschäftigten nach den Kräften gerade dieses Betriebes gestalten und gegenüber der staatlichen Mindestregelung steigern. Die Aufgabe der Einzelvereinbarung besteht darin, der Persönlichkeit und der Leistung des einzelnen Gefolgsmannes Rechnung zu tragen, und zwar wiederum durch Verstärkung und Verbesserung seiner Rechtsstellung in dem Raum von der tariflich und betriebsordnungsmäßig bestimmten Mindestgrenze bis zu der durch Sicherung der staatlichen Arbeitspolitik (Lohnpolitik) festgelegten Höchstgrenze.“254 Eine spezifische „Beteiligung“ staatlicher bzw. nationalsozialistischer Stellen an der Herrschaftsausübung über die „Betriebsgemeinschaft“ beinhalten auch die Vorschriften über die „soziale Ehrengerichtsbarkeit“ in den §§ 35 - 55 des AOG. Die Idee und Konzeption der „sozialen Ehrengerichtsbarkeit“ hat auch jenseits der „Werksgemeinschaftsdebatte“ vielfältige Wurzeln. Der Adel, das Militär, Burschenschaften, Universitäten, freie Berufe, sie alle kennen den Begriff der „Ehre“ ebenso wie Formen der „Ehrengerichtsbarkeit“. Schließlich muß die Parteigerichtsbarkeit der NSDAP erwähnt werden. Ehrengerichte und Ehrengerichtsordnungen existieren also in großer Zahl.255 Mansfeld bezeichnet die „Ehrengerichtsbarkeit“ als das „Kernstück“ des AOG256 und er fährt fort: „In den gewaltigen Kundgebungen, mit denen am Sonntag, dem 14. Januar 1934 das schaffende Deutschland, Arbeitsfront und NSBO., dem Führer für dieses Gesetz dankte, kam immer wieder der Stolz und die Freude darüber begeisternd zum Ausdruck, daß durch die Abstellung des sozialen Lebens auf die Ehre und die anständige Gesinnung nicht nur eine gewaltige Tat im Geiste des Nationalsozialismus geschaffen, sondern auch die endgü ltig e V ern ich tung de s K las senk a mpf es vollzogen sei. Denn beide, Ehre und Gesinnung sind Garanten der Volksgemeinschaft.“257 Das AOG bestimmt in § 36: „Gröbliche Verletzungen der durch die Betriebsgemeinschaft begründeten sozialen Pflichten werden als Verstöße gegen die soziale Ehre von den Ehrengerichten gesühnt.“ Der Kanon der Tatbestände, deren Verletzung von diesen Sondergerichten „gesühnt“ werden soll, wird „rechtstheoretisch“ aus den Pflichten hergeleitet, die sich aus der „Pflichtenstellung“ innerhalb der „Betriebs“- und „Volksgemeinschaft“ ergeben sollen.258 Dementsprechend gilt ganz allgemein aus nationalsozialistischer Sicht: „Wer den Pflichten im Arbeitsleben aus einer gemeinschaftsfeindlichen Gesin252 So zutreffend: Ramm, Thilo: Nationalsozialismus und Arbeitsrecht. In: Kritische Justiz, 1(1968), 108 - 120, hier: 112. 253 Siebert, Wolfgang: Die deutsche...a.a.O.(=Anm. 244), 85. 254 Derselbe, ebenda, 85 f.; zur Betriebsordnung: Hank, Rudolf: Die Rechtswirkung der Betriebsordnung nach dem Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20. Januar 1934. Gießen 1937 (Diss. jur.). 255 Vgl.: Klausing, Friedrich: Die Ehre im Sozialrecht. In: Deutsches Recht, 4(1934), 400 - 404. 256 Vgl.: Mansfeld, Werner: Die Ordnung...a.a.O.(=Anm. 245), 50. 257 Derselbe, ebenda, 50. 258 Vgl. ähnlich: Ramm, Thilo: Nationalsozialismus...a.a.O.(=Anm. 252), 112.

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nung heraus nicht nachkommt, mindert damit seine Stellung innerhalb der Gemeinschaft, mindert sein Ansehen und seine Ehre.“259 Nun soll nicht jeder Verstoß gegen die „soziale Ehre“ vor die Ehrengerichtsbarkeit, sondern nur „gröbliche Verletzungen“ sollen so gesühnt werden. Diese wiederum werden im § 36 Absatz 1 in den Ziffern 1 - 4 benannt: „Derartige Verstöße liegen vor, wenn 1. Unternehmer, Führer des Betriebes oder sonstige Aufsichtspersonen unter Mißbrauch ihrer Machtstellung im Betriebe böswillig die Arbeitskraft der Angehörigen der Gefolgschaft ausnutzen oder ihre Ehre kränken; 2. Angehörige der Gefolgschaft den Arbeitsfrieden im Betriebe durch böswillige Verhetzung der Gefolgschaft gefährden, sich insbesondere als Vertrauensmänner bewußt unzulässige Eingriffe in die Betriebsführung anmaßen oder den Gemeinschaftsgeist innerhalb der Betriebsgemeinschaft fortgesetzt böswillig stören; 3. Angehörige der Betriebsgemeinschaft wiederholt leichtfertig unbegründete Beschwerden oder Anträge an den Treuhänder der Arbeit richten oder seinen schriftlichen Anordnungen hartnäckig zuwiderhandeln; 4. Mitglieder des Vertrauensrates vertrauliche Angaben, Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse, die ihnen bei Erfüllung ihrer Aufgaben bekanntgeworden und als solche bezeichnet worden sind, unbefugt offenbaren.“ Für diese erschöpfend aufgezählten „gröblichen Verletzungen der durch die Betriebsgemeinschaft begründeten sozialen Pflichten“ können nach § 38 AOG die folgenden „ehrengerichtlichen Strafen“ ausgesprochen werden: Warnung, Verweis, Ordnungsstrafe in Geld bis zu zehntausend Reichsmark, Aberkennung der Befähigung, Führer des Betriebes zu sein, was bezeichnenderweise die Eigentums- und Dispositionsgewalt in betrieblichen Fragen jenseits der „Menschenführung“ nicht berührt. Darüber hinaus kann die Befähigung abgesprochen werden, das Amt eines „Vertrauensmannes“ auszuüben. Schließlich ist als Strafe eine Entfernung vom Arbeitsplatz denkbar. In der Praxis ist die Bedeutung der „Ehrengerichte“ relativ gering. In der Mehrzahl der Fälle richtet sich die Spruchtätigkeit dieser Gerichte gegen bestimmte Arbeitgeber. Der Schwerpunkt der Rechtsprechungstätigkeit liegt in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. In nicht geringem Umfang dienen diese Gerichte der Durchsetzung von Anordnungen der „Treuhänder der Arbeit.“ Ansonsten spielen Verfahren wegen „böswilliger“ Ausnutzung der Arbeitskraft der „Gefolgschaft“ und „Ehrenkränkungen“ eine große Rolle.260 Für die Disziplinierung der abhängig Beschäftigten stehen den „Betriebsführern“ und dem Staat durchaus andere Mittel zur Verfügung, so daß es von dieser Seite relativ selten zur Klageerhebung kommt. Folgt man der Auffassung des exilierten Gewerkschaftsjuristen Franz L. Neumann, dann ergibt sich aus den wenigen Fällen, die vor den „sozialen Ehrengerichten“ verhandelt werden, daß dieser „Sonderjustizapparat“ mehr oder weniger zur Staffage verkommt, bestenfalls geeignet, gegenüber der Arbeiterschaft „soziales Verantwortungsbewußtsein“ zu demonstrieren.261 Auch der andere arbeitsweltbezogene „Sonderjustizapparat“, die Arbeitsgerichtsbarkeit, verliert an Bedeutung. Das Ende des kollektiven Arbeits259 Siebert, Wolfgang: Die deutsche...a.a.O.(=Anm. 244), 98. 260 Vgl. zu Einzelheiten: Kranig, Andreas: Lockung und Zwang...a.a.O.(=Anm. 232), 232 ff.; vgl. auch: Helmke, Ulrich: Das Verfahren der sozialen Ehrengerichtsbarkeit. Quakenbrück 1935 (Diss. jur.). 261 Verhandelt und abgeschlossen werden 65 Fälle im Jahre 1934, 204 Fälle im Jahre 1935, 251 Fälle im Jahre 1936. 1937 wird in 342 Fällen Anklage erhoben, 1938 in 232, 1939 in 142; vgl. zu den Zahlen: Wahsner, Roderich: Arbeitsrecht unter'm Hakenkreuz. Baden-Baden 1994, 119 f. In diesem Zusammenhang ist auf die Pläne hinzuweisen, ein umfassendes „Arbeitsstrafrecht“ im angestrebten neuen Strafgesetzbuch zu verankern; vgl. als abwehrende Stellungnahme dazu: Mansfeld, Werner: Probleme des Arbeitsstrafrechts. In: NS-Sozialpolitik, 1(1933/34)2, 36 - 39, sowie: Schutz der Arbeitskraft. In: Die Deutsche Volkswirtschaft, 4(1935)17, 533 - 534; Angelpunkt der Diskussion ist die Schrift: Nationalsozialistisches Strafrecht. Denkschrift des Preußischen Justizministers. Berlin 1933.

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rechts trägt zu dieser Entwicklung bei. Hinzu kommt die Tätigkeit der aus den Trümmern der zerschlagenen Arbeiterbewegung erbauten DAF-Rechtsberatungsstellen und die bald erreichte Vollbeschäftigung. Die Rechtsberatungsstellen verfolgen eine Strategie der Klagevermeidung durch Güteverfahren, außergerichtliche Vergleiche und Klagerücknahme. Wesentlich auf die Verhandlung „bürgerlicher Rechtsstreitigkeiten“ beschränkt,262 bieten auch die Arbeitsgerichte als eingeschüchterte und nazifizierte Institutionen schon bald keinen Schutz mehr gegen die Kündigungen, die im Zuge der „Säuberungsaktionen“ aus politischen und rassistischen Gründen vorgenommen worden sind. Bereits in den Entscheidungen der Jahre 1933/34 „...gibt es zahlreiche Beispiele eines kritiklosen bis willigen, teilweise auch eifernden Nach- oder gar Vorausvollzugs der formal verfassungswidrigen, inhaltlich Willkür zu Recht erhebenden NS-Gesetze, voran des Gesetzes über Betriebsvertretungen vom 4. 4. 1933.“263 An die Mitglieder der „Vertrauensräte“ werden bestimmte Anforderungen gestellt. Sie müssen sich u.a. durch „vorbildliche menschliche Eigenschaften“ auszeichnen und die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit „rückhaltlos für den nationalen Staat“ eintreten. Sie müssen der DAF angehören. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß das AOG den Kündigungsschutz auf „...unbillig harte und nicht betriebsbedingte Kündigungen begrenzt.“264 Damit werden die weiterreichenden Schutzvorschriften des Betriebsrätegesetzes ersetzt, die vor allem auch gegen eine Diskriminierung wegen eines bestimmten Geschlechts, wegen politischer, militärischer, konfessioneller oder gewerkschaftlicher Tätigkeit oder Zugehörigkeit zu einem entsprechenden Verband schützen sollten. Auch diese Regelung führt zu einer Bedeutungsminderung der zwischenzeitlich nach rassistischen und politischen Kriterien „gesäuberten“ Arbeitsgerichte. Die Fallbelastung dieses Zweiges der Gerichtsbarkeit geht auch aus diesem Grund trotz der steigenden Zahl der abhängig Beschäftigten zurück.265 Auch die jenseits der Zuständigkeit der „Ehrengerichtsbarkeit“ angesiedelten Strafvorschriften gegen die abhängig Beschäftigten sind bemerkenswert: Zahlreich und drastisch sollen sie helfen, die Unterwerfung unter die Betriebsdisziplin und die rüstungspolitischen Absichten des Regimes sicherzustellen. Neben die Geld- und/oder Gefängnisstrafen, die für den Fall der Zuwiderhandlung gegen „schriftliche allgemeine Anordnungen“ des Treuhänders nach § 22 AOG angedroht werden, treten einmal „Bußen“ gemäß § 28 AOG. Nach § 27 sind „Bestimmungen über die Art, Höhe und Einziehung von Bußen, wenn solche vorgesehen werden...“ in die Betriebsordnung aufzunehmen. Die Verhängung von Bußen ist „nur“ wegen „Verstoßes gegen die Ordnung oder Sicherheit des Betriebes zulässig.“266 In Betrieben, für die eine Betriebsordnung nicht vorgesehen ist (das sind Betriebe, die in der Regel weniger als 20 Beschäftigte haben) können Bußvorschriften im Arbeitsvertrag festgelegt werden. Damit hat der Betriebsführer eine eigene besondere Disziplinargewalt, „...er 262 Dementsprechend wird das Arbeitsgerichtsgesetz neu gefaßt; vgl. die „Bekanntmachung der neuen Fassung des Arbeitsgerichtsgesetzes“ vom 10. April 1934 (RGBl. I 1934, 319). 263 Wahsner, Roderich: Arbeitsrecht...a.a.O.(=Anm. 261), 116; vgl. in diesem Zusammenhang vor allem auch: Mayer-Maly, Theo: Arbeitsgerichtsbarkeit im Nationalsozialismus. In: Archiv für Sozialgeschichte, 31(1991), 137 - 156 sowie: Thiele, Michaela: Die Auflösung von Arbeitsverhältnissen aufgrund Anfechtung und außerordentlicher Kündigung nach der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts (1927 - 1945). Frankfurt a.M. 2000. 264 Vgl.: Schneider, Michael: Unterm Hakenkreuz...a.a.O.(=Anm. 22), 297. 265 Zu einer Fallstatistik vgl.: Kranig, Andreas: Lockung und Zwang...a.a.O.(=Anm. 232), 202. Vgl. insgesamt: ns.: Die Bedeutung des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit für die Arbeitsgerichtsbarkeit. In: Soziale Praxis, 43(1934)7, Sp. 211 f. 266 Siehe § 28 AOG mit näheren Ausführungen.

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kann Pflichtwidrigkeiten im Arbeitsleben, z. B. Arbeitsvertragsbrüche, ohne Mitwirkung des Staates ahnden.“267 Die Verletzung einer Pflicht aus dem Arbeitsverhältnis ist regelmäßig als Verstoß gegen die Ordnung des Betriebes anzusehen.268 Diese Bußen sind einmal Lohnabzüge zum anderen aber auch „förmliche Verwarnungen“ und bei „pflichtwidrigem Fernbleiben“ oder sonstigen Formen der „Arbeitsentziehung“ Kürzungen des Urlaubs. Ferner kann der „Betriebsführer“ unter bestimmten Voraussetzungen das Arbeitsbuch zurückhalten, eine Maßnahme, die das Eingehen eines neuen Arbeitsverhältnisses verunmöglicht. Darüber hinaus kann ein „Betriebsführer“ ein „gröblich ordnungswidriges Verhalten“ dadurch ahnden, „...daß er das betreffende Gefolgschaftsmitglied von zusätzlichen sozialen Leistungen ausschließt.“269 Sollte andererseits der „Betriebsführer“ „Fehler“ bei der Gestaltung der allgemeinen Arbeitsbedingungen machen, so kann erforderlichenfalls gegen seinen Willen die Mehrheit des Vertrauensrates nach § 16 den Reichstreuhänder anrufen. Das Ensemble der Strafen ist damit nicht erschöpft. Da Unternehmer und abhängig Beschäftigte, soweit sie die rassistischen abstammungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllen,270 in großem Umfang Mitglieder der DAF, der NSDAP oder anderer NS-Organisationen sind, treten entsprechende Ehren- und Disziplinarstrafen und -gerichtsbarkeiten hinzu. Mit dem Ausbau der rüstungswirtschaftlichen Lenkungsapparaturen eröffnen sich Strafmöglichkeiten für die Arbeitsverwaltung und sanktionsbewehrte Eingriffsmöglichkeiten verschiedener anderer Organe in den durch das AOG zunächst erweiterten unternehmerischen Dispositionsspielraum. Sofern etwa die Behörden der Arbeitsverwaltung keine eigenen Vollstreckungsbeamten haben, können sie sich der Amtshilfe der Polizei bedienen. Schließlich steht als „besonderes Durchsetzungsmittel“ die Einweisung in ein „erzieherisches Arbeitslager“ durch die Staatspolizei zur Verfügung.271 Letztlich kommt für Verstöße gegen staatliche „Lenkungs- und Gestaltungsmaßnahmen“ das allgemeine Strafrecht und die Strafgerichtsbarkeit in Frage. Die Strafen reichen hier bis zur Zuchthausstrafe.272 „Das Strafrecht ahndet vor allem die Auflehnung gegen die gesamtvölkische Ordnung...“273 Durch die wechselseitige Durchdringung staatlicher, „parteiamtlicher“ und privater Befugnisse und Eingriffsmöglichkeiten entsteht ein Gewirr von Sanktionsmöglichkeiten. Folgt man der sich bald durchsetzenden Meinung, daß die Partei, der Staat und die Betriebe die eigentlichen Träger der neuen Arbeitsverfassung seien, so lassen sich die Strafen bzw. „Durchsetzungsmittel“ dieser Betriebs- bzw. Arbeitsverfassung wie folgt gliedern und zusammenfassen: „Die Mittel der P ar te i sind vor allem Erziehungs- und Disziplinarmittel... Die Mittel des S ta a te s sind wieder zunächst Verwaltungsmittel (unmittelbarer Zwang, Ordnungsstrafe usw.) und Sühnemittel (Kriminalstrafe, soziale Ehrenstrafe); ferner tritt auf Initiative der Beteiligten die Arbeitsgerichtsbarkeit in Wirksamkeit. Im b e tr iebli c hen Bereich kommen in Betracht: Geldbuße und Urlaubskürzung als Sühnemittel, Verwarnung, Zurückhaltung des Arbeitsbuchs, Ausschluß von zusätzlichen sozialen Leistungen sowie die Anrufung der Arbeitsgerichtsbarkeit zur Durchsetzung von Erfüllungs-, Entschädigungs- und Schadensersatzansprüchen.“274 In juristisch nie ganz unumstrittener 267 Siebert, Wolfgang: Die deutsche...a.a.O.(=Anm. 244), 101. 268 Vgl. denselben, ebenda, 101. 269 Derselbe, ebenda, 102. 270 Vgl. dazu: Ulmenstein, Freiherr von: Der Abstammungsnachweis...a.a.O.(=Anm. 74), insbes. 24 ff. 271 Vgl.: Siebert, Wolfgang: Die deutsche Arbeitsverfassung...a.a.O.(=Anm. 244), 95. 272 Vgl. denselben, ebenda, 97. 273 Derselbe, ebenda, 98. 274 Derselbe, ebenda, 107.

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Rang- und Reihenfolge ist dabei vorgesehen, etwa zur „Durchsetzung der Arbeitspflicht des Gefolgsmannes“, mehrere, ja viele Strafen parallel zur Anwendung zu bringen.275 Mit dem AOG hat die DAF immerhin ihre rechtliche Anerkennung als einzige Massenorganisation im Bereich des Betriebslebens erreicht. Als wesentliche Trägerin der Volks- und Betriebsgemeinschaftsideologie ist sie zwar aus dem Kernbereich der Regulierung der Lohn- und Arbeitsbedingungen ausgeschaltet, sie trägt trotzdem mit ihrem umfassenden Anspruch auf Mitgestaltung des Arbeitslebens auch zu manchen realen Verbesserungen bei.276 Die Anerkennung und gesetzliche „Befestigung“ (G. Briefs) einer rechtsgerichteten, nationalen bzw. nationalsozialistischen Verbändevielfalt durch die Gesetzgebung der Machtergreifungsphase ist damit dem Monopolanspruch des Nationalsozialismus zum Opfer gefallen.277 Da es jedoch das Ziel der Führung der DAF ist, einen möglichst umfassenden Einfluß auf die Gestaltung nicht nur des Arbeitslebens, sondern der gesamten Sozialpolitik zu gewinnen, wird das AOG insbesondere von Robert Ley nicht ohne Grund eher als Kampfansage empfunden,278 als Mittel der Verdrängung aus dem Kernbereich der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen. Mit ihrem umfassenden Gestaltungsanspruch kollidiert die DAF mit konkurrierenden Institutionen, insbesondere mit dem Unternehmertum, den Treuhändern, mit der Parteiführung, mit Reichsministerien, insbesondere mit dem Reichsarbeitsministerium, das weiter unter der Führung von Franz Seldte steht und dem Reichswirtschaftsministerium. Durch die recht zweifelhafte „Verordnung des Führers und Reichskanzlers über Wesen und Ziel der Deutschen Arbeitsfront“ vom 24. Oktober 1934 in der Fassung der Verfügung vom 12. November 1934279 erzielt die DAF durchaus Geländegewinne. Der in vielem unklare Text dieser Rechtsquelle, der beeindruckende, aktionistische Drang zur Schaffung neuer Organisationsformen, der dauernde Druck auf staatliche Organe und Unternehmertum und der nie aufgegebene umfassende Machtanspruch läßt die Konflikte nicht erlöschen. Das führt zu weiteren Bemühungen, den Status und den Zuständigkeitsbereich der Arbeitsfront zu konkretisieren bzw. zu Vorstößen der Führung der Arbeitsfront, den Einflußbereich der DAF entscheidend zu vergrößern. Dazu gehört z.B. das Bestreben, die Selbständigkeit der Organisationen der gewerblichen Wirtschaft zu unterminieren, was insbesondere in Kreisen des Handwerks zu großer Beunruhigung führt.280 Mit einem „Erlaß des Führers und Reichskanzlers“ vom 21. März 1935 und der sich daran anschließenden „Vereinbarung zwischen dem Reichswirtschaftsminister, dem Reichsarbeitsminister und dem Leiter der Deutschen Arbeitsfront“, der am 26. März 1935 verkündeten „Leipziger Verein275 Vgl. denselben, ebenda., 103 ff. 276 Vgl. zu den betriebsbezogenen Aktivitäten der DAF: Siegel, Tilla: Rationalisierung statt Klassenkampf. Zur Rolle der Deutschen Arbeitsfront in der nationalsozialistischen Ordnung der Arbeit. In: Mommsen, Hans, Willems, Susanne (Hg.): Herrschaftsalltag im Dritten Reich. Düsseldorf 1988, 97 - 224 und zusammenfassend: Schneider, Michael: Unterm Hakenkreuz...a.a.O.(=Anm. 22), 238 ff. 277 Der Fortbestand und die geduldete Existenz machtloser konfessioneller Arbeiter- und Gesellenverbände spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle; vgl. dazu: Schneider, Michael: Unterm Hakenkreuz...a.a.O.(=Anm. 22), 278 Vgl. denselben, ebenda, 297. 279 Vgl. denselben, ebenda, 181 ff. Zweifelhaft ist vor allem die Art in der Ley den Reichskanzler zur Unterschrift bewegt hat sowie die Tatsache, daß diese Verordnung zunächst nur im amtlichen Nachrichtenblatt der DAF und in DAF-Publikationen veröffentlicht wird. Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Bohnstedt, Werner: Das gesetzliche Fundament der Deutschen Arbeitsfront. In: Soziale Praxis, 43(1934)44, Sp. 1308 - 1313. 280 Vgl. insgesamt: Schneider, Michael: Unterm Hakenkreuz...a.a.O.(=Anm. 22) 185 ff.; zu den Angriffen auf die selbständigen Wirtschaftsorganisationen vgl. das Schreiben des Reichswirtschaftsministers Hjalmar Schacht vom 26. Juni 1936 an Ley. SAPMO-BA. KPD/ZK. I 2/708/141, Bl. 36 - 39; eine besser lesbare Abschrift ebenda, Bl. 40 - 42.

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barung“, entsteht eine an den Räteartikel (Artikel 165) der Weimarer Reichsverfassung erinnernde spezifische Kammer- bzw. „Räteorganisation“, durch die die Wirtschaft an die DAF gebunden werden soll. Der Machtkampf wird auch durch diese Vereinbarung nicht beendet.281 Eine allerdings nur von Ley gezeichnete „Vereinbarung“ zwischen dem Reichsarbeitsminister und der DAF vom 6. August 1939 soll zu einem weiteren Geländegewinn der DAF führen. Kurz vor dem Krieg skizziert wird sie aber offensichtlich nicht mehr verhandelt und wirksam.282 Im Rahmen dieser Arbeitsverfassung und der sie umgebenden Diktatur können sich die abhängig Beschäftigten nicht mehr als unabhängig handelndes Subjekt konstituieren. Sie sind vielmehr zu einem Objekt der Unterdrückung, der Kontrolle, der Betreuung und auch der Furcht der neuen Machthaber geworden. Wie schon an den imperialistischen Beiklängen der Debatten vor 1933 deutlich geworden ist, geht es den nunmehr zur Herrschaft gekommenen Kräften im Zusammenhang mit der „Besiegung des Klassenkampfes“ immer auch um die Schaffung von Strukturen und Dispositionen im „Volk“, die eine Wiederholung eines neuen „Novembers“ im Zuge der möglicherweise gewaltsamen Beseitigung des „Schandvertrages von Versailles“ ausschließen sollen. Die Tatsache, daß die Zerschlagung der Arbeiterbewegung für die NS-Regierung nicht nur ein Racheakt am politischen Gegner sondern auch eine „Präventionsmaßnahme“ für die Zeit eines erneuten „Völkerringens“ sein soll, läßt sich an zahlreichen Dokumenten belegen. Wiederum, wie schon in der Ära des Imperialismus,283 wird über den „totalen Krieg der Zukunft“ und die daraus erwachsenden Lasten für und Leistungsanforderungen an das „deutsche Volk“ spekuliert. Es ist nunmehr z.B. Robert Ley, der vor dem Hintergrund der Thematisierung des Krieges als riesiger „Arbeitsanstrengung“ und „Opfergang“ unerhörten Ausmaßes, Forderungen nach sozialpolitischen Verbesserungen erhebt. Er rechtfertigt das Freizeitwerk „Kraft durch Freude“ und die Propagandaaktionen der DAF mit dem Hinweis darauf, daß der „beste Staatsmann“ mit einem Volk mit „zerütteten Nerven“ keine kraftvolle Politik treiben könne. „Der verlorene Weltkrieg sollte uns diese Erkenntnis für alle Ewigkeit eingehämmert haben.“284 Die Zeit der zahlreichen großen wirtschaftlichen und politischen Arbeitskonflikte, der wirklichen, der gewaltigen „Klassenkämpfe“ wird bereits mit der Weltwirtschaftskrise und abrupt dann mit der Machtergreifung beendet.285 Vor dem Hintergrund des drastisch ausgestalteten Kontroll- und Sanktionsapparats entwickeln sich in den Betrieben nunmehr ganz spezifische, verdeckte und offene Widerstandsformen gegen die von Partei, Staat und Betriebsführung ausgehenden Ansprüche. Dieser Widerstand am Arbeitsplatz und im Betrieb ist „naturgemäß“ ganz anders strukturiert als der organisierte, aus religiösen, ethischen, weltanschaulichen und politischen Motiven gespeiste Widerstand bürgerlicher Gruppen. Der Staatsstreich, das Attentat spielen hier naturgemäß keine Rolle. Er unterscheidet sich auch vom organisierten, außerbetrieblich ansetzenden Widerstand verbliebener Teile der gewerkschaftlichen und politischen Arbeiterbewegung, wenngleich es schwer entwirrbare, nur selten nachträglich offenlegbare Beziehungen zwischen diesen beiden Formen gibt. 281 Diese „Rechtsquellen“ sind abgedruckt bei: Mansfeld, W.(erner): Die Ordnung...a.a.O.(=Anm. 239), 251 ff.; zu den geplanten Gegenmaßnahmen vgl.: Beier, Gerhard: Gesetzentwürfe zur Ausschaltung der Deutschen Arbeitsfront im Jahre 1938. In: Archiv für Sozialgeschichte, 17(1977), 297 - 335. 282 Vgl. zu dieser „Vereinbarung“: BA Abt. Potsdam. 62 DAF 1. NS 5 IV, Nr. 194, Bl. 115 ff. 283 Vgl. dazu das Unterkapitel 5.2 des ersten Bandes dieser Sozialstaatsgeschichte. 284 Die Deutsche Arbeitsfront. BA Abt. Potsdam. 30.01 Reichsjustizministerium, Nr. 2179, Bl. 71. 285 Vgl. die Tabelle bei: Petzina, Dietmar, Abelshauser, Werner, Faust, Anselm: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. Band III. München 1978, 114.

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Durch die beschriebene Umkehr in der Richtung der Arbeitsgesetzgebung, durch die „Entinstitutionalisierung“ des Konflikts zwischen Arbeit und Kapital,286 durch die Beseitigung der politischen Rechte der abhängig Beschäftigten, prägen sich spezifisch „verzerrte Formen des Klassenkampfes“ aus.287 Diese Formen finden ihre Basis zwangsläufig im Betrieb bzw. in Betriebsteilen. Sie entsprechen damit den neuen politischen, juristischen und tatsächlichen Gegebenheiten. Dementsprechend gehen häufig sehr begrenzte kollektive Formen des Aufbegehrens deutlich zurück. Individuelle, gleichwohl millionenfach praktizierte „Unbotmäßigkeiten“ und „Verweigerungen“ sind typisch und gleichzeitig durchaus in der Lage, punktuell die für die Kriegsvorbereitung und Kriegführung benötigte Effektivität und Produktivität zu gefährden. Durch die Beraubung der Möglichkeit der Durchsetzung kollektiver Ansprüche und durch ein ständig verfeinertes Spitzelsystem nimmt die Reaktion auf die Zumutungen des Arbeitslebens die Form „individualisierter Verweigerung“ an,288 dies trotz der häufig unkalkulierbaren Folgen solcher „Disziplinverstöße.“ Folgt man den „Deutschland-Berichten“ der (exilierten) Sozialdemokratischen Partei Deutschlands289 läßt sich als charakteristisches Merkmal des Widerstandes und der Gegenwehr in den Betrieben unter dem Nationalsozialismus desweiteren beobachten, daß der Alltag im Betrieb und daß die dort gemachten Erfahrungen zur Grundlage und zum Auslöser entsprechender Aktionen werden.290 Dementsprechend herrschen betriebsbezogene, häufig auch rein wirtschaftliche Forderungen vor.291 Darüber hinaus kommt es zu „Konfusionen“ auf dem Gebiet der Parteiloyalität: „Es gehört zu den Paradoxa der Betriebswirklichkeit im Dritten Reich, daß eine ganze Reihe von Arbeitern ein politisches Engagement für den Nationalsozialismus, für Hitler oder verschiedene Parteiorganisationen durchaus verbinden konnte mit einer konsequenten wirtschaftlichen Interessenvertretung im Betrieb, obwohl diese nachteilige Folgen nach sich ziehen konnten.“292 Das Auseinandertreten von ökonomischem, betriebsbezogenem und parteipolitischem Bewußtsein betrifft dabei auch die „alten Kämpfer“, die aufgrund betriebsbezogener Erfahrungen einem Prozeß der Desillusionierung unterliegen. Die durch die Diktatur und die neue Betriebs- und Arbeitsverfassung verformten Ausdrucksmöglichkeiten widerständigen Verhaltens kennen nicht nur spezifische Formen sondern zeigen auch unterscheidbare Entwicklungsetappen. Nach der Phase der zahlreichen von NS-Organisationen ausgehenden Aktionen zu Beginn der nationalsozialistischen Machtübernahme, gehen die Aktivitäten zunächst zurück. „Die Angst um den gerade wiedererhaltenen Arbeitsplatz, Kriegsfurcht, die unmittelbaren Nachwirkungen der Zerstörung der organisierten Arbeiterbewegung und das brutale Vorgehen des Polizeiapparates bewirkten selbst bei früheren Mitgliedern von Gewerkschaften und Parteien eine Haltung des 286 So die zusammenfassende Ausdrucksweise für die umgestaltete Arbeits- und Sozialverfassung bei: Siegel, Tilla: Thesen zur Charakterisierung faschistischer Herrschaft. In: Ästhetik und Kommunikation, 9(1978), 59 - 70, hier: 63. 287 Vgl.: Voges, Michael: Klassenkampf in der „Betriebsgemeinschaft.“ Die „Deutschland-Berichte“ der Sopade (1934 - 1940) als Quelle zum Widerstand der Industriearbeiter im Dritten Reich. In: Archiv für Sozialgeschichte, 21(1981), 329 - 383, hier: 330; vgl. insgesamt zu den erheblichen Erkenntnisproblemen und Forschungsergebnissen auf diesem Gebiet: Schneider, Michael: Unterm Hakenkreuz...a.a.O.(=Anm. 22), 580 - 583; 684 - 765. 288 Vgl.: Siegel, Tilla: Thesen...a.a.O.(=Anm. 286), 67. 289 Vgl.: Behnken, Klaus (Hg.): Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade). 7 Bände. Frankfurt a.M. 1980. 290 Vgl.: Voges, Michael: Klassenkampf...a.a.O.(=Anm. 287), 331. 291 Vgl. denselben, ebenda, 375. 292 Derselbe, ebenda, 375.

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Sichabfindens, des passiven Abwartens.“293 In verschiedenen Untersuchungen294 wird hervorgehoben, daß es um die Mitte der 30er Jahre zu einer bedeutenden Zunahme von Widerstand, Gegenwehr aber auch Gleichgültigkeit gegenüber den Arbeitsanforderungen kommt. Sicher spielt auch in diesem Zusammenhang die Tätigkeit „getarnt“ arbeitender Kräfte der zerschlagenen Arbeiterbewegung eine wiederum nur schwer zu fassende Rolle. Die disziplinierende Angst vor der Arbeitslosigkeit geht vor dem Hintergrund des beginnenden Rüstungsbooms und der bald erreichten Vollbeschäftigung zurück. In Teilbereichen besteht schon ein Facharbeitermangel. Gerade in diesen Bereichen, in den Rüstungsbetrieben vor allem, zeigen sich die stärksten Anzeichen von Widerstand.295 Der Widerstand entzündet sich an Lohnkürzungen, Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen, Verlängerungen der Arbeitszeit, Spendenabzügen vom Lohn. Nicht selten werden Aktionen gestartet mit dem Zweck, den eigenen Vorteil zu suchen und abzusichern. Dem „Dritten Reich“ stehen solche Personen häufig gleichgültig gegenüber.296 Eine nicht zu vernachlässigende Gruppe stellen in diesem Zusammenhang Jugendliche dar. Der Anteil zu dem diese Aktionen durch politisch-gewerkschaftliches Bewußtsein bestimmt sind oder „lediglich“ einem „zurückgestauten Konsumbegehren der Massen“ entspringen, läßt sich aufgrund gravierender Erkenntnisprobleme kaum bestimmen. Vor Verallgemeinerungen der ein oder anderen Art soll gewarnt werden.297 Die Tatsache, daß die Arbeiter „...nach und nach des elementarsten Rechts beraubt (werden), wenigstens in gewissem Rahmen zu bestimmen, wann und wo sie ihre Arbeitskraft verkaufen wollen,“298 wird - nicht unabhängig von der Konkurrenz der Betriebe um Facharbeiter - etwa folgendermaßen „ausgenutzt“: „...Arbeitnehmer (setzten) Verstöße gegen ihre Arbeitspflichten bewußt als Mittel gegen die staatliche Kontrolle des Arbeitsplatzwechsels (ein), um eine Kündigung zu erhalten und so auf einen besser bezahlten Arbeitsplatz wechseln zu können.“299 Feierschichten, Bummeleien, „übermäßiges“ Krankfeiern, achtloses Arbeiten, „freches und anmaßendes Verhalten gegen Vorgesetzte“300, die Ablehnung von Spenden, die Verweigerung des Hitlergrußes, das Fernbleiben von offiziellen Organisationen und Anlässen und die Bildung von „Kollegengruppen in denen man alles sagen kann“ begleiten millionenfach den Produktionsprozeß mit unterschiedlicher Intensität. Das gilt auch noch zu Zeiten höchster Rüstungsanstrengungen und trotz eines bis

293 So mit Bezug auf die sozialdemokratischen „Deutschland Berichte“: Derselbe, ebenda, 381. 294 Neben der Arbeit von M. Voges handelt es sich um: Mason, Timothy W.: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 179), 312 ff.; sowie: Schneider, Michael: Unterm Hakenkreuz...a.a.O.(=Anm. 22), 580 ff. 295 Vgl.: Voges, Michael: Klassenkampf...a.a.O.(=Anm. 287), 381. 296 Vgl.: Mason, Timothy W.: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 179), 313. 297 Der Interpretation, daß hinter zahlreichen Aktionen keine weitgehenden politischen Ziele stehen, es sich also kaum um Formen eines politisch bewußten Klassenkampfes handelt, neigt zu: Funke, Manfred: Gewerkschaften und Widerstand. Zwischen Ausharren und Orientierung auf die Zukunft. In: Widerstand und Exil 1933 - 1945. Frankfurt a.M., New York 1986, 60 - 75. Funke stützt sich dabei auf: Wisotzky, Klaus: Der Ruhrbergbau im Dritten Reich. Düsseldorf 1983. 298 Lärmer, Karl: Vom Arbeitszwang zur Zwangsarbeit. Die Arbeitsordnungen im Mansfelder Kupferschieferbergbau von 1673 bis 1945. Berlin 1961, 245. 299 Kranig, Andreas: Das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit (AOG). In: Steindl, Harald (Hg.): Wege zur Arbeitsrechtsgeschichte. Frankfurt a.M. 1984, 441 - 500, hier: 487. 300 So die Ausdrucksweise des Dok. Nr. 180 vom 22. April 1941. In: Boberach, Heinz (Hg.): Meldungen aus dem Reich. Neuwied und Berlin 1965, 136.

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zuletzt stark wirksamen Polizei- und Sicherheitsapparats.301 Die durch Fernbleiben gewonnen „Freizeiten“ werden von den Arbeitern nicht selten dazu benutzt, sich durch die Arbeit auf eigenem oder fremdem Acker zusätzliche Lebensmittel zu beschaffen. Eine Notwendigkeit angesichts verlängerter Arbeits- und arbeitsgebundener Zeiten insbesondere für Väter kinderreicher Familien. In die Zeit um die Mitte der 30er Jahre fällt auch der Höhepunkt der insgesamt seltenen und untypischen und für die Teilnehmer auf jeden Fall viel riskanteren kollektiven Aktionen bzw. Streiks. Diese Vorgänge sind nicht nur insofern durch die Zeitumstände geprägt, als sie zur seltenen Ausnahme der Interessenartikulation geworden und streng auf einen Betrieb bzw. auf einen Betriebsteil beschränkt sind. In der Regel beteiligen sich an ihnen als Folge der veränderten Gegebenheiten nicht mehr als 100 Teilnehmer, nur ausnahmsweise sind es mehr als 1.000. Die Streiks sind kurz, sie dauern zumeist nur wenige Stunden, selten einen Tag.302 Diese Streiks bzw. streikähnlichen Aktionen finden zudem häufig in großer Isolation statt. Sie werden teilweise nicht einmal betriebsweit bekannt.303 Insgesamt lassen sich z.B. die Arbeitskämpfe und anderen Widerstandsformen der Jahre 1936/37 wie folgt deuten: „So unzureichend der Einblick... auch ist, so läßt sich doch festhalten, daß das Ausmaß der Streikaktivitäten das Bild einer vollständigen Integration ‘der’ Arbeiter in die ‘Betriebsgemeinschaft’ als ebenso realitätsfern erscheinen läßt wie die Annahme, ‘die’ Arbeiterklasse sei in den dreißiger Jahren ein, wenn nicht das Zentrum von Unzufriedenheit und Opposition gewesen. An diesem Eindruck ändern auch die vereinzelten Hinweise auf Sabotageakte nichts, die etwa die Gestapo verzeichnete: Danach standen z.B. in der Zeit von September bis Dezember 1938 47 Streiks immerhin 28 Sabotageakte gegenüber.“304 Gegenüber den Abwehr- und Widerstandshandlungen deutscher Arbeitskräfte werden die Strafen, die von der „Rechtsordnung“ vorgesehenen „Durchsetzungsmittel“ der Betriebsgemeinschaft nach den Kriterien ihrer „Effektivität“ und Handhabbarkeit eingesetzt. Dementsprechend zeigt sich ein rasches Fortschreiten zu den schweren und schwersten Strafen und ihr unverhältnismäßiger Einsatz. Auch quasigewerkschaftliche oder widerständische Aktivitäten aus den Reihen der DAF scheinen zu dieser Zeit nicht unbedeutend gewesen zu sein. Wegen „hochverräterischer Betätigung“ werden einem Bericht des Zentralbüros der DAF zufolge 1936 etwa 1.700, im ersten Halbjahr 1937 schon 1.000 DAF-Mitglieder, darunter auch „Amtswalter“, festgenommen.305 Die Auferlegung von Bußen, die nach 27 AOG in der Betriebsordnung umschrieben werden müssen, und die Anwendung der Zwangsmittel der Arbeitsämter dürfen als massenhaft praktiziertes Vorgehen angenommen werden. Selbst wenn die Bußen sich nur auf die betrieblichen Sozialleistungen beziehen, können sie empfindlich treffen, weil sie, teils als Ersatz für verbotene Lohnerhöhungen, ständig zunehmen und bald oft bis „...zur Hälfte des tariflichen und bis zu einem Drittel des tatsächlich gezahlten Lohns...“ ausmachen. Sie werden damit zu einer Prämie für „Arbeitsdisziplin und produktionskonformes Verhal301 Vgl. dazu die Untersuchung von: Karner, Stefan: Arbeitsvertragsbrüche als Verletzung der Arbeitspflicht im „Dritten Reich“. Darstellung und EDV-Analyse am Beispiel des untersteirischen VDM-Luftfahrtwerkes Marburg/Maribor 1944. In: Archiv für Sozialgeschichte, 21(1981), 269 - 328. 302 Vgl.: Morsch, Günter: Streik im „Dritten Reich“. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 36(1988)4, 649 689, bes. 683 ff. 303 Vgl.: Voges, Michael: Klassenkampf...a.a.O.(=Anm. 287), 379. 304 Schneider, Michael: Unterm Hakenkreuz...a.a.O.(=Anm. 22), 582. 305 Vgl.: Harrer, Jürgen: Gewerkschaftlicher Widerstand gegen das „Dritte Reich“. In: Deppe, Frank u. a.(Hg.): Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung. Zweite, erweiterte Auflage. Köln 1978, 211 - 319, hier: 242 f.

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ten.“306 In die Zigtausende geht die Zahl der abhängig Beschäftigten, die zu schweren und schwersten Kriminalstrafen verurteilt oder in Polizei- bzw. Gestapo-Haft genommen werden. So werden z.B. im Krieg im Mansfelder Kupferschieferbergbau Arbeiter bei wiederholtem unentschuldigten Fernbleiben von der Arbeit, nachdem „...alle Ermahnungen seitens der Betriebsführung und der Deutschen Arbeitsfront fehlgeschlagen waren...“ zu 5 - 8 monatigen Gefängnisstrafen verurteilt.307 Der „Geist“ und die Stoßrichtung der sozialpolitischen Änderungen, die im Zuge der Entwicklung zu einem „großdeutschen Sozialstaat“ auf dem Gebiet der Arbeitsverfassung in Österreich vorgenommen werden, bewegen sich zum Teil in die Richtung, die bereits der Austrofaschismus in den Jahren 1933 bis 1938 eingeschlagen hatte.308 Durch die „Verordnung über die Einführung sozialrechtlicher Vorschriften im Lande Österreich“ vom 26. März 1938309 wird ein gewisser Kündigungs- und Entlassungsschutz, eine Lohnzahlung an Feiertagen gemäß den reichsgesetzlichen Vorschriften und eine Aufrechterhaltung der Lohn- und Gehaltszahlungen sowie der sonstigen Arbeitsbedingungen für Österreich verfügt. Die reichsgesetzlichen Vorschriften über die „Reichstreuhänder der Arbeit“ gelten in großem Umfang nun auch dort. Für das Land Österreich, heißt es, „...wird ein Reichstreuhänder der Arbeit mit dem Sitz in Wien bestellt.“ Die „Anordnung über Bildung und Verfahren des sozialen Ehrengerichts im Lande Österreich“ vom 12. November 1938310 bestimmt Wien auch zum Sitz des „sozialen Ehrengerichts“. Durch die „Zweite Verordnung über die Einführung sozialrechtlicher Vorschriften im Lande Österreich“ vom 9. Juli 1938311 wird das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ mit Wirkung vom 10. Juli 1938 in Österreich in Kraft gesetzt. Es besiegelt nunmehr auch in diesem Land die Epoche einer „demokratischen Sozialpolitik“. Bei der Bestellung der „Vertrauensmänner“ hat die NS-Bewegung eine im Vergleich zum „Altreich“ bedeutend stärkere Stellung.312 Die „Verordnung über die Errichtung der Reichstreuhänderverwaltung im Lande Österreich“ vom 14. Oktober 1938313 bestimmt, daß das Land Österreich „bis auf weiteres“ das Wirtschaftsgebiet „Ostmark“ bildet. Sie setzt bestimmte Durchführungsverordnungen zum Arbeitsordnungsgesetz für Österreich in Kraft und überträgt die reichgesetzlichen Vorschriften über die Heimarbeit auf dieses Land. Auch für den öffentlichen Dienst werden die entsprechenden reichsgesetzlichen Regelungen übertragen. Auf der Grundlage des „Erlasses des Führers und Reichskanzlers über die Verwaltung in den sudetendeutschen Gebieten“ vom 1. Oktober 1938 wird mit entsprechenden Folgen ein „Reichstreuhänder der Arbeit“ mit Sitz in Reichenberg bestellt.314 Durch die „Zweite Verordnung über die Einführung sozialrechtlicher Vorschriften in den sudetendeutschen 306 Vgl.: Spohn, Wolfgang: Betriebsgemeinschaft...a.a.O.(=Anm. 199), 152. 307 Lärmer, Karl: Vom Arbeitszwang...a.a.O.(=Anm. 298), 254 f. 308 Vgl.: Talos, Emmerich: Sozialpolitik 1938 bis 1945. In: Talos, Emmerich, Hanisch, Ernst, Neugebauer, Wolfgang (Hg.): NS-Herrschaft in Österreich 1938 - 1945. Wien 1988, 115 - 140, hier: 115; ausführlicher zur sozialpolitischen Entwicklung 1933 bis 1938: Talos, Emmerich: Staatliche Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 176), 249 ff. 309 Vgl.: RGBl. I 1938, 335. 310 Vgl.: RGBl. I 1938, 1610. 311 Vgl.: RGBl. I 1938, 851. 312 Vgl. den Artikel I der zweiten Verordnung. 313 Vgl. den Abdruck dieser Rechtsquelle bei: Beyer, Rudolf (Hg.): Hitlergesetze VI. Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20. Januar 1934 und Gesetz zur Ordnung der Arbeit in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben vom 23. März 1934... Leipzig 1940, 103 ff.; ansonsten: RGBl. I 1938, 1515. 314 Dies geschieht mit der ersten „Verordnung über die Einführung sozialrechtlicher Vorschriften in den sudetendeutschen Gebieten“ vom 22. November 1938 (RGBl. I 1938, 1670; 1939, 977).

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Gebieten“ vom 25. Mai 1939315 werden das Arbeitsordnungsgesetz mit bestimmten Durchführungsverordnungen, die Gesetzgebung über die Heimarbeit und die Regelungen der „Lohnzahlung am nationalen Feiertag“ auf dieses Gebiet übernommen. Damit wird die kollektivrechtliche Ordnung und die bisherige sozialpolitische Entwicklung auch für dieses Gebiet abgebrochen, nicht ohne daß bestimmte Anpassungs- und Übergangsregelungen und eine reichlich bemessene Delegation von Regelungsbefugnissen an Exekutivbehörden vorgesehen wird. So soll eine Feinsteuerung des territorial wachsenden „völkischen“ und nunmehr auch „großdeutschen Sozialstaats“ vorgenommen werden können.316

4.1.4 Von der „Arbeitsschlacht“ zum Arbeitseinsatz Die „Überwindung der Arbeitslosigkeit“ ist zweifellos das Ereignis, das die nachhaltigste Wirkung auf die in ständiger Existenzbedrohung lebenden Beschäftigten und auf die vielen der Verelendung preisgegebenen arbeitslosen Menschen hinterläßt. Hitlers Schwur „gebt mir vier Jahre Zeit...“ konnte für den „kleinen Mann“ nicht trefflicher eingelöst werden, als durch die Behebung von Arbeitslosenelend und Existenzangst. Wenn die Rede davon ist, es sei nicht alles schlecht gewesen, was Hitler gemacht habe, bezieht sich das häufig auf die damals als „Arbeitsschlacht“ bezeichnete Arbeitsbeschaffung. Gerade auf diesem Gebiet muß sich die demagogische Umwerbung des „nationalen Arbeitertums“ bewähren. Auf diesem Gebiet hatte die Weimarer Republik mit ihren Debatten, Kompromissen und ihrer Hilflosigkeit in den Augen vieler am gravierendsten versagt. Auf dieses Gebiet konzentrieren sich in der nationalsozialistischen Propaganda die Versprechungen. Die offizielle Statistik zeichnet ein eindrucksvolles Bild der „Erfolge“ der „Arbeitsschlacht“: Tabelle 2: Gemeldete Arbeitslose im (Groß-)Deutschen Reich 1933 - 1939 (in Millionen) Jahr 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939

Januar 6,014 3,773 2,974 2,520 1,853 1,052 0,647

April 5,331 2,609 2,233 1,763 0,961 0,423 0,217

Juli 4,464 2,426 1,754 1,170 0,563 0,218 0,074

Oktober 3,745 2,268 1,829 1,076 0,502 0,164 0,127

Quelle: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich. 59. Jahrgang 1941/42. Berlin 1942, 426. Ab April 1935 Zahlen einschließlich Saarland; ab Januar 1939 Zahlen einschließlich der „Ostmark“ und der „sudetendeutschen Gebiete.“ Zahlen vom Verfasser gerundet.

315 Vgl.: RGBl. I 1939, 975. 316 Eine umfassende Wiedergabe der Rechtsquellen des „großdeutschen Sozialstaats“ findet sich, soweit es um die Arbeitsverfassung geht, in den „späten“ Ausgaben der Arbeitsrechtskommentare; vgl. vor allem: Mansfeld, W.(erner): Die Ordnung der nationalen Arbeit...Handausgabe mit Erläuterungen. 2. ergänzte Auflage. Berlin 1943, 272 ff.; Dietz, Rolf: Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit... Textausgabe mit Einleitung, Erläuterungen und Sachverzeichnis. 7., durchgearbeitete und vermehrte Auflage. München und Berlin 1942, 304 ff.

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Diese Statistik ist aus vielerlei Gründen interpretationsbedürftig. In ihr drücken sich verschiedene Maßnahmen und Phasen staatlicher Arbeitsbeschaffung und ökonomischer Entwicklungen aus. Bereits kurz nach dem Beginn der Machtergreifung am 1. Februar 1933 verkündet Hitler in seinem Aufruf an das deutsche Volk: „Die nationale Regierung wird mit eiserner Entschlossenheit und zähester Ausdauer folgenden Plan verwirklichen: ... Binnen 4 Jahren muß die Arbeitslosigkeit endgültig überwunden sein.“317 Die Voraussetzungen, dieses Ziel zu erreichen, sind 1933 zumindest nicht ungünstig: Jede an Beschäftigteninteressen orientierte systemkritische Opposition wird im Zuge der Machtergreifung ausgeschaltet oder verfolgt. Eine kritische Kommentierung oder Störung der im Einzelfall vielfach rücksichtslosen, dilettantischen und mitunter auch scheiternden Arbeitsbeschaffungsaktionen, ein Schutz der Rechte der Arbeitslosen und eine Kritik an statistischen Manipulationen kann so nicht Platz greifen. Das verstärkt den Erfolg der Arbeitsbeschaffung insbesondere auch was die propagandistische Begleitung und Auswertung der Aktionen betrifft. Das „geistige Rüstzeug“ und die Instrumente zur Krisenüberwindung sind schon in der Weimarer Republik bedacht und geschaffen worden. Die Diktatur profitiert nun vom Erfolg der ersten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die unter der Kanzlerschaft von Papen und von Schleicher ergriffen worden sind. Der Tiefpunkt der ökonomischen Krise ist 1933 durchschritten.318 Das offensichtliche Debakel der Brüningschen Deflationspolitik hat den Widerstand gegen eine expansionistische Politik schon vor 1933 in erheblichem Maße dahinschmelzen lassen. Vor diesem Hintergrund lassen sich auf dem Weg zur Überwindung der Arbeitslosigkeit hin zur umfassenden Mobilisierung, Beherrschung und Kontrolle der Arbeitskraft im Vorfeld der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges insgesamt vier Phasen der Arbeitsmarktpolitik unterscheiden:319 1. Die Phase der „Arbeitsschlacht“ bzw. Arbeitsbeschaffung in den Jahren 1933/34. 2. Die Phase von 1935/36, in der es auf dem Gebiet des Arbeitseinsatzes für rüstungsbedeutsame Betriebe zu ersten offenkundigen Maßnahmen der gesetzlichen Arbeitskräftelenkung kommt. 3. Die Phase vom Beginn des Vierjahresplans bis zum Sommer 1938, in der wehrwirtschaftliche Planungen zunehmend direkte Steuerungs- und Mobilisierungsmethoden bedingen. 4. Die Phase ab Juni 1938, die den Übergang zur Zwangsrekrutierung der Arbeitskraft bringt und bis zur „...vollständige(n) Kontrolle der Arbeitsversorgung seit dem Kriegsausbruch durch die Verordnung des Ministerrats für die Reichsverteidigung vom 1. September 1939“ reicht.320 Die viel propagierte „Arbeitsschlacht“ der Nationalsozialisten stützt sich in den ersten Monaten der Hitler-Diktatur auf ein Programm, das von dem Staatssekretär im Reichsfinanzministerium, Fritz Reinhardt, entworfen wurde. Dieser nimmt Rückgriff auf Vorarbeiten, die der schon unter von Schleicher tätige Reichskommissar Günther Gereke geleistet 317 Zitiert nach: Die Nationalregierung an das deutsche Volk. Zwei Vierjahrespläne sollen die Not überwinden. In: Neue Preußische Kreuz Zeitung, 86. Jahrgang, Nr. 33 vom 2. Februar 1933, 1 f. 318 Vgl.: Fischer, Wolfram: Die Wirtschaftspolitik Deutschlands 1918 - 1945. Lüneburg 1961, 57. 319 Bei dieser Einteilung greife ich zurück auf: Petzina, Dietmar: Die Mobilisierung deutscher Arbeitskräfte vor und während des Zweiten Weltkrieges. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 18(1970),443 - 455, hier: 443 und 449 ff.; ähnlich: Neumann, Franz L.: Mobilisierung der Arbeit in der Gesellschaftsordnung des Nationalsozialismus (1942). In: Söllner, Alfons (Hg.): Franz L. Neumann: Wirtschaft. Staat. Demokratie. Aufsätze 1930 - 1954. Frankfurt a.M. 1978, 261. 320 Neumann, Franz L.: Mobilisierung...a.a.O.(=Anm. 319), 261; eine etwas abweichende Einteilung der Phasen der „Arbeitsmarktpolitik“ beinhaltet: Kranig, Andreas: Nationalsozialistische Arbeitsmarkt- und Arbeitseinsatzpolitik. In: Benöhr, Hans-Peter (Hg.): Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversorgung in der neueren deutschen Rechtsgeschichte. Tübingen 1991, 171 - 216, hier: 179.

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hat.321 Die „Bekämpfung und Niederzwingung der Arbeitslosigkeit“322 beginnt, vor und jenseits dieses Programmes, schon mit dem Faktum der bloßen Machtergreifung. Sie führt unmittelbar zu einer Besserung der Arbeitsnachfrage.323 Meldungen in der Tagespresse über Arbeitskräfteeinstellungen verbunden mit einer „moralischen“ Inpflichtnahme des Unternehmertums und des Mittelstandes wirken in eine ähnliche Richtung. Die Automobilindustrie reagiert auf die Aufhebung der Kraftfahrzeugsteuer für alle nach dem 31. März 1933 zugelassenen Fahrzeuge sofort mit einer Anhebung der Beschäftigung um 40 % bis Juni 1933.324 Auch andere Firmen initiieren „Arbeitsbeschaffungsaktionen“, um, wie es heißt, nach Jahren der „Hoffnungslosigkeit“ ihr Vertrauen zur „nationalen Regierung“ durch die Tat zu beweisen. Selbst die Landwirtschaft startet Beschäftigungsinitiativen.325 Um wilde Aktionen nationalistischer bzw. nationalsozialistischer Verbände und Stellen zu vermeiden, kommt es zwischen der „Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“ und den „nationalen Wehrverbänden“ zu einer einheitlichen zentralen Anweisung, die der bevorzugten Integration der arbeitslosen Mitglieder von SA, SS und Stahlhelm in Arbeitsstellen dienen soll. Das „deutsche Unternehmertum“, heißt es in diesem Zusammenhang, erkenne die Verdienste der „nationalen Wehrverbände“ um den „Neubau des Reiches“ an.326 Es sind jedoch nicht nur solche Reaktionsformen der Wirtschaft, die zum beschäftigungspolitischen Erfolg des NS-Regimes beitragen. Ein Teil des „Erfolgs“ spielt sich zunächst ausschließlich auf der Ebene der Statistik ab. Die Zusammenstellung der Statistik wird verändert. Unregelmäßig Beschäftigte und andere Personengruppen werden aus der Statistik vollkommen gestrichen: „Der propagandistisch stark ausgeschlachtete Rückgang der allgemeinen Arbeitslosigkeit war also zum guten Teil nicht mehr als eben eine propagandistische Leistung.“327 Erst ab Mitte 1933 läuft das „Reinhardt-Programm“ an, dessen Grundlage das „Gesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit“ vom 1. Juni 1933 ist.328 Hatte das Papenprogramm 302 Millionen RM und das unter von Schleicher initiierte „Sofortprogramm“ 600 Millionen RM umfaßt, so werden im Rahmen des nationalsozialistischen Reinhardt-Programms 1.000 Millionen RM in Form von „Arbeitsschatzanweisungen“ zur Verfügung gestellt.329 Das „Reinhardt-Programm“ sieht im einzelnen vor:330 Gelder für Instandsetzungs- und Ergän321 Vgl.: Klees, Bernd: Arbeitslosigkeit und Recht. Frankfurt a.M. 1984, 131. 322 So die an Hitlers „Befehl“ anschließende Ausdrucksweise des Reichsarbeitsministers Franz Seldte in seiner Schrift: Seldte, Franz: Sozialpolitik im Dritten Reich. Berlin 1935, 5 (= Beilage zum Reichsarbeitsblatt 1935, Nr. 36.). 323 Vgl.: Schuhmann, Walter, Brucker, Ludwig: Sozialpolitik im neuen Staat. Berlin-Charlottenburg 1934, 33. 324 Vgl.: Kroll, Gerhard: Von der Weltwirtschaftskrise zur Staatskonjunktur. Berlin 1958, 462. 325 Vgl.: Vom Tage. In: Der Arbeitgeber, 23(1933)17, 271. 326 Vgl.: Einstellung von Angehörigen der nationalen Wehrverbände in die Wirtschaft. In: Der Arbeitgeber, 23(1933)11/14, 209. 327 Vgl.: Mason, Timothy W.: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 179), 126 f. Allein diese Veränderung der Statistik hat einen „arbeitsmarktpolitischen“ Effekt von 1 Millionen Menschen. Mason schreibt: „Zu den 3,5 Mill. Personen, die bis Mitte 1934 angeblich wieder einen Arbeitsplatz gefunden hatten, zählten etwa 400 000 Jugendliche, die für ein geringes Taschengeld an die Landwirtschaft vermittelt worden waren, sodann über 600 000 Notstandsarbeiter, die - teilweise unter Androhung des Entzuges ihrer Arbeitslosenunterstützung - schwere Arbeiten im Tiefbau, bei Meliorationen etc. für einen Lohn leisten mußten, der die Höhe der früheren Unterstützung kaum überstieg.“ Vgl. ebenda, 127; vgl. auch: Silverman, Dan P.: Fantasy and Reality in Nazi Work-Creation Programs, 1933 - 1936. In: Journal of Modern History, 65(1993), 113 - 151. 328 Vgl. insgesamt: Adam: Das Gesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit vom 1. Juni 1933. In: Arbeit und Gemeinschaft, (1933), Sp. 121 - 126. 329 Vgl.: Peters, Horst: Die Geschichte der Reichsversicherung. Berlin-Lichterfelde 1941, 96. 330 Angaben nach: Lampert, Heinz: Sozialpolitik. Berlin, New York 1980, 150.

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zungsarbeiten an Brücken, Verwaltungsgebäuden und anderen Bauwerken in den Kommunen. Gelder auch für die Instandsetzung von Wohngebäuden, landwirtschaftlichen Wirtschaftsgebäuden, für Flußregulierungen, den Bau von Wasser-, Gas-, Elektrizitätswerken, den Tiefbau usw. Desweiteren wird die volle Absetzbarkeit der Ersatzinvestitionen von der Einkommens-, Körperschafts- und Gewerbesteuer ermöglicht. Weitere steuerpolitische Maßnahmen, wie etwa die spezifisch ausgestaltete Steuerbefreiung für neu errichtete Kleinwohnungen und Eigenheime, treten hinzu.331 Auch die an Ordnungsideen politischer und erbbiologisch-rassistischer Art gebundenen und bereits erwähnten Ehestandsdarlehen, die in diesem Arbeitslosigkeitsverminderungsgesetz geregelt sind, enthalten eine arbeitsmarktpolitische Komponente. Bezugsvoraussetzung ist die im Gesetz genauer geregelte Aufgabe der Erwerbstätigkeit der Frau. Dieser Anreiz zum Austritt aus dem Arbeitsmarkt wird ergänzt um Steuerermäßigungen für die Beschäftigung von Hausangestellten, durch die „Befreiung“ der Hausgehilfinnen von der Pflicht zur Zahlung von Arbeitslosenversicherungsbeiträgen und durch die Senkung der Invalidenversicherungsbeiträge mit der Folge des Verlusts bzw. der Herabminderung entsprechender Leistungsansprüche. Die Zahl der Hausgehilfinnen steigt danach in den Monaten Juli bis September 1933 um 60.000.332 Bis zum 31. Januar 1935 werden 378.000 Ehestandsdarlehen in Höhe von 206 Millionen RM ausgezahlt und entsprechende „Entlastungen“ der Arbeitsmarktstatistik erzielt.333 Desweiteren wird zu freiwilligen Spenden zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit bzw., wie es im Gesetz vom 1. Juni 1933 heißt, zur „Förderung der nationalen Arbeit“ aufgerufen und angehalten.334 Durch eine Verordnung335 wird die Wochenarbeitszeit bei öffentlichen Aufträgen vorübergehend auf 40 Stunden begrenzt und auf vielfache Weise darauf hingewirkt, daß die Maßnahmen arbeitsintensiv ausgestaltet werden. Schon bald wird diese Arbeitszeitbeschränkung wieder aufgehoben. Als weitere Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der ersten Phase der Arbeitskräftepolitik im „Dritten Reich“ sind zu nennen: Erneute Mittel zur Instandsetzung von Gebäuden durch ein „Zweites Gesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit“ vom 21. September 1933,336 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen von Reichsbahn und Reichspost. Allein die Reichsbahn betätigt wechselfinanzierte Investitionen in Höhe von 1,068 Milliarden RM und beschäftigt so 250.000 Arbeitslose. Am 27. Juni 1933 ergeht ein „Gesetz über die Errichtung eines Unternehmens ‘Reichsautobahnen’.“337 Im Laufe von sechs Jahren werden in teilweise arbeitsintensiver Weise 6.500 km Kraftfahrtbahnen ge331 Die Vielgestaltigkeit der steuerpolitischen und der anderen, vor allem finanzpolitischen Maßnahmen im Rahmen der „Arbeitsschlacht“ wird von Fritz Reinhardt in einigen Beiträgen in der „Deutschen Steuer-Zeitung und Wirtschaftlicher Beobachter“ erläutert; vgl. etwa: Reinhardt, Fritz: Die siegreiche Arbeitsschlacht. In: Ebenda, 23(1934)4, 134 - 139; derselbe: Ehestandsdarlehen-Baumarkt-Finanzierung von Kleinwohnungsbauten und Eigenheimbauten. In: Ebenda, 23(1934)7, 217 - 218; derselbe: Steuerermäßigung für Instandsetzungen und Ergänzungen an Gebäuden. In: Ebenda, 218 - 221; derselbe: Nationalsozialistischer Kampf um die Verminderung der Arbeitslosigkeit. In: Ebenda, 23(1934)27, 773 - 780; derselbe: Der erste Abschnitt der nationalsozialistischen Steuerreform. In: Ebenda, 23(1934)32, 913 - 921. 332 Vgl. als einschlägige Rechtsquellen: „Gesetz zur Befreiung der Hausgehilfinnen von der Pflicht zur Arbeitslosenversicherung“ vom 12. Mai 1933 (RGBl. I 1933, 265) und die „Verordnung über die Herabsetzung der Beiträge zur Invalidenversicherung für Hausgehilfinnen“ vom 16. Mai 1933 (RGBl. I 1933, 283). 333 Angaben nach: Kroll, Gerhard: Von der Weltwirtschaftskrise...a.a.O.(=Anm. 324), 465 f. 334 Es werden bis 1935 etwa 150 Millionen RM gespendet; vgl.: Scheur, Wolfgang: Einrichtungen und Maßnahmen der sozialen Sicherheit in der Zeit des Nationalsozialismus. Köln 1967 (Diss. rer. pol.), 42. 335 Vgl.: Die deutsche Arbeitspolitik in den letzten 10 Jahren. In: Wirtschaft und Statistik, 23(1943), 53 - 58, hier: 55. 336 Vgl.: RGBl. I 1933, 651. 337 Vgl.: RGBl. II 1933, 509.

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baut. Hunderttausende in Baracken oder Privatquartieren untergebrachte „Arbeitskameraden“ schaffen mit der „Straße Adolf Hitlers“, mit den Autobahnen, ein Bauwerk, das geradezu hymnisch gepriesen - in besonderer Weise der Selbstdarstellung des Regimes dienen soll. Hinter der Propagandafassade verschwinden unzuträgliche Verhältnisse auf den Baustellen, der Arbeitsunwille, der hohe Krankenstand und das Arbeitsleid der schlecht entlohnten und vielfach an die Schwerstarbeit in „Wind und Wetter“ nicht gewöhnten Arbeitskräfte.338 Im Verlaufe des Jahres 1933 kann die Arbeitslosenstatistik um zwei Millionen vermindert werden, ein „Erfolg“, der entsprechend gefeiert wird. Daß dieser „Erfolg“ teilweise rein statistischer Natur ist, daß Mitglieder der SA, der SS, des Stahlhelm, Mitglieder der NSDAP mit Mitgliedsnummern bis 340.000 („alte Kämpfer“), Amtswalter der Partei und ihr angeschlossener Organisationen rücksichtslos bevorzugt werden, daß bereits die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Weimarer Republik Erfolge zeigen, daß Beschäftigtenrechte nicht beachtet werden, das kann bestenfalls erfahren, nicht aber der veröffentlichten Meinung entnommen werden. Auch empfinden wohl viele „...der Notstandsarbeiter, Landhelfer und ‘Arbeitskameraden’ beim Reichsarbeitsdienst irgendeine Form der Tätigkeit schon als Befreiung von der erdrückenden Langeweile, Passivität und Hoffnungslosigkeit der Krisenjahre.“339 Besondere Anstrengungen werden unternommen, um den „Hochstand“ der Arbeitslosigkeit in den Wintermonaten abzuschwächen.340 Regelmäßig wird das propagandistisch stark ausgewertete „Winterhilfswerk“ zur Abwehr von „Hunger und Kälte“ durchgeführt.341 Schon während der ersten Phase der Arbeitskräftepolitik kommt man in dem Bestreben, die Arbeitslosigkeit zu „überwinden“, nicht ohne direkten Zwang aus. Ausländische landwirtschaftliche Wanderarbeiter werden nur noch in beschränktem Maße zur Arbeit zugelassen.342 In erheblichem Umfang kommt es aus den Reihen der NS-Bewegung zu Aktionen gegen „Doppelverdiener“, die schließlich akute soziale, wirtschaftliche und familienpolitische Gefahren heraufbeschwören. Diese sich vor allem aus der Not, der Arbeitsplatzkonkurrenz und dem Arbeitsplatz- und Einkommensneid speisenden wilden Aktionen werden auf der Basis von Grundsätzen des Reichsarbeits- und des Reichswirtschaftsministers vom 20. November 1933 kanalisiert und auf die Fälle des „ungerechtfertigten Doppelverdienertums“ beschränkt.343 Durch eine „Anordnung über die Verteilung von Arbeitskräf338 Vgl.: Scheur, Wolfgang: Einrichtungen...a.a.O.(=Anm. 334),42; der Reichsautobahnbau ist keine Erfindung der Nationalsozialisten. Die Idee geht auf den Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Auch vor 1933 wurden schon Autobahnen gebaut, so die AVUS und andere Autobahnteilstrecken. In der Weimarer Republik wurden weitergehende Planungen vorangetrieben; vgl.: Kaftan, Kurt: Der Kampf um die Autobahnen. Berlin 1955. Erstaunlich kritisch zu den Zuständen beim Autobahnbau: Adam: Reichsautobahn und Arbeitsämter. In: Die Arbeitslosenhilfe, 2(1935)21/22, 393 - 395; als „Lobpreisung“ des Autobahnbaues etwa: Forstreuter, Adalbert: Strassen verbinden die fernsten Teile der Volksgemeinschaft. In: Arbeitertum, 7(1937)16, 6 - 8; aus der Sicht der DDRHistoriographie: Lärmer, Karl: Autobahnbau in Deutschland 1933 bis 1945. Berlin 1975. 339 Mason, Timothy W.: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 179), 127. 340 Vgl: Reinhardt: Auch im Winter für den Kampf gegen Arbeitslosigkeit gerüstet. In: Wirtschaftlicher Beobachter, 10(1933)48, 557 - 560; Reinbothe, H.: Die Durchführung der Notstandsarbeiten im Winter 1934/35. In: Die Arbeitslosenhilfe, 1(1934)15, 241 - 243. 341 Sowohl das bereits erwähnte „Hilfswerk Mutter und Kind“ als auch das „Winterhilfswerk“ werden über den institutionellen Rahmen der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“ abgewickelt; vgl.: Hansen, Eckhard: Wohlfahrtspolitik im NS-Staat. Augsburg 1991. 342 Vgl.: Die deutsche Arbeitspolitik...a.a.O.(=Anm. 335), 55. 343 Vgl.: Mason, Timothy W.: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 179), 134 f.; vgl. auch das Schreiben des Reichsarbeitsministers IV a Nr. 8244/33 an sämtliche Reichsminister vom 13. Juni 1933. BA Abt. Potsdam. 30.01 Reichs-

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ten“ vom 28. August 1934 werden die zu „Betriebsführern“ der neuen Arbeitsverfassung aufgestiegenen Unternehmer gesetzlich verpflichtet und die Arbeitsämter ermächtigt, die altersmäßige Zusammensetzung der Beschäftigten zu überprüfen und unter gewissen Umständen ledige Arbeiter unter 25 Jahre durch erwerbslose Familienväter zu ersetzen. Von dieser auch bevölkerungspolitisch motivierten und für die Betroffenen sehr schmerzhaften „Freimachungs- und Neueinstellungsaktion“ sind ausgenommen: die Verheirateten, Lehrlinge, aus der Wehrmacht und bestimmten Diensten (ehrenvoll) Entlassene und die Todfeinde der Demokratie bzw. die Stützen der Diktatur, wie die Angehörigen der SA, der SS und des „Nationalsozialistischen Deutschen Frontkämpferbundes“, soweit sie diesen Verbänden vor dem 30. Januar 1933 angehörten, Mitglieder der NSDAP bis zur Mitgliedsnummer 500.000, „Amtswalter“ der Partei, soweit sie bereits vor dem 30. Januar 1933 als solche tätig waren. Diese Gruppen können, falls sie unter 25 Jahre alt sind, auch bei der Neueinstellung, die an die Zustimmung des Arbeitsamtes geknüpft sein muß, bevorzugt berücksichtigt werden.344 „Die rd. 130.000 Jugendlichen, die daraufhin ihren Arbeitsplatz aufgeben mußten, durften freilich nun nicht selber wieder arbeitslos werden; sie wurden an die Landwirtschaft oder an den Reichsarbeitsdienst vermittelt.“345 Für Gebiete besonders hoher Arbeitslosigkeit werden Sonderpläne und -maßnahmen beschlossen und durchgeführt, so für Groß-Berlin der „Göring Plan.“ Die Arbeitslosigkeit in der Reichshauptstadt, die Ende Januar 1933 bei 655.000 und am 1. April 1934 immer noch bei 425.000 Menschen liegt, wird vor allem durch eine spezifische Sperrung des Zuzugs, durch eine Abschiebung junger Arbeitskräfte in die auswärtige Landwirtschaft, durch verstärkte öffentliche Arbeiten und verschiedene andere Begleitmaßnahmen deutlich verringert. Die „gewaltige Bresche“, die der „Göring Plan“ so in die „stärkste Festung der Arbeitslosigkeit“ gelegt hat, führt dazu, daß Zuzugssperren auch für bestimmte andere Städte und Gebiete mit hoher Arbeitslosigkeit verfügt werden. Diese Zuzugssperren treffen auch die „Mädels vom Land“, die zuvor in der Stadt in großer Zahl als Hausgehilfinnen oder „Betriebsarbeiterinnen“ Beschäftigung gesucht haben. An die städtischen Haushalte ergeht der Aufruf, auf keinen Fall Landarbeiter- oder Bauerntöchter, keine „Perlen vom Land“ mehr einzustellen. Der Hintergrund dieser Maßnahmen ist die erhebliche Landflucht gerade auch junger Frauen. Bereits diese Strategien, aber auch die Unterstützung des Landarbeiterwohnungsbaues, machen deutlich, daß die Reichsanstalt sich agrarpolitischen und agrarideologischen Einflüssen geöffnet hat und damit, wenngleich unzureichend und letztlich erfolglos dem Fernziel eines ideologiegesteuerten Umbaues der Gesellschaft dienstbar ist.346 justizministerium, Nr. 2179, Bl. 25 f.; vgl. auch: Volmer, H.: Doppelverdiener. In: Der öffentliche Arbeitsnachweis. Abt. Arbeit und Gemeinschaft, 10(1933/34), Sp. 271 - 274. 344 Zu den Details vgl.: Die Anordnung über die Verteilung von Arbeitskräften. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, 15(1934), 259 - 261; Fuchs, Hans: Die Anordnung über die Verteilung von Arbeitskräften vom 28.8.1934. In: Der Sozialversicherungs-Beamte, 3(1935)8, 185 - 187; Tornau: Arbeitsplatztausch und Bevölkerungspoltik. In: Deutsches Ärzteblatt, 64(1934), 927 - 930. Die Anordnung vom 28. August 1934 ist veröffentlicht im Deutschen Reichsanzeiger und Preußischen Staatsanzeiger 1934, Nr. 202. Sie tritt teilweise mit Wirkung vom 1. Dezember 1936 außer Kraft; vgl.: Anordnung zur Aenderung der Anordnung über die Verteilung von Arbeitskräften vom 28. August 1934. In: Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger, 1936, Nr. 278. 345 Mason, Timothy W.: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 179), 133 f.; vgl. zu die Landwirtschaft begünstigenden Regelungen auch: Seldte, Franz: Sozialpolitik…a.a.O.(=Anm. 322), 8 ff. Preußen führt durch Landesgesetz schon früh ein eigenständiges Landjahr ein; vgl.: Herrmann, Karl: Das Landjahr. In: Die Landgemeinde, 43(1934)16, 377 - 379. 346 Die Grundlage ist das „Gesetz zur Regelung des Arbeitseinsatzes“ vom 15. Mai 1934 (RGBl. I 1934, 381); gesperrt werden neben Berlin, Hamburg, Bremen, das „rückgegliederte“ Saarland; Vgl.: Neuloh, Otto (Bearb.):

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Neben die direkte Gewalt, die von Nazi-Organisationen auch im Zusammenhang mit der Durchführung der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ausgeübt wird, tritt auch schon in der ersten Phase der Arbeitskräftepolitik die legalisierte Gewalt und Herrschaft der einst von der Arbeiterbewegung besonders nachdrücklich geforderten „Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung.“ Ihr und ihrem administrativen Unterbau wachsen ständig neue Vermittlungs-, Kontroll-, Lenkungs- und Strafkompetenzen zu. Sie setzt auf der Grundlage ihrer Erfahrungen „...die großen Richtlinien der Reichsregierung in durchdachte Maßnahmen für die Praxis...“ um.347 Für diese Indienstnahme ist die Reichsanstalt „gut gerüstet“. Die Reichsanstalt hat am 1. März 1933 einen Personalbestand von 1.513 Beamten, 25.090 Angestellten und Arbeitern. Im Zuge der Machtergreifung wird sie von den Kräften der Arbeiterbewegung und von sonstigen unliebsamen Personen „gesäubert“. Bis zum 1. Februar 1934 werden genau 212 Beamte und 3.160 Angestellte, darunter 214 Arbeitsamtsvorsitzende und ihre Stellvertreter, entlassen. Das entspricht 12,7 % des Personalbestandes. Gleichzeitig werden vom 1. März 1933 bis zum 10. März 1934 etwa 11.000 neue Arbeitskräfte eingestellt, rund die Hälfte davon SA-Männer bzw. linientreue Parteigenossen der NSDAP.348 Gleichzeitig gehen die Befugnisse der Organe der Selbstverwaltung (Verwaltungsrat und Vorstand) auf den schon in der Weimarer Republik tätigen Präsidenten der Reichsanstalt, auf Friedrich Syrup über. Die Reichsanstalt macht sich auch dadurch für das neue Regime verdient, daß sie bis zum 30. November 1934 ca. 250.000 „alte Kämpfer der nationalen Erhebung“ in Arbeitsstellen vermittelt.349 Die Reichsanstalt mit ihren Arbeitsämtern wird mehr und mehr zu einer gefürchteten Institution. Sie entscheidet nicht selten allein oder mit anderen Stellen über die Arbeitsart und den Arbeitsund Aufenthaltsort, später häufig auch über Leben oder Tod (d.h. Einsatz in der „Heimat“ oder Militärdienst). Die mit dem Rückgang der Arbeitslosigkeit anwachsenden Finanzmittel der Reichsanstalt, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung betragen vom Ende der Weimarer Republik bis zum Ende des „Dritten Reiches“ 6,5 %, werden für die Arbeitsbeschaffung, die übrige Sozialversicherung und auch für sonstige Staatsaufgaben verwendet. Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 203), 415 f. vgl. auf das Gesetz bzw. Berlin bezogen: Syrup, Friedrich: Die Entstehungsgeschichte des Gesetzes zur Regelung des Arbeitseinsatzes. In: Die Arbeitslosenhilfe, 1(1934)5, 68 - 71; Roth, Karl: Die seitherigen Auswirkungen der Anordnung des Präsidenten der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung über die Regelung des Arbeitseinsatzes in der Stadtgemeinde Berlin vom 17. Mai 1934. In: Die Arbeitslosenhilfe, 1(1934)10/11, 162 - 164 sowie: Sahm: Berlin im Arbeitskampf 1934 (Göring Plan). In: Der Gemeindetag, 28(1934)12, 351 - 353. Zu den frauenspezifischen Auswirkungen vgl. die maschinenschriftliche Notiz „Entrechtung der Kleinbauern- und Landarbeitertöchter“. SAPMO-BA. KPD/ZK. I 2/701/39, Bl. 6. 347 So die bekannte und teilweise nationalsozialistische Begrifflichkeit und Perspektiven verwendende Schrift: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 203), 407. 348 Vgl.: Scheur, Wolfgang: Einrichtungen und Maßnahmen...a.a.O.(=Anm. 334), 63; vgl. zur „Säuberung“ der Reichsanstalt auch: Silverman, Dan P.: Nazification of the German Bureaucracy Reconsidered: A Case Study. In: Journal of Modern History, 60(1988), 496 - 539. 349 Vgl.: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 203), 407; zur Zahl der vermittelten „Parteigenossen“ vgl.: Seldte, Franz: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 322), 10. Aus NS-Sicht erscheint auch eine solche Bevorzugung von Parteigenossen durch Maßnahmen der staatlichen Sozialpolitik als völlig legitimer „Opferausgleich“. So schreibt ein Standartenführer: „13 Jahre ist der SA-Mann marschiert, nur ein Ziel im Auge haltend: Deutschland frei zu machen... Der Soldat Adolf Hitlers hat das Recht, zu fordern, daß er jetzt auch als Soldat der Wirtschaft in einen gesunden Lebensprozeß wieder eingegliedert wird“; vgl.: Rauscher: Sondervermittlung für die Wehrverbandsorganisationen. In: Der öffentliche Arbeitsnachweis. Abteilung: Das Arbeits- und Berufsamt, 10(1933/34), Sp. 185 - 188. Die Bevorzugung von Mitgliedern der NS-Formationen oder extrem weit rechts stehender Verbände bei der Arbeitsvermittlung erfolgt u.a. im Rahmen einer langdauernden „Sonderaktion“; vgl. dazu: BA Abt. Potsdam. 06.01 Präsidialkanzlei, Nr. 185/1, Bl. 7 f.

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Die Verwendung der Finanzmittel für „andere“ nicht im AVAVG festgeschriebene Zwecke dürfte bis 1945 die Größenordnung eines zweistelligen Milliardenbetrages erreicht haben. Der Arbeitslosenversicherungsbeitrag wird damit zu einer Art Sondersteuer für die versicherungspflichtigen Arbeitnehmer. Dieser Mißbrauch der Versichertengelder ist es auch, der den Spielraum für Leistungsverbesserungen einengt. Solche beschränken sich, weit hinter dem eigentlich vorhandenen Handlungsspielraum zurückbleibend, auf begrenzte Personenkreise, nehmen auch den Gedanken der Förderung kinderreicher Familien in sich auf, werden in einem Fall besonders spektakulär in die unmittelbare Vorweihnachtszeit plaziert. Insgesamt wird der Wert solcher Leistungsverbesserungen an die abnehmende Zahl der Arbeitslosen durch inflationäre Prozesse, vor allem auf dem Gebiet der Lebensmittelpreise gemindert. 350 Allmählich - teilweise schon im Verlaufe des Jahres 1934 - bekommt die Arbeitsbeschaffung und Arbeitskräftepolitik ein anderes Gepräge. Sie tritt in ihre zweite Phase ein. Bestimmte Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung werden weitergeführt, andere laufen aus. Maßnahmen zur Beschäftigung älterer Angestellter, Maßnahmen für bestimmte „Notstandsgebiete“, gefördert aus Mitteln der Reichsanstalt, werden noch ergriffen. Für die Jahre 1935/36 gilt allgemein, daß die Arbeitslosigkeit bald ein solches Niveau und eine solche Verteilung erreicht hat, daß spezifische Maßnahmen vor allem nur noch für „Problemgruppen“ und „Restgebiete“ erforderlich werden.351 Die übrig bleibende „verfestigte Arbeitslosigkeit“ gerät vor dem Hintergrund der nun bald einsetzenden Vollbeschäftigung in Gefahr, mit besonderer Intensität in die Mühlen der Überprüfung von Arbeitsfähigkeit und Arbeitswilligkeit zu geraten. Fürsorgearbeit, Pflichtarbeit, Zwangsbeschäftigung, Arbeitshaus, gegebenenfalls auch Haft und (Konzentrations-)Lagerunterbringung zählen zu den Instrumenten, die gegenüber dieser Klientel angewendet werden. Denen, die nicht in der Form eines normalen Beschäftigungsverhältnisses ihren Platz in der „Volksgemeinschaft“ finden können, wird zudem der Vorwurf der „Asozialität“ und erbbiologischer „Minderwertigkeit“ gemacht.352 Für die das Ende der Weimarer Republik umspannende Gesamtperiode von 1932 bis zum 1. September 1939 sind insgesamt sieben bis acht Milliarden RM für zivile Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aufgewendet worden.353 Im Hintergrund wirkt jedoch schon eine ganz andere, eine wahrhaft gigantische „Arbeitsbeschaffung“. Gewaltige Rüstungsausgaben tragen dazu bei, daß sich die wirtschaftliche Lage zusehends verbessert. Schon 1934 übersteigen die Militärausgaben jene der zivilen Ar350 Vgl. vor allem: Herrmann, Volker: Vom Arbeitsmarkt zum Arbeitseinsatz. Frankfurt a.M. 1993, 156 und 168 ff.; „spektakulär“ ist das „Gesetz über die Befreiung von der Pflicht zum Ersatz von Fürsorgekosten“ vom 22. Dezember 1936 (RGBl. I 1936, 1125). Es beinhaltet den Verzicht auf Erstattung aller vor dem 1. Januar 1935 empfangenen Leistungen (bzw. Kosten) der öffentlichen Fürsorge und zieht damit einen „Schlußstrich“ unter die Nachwirkungen der Massenarbeitslosigkeit. Das Gesetz kommt auf Drängen der NSDAP-Basis zustande. 351 Vgl.: Die deutsche Arbeitspolitik...a.a.O.(=Anm. 335), 55. 352 Vgl. exemplarisch: Auswärtige Pflichtarbeit zur Auflockerung des Restbestandes der Arbeitslosen. In: Nachrichtenblatt des deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, 18(1937)4, 130 - 132; di.: Auflösung des Restbestandes der Arbeitslosen. In: Ebenda, 18(1937)2, 64 - 67. 353 Vgl.: Lampert, Heinz: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 330), 151. Zu den finanziellen Dimensionen der „zivilen“ Arbeitsbeschaffung in der ersten Zeit der NS-Herrschaft, teilweise unter Einschluß der Maßnahmen der Präsidialregime, vgl. u.a. auch: Die Finanzierung der Arbeitsbeschaffung. In: Deutsche Wirtschaft-Zeitung, 32(1935)37, 865 - 867; Grebler, Leo: Die deutsche Arbeitsbeschaffung 1932 - 1935 (I). In: Internationale Rundschau der Arbeit, 15(1937)5, 416 - 435, hier bes. 425 ff. Inwieweit die „zivile“ Arbeitsbeschaffung zu Beginn der NSHerrschaft rein ziviler Natur ist, oder ob sie von vornherein oder bald auch mit der „Wehrhaftmachung“ verbunden ist, ist eine kontrovers diskutierte Frage. Vgl. ursprünglich dazu: Wolffsohn, Michael: Arbeitsbeschaffung und Rüstung im nationalsozialistischen Deutschland: 1933. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 22(1977), 9 - 21.

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beitsbeschaffung. „Nach dem Frühjahr 1934 vollzog sich der anhaltende wirtschaftliche Aufschwung in zunehmendem Maße als sekundäre Erscheinung im Gefolge der Aufrüstung, für die 1936 11 Mrd. RM bereitgestellt wurden (1933: 1,5 Mrd. RM).“354 Bis weit in das Jahr 1939 hinein bilanzieren sich die Rüstungsausgaben auf 60 Milliarden RM.355 Rüstungs- und sonstige meist mehr oder weniger eng damit verknüpfte Staatsaufträge im Rahmen der „Wiederwehrhaftmachung“356 führen bald, noch während offizielle Arbeitslosigkeit in beträchtlicher Höhe besteht, in bestimmten rüstungswirtschaftlich bedeutsamen Bereichen zu einem Arbeitskräftemangel. Dies gilt insbesondere für Facharbeiter im Baugewerbe und in den Metallgewerben. In diesem Zusammenhang macht ein Ansatz und ein Begriff „Karriere“, der durch das „Gesetz zur Regelung des Arbeitseinsatzes“ vom 15. Mai 1934 in die Rechtssprache eingeführt wird, der Begriff des „Arbeitseinsatzes“. In diesem Gesetz noch auf die „Leutenot“ in der Landwirtschaft und auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in den gesperrten Gebieten bezogen, erweist sich der dirigistische Ansatz als fruchtbar und allgemein anwendbar. Bereits mit einer Verordnung vom 10. August 1934 wird der Präsident der Reichsanstalt ganz allgemein ermächtigt, die „Verteilung von Arbeitskräften“ insbesondere durch ihren „Austausch“ durch mit der Ministerialbürokratie abzustimmende Anordnungen und Richtlinien zu regeln. Diese Vorschriften signalisieren einen Prioritätenwandel, sie stehen für den Prozeß des Übergangs von der Arbeitsbeschaffungs- zur Arbeitseinsatzpolitik. Damit beginnt auch eine Entwicklung weg von den „Stempelstellen“ der Weltwirtschaftskrise, von der Funktion eines unzulänglichen „sozialen Sicherungssystems“ hin zu einem Vollstreckungsorgan staatlicher Zwangsmaßnahmen, zu einem Instrument der Realisierung „staatspolitischer Ziele“. Dem Problem der Facharbeiterknappheit begegnet die Reichsanstalt dementsprechend mit einer „Anordnung über den Einsatz gelernter Facharbeiter“ vom 29. Dezember 1934.357 Diese später mehrfach neu gefaßte Anordnung macht den Einsatz von gelernten Facharbeitern in bestimmten Fällen von der Zustimmung des Arbeitsamtes abhängig. Dadurch wirken die Arbeitsämter ersten Abwerbeversuchen entgegen, die von der Metallindustrie ausgehen und die sich naturgemäß mit zunehmender Rüstungsintensität verstärken. Relativ umfangreiche berufliche Schulungsmaßnahmen für Berufe der Metallindustrie führen zu guten Vermittlungserfolgen.358 Eine Durchführungsanordnung der Reichsanstalt vom 8. Januar 1936 regelt die Vermittlung, Anwerbung und Verpflichtung von (deutschen) Arbeitnehmern „nach dem Auslande“ mit deutlich restriktiver Intention.359 Nach einer Anordnung vom 26. Juni 1936 muß der Bedarf an Arbeitskräften bei der Durchführung öffentlicher Bauarbeiten angezeigt werden. Offensichtlich mit Blick auf die arbeitskräftemäßigen Anforderungen der Aufrüstung und eines möglichen Krieges wird dem Präsidenten der Reichsanstalt durch die Verordnung vom 10. August 1934 ausdrücklich das Monopol erteilt, die „Verteilung von Arbeitskräften“ zu regeln. Anderen Stellen werden solche Tätigkeiten bewußt verboten. Mit einem Gesetz vom 5. November 1935 erhält er auch das Monopol auf dem Gebiet der Arbeitsvermittlung, Berufsberatung und Lehrstellen354 Mason, Timothy W.: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 179), 146. 355 Vgl.: Lampert, Heinz: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 330),152. 356 So die Ausdrucksweise bei: Kroll, Gerhard: Von der Weltwirtschaftskrise...a.a.O.(=Anm. 324), 470. 357 Vgl.: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 203), 422. 358 Vgl. denselben, ebenda, 409 f. 359 Die Anordnung findet sich in: Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger, 1936, Nr. 7; sie bezieht sich auf die „Verordnung über Vermittlung, Anwerbung und Verpflichtung von Arbeitnehmern nach dem Ausland“ vom 28. Juni 1935 (RGBl. I 1935, 903).

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vermittlung. Soweit in Ausnahmefällen andere Einrichtungen noch zugelassen sind, unterliegen sie der Weisung und Aufsicht der Reichsanstalt.360 Diese Maßnahmen richten sich auch gegen unkontrollierte und undisziplinierte Aktivitäten aus den Reihen der NSBewegung auf diesem Gebiet. Sieht man von solchen Aktionen und den Exzessen der Machtergreifungsphase ab, so gehört die Arbeits(einsatz)verwaltung bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges ausdrücklich nicht zu den Zweigen der Sozialverwaltung, die durch die NS-Bewegung grundsätzlich in Frage gestellt werden. Die „Stellenvermittlungseinrichtungen“ der DAF werden sogar auf Grund einer Vereinbarung mit dem Präsidenten der Reichsanstalt mit Wirkung vom 1. November 1935 von der Reichsanstalt übernommen. Arbeitsmarktentlastende Auswirkungen hat ab dem Jahre 1935 darüber hinaus das parallel zu den Aufrüstungsmaßnahmen ergehende „Gesetz über den Aufbau der Wehrmacht“ vom 16. März 1935361 und das „Wehrgesetz“ vom 21. Mai 1935.362 Das letzte Gesetz führt die allgemeine Wehrpflicht ein. Flankiert wird diese „Wiedererlangung der deutschen Wehrhoheit“ durch geheime, am 21. Mai 1935 im Rahmen einer Ministerbesprechung beschlossene Gesetze für den Mobilmachungsfall. Das „Kriegsleistungsgesetz“ vom 21. Mai 1935 soll einen umfassenden Zugriff auf die Arbeitskraft und die materiellen Güter der Nation ermöglichen. Es kennt schwere und schwerste Strafen. Das „Gesetz über den Deutschen Volksdienst“ vom 21. Mai 1935 „...stellt die Arbeitskraft des Deutschen Volkes in den Dienst der Reichsverteidigung.“ Es verpflichtet bis auf Ausnahmen (Mütter mit jüngeren Kindern, Schwangere, Arbeitsunfähige) jeden „Reichsangehörigen“ vom vollendeten 15. bis zum vollendeten 65. Lebensjahr zum „Volksdienst“. Dieses sehr kurze und natürlich von allen demokratischen Verfahrensweisen entblößte Gesetz erinnert von seiner Intention her an das „Hilfsdienstgesetz“ vom 5. Dezember 1916. Im Jahre 1935 beginnen in der Arbeitsverwaltung auch geheim gehaltene Mobilmachungsvorbereitungen.363 Desweiteren gelingt es dem „Reichskommissar für den Arbeitsdienst“, Konstantin Hierl, den inzwischen völlig von den Nazis übernommenen „Freiwilligen Arbeitsdienst“ (FAD) der Weimarer Zeit durch Gesetz vom 26. Juni 1935364 in den Reichsarbeitsdienst (RAD) zu überführen.365 An die Stelle des schon in der Weimarer Republik nie völlig freiwilligen Arbeitsdienstes366 tritt die Arbeitsdienstpflicht für Männer. Sie dauert ein halbes Jahr, gilt als „Ehrendienst am deutschen Volke“ und kennt die typischen rassistischen und politischen Ausschlußkriterien. Beim weiblichen Arbeitsdienst wird die Freiwilligkeit noch lange beibehalten wird.367 Neben dem RAD mangelt es nicht an weiteren Dienstverpflichtungen. Ent- und Bewässerungen, Moor- und Ödlandkultivierungen, Flurbereinigungen, 360 Bei dem Gesetz des Jahres 1935 handelt es sich um das „Gesetz über Arbeitsvermittlung, Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung“ vom 5. November 1935 (RGBl. I 1935, 1281). 361 Vgl.: RGBl. I 1935, 375; dem Gesetz ist eine propagandistische, mehrseitige Proklamation mit dem Titel „An das deutsche Volk“ vorangestellt; vgl. ebenda, 369 ff. 362 Vgl.: RGBl. I 1935, 609. 363 Vgl. zu den Gesetzen: Hartmannsgruber, Friedrich (Bearb.): Die Regierung Hitler. Band II... Teilband 1... a.a.O.(=Anm. 75), Dok. 160 und 164, 584 ff., 596 f.; zu den Mobilmachungsvorbereitungen: Herrmann, Volker: Vom Arbeitsmarkt...a.a.O.(=Anm. 350), 151. 364 Vgl.: RGBl. I 1935, 769; eine Neufassung: ebenda, 1747. 365 Vgl. dazu ausführlicher: Benz, Wolfgang: Vom freiwilligen Arbeitsdienst zur Arbeitsdienstpflicht. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 16(1968)4, 317 - 346. 366 Klees berichtet von der Drohung des Entzugs von Unterstützungszahlungen bei Weigerung in den Freiwilligen Arbeitsdienst einzutreten. Desweiteren betont er die rechtlose Stellung, die fehlende Entlohnung; vgl.: Klees, Bernd: Arbeitslosigkeit...a.a.O.(=Anm. 321), 125 ff. 367 Vgl.: Benz, Wolfgang: Vom freiwilligen Arbeitsdienst...a.a.O.(=Anm. 365), 343.

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landwirtschaftlicher Wegebau, Hochwasserschutz, Neulandgewinnung, Forstarbeiten und Mitwirkung an der Siedlung als typische Tätigkeitsschwerpunkte des Arbeitsdienstes sollen auch die Lebensbedingungen der Bevölkerung verbessern und die Abhängigkeit von agrarischen Importen überwinden helfen. Hinzu treten Maßnahmen und Ziele der Indoktrination, Disziplinierung sowie der vormilitärischen Ertüchtigung.368 „In der Ideologie wurde aus dem Arbeitsdienst das institutionalisierte Arbeitsethos, die erhabenste Manifestierung des ‘deutschen Sozialismus’ und der Kameradschaft und der wirksamste Schmelztiegel für bestehende Klassenunterschiede.“369 Der Einsatz des RAD bei den Reichsparteitagen, die „klotzigen Arbeitsdienstparaden“ und das tausendfache „Blitzen der blankpolierten Spatenblätter“ bleiben der Bevölkerung in Erinnerung. Diese Aufzüge und die sie begleitenden Propagandamaßnahmen sollen Willenskraft und Aufbruchstimmung, die Überwindung von Stillstand und Resignation gegenüber der Krise des Arbeitsmarktes dokumentieren. Das Jahr 1935 bringt darüber hinaus die Einführung des Arbeitsbuches.370 Die Arbeitsverwaltung erhält damit eine erstrangige Kontrollmöglichkeit und ein perfektes Lenkungs- und Überwachungsmittel über die abhängig beschäftigte Bevölkerung. 1938 gibt es im Deutschen Reich 22,3 Millionen „arbeitsbuchpflichtige“ Arbeiter und Angestellte.371 Das nach dem Gesetz vom 26. Januar 1935 von den Arbeitsämtern auszustellende Arbeitsbuch einschließlich der dort zu führenden Arbeitsbuchkartei unterscheidet sich demnach von allen früheren von der Arbeiterbewegung meist vehement abgelehnten Gewerbeausweisen, etwa vom Arbeitsbuch für Minderjährige und vom Gesindebuch. Das neue, das nationalsozialistische Arbeitsbuch und die Arbeitsbuchkartei stellen ein „staatliches Führungsmittel“, eine (rüstungswirtschaftliche) Planungshilfe dar. Es soll den entprechenden Stellen neben den allgemeinen Statistiken und speziellen Untersuchungen „...zuverlässige amtliche Unterlagen bieten über Berufsausbildung, beruflichen Werdegang, besondere Fertigkeiten, augenblickliche Stelle und Berufsschicksal...“372 Das wahrscheinlich erst Anfang 1937 flächendeckend zur Verfügung stehende Arbeitsbuch soll auf diese Weise Aufschluß darüber geben, für welchen „Dienst“ der Inhaber vorzusehen ist. Das Arbeitsbuch und Verstöße gegen seine Handhabung sind deshalb strafbewehrt und der Kreis der erfaßten Personen wird namentlich durch die „Verordnung über das Arbeitsbuch“ vom 22. April 1939 erweitert und auf „Großdeutschland“ erstreckt.373 So kommt das Arbeitsbuch den „menschenökonomischen“ Erfordernissen der Aufrüstungspolitik entgegen und es ist gleichzeitig eine wichtige Vorbedingung der späteren „Front und Heimat“ berücksichtigenden Arbeitseinsatzpolitik im Zweiten Weltkrieg.374 368 Reichhaltiges Material enthält die seit 1933 erscheinende Zeitschrift „Deutscher Arbeitsdienst“; ähnlich wie die „eugenischen“ Maßnahmen wird auch die Einführung des RAD damit begründet, daß es in zahlreichen außerdeutschen Ländern einen solchen Arbeitsdienst bereits gebe; vgl.: Stamm, Kurt: Der Reichsarbeitsdienst. In: Reichsverwaltungsblatt, 56(1935)30, 588 - 591, hier: 588 ff. sowie: Patel, Kiran Klaus: „Soldaten der Arbeit“. Arbeitsdienste in Deutschland und den USA 1933 - 1945. Göttingen 2003. 369 Schoenbaum, David: Die braune Revolution. Köln, Berlin 1968, 114 f.; vgl. auch: Köhler, Hennig: Arbeitsdienst in Deutschland bis 1935. Berlin 1968, 265 f. 370 Grundlage ist das „Gesetz über die Einführung eines Arbeitsbuches“ vom 26. Februar 1935 (RGBl. I 1935, 311). 371 Vgl.: Gerhardt, Johannes: Deutsche Arbeits- und Sozialpolitik…a.a.O. (Anm.= 244) 211. 372 Zur Einführung des Arbeitsbuches. In: Deutsches Volk, 2(1934/35)4, 152; weitere Informationen bei: Timm, Max: Zur Einführung des Arbeitsbuches. In: Der Sozialversicherungs-Beamte, 3(1935)11, 248 - 250. 373 Vgl.: RGBl. I 1939, 824; vgl. als Kommentierung: Richter, J.: Die neue Verordnung über das Arbeitsbuch. In: Monatshefte für NS-Sozialpolitik, 6(1939), 233 - 235. 374 Vgl. auch: Mason, Timothy W.: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 179), 162.

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Während sich die Beschäftigungslage in den Jahren 1934 und 1935 als zunehmend günstig erweist, kann dies von der Lebenslage der abhängig Beschäftigten nicht unbedingt behauptet werden. Im Rahmen von Treuhänderbesprechungen wird immer wieder von erheblichen Preissteigerungen bei weiterhin niedrigen Löhnen und trotz preispolitischer Maßnahmen gesprochen. Hinzu kommen offensichtlich Versorgungsengpässe auf dem Gebiete des täglichen Bedarfs. Auf notleidende Branchen der „Friedenswirtschaft“ und auf die ungünstige Lage des Einzelhandels wird hingewiesen. Auch der Beschäftigungsstand erscheint als mitunter gefährdet, vor allem wenn Staatsaufträge reduziert werden. Mehrfach wird auf die wirtschaftlichen und beschäftigungspolitischen Folgen der antijüdischen Maßnahmen hingewiesen. Aber auch von der „Überhöhung einzelner Löhne“ bei großen und dringenden Aufträgen ist die Rede und von mangelhafter Unterbringung der Arbeiter.375 Im Urteil der Treuhänder wird es gegen Ende des Jahres 1935 schwerer, an der (allerdings nicht völlig) „starren Lohnlinie“ festzuhalten. Von wilden und verdeckten Lohnerhöhungen ist die Rede und von der Forderung nach einer Bezahlung der gesetzlichen Feiertage. In diesem Zusammenhang bekennt der Verhandlungsleiter dieser Treuhänderbesprechungen, Ministerialdirektor Werner Mansfeld, am 7. Februar 1936 „..., daß er sich der Schwierigkeiten bei der Einhaltung der Lohnpolitik der Reichsregierung vollauf bewußt sei, daß es sich aber darum handele, einem klaren Befehl des Führers, das gegenwärtige Lohnniveau aufrechtzuerhalten, nachzukommen.“376 Ganz unabhängig davon, ob es einen solchen „klaren Befehl“ tatsächlich gegeben hat, stellen sich die lohn- und preispolitischen Maßnahmen des NS-Regimes als flankierende Eingriffe einer Mobilisierung „aller Kräfte“ für die Aufrüstung dar, die eine Reduktion der Zivilproduktion zwangsläufig voraussetzt bzw. verlangt. Wesentlich höhere Löhne hätten dieses „Spiel“ nur gestört und eine Inflation und/oder einen höchst unerwünschten Anstieg der nicht unmittelbar kriegsrelevanten Produktion verursacht sowie ein Steigen der Preise der Rüstungsgüter nach sich gezogen. Ein unkontrolliertes „Lohngeschehen“ hätte darüber hinaus vor allem auch eine Arbeitskräftefluktuation unkontrollierten Ausmaßes ausgelöst, kurz und gut: Erscheinungen heraufbeschworen, die sich bereits im Ersten Weltkrieg „störend“ bemerkbar machten. Der Lohnpolitik dient eine bald neugefaßte „Anordnung über die Weitergeltung von Tarifverträgen als Tarifordnungen“ vom 28. März 1934.377 Sie hat das Ziel, durch eine Fortschreibung der Tarifverträge aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise, die Löhne auf einem niedrigen Stand zu halten. Die „Vierzehnte Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit“ vom 15. Oktober 1935378 erlaubt den „Treuhändern der Arbeit“ sogar ein Unter- aber auch Überschreiten von Tarifordnungen. Der erhebliche Lohndruck ab 1936 führt schließlich zu der „Verordnung über die Lohngestaltung“ vom 25. Juni 1938.379 Diese verfolgt nun ausdrücklich den Zweck, Beeinträchtigungen der Rüstungspolitik durch Lohnbewegungen zu verhindern. Sie beauftragt die „Reichstreuhänder“ und die „Sondertreuhänder der Arbeit“ die „...Lohn- und Arbeitsbedingungen zu überwachen und alle Maßnahmen zu treffen, die erforderlich sind, um eine Beeinträchtigung der Wehrhaftmachung und der Durchführung des Vierjahresplans durch die 375 Vgl. etwa die Niederschriften über die Treuhänderbesprechungen vom 14. August 1935, 11. Oktober 1935, 12. November 1935, 9. Dezember 1935, 7. Februar 1936. BA Abt. Potsdam. 31.01 Reichswirtschaftsministerium, Nr. 10296, Bl. 23 ff.; 118 ff.; 185 ff.; 252 ff.; 305 ff. 376 Ebenda, Bl. 306. 377 Vgl. zur Neufassung dieser Anordnung vom 20. Oktober 1934: Reichsarbeitsblatt. Teil I 1934, 254. 378 Vgl.: RGBl. I 1935, 1240. 379 Vgl.: RGBl. I 1938, 691.

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Entwicklung der Löhne und der sonstigen Arbeitsbedingungen zu verhindern.“ Sie dient auch der Abwehr lohnpolitischer Aktivitäten der DAF. Der im Herrschaftssystem virulenten Furcht vor breiter, systemdestabilisierender „Arbeiteropposition“, dem „Novembersyndrom“ ist es schließlich zuzuschreiben „..., daß kein rigider Lohnstop durchgesetzt wurde, sondern die verschiedenen lohnpolitischen Maßnahmen in der Praxis ‘elastisch’ umgesetzt wurden.“380 Dementsprechend herrscht bis zum Kriegsbeginn keine absolute Reallohnstabilität. Mansfeld geht davon aus, daß der Reallohn in der Vorkriegszeit durch Lohnerhöhungen und längere bezahlte Arbeitszeiten um 13 v.H. gestiegen sei, ein Anstieg, der allerdings nur vor dem Hintergrund von Versorgungsschwierigkeiten und Angebotslücken gewürdigt werden darf.381 Diese Versorgungsschwierigkeiten halten auch im Jahre 1939 an. Betroffen sind meistens unmittelbar die Frauen. In diesem Zusammenhang bleibt es nicht beim bloßen „Geschimpfe“. In Dortmund, Düsseldorf und Saarbrücken kommt es wegen der Versorgungsprobleme zu begrenzten Marktkrawallen. Erinnerungen an die überaus schlechte Versorgungslage im Ersten Weltkrieg werden wach, zumal zu dieser Zeit auch der Luftschutz, der stark ausgebaut wird, Gedanken an einen möglichen Krieg aufkommen läßt. Ausgerechnet in Hamburg, wo man dies nie für möglich gehalten hätte, wird der Kaffee knapp. Doch bleibt zu beachten, daß diese Unzufriedenheiten, die kommunistischen Lageberichten zu entnehmen und möglicherweise stark zugespitzt sind, kein Ausgangspunkt einer irgendwie für das NS-Regime wirklich bedrohlichen Bewegung werden.382 Zu den Faktoren, die sich im Zuge der Rüstungskonjunktur verändern, gehört auch die Arbeitszeit. Erwartungsgemäß zeigt sich das Bild einer allmählichen Ausdehnung der zunächst krisenbedingt relativ niedrigen durchschnittlichen Arbeitszeiten im Zuge der Aufrüstung. Die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit in der Industrie beträgt 1939 bei Männern 49,6 Stunden. Frauen arbeiten 45,2 Stunden in der Woche.383 Es kann nicht überraschen, daß sich hinter den Durchschnittswerten Branchen und Betriebe verbergen, in denen bei entsprechender Auftragslage die Arbeitszeit gnadenlos ausgedehnt wird und sich zeitweise der 100-Stunden-Grenze nähert, sie mitunter kurzfristig sogar überspringt. In typischen „Friedensgewerben“ zeigt sich das entgegengesetzte Bild.384 Die durch Verordnung vom 26. Juli 1934 neu gefaßte385 und mit Datum vom 30. April 1938 neu zusammengestellte „Arbeitszeitordnung“386 steht mit ihrem deklaratorischen Festhalten am „Achtstundentag“ und ihren Geltungsbeschränkungen und Ausnahmen dieser Entwicklung nicht entgegen, zumal Rechtsverletzungen kaum oder garnicht sanktioniert, teilweise sogar am380 Hachtmann, Rüdiger: Industriearbeit im „Dritten Reich“. Göttingen 1989, 305. 381 Ganz offen spricht Mansfeld diese Zusammenhänge bei einem Vortrag im „Haus der Industrie“ vom 10. Dezember 1941 an. BA Abt. Potsdam. 62 DAF 1. NS 5 IV, Nr. 194, Bl. 47 ff. Natürlich sind diese Zusammenhänge auch der zeitgeschichtlichen Forschung bekannt. Wie sich die Löhne im einzelnen entwickelt haben und was kräftige Lohnerhöhungen mit Blick auf die Kriegsvorbereitung bewirkt hätten, erläutert: Hachtmann, Rüdiger: Industriearbeit…a.a.O.(=Anm. 380), 112 ff. Im Herbst 1935 geht Reichsarbeitsminister Seldte allerdings noch davon aus, daß die Realeinkommen kaum höher als 1932 seien; vgl.: Hartmannsgruber, Friedrich (Bearb.): Die Regierung Hitler. Band II... Teilband 1...a.a.O.(=Anm. 75), LXIX. 382 Vgl. die maschinenschriftlichen Berichte „Die Lage und der Kampf der Frauen in Deutschland“ und „Vom Leben und Kampf der Frauen an der Wasserkante.“ SAPMO-BA. KPD/ZK. I 2/701/43, Bl. 44 - 49 bzw. 55 - 59. 383 Vgl. die Tabelle 1 bei: Hachtmann, Rüdiger: Industriearbeit...a.a.O.(=Anm. 380), 51. 384 Vgl.: Hachtmann, Rüdiger: Arbeitsmarkt und Arbeitszeit in der deutschen Industrie 1929 bis 1939. In: Archiv für Sozialgeschichte, 27(1987), 177 - 227, hier: 211 ff. 385 Vgl.: RGBl. I 1934, 803. 386 RGBl. I 1938, 447.

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nestiert werden. Nicht nur die Löhne und Arbeitszeiten werden im Sinne der „staatspolitischen Ziele“ manipuliert. Dieses Schicksal erfahren auch die Lohnersatzleistungen der Arbeitsämter. Sie werden z.B. so gestaltet, daß sie den „Arbeitswillen“ und die „Flexibilität“ geradezu erzwingen.387 Am 9. September 1936 wird ein neuer „Vierjahresplan“ auf dem „Parteitag der Ehre“ in Nürnberg angekündigt. Damit beginnt die dritte Phase der Arbeitsmarktpolitik unter dem Nationalsozialismus. Mit der Durchführung des Vierjahresplanes wird durch Verordnung vom 18. Oktober 1936 Ministerpräsident Hermann Göring beauftragt. Zur Erfüllung dieser Aufgabe wird ihm eine eigenständige Kompetenz zum Erlaß von Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften übertragen. Schon im August formuliert Reichskanzler Adolf Hitler in einer geheimen Denkschrift, „...daß das Ausmaß und das Tempo der militärischen Auswertung unserer Kräfte... nicht groß und schnell genug gewählt werden...“ könne. Er fordert, daß Armee und Wirtschaft in vier Jahren „einsatzfähig“ und „kriegsfähig“ sein müßten.388 Die durch den Vierjahresplan eingeleiteten intensiveren Formen staatlicher Planung und Lenkung führen nicht nur zu einer immer enger werdenden Verklammerung der Verwaltungs- und Führungsorgane von Staat und Partei mit wirtschaftlichen Organen und Führungsstellen. Sie führen nun auch zu einer rasch voranschreitenden Verplanung, Beherrschung und Mobilisierung der Arbeitskraft. Diese Entwicklung wird mit einer ganzen Reihe von Anordnungen des „Beauftragten für den Vierjahresplan“ erreicht, die sich im wesentlichen an die Reichsanstalt bzw. die Arbeitsämter wenden und ab November 1936 ergehen.389 Die Arbeitsbeschaffung ist nun ganz überwiegend bereits „ferne“ Vergangenheit, der systematische, wehrwirtschaftlich orientierte „Arbeitseinsatz“ beginnt. Die Einschaltung der Arbeitsbehörden ist aus der Sicht des NS-Regimes auch in dieser nun intensivierten Form dringend erforderlich, da sich die Rüstungsbetriebe immer stärker gegenseitig die Fachkräfte abwerben390 und es infolge dieser Strategie zu ersten unerwünschten Lohnerhöhungen kommt391 und vor allem, weil auf diese Weise die Rüstungsaufträge nicht mehr planmäßig abgewickelt werden können. Da ab Ende 1937 praktisch Volbeschäftigung herrscht, aber schon weit vorher Arbeitskräfteprobleme in der Bau-, Metall- und Chemieindustrie aufbrechen, werden Maßnahmen durchgeführt, „geeignete“, aber in zivilen Bereichen beschäftigte Menschen in die Rüstungswirtschaft und die entsprechenden Zulieferbereiche „zurückzuführen“. Im Jahresdurchschnitt 1936 - 1938 betragen die Rüstungsausgaben schon etwa die Hälfte aller Staatsausgaben.392

387 Zu weiteren, in diesem Zusammenhang nicht bedeutenden Arbeitszeitvorschriften vgl. die Hinweise bei: Frerich, Johannes, Frey, Martin: Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Band 1. München, Wien 1993, 282 ff.; zur „staatspolitischen Ausrichtung“ der Leistungen der Arbeitsverwaltung vgl.: Herrmann, Volker: Vom Arbeitsmarkt...a.a.O.(=Anm. 350), 135 ff. 388 Zit. nach: Mottek, Hans, Becker, Walter, Schröter, Alfred: Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß. Band III. 2. Auflage. Berlin 1975, 318 f. ; vgl. auch die „Verordnung zur Durchführung des Vierjahresplanes“ vom 18. Oktober 1936 (RGBl. I 1936, 887). 389 Vgl.: Die deutsche Arbeitspolitik...a.a.O.(=Anm. 335), 55 f. 390 Vgl.: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 203), 422 f. 391 Vgl.: Henning, Eike: Thesen zur deutschen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1933 bis 1938. Frankfurt a.M. 1973, 93. 392 Vgl.: Kroll, Gerhard: Von der Weltwirtschaftskrise...a.a.O.(=Anm. 324), 574.

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Eine „Erste Anordnung zur Durchführung des Vierjahresplans über die Sicherstellung des Facharbeiternachwuchses“ vom 7. November 1936393 führt in der Eisen- und Metallwirtschaft und im Baugewerbe eine Ausbildungspflicht oder in Ausnahmefällen die Zahlung einer „Ablösung“ ein. Dabei umfaßt die „Eisen- und Metallwirtschaft“, wie sich aus den Rechtsquellen ergibt, die gesamte Rüstungsindustrie. Von weitreichender Bedeutung ist auch die „Zweite Anordnung zur Durchführung des Vierjahresplans über die Sicherstellung des Bedarfs an Metallarbeitern für staats- und wirtschaftspolitisch bedeutsame Aufträge der Eisen- und Metallwirtschaft“ vom 7. November 1936.394 Mit ihr wird in erheblichem Umfang der „...Einsatz der Metallarbeiter der ordnenden Hand der beauftragten Arbeitsämter unterworfen und der freien Entschließung der Betriebe entzogen.“395 Der Einsatz erfolgt nun mit Beteiligung der Arbeitsämter gemäß der „staats- und wirtschaftsbezogenen Bedeutung der Aufträge“, wie damals die Autarkie- und Rüstungspolitik umschrieben wird.396 Vor den Augen der Welt legt das NS-Regime durch diese „Zweite Anordnung“ seine machtpolitischen Ziele offen, indem es definiert: „Als staats- und wirtschaftspolitisch bedeutsame Aufgaben sind vor allem die Wehrhaftmachung des deutschen Volkes, die Sicherung der Ernährung, der Aufbau der einheimischen Rohstoffwirtschaft, die Förderung der Ausfuhr sowie die Schaffung gesunden Wohnraumes für die arbeitende Bevölkerung anzusehen.“ Die Rückführung andersweitig beschäftigter Metallarbeiter und Baufacharbeiter findet in der „Dritten Anordnung zur Durchführung des Vierjahresplans über die Rückführung von Metallarbeitern und Baufacharbeitern in ihren Beruf“ vom 7. November 1936 ihre Grundlage.397 Eine „andersweitige“ Beschäftigung dieser Menschen gilt nunmehr als „unwirtschaftliche Verschwendung wertvoller Arbeitskraft.“ Die „Vierte Anordnung zur Durchführung des Vierjahresplans über die Sicherstellung der Arbeitskräfte und des Bedarfs an Baustoffen für staats- und wirtschaftspolitisch bedeutsame Bauvorhaben“ vom 7. November 1936 beinhaltet eine Anzeigepflicht von Hoch- und Tiefbauten, von Baufacharbeitern und Baustoffen gegenüber dem zuständigen Arbeitsamt. Eine „Fünfte Anordnung“, ebenfalls vom 7. November 1936, bezweckt die Mobilisierung älterer „einsatzfähiger Angestellter“, insbesondere von Familienvätern aus „staatspolitischer Notwendigkeit.“398 Um den Verbleib von Arbeitskräften besser kontrollieren zu können, werden bestimmte Kennwortanzeigen durch die „Sechste Anordnung zur Durchführung des Vierjahresplans über das Verbot von Kennwortanzeigen für die Anwerbung oder Vermittlung von Metallarbeitern und Baufacharbeitern“ vom 7. November 1936 verboten.399 Eine „Siebente Anordnung zur Durchführung des Vierjahresplans über die Verhinderung rechtswidriger Lösung von Arbeitsverhältnissen“ vom 22. Dezember 1936 beinhaltet unter den angesprochenen Um393 Vgl.: Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger 1936, Nr. 262. Die allein schon aus dieser Anordnung resultierende umfangreiche Tätigkeit der Arbeitsämter gegenüber der Wirtschaft und entsprechende Statistiken sind dokumentiert bei: Handrick, Johannes: Wie hat sich die Erste Anordnung zur Durchführung des Vierjahresplanes über die Sicherstellung des Facharbeiternachwuchses bisher ausgewirkt? In: Monatshefte für N.S.-Sozialpolitik, 4(1937), 206 - 209; instruktiv auch: Syrup, Friedrich: Die neuen Anweisungen zur Sicherstellung des Facharbeiternachwuchses und zur Beschäftigung älterer Angestellter. In: Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe, 4(1937)8, 133 - 137. 394 Vgl.: Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger, 1936, Nr. 262. 395 Vgl.: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 203), 423 f. 396 Vgl.: Petzina, Dietmar: Die Mobilisierung...a.a.O.(=Anm. 319), 446. 397 Zur näheren Ausgestaltung vgl.: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 203), 425; veröffentlicht ist der Rechtstext in: Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger, Nr. 262. 398 Beide Anordnungen in ebenda, Nr. 262. 399 Zu Einzelheiten vgl.: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 203), 428.

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ständen ein Zurückbehaltungsrecht des Arbeitsbuchs in der Eisen- und Metallwirtschaft, im Baugewerbe, in der Ziegelindustrie und der Landwirtschaft.400 Die „Anordnung über den Arbeitseinsatz von Metallarbeitern“ vom 11. Februar 1937401 erlaubt die Einstellung dieser für die Hochrüstung so entscheidenden Fachkräfte nur noch mit Erlaubnis des Arbeitsamtes. Hintergrund dieser Maßnahmen ist „das Rad einer ungesunden Fluktuation“, das das niedrige Lohnniveau und eine „ordnungsgemäße Durchführung“ der Rüstungsproduktion gefährdet. Bei der Durchführung dieser Anordnung stößt die Arbeitsverwaltung auf den Widerstand sowohl der einen höheren Verdienst suchenden Beschäftigten als auch der händeringend nach Arbeitskräften suchenden und an der Grenze der Möglichkeiten produzierenden Fabrikanten bzw. Unternehmer.402 Die Metallarbeiter sind nun „...die technischen Garanten sowohl des Aufbaues wie der Wirksamkeit von Wehrmacht und Wehrwirtschaft.“403 Sie sind also so etwas wie der „Engpaßfaktor“ schlechthin. Der im Sommer des Jahres 1937 sich bemerkbar machende empfindliche Mangel an Maurern und Zimmerern, der zu häufigem Arbeitsplatzwechsel und zu einer „Abwanderung dieser Facharbeiter zu minderwichtigen Bauten“ führt,404 wird durch eine „Anordnung über den Arbeitseinsatz von Maurern und Zimmerern“ vom 6. Oktober 1937 bekämpft. In den Bezirken der Arbeitsämter Bitterfeld, Halle und Wittenberg wird durch eine Anordnung vom 27. April 1937 die Einstellung von Arbeitern der chemischen Industrie und des Baugewerbes von der Zustimmung des Arbeitsamtes abhängig gemacht.405 Auf Grund eines Gesetzes vom 3. November 1937406 können Ehefrauen als Empfänger von Ehestandsdarlehen wieder Arbeit aufnehmen oder ihr Arbeitsverhältnis fortsetzen. Zur Behebung des Arbeitskräftemangels wird darüber hinaus durch die „Anordnung zur Durchführung des Vierjahresplans über Beschränkungen in der Ausübung des Wandergewerbes und Stadthausiergewerbes“ vom 14. Dezember 1937407 die Ausübung dieser Gewerbe beschränkt. Zahlreiche ehemals abhängig Beschäftigte bzw. Arbeitslose bringen sich und ihre Familien zu dieser Zeit noch als „Selbständige“ durch die Not der Jahre. Die angesprochene Verordnung dient dem Zweck, die Möglichkeit zur Aufnahme solcher Beschäftigungen für die Fälle zu versagen, in denen eine „zweckvollere“ Ausnutzung der Arbeitskraft aus „staats- und wirtschaftspolitischen Gründen erforderlich ist.“ Vor dem Weihnachtsfest des Jahres 1937 sieht sich das NS-Regime gedrängt, dem Verlangen nach höheren Löhnen, das sich in vielfältigen Formen Ausdruck verschafft, Rechnung zu tragen. In einer „Anordnung zur Durchführung des Vierjahresplanes über die Lohnzahlung an Feiertagen“ vom 3. Dezember 1937408 verkündet das Regime der unzufrie400 Vgl.: Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger, 1936, Nr. 299. 401 Vgl. ebenda, 1937, Nr. 35; der Begriff „Metallarbeiter“ umfaßt übrigens „Arbeiter, Betriebsbeamte, Werkmeister, Techniker“. 402 Vgl. dazu ausführlich und realitätsnah: Volmer: Zwei Jahre Metallarbeiteranordnung. In: Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe, 6(1939)4, 57 - 59. 403 Gründler, Rudolf: Der Kampf um den Nachwuchs. In: Das Junge Deutschland, 30(1936)9, 13 - 17, hier: 17. 404 So die verschleiernde Ausdrucksweise bei: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 203), 427. 405 Vgl.: Die deutsche Arbeitspolitik...a.a.O.(=Anm. 335), 56; vgl. zur Anordnung vom 27. April 1937: Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger, 1937, Nr. 96; verkürzt wiedergegeben finden sich alle Vierjahresplananordnungen bis zur sechsten unter dem Titel: Arbeitseinsatz im Dienste des Vierjahresplanes. In: Wirtschaftsblatt der Industrie- und Handelskammer zu Berlin, 34(1936)32, 1461 - 1463. 406 Vgl.: RGBl. I 1937, 1158. 407 Vgl.: Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger 1937, Nr. 289; vgl. als Erläuterung: Timm: Planvolle Lenkung des Arbeitseinsatzes. Beschränkungen in der Ausübung des Wandergewerbes und Stadthausiergewerbes. In: Der Sozialversicherungs-Beamte, 5(1937)26, 617 - 620. 408 Vgl.: Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger, 1937, Nr. 280.

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denen Bevölkerung: Die Durchführung des Vierjahresplanes stelle erhöhte Anforderungen an alle „Gefolgschaftsangehörigen“. Lohnerhöhungen könnten dafür als Ausgleich nicht gewährt werden. „Damit aber die Mitarbeiter an dem großen Werke des Führers die Feiertage in Freude verleben können...“ bestimmt Göring mit dieser Anordnung als „Beauftragter für den Vierjahresplan“ eine Bezahlung der Arbeitszeit, „...die infolge des Neujahrstages, des Oster- und Pfingstmontages sowie des ersten und zweiten Weihnachtstages ausfällt...“ Das gelte nicht, falls der Neujahrstag und die Weihnachtstage auf einen Sonntag fallen. Gegen Mitte Dezember wird diese Regelung, wird das „Feiertagsgeld“ auch auf die Heimarbeiter übertragen.409 Arbeitseinsatzpolitisch beginnt das Jahr 1938 ähnlich, wie das Jahr 1937 zu Ende gegangen ist. Um den fortdauernden eklatanten Mangel an Arbeitskräften in der Land- und Hauswirtschaft zu beheben, ergeht die „Anordnung zur Durchführung des Vierjahresplans über den verstärkten Einsatz von weiblichen Arbeitskräften in der Land- und Hauswirtschaft“ vom 15. Februar 1938.410 Ledige weibliche Arbeitskräfte unter 25 Jahre dürfen in bestimmten Branchen oder für bestimmte Tätigkeiten nur eingestellt werden, wenn sie eine mindestens einjährige Tätigkeit (ein „Pflichtjahr“) in der Land- oder Hauswirtschaft durch das Arbeitsbuch nachweisen.411 Eingebunden in Hausarbeit, Feldarbeit, Stallarbeit und Gartenarbeit, dabei häufig „Wind und Wetter“ ausgesetzt, mangelhaft untergebracht und im Rahmen von überlangen Arbeitszeiten ausgenutzt, ist das Landjahr überwiegend eine außerordentlich unpopuläre Maßnahme.412 Eine „Anordnung zur Regelung des Arbeitseinsatzes in einzelnen Betrieben“ vom 1. März 1938413 ermöglicht es den Präsidenten der Landesarbeitsämter einzelnen Betrieben aufzuerlegen, Arbeitskräfte nur mit Zustimmung des Arbeitsamtes einzustellen. Die „Anordnung über den Arbeitseinsatz von Arbeitern und technischen Angestellten in der Bauwirtschaft“ vom 30. Mai 1938414 bestimmt, daß Betriebe der Bauwirtschaft Personen als Arbeiter oder technische Angestellte nur einstellen dürfen, wenn eine schriftliche Zustimmung des Arbeitsamtes vorliegt. Die Zustimmung ist u.a. zu versagen, wenn der Arbeitsplatzwechsel „staats- und wirtschaftspolitisch bedeutsame Aufgaben“ beeinträchtigt. Sämtliche Vierjahresplananordnungen sind mit Gefängnis und/oder Geldstrafe bewehrt, letztere kann in „unbegrenzter Höhe“ verhängt werden.415 Der „Anordnung über die Meldung Schulentlassener“ vom 1. März 1938 folgend416 müssen sich alle Schulentlassenen beim Arbeitamt melden. Sie werden dort einer „Nachwuchslenkung“ und Registrierung unterzogen, um sie in rüstungsbedeutsame Berufe zu drängen und um sie gegebenenfalls sofort für einen zusätzlichen Arbeitseinsatz zu mobilisieren.417 409 Vgl.: die „Bestimmungen für die Heimarbeit über die Lohnzahlung an Feiertagen“. In: Ebenda, Nr. 291. 410 Vgl.: Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger, 1938, Nr. 43. 411 Zur genaueren Ausgestaltung vgl. die Durchführungsverordnung vom 16. Februar 1938. In: Ebenda; vgl. auch: Ausdehnung des weiblichen Pflichtjahres. In: Monatshefte für N.S.-Sozialpolitik, 6(1939), 24 - 26. Auch diese Maßnahme ist bevölkerungspolitisch motiviert. Die verpflichtete „weibliche Jugend“ soll „artgemäße Berufe“ kennenlernen, Kenntnisse, die ihr später in ihrem „ureigensten Beruf als Hausfrau und Mutter“ zugute kommen. Insbesondere die kinderreiche, überlastete „Haus- und Bauersfrau“ soll durch „Pflichtjahrmädel“ entlastet werden. 412 Vgl. die Berichte in: SAPMO-BA. KPD/ZK. I 2/701/40; vgl. den Bericht „Die Bäuerin und ihre Tochter“. SAPMO-BA. KPD/ZK. I 2/701/43, Bl. 37 - 43. 413 Vgl.: Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger, 1938, Nr. 51. 414 Vgl.: Ebenda, Nr. 124. 415 Vgl. die „Zweite Verordnung zur Durchführung des Vierjahresplans“ vom 5. November 1936 (RGBl. I 1936, 936). 416 Vgl.: Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger, 1938, Nr. 51. 417 Vgl.: Die deutsche Arbeitspolitik...a.a.O.(=Anm. 335), 56.

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Dementsprechend hat sich die in diesem Zusammenhang bedeutsame Berufsberatung in „Theorie“ und Praxis weitgehend verändert. Was die Konzeption der Berufsberatung betrifft, läßt sich der Beginn dieses Prozesses schon in den Jahren 1933/34 beobachten. Staatsnotwendigkeiten, der „Dienst am Volksganzen“, „Erfordernisse der Gesamtheit“, nicht die Erwerbsmotive und die Neigungen und Eignungen des Einzelnen sollen in den Vordergrund treten.418 Von der „gewaltigen Verantwortung“ der Berufsberatung ist die Rede. Sie wolle ein Glied sein „...in der Kette von Händen, die an Deutschlands Zukunft arbeiten.“419 Berufsberatung und Berufswahl werden als „Schicksalsfrage“ für den einzelnen Menschen und das „Volksganze“ thematisiert.420 Die Vermittlung in „nachwuchsarme“ aber „staatspolitisch“ hochbedeutsame „Mangelberufe“ rückt in den Vordergrund. Schließlich wird die Rolle des personell unterbesetzten Beratungsdienstes,421 der sich in zahlreiche Kooperations- und Konfliktbeziehungen zur DAF und HJ „verwickelt“, im Rahmen einer umfassenden „Beplanung“ der Arbeitskraft diskutiert.422 Dieser Dienst der Arbeits(einsatz)verwaltung fügt sich, durch erweiterte Eingriffskompetenzen und politische Vorgaben gerüstet, ein in das zu immer drastischeren Mitteln greifende, auf den Krieg gerichtete Projekt der „wehrwirtschaftlichen Stärkung“ des „Dritten Reiches“. Dabei muß beachtet werden, daß sich alle in den besprochenen und in den noch folgenden Anordnungen und Verordnungen festgeschriebenen Instrumente und Ziele nicht bruchlos vollziehen und in die soziale Wirklichkeit umsetzen lassen. Es werden immer auch Formen der Umgehung, der Nichtanwendung, des Nichtbeachtens von Seiten der Beschäftigten und der Unternehmen praktiziert. Der „Kampf um den Facharbeiter“ wird zwar verrechtlicht und rationalisiert, die Praxis schwenkt jedoch nicht bruchlos auf die neuen Vorschriften um. Die Unterordnung der umschriebenen Personengruppen, aber auch von Kurzarbeitern, von Blinden und sonstwie behinderten arbeitsfähigen Menschen unter die letztlich immer militärischen Ziel- und Wunschvorstellungen, der „überbezirkliche Arbeitskräfteausgleich“, d.h. die mehr oder weniger offen erzwungene Verschickung großer Menschenmassen durch das Reich, führt zu heftigen Protesten. Diese Verfahrensweisen tragen zur Leistungszurückhaltung, zum Verlassen des zugewiesenen Arbeitsplatzes und zur Rückkehr in die Heimat bei. Lebensplanungen, Wünsche und Vorstellungen bleiben auf der Strecke. Entsprechende Strafen verbittern. Im Falle der Trennung von der Familie spielen sich auf den Bahnhöfen Trennungsszenen ab, wie während des Ersten Weltkrieges, wenn die Soldaten nach einem Heimaturlaub wieder an die Front mußten. Propagandafloskeln können die Härte solcher Maßnahmen für die Betroffenen nicht übertünchen.

418 Vgl. etwa die Tendenz der folgenden Beiträge: Busold, Karl: Beruf, Berufswahl und Berufsberatung in nationalpolitischer Bedeutung. In: Jugend und Beruf, 8(1933)9, 193 - 198; Mumme: Berufsberatung und Berufsauslese nationalsozialistisch gesehen. In: Ebenda, 9(1934)3, 49 - 52; Prinz, Hans: Von der Verantwortungsbereitschaft und der Verantwortungsfähigkeit der Deutschen Berufsberatung. In: Ebenda, 9(1934), 87 - 89. 419 Prinz, Hans: Von der Verantwortungsbereitschaft...a.a.O.(=Anm. 418), 88. 420 Vgl.: Bernsee, Hans: Die Berufsberatung - ihr Begriff und ihre Aufgaben. In: Deutsche Zeitschrift für Wohlfahrtspflege, 12(1936/37)2, 80 - 83, hier: 80. 421 Vgl. dazu: Neuloh, Otto: Die Bewährungsprobe der Berufsberatung. In: Das Junge Deutschland, 32(1938)2, 55 - 59. 422 Vgl. z.B.: Engelmann: Die Berufsnachwuchslenkung im Bezirk der Industrie- und Handelskammer zu Berlin. In: Wirtschaftsblatt der Industrie- und Handelskammer zu Berlin, 37(1939)10/11, 415 - 418; zahlreiche Beispiele durchweg „positiv“ verlaufender, rivalitätsfreier Kooperationsbeziehungen zu DAF, HJ, BDM, NSBO und natürlich auch zur „Geheimen Staatspolizei“ dokumentiert: Herrmann, Volker: Vom Arbeitsmarkt...a.a.O.(=Anm. 350), 201 ff.

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Göring bezeichnet die Regelung des Arbeitseinsatzes und der Arbeitsleistung als die „Kernfrage des Vierjahresplanes.“423 Er unterstreicht auf diese Weise die gewachsene und nunmehr bereits überragende „staatspolitische Bedeutung“ der in die Vierjahresplanadministration einbezogenen Reichsanstalt für die Planungen des NS-Regimes. Diese wächst noch einmal durch weitere Kompetenzübertragungen. Die Arbeitsämter werden am baupolizeilichen Genehmigungsverfahren zur Regulierung der Rohstoffe beteiligt, sie werden seit Beginn des Jahres 1939 in sicherheitspolitische Überprüfungsverfahren von Arbeitskräften eingeschaltet und ab dem Sommer 1939 haben sie die lohnpolitische Tätigkeit der „Reichtreuhänder“ zu unterstützen. Die nun auch personell erheblich ausgebaute Arbeitseinsatzverwaltung ist zu dieser Zeit bereits zu weit mehr als zu einem „Zentralorgan der planmäßigen Lenkung der Arbeitskräfte“ geworden.424 Damit ist sie ihrer ursprünglichen Funktion auf liberalen Arbeitsmärkten in dezidierter Weise entwachsen. Schon die Vorbereitung des größten aller bisherigen Kriege macht bald eine noch tiefergreifende Versklavung und Entrechtung der nach wie vor demagogisch umworbenen „nationalen Arbeit“ unumgänglich. „Das Regime, entschlossen, das Rüstungstempo auch um den Preis innerer Unzufriedenheit weiter zu beschleunigen, entschied sich für den Weg der offenen Militarisierung der Arbeitsverhältnisse und führte im Juni 1938 anläßlich des Westwallbaues die Möglichkeit einer Teildienstverpflichtung ein.“425 Eine weitere, eine letzte Phase der Arbeitseinsatzpolitik vor der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges wird hiermit eröffnet. Den Hintergrund dieser Maßnahme bildet die Tatsache, daß jetzt, etwas mehr als ein Jahr vor Beginn des Angriffskrieges, die auf Hochtouren laufende Rüstungsindustrie bzw. Kriegsvorbereitung den Arbeitsmarkt restlos leergefegt hat. Im Jahre 1938 wird der Bedarf an Arbeitskräften in weiten Bereichen der Wirtschaft von Monat zu Monat größer.426 Die Arbeitslosen bilden keine verfügbare Reserve mehr. Ende Juli 1938 werden nur noch 200.000 Arbeitslose gezählt. Nur ein geringer Bruchteil dieser Menschen ist noch „einsatzfähig“: „Die Gesamtzahl der beschäftigten Arbeiter und Angestellten erreichte im Jahre 1938 annähernd den Stand von 21 Millionen; der Zugang belief sich also auf rund 9 Millionen Arbeitskräfte seit 1933.“427 Die deutsche Produktionsstruktur wird in dieser Zeit immer einseitiger auf den Krieg hin ausgerichtet. Die angesprochene Dienstverpflichtung für „besonders bedeutsame Aufgaben“, deren Durchführung aus „staatspolitischen Gründen“ keinen Aufschub duldet, wird durch die „Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung“ vom 22. Juni 1938428 eingeführt. Es handelt sich zunächst um die Einräumung einer vorübergehenden Dienstverpflichtung. Diese bezieht sich nunmehr vor allem auch auf bereits an Arbeitsstellen gebundene Arbeitskräfte. Die dienstverpflichteten Arbeiter, vor allem die 400.000 zum Westwallbau und für andere Vierjahresplan-Projekte dienstverpflichteten, sind ganz im Sinne der Ideologie der totalen Militarisierung zu „Wirtschaftssoldaten“ geworden.429 Diese Ver423 Vgl.: Gerhardt, Johannes: Deutsche Arbeits- und Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 244), 214. 424 Vgl. denselben, ebenda, 210; vgl. zu den Kompetenzgewinnen der Reichsanstalt: Herrmann, Volker: Vom Arbeitsmarkt...a.a.O.(=Anm. 350), 152 f.; die Zahl der Mitarbeiter steigt zwischen dem Dezember 1937 und Januar 1939 von rund 26.000 auf 40.000 an; vgl. denselben, ebenda, 157. 425 Petzina, Dietmar: Die Mobilisierung...a.a.O.(=Anm. 319), 448. 426 Vgl.: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 203), 432. 427 Derselbe, ebenda, 432; um auf diese hohe Zahl zu kommen, muß man allerdings Höchst- und Tiefststände der amtlichen Statistik der angegebenen Jahre aufeinander beziehen. 428 Vgl.: RGBl. I 1938, 652. 429 Petzina, Dietmar: Die Mobilisierung...a.a.O.(=Anm. 319), 448.

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ordnung, von Hermann Göring als Sondermaßnahme für einen ganz bestimmten Zweck, „...für Bauvorhaben, von deren Durchführung das Schicksal der Nation schlechterdings abhängt“ propagiert, sieht vor: „Deutsche Staatsangehörige können von Dienststellen der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung für eine begrenzte Zeit verpflichtet werden, auf einem ihnen zugewiesenen Arbeitsplatz Dienste zu leisten oder sich einer bestimmten beruflichen Ausbildung zu unterziehen.“430 Nach nicht immer positiven Erfahrungen mit der Verordnung vom 22. Juni 1938, erscheint diese am 13. Februar 1939 in neuer und erweiterter Fassung.431 Umfangreiche Durchführungsanordnungen datieren auf den 2. und 10. März 1939.432 Die Dienstpflicht wird im Zuge dieser Revision erheblich ausgeweitet, die Kompetenzen der Arbeitsämter werden noch einmal bedeutend vergrößert. Die zeitliche Begrenzung der Dienstverpflichtung, die in der Verordnung vom 22. Juni 1938 noch vorhanden war, entfällt nun. Der Personenkreis wird ausgedehnt.433 Ein gewisser finanzieller „Härteausgleich“ für zwangsverpflichtete bzw. ausgehobene Arbeitskräfte wird eingeführt.434 „Zwangsweise ausgehobene Arbeiter, die einen zweiten Haushalt einrichten müssen, erhalten eine Trennungszulage ... Vom Juni 1939 bis zum Juni 1940 wurden 1 750 000 Aushebungsbefehle erlassen.“435 Das Arbeitsbuch und die Arbeitsbuchkartei der Arbeitsämter werden in dieser Zeit zu einem häufig benutzten und wichtigen Instrument des Arbeitseinsatzes und erfüllen offensichtlich die Erwartungen des damaligen Regimes.436 Als „Dritte Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung (Notdienstverordnung)“ vom 15. Oktober 1938437 werden Bestimmungen erlassen, die die Heranziehung von „Bewohnern des Reichsgebietes“ für begrenzte Zeit zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben, etwa zu zivilen Militärdiensten, regeln. So können nun sowohl öffentliche Dienstverhältnisse als auch normale Arbeitsverhältnisse durch verpflichtenden Verwaltungsakt begründet werden.438 Schon die vorgenannten Maßnahmen zur Steuerung des Arbeitseinsatzes zeigen, daß die Grenzen des verfügbaren Arbeitskräftepotentials erreicht sind. Die „Hereinnahme“ ausländischer Arbeitskräfte, der „Besteinsatz“, die Rationalisierung und die Leistungssteigerung sind ebenfalls an ihre (vorläufigen) Grenzen gekommen. Diese werden natürlich auch dadurch gesetzt, daß massenhaft Rechtsbrüche und Umgehungsformen praktiziert werden. In dieser Situation entsinnt sich das NS-Regime des „überbesetzten“ Handwerks. Die „Verordnung über die Durchführung des Vierjahresplans auf dem Gebiet der Hand430 Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 203), 432. 431 Vgl.: RGBl. I 1939, 206. 432 Vgl.: RGBl. I 1939, 403 und 444. 433 Vgl. dazu: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 203),432 ff.; vgl. auch: Die deutsche Arbeitspolitik...a.a.O.(=Anm. 335), 56; Lärmer, Karl:Vom Arbeitszwang...a.a.O.(=Anm. 298), 249 ff. 434 Vgl.: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 203), 435 f.; vgl. als Erläuterung: Hildebrandt: Die Neuregelung der Dienstpflicht nach der Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung. In: Monatshefte für NS.-Sozialpolitik, 6(1939), 127 - 129; Henschel: Die allgemeinen Richtlinien des Arbeitseinsatzes. In: Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe, 6(1939)11, 175 - 179; Adam: Sicherung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung. In: Blätter für öffentliche Fürsorge und soziale Versicherung, 23(1938)15, 165 - 166. 435 Neumann, Franz L.: Mobilisierung...a.a.O.(=Anm. 319), 278. 436 Vgl.: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 203), 442. 437 Vgl.: RGBl. I 1938, 1441. 438 Vgl. dazu aus juristischer Sicht: Wahsner, Roderich: Arbeitsrecht...a.a.O.(=Anm. 261), 94 ff.; auch der „Notdienst“ wird in das sonstige Gefüge der staatlichen Sozialpolitik, namentlich die Sozialversicherung, einbezogen; vgl. dazu: Lieske, Herbert: Die Sozialversicherung der Notdienstpflichtigen. In: Volkstümliche Zeitschrift für die gesamte Sozialversicherung, 45(1939)23/24, 282 - 284.

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werkswirtschaft“ vom 22. Februar 1939439 erlaubt unter spezifischen Voraussetzungen die zwangsweise Löschung eines selbständigen Handwerkers in der Handwerksrolle, wenn dieser „arbeitseinsatzfähig“ ist. So hofft man durch eine „Auskämmung des Handwerks“, insbesondere aus den Reihen der Bäcker, Metzger, Friseure, Herrenschneider, Schuhmacher einige zehntausend Arbeitskräfte zu gewinnen.440 Mit Blick auf den angestrebten Krieg und die daraus erwachsenden Anforderungen an den Arbeitseinsatz erfolgt durch Erlaß des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler vom 21. Dezember 1938441 eine einschneidende organisatorische Änderung des Arbeitseinsatzes. Die Aufgaben und Befugnisse des Präsidenten der Reichsanstalt gehen auf den Reichsarbeitsminister Franz Seldte über. Das Aufgabengebiet wird als neue Hauptabteilung des Reichsarbeitsministeriums dem früheren Präsidenten der Reichsanstalt Friedrich Syrup als Staatssekretär übertragen.442 Die Landesarbeitsämter und Arbeitsämter werden zum 1. April 1939 zu Reichsbehörden erklärt.443 Friedrich Syrup, der von Göring gleichzeitig zum Mitglied des „Generalrates“ des Vierjahresplans ernannt wird,444 entwickelt sich für kurze Zeit zu einer dominierenden Figur im nationalsozialistischen Herrschaftssystem. Gleichzeitig verliert Seldte zunehmend an Bedeutung zugunsten seines Staatssekretärs.445 Dieser Bruch in der Kontinuität des organisatorischen Aufbaues erscheint als logischer Abschluß einer Entwicklung hin zu einer Behörde, die ihren ursprünglichen Aufgaben „entwachsen“ ist, und die die abhängig beschäftigten Menschen ganz überwiegend als Objekt, als Manövriermasse staatspolitischer Absichten und Planungen betrachtet und die allseitige Verfügbarkeit der menschlichen Arbeitskraft im Dienste „staatspolitischer“ Ziele garantieren soll. Diese bereits im Ersten Weltkrieg beobachtbare „Sinnumkehr“ von Arbeitslosenunterstützung und Arbeitsvermittlung446 dokumentiert sich auch darin, daß die Zentralstelle der „Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“ unter anderem Namen als solche zwar bestehen bleibt, aber lediglich weiter das beträchtliche Beitragsaufkommen vereinnahmt und zunehmend zweckentfremdet verausgabt.447 Den Endpunkt der staatlichen (Vorkriegs-)Eingriffe in den Arbeitsmarkt, sozusagen auf der Schwelle zwischen Krieg und Frieden stehend, bildet die mit erheblichen Strafen bewehrte „Verordnung über die Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels“ vom 1. September 1939, erlassen vom Vorsitzenden des „Ministerrats für die Reichsverteidigung“, Her-

439 Vgl.: RGBl. I 1939, 327. 440 Vgl.: Die Auskämmung des Handwerks. In: Monatshefte für NS.-Sozialpolitik, 6(1939), 142 - 144. 441 Vgl.: RGBl. I 1938, 1892. 442 Vgl.: Peters, Horst: Die Geschichte...a.a.O.(=Anm. 329), 97. 443 Vgl.: Zschucke, Martin: Das Reichsarbeitsministerium. Berlin 1940, 39; vgl. als Kommentar: Syrup, Friedrich: Reichsarbeitsministerium und Reichsanstalt. In: Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe, 6(1939)1, 1 - 2. 444 Vgl.: Broszat, Martin: Der Staat...a.a.O.(=Anm. 59), 371; vgl. zu Syrups Funktionen: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 203), 24. 445 Vgl.: Broszat, Martin: Der Staat...a.a.O.(=Anm. 59), 372. 446 So die zutreffende Einschätzung bei: Teppe, Karl: Zur Sozialpolitik des Dritten Reiches am Beispiel der Sozialversicherung. In: Archiv für Sozialgeschichte, 17(1977), 195 - 250, hier: 212. 447 Die Zentralstelle der Reichsanstalt wird in „Reichsstock für Arbeitseinsatz“ umbenannt. Die Verwendung der Beitragsmittel ist geheim. Sie werden u.a. zur Mitfinanzierung der Reichsautobahnen, für die Finanzierung der Kinderbeihilfen, als Zuschüsse für die Rentenversicherungen und für sonstige „staatspolitisch wichtige Aufgaben des Reiches“ bzw. zur Bestreitung allgemeiner Reichsausgaben und damit auch zur Finanzierung des Krieges mißbraucht. 1939 betragen die Gesamteinnahmen 2,2 Milliarden RM; vgl.: Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 203), 456.

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mann Göring.448 Der 1. September ist der Tag des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf Polen. Die Macht der umorganisierten Arbeitsverwaltung erreicht einen neuen Höhepunkt. Die Auflösung von Arbeitsverträgen ohne Zustimmung des Arbeitsamtes wird bis auf gewisse Ausnahmen untersagt. Einstellungen sind, jenseits der Betriebe der Landwirtschaft, nur noch mit ausdrücklicher Genehmigung des Arbeitsamtes zulässig.449 Die nach der Überwindung der Arbeitslosigkeit einsetzende Tendenz zur möglichst umfassenden Ausschöpfung des vorhandenen Arbeitskräftepotentials legt es nahe zu vermuten, daß neue begrenzende Maßnahmen des Arbeitsschutzes für den Zeitraum bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges selten geblieben sind. Sie fehlen jedoch keineswegs. Zwar scheitern spektakuläre Großprojekte, wie etwa das von der DAF geforderte umfassende Frauenschutzgesetz, aber punktuelle Weiterentwicklungen sind beobachtbar. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die Schutzvorschriften der umfangreichen „Verordnung für Arbeiten in Druckluft“ vom 29. Mai 1935.450 Auf Gesundheitsschutz zielt auch die „Glashüttenverordnung“ vom 23. Dezember 1938451 und die „Verordnung über Haarhutfabriken“ vom 26. März 1938,452 ein Gewerbe in dem vor allem quecksilbergebeizte Rohstoffe und giftige Stäube die Gesundheit massiv bedrohen. Die „Ziegeleiverordnung“ vom 5. Juli 1937453 dient dem Gesundheitsschutz von Arbeiterinnen und von jugendlichen Arbeitern unter sechzehn Jahren durch das Verbot bestimmter Tätigkeiten. Ausnahmen sind jedoch möglich. Dem Gesundheitsschutz der Verbraucher wird durch eine „Verordnung über das Krabbenschälen in der Heimarbeit“ vom 13. Juli 1935 Rechnung getragen.454 Bemerkenswert sind zwei Rechtsquellen, die der Verbesserung der häufig menschenunwürdigen Zustände in Arbeiterbaracken dienen sollen. Diese entstehen bereits vor dem Zweiten Weltkrieg als Folge der Strategie, große „Arbeitermassen“ mehr oder weniger rücksichtslos zu den jeweils vordringlichen Bauprojekten zu dirigieren.455 Darüber hinaus werden zahlreiche schon länger bestehende Arbeitsschutzbestimmungen modifiziert und in manchen Fällen wird auch die Gültigkeitsdauer solcher Bestimmungen verlängert. Gegenüber der Jugend verhält sich das NS-Regime besonders „ambivalent“. Läßt sich zunächst, in der ersten Phase der Arbeitsmarktpolitik, keine Scheu feststellen, die Jugend in allerlei Dienste zu verpflichten und sie als arbeitsmarktpolitische Manövriermasse zu betrachten, so sind bald auch keine Hemmungen beobachtbar, sie für einen erneuten gewaltsamen Waffengang als Soldaten zu rekrutieren. Gegenüber der arbeitenden Jugend, sofern sie nicht in der Hauswirtschaft, der Land- und Forstwirtschaft im weiteren Sinne, der Schiffahrt, der Flößerei sowie der Luftfahrt beschäftigt ist, zeigt sich das Regime im Jahre 1938 von seiner „fürsorglichen“ Seite. Mit Datum vom 30. April 1938, zu einer Zeit höchster Arbeitsintensität und Vollbeschäftigung, ergeht das „Gesetz über Kinderarbeit und über die Arbeitszeit der Jugendlichen (Jugendschutzgesetz).“456 Dieses Gesetz deklamiert in seinem 448 Vgl.: RGBl. I 1939, 1685; zu den Strafvorschriften vgl.: Bulla: Rechtsfolgen von Verstößen gegen Bestimmungen zur Arbeitsplatzwechsel-Beschränkung... In: Deutsches Arbeitsrecht, 11(1943), 8 - 11, 21 - 23, 34 - 35. 449 Vgl.: Neumann, Franz L.: Mobilisierung...a.a.O.(=Anm. 319), 277. 450 Vgl.: RGBl. I 1935, 725. 451 Vgl.: RGBl. I 1938, 1961. 452 Vgl.: RGBl. I 1938, 347. 453 Vgl.: RGBl. I 1937, 620. 454 Vgl.: RGBl. I 1935, 1025. 455 Es handelt sich um das „Gesetz über die Unterkunft bei Bauten“ vom 13. Dezember 1934 (RGBl. I 1934, 1234) und die äußerst detaillierte „Ausführungsverordnung zum Gesetz über die Unterkunft bei Bauten“ vom 10. Januar 1935 (RGBl. I 1935, 10). 456 Vgl.: RGBl. I 1938, 437.

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„Vorspruch“, es sei „völkische Notwendigkeit und nationalsozialistische Pflicht“ alle Jugendlichen zu „seelisch und körperlich gesunden Volksgenossen“ zu erziehen. Es sei der Wille der Reichsregierung „...der deutschen Jugend Schutz und Förderung zuteil werden zu lassen und damit ihre Leistungsfähigkeit zu steigern.“ Das Jugendschutzgesetz, das das „Gesetz, betreffend Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben“ vom 30. März 1903 und weitere verstreute Schutzorschriften aufhebt, bringt tatsächlich einige Verbesserungen des Jugendschutzes. Es erhöht das Schutzalter für Jugendliche auf jene jungen Menschen, die über 14 aber noch nicht 18 Jahre alt sind, verschärft Strafbestimmungen, verlängert die Freizeit und gewährt einen Urlaubsanspruch von normalerweise mindestens 15 bzw. 12 Tagen (§ 21). Dieser gesetzlich verbürgte Urlaub soll allerdings möglichst zusammenhängend „...in der Zeit der Berufsschulferien und in der Zeit eines Lagers oder einer Fahrt der Hitlerjugend...“ erteilt werden.457 Der Urlaubsanspruch soll also vor allem auch die Wirksamkeit weltanschaulicher Indoktrination verbessern helfen. In der Eisen schaffenden Industrie und im Bergbau werden die Schutzvorschriften des Jugendschutzgesetzes schon bald wieder gelockert.458 Betrachtet man das „arbeitsmarktpolitische“ Vorgehen des NS-Regimes im Zuge der territorialen Expansion, so fallen gewisse Unterschiede zwischen dem Vorgehen im Saarland auf der einen und in Österreich sowie dem Sudetenland auf der anderen Seite ins Auge. Die Maßnahmen an der Saar, die dort ab 1935 ergriffen werden, zeichnen sich durch eine nur verhaltene Dynamik aus. Die „Versorgung“ der Erwerbslosen ist bedeutend schlechter als im übrigen Reichsgebiet. Sie liegt in den Händen der Kommunen, wie dies auch schon vor der „Rückgliederung“ der Fall war. Sie setzt Bedürftigkeit voraus, obwohl Anfang des Jahres 1936 eine Beitragspflicht eingeführt wird. Die Arbeitslosen an der Saar sind und bleiben Arbeitslose minderen Rechts. Die übrigen Aufgaben der Verminderung der Arbeitslosigkeit und des Arbeitseinsatzes werden, eingebunden in die reichsdeutsche Entwicklung, über die Reichsanstalt bzw. die neu errichteten Arbeitsämter abgewickelt.459 Das „Wunder der Wiedervereinigung“ des Staates Österreich mit dem „Altreich“ wird von vornherein als große Herausforderung begriffen. Die „Arbeitsmarktexperten“ sehen sich vor eine ähnliche Aufgabe gestellt, wie fünf Jahre zuvor in Deutschland. Ende Februar 1938 werden noch 396.000 Erwerbslose gezählt und die Erwerbslosigkeit ist mehr noch als zuvor im „Altreich“ ein großstädtisches Problem. Die Einbeziehung der lahmenden Wirtschaft Österreichs in die boomende Rüstungsökonomie des „Altreichs“ und die rasche „Besiegung“ der Arbeitslosigkeit in Österreich sind von größter politischer Bedeutung für das NS-Regime. Die Hoffnung auf „Lohn und Brot“ war ein wesentliches Motiv der Zustimmung der österreichischen Bevölkerung zum Nationalsozialismus.460 Auf diesem Gebiet hatte der Austrofaschismus bzw. der autoritäre „Ständestaat“ im wesentlichen Schiffbruch

457 Dieser Urlaubsanspruch wird mit der „Jugendurlaubsverordnung“ vom 15. Juni 1939 (RGBl. I, 1939, 1029) auf die zuvor vom „Jugendschutzgesetz“ ausgenommenen Wirtschaftsbereiche erstreckt. 458 Dies geschieht durch die „Verordnung über die Beschäftigung Jugendlicher in der Eisen schaffenden Industrie“ vom 23. Dezember 1938 (RGBl. I 1938, 1932) und die „Verordnung über die Beschäftigung Jugendlicher in bergbaulichen Betrieben“ vom 20. Januar 1939 (RGBl. I 1939, 97). Auch die erwähnte „Glashüttenverordnung“ kennt Ausnahmen von den Vorschriften des Jugendschutzgesetzes. 459 Vgl.: Herrmann, Volker: Vom Arbeitsmarkt...a.a.O.(=Anm. 350), 130 f., 173 f. 460 Vgl.: Karner, Stefan: Zur NS-Sozialpolitik gegenüber der österreichischen Arbeiterschaft. In: Ardelt, Rudolf G., Hautmann, Hans (Hg.): Arbeiterschaft und Nationalsozialismus in Österreich. Wien, Zürich 1990, 255 - 264, hier: 255.

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erlitten.461 Mit der „Wiedervereinigung“ wird dieses soziale Problem in „bewährter“ Weise vor allem durch Einberufungen zu Wehrmacht und Reichsarbeitsdienst, durch die Dienstverpflichtung von rund 100.000 Menschen in das „Altreich“, durch Aufträge deutscher Firmen und von Rüstungsbeauftragten an österreichische Firmen und durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Rahmen einer spezifischen „österreichischen Arbeitsschlacht“ gelöst. Das schließt die Integration der österreichischen Arbeitsverwaltung in die deutsche Staatsund Verwaltungsordnung und den Einsatz deutscher Experten ein. Auch werden die administrativen Zwangsmaßnahmen und Vorschriften übernommen.462 Wie in einem Zeitraffer wiederholen sich die im „Altreich“ erprobten und „bewährten“ Maßnahmen und Erscheinungen in Österreich. Dabei fehlen markante Besonderheiten keinneswegs. Dazu zählt zweifellos die „Göring-Aktion“, verkündet am 29. März 1938, die u.a. die Wiederaufnahme aller nach dem 1. Januar 1930 ausgesteuerten Erwerbslosen in eine Sonderform der Arbeitslosenunterstützung beinhaltet. In die zeitliche Nähe zur Volksabstimmung (10. April 1938) plaziert, soll diese Maßnahme vor allem legitimatorischen Zwecken dienen. Sie soll aber auch der Wiederherstellung der physischen Arbeitsfähigkeit einer in Not versunkenen Bevölkerungsschicht dienen, die bei manchem schon bald durch die Verschickung und den Arbeitseinsatz im „Altreich“ auf die Probe gestellt wird. Verbesserte oder wiedergewährte Unterstützungszahlungen und ernüchternde Erfahrungen in der Arbeitswelt des „Altreichs“ stürzen viele in ein Wechselbad der Gefühle und tragen zu einer nicht unerheblichen Fluchtbewegung der entsprechenden Arbeitskräfte bei. Insgesamt gesehen verringert sich jedoch die Zahl der Erwerbslosen bereits bis Ende August 1938 um - kritisch zu interpretierende - 71,3 % auf 113.600. Ähnlich wie vormals in der Reichshauptstadt Berlin, so bildet nun in der alten Hauptstadt Wien die Beseitigung der hohen städtischen Arbeitslosigkeit einen besonderen Schwerpunkt der österreichischen „Arbeitsschlacht“.463 Innerhalb von eineinhalb Jahren wird die Arbeitslosigkeit in Wien und im übrigen Österreich praktisch „besiegt“. Damit wird ein Versprechen eingelöst, das Hermann Göring, die „sicheren“ Erfahrungen im Altreich vor Augen, bereits in seiner Rede in der Nordwestbahnhofshalle am 26. März 1938 abgegeben hatte.464 Hiermit sind bereits auch die Rahmenbedingungen und Verfahrensweisen benannt, die die Einbeziehung der Wirtschaft und der Arbeitskräfte in den sudetendeutschen Gebieten bestimmen: Aufbau einer Arbeits(einsatz)verwaltung wie im „Altreich“, Verbesserung der Arbeitslosenunterstützung, beschleunigte Erfassung und Unterbringung der rund 200.000 Arbeitslosen, Übertragung reichsdeutscher Vorschriften, Arbeitseinsatz im „Altreich“. 461 Im Jahre 1937 werden offiziell 464.000 Arbeitslose gezählt, im Jahre 1933 waren es sogar 557.000; vgl.: Talos, Emmerich: Staatliche Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 176), 265; abweichende und insgesamt niedrigere Zahlen bei: Molle: Der Wandel des Arbeitseinsatzes im Lande Oesterreich. In: Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe, 5(1938)22, 334 - 336, hier: 334; vgl. auch die Zahlen bei: Syrup, Friedrich: Oesterreich. In: Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe, 5(1938)7/8, 105 - 108, hier:106. 462 Vgl.: Syrup, Friedrich: Oesterreich...a.a.O.(=Anm. 461). Die Übernahme des „deutschen Ansatzes“ und der deutschen Arbeitsverwaltung erfolgt ohne verzögernde Diskussion. Bereits Ende März befinden sich über 100 leitende Beamte und Fachvermittler der Arbeitsämter in dem „heimgeholten“ Land. Am 7. April 1938 entsteht in Wien eine Zweigstelle der Reichsanstalt. Im Mai erfolgt die Eingliederung der 11 österreichischen Landesarbeitsämter und 77 Arbeitsämter. Im Juni 1938 gelten auch hier alle wesentlichen Vorschriften zur Arbeitslenkung und zum Arbeitseinsatz; vgl. dazu: Herrmann, Volker: Vom Arbeitsmarkt...a.a.O.(=Anm. 350), 161. 463 Vgl.: Botz, Gerhard: Beseitigung der Arbeitslosigkeit in Wien 1938/39. In: Kommission Wien 1938 (Hg.): Wien 1938. Wien 1978, 190 - 196; zu den übrigen Daten und Zusammenhängen: Herrmann, Volker: Vom Arbeitsmarkt...a.a.O.(=Anm. 350), 184 ff. 464 Vgl.: Botz, Gerhard: Beseitigung...a.a.O.(=Anm. 463), 190.

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Schon bis Ende April 1939 sinkt die Arbeitslosigkeit auf ein Viertel des Standes zum Zeitpunkt der „Abtretung“ und Besetzung des Sudetenlandes. Einer auf „höchster Tourenzahl“ laufenden Volkswirtschaft erschließen sich darüber hinaus mit der am 15. März 1939 durchgeführten Besetzung der „Resttschechei“ und der Errichtung eines „Protektorats Böhmen und Mähren“ weitere wichtige Ressourcen. Die tschechoslowakische Regierung hatte bereits am 19. Januar 1939 vor dem Hintergrund hoher Arbeitslosenzahlen und erheblichen politischen Drucks ein Abkommen über ein „Arbeitskräftekontingent“ in Höhe von 40.000 Menschen zugunsten des „Dritten Reichs“ abgeschlossen. Die Umsetzung dieses Abkommens geschieht nun schon vor dem Hintergrund der deutschen Militäraktion: „...Ende März gingen die ersten Arbeitertransporte ab, und bis Ende Juni wurden bereits 52.000 Arbeitskräfte zur Arbeit in Deutschland vermittelt. Entscheidend für den umfänglichen Erfolg der Werbung war vor allem die hohe Arbeitslosigkeit im Protektorat...“465 Als die schlechten Erfahrungen der tschechischen Arbeitskräfte im „Altreich“ dazu führen, daß die Werbewirksamkeit des „Anschauungsmodells Deutschland“ mit seinem „Wirtschaftswunder“ und dem spürbaren Arbeitskräftemangel zurückgeht, scheut das Reichsarbeitsministerium nicht vor einer Erschwerung der Heimkehr und auch nicht vor der Anwendung massiven Zwangs zurück.466 Zu diesem Zeitpunkt, im Sommer 1939, hat die mit „gewagten Methoden“ entfesselte Rüstungskonjunktur und der Aufbau des für den lange geplanten Krieg bereitstehenden Gewaltpotentials bereits eine Arbeitskräftemangel in Höhe von einer Millionen Menschen bewirkt.467 Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, daß der Krieg die „Menschenbedarfe“ bald ins Ungeheure treiben wird, erscheinen die geschilderten Maßnahmen und Vorgänge als völlig unzureichend und nur als Vorspiel eines viel gewaltigeren Geschehens, das bald (beinahe) ganz Europa betreffen und einbeziehen soll.

4.1.5 Die Entwicklung der Sozialversicherungen Da die Arbeiterbewegung von Anbeginn in stets umstrittener Weise durch eine ehrenamtliche oder hauptberufliche Mitwirkung „Bestandteil“ des deutschen Sozial(versicherungs) staates gewesen ist und da sich diese Entwicklung im Zuge der Gesetzgebung und Entwicklung in der Nachkriegszeit noch einmal verstärkt hat, wird sie von der ab Ende Januar 1933 reichsweit anrollenden terroristisch-revolutionären Bewegung nicht nur als gesellschaftliche Organisation, in den Betrieben und in der Arbeitsverwaltung sondern auch auf dem Gebiet der Sozialversicherung in spezifischer Weise getroffen. Die „personalpolitischen“ Eingriffe der NS-Bewegung sind immer dort besonders stark, wo der Einfluß der Arbeiterbewegung und anderer republikanischer Kräfte von großer Bedeutung war. Sie beziehen sich in hervorragender Weise auch auf jene Gebiete, auf denen der Handlungsspielraum zu Ungunsten mittelständischer Interessen aktiv und reformpolitisch genutzt worden ist. Die nationalsozialistischen „Aufräumungsarbeiten“ betreffen auf dem Gebiet der staatlichen Sozialversicherungen mithin vor allem die Krankenversicherung und hier in erster Linie die bereits vor 1933 als „rot“ verschrieenen Ortskrankenkassen. 465 Kárný, Miroslav: Der „Reichsausgleich“ in der deutschen Protektoratspolitik. In: Herbert, Ulrich (Hg.): Europa und der „Reichseinsatz“. Essen 1991, 26 - 50, hier: 27, vgl. auch: Siepmann: Arbeitseinsatz im Protektorat Böhmen und Mähren. In: Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe, 6(1939)14/15, 229 - 231. 466 Vgl.: Kárný, Miroslav: Der „Reichsausgleich“...a.a.O.(=Anm. 465), 29 f. 467 Vgl.: Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches. Berlin, Bonn 1985, 58.

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Hier vernichtet und trifft der Nationalsozialismus die deutsche Arbeiterbewegung, die in den Krankenkassen und im Gesundheitswesen tätigen jüdischen Mitbürger und bestimmte reformpolitische Entwicklungen häufig gleichzeitig und als soziale Einheit.468 Besonders gefährdet sind die Beschäftigten, die sich bis zuletzt dem Vordringen des Nationalsozialismus in ihren Leistungsträgern und Einrichtungen entgegengestemmt haben, etwa durch Verbote des Besuchs oder der Abhaltung nationalsozialistischer Betriebszellenversammlungen, durch Kündigung, Nichtbeförderung, Versetzung usw. In einer Situation der Angst, der Denunziation, der „Gesinnungsausforschung“, des Opportunismus, der direkten und indirekten Gewaltausübung, der Begleichung „alter Rechnungen“, der personellen „Säuberungen“, ab und zu aber auch des eher verdeckten und juristisch gestützten Widerstandes angesichts des nationalsozialistischen Machtanspruchs, kann es nicht ausbleiben, daß es zumindest stellenweise auch zu gravierenden Störungen der Leistungsgewährung und des Funktionierens der Apparatur der sozialen Sicherung kommt. Am Beispiel der „roten“ Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) Berlin läßt sich zeigen, daß aufgrund der Entlassungswelle und der Einstellung beruflich und charakterlich ungeeigneter Kräfte aus dem Kreis der „alten Kämpfer“ des Nationalsozialismus massenhaft Leistungsfälle unbearbeitet bleiben, daß allgemein Disziplinlosigkeit herrscht. Anläßlich einer bevorstehenden Prüfung kommt es aus „Prüfungsangst“ zu einem regelrechten Putschversuch der „alten Kämpfer“. „Am 27. Oktober 1933 besetzte die Gestapo die Kasse und beschlagnahmte bei den ‘alten Kämpfern’ sechs Pistolen: „man wollte damit den ‘Reichskommissar für die AOK und die Direktoren gewaltsam entfernen’.“469 Diese Zustände rufen heftige Reaktionen der vorgesetzten Behörden insbesondere auch des Reichsarbeitsministeriums hervor.470 Die Aktivitäten der NS-Bewegung beziehen sich auch auf die Organe der Sozialversicherung, d.h. insbesondere auf die Vorstände und Ausschüsse der Krankenkassen, die Vorstände und Ausschüsse der Invalidenversicherung, entsprechende Organe der Unfallversicherung, das Direktorium und den Verwaltungsrat der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte. Diese Organe hätten versagt, die Versichertenvertreter seien in den „Miniaturparlamenten in der Sozialversicherung“ dem größeren Sachwissen der leitenden Beamten ausgeliefert gewesen. Die Versichertenvertreter in den Organen hätten ansonsten nur ihre eigenen Interessen vertreten.471 Es habe nur wenige Ausnahmen gegeben, wie sonst seien die jetzt aufgedeckten „ungeheuren Verschwendungen“ erklärbar, fragen der damalige Führer der NSBO, Walter Schuhmann, und der ebenfalls in der NSBO und NSDAP exponierte Ludwig Brucker.472 Insgesamt geraten rund 141.000 Versichertenvertreter,473 die meisten von ihnen in den Krankenkassen, in den Strudel der politischen aber auch der rassistischen Überprüfung und - gegebenenfalls - der anschließenden Vertreibung aus ihren Ehrenämtern. NSBO und DAF drängen in diese Funktionen. Die offene Nazifizierung dieser Institutionen der staatlichen Sozialpolitik reicht bis ins Reichsversicherungsamt (RVA) nach Berlin, der obersten Aufsichts- und Spruchbehörde für weite Teile der Sozialversiche-

468 Vgl.: Tennstedt, Florian, Leibfried, Stephan: Sozialpolitik und Berufsverbote im Jahre 1933. In: Zeitschrift für Sozialreform, 25(1979)3, 129 - 153, Teil II. Ebenda, Heft 4, 211 - 238, hier: 129. 469 Tennstedt, Florian, Leibfried, Stephan: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 468), 143. 470 Vgl. dieselben, ebenda, 145 - 146. 471 Vgl.: Schuhmann, Walter, Brucker, Ludwig: Sozialpolitik...a..a.O.(=Anm. 323), 360 f. 472 Biographische Notizen bei: Tennstedt, Florian: Soziale Selbstverwaltung...a.a.O.(=Anm. 52), 190 f. 473 Zahlenangaben gerundet nach den Angaben bei: Schuhmann, Walter, Brucker, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O. (=Anm. 323), 360 f.

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rung.474 Schon bald können sich Funktionäre der NSBO und DAF auf eine weitverzweigte Amtshilfe verlassen, wenn es darum geht, ihr politisches und rassistisches „Programm“ auch in den Institutionen der Sozialversicherung durchzusetzen. Zugleich stützen sich die staatlichen Behörden auf die NS-Bewegung und bitten etwa um die beschleunigte Benennung neuer „Versichertenvertreter“. Die auf diese Weise neu benannten „Vertreter“ sind nicht immer wähl- und einsetzbar. Die Tätigkeit des RVA gerät vorübergehend wegen fehlender Versichertenvertreter in Schwierigkeiten.475 Gegen eine allzu rigorose Ausschaltung der Vertreter der Arbeiterbewegung, die zudem die Rechtslage außer acht läßt, wendet sich - sehr vorsichtig und auf partielle Abmilderung bedacht - zunächst noch das Reichsarbeitsministerium.476 Der den gesamten Staatsapparat umfassende Kampf um Macht und „irdische Güter“, d.h. um mehr oder weniger wohldotierte Stellen,477 verlangt aus Ministerial- bzw. Regierungssicht auch auf dem Gebiet der Sozialversicherungen nach rechtlichen Regelungen, die parallel zu diesen Gewaltaktionen eingeführt werden und die diese „legalisieren“ und zukünftige Maßnahmen inhaltlich und verfahrensmäßig ausgestalten sollen. Den neuen Machthabern ist zwar an einer nationalsozialisitischen Durchdringung der Behörden gelegen, nicht jedoch an ihrer Chaotisierung. Zu den schon erwähnten problematischen Folgen der Machtergreifung treten insbesondere noch Haushaltsprobleme und eine personelle Überbesetzung der Leistungsträger hinzu. Durch die „Verordnung des Reichspräsidenten über Krankenversicherung“ vom 1. März 1933478 wird die Aufsicht über die Krankenkassen, die schon während der Weimarer Republik verstärkt worden war, noch einmal erweitert und auf die Fragen der Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Geschäftsführung ausgedehnt.479 Damit ist die Selbstverwaltung in diesem Versicherungszweig so gut wie ausgeschaltet, obgleich um ihre Neubesetzung zu dieser Zeit noch gekämpft wird. Soweit aus der Sicht der Bürokratie und der neuen Machthaber ein sofortiges Eingreifen erforderlich war „...und das VA. (Versicherungsamt als traditionelle Aufsichtsbehörde, E.R.) nach seiner Besetzung oder Einstellung nicht die unbedingte Gewähr dafür zu bieten schien, daß es diesen Erfordernissen gerecht werden könne, hat der Gesetzgeber die Einsetzung besonderer Kommissare vorgesehen, die 474 Vgl.: Zschucke, Martin: Das Reichsarbeitsministerium...a.a.O.(=Anm. 443), 9. 475 Zahlreiche Belege dafür finden sich in den Aktenbeständen des Bundesarchivs Koblenz (BA); vgl.: BA Koblenz. R 89 Reichsversicherungsamt, Nr. 10672. 476 Ein vom damaligen Staatsekretär im RAM, Johannes Krohn, verfaßter Erlaß vom 22. Juni 1933 stellt klar: „Ich halte es daher (auf Grund der Rechtslage, E.R.) nicht für angängig, schlechthin alle auf Grund von Vorschlagslisten der freien Gewerkschaften gewählten nichtständigen Mitglieder des Reichsversicherungsamts ihres Amtes zu entheben. Andererseits ist nicht zu verkennen, daß die Aufnahme in eine freigewerkschaftliche Vorschlagsliste dafür spricht, daß der Versicherte in stärkerer Weise als lediglich durch Mitgliedschaft, Beitragszahlung und Versammlungsbesuch, mit der Gewerkschaft und der sozialdemokratischen Partei verbunden gewesen ist ... Ich ersuche daher, soweit nicht im Einzelfalle bereits hinreichende Tatsachen bekannt sind, die in Frage kommenden nichtständigen Mitglieder kurzfristig zu einer Mitteilung darüber aufzufordern, ob und welche Funktionen sie in der Gewerkschaft oder der Partei ausgefüllt haben, und ob sie als Vertreter der Partei Stadtverordneter, Mitglied einer Gemeindeverwaltung oder Abgeordneter für die Volksvertretung des Reiches oder eines Landes gewesen sind ... In Zweifelsfällen empfiehlt sich eine Anfrage bei der zuständigen Stelle der Arbeitsfront.“ BA Koblenz. R 89 Reichsversicherungsamt, Nr.10672, Bl. 71 + RS 477 Die Bedeutung des persönlichen Macht- und Erwerbstrebens betont auch: Rosenberg, Arthur: Der Faschismus als Massenbewegung. Sein Aufstieg und seine Zersetzung. In: Abendroth, Wolfgang (Hg.): Faschismus und Kapitalismus. Frankfurt a.M. 1979, 75 - 141, hier: 129 f. (ursprünglich: Karlsbad 1934). 478 Vgl.: RGBl. I 1933, 97. 479 Vgl.: Knoll, E.(rnst): Die Neuordnung der Kranken- und Knappschaftsversicherung. Stuttgart 1933, 7.

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als solche an die Stelle des VA. treten...“480 Eine „Erste Verordnung zur Neuordnung der Krankenversicherung“ vom 17. März 1933481 regelt die Details. „Erforderlichenfalls“ kann den Krankenkassen-Kommissaren die Befugnis der Organe der Krankenversicherung übertragen werden. Im Laufe des Jahres 1933 werden für 103 einzelne Krankenkassen und 41 Krankenkassenverbände staatliche Kommissare vom Reichsarbeitsministerium bestellt. Diese müssen Mitglied einer Versicherungsbehörde, also Fachleute sein. Sie „walten“ mit Unterstützung anpassungsbereiter und nationalsozialistischer Beamter in den Leistungsträgern „ihres Amtes.“482 Von diesen Vorgängen sind „...die Ortskrankenkassen mit 91 Kommissaren besonders stark betroffen. Von den Kommissaren insgesamt ersetzten 79 Vorstand und Vertreterversammlung. Die Bestellung für einzelne Krankenkassen erfolgte vor allem in den Ländern Preußen, Sachsen, Anhalt, Braunschweig, Württemberg und Bayern. In Thüringen wurden alle Ortskrankenkassen einem Kommissar unterstellt, der die Selbstverwaltung ersetzte, in Bremen alle Allgemeinen Orts-, Betriebs- und Innungskrankenkassen. In Bayern wurden die Allgemeine Orts- und Landkrankenkassen aller Regierungsbezirke einem Kommissar unterstellt, wobei die Selbstverwaltungsorgane beibehalten wurden. In Baden wurden alle gesetzlichen Krankenkassen einem Kommissar unterstellt, hierbei blieben die Selbstverwaltungsorgane ebenfalls bestehen.“483 Das wichtigste Ziel der Kommissare ist, im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften, die Herabsetzung von Beiträgen und Leistungen. Zu den gegen Ende der Weimarer Republik und zu Beginn des „Dritten Reiches“ skandalisierten und über die Massenmedien verbreiteten Meldungen über „ungesunde oder gar gesetzwidrige Zustände“, über die „geradezu irrsinnige Verschwendungen“, über „Veruntreuungen“ usw. findet sich von den Kommissaren keine Veröffentlichung. Diese Erscheinungen dürften „...von wenigen Einzelfällen abgesehen, eine nationalsozialistische Propagandaerfindung gewesen sein.“484 Die Kommissarsbestellungen und die Aktionen der Nationalsozialisten führen insgesamt zu einer recht uneinheitlichen Gestaltung der organisatorischen Verhältnisse in den Krankenkassen, die bald erneute gesetzliche Eingriffe nach sich ziehen.485 Die nationalsozialistische Machtübernahme und die autoritäre Ausrichtung der staatlichen Sozialversicherung bezieht sich darüber hinaus auch auf die Spitzenverbände der Krankenkassen. Am 24. März 1933 unterstellt der Reichsarbeitsminister die Spitzenverbände seiner unmittelbaren Aufsicht. Die beiden Spitzenverbände der Ortskrankenkassen werden vereinigt, „gesäubert“ und einer nationalsozialistischen Leitung unterstellt. Die übrigen Spitzenverbände sind von den regimetypischen Eingriffen weniger stark berührt. Hier bleiben auch alte Geschäftsführer im Amt.486 480 Derselbe, ebenda, 8. 481 Vgl.: RGBl. I 1933, 131. 482 Die Mitarbeiter des RAM, Hans Engels und Josef Eckert, beschreiben das folgendermaßen: „Es ist nun durchaus nicht so, daß die Kommissare es allein waren, die diese Sanierung durchführten. Unterstützt von einem Heere von pflichtgetreuen und verantwortungsbewußten Sozialversicherungsbeamten, von jenen vielen, die trotz des Einreißens korrupter Zustände immer sauber geblieben waren, wurde die Reinigungsarbeit aufgegriffen.“ Vgl.: Engel, Hans, Eckert, J.(osef): Die Sozialversicherung im Dritten Reich. Berlin 1937, I 7. 483 Tennstedt, Florian: Soziale Selbstverwaltung...a.a.O.(=Anm. 52), 186; eine Liste der Kommissare für Krankenkassen vom 3. Mai 1933 findet sich in: BA Abt. Potsdam. 62.03 DAF. NS 5 VI, Nr. 3550, Bl. 27 ff. Die Liste umfaßt auch Krankenkassenverbände. 484 Derselbe, ebenda, 187. 485 Vgl. denselben, ebenda, 187. Ab dem Jahre 1936 ist das Kommissarwesen in der Krankenversicherung mehr oder weniger völlig abgebaut. Vgl. den Hinweis bei: Engels, Hans, Eckert, J.(osef): Die Sozialversicherung...a.a.O.(=Anm. 482), I 7. 486 Zu den Details vgl.: Tennstedt, Florian: Soziale Selbstverwaltung...a.a.O.(=Anm. 52), 191 ff.

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Die politischen und die parallel dazu beginnenden rassistisch motivierten „Aufräumungsarbeiten“ können und sollen auch auf dem Gebiet der Sozialversicherung seit Anfang April 1933 auf die Grundsätze des Berufsbeamtengesetzes bezogen und so legalisiert werden. Die Zahl der insgesamt von all diesen Maßnahmen betroffenen Menschen läßt sich kaum mehr genau ermitteln.487 Die Forschung ist über grobe Abschätzungen und Exemplifizierungen nicht hinausgekommen. Detaillierte Angaben finden sich zur AOK der Stadt Berlin, der größten Krankenkasse des Reiches. Bei dieser stark freigewerkschaftlichsozialdemokratisch geprägten Kasse werden 613 Entlassungen vorgenommen. Die Zurücknahme von 120 Entlassungen ist allerdings Ende 1933 geplant.488 Es wird geschätzt, „...daß im gesamten Deutschen Reich etwa 2500 bis 4000 Krankenkassenangestellte von der Entlassung betroffen waren.“489 Beim sozialdemokratisch dominierten „Hauptverband deutscher Krankenkassen“ werden, bis auf den Registrator, alle Bediensteten entlassen.490 In der Unfallversicherung sind die personellen Konsequenzen nicht so erheblich. Bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften werden mindestens 20 Angestellte und 12 Ärzte entlassen. Etwa 100 Inhaber von Ehrenämtern müssen ihre Funktionen niederlegen, beinahe ausschließlich, weil sie, wie die erwähnten Angestellten und Ärzte, „Nichtarier“ sind.491 „Soweit sich heute noch feststellen läßt, gaben 14 LVA-Präsidenten ihr Amt im Zusammenhang mit dem politischen Machtwechsel ab oder wurden dazu gezwungen.“492 Auf Grund des Berufsbeamtengesetzes werden bei den Landesversicherungsanstalten mindestens 150 Beamte, Angestellte oder Arbeiter entlassen. Bei der Reichsknappschaft rechnet man mit 106 einfachen Angestellten und Arbeitern sowie 25 leitenden Angestellten und Ärzten, die entlassen werden.493 Die Kehrseite dieser Entlassungsaktionen ist ein weitgehendes Entgegenkommen des Gesetz- und Verordnungsgebers sowie der Exekutive, wenn es darauf ankommt, das Eindringen, die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen, die Laufbahnerfordernisse usw. der neuen, der nationalsozialistischen Kräfte „vorteilhaft“ zu gestalten. Für die meist fachlich nicht geeigneten Kräfte werden besondere Prüfungserleichterungen geschaffen. Die „Zweite Verordnung zur Neuordnung der Krankenversicherung“ vom 4. November 1933 schreibt vor: „Bei der Vorbereitung und der Durchführung der Prüfungen ist auf Frontkämpfer, bewährte Kämpfer für die nationale Erhebung und Schwerbeschädigte Rücksicht zu nehmen.“ Gleichzeitig läßt sich jedoch auch eine Tendenz beobachten, zu weitgehende Befreiungen von „Qualifikationsanforderungen“ zu verhindern. Fester Bestandteil dieser „Anforderungen“ sind mit der „Vierten Verordnung zur Neuordnung der Krankenversicherung“ vom 3. Februar 1934 die „Staatsbürgerkunde (nationalsozialistische Weltanschauung) sowie die Rassenkunde, Rassen- und Erbgesundheitspflege.“494 Es läßt sich nachweisen, daß schon bald versucht wird, über eine Veränderung von Anstellungsgrundsätzen bei der „Reichsversicherungsanstalt für Angestellte“ wesentlich höhere Vergütungen für Dienstan487 Lesenswert die Vorgänge in der Krankenversicherung von Wesermünde-Bremerhaven: Hansen, Eckhard u. a..: Seit über einem Jahrhundert...: Verschüttete Alternativen in der Sozialpolitik. Köln 1981, 322 - 382. 488 Vgl.: Tennstedt, Florian, Leibfried, Stephan: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 468), 138. 489 Dieselben, ebenda, 140. 490 Vgl.: Tennstedt, Florian: Soziale Selbstverwaltung...a.a.O.(=Anm. 52), 192. 491 Vgl.: Tennstedt, Florian: Sozialgeschichte der Sozialversicherung. In: Blohmke, Maria u. a. (Hg.): Handbuch der Sozialmedizin in drei Bänden. Band III: Sozialmedizin in der Praxis. Stuttgart 1976, 385 - 492, hier: 438. 492 Derselbe, ebenda, 473. 493 Vgl. denselben, ebenda, 473. 494 Vgl.: RGBl. I 1933, 809.

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fänger, „...die sich vor dem 30. Januar 1933 nachweislich in den nationalen Verbänden (NSDAP, SA, SS, St und HJ) betätigt haben...“ durchzusetzen, was auch wohl gelingt.495 Noch Anfang 1935 wird eine Sonderaktion der Arbeitsvermittlung für die „alten Kämpfer der nationalen Erhebung“ soweit sie „Amtsleiter“ der Partei oder SA-Führer gewesen sind, durch einen Erlaß des Reichsarbeitsministeriums wirkungsvoll gefördert.496 Weitere gleichsinnige Erlasse des Reichsarbeits- und Reichsinnenministeriums an die Sozialversicherungsträger bzw. Behörden zur bevorzugten Einstellung von „alten Kämpfern“ bzw. Nationalsozialisten sind nachweisbar.497 Darüber hinaus fehlt es nicht an Vorschriften und Aktionen zur Privilegierung ehemaliger Wehrmachtsangehöriger, von Anwärtern des Reichsarbeitsdienstes und Versorgungsanwärtern alten Rechts bei der Stellensuche.498 Gegen das Eindringen von „normalen“ Straftätern in die Sozialverwaltung und gegen einzelne unberechtigte, wenngleich im Geist der Zeit „einschlägig begründete“ Begehren läßt sich „Widerstand“ der Behörden ausmachen.499 So ergibt sich auch auf dem Gebiete des Sozialstaats eine Erscheinung, die ganz allgemein für die damalige Zeit charakteristisch ist: Bittere materielle Not, soziale Isolation und öffentliche Ächtung, verbunden mit Gewalt und Gewaltdrohung, aber auch Mord und Selbstmord auf der einen500 und ein derart geöffneter Arbeitsmarkt für rechtsstehende, „national zuverlässige“, nationalsozialistische Kräfte auf der anderen Seite kennzeichnen die Anfänge und ersten Jahre der Diktatur, während allgemein noch Arbeitslosigkeit in bedeutender Höhe existiert. Wenn und soweit sich die Aktionen der NS-Bewegung auf die „Säuberung“ der zahlreichen bereits weitgehend funktionslos gewordenen Selbstverwaltungsorgane und auf sonstige ehrenamtliche Funktionsstellen bezogen haben, werden sie durch das bereits in der dritten Durchführungsverordnung zum Berufsbeamtengesetz angekündigte „Gesetz über die Ehrenämter in der sozialen Versicherung und der Reichsversorgung“ vom 18. Mai 1933 und die Ausführungsbestimmungen endgültig und überwiegend nachträglich „legalisiert“.501 Nach diesem Gesetz können Inhaber von Ehrenämtern in der Reichsversorgung und nach der RVO, dem Angestelltenversicherungsgesetz, dem Reichsknappschaftsgesetz oder dem AVAVG sowie Mitglieder der Organe der Kassenvereinigungen fortan von den im Gesetz bezeichneten zuständigen Stellen ihres Amtes enthoben werden. Die entsprechenden Neubesetzungen können mit Inkrafttreten dieses Gesetzes von den gleichen „zuständigen Stellen“ vorgenommen werden. Der nachträglichen Legalisierung der Gewaltmaßnahmen dient auch der § 3 des „Ehrenämtergesetzes“, der folgendes beinhaltet: „Die 495 Vgl.: BA Koblenz. R 89 Reichsversicherungsamt, Nr. 3478 Bl. 97. 496 Erlaß des Reichsarbeitsministers vom 31. Januar 1935. Ebenda, Bl. 11. 497 Vgl.: BA Koblenz. R 89 Reichsversicherungsamt, Nr.4065 und 3481. 498 Vgl.: BA Koblenz. R 89 Reichsversicherungsamt, Nr.10772. 499 So läßt sich ein Herr Sebelin, der sich selbst als „älterer politischer Offizier und SA-Mann des 3. Reiches“ bezeichnet zur Unterstützung seines Einstellungsbegehrens von einem Herrn K. Baude folgendermaßen charakterisieren: „Es war s. Zt. hier fast allgemein bekannt, dass Herr Sebelin die grösste Agitatorin Rosa Luxemburg ohne besonderen Auftrag zu haben - festgenommen und der wohlverdienten Aburteilung zugeführt hat. Durch diese Tat allein sind viele deutschdenkende und deutschhandelnde Volksgenossen s. Zt. vor grossen und schweren Opfern bewahrt worden.“ Vgl.: Schreiben K. Baude an den Herrn Leiter der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte, Berlin-Wilmersdorf vom 29. Mai 1935. BA Koblenz. R 89 Reichsversicherungsamt, Nr. 3478, Bl. 29 + RS. 500 Einige entsprechende Zeitungsnotizen enthält: Leibfried, Stephan, Tennstedt, Florian: Berufsverbote und Sozialpolitik 1933. Bremen o.J. (=Arbeitspapiere des Forschungsschwerpunktes Reproduktionsrisiken, soziale Bewegungen und Sozialpolitik Nr. 2, Universität Bremen). 501 Vgl.: RGBl. I 1933, 277; vgl. als zeitgenössische Quelle, die eine radikale Durchführung der Bestimmungen dieses Gesetzes empfiehlt: Hj.: Vollzug des Gesetzes über Ehrenämter in der sozialen Versicherung und in der Reichsversorgung. In: Blätter für öffentliche Fürsorge, 18(1933)13, 142 - 143.

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zuständige Stelle (§ 2) kann Amtsenthebungen und Neubesetzungen, die den Vorschriften dieses Gesetzes entsprechen, aber vor Inkrafttreten dieses Gesetzes stattgefunden haben, mit rückwirkender Kraft genehmigen, auch soweit sie von einer nicht zuständigen Stelle verfügt sind. Rechtsbehelfe können nicht darauf gestützt werden, daß eine entscheidende Stelle zwischen dem 1. März 1933 und dem 1. Juli 1933 nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen sei.“ In der ersten Durchführungsverordnung vom 19. Mai 1933 erfährt das Rahmengesetz eine Erläuterung dahingehend, daß für die Amtsenthebung und Neubesetzung im allgemeinen die Grundsätze des Berufsbeamtengesetzes und der dazu ergangenen Durchführungsbestimmungen als Richtlinien zu gelten haben. Auch Bevollmächtigte und Beistände „kommunistischer Einstellung oder nichtarischer Abstammung“ sind nun im Regelfall zurückzuweisen. Bald geht man auch über diese Vorschriften hinaus.502 Soweit Reichskommissare die Aufgaben von Organen wahrnehmen, wird im allgemeinen keine Neubesetzung der Organe vorgenommen. Zusammenfassend und übergreifend bestimmt eine zeitgenössische Schrift den Stellenwert dieser Gesetzgebung wie folgt: „Die Neuregelung der Ehrenämter beschränkt sich auf die Bereinigung und Gleichschaltung; sie vermeidet bewußt grundsätzliche Neuerungen. Die endgültige Regelung der Selbstverwaltung und der Ehrenämter in der Sozialversicherung bleibt vielmehr vorbehalten.“503 Die Grundsätze des Berufsbeamtengesetzes erweisen sich über die angesprochenen Bestimmungen hinaus als geradezu universeller Maßstab der Ausschließung unerwünschter Kräfte, die in ganz verschiedenartiger Form auf die Sozialversicherung bezogen sind. Der § 5 des Gesetzes über Ehrenämter vom 18. Mai 1933 sieht bereits auch noch den Erlaß von Bestimmungen über die Zulassung (bzw. den Ausschluß) von Gutachtern bei den Versicherungsträgern und -behörden, den Spruchausschüssen der Arbeitsämter und der Versorgungsbehörden sowie über die Zulassung von Vertrauens- und Durchgangsärzten bei den Trägern der reichsgesetzlichen Sozialversicherung vor. Die bald ergehenden Durchführungsverordnungen erweitern die Möglichkeiten der Entlassung bzw. Zurückweisung rassisch unerwünschter und politisch mißliebiger Menschen bzw. der Neuzulassung nationalsozialistischer und „nationaler“ Kräfte.504 Wie die übrige Nazifizierung, so bleiben auch diese Vorgänge nicht ohne Auswirkung auf das Verwaltungshandeln gegenüber der Klientel des „völkischen Sozialstaats“. Eine eifrige Umsetzung der Regierungspolitik, eine Verhärtung der Gewährleistungspraxis, eine kleinliche, von plebejischen Rachegedanken und Diskriminierungsabsichten nicht freie Vorgehensweise insbesondere gegenüber dem politischen Gegner und dem „Rassenfeinde“ läßt sich beobachten.505 Berührt werden die Sozialversicherungsträger schließlich auch durch die „Neuordnung“ der Arbeitsverfassung. Durch das Arbeitsordnungsgesetz vom 20. Januar 1934 ent502 Vgl. zur ersten Durchführungsverordnung: RGBl. I 1933, 283. Über die Vorschriften des BBG hinaus geht die „Dritte Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über Ehrenämter in der sozialen Versicherung und der Reichsversorgung“ vom 3. Juli 1933 (RGBl. I 1933, 450). Sie bestimmt: „Inhaber von Ehrenämtern in der sozialen Versicherung... sind ihres Amtes zu entheben, wenn sie auf Vorschlag einer wirtschaftlichen Vereinigung gewählt, berufen oder bestellt sind und die Vereinigung oder ihr Nachfolger (z.B. auch die DAF als „Nachfolgerin“ der Gewerkschaften, E.R.) bis zum 30. September 1933 erklärt, daß die Amtsinhaber ihr Vertrauen nicht besitzen; soweit die Neubesetzung eines solchen Ehrenamts erforderlich ist, hat die Vereinigung oder ihr Nachfolger das Vorschlagsrecht.“ 503 I. Ehrenämter in der Sozialversicherung und Reichsversorgung. - Vertrauensärzte und ärztliche Sachverständige der Versicherungsträger und Versicherungsbehörden. - Bevollmächtigte und Beistände. In: Die Reichsversicherung, 7(1933), 244 - 249, hier: 244. 504 Vgl. dazu insgesamt: I. Ehrenämter in der Sozialversicherung...a.a.O.(=Anm. 503), 244 ff. 505 Vgl. dazu u.a.: Tennstedt, Florian: Sozialgeschichte...a.a.O.(=Anm. 491), 476.

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fallen auch auf dem Gebiet der Sozialversicherung die Grundlagen des kollektiven Arbeitsrechts und die alten Mitbestimmungsregelungen. Das „Gesetz zur Ordnung der Arbeit in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben“ vom 23. März 1934 regelt nunmehr auch die Arbeitsverhältnisse der Angestellten und Arbeiter bei den Trägern der Sozialversicherung.506 Noch deutlicher als im Arbeitsordnungsgesetz wird die Machtstellung der zu „Führern einer öffentlichen Verwaltung oder eines öffentlichen Betriebes“ umbenannten obersten Leitungsebene gegenüber der „Gefolgschaft“ hervorgehoben: „In denjenigen Verwaltungen, die mit Hoheitsbefugnissen ausgestattet waren, also im Kernbereich der öffentlichen Verwaltung, konnten Vertrauensräte nicht gebildet werden.“ Zu diesem Bereich zählen unter dem Nationalsozialismus auch die Sozialversicherungen. Damit ist die Entscheidungsbefugnis der weiter amtierenden alten oder der neuen Herren nicht einmal mehr „...durch gewisse Beratungs- oder Informationspflichten gegenüber den Beschäftigten eingeschränkt.“507 Ein Vergleich mit der militärischen Befehls-Gehorsams-Struktur ist durchaus angebracht.508 Auf dem Gebiet der Krankenversicherung und der Krankenversorgung sind jene spezifischen „Spuren“ dem Vergessen zu entreißen, die mittelständische Interessen in Verbindung mit antisemitisch-rassistischen Maßnahmen unter den Bedingungen der NSHerrschaft hinterlassen haben. Bereits aus Anlaß des Wahlkampfes für die Reichstagswahl vom 5. März 1933 berichtet, wenige Wochen vor seiner Verhaftung, der geschäftsführende Vorsitzende des „Hauptverbandes deutscher Krankenkassen“, Helmut Lehmann, von Vorstößen der Apotheker und der „Arbeitsgemeinschaft nationalsozialistischer Verbandsdrogisten“ zu höchsten Partei- und Regierungsspitzen. Diese Vorstöße bezweckten die Rückverlagerung von kasseneigener Leistungserstellung bzw. -verteilung an die entsprechenden freiberuflich tätigen Professionen. Nicht zu Unrecht vermutet Lehmann: „...daß alles dies nur der Vorbereitung bedeutsamer Aenderungen in der Krankenversicherung dient.“509 Daß sich im konservativen, nationalistischen und nationalsozialistischen Milieu engagierte Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Drogisten usw. vehement gegen kasseneigene Ambulatorien, Zahnkliniken, Selbstabgabestellen von Arznei- und Hilfsmitteln usw. wenden, war bekanntlich schon in den Kämpfen der Weimarer Republik deutlich hervorgetreten.510 Vor dem Hintergrund ihrer Furcht vor Einnahmeverlusten, vor Existenz- und Statusgefährdung werden zahlreiche Ärzte zu einer wichtigen und durchsetzungsstarken Gruppe innerhalb der mittelständisch-akademischen Anhängerschaft der NS-Bewegung. Dies wiederum erklärt die bald einsetzende konsequente Parteinahme der Partei- und Staatsstellen des „Dritten Reiches“ für die „...mittelständisch getragene Zerschlagung der Eigenbetriebe der Allgemeinen Ortskrankenkassen...“511 Gegen den im Jahre 1933 einsetzenden Sturm können sich die schwachen republikanisch oder sozialistisch orientierten und organisierten Kräfte innerhalb der Ärzteschaft nicht durchsetzen. So kommt es, daß sich die neuen Machthaber und 506 Nicht erfaßt werden die Beamten. Sie sind lediglich insoweit berührt als sie Führungsfunktionen ausüben und in dieser Eigenschaft vor allem auch deutlich erweiterte autoritäre Anordnungsrechte gegenüber der „Gefolgschaft“ eingeräumt bekommen.Vgl.: Kranig, Andreas: Lockung...a.a.O.(=Anm. 232), 55 f. 507 Derselbe, ebenda, 56. 508 Vgl.: Maunz: Der Führergedanke in der Verwaltung. In: Deutsches Recht, 5(1935), 219 - 221. 509 Lehmann, Helmut: Die Krankenversicherung im Wahlkampf. In: Deutsche Krankenkasse, 20(1933)9, Sp. 201 - 206, hier: Sp. 205. 510 Vgl. als lesenswerte Schrift: Döhler, Marian: Zur Entwicklung und Funktion der Eigeneinrichtungen der Krankenkassen 1900 - 1933. Berlin 1982 (vv. Man., IGES-Papier Nr. A 138.). 511 Hansen, Eckhard et al.: Seit über einem Jahrhundert...a.a.O.(=Anm. 487), 299 f.

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die auf NS-Kurs gebrachten Institutionen konsequent für die Ärzte und andere Leistungserbringer und gegen die Krankenkassen engagieren.512 Schon durch Runderlaß des preußischen Ministers für Wirtschaft und Arbeit vom 28. Februar 1933 werden die Krankenkassen an ihre Pflicht erinnert, einen - die Eigeneinrichtungen mit umfassenden - Haushaltsplan aufzustellen und der Aufsichtsbehörde vorzulegen. Die Aufsichtsbehörden ihrerseits werden, so der Erlaß „...die ihnen vorzulegenden Haushaltspläne daraufhin zu prüfen haben, ob sie Anlaß zum Einschreiten im Aufsichtswege geben.“513 „Zur Vorbereitung der endgültigen Entscheidung über ihre weitere Zulassung (d.h. über die Zulassung der Eigeneinrichtungen, E.R.) sind die Aufsichtsbehörden durch Runderlaß vom 31. 3. 1933 ... zu eingehender Prüfung dieser Betriebe auf ihre Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit angehalten worden,“ formuliert Ernst Knoll, Ministerialrat im Reichsarbeitsministerium.514 Der Runderlaß nimmt die Vorwürfe der organisierten Dienstleister gegen die Eigeneinrichtungen der Krankenkassen „ernst“ und empfiehlt die Zuziehung „geeigneter Sachverständiger“.515 Mit dem im Erlaß enthaltenen Hinweis, soweit es sich um kasseneigene Zahnkliniken handele,516 empfehle sich die Zuziehung von Zahnärzten und der ebenfalls dort zu findenden Empfehlung, „...wegen der Benennung geeigneter Sachverständiger gegebenenfalls mit dem Reichsverband der Zahnärzte bzw. seinen Unterverbänden in Verbindung zu treten“, wird zum ersten, aber nicht zum letzten Mal ein ministerieller Hinweis auf die Beteiligung der ärztlichen Standesorganisationen gegeben, die sich immer schon heftig gegen die „...durch die Arbeiterbewegung erkämpften gesundheitspolitischen Positionen“ gewandt hatten.517 Trotz aller Bemühungen, die Auflösung der Eigeneinrichtungen in der sozialpolitischen Fachpresse, der „Erlaßlage“ entsprechend, als Ausfluß wirtschaftlicher Vernunft darzustellen, schlagen doch die grundsätzlichen standespolitischen Motive dieser Aktionen immer wieder durch. Die Zeit scheine für eine endgültige Entscheidung gegen die „Eigenbetriebswirtschaft der Krankenkassen“ reif zu sein, ist im September 1933 zu lesen. Werde sie verzögert, dann drohe die Gefahr, „...daß nie wieder nachzuholen ist, was jetzt versäumt wurde. Bleibt die Eigenbetriebswirtschaft, wenn auch nur rudimentär, weiter bestehen, dann wird sie eines Tages wie eine stark beschnittene aber an ihrer Wurzel unverletzt gebliebene Pflanze neu zu wuchern beginnen und dann unausrottbar werden.“518 Die „Selbstabgabe“ der Krankenkassen im nationalsozialistischen Staat sei infolge ihrer „wirtschaftlichen und gesundheitlichen Auswirkungen“ zu einem Fremdkörper geworden. Fremdkörpern hafte, auch wenn sie geringen Umfangs seien, die Gefahr an, zersetzend und vergiftend zu wirken.519 Die „nationale Revolution“ habe an dem Problem der Eigenbetriebe in 512 Parlow, Siegfried: Zur Integration ärztlicher Standesorganisationen in das faschistische Machtgefüge. In: Thom, Achim, Spaar, Horst (Hg.): Medizin im Faschismus. Berlin 1985, 77 - 84; vgl. auch: Frankenthal, Käte: Aerzteschaft und Faschismus. In: Der Sozialistische Arzt, 8(1932)6, 101 - 107. 513 Runderlaß des preußischen Ministers für Wirtschaft und Arbeit vom 28. 2. 1933; zit. nach: Knoll, E.(rnst): Die Neuordnung...a.a.O.(=Anm. 479), 46. 514 Knoll, E.(rnst): Die Neuordnung...a.a.O.(=Anm. 479), 13. 515 Der Runderlaß vom 31. 3. 1933 ist abgedruckt bei demselben, ebenda, 45 f. 516 1931 gibt es immerhin 126 Kassenzahnkliniken, in denen 528 festangestellte Zahnärzte beschäftigt werden; vgl.: Hansen, Eckhard u. a.: Seit über einem Jahrhundert...a.a.O.(=Anm. 487), 384. 517 Vgl.dieselben, ebenda, 356; zum Anpassungskurs der Ärzteorganisationen vgl. auch: Kater, Michael H.: Ärzte als Hitlers Helfer. Hamburg, Wien 2000, 52 ff. 518 Die Eigenbetriebswirtschaft der Krankenkassen. In: Soziale Zukunft, (1933)9, 89 - 100, 105 - 108, hier: 89. 519 Vgl.: Wann wird die Selbstabgabe der reichsgesetzlichen Krankenkassen aufgehoben? In: Die Innungskrankenkasse, 12(1934)10, 159 - 161, hier: 161.

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der Krankenversicherung nicht vorbeigehen können, nachdem sich immer mehr herausgestellt habe, daß in ihnen keineswegs eine wirtschaftliche Behandlungsweise gesichert gewesen sei. Es sei in ihnen einfach nur die „Machtposition“ einer auf die „Sozialisierung“ des gesamten Heilwesens bedachten Sozialbürokratie zu sehen.520 In seiner Eigenschaft als Reichskommissar für den ehemals sozialdemokratisch orientierten „Hauptverband deutscher Krankenkassen“ ist es wiederum der NS-Funktionär Ludwig Brucker, der sich bei der „mittelstandsorientierten Bereinigung“ der Dienstleistungspalette der Krankenversicherung hervortut. Er verfügt die Auflösung aller Eigeneinrichtungen des sozialpolitisch besonders aktiven Hauptverbandes, Einrichtungen, die dieser Verband im wesentlichen zur Unterstützung seiner Mitgliedskassen unterhält.521 Dabei ist zu beachten, daß diese Einrichtungen und die bald ebenfalls unter spezifischer Mitwirkung der Kommissare aufgelösten Krankenhäuser, Ambulatorien, Selbstabgabestellen usw. der Krankenkassen schon durch die terroristisch-gewaltsamen Maßnahmen der NS-Bewegung und die Durchführung des Berufsbeamtengesetzes gelähmt und personell dezimiert worden sind, arbeiten doch in den Institutionen der Ortskrankenkassen und bei den Verbänden zahlreiche Juden und im politisch linken Spektrum aktive Bedienstete. Zahlreiche der in den Ambulatorien beschäftigten jüdischen Ärzte „...emigrierten ins Ausland und leisteten in Argentinien, Indien, Israel, China, Türkei, USA u.a. Ländern teilweise Hervorragendes (z.T. als Regierungsberater).“522 Die betroffenen nichtjüdischen Ärzte können sich teilweise als Freiberufler niederlassen, die Warenbestände der Eigeneinrichtungen werden an die Apotheken übergeben, Restbestände gehen auch an die Sanitätskolonnen des „Deutschen Roten Kreuzes“ oder an „nationale Wehrverbände“ (SS, SA, HJ und Stahlhelm).523 Die Räumlichkeiten und Einrichtungen werden teilweise von Vertretern der organisierten Heilberufe selbst betrieben.524 Für den Fall einer kompletten Auflösung wird das Inventar nicht selten an „verdiente“ NSÄrzte verramscht bzw. den ausscheidenden Ärzten angeboten, soweit ihnen damals das Recht zur Niederlassung zugestanden wird.525 Die in den Ambulatorien gesammelten „Krankengeschichten“ werden „...zugunsten des neuen Staates und seiner neuen Ziele in Bearbeitung“ genommen,526 d.h. im Sinne der „Erb- und Rassenpflege“ mißbraucht. Die Kassen müssen sich unter dem Druck der Nationalsozialisten auch von einer Vielzahl von Genesungsheimen und Heilanstalten „trennen“. Zahlreiche dieser Heime werden in das 520 Vgl.: Die Zahnklinikwirtschaft vor dem Ende? In: Soziale Zukunft, (1933)4, 45 - 47. 521 Es handelt sich um die „Heilmittelversorgung deutscher Krankenkassen“, die „Vertragsgesellschaft deutscher Krankenkassen“, die „Verwaltungsschule deutscher Krankenkassen“, die „Beratungsstelle für Privatversicherung“ und das „Deutsche Institut für Frauenkunde“; vgl.:Tennstedt, Florian: Soziale Selbstverwaltung...a.a.O.(=Anm. 52), 192. 522 Tennstedt, Florian: Sozialgeschichte...a.a.O.(=Anm. 491), 407. Die Tatsache, daß die Erwerbs- und Berufschancen (nicht nur) dieser Emigranten allerdings in den Aufnahmeländern auch durch standespolitische Gegenreaktionen begrenzt werden konnten betont: Leibfried, Stephan: Stationen der Abwehr. Berufsverbote für Ärzte im Deutschen Reich 1933 - 1938 und die Zerstörung des sozialen Asyls durch die organisierten Ärzteschaften des Auslands. In: Derselbe u. a. (Hg.): Armutspolitik und die Entstehung des Sozialstaats. Bremen 1985, 290 - 326 (=Grundrisse sozialpolitischer Forschung Nr. 3); schon nach der Durchführung des BBG bleiben in Berlin von zuvor ca. 200 Ärzten zunächst noch etwa 40 Ärzte vorläufig in den Ambulatorien beschäftigt; vgl.: Hansen, Eckhard et al.: Seit über einem Jahrhundert...a.a.O.(=Anm. 487),464. 523 Vgl. dieselben, ebenda, 403 ff. 524 Vgl.: Tennstedt, Florian: Soziale Selbstverwaltung...a.a.O.(=Anm. 52), 192 f. 525 Vgl.: Hansen, Eckhard u. a.: Seit über einem Jahrhundert...a.a.O.(=Anm. 487), 467. 526 Eberhard: Aufgaben der Abteilung für Erb- und Rassenpflege des Verbandes der Krankenkassen im Bereich des Oberversicherungsamtes Berlin. In: Vertrauensarzt und Krankenkasse, 2(1934)9, 193 - 197, hier: 194.

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Eigentum der SS, SA, NSBO, DAF, der Frauen- und Mütterfürsorge, der Kinderfürsorge usw. überführt.527 Im Umfeld einer ganz allgemein geforderten „Umstellung“ der Tätigkeit der Sozialversicherungen auf die Bevölkerungspolitik bzw. die „Erb- und Rassenpflege“528 ist es namentlich die neugegründete „Abteilung für Erb- und Rassenpflege“ des „Verbandes der Krankenkassen im Bereich des Oberversicherungsamtes Berlin“, die sich bei der Auswertung der Krankenakten der aufgelösten kasseneigenen Einrichtungen hervortut. Aus der Sicht der einflußreichen „erbbiologischen Experten“ haben diese Akten den Vorteil, „wahre“ kranken- und familiengeschichtliche Angaben zu beinhalten. Sie wissen sehr genau, daß „wahre“ Patientenangaben unter den Bedingungen des NS-Regimes und seiner „Erb- und Rassenpflege“ und der daraus resultierenden „Erbangst“ zu einem seltenen und daher „wertvollen“ Gut geworden sind.529 Ein Fall zeigt, daß vor dem Hintergrund der NS-Herrschaft auch auf andere Weise die Existenz von Einrichtungen der Sozialpolitik gefährdet werden kann. Es handelt sich um eine Heilanstalt, die von der Angestelltenversicherung belegt wird. Ein Amtsleiter der DAF aus Essen beschwert sich mit Datum des 21. August 1935 beim Reichsversicherungsamt, daß es im übrigen nicht nur unverständlich sei, sondern auch den heute allein maßgeblichen Grundsätzen Hohn spreche, „...Juden mit deutschen Menschen, die alle mehr oder weniger krank sind, in einem Sanatorium auf Veranlassung der RfA (Reichsversicherungsanstalt für Angestellte, E.R.) unterzubringen.“ Daraufhin und auf Grund weiterer Beschwerden stellt die RfA die Belegung der Heilanstalt nach dem 31. Dezember 1935 „mit Rücksicht auf die Entwicklung, die inzwischen die Behandlung der Judenfrage genommen hat...“ ein. Die Heilanstalt wurde zudem noch - folgt man der Aktenüberlieferung - „jüdisch geleitet.“530 Im Dezember 1933 kommt es durch das Eingreifen des Reichsarbeitsministeriums zu einem vorübergehenden Stop der Zerschlagung der Eigenbetriebe der Krankenkassen, da es eine „Vergeudung von Volksvermögen“ und eine empfindliche „Mehrbelastung der Beitragspflichtigen“ befürchtet.531 Die Bilanz der Machtergreifung im Gesundheitswesen ist erschreckend: „Von 1933 bis 1938 gab es mehr als 10.000 verfolgte deutsche Ärztinnen und Ärzte, die in ihrer Mehrheit aus Deutschland noch fliehen konnten.“532 Auch die in diesen Zahlen angesprochene Verfolgung außerhalb der kasseneigenen Einrichtungen ist ganz überwiegend politisch und rassistisch-antisemitisch motiviert. Die angestrebten ökonomischen Wirkungen, die treibenden Kräfte, die verfahrensmäßige Ausgestaltung zeigen wiederum deutlich den beherrschenden Einfluß der organisierten Ärzteschaft. Die Verfol527 Vgl.: Hansen, Eckhard u. a.: Seit über einem Jahrhundert...a.a.O.(=Anm. 487), 398; vgl. auch: nc.: Die Eigenbetriebe, insbesondere Eigenanstalten der Versicherungsträger. In: Nachrichtendienst des deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, 14(1933)10, 259 - 262. 528 Vgl. z.B.: Brunn: Bevölkerungspolitik und Invalidenversicherung. In: Deutsche Invaliden-Versicherung, 5(1933)8/9, 123 - 124, hier: 123; Thomalla: Bevölkerungspolitische Aufgaben der Krankenkassen. In: Die Betriebskrankenkasse, 27(1934), Sp. 25 - 31; Hirt, Eduard: Erbgesundheitspflege und Rassenpflege bei Krankenkassen. In: Die Orstkrankenkasse, 22(1935)1, 14 - 17. 529 Vgl.: Walter, Otto: Die nationalsozialistische Umformung der Gesundheitsführung bei den Berliner Ortskrankenkassen. In: Vertrauensrat und Krankenkasse, 2(1934)7, 145 - 151; Eberhard: Aufgaben der Abteilung für Erbund Rassenpflege des Verbandes der Krankenkassen im Bereich des Oberversicherungsamtes Berlin. In: Deutsches Ärzteblatt, 64(1934), 746 - 748; Tourné: Erfahrungen bei der erbbiologischen Bestandsaufnahme in der Erbbiologischen Zentrale des Verbandes der Krankenkassen in Berlin. In: Der Erbarzt, 2(1935)1, 9 - 12. 530 BA Koblenz. R 89 Reichsversicherungsamt, Nr. 3388. 531 Vgl.: Tennstedt, Florian: Soziale Selbstverwaltung...a.a.O.(=Anm. 52), 193. 532 Leibfried, Stephan: Stationen...a.a.O.(=Anm. 522), 290.

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gung äußert sich im Zusammenhang mit der Sozialversicherung zunächst im wesentlichen durch den Ausschluß von der Kassenpraxis. Ein solcher Ausschluß bedeutet für den „durchschnittlichen Arzt“ den „...Verlust einer wirtschaftlichen Existenzmöglichkeit in Deutschland...“533 Die reine Privatpraxis reicht in der Regel als Existenzbasis nicht aus, zudem schließen sich die meisten Privatkrankenversicherungen dem angesprochenen Vorgehen an.534 Die wesentlichen Rechtsgrundlagen des Jahres 1933 für dieses Vorgehen werden durch zwei Verordnungen des Reichsarbeitsministers geschaffen, die einschlägige Vorschriften der Reichsversicherungsordnung und der dazu ergangenen Bestimmungen abändern und die in jeder Beziehung einen dem Berufsbeamtengesetz ähnlichen Regelungsinhalt haben. Die „Verordnung über die Zulassung von Ärzten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen“ vom 22. April 1933535 beendet die Tätigkeit von Kassenärzten „...nicht arischer Abstammung und von Kassenärzten, die sich im kommunistischen Sinne betätigt haben... Neuzulassungen solcher Ärzte zur Tätigkeit bei den Krankenkassen finden nicht mehr statt.“ Entsprechendes sieht eine Verordnung vom 2. Juni 1933 für Zahnärzte und Zahntechniker vor.536 Ausnahmen werden zunächst noch - in Anlehnung an das Berufsbeamtengesetz - für „Nichtarier“ vorgesehen, die einen „tatsächlich geleisteten Frontdienst“ sei es mit der Waffe oder im ärztlichen Dienst nachweisen können. Hinzu tritt der Fall des Nachweises einer „Tätigkeit während des Krieges in Seuchenlazaretten.“ Im Einzelfall werden die damit zusammenhängenden Fragen und „Vorbringungen“ der betroffenen Ärzte in Kooperation mit der Reichswehrverwaltung abgeklärt. „Weiterhin blieben u.a. alle diejenigen nichtarischen Ärzte usw. unberührt, die seit dem 1. August 1914 niedergelassen waren.“537 Eine Vorschrift, die zugunsten der Älteren wirkt und sie zum Ausharren motiviert, bis sie den Tod in den Gaskammern der Konzentrationslager finden. Zwischenzeitlich sind die auf die Tätigkeit beim Militär bezogenen Vorschriften geringfügig erweitert worden, zahlenmäßig spielt das „...keine allzu große Rolle...“538 Von besonderer Bedeutung ist die Auslegung des Ausschlußtatbestandes einer Betätigung „im kommunistischen Sinne.“ Das in Fällen von Beschwerden gegen einen Ausschluß von der Kassenpraxis letztinstanzlich zuständige Reichsarbeitsministerium sieht den Tatbestand nur dann verwirklicht, wenn eine Mitgliedschaft in der KPD oder den entsprechenden Nebenorganisationen, „mochten diese auch getarnt sein“, vorliegt. Unter Betätigung im kommunistischen Sinne sei jede öffentliche oder private Tätigkeit oder Duldung verstanden worden, die geeignet gewesen sei, „kommunistischen Tendenzen“ Vorschub zu leisten oder sie zu fördern. Die Zahl der wegen ihrer Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei oder zu ihren Nebenorganisationen ausgeschlossenen Personen sei verhältnismäßig gering gewesen. „Bedeutend größer ist die Zahl derjenigen, die, ohne daß sie organisationsmäßig an eine eindeutig kommunistische Organisation gebunden waren, durch ihre Mitgliedschaft oder Tätigkeit in Vereinen, wie dem Verein sozialistischer Ärzte, dem Fichtebund, bei gewissen 533 Vgl. denselben, ebenda, 297. 534 Vgl.: Leibfried, Stephan, Tennstedt, Florian: Sozialpolitik und Berufsverbote...a.a.O.(=Anm. 468), 223. 535 Vgl.: RGBl. I 1933, 222; zur Beendigung der Tätigkeit „nichtarischer“ Vertrauens- und Durchgangsärzte vgl.: Ausschaltung nichtarischer Ärzte in der Sozialversicherung und Reichsversorgung. In: Soziale Praxis, 42(1933)28, Sp. 863. 536 Vgl.: RGBl. I 1933, 350. 537 Karstedt, (Oskar): Die Durchführung der Arier- und Kommunistengesetzgebung bei den Kassen-Ärzten, -Zahnärzten. In: Reichsarbeitsblatt II (Nichtamtl. Teil) (1934)15, 179 - 183, hier: 179. 538 Vgl. denselben, ebenda, 179.

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- nicht allen - Arbeitersamariterkolonnen und ähnlichen Einrichtungen - bewußt oder unbewußt - dem Kommunismus Vorschub geleistet hatten und demgemäß in zahlreichen Fällen mit ihrer Beschwerde abgelehnt werden mußten.“539 Eine erneute Anwendung und Erweiterung finden diese Gedankengänge in der neuen „Zulassungsordnung für Ärzte“ vom 17. Mai 1933.540 Sie bringt in § 15(3) die aus der Berufsbeamtengesetzgebung bekannte nicht abgegrenzte Willkürbestimmung, „...daß ‘Ärzte, die nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat eintreten’, von der Zulassung ausgeschlossen sind.“541 Mit diesen weitreichenden und schwammigen Formulierungen und unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Begriff „Kommunismus“ - wie oben ersichtlich - zumindest noch das gesamte reformorientierte sozialdemokratische und auch noch Teile des humanistischen Spektrums meinen kann, ist die Grundlage geschaffen, von der aus sich das NS-Regime aller politisch mißliebigen Kräfte in den wesentlichen Gesundheitsberufen entledigen kann. Die Entscheidung über den Ausschluß und damit über die wirtschaftliche Existenz, wird in die Hände der inzwischen nazifizierten „Kassenärztlichen Vereingungen“ bei Information des Vorstandes des „Verbandes der Ärzte Deutschlands“ gelegt. Diese Ausgestaltung des Verfahrens bedeutet auch, daß die entsprechenden Entscheidungen in die Hände derer gelegt werden, „...denen an der größtmöglichen Begrenzung von Konkurrenz bzw. am größtmöglichen Berufsausschluß lag.“542 Vor dem Hintergrund dieser und anderer Faktoren kommt es auch zu Ausschlußverfahren, die wohl nur aus Vorurteilsbildungen, aus der desolaten Arbeitsmarktsituation der Weimarer Republik mit ihren Kämpfen, aus Neidund Konkurrenzgefühlen, aus Verhetzung und politischen Phantasien, aus Denunziationen und Gerüchten erklärbar sind und selbst mit den erwähnten schwammigen „Rechtsgrundlagen“ schwer zu vereinbaren sind. Falls die von einem derartigen Vorgehen betroffenen Ärzte, Zahnärzte, Zahntechniker beim Reichsarbeitsminister Beschwerde einlegen, erfolgt häufig eine Ablehnung der Entscheidungen der entsprechenden „Standesorganisationen“. Nicht zuletzt spielen mitunter sogar außenpolitische Rücksichten eine Rolle. Der Ministerialrat im Reichsarbeitsministerium, Oskar Karstedt, teilt die folgenden Beispiele mit: Dessauer Fälle, „...wo ... augenscheinlich sämtliche Ärzte, die dem Kreis der Freunde des Bauhauses in Dessau angehörten, auf Grund dieser Tatsache wegen Betätigung im kommunistischen Sinne ausgeschlossen wurden.“ Berlin habe beispielsweise „...zahlreiche Ärzte und Zahnärzte nur deshalb ausgeschlossen, weil sie nicht im Besitz der deutschen Reichsangehörigkeit waren.“543 Besondere Schwierigkeiten macht auch auf diesem Gebiet der später aufgegebene Begriff des „Ariers“ bzw. „Nichtariers“. Entsprechend den pseudowissenschaftlichen Vorstellungen, die zu diesen rassistischen Etiketten vor und während des „Dritten Reiches“ entwickelt wurden bzw. werden, entscheidet man sich im Reichsarbeitsministerium so, daß man Armenier und Inder dem „Ariertum“ zuschlägt.544 Die Juden, gegen die sich diese Begriffe und Vorstellungen vor allem richten, dürfen in den genannten Ausnahmefällen (Frontkämpfer usw.) noch bis zum Inkrafttreten der Bestimmungen der vierten Durchfüh-

539 Derselbe, ebenda, 183. 540 Vgl.: RGBl. I 1933, 399. 541 Scheur, Wolfgang: Einrichtungen...a.a.O.(=Anm. 334), 65. 542 Leibfried, Stephan: Stationen...a.a.O.(=Anm. 522), 299. 543 Karstedt, (Oskar): Die Durchführung...a.a.O.(=Anm. 537) 181. 544 Vgl. denselben, ebenda, 182.

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rungsverordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. Juli 1938545 praktizieren. In § 1 dieser Verordnung wird festgelegt, daß die Bestallungen (Approbationen) jüdischer Ärzte zum 30. September 1938 erlöschen.546 In Fortsetzung der sozialen Ächtung und des schon einige Zeit geltenden Verbots für bestimmte „Arier“ sich von „nicht arischen Ärzten“ behandeln zu lassen,547 werden einige von ihnen noch einige Zeit als „Krankenbehandler“ für die jüdische Bevölkerung zugelassen. Durch diese Berufsverbote und die Zerschlagung der Eigeneinrichtungen der Krankenkassen verbessert sich schon bald die Berufs- und Einkommenssituation der Gesundheitsberufe. In die gewaltsam freigemachten Kassenstellen kommen bevorzugt SA- bzw. NSDAP-Jungärzte.548 Diese Vorgänge sind für die Sozialpolitik des NS-Staates auch insofern von Bedeutung, als sie auf diesem Gebiet die große Umorientierung hin zu einer „völkischen Sozialpolitik“ im Sinne der rassistisch-antisemitischen Ideologien, im Sinne von Privilegierung und Diskriminierung nach „Erbwert“ und „Rassenzugehörigkeit“ wirksam flankieren. Sie tragen aber z.B. auch zur Durchsetzung rigider arbeitsmarktpolitischer Optionen bei, wenn und sofern diese ein ärztliches Votum erfordern. Im Zuge des Vormarsches und der Durchsetzung einer „völkischen Sozialpolitik“ wird die staatliche Sozialversicherung mit weiteren teilweise traditionsreichen Forderungen und Bestrebungen konfrontiert. Chancenlos bleibt die sich fortsetzende Diskussion um eine „Zwangssparkasse“, die in der Weimarer Republik in Gustav Hartz einen tönenden Fürsprecher gefunden hatte und weiterhin durch das Schrifttum geistert.549 Ohne Verwirklichungschance sind die sich fortsetzenden zahlreichen Vorstöße mit dem Ziel einer berufsständischen Gliederung der Sozialversicherung im Rahmen einer berufsständischen Reorganisation der Wirtschafts- und Sozialordnung. So fordert ein der NS-Bewegung nahestehender Autor unter Berufung sowohl auf die von Bismarck beeinflußte als auch von ihm verlesene „Kaiserliche Botschaft“ vom 17. November 1881, als auch unter Berufung auf Punkt 15 des Programms der NSDAP sowie in Anknüpfung an „altes deutsches Rechtsgut“, die Aufgaben der Sozialversicherung Körperschaften auf ständischer Grundlage zu übertragen. Er umreißt die folgenden Strukturmerkmale einer ständisch organisierten Sozialversicherung: „...ein nach ständischen Gesichtspunkten abgegrenzter Versichertenkreis, eine Führung aus Standesgenossen, die meist ehrenamtlich und immer selbstverwaltend tätig ist, eine Zusammenfassung aller Volksgenossen des Standes (Unternehmer, Angestellte und Arbeiter) zu gegenseitigem Nutzen, eine möglichst weitgehende Versicherung der Vorfälle des täglichen Lebens und eine nach oben hin straff zusammengefaßte, nach unten den Versicherten aber durch örtliche Verwaltungsstellen möglichst nahe gebrachte Organisation des Versicherungsträgers.“550 Schon sehr früh wird von prominenter nationalsozialistischer Seite auch die Umgestaltung aller Geld-, Sach- und Dienstleistungen der Sozialversicherungen im Sinne der „Erbund Rassenpflege“ gefordert. Entsprechende Ausführungen enthält das insgesamt nicht unumstrittene Buch der NS-Größen Walter Schuhmann und Ludwig Brucker über die „Sozialpolitik im neuen Staat.“ Die beiden Verfasser bemerken, auf keinen Fall dürfe die (Wai545 Vgl.: RGBl. I 1938, 969. 546 Vgl.: Keine jüdischen Aerzte mehr. In: Die Ortskrankenkasse, 25(1938)23, 772. 547 Das ist z.B. Mitgliedern der NSDAP ausdrücklich verboten. 548 Vgl.: Leibfried, Stephan, Tennstedt, Florian: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 468), 217. 549 Daran ändert auch eine sorgsame Sammlung seiner Ideen nichts, die sich in den Beständen der DAF findet; vgl.: BA Abt. Potsdam. NS 5 VI. 62.03 DAF, Nr. 3440, 3441. 550 Laue, Helmut: Der ständische Gedanke in der deutschen Sozialversicherung. Weimar 1937, 189.

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sen-)Rente über das 21. Lebensjahr hinaus gewährt werden, wie das nach dem durch die Notverordnungspraxis abgeänderten alten Recht bei solchen Waisen möglich war, „...die infolge körp er liche r oder g e is tig er Gebrechen nicht fähig waren, sich selbst durch Arbeit ihren Unterhalt zu verdienen.“ Ein Wiederauflebenlassen dieser Vorschrift sei im nationalsozialistischen Staate unmöglich: „Es ist n ich t Aufgabe der Sozialversicherung, min d erw er tig e Kinder auf Lebensdauer zu versorgen.“551 Für Schuhmann und Brucker ist das letztlich nur ein Anwendungsfall grundsätzlicherer Überlegungen zur Neugestaltung der Leistungen der Sozialversicherung. Sie fordern übergreifend u.a.: „Die Leistungen müssen allen rassenb io log isch en und b evö lkerung spolitischen Anforderungen entsprechen.“552 Bereits im Jahre 1933 legt Brucker einen „Gesetzentwurf über die deutsche Altersversorgung und die deutsche Sozialversicherung“ vor. Brucker ist zu dieser Zeit Leiter des „Amtes für Sozialversicherung“ der DAF und bezieht sich auf einen entsprechenden „Führerauftrag.“ 553 Von erheblicher Brisanz sind die Vorstellungen und Bestrebungen, mit denen die NSBO und DAF in das durch die Kommissarsbestellungen und die Verstärkung der Aufsicht nur notdürftig und provisorisch überbrückte Machtvakuum vorstoßen. Sie nutzen die scheinbare Offenheit der historischen Situation seit der „Machtergreifung“ mit dem Ziel, die eigene Machtposition zu „befestigen“. Möglicherweise auch als Folge der „Unterwanderung“ dieser NS-Massenorganisationen durch Kräfte der Weimarer Arbeiterbewegung, aber nicht zuletzt auch wegen des darin enthaltenen machtpolitischen Kerns machen sich Exponenten von DAF und NSBO, namentlich auch Schuhmann und Brucker, den alten Gedanken einer Einheitssozialversicherung zu eigen. Es tauchen immer wieder Gerüchte über eine geplante oder schon bevorstehende „Übernahme der gesamten Sozialversicherung durch die DAF“ auf, durch eine Organisation, die ja selbst für ihre Mitglieder ein umfangreiches Versicherungswesen organisiert. Entsprechende Forderungen werden auch öffentlich erhoben.554 Am 4. Dezember 1935, die DAF ist mit ihrem ersten „Ansturm“ auf die Sozialversicherungen bereits gescheitert, überrascht Ley seine Zuhörer auf der V. Arbeitsund Schulungstagung der DAF in Leipzig und sodann die Öffentlichkeit mit dem Hinweis, daß das, was heute auf dem Gebiet der Sozialversicherung existiere „völlig bankrott und pleite sei“, keinen Wert mehr habe und daß deshalb ein völliger Neu- und Ausbau erforderlich sei.555 Eine solche von der DAF angesteuerte Entwicklung hätte einen bedeutenden Macht-, Finanz- und Kompetenzzuwachs für diese im Bürgertum weithin wenig beliebte, 551 Schuhmann, Walter, Brucker, Ludwig: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 323), 400. 552 Dieselben, ebenda, 379. 553 Dieser Entwurf wird in einem Schreiben des Staatssekretärs Krohn an den „Herrn Staatsrat Dr. Ley“ vom 5. Dezember 1933 erwähnt. BA Abt. Potsdam. 62 DAF 1. NS 5 IV, Nr. 192, Bl. 1 f.; vgl. auch: Tennstedt, Florian: Soziale Selbstverwaltung...a.a.O.(=Anm. 52), 200. 554 Vgl.: Teppe, Karl: Zur Sozialpolitik des Dritten Reiches...a.a.O.(=Anm. 446), 217. 555 Vgl.: Schneider, Michael: Unterm Hakenkreuz...a.a.O.(=Anm. 22), 424; dieser Vorstoß und die heftige Reaktion der Ministerialbürokratie ist in einem abschriftlich überlieferten Schriftwechsel des Reichsarbeitsministers Seldte an Hitler vom Dezember 1935 dokumentiert; vgl.: BA Koblenz. R 41 Reichsarbeitsministerium, Nr. 5009, unpag. In diesem Zusammenhang beruft sich Ley auf einen „Führervortrag“ und eine „Führerbeauftragung“ einen entsprechenden Plan auszuarbeiten; vgl. den Vermerk vom 5. Dezember 1935 über die Rede Leys: BA Koblenz. R 41 Reichsarbeitsministerium, Nr. 5014, unpag. Der Gewährsmann, auf den die in diesem Vermerk verarbeiteten Informationen zurückgehen, Dr. Gerhard Erdmann, Leiter der Abt. Sozialpolitik im „Reichstand der Deutschen Industrie“, ehemals Hauptgeschäftsführer der „Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“, vermutet hinter dem Vorstoß Leys im Dezember 1935 lohnpolitische Absichten. Durch die Einbeziehung der gesamten Bevölkerung und des gesamten „Volkseinkommens“ in die Sozialversicherung wolle Ley die Sozialversicherungsbeiträge absenken und damit, obwohl die Nominallöhne nicht erhöht werden könnten, die Reallöhne erhöhen.

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aktionistische und unberechenbare Organisation bedeutet. Die mit einer gewissen Hartnäckigkeit verfolgten Bestrebungen, die Sozialversicherung grundlegend zusammenzufassen und sie allein durch die DAF verwalten zu lassen, bleiben auch nach diesem Vorstoß ohne Erfolg.556 Bedroht fühlen sich schon durch diese Vorstöße so ziemlich alle Interessen, die sich um die „klassische Sozialversicherung“ ranken und die durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten keineswegs einflußlos oder mundtot gemacht worden sind: Das Interesse der Industrie an ihren Berufsgenossenschaften und Betriebskrankenkassen, das Interesse des Handwerks an den Innungskrankenkassen, das Eigeninteresse der Funktionäre und Beschäftigten an ihren jeweiligen Institutionen, das Interesse vieler Angestellter an ihrer besonderen Invaliditäts- und Altersversicherung usw. usf.557 Schließlich kann eine direkte, über die Nazifizierung hinausgehende Machtübernahme in den Sozialversicherungen zu dieser Zeit in bürgerlichen Kreisen nur Befürchtungen auslösen. Dementsprechend und noch darüber hinaus weisend resümiert eine entsprechende zeitgeschichtliche Studie: „Insbesondere die negative Haltung der Ministerialbürokratie und von Repräsentanten der westdeutschen Schwerindustrie ließen die Pläne der DAF von vorneherein zur Makulatur werden. Sie stellten für die elementaren Interessen der Regierung wie der Industrie ein ‘Sicherheitsrisiko’ dar: Deren Konzept zur Krisenüberwindung setzte Ruhe an der Rentenfront voraus; d.h. eine Reform der Sozialversicherung mußte in kalkulierbaren Bahnen erfolgen. Dies war das entscheidende Motiv, warum die DAF mit ihren Ansichten 1933/34 noch nicht zum Zug kam, und weniger, wie man gemeint hat, ihre mangelnde Sachkenntnis.“558 Bereits im Frühjahr 1935 beginnt mit dem Aufbau des „Arbeitswissenschaftlichen Instituts der Deutschen Arbeitsfront“ die Institutionalisierung dieser „Sachkenntnis.“559 Zu Fall gebracht werden die Bestrebungen der DAF in den Jahren 1933/34 auf eine ehedem gegen die Gewerkschaften und reformorientierte bürgerliche Kräfte erprobte Weise, durch Einberufung eines Ausschusses von Interessenten an der „klassischen Sozialversicherung“ und von interessierten „Experten“ sowie einigen Vertretern der NSBO bzw. DAF.560 Den Vorsitz hat der Staatssekretär im Reichsarbeitsministerium Johannes Krohn inne, der als „Stahlhelmkamerad“ in besonderer Weise das Vertrauen seines Ministers genießt. Der Ausschuß werde, so Krohn, „...insbesondere folg ende Fr age n zu behandeln haben: Versicherung oder Versorgung, Einheitsversicherung oder Beibehaltung der einzelnen Versicherungszweige, territoriale oder ständische Gliederung der Versicherung, Gemeinschaftsarbeit der Versicherungsträger, namentlich auch Vereinheitlichung des Beitragseinzuges, Anpassung der Leistungen an die Bedürfnisse einzelner Stände, Zusatzversicherung, Selbstverwaltung - staatliche Führung, Beteiligung der Ärzteschaften in der Sozialversicherung.“561 Die Beratungen des Ausschusses finden unter Geheimhaltung statt. Er tagt bis Mitte Mai 1934562 und hat mit Blick auf die „Einheitssozialversicherung“ eine Re556 Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Schubert, Werner (Hg.): Ausschuß für die Reform der Sozialversicherung/für Sozialversicherung (1934 - 1944). Versorgungswerk und Gesundheitswerk des Deutschen Volkes (1940 1942). Frankfurt a.M. 2000 (= Akademie für Deutsches Recht. Protokolle der Ausschüsse, Band X). 557 Vgl.: Teppe, Karl: Zur Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 446), 218 f. 558 Derselbe, ebenda, 218 f. 559 Vgl.: Roth, Karl Heinz: Intelligenz...a.a.O.(=Anm. 212), 127 ff.. 560 Zur genauen Zusammensetzung vgl.: Ausschuß zur Beratung der Sozialversicherung. In: Der Kompaß, 49(1934), 51. 561 Ebenda, 51. 562 Vgl.: Scheur, Wolfgang: Einrichtungen...a.a.O.(=Anm. 334), 81.

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formverhinderungs- und Legitimierungsfunktion563 und findet teilweise zu „Ergebnissen“, die das Reichsarbeitsministerium bereits im Februar 1932 in einer Denkschrift niedergelegt hatte.564 Einige Zeit später wird das „Gesetz über den Aufbau der Sozialversicherung“ vom 5. Juli 1934 verabschiedet.565 Dieses Aufbaugesetz beinhaltet einen Sieg des mächtigen, an der „klassischen Sozialversicherung“ orientierten Interessenkartells. Den Blick auch auf die neue Betriebs- und Arbeitsverfassung lenkend, ergibt sich als Ergebnis der sozialpolitischen Kontroversen: „Reicharbeitbeitsminister Seldte hatte im Verein mit Schmitt und Schacht und im Einklang mit der industriellen Unternehmerschaft erreicht, daß die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen der DAF entzogen wurde; er erreichte in gleicher Weise, daß die Politik der sozialen Sicherung dem Arbeitsministerium erhalten blieb.“566 Das die DAF wiederum auf der Verliererseite einer wichtigen sozialpolitischen „Neuordnung“ steht, führt zu fortlaufenden Konflikten zwischen ihr und dem Reichsarbeitsministerium. Der Unmut trifft besonders Johannes Krohn, der als Repräsentant und Ausdruck der an der „klassischen Sozialversicherung“ interessierten Kräfte fungiert.567 Während die „Pluralität“ der Versicherungszweige und Leistungsträger erhalten bleibt, bedeutet das Aufbaugesetz das endgültige Aus für bestimmte „autonome“ „Legislativ- und Exekutivorgane“ in der Sozialversicherung. Darüber hinaus werden alle Zentralisationsbestrebungen der Leistungsträger wie schon im Sachverständigenausschuß so auch durch das Gesetz abgelehnt, „...da sie die Selbstverantwortung der Beteiligten lähmen und einen öden Bürokratismus hochziehen müssten.“568 Gleichzeitig wird jedoch ohne Bedenken die Aufsicht zentralisiert und in ihrer uferlos ausgedehnten Form festgeschrieben. Damit „...gab es kein Gebiet mehr, auf dem der Versicherungsträger nur nach eigenem Ermessen handeln konnte.“569 Diese Strukturen erweisen sich als äußerst funktional für Eingriffe und Mißbräuche von oben und beenden nun auch ausdrücklich und endgültig jeden trägerinitiierten Ansatz einer Sozialreform. Die Versicherungsträger hören auf, wirkliche „Selbstver563 Vgl.: Tennstedt, Florian: Soziale Selbstverwaltung...a.a.O.(=Anm. 52), 204. 564 Vgl.: Teppe, Karl: Zur Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 446), 220. 565 Vgl.: RGBl. I 1934, 577. Zu den ministeriellen Verhandlungen vgl.: Teppe, Karl: Zur Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 446),221; als Kommentierung vgl.: Engel, Hans: Gesetz über den Aufbau der Sozialversicherung vom 5. Juli 1933. In: Die Reichsversicherung, 8(1934)5, 129 - 131. Das Gesetz ist in der Überschrift des Beitrages falsch datiert. 566 Hentschel, Volker: Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1880 - 1980. Frankfurt a.M. 1983, 137. 567 Diese Einbindung und Unterstützung gilt es zu beachten, wenn leichtfertig die Erhaltung der „klassischen Sozialversicherung“ allein und personalisierend seinem Handeln zugeschrieben wird, wie das in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht selten geschehen ist; vgl. etwa: Die Rettung der deutschen Sozialversicherung. In: Deutsche Versicherungszeitschrift für Sozialversicherung und Privatversicherung, 8(1954)6/7, 133 - 135. Schon mit Datum vom 9. August 1933 wendet sich der Führer der DAF, Robert Ley, nicht das erste Mal, erbost an den „Herrn Reichsminister Franz Seldte“ und beschwert sich folgendermaßen über den von ihm als „Crone“ bezeichneten Staatssekretär: „Vor längerer Zeit habe ich die Ehre gehabt, Ihnen schriftlich meine Bedenken gegenüber der Person des Herrn Staats-Sekretärs C r o n e zum Ausdruck zu bringen. In meinem damaligen Brief wies ich darauf hin, dass es mir und meinen Mitarbeitern von der Deutschen Arbeitsfront unmöglich sei, länger mit Herrn StaatsSekretär Crone zusammenzuarbeiten, da ich den untrüglichen Beweis erhalten hätte, dass Staats-Sekretär Crone und der ihm unterstellte Ministerial-Direktor Dr. E n g e l bewusst und mit allen Mitteln gegen die Deutsche Arbeitsfront, in Sonderheit gegen meine Person arbeiten und dass diesen Herren in diesem Kampfe gegen mich jedes Mittel gut genug sei.“ Er fordert den Minister auf, Krohn zu entlassen und durch einen „Vertrauensmann der Partei und der Arbeitsfront“ zu ersetzen. Später muß Ley seine schweren Vorwürfe wieder zurücknehmen. Vgl.: BA Koblenz. R 41 Reichsarbeitsministerium, Nr. 642, Bl. 4. 568 So: Wischer, Franz: Die Sozialversicherung im neuen Staat. 2. verbesserte Auflage. Berlin 1936, 9. 569 Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 203), 517.

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waltungskörper“ zu sein. So betont der Ministerialdirektor im Reichsarbeitsministerium, Hans Engel, bei „straff durchgeführter Aufsicht“ werde ein „ungesunder Wettlauf einzelner Versicherungsträger“ nach Ausbau der Leistungen unmöglich sein, dies insbesondere dann, „...wenn hierdurch eine Verschwendung von Geldmitteln erfolgen würde...“570 Schließlich wird die Sozialversicherung mit diesem Aufbaugesetz mit ihren Zweigen Krankenversicherung, Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, Unfallversicherung und Knappschaftsversicherung als „Reichsversicherung“ bezeichnet. Die Aufbaugesetzgebung wird in den Jahren 1934 - 1942 durch insgesamt 17 Verordnungen ausgestaltet.571 Mit dem Aufbaugesetz vom 5. Juli 1934 wird das Führerprinzip als ein „für öffentlichrechtliche Körperschaften allgemein geltender Grundsatz“ nicht nur - wie durch das AOGÖ bereits geschehen - gegenüber Beamten, Angestellten und Arbeitern durchgesetzt. Es gilt nunmehr auch als Prinzip des Verwaltungsaufbaues, der Vertretungsregelung und der Entscheidungsfindung. Zusammenfassend ausgedrückt, ist der innere Aufbau der Verwaltungsträger folgendermaßen durch das Aufbaugesetz geregelt: „Ein einzelner verantwortlicher Mann, der Leiter, vertritt den Versicherungsträger gerichtlich und außergerichtlich und besorgt unter alleiniger Verantwortung dessen Geschäfte. Unterstützend tritt ihm ein Beirat zur Seite, der die Aufgabe der Beratung des Leiters hat, aber auch vor Ernennung oder Berufung des Leiters, vor Erlaß oder Änderung der Satzung des Versicherungsträgers und vor Feststellung des Haushaltsplanes zu hören ist, auch die Abnahme der Jahresrechnung und die Entlastung des Leiters vorzunehmen hat. Versicherte und Betriebsführer sind im Beirat grundsätzlich in gleicher Zahl vertreten. Außerdem gehören ihm ein Arzt und ein Vertreter der zuständigen Gebietskörperschaft an. Der staatliche Einfluß auf die Verwaltung der Versicherungsträger ist dadurch verstärkt worden, daß bei der Ernennung der Leiter weitmöglichst die staatliche Verwaltung beteiligt ist und daß das Reichsversicherungsamt über alle Versicherungsträger mit Ausnahme der Träger der Krankenversicherung die Aufsicht führt, die sich nicht mehr lediglich auf Rechtsfragen beschränkt, sondern in staatswichtigen Fällen auch auf Zweckmäßigkeitsfragen erstreckt.“572 Die Aufsicht über die Krankenkassen liegt weiter bei den Versicherungsämtern. Die Angestelltenersatzkrankenkassen werden vom Leiter der „Reichsversicherungsanstalt für Angestelltenversicherung“ beaufsichtigt.573 Entsprechend der Gesamtverfassung der nationalsozialistischen Diktatur finden zu den paritätisch besetzten Beiräten keine Sozialwahlen mehr statt, es wird, beinahe immer nach Anhörung der DAF oder des „Reichsbauernführers“, berufen.574 570 Vgl.: Die Ziele der Sozialversicherungsreform. In: Der Kompaß, 49(1934), 67. 571 Vgl. die Zusammenstellung dieser Verordnungen bei: Peters, Horst: Die Geschichte der sozialen Versicherung. 3. Auflage. Sankt Augustin 1978, 109 f. 572 Zschucke, Martin: Das Reichsarbeitsministerium...a.a.O.(=Anm. 443), 16 f.; vgl. insgesamt auch: Metz, Wilhelm: Die Rentenversicherung in ihrer Neugestaltung. Lohr a.Main 1935 (Diss. rer. pol.); Hoffmeister: Der neue Aufbau der Sozialversicherung. In: Der Sozialversicherungs-Beamte, 2(1934)16, 290 - 292; Bothe, F.: Der Führergedanke in der Reichsversicherung. In: Ebenda, 3(1935)5, 105 - 107; Funke, Wilhelm Friedr.(ich): Die Beiräte und ihre Aufgaben in der Sozialversicherung. In: Zentralblatt für Reichsversicherung und Reichsversorgung, 7(1936)11, 245 - 247; Lohmann, Gerhard: Zur Durchführung des Führergrundsatzes in der Sozialversicherung. In: Deutsche Wirtschaftszeitung, 32(1935)5, 102 - 105; zur Begründung dieser Gesetzgebung vgl.: Begründung des Gesetzes über den Aufbau der Sozialversicherung. In: Blätter für öffentliche Fürsorge und soziale Versicherung, 19(1934)20, 220 - 223. 573 Vgl.: Peters, Horst: Die Geschichte...a.a.O.(=Anm. 329),84; zur Aufsicht auch: Dobbernack, Wilhelm: Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung. Essen 1951, 42 - 51. 574 Vgl.: Kadgiehn, Fritz: Aufbau und Zuständigkeit der Versicherungsträger und der Versicherungsbehörden. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Berlin-Lichterfelde 1936, 12; insgesamt werden bis 1936 neben den Leitern rund 50.000 Beiratsmitglieder der Krankenversicherung von den Aufsichtsbehörden berufen. Vgl.: Funke,

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Berufende Instanz ist grundsätzlich die Aufsichtsbehörde, bei den Betriebskrankenkassen beruft der Führer des Betriebes. Auch die Leiter der Versicherungsträger werden nicht gewählt, sondern ebenfalls berufen. Diese Form der Verwirklichung des „Führergrundsatzes“ in den Sozialversicherungen ist im Einzelnen wie folgt ausgestaltet: „Leiter ist: bei der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte und der Reichsknappschaft ein Reichsbeamter, den der Reichspräsident ernennt, bei der Landesversicherungsanstalt und dem Gemeindeunfallversicherungsverband ein Beamter des Landes oder Gemeindeverbandes, für dessen Gebiet die Landesversicherungsanstalt errichtet ist; er wird von der Landesregierung im Einvernehmen mit der Reichsregierung ernannt oder bestätigt (berufen), bei den Genossenschaften der gewerblichen Unfallversicherung und der See-Berufsgenossenschaft (einschließlich der Seekasse und der See-Krankenkasse) ein Führer eines bei dem Versicherungsträger versicherten Betriebs, den die Aufsichtsbehörde beruft, bei den Betriebskrankenkassen der Führer des Betriebs oder sein Stellvertreter, bei den Innungskrankenkassen, ein von der Innung (den Innungen) mit Zustimmung der Handwerkskammer berufener Meister oder Geselle der Innung, bei den Landkrankenkassen eine vom Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft oder der von ihm bestimmten Stelle berufene Person, bei den Ortskrankenkassen, ein Geschäftsführer, den der Leiter der Landesversicherungsanstalt ernennt.“575 Die Beteiligung der DAF ist mit diesen Vorschriften auf ein Minimum reduziert. Entweder mit zynischem Unterton oder bewußt zur Bemäntelung der Niederlage der DAF formuliert bzw. resümiert ein Mitarbeiter des Reichsarbeitsministeriums: „Bei der Bestellung und Abberufung der Leiter der Reichsverbände der Krankenkassen ist die Zustimmung des Stellvertreters des Führers, vor der Berufung von Versicherten und Betriebsführern in den Beirat ist das Sozialamt der Deutschen Arbeitsfront bzw. der Reichsbauernführer zu hören. Damit ist auch die NSDAP. maßgeblich eingeschaltet, was in ähnlicher Weise übrigens auch bei der Berufung der Versicherungsvertreter bei den Versicherungsbehörden geschehen ist.“576 Diese Reform, die es dem Regime erleichtert, die „Reichsversicherung“ in die Mißbrauchs- und Verbrechensgeschichte des Nationalsozialismus einzubeziehen, erfolgt rund 50 Jahre nach der Bismarckschen Arbeiterversicherungsgesetzgebung.577 Als „Kernpunkt“ des Aufbaugesetzes bezeichnet die Begründung die geschaffene Verbindung zwischen den Trägern der Kranken- und Rentenversicherung.578 Die durch die „Dritte Verordnung zum Aufbau der Sozialversicherung“ vom 18. Dezember 1934 konkretisierte Rechtslage stellt sich wie folgt dar: „Einmal wurde die Möglichkeit geschaffen, den Krankenkassen örtliche Aufgaben der Invalidenversicherung zu übertragen. Sodann wurde die Stellung der Landesversicherungsanstalten dahin geändert, daß sie nicht mehr ausschließlich Träger der Invalidenversicherung waren, sondern für die Krankenkasse des Bezirks auch ‘Gemeinschaftsaufgaben’ durchzuführen hatten. Dabei waren unter Gemeinschaftsaufgaben solche zu verstehen, die zur besseren Betreuung der Versicherten zweckmäßiger einer größeren, leistungsfähigeren Gemeinschaft übertragen wurden, z.B.: Betrieb von Heilanstalten, Erholungs- und Genesungsheimen; Durchführung der vorbeugenden Wilh.(elm) Friedr.(ich): Die Krankenversicherung nach der organisatorischen Neuordnung. In: Monatshefte für NS.-Sozialpolitik, 3(1935/36), 529 - 533, hier: 529 f. 575 Vgl. den Artikel 7 des Aufbaugesetzes. 576 Zschucke, Martin: Das Reichsarbeitsministerium...a.a.O.(=Anm. 443), 17. 577 Worauf man sich „legitimationsheischend“ immer wieder gern bezieht; vgl. z.B.: Storck: Die Invalidenversicherung. Von Bismarck zum Aufbaugesetz. In: Deutsche Invaliden-Versicherung, (1936)9, 163 - 165. 578 Vgl.: Scheur, Wolfgang: Einrichtungen...a.a.O.(=Anm. 334), 85 f.

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Gesundheitsfürsorge sowie Beteiligung an den Aufgaben der Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik; Regelung des vertrauensärztlichen Dienstes; gemeinsame Verwaltung der Rücklagen der Krankenkassen; Verwaltung der sogenannten ‘Gemeinlast’; Prüfung der Geschäfts-, Rechnungs-, Kassen- und Betriebsführung der Krankenkassen und Kassenverbände. Um auch solche Aufgaben mit Erfolg lösen zu können, die über den Bezirk einer einzelnen Landesversicherungsanstalt hinausgingen und zweckmäßig einheitlich für das Reichsgebiet durchzuführen waren, wurden alle Landesversicherungsanstalten in einer Gemeinschaftstelle zusammengefaßt.“579 Mit diesen und anderen Regelungen wird die Stellung der Landesversicherungsanstalten gegenüber den Krankenkassen erheblich gestärkt580 Die Zahl der Krankenkassen wird aufgrund der geänderten Rechtslage aus wesentlich ökonomischen Gründen bis 1936 um rund 2.000 vermindert.581 Weniger deutlich gesehen wird in der ohnehin nicht umfangreichen Forschung zur Sozialversicherung dieser Zeit, welche Brisanz mit dieser Gesetzgebung, die in einer neuen Reichsversicherungsordnung münden soll,582 verknüpft ist. Die Landesversicherungsanstalten bekommen im Zuge der Regelung der Gemeinschaftsaufgaben eine Zuständigkeit für das Gebiet der Gesundheits- und Bevölkerungspolitik, für ein Gebiet, das den „erb- und rassenpflegerischen“ Bestrebungen des NS-Regimes nahesteht. Desweiteren ist mit der Verankerung des vertrauensärztlichen Dienstes auch ein arbeitsmarktpolitisches Instrumentarium angesprochen. Die Zentralisierung der Rücklagen der Krankenkassen bei den Landesversicherungsanstalten erleichtert schließlich den staatlichen Zugriff auf diese Ressourcen. Dieser letzte Hinweis ist in den weiteren Zusammenhang der Ausgestaltung des Finanzierungsverfahrens und der Entwicklung der Sozialversicherungsfinanzen zu stellen. Offensichtlich reicht im Jahre 1933 die massivste aller denkbaren Erschütterungen der Lehre von der Überlegenheit der „Kapital- oder Anwartschaftsdeckung“,583 die Hyperinflation, nicht aus, die entscheidenden Kräfte in der Ministerialbürokratie davon abzuhalten, in der Phase der tiefsten Wirtschaftskrise und bitterster sozialer Not, den Abgang vom Pfad der Umlagefinanzierung vorzuschlagen, auf den das Deutsche Reich als Folge der großen Inflation zwangsläufig geraten war. Auch das Erleben des Mißbrauchs des Versicherungsvermögens durch die „Umwandlung“ in letztlich wertlose Kriegsanleihen während des Ersten Weltkriegs, selbst die Schwierigkeiten der Landesversicherungsanstalten, Vermögensreserven vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftkrise angemessen zu liquidieren sind kein Hindernis, erneut und nunmehr unter dem NS-Regime Strategien eines Vermögens579 Neuloh, Otto (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O.(=Anm. 203), 516; zur Verordnung vom 18. Dezember 1934 vgl.: RGBl. I 1934, 1266. 580 Zu Einzelheiten vgl.: Scheur, Wolfgang: Einrichtungen...a.a.O.(=Anm. 334), 85 - 88. Die Stärkung der Landesversicherungsanstalten erfolgt auch zu Lasten der Krankenkassenverbände. Näheres bei: Tennstedt, Florian: Soziale Selbstverwaltung...a.a.O.(=Anm. 52), 211 - 219. 581 Vgl.: Hentschel, Volker: Geschichte...a.a.O.(=Anm. 566), 139; genaue Zahlen und Rechtsgrundlagen bei: Scheur, Wolfgang: Einrichtungen...a.a.O.(=Anm. 334), 88 - 91; das finanzwirtschaftliche Motiv der Aufbaugesetzgebung betont auch: Wischer, Franz: Die Sozialversicherung...a.a.O.(=Anm. 568), 11. 582 So enthält der Abschnitt V (Übergangs- und Schlußbestimmungen) § 1 des Aufbaugesetzes eine Ermächtigung an den Reichsarbeitsminister, den „...Wortlaut der Gesetze über Sozialversicherung ganz oder teilweise in der jeweils geltenden Fassung (zu) veröffentlichen und sie in einer einheitlichen Reichsversicherungsordnung zusammenzufassen.“ Daneben strebt das Reichsarbeitsministerium eine weit umfassendere „Sozialverwaltungsreform“ im Rahmen einer Reichsreform an, Pläne, die sich nicht durchsetzen lassen. Vgl.: Teppe, Karl: Zur Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 446), 224 ff. 583 Diese Begriffe stehen nicht für die exakte Umsetzung von Konzepten der Privatversicherung bzw. der Versicherungswissenschaft, sondern geben nach dem Selbstverständnis ihrer Propagandisten eher eine Richtung, die Richtung eines „soliden Vermögensaufbaues“ in den Sozialversicherungen an.

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aufbaues zu empfehlen.584 Sozusagen Erfahrungsresistent, ohne Rücksicht auf die legitimen Interessen der Versicherten, 1933 womöglich auch noch „arglos“ und für kommende Entwicklungen blind oder auch das, was dem kritischen Beobachter als „Mißbrauch“ erscheint, als legitimes Recht des Staates veranschlagend, wollen maßgebliche Vertreter des Reichsarbeitsministeriums den bereits unter der Präsidialdiktatur beschrittenen Konsolidierungskurs so verschärfen, daß es nach Überwindung des „Parteienstaats“ zu „wirklich soliden Verhältnissen“ in der Sozialversicherung kommt. Sie bereiten auf diese Weise bewußt oder unbewußt eine erneute massive finanzielle Indienstnahme des „Systems sozialer Sicherung“ für kriegerische Staatszwecke vor. Bereits vor der Machtergreifung, in der Situation der rasant fortschreitenden Weltwirtschaftskrise, die im Ergebnis zu schmerzhaften Vermögensverlusten führte,585 empfehlen vor dem Hintergrund pessimistischer Annahmen und entsprechender versicherungsmathematischer Fehlbeträge586 Johannes Krohn587 und der damalige Chefmathematiker im Reichsarbeitsministerium, Wilhelm Dobbernack,588 die Rückkehr zu einem „Anwartschaftsdeckungsverfahren“, ein Verfahren, das die Sozialversicherungspolitik im Kaiserreich teilweise gekennzeichnet hat. Durch verschiedene Maßnahmen soll es ermöglicht werden, aus den laufenden Einnahmen nicht nur die jeweils vorgeschriebenen Geld-, Sachund Dienstleitungen zu finanzieren. Die Einnahmen sollen nunmehr „...auch die Anwartschaften der jeweiligen Beitragszahler decken.“589 Vor allem in der desolaten sozialökonomischen Situation des Jahres 1933 muß es allerdings beinahe praktisch unmöglich erscheinen „...den Deckungsstock wieder aufzufüllen, wenn das Anwartschaftsdeckungsverfahren einmal unterbrochen ist, da dies eine Doppelbelastung der in dieser Zeit versicherten Arbeitnehmer bedeuten würde.“590 Vor dem Hintergrund eines damals weitgehend materiell verarmten Versichertenkreises bleibt dennoch eine Strategie. Diese verteilt die „Zumutungen“ der finanziellen „Sanierung“ auf spezifische Weise auf die Unternehmer, die Versicherten, die Rentner und das Reich. Soweit die Rentner betroffen sind, beinhaltet dies eine weitere Kürzung der Leistungen, die über die Sparpolitik der Präsidialregime hinausweist und die wohl nur schwer von einem auf „Massenwahlen“ und „Massenwerbung“ aufbauendem Parlamentarismus hätte verfügt werden können.591 Dieser Weg wird mit dem sogenannten „Gesetz zur Erhaltung der Leistungsfähigkeit der Invaliden-, der Angestellten- und der knappschaftlichen Versicherung“ vom 7. Dezem584 Vgl. in diesem Zusammenhang: Manow, Philip: Kapitaldeckung oder Umlage: Zur Geschichte einer anhaltenden Debatte. In: Fisch, Stefan, Haerendel, Ulrike (Hg.): Geschichte und Gegenwart der Rentenversicherung in Deutschland. Berlin 2000, 145 - 168. 585 Vgl.: Heinze: Die Rentenversicherung der deutschen Arbeiter im fünften Jahre der nationalsozialistischen Regierung. In: Reichsarbeitsblatt IV (Amtliche Nachrichten für Reichsversicherung) (1938)13, 181 - 188, hier: 181. 586 Näheres dazu: Engel, Hans, Eckert, J.(osef): Die Sozialversicherung...a.a.O.(=Anm. 482), I 50 f.; vgl. auch: Zöllner, Detlev: Landesbericht Deutschland. In: Köhler, Peter A., Zacher, Hans F. (Hg.): Ein Jahrhundert Sozialversicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Österreich und der Schweiz. Berlin 1981, 45 - 179, hier: 131; als Fehlbeträge werden errechnet: für die Invalidenversicherung rund 13 Mrd. RM, für die Angestelltenversicherung 2,1 Mrd. RM und für die Knappschaft 3,5 Mrd. RM; vgl.: Peters, Horst: Die Geschichte...a.a.O.(=Anm. 571), 117. 587 Auszüge aus seiner Denkschrift bei: Scheur, Wolfgang: Einrichtungen...a.a.O.(=Anm. 334), 53 ff. 588 Vgl.: Tennstedt, Florian: Sozialgeschichte...a.a.O.(=Anm. 52), 473. 589 Wischer, Franz: Die Sozialversicherung...a.a.O.(=Anm. 568), 8. 590 Scheur, Wolfgang: Einrichtungen...a.a.O.(=Anm. 334), 55. 591 Vgl. in diesem Zusammenhang die grundlegende Schrift: Dobbernack, W.(ilhelm): Die Rettung der Rentenversicherung. Stuttgart, Berlin 1934.

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ber 1933 (Sanierungsgesetz) beschritten.592 Dieses von offizieller Seite vielgepriesene Gesetz sei die Voraussetzung „...für die Rettung und Erhaltung des Bismarckschen Sozialversicherungswerks.“593 Das Sanierungsgesetz stelle „...die gesamte Nachkriegsgesetzgebung auf dem Gebiete der Reichsversicherung in den Schatten...“594 Die finanziellen Grundlagen der Invaliden- und Angestelltenversicherung seien „mit einem Schlage fest untermauert.“595 Dem deutschen Volk sei eine „schwere Sorge“ abgenommen, heißt es. Tatsächlich jedoch verbreitet dieses Gesetz in bestimmten Bevölkerungskreisen bald erhebliche Unruhe und Besorgnis.596 Das Sanierungsgesetz enthält einmal ein Maßnahmebündel finanztechnischer Art. Dazu zählt die Verpflichtung des Reiches gemäß § 9 (1) zur Invalidenversicherung außer den für die Deckung der Grundbeträge erforderlichen Mitteln, einen jährlichen Reichsbeitrag von 200 Millionen RM zu leisten. Dieser Reichsbeitrag löst allerdings andere Reichsverpflichtungen ab. Insgesamt erfährt die Invalidenversicherung nur eine Stärkung der Reichshilfe um ca. 30 Millionen.597 Eine generelle Beitragerhöhung ist nicht vorgesehen. Durch das „Gesetz über den Ausbau der Rentenversicherung“ vom 21. Dezember 1937 (Ausbaugesetz) wird später, nachdem sich die Finanzsituation konsolidiert hat, ein System der wechselseitigen Abdeckung und Verschiebung von Beitragsanteilen insbesondere der Arbeitslosenhilfe auf andere Versicherungszweige vorgenommen. Zusätzlich wird die Reichshilfe neu verteilt.598 Eine Aufstockung der Lohn- und Beitragsklassen führt zu gewissen Mehreinnahmen. Es sind naturgmäß nicht diese Maßnahmen, die die Bevölkerung um ihre durch die Notverordnungspraxis bereits erschütterte Existenzbasis fürchten lassen. Diese Wirkung geht von zwei Maßnahmen aus, die zu weiteren und bedeutsamen „Verkürzungen“ der Leistungen führen. Das Sanierungsgesetz, „...das von der Reichsregierung am 1. Dezember, dem 50. Jahrestag des Inkrafttretens der Bismarckschen Krankenversicherung, verabschiedet worden ist...“599 beinhaltet auch Vorschriften zur Änderung der Rentenberechnung. Für die künftig neu festzusetzenden Renten aus der Invaliden-, der Angestellten- und der Knappschaftsversicherung wird durch Veränderung des Berechnungsverfahrens eine teilweise gegenüber dem alten Recht erhebliche Rentenminderung herbeigeführt.600 Das neue Berechnungsverfahren trifft die Kleinrenten bedeutend härter als die höheren und höchsten Renten. Elemente des „sozialen Ausgleichs“ in den Rentenversicherungen werden so erheblich abgeschwächt. Die Differenzierung der (Renten-)Einkommens- und Lebensverhältnisse wird vorangetrieben. Krohn schreibt in diesem Zusammenhang vor der Realisierung durch die NS-Gesetzgebung: „Die Renten sollen für hoch bezahlte Arbeiter weniger gekürzt werden als diejenigen für niedriger entlohnte, um eine ungerechte Nivellierung der Renten in der

592 Vgl.: RGBl. I 1933, 1039. 593 So: Storck: Die Invalidenversicherung...a.a.O.(=Anm. 577),163. 594 Seldte, Franz: Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 322), 45. 595 Vgl. denselben, ebenda, 45 f. 596 Weil es eben auch Leistungskürzungen beinhaltet, stößt es zumindest in Teilen der DAF als massenpsychologisch bedenklicher Weg auf erhebliche Vorbehalte; vgl. das Schreiben von Karl Peppler vom 7. Dezember 1933 an Ley. BA Abt. Potsdam. 62 DAF 1. NS 5 IV, Nr. 192, Bl. 3RS. 597 Vgl.: Zschucke, Martin: Das Reichsarbeitsministerium....a.a.O.(=Anm. 443), 17 f. 598 Zu den Einzelheiten: Derselbe, ebenda, 18 ff. 599 Sanierung der Rentenversicherungen. In: Soziale Praxis, 42(1933)51/52, Sp. 1507 - 1514, hier: 1507. 600 Einzelheiten des Berechnungsverfahrens finden sich bei: Görling: Gesundung. In: Deutsche InvalidenVersicherung, 6(1934), 1 - 5, hier: 1 - 2.

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Zukunft zu vermeiden.“601 Es ist gezeigt worden, daß eine Kleinrente durch diese und vorhergehende Kürzungen innerhalb von nur zwei Jahren um rund die Hälfte absinken konnte.602 Darüber hinaus wird eine neue Möglichkeit der vollständigen Entziehung von Renten vorgesehen. Im diesem Zusammenhang ist ein Gutachten des Reichssparkommissars, eine von 1922 bis 1934 existierende Einrichtung, von Bedeutung. Dieses Gutachten stellt im Jahre 1933 fest, „...daß 1927 47,14 v.H. aller Invalidenrentner jünger als 65 Jahre waren, 1931 es aber schon 66,79 v.H. waren.“603 Tatsächlich hatte die Invalidenversicherung auf diese Weise einen Teil der Entlastung des desolaten Arbeitsmarktes übernommen. Ansonsten lassen sich diese Zahlen auch als sozialer Fortschritt und als Ausdruck der Vernutzung der Arbeitskraft im Produktionsprozeß interpretieren. Der Reichssparkommissar interpretiert diese Entwicklung jedoch ganz anders. Er führt sie auf eine „Dehnung“ des Begriffs der Invalidität zurück, „...da die Volksgesundheit im Ganzen sich nicht nachweislich verschlechtert...“ habe.604 Der NS-Gesetzgeber schließt sich dieser Sichtweise an und schafft in der Invaliden- und Angestelltenversicherung die Möglichkeit, bei denjenigen, die am 1. Januar 1934 noch nicht das 60. Lebensjahr vollendet haben, die Rente zu überprüfen und unter erleichterten Bedingungen gegebenenfalls zu entziehen. „Stichproben bei einzelnen Versicherungsträgern hätten ergeben, daß die Rentenbewilligung nicht überall gleichmäßig gehandhabt wurde.“605 Diese Neuerung ist in § 24 des Sanierungsgesetzes festgeschrieben. Sie hat zur Folge, daß zusätzlich zu den Bestimmungen, nach denen eine Entziehung einer Invaliden- oder Witwenrente nach § 1304 RVO möglich ist, wenn der Rentenempfänger nicht mehr invalide ist und insofern eine wesentliche Änderung in seinen Verhältnissen eingetreten ist, eine Entziehung nun auch ohne Feststellung einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse erfolgen kann.606 Auf eine Veränderung (Verbesserung) des körperlichen oder geistigen Zustandes soll es nach dieser Bestimmung gar nicht mehr ankommen. Es muß nach diesem zusätzlichen Verfahren lediglich nachgewiesen werden, daß der Rentenempfänger nicht invalide ist. Dadurch wird der Bestandsschutz einmal gewährter Renten wesentlich herabgesetzt. In einer Rechtfertigungsschrift ist zu lesen: „Hier ist vom Gesetzgeber ein Reinigungsmittel vorgesehen, wie es sonst wohl überall durch die nationalsozialistische Regierung zur Einführung und Anwendung gelangt ist. Daß es sich um ein außerordentliches Mittel handelt, erhellt sich daraus, daß die Vorschrift mit dem Schlusse des Jahres 1937 wieder außer Kraft tritt.“607 Als Ergebnis der veränderten Rahmenbedingungen unter der NS-Diktatur und der erweiterten bzw. erleichterten Möglichkeiten der Rentenentziehungen, steigt die Zahl der Nachuntersuchungen und Rentenentziehungen vorübergehend an. Die Zahl der auf Grund des § 24 des „Sanierungsgesetzes“ entzogenen Renten ist jedoch ebenso gering, wie der dadurch erzielte finanzielle Erfolg. Die meisten Renten werden weiterhin nach den traditio-

601 Schreiben Krohn vom 13.4.1933 an die Reichsminister; zit. nach: Scheur, Wolfgang: Einrichtungen...a.a.O.(=Anm. 334), 57 f. 602 Vgl.: Scheur, Wolfgang: Einrichtungen...a.a.O.(=Anm. 334), 57. 603 Tennstedt, Florian: Sozialgeschichte...a.a.O.(=Anm. 491), 473. 604 Vgl.: Scheur, Wolfgang: Einrichtungen...a.a.O.(=Anm. 334), 58. 605 Sanierung...a.a.O.(=Anm. 599), Sp. 1509. 606 Vgl.: Görling: Gesundung...a.a.O.(=Anm. 600), 4. 607 Derselbe, ebenda, 5.

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nellen Vorschriften entzogen. Der „Erfolg“ der gegen Ende 1937 außer Kraft tretenden Bestimmungen ist wohl mehr ein psychologischer als ein finanzieller.608 Die personelle „Säuberung“ der Leistungsträger verbunden mit einer immer engeren Fassung des Invaliditätsbegriffes führt zu einer Umschichtung des Rentenbestandes, eine Tatsache, die einen Mitarbeiter des Reichsversicherungamtes zu der Feststellung veranlaßt, daß Renten, die im Lebensalter bis 35 gewährt werden, nur etwa 6 Jahre „genossen“ werden. Er folgert: „Man muß aus dieser Tatsache schließen, daß die Renten der Invalidenversicherung, soweit es sich nicht um die wohlverdiente Rente nach Vollendung des 65. Lebensjahres handelt, wirklich nur an Schwerkranke gewährt werden.“609 Diese restriktive Praxis der Rentengewährung ist im Zuge der Überwindung der Arbeitslosigkeit zu dem Zeitpunkt hoch willkommen, zu dem die ersten Anzeichen einer Arbeitskräfteverknappung im Bau- und Rüstungsbereich auftreten. Durch den Abbau und die Entziehung der Sozialleistungen und durch eine schärfere Überwachungspraxis wird der Druck verstärkt, sich dem zunehmend reglementierten „Arbeitsmarkt“ zu stellen, der Zugang zu arbeitsmarktexternen Formen der Lebenssicherung wird erschwert. Eine ähnlich restriktive Entwicklung der Leistungsgewährung wird auch aus einem anderen Zweig der „klassischen Sozialversicherung“ berichtet. Es handelt sich um die Unfallversicherung. Die Unfallanzeigen erhöhen sich zwischen 1932 und 1938 um 142,6 %, ein Indiz für die rigorose Arbeitseinsatzpraxis und den Einsatz berufsentwöhnter oder berufsfremder Kräfte. Gleichzeitig geht der Prozentsatz der entschädigten Unfälle zurück: „Während 1932 noch 76,7 % der gemeldeten Unfälle entschädigt wurden, waren es 1938 nur noch 32,8 %.“610 Staatlich regulierte und begrenzte Lohnerhöhungen vor dem Hintergrund einer leicht inflationären Preistendenz, abnehmende Arbeitslosen- und steigende Beschäftigtenzahlen, aufwärtsweisende Wirtschaftsindikatoren im Zuge der anlaufenden (Rüstungs-)Konjunktur auf der einen, hohe Lohnabzüge und eine „zurückhaltende“ Leistungspolitik auf der anderen Seite, führen, wie beabsichtigt, zu einem erheblichen Vermögensaufbau in den Sozialversicherungen. Die Zuwächse erhöhen sich von Jahr zu Jahr. Der Vermögenbestand, der 1933 bei 4,774 Milliarden RM liegt, steigt bis zum Jahr 1939 auf 10,484 Milliarden RM an.611 Parallel zu dieser Thesaurierungspolitik in der „Reichsversicherung“ vollzieht sich bekanntlich der Prozeß der Kriegsvorbereitung, jene nunmehr nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges erneut versuchte lückenlose und „...umfassende Inanspruchnahme nicht nur der militärischen, sondern auch der politischen, wirtschaftlichen, finanziellen, sozialen, gesundheitlichen und psychischen Kräfte des gesamten Volkes“ als Wesensmerkmal eines „modernen Krieges.“612 In diesem Zusammenhang ist die finanzielle Kriegsvorbereitung von Bedeutung. Auch auf diesem Gebiet werden Lehren aus dem Ersten Weltkrieg und der damaligen Kriegsvor608 Eine entsprechende Aufbereitung des Datenmaterials, die allerdings nur bis einschließlich 1936 reicht, enthält: Strebel, Hermann: Die Nachuntersuchung von Invalidenrentnern und der Entzug der Rente. In: Zentralblatt für Reichsversicherung und Reichsversorgung, (1938)3, 48 - 54; eine Statistik findet sich auf den Seiten 52 f.; eine Erläuterung der Rechtslage leistet: Hallbauer, Wilh.(elm): Entziehung von Renten der Invaliden-, Angestelltenund der knappschaftlichen Versicherung nach dem Gesetz vom 7.12.33. In: Der Sozialversicherungs-Beamte, 3(1935)2, 30 - 31. 609 Heinze: Die Rentenversicherung...a.a.O.(=Anm. 585), 186. 610 Vgl.: Teppe, Karl: Zur Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 446), 231; etwas niedrigere Zahlen weist aus: Statistisches Handbuch…a.a.O. (Anm. 163), 537. 611 Vgl.: Scheur, Wolfgang: Einrichtungen...a.a.O.(=Anm.334), 107; geringfügig niedrigere Zahlen wiederum in: Statistisches Handbuch...a.a.O.(=Anm. 163), 537. 612 Herbst, Ludolf: Der Totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft. Stuttgart 1982, 35.

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bereitung mit ihren Grenzen und Problemen gezogen. Zur Finanzierung der gigantischen Aufrüstung werden nicht nur Mefo-Wechsel ausgestellt, sondern man greift u.a. auch über Anleihen und in anderer Form auf die Finanzreserven aller möglichen privaten und öffentlichen Institutionen zurück. So trifft z.B. 1936 das Reichsfinanzministerium mit der Reichsgruppe (Privat-)Versicherung eine Abmachung, „...wonach wiederum in Höhe von 1935 Anleihen und Schatzanweisungen von Versicherungen übernommen wurden. Seitdem haben Versicherungen und Sparkassen regelmäßig feste Anleihebeträge im Wege der Vorwegzeichnung übernommen, die dann besonders 1938 einen steigenden Umfang annahmen.“613 Der Hauptanteil der bei Kreditgenossenschaften, Sparkassen, Postsparkassen, Versicherungsgesellschaften usw. aufgesparten Gelder wird dabei völlig „geräuschlos“ im „rollenden Verfahren“ mobilisiert: Durch Zeichnung ganzer Kontingente von Staatspapieren und in ähnlicher Form wird bisher andersweitig angelegtes Geld dem Staat übertragen. Auf diese Weise wird „...die Mehrzahl der deutschen Bevölkerung - zum größten Teil wahrscheinlich ohne es zu ahnen - mittelbarer Gläubiger des Reichs.“614 Der NS-Staat macht sich so unabhängig vom Anlagewillen und der Anlagefähigkeit der durch die Vorgänge im und nach dem Ersten Weltkrieg „gewarnten“ Bevölkerung. Die Mittel, die auf diese und manch andere Weise für die militärische Machtstellung des Staates aufgebracht werden, sind gewaltig: „Vom Jahre 1934 steigen ... die Rüstungsausgaben sprunghaft an und erreichen 1938 mit 17 Milliarden RM ihren Höhepunkt... Während die militärischen Ausgaben vor 1934 unter 2 Prozent des Volkseinkommens blieben, erreichten sie 1938 21 Prozent. Im Durchschnitt der Jahre 1934 bis 1938 betrugen sie 14,4 Prozent.“615 In eben dieses Verfahren wird ab Ende 1933 auch die „Reichsversicherung“ einbezogen. Sie muß ihr Vermögen, das im Kaiserreich und in der Weimarer Republik immer zu erheblichen Teilen sozialpolitischen Zwecken zugeflossen ist, auf Betreiben des Reichsfinanzministeriums in Reichsanleihen anlegen: „Ebenso mußten sie (die Versicherungsträger, E.R.) fällig werdende Reichsschatzanweisungen und Schuldverschreibungen des Reiches ausnahmslos prolongieren bzw. gegen neue eintauschen. Die Praxis, mit faits accomplis konfrontiert zu werden, und die überaus ungünstigen Konditionen führten dazu, daß man beispielsweise beim Reichsverband Deutscher Landesversicherungsanstalten von ‘Zwangsanleihen’ sprach. Das Reinvermögen der Angestellten- und Invalidenversicherung, das sich Ende 1939 auf 8,1 Mrd. RM bezifferte, war fast zu 50 % in Reichsanleihen festgelegt worden. Mit fortschreitender Erholung des Arbeitsmarktes und der Forcierung der Rüstungspolitik verstärkten sich der Druck und das Bemühen, neue Kreditreserven zu erschließen. So lenkte die Reichsbank die Aufmerksamkeit des Reichsfinanzministeriums auf die ‘beträchtlichen Kassenreserven’ der Sozialversicherung von etwa 750 Mill. RM, die in die Rüstungsfinanzierung einbezogen werden sollten, ‘um zu verhindern, daß diese Gelder anderweitig verwendet werden.’ Eine andere Variante war, daß die Träger der Invalidenversicherung auf Betreiben des Finanzministers ab 1937 von den 204 Mill. RM umfassenden Reichsbeitrag 120 Mill. RM in Schuldverschreibungen des Reiches annehmen mußten. Die knappschaftliche Pensionsversicherung mußte ab 1938 sogar den Reichsbeitrag und den Reichszuschuß ‘bis auf Weiteres’ vollständig als Schuldverschreibungen des Reiches ak613 Pütz, Theodor: Kapitalmarkt und Versicherungswirtschaft. In: Zeitschrift für die gesamte VersicherungsWissenschaft, 39(1939), 248 - 256, hier: 256. 614 Stuebel, Heinrich: Die Finanzierung der Aufrüstung im Dritten Reich. In: Europa-Archiv, 6(1951), 4128 4136, hier: 4132. 615 Derselbe, ebenda, 4129.

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zeptieren.“616 Die Vermögensrücklage der Krankenversicherung, die bei den Landesversicherungsanstalten angesammelt ist, beträgt Ende des Monats Dezember 1938 162,6 Millionen RM. Davon sind 69,9 Millionen RM in Reichsanleihen festgelegt.617 Das Jahr 1938 gestaltet sich auf dem Kapitalmarkt für das NS-Regime schwierig. Die Zuspitzung der politischen Lage ruft eine ausgesprochene Kriegs- und Inflationspsychose hervor. Unter diesen Bedingungen setzt eine Flucht aus Reichsanleihen in Sachwerte ein, so daß das Reich Reichsanleihen im Wert von rund 450 Millionen RM zurückkaufen muß.618 Zusätzlich droht für 1939 die Einlösung der 1934 ausgegebenen Mefo-Wechsel.619 In dieser Situation wird die „Verordnung über die Anlegung des Vermögens der Träger der Reichsversicherung“ vom 14. April 1938 erlassen,620 die rückwirkend zum 1. Januar 1938 in Kraft tritt und die die „Bekanntmachung über die Anlegung des Vermögens der Träger der Sozialversicherung“ vom 14. Juli 1923621 außer Kraft setzt. Diese hatte lediglich verlangt, daß bis zu einem Viertel des Vermögens beim Reich oder einem Land anzulegen sei. Der § 1 der neuen Verordnung bestimmt: „Das Vermögen der Invaliden-, der Angestelltenversicherung und der knappschaftlichen Pensionsversicherung sowie die Rücklagen der Krankenund der Unfallversicherung sind bis zur Hälfte in verbrieften Forderungen gegen das Reich oder in Forderungen, die in das Schuldbuch des Reiches eingetragen sind, anzulegen.“ Sie bestimmt weiter, daß solange dieser „Betrag“ nicht erreicht ist, mindestens drei Viertel des jährlichen Zuwachses an Vermögen (Rücklage) in den bezeichneten Forderungen angelegt werden müssen. Diese aus „zum Teil lebhaften Auseinandersetzungen“ zwischen dem Reichsfinanz-, dem Reichswirtschaftsministerium und der Reichsbank auf der einen und dem Reichsarbeitsministerium auf der anderen Seite hervorgehende Verordnung wird nach Kriegsausbruch durch die Auflage ersetzt, „...dem Reich sämtliche Überschüsse gegen Abgabe von Schuldverschreibungen zu überlassen.“622 Auch auf dem Gebiet des Beitrags- und Leistungsrechts und mit Blick auf die versicherten Personenkreise ergeben sich markante und regimespezifische Entwicklungen. Der gigantischen Staatskonjunktur mit ihren steigenden Beschäftigtenzahlen folgend, nimmt der Kreis der in der „Reichsversicherung“ versicherten Personen zu. Die reichsgesetzliche Krankenversicherung zählt im Jahre 1933 nur noch 18,54 Millionen Mitglieder; 1939 sind es 24,37 Millionen.623 Zu dieser Entwicklung trägt auch eine Erweiterung der Versichertenkreise bei. Durch das „Gesetz über die Versicherung der Artisten“ vom 13. Januar 1938624 werden in die Krankenversicherung einbezogen: Hausgewerbetreibende, selbständige Lehrer und Erzieher, die in ihrem Betriebe keine Angestellten beschäftigen, Artisten, soweit ihr regelmäßiges Jahreseinkommen 3.600 Reichsmark nicht übersteigt. Politische und rassistische Diskriminierungen spielen bei diesem Gesetz insofern eine Rolle, als bestimmt wird, daß als „Artist“ nur gilt, „...wer Mitglied der Reichstheaterkammer, Fachschaft Artistik, ist; Abweichungen bestimmt der Präsident der Reichskulturkammer.“ Damit sind Juden und 616 Teppe, Karl: Zur Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 446), 236 f. 617 Vgl.: Scheur, Wolfgang: Einrichtungen...a.a.O.(=Anm. 334), 108. 618 Vgl.: Stuebel, Heinrich: Die Finanzierung...a.a.O.(=Anm. 614), 4136. 619 Vgl. denselben, ebenda, 4135. 620 Vgl.: RGBl. I 1938, 398. 621 Vgl.: RGBl. I 1923, 646. 622 Teppe, Karl: Zur Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 446), 237. 623 Vgl.: Statistisches Handbuch...a.a.O.(=Anm. 163), 533; die Zählung umfaßt die knappschaftlichen Krankenkassen und die Ersatzkassen. 624 Vgl.: RGBl. I 1938, 33.

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politische Gegner des NS-Staates ausgeschlossen. Daß es zu dieser Zeit weitere Bestimmungen gibt, die (indirekt) „Versichertenkreise“ der „Reichsversicherung“ nach rassepolitischen Kriterien festlegen, zeigt sich auch am Beispiel des „Hebammengesetzes“ vom 21. Dezember 1938625 und an der „Verordnung über die Versicherung der Hebammen“ vom 23. März 1939.626 Durch die Verordnung wird die Krankenversicherung für Hebammen mit Niederlassungserlaubnis Pflicht. Die Niederlassungserlaubnis setzt wiederum die Erfüllung des „Rassekriteriums“ voraus. Ganz im Sinne der sozialrechtlichen Honorierung des Militärischen erhalten Kriegshinterbliebene durch die „Verordnung über die Krankenversicherung für Kriegshinterbliebene“ vom 20. April 1939627 anstelle der bisherigen Fürsorgeleistungen mit der Prüfung der Bedürftigkeitsfrage im Krankheitsfalle einen Rechtsanspruch auf die Leistungen der zuständigen Ortskrankenkasse. Die Bedürftigkeitsprüfung entfällt. Das Reich zahlt den Versicherungsbeitrag über die Versorgungsämter. Zu Beginn der NS-Herrschaft befinden sich die Leistungen der Sozialversicherung auf niedrigstem Niveau. Die Sozialabbaumaßnahmen der Präsidialregime gegen Ende der Weimarer Republik bringen die NS-Machthaber in die massenpsychologisch komfortable Situation, nicht mit der sich immer wiederholenden zerstörerischen, gnaden- und perspektivlosen Herabminderung der Lebenslage der Sozialversicherungsleistungen beziehenden Bevölkerung belastet zu sein. Durchgreifende Leistungsverbesserungen erweisen sich jedoch vor dem Hintergrund des „Sanierungsgesetzes“ bzw. der Thesaurierungsabsichten als schwer durchsetzbar. Eine von nationalsozialistischer Seite mit Blick auf die Wahlen des 5. März 1933 vorgeschlagene Streichung der unpopulären 50-Pfennig-Gebühr für Krankenscheine628 stößt auf die „Konsolidierungsabsicht“ des Reichsabeitsministeriums und auf andere Bedenken und wird angesichts dieses Widerstandes, obwohl sich auch Hitler für die Abschaffung engagiert, nur in „unvollkommener“ Form durchgesetzt. Durch die „Verordnung des Reichspräsidenten über Krankenversicherung“ vom 1. März 1933629 wird sie schließlich halbiert, d.h. auf 25 Reichspfennig reduziert. Gleichzeitig wird eine Neuordnung der Krankenversicherung avisiert und in der Regie des Reichsarbeitsministers durch zahlreiche Verordnungen vollzogen.630 Der Pfad der Abmilderung von Härten der Notverordnungspraxis in der Krankenversicherung wird desweiteren durch die „Verordnung über den Arzneikostenanteil in der Krankenversicherung“ vom 28. Dezember 1933 beschritten.631 Sie bringt Verbesserungen in der Familienkrankenpflege und hebt entgegenstehende Vorschriften der entsprechenden Notverordnung aus dem Jahre 1931 auf. Diese Verordnung reduziert darüber hinaus die Rezeptblattgebühr auf die Hälfte, auf 25 Reichspfennig. Kinderreiche deutsche Versicherte, deren Familienverhältnisse als „geordnet“ anzusehen sind, werden mit Erlaß vom 4. Mai 1938 von der Krankenschein- und Rezeptblattgebühr völlig befreit.632 Das „Gesetz über Wochenhilfe und Genesendenfürsorge in der Kranken-

625 Vgl.: RGBl. I 1938, 1893. 626 Vgl.: RGBl. I 1939, 635. 627 Vgl.: RGBl. I 1939, 791. 628 Vgl. die Dokumente Nr. 17, 21 und 22 bei: Minuth, Karl-Heinz (Bearb.): Die Regierung Hitler Teil I...Band 1...a.a.O.(=Anm. 11), bes. 54, 67, 75 ff. 629 Vgl.: RGBl. I 1933, 97; Artikel 1, § 1. 630 Diese Rechtsquellen sind dokumentiert bei: Engel, Hans, Eckert, J.(osef): Die Sozialversicherung...a.a.O. (=Anm. 482), II 63 ff. 631 Vgl.: RGBl. I 1934, 17; diese Verordnung wird im Laufe der Zeit nicht unwesentlich modifiziert. 632 Vgl.: Jaeger, H.: Bevölkerungspolitik in der deutschen Sozialversicherung. In: Zentralblatt für Reichsversicherung und Reichsversorgung, 13(1942)11/12, 105 - 108, hier: 105.

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versicherung“ vom 28. Juni 1935633 erleichtert den Bezug der Wochenhilfe nach § 195a der Reichsversicherungsordnung dadurch, daß nunmehr auch Zeiten des Fürsorgebezuges die Rahmenfristen verlängern. Diese Erleichterung wird nicht nur für „weibliche Versicherte“, sondern auch für Ehefrauen, Töchter, Stief- und Pflegetöchter der Versicherten, welche mit diesen in häuslicher Gemeinschaft leben, verfügt.634 Daneben werden aus der Notverordnungspraxis des Jahres 1931 resultierende Restriktionen durch Satzungsbestimmungen beseitigt, sofern sich diese auf die „Fürsorge für Genesende“ oder auf Maßnahmen zur Verhütung von Erkrankungen beziehen. Vielfältige Beziehungen der Krankenversicherung ergeben sich zum „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 und den dazu erlassenen Durchführungsbestimmungen. Einmal erhoffen „Experten“, daß der Krankenversicherung „...doch durch diese Aktion in späteren Jahren erhebliche Kosten erspart“ werden.635 Zum anderen haben die Krankenkassen für ihre Versicherten in einem sehr umfassenden Sinne die Kosten der „erbpflegerisch“ motivierten Schwangerschaftsunterbrechung und der Unfruchtbarmachung ebenso zu tragen,636 wie gegebenenfalls die „Lasten“ der „Wiederfruchtbarmachung“ von Frauen, falls ein „Gemeinschaftsinteresse an der Beseitigung der Unfruchtbarkeit“ besteht.637 Auch in der Unfallversicherung nimmt die Zahl der versicherten Personen und der versicherten „Betriebe“ deutlich zu. Auch hier sind es spezifische Rechtsquellen, die zu dieser Entwicklung beitragen. Das „Vierte Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung“ vom 18. April 1937638 bezieht Lehrwerkstätten, Fachschulen, Schulungskurse und ähnliche, der beruflichen Ausbildung dienende Einrichtungen unter bestimmten Bedingungen in die Versicherungspflicht ein. Es erlaubt u.a. darüber hinaus Erweiterungen der Versicherungspflicht durch Satzung und bestimmt die NSDAP zum Träger der Unfallversicherung für diese Partei und ihre Gliederungen. Hinzu treten bestimmte Leistungsverbesserungen. Das umfangreiche „Fünfte Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung“ vom 17. Februar 1939639 beseitigt einmal wesentliche Härten der Notverordnungen auf dem Gebiet der Unfallversicherung. Darüber hinaus wird verfügt: „Die Betriebe der Verwaltung der SS-Verfügungstruppen, die SS-Totenkopfverbände, die SA-Standarte Feldherrnhalle und Reichsarbeitsdienst genießen Unfallschutz, desgleichen Technische Nothilfe. Schutz bei Erfüllung der Hilfeleistungspflicht nach § 330c StGB.“640 Schließlich wird die landwirt633 Vgl.: RGBl. I 1935, 811. 634 Vgl.: § 205a RVO. 635 10 Jahre Soziale Sicherung im nationalsozialistischen Staat. O.O., o.J. (1943), 38; vgl. auch: Linden, H.(erbert): Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und die Krankenkassen. In: Die Betriebskrankenkasse, 28(1935)24, Sp. 581 - 585. 636 Einen Überblick über die Vorschriften zur Kostentragung bietet der Beitrag: Kostentragung nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, 17(1936)5, 141 - 145; in welch bedeutendem Ausmaß die Krankenversicherung Kostenträger der „Erbund Rassenpflege“ wird, verdeutlichen auch die folgenden Beiträge: Schulze, Friedrich: Erb-, Geisteskrankheiten und Gebrechen im Recht der Sozialversicherung. In: Volkstümliche Zeitschrift für die gesamte Sozialversicherung, 42(1936)13/14, 209 - 214; Lemme, Hansjoachim: Die Leistungspflicht der Krankenkassen nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. In: Die Betriebskrankenkasse, 29(1936)13, Sp. 313 - 321; Bode, H.: Welche Kosten hat eine Krankenkasse bei Unfruchtbarmachung auf Grund des Gesetzes vom 14. Juli 1933 zu tragen. In: Die Innungskrankenkasse, 13(1935)18, 360 - 362. 637 Dies ergibt sich aus einer Entscheidung des Reichsversicherungsamtes vom 13. Juni 1936; vgl. 10 Jahre Soziale Sicherung...a.a.O.(=Anm. 635), 38. 638 Vgl.: RGBl. I 1937, 463. 639 Vgl.: RGBl. I 1939, 267. 640 Peters, Horst: Die Geschichte der Reichsversicherung...a.a.O.(=Anm. 329), 91.

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schaftliche Unfallversicherung neu geregelt. Mit diesen und einigen weiteren Änderungen bewirkt diese Gesetzgebung einmal eine „normale“ Erweiterung des Unfallversicherungsschutzes, zum anderen wird die Parteiapparatur, der Gewalt- und Repressionsapparat der Diktatur in die Unfallversicherung einbezogen. Der Abbau des Notverordnungsrechts wird durch das „Gesetz zum weiteren Abbau der Notverordnungen in der Reichsversicherung“ vom 19. April 1939641 fortgesetzt. Vor allem wird die Bezugsdauer für Waisenrenten und Kinderzuschüsse wieder bis auf das vollendete achtzehnte Lebensjahr erstreckt und es wird das „...Ruhen von Renten bei gleichzeitigem Bezug aus verschiedenen Sozialversicherungszweigen... eingeschränkt.“642 Dieses Gesetz und die bereits erwähnte „Verordnung über die Krankenversicherung für Kriegshinterbliebene“ vom 20. April 1939 gehören zu den „sozialen Maßnahmen“, die aus Anlaß des 50. Geburtstags Hitlers beschlossen und dementsprechend in der Presse und im Rundfunk groß herausgestellt werden, mithin in besonderer Weise der Legitimation des Herrschaftssystems dienen sollen.643 Die Unfallversicherung wird im Jahre 1937 darüber hinaus auf die Kleinsiedlung und den Luftschutzdienst erstreckt.644 Die Zahl der entschädigungspflichtigen Berufskrankheiten wird durch die „Dritte Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten“ vom 16. Dezember 1936645 auf 26 erweitert. Schließlich werden die Beziehungen zwischen den Trägern der Kranken- und der Unfallversicherung durch eine Verordnung vom 15. Juni 1936 neu geordnet. Unter bestimmten Bedingungen gilt nunmehr, daß die Krankenkassen die Kosten der ersten 45 Tage tragen.646 In der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten führt die sozialökonomische Entwicklung der Vorkriegszeit ebenfalls zu einem Anstieg der Versicherten. Bei einer moderaten Entwicklung der Rentenbestände erfolgt ein rascher Vermögensaufbau.647 Dieser Hintergrund läßt schon erkennen, daß man nach wirklich durchgreifenden Leistungsverbesserungen erneut vergeblich suchen wird. Durch die „Verordnung über die Änderung, die neue Fassung und die Durchführung von Vorschriften der Reichsversicherungsordnung, des Angestelltenversicherungsgesetzes und des Reichsknappschaftsgesetzes“ vom 17. Mai 1934648 werden die entsprechenden Vorschriften neu gegliedert und neu gefaßt. Insbesondere werden die geltenden Leistungsvorschriften der drei Versicherungszweige zusammengefaßt und den Regelungen der Rentenversicherung der Arbeiter angepaßt. Von größerer Bedeutung ist das „Gesetz über die Änderung einiger Vorschriften der Reichsversicherung“

641 Vgl.: RGBl. I 1939, 793; vgl.: Kadgien, Fritz: Der weitere Abbau der Notverordnungen in der Reichsversicherung. In: Volkstümliche Zeitschrift für die gesamte Sozialversicherung, 45(1939)12, 165 - 167. 642 Peters, Horst: Die Geschichte der Reichsversicherung...a.a.O.(=Anm. 329), 91. 643 Vgl.: Bothe, F.: Die sozialen Verbesserungen auf dem Gebiete der Reichsversicherung zugunsten der Rentner und Kriegsopfer anläßlich des 50. Geburtstages des Führers und Reichskanzlers. In: Zentralblatt für Reichsversicherung und Reichsversorgung, (1939)10/11, 185 - 189; Bechtold, R.: Die sozialen Maßnahmen aus Anlaß des 50. Geburtstages des Führers. In: Zeitschrift für das Heimatwesen, 44(1939)18, 273 - 280. 644 Vgl. die Hinweise bei: Frerich, Johannes, Frey, Martin: Handbuch...Band 1...a.a.O.(=Anm. 387), 296. 645 Vgl.: RGBl. I 1936, 1117. 646 Vgl.: Peters, Horst Die Geschichte der Reichsversicherung...a.a.O.(=Anm. 329), 92; vgl. die „Verordnung über die Regelung der Beziehungen zwischen den Trägern der Krankenversicherung und der Unfallversicherung“ vom 15. Juni 1936 (RGBl. I 1936, 489). 647 Vgl. die Statistik in: Statistisches Handbuch...a.a.O.(=Anm. 163), 537. 648 Vgl.: RGBl. I 1934, 419; vgl. insgesamt: Eckert, (Josef), Hoffmeister, (Adolf), Dobbernack, (Wilhelm): Verordnung des Reichsarbeitsministers über die Änderung, die neue Fassung und die Durchführung von Vorschriften der Reichsversicherungsordnung, des Angestelltenversicherungsgesetzes und des Reichsknappschaftsgesetzes vom 17. Mai 1934. RGBl. I S. 419. Kommentar. München 1934.

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vom 23. Dezember 1936.649 Dieses Gesetz führt die Selbstversicherung deutscher Staatsangehöriger im Ausland ein, regelt die Beitragsberechnung bei einmaligen Zuwendungen, den Beginn der Renten und die Entgegennahme von Anträgen. Das Gesetz enthält u.a. auch Bestimmungen über das „Ruhen der Rente bei staatsfeindlicher Betätigung“. Mit der Bestimmung, daß die Rente ruht, „...wenn der Berechtigte sich nach dem 30. Januar 1933 in staatsfeindlichem Sinne betätigt hat“, wird der Bezug der Geldleistungen in umfassender Weise an politisches „Wohlverhalten“ geknüpft. Diesen Bestimmungen waren Initiativen von Versicherungsträgern zur Politisierung des Rentenrechts vorausgegangen. Das Gesetz vom 23. Dezember 1936 enthält die Verfahrensregel, daß das „Reichsministerium des Innern“ im Einvernehmen mit dem Reichsarbeitsminister entscheiden soll, ob eine staatsfeindliche Betätigung vorgelegen hat. Über den Reichsinnenminister wird auch das SSImperium mit entsprechenden Ermittlungen und Feststellungen betraut. Diese Bestimmung, die auf unterschiedliche Weise auf die bis zum Kriegsbeginn angeschlossenen Gebiete übertragen wird, zeigt erneut wie stark die „Reichsversicherung“ mit dem NS-Regime verklammert ist. Die Verfolgungs- und Diskriminierungspraxis des NSRegimes bildet sich nunmehr auch auf dem Gebiet des Rentenrechts und der Rentengewährung ab. Die entscheidungsbefugten Stellen werden über verschiedene Dienststellen und das Gerichts- bzw. Sondergerichtswesen informiert. Von erheblicher rentenrechtlicher Bedeutung sind Verurteilungen auf der Grundlage der „Heimtückeverordnung“ oder des „Heimtückegesetzes“ vom 20. Dezember 1934. Nichtigkeiten, wie z.B. die Verweigerung des „Deutschen Grußes“, kritische Äußerungen im kleinen Kreis, aber auch bewußte politische Widerstandshandlungen, die Zugehörigkeit zur verfolgten Glaubensgemeinschaft der „Ernsten Bibelforscher“ (Zeugen Jehovas) usw. usf. führen nun zu rentenrechtlichen Konsequenzen und sei es „nur“, daß die Rente in gekürzter Form während der Haft der Ehefrau überwiesen wird.650

649 Vgl.: RGBl. I 1936, 1128; als Erläuterung z.B.: Funke, Friedr.(ich): Das Gesetz über die Änderung einiger Vorschriften der Reichsversicherung. In: Die Innungskrankenkasse, 15(1937)4, 61 - 64. 650 Eine umfassende juristische Ausarbeitung zu dieser Vorschrift findet sich bei: Bogs: Das „Ruhen“ der Rente bei staatsfeindlicher Betätigung. In: Die Ortskrankenkasse, 24(1937)27, 864 - 870; als sozialhistorische Aufarbeitung: Bonz, Hans-Jörg: Für Staatsfeinde keine Rente. In: Zeitschrift für Sozialreform, 37(1991)9, 517 - 531. Zum Umfeld dieser Maßnahmen gehört auch die Kontroverse um das Ruhen oder die Weitergewährung von Leistungen im Falle eines KZ-Aufenthalts. Vgl. dazu: Reichsverband Deutscher Rentenversicherungsträger (Hg.): Kommentar zur Reichsversicherungs-Ordnung. Viertes und Fünftes Buch. 3. Auflage. Kassel 1941, 141 f.; Unterbringung im Konzentrationslager und Versicherungsleistungen. In: Zentralblatt für Reichsversicherung und Reichsversorgung, 4(1933)17, 253 - 254; Spohr, Werner: Ruht die Rente, solange sich der Berechtigte in Schutzhaft befindet? In: Deutsche Invaliden-Versicherung, 6(1934)3, 39 - 40; derselbe: Schutzhaft und Sozialversicherung. In: Volkstümliche Zeitschrift für die gesamte Sozialversicherung, 43(1937)13, 185 - 187. Durch einen Erlaß des Reichsarbeitsministers vom Oktober 1939 wird ein entsprechendes Ruhen verfügt; vgl.: Bonz, Hans-Jörg: Für Staatsfeinde...a.a.O.(=Anm. 650), 526. Spiegelbildlich zu diesen sozialrechtlichen Diskriminierungen der Gegner des Nationalsozialismus verhalten sich die Privilegierungen der Anhänger der NS-Bewegung; vgl. dazu z.B. das „Gesetz über die Versorgung der Kämpfer für die nationale Erhebung“ vom 27. Februar 1934 (RGBl. I 1934, 133); vgl. als Erläuterung: Immand, Gerhard: Neues Recht. In: Die Deutsche Ortskrankenkasse, 21(1934)9, 275 - 276; der Verfasser bemerkt, die Begründung dieses Gesetzes zitierend: „Das Deutsche Volk schulde ihnen (den „Kämpfern für die nationale Erhebung“, E.R.) für ihre heroischen Leistungen in gleicher Weise Dank und Anerkennung wie den Volksgenossen, die im Kriege Gesundheit und Leben für das Vaterland geopfert haben.“ (S. 275). Die Versorgung dieser „Kämpfer“ entspricht im Wesentlichen der Versorgung der Kriegsbeschädigten und ihrer Hinterbliebenen. Instruktive Fälle zum Ruhen der Rente wegen „staatsfeindlicher Betätigung“ enthalten die folgenden Akten: BA Koblenz. R 89 Reichsversicherungsamt, Nr. 3406, 3407, 3408.

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Nach längerer Vorbereitungszeit651 ergeht des „Gesetz über den Ausbau der Rentenversicherung“ vom 21. Dezember 1937.652 Es wird in der Presse als „bedeutendster gesetzgeberischer Akt“ auf diesem wichtigen Gebiet in der „gesamten Nachkriegszeit“,653 als „endgültige Sanierung“ und „zeitgemäße Verbesserung“ der sozialen Rentenversicherung,654 als „soziale Tat von ganz besonderer Größe“, als „sozialpolitische Großtat des Führers“ gefeiert.655 Staatssekretär Johannes Krohn betont auf einer Pressebesprechung: „Arbeiter, Angestellte und jetzt auch die Bergarbeiter haben wieder die Gewißheit, daß sie im Alter und in der Not nicht verlassen werden.“656 Es fehlt auch nicht der eher „demaskierende“ Hinweis, daß dieses „grosse Sozialwerk“, nach der Bezahlung der Wochenfeiertage durch eine Anordnung des „Beauftragten für den Vierjahresplan“657 ein weiteres, ein zweites bedeutendes Weihnachtsgeschenk sei.658 Daß dieses lange angekündigte, weit hinter den Möglichkeiten einer finanziell überaus „konsolidierten“ Rentenversicherung zurückbleibende Projekt in hohem Maße auch legitimatorischen Zielen dienen soll, ergibt sich nicht nur aus den „Propagandaartikeln“ in der Presse und aus dem Verabschiedungstermin kurz vor Weihnachten. Es ergibt sich auch aus der Präambel des Gesetzes. Das „Ausbaugesetz“ verstärkt die Finanzen der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten durch bedeutende Beitragsübertragungen aus der Arbeitslosenversicherung auf die Invaliden- und Angestelltenversicherung. Darüber hinaus verpflichtet sich das Reich zu einer „Sicherstellung der Rentenversicherung“. Die Knappschaftsversicherung wird durch Reichsmittel, Gelder der Arbeiterrentenversicherung und Gelder der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte und weitere Maßnahmen finanziell besser gestellt. Das „Ausbaugesetz“ bringt „...für die Bergarbeiter ... eine wesentliche große Er le ich te rung im Be itr ag und eine wesentliche E rhöhung ihr er Pen s ion en.“ 659 Sollen diese Maßnahmen die Arbeitsfreude der für die Aufrüstung wichtigen Bergleute berühren, so soll ein anderer Komplex von Maßnahmen bevölkerungspolitischen Zielen dienen. Den versicherten Arbeiterinnen soll die Heirat dadurch erleichtert werden, daß ihnen in diesem Fall ihre eigene Beitragshälfte erstattet wird. Die Waisenrente und der Kinderzuschuß werden bei Schulbzw. Berufsausbildung und Gebrechlichkeit bis zum vollendeten 18. Lebensjahr weiter gewährt und der Kinderzuschuß zur Rente an Kinderreiche wird von 90 Reichsmark auf 120 Reichsmark jährlich erhöht. Der Witwe eines Arbeiters wird eine Witwenrente auch dann gewährt, wenn sie zwar nicht invalide ist, aber mehr als drei Kinder zu erziehen hat. Bereits im Zusammenhang mit der Wehrgesetzgebung des Jahres 1935 sind Anstrengungen mit dem Ziel unternommen worden, den gedienten Soldaten bei der Rückkehr in 651 Vgl. dazu die Hinweise bei: Geyer, Martin H.: Die Reichsknappschaft. München 1987, 319 ff. 652 Vgl.: RGBl. I 1937, 1393; vgl.: Dobbernack: Das Gesetz über den Ausbau der Rentenversicherung. In: Die Ortskrankenkasse, 25(1938)1, 3 - 8; mit entsprechender propagandistischer Aufmachung: Das Gesetz über den Ausbau der Rentenversicherungen. In: Arbeitertum, 7(1938)20, 3 - 4. 653 Vgl.: Die Rentenversicherung. In: Kölnische Zeitung. Abendblatt, Nr. 650 vom 23. 12. 1937, 1 - 2, hier: 1. 654 Ähnlich: Höhere Leistungen ohne Beitragserhöhung. In: Frankfurter Zeitung. Zweites Morgenblatt Nr. 653 vom 23. 12. 1937, 1. 655 So die zweite Titelzeile des Beitrages: Die Gesundung der Sozialversicherung. In: Völkischer Beobachter Nr. 358 vom 24. 12. 1937, 2. 656 Die Bedeutung der Reform. In: Frankfurter Zeitung. Zweites Morgenblatt. Nr. 653 vom 23. 12. 1937, 2; weiteres Pressematerial enthält: BA Abt. Potsdam. R 8034 II. Reichslandbund. Pressearchiv, Nr. 5729. 657 Gemeint ist die bereits erwähnte „Anordnung zur Durchführung des Vierjahresplanes über die Lohnzahlung an Feiertagen“ vom 3. Dezember 1937. 658 Vgl.: Ein grosses Sozialwerk. In: Berliner Tageblatt, 66. Jahrgang, Nr. 605/606 vom 24. 12. 1937, 4. 659 Ausbau der Rentenversicherung. In: Kölnische Zeitung. Morgenblatt. Nr. 649 vom 23. 12. 1937, 1.

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den Zivilberuf keine Nachteile entstehen zu lassen. Ein Vorrang bei der Arbeitsplatzbesetzung vor sonstigen Bewerbern bei „gleicher Leistung“, eine besondere „Arbeitsfürsorge“, neue Bestimmungen zur Unterstützung der Wehr- und Arbeitsdienstpflichtigen existieren bereits.660 Bald erheben sich Stimmen, den Wehrdienst noch stärker als zuvor auch sozialversicherungsrechtlich zu honorieren.661 Auch dieser Schritt wird mit dem „Ausbaugesetz“ vom 21. Dezember 1937 vollzogen. Zur „Hebung der Wehrfreudigkeit“ und zur „Fundierung“ der „wiedererrungenen Wehrfreiheit“ wird die Zeit des Wehr- und des Arbeitsdienstes auf die Wartezeiten entsprechend angerechnet und es werden Steigerungsbeträge veranschlagt. Teilnehmern am Ersten Weltkrieg werden nunmehr, auch wenn sie in der Rentenversicherung der Arbeiter versichert sind, Steigerungsbeträge für die Zeit des Kriegsdienstes gewährt. Ruhensvorschriften werden zugunsten der Kriegsbeschädigten abgemildert, „...dadurch wird für einen erheblichen Teil von ihnen eine Erhöhung der Renten erreicht.“662 Auch darüber hinaus werden durch das „Ausbaugesetz“ Ruhensvorschriften gemildert und die Erhaltung der Anwartschaft wird u.a. durch die Einführung der „Halbdeckung“ vereinfacht. Übertragungen von Geldern der Arbeitslosenversicherung auf ein Sondervermögen des Reiches sollen der Erweiterung der Kinderbeihilfen dienen. Das Gesetz dehnt das Recht zur Selbstversicherung in der Invaliden- und Angestelltenversicherung auf alle nichtversicherungspflichtigen „deutschen Staatsangehörigen“ bis zum vollendeten 40. Lebensjahr aus, egal ob sich diese im In- oder Ausland aufhalten. Eine mögliche „Unterversicherung“ in der Invalidenversicherung wird durch die Einführung einer neuen Pflichtlohnklasse abgemildert.663 Insgesamt ergibt sich auch unter Veranschlagung dieser Verbesserungen, mit Blick auf die „rein theoretisch“ gegebenen Möglichkeiten, keine sehr positive Bilanz der Entwicklung der Leistungen. Die Tendenz der Anhäufung großer Vermögensmassen setzt sich sogar beschleunigt fort.664 Von großer und paradigmatischer Bedeutung ist die Tatsache, daß die große Gruppe der selbständigen Handwerker (am 1. April 1938 existieren 1,55 Millionen Handwerksbetriebe) in die Pflichtversicherung aufgenommen wird. Dies geschieht durch das „Gesetz über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk“ vom 21. Dezember 1938,665 das in § 1 bestimmt: „Die Handwerker werden für den Fall der Berufsunfähigkeit und des Alters sowie zugunsten der Hinterbliebenen versichert. Sie werden der Rentenversicherung der Angestellten angeschlossen“. Dieses wiederum bewußt in die Vorweihnachtszeit plazierte Gesetz stelle das herrlichste Geschenk dar, das im letzten Jahrhundert dem deutschen Handwerk jemals gemacht worden sei, tönt der „Völkische Beobachter“ vom 7. Januar

660 Vgl. z.B.: Lessing, Emil: Wehrmacht und Sozialpolitik. In: Monatshefte für N.S.-Sozialpolitik, 3(1935/36), 468 - 477; Lehmann, Gerhard: Wehrpflicht und Arbeitsverhältnis. In: Deutsche Wirtschafts-Zeitung, 33(1936)43, 997 - 998; Vollweiler, Hellmut: Wehrdienst, Arbeitsrecht und Sozialversicherung. In: Die Deutsche Volkswirtschaft, 5(1936)5, 146 - 148; vgl. den Erlaß des Reichs- und Preußischen Arbeitsministers II a 7532/35 vom 13. August 1935. In: Amtliche Nachrichten für Reichsversicherung, (1935)8, 306. 661 Vgl.: Bothe, F.: Allgemeine Wehrpflicht und Rentenversicherung. In: Volkstümliche Zeitschrift für die gesamte Sozialversicherung, 41(1935)21, 389 - 392. 662 Ausbau...a.a.O.(=Anm. 659), 1. 663 Vgl. in diesem Zusammenhang ausführlich: Nitsche, Michael: Die Geschichte des Leistungs- und Beitragsrechts der gesetzlichen Rentenversicherung von 1889 bis zum Beginn der Rentenreform. Frankfurt a.M. 1986, 224 ff. 664 Vgl. die Satistik in: Statistisches Handbuch...a.a.O.(=Anm.163), 537. 665 Vgl.: RGBl. I 1938, 1900.

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1939.666 Für diese Gruppe der Selbständigen, die sich lange für eine derartige Regelung engagiert hatte, werden generell Befreiungsmöglichkeiten von der Versicherungspflicht durch den Abschluß eines Versicherungsvertrages mit einer öffentlichen oder privaten „Lebensversicherungsunternehmung“ vorgesehen. Die „Verordnung zur Durchführung und Ergänzung des Gesetzes über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk“ vom 13. Juli 1939667 regelt vor allem das genaue Verhältnis zwischen „Reichsversicherung“ und Lebensversicherung. Weitere Verordnungen ergehen während des Zweiten Weltkrieges.668 Eine Versicherungspflichtgrenze kennt das Handwerkerversicherungsgesetz nicht, da das Handwerkereinkommen großen Schwankungen unterliegen kann. Die „Altersversorgung“ für das Handwerk ist für viele Nationalsozialisten auch ein Schritt auf dem Weg zur Verwirklichung des Parteiprogramms der NSDAP, das in seinem Punkt 15 bekanntlich einen „großzügigen Ausbau der Altersversorgung“ fordert bzw. verspricht. Eine ganz besondere Entwicklung nimmt die Arbeitslosenunterstützung. Die Höhe dieser Unterstützung wird erst nach Erreichen eines hohen Beschäftigungsstandes durch die „Verordnung über die Höhe der Arbeitslosenunterstützung“ vom 3. Juni 1937669 neu geregelt und in Abhängigkeit von Ortsklassen, Lohnklassen, Hauptunterstützung und Familienzuschlägen gestuft. Sie wird als „versicherungsmäßige Arbeitslosenunterstützung“ ohne Prüfung der Bedürftigkeit nur noch 36 Tage gewährt. Die bald darauf ergehende „Verordnung über die unterstützende Arbeitslosenhilfe“ vom 22. Dezember 1937670 bestimmt sodann überraschend: „Versicherungsmäßige Arbeitslosenunterstützung wird ohne Beschränkung der Bezugsdauer gewährt“. Sie sieht aber doch gewisse Ausnahmen vor. Mit diesen Bestimmungen soll eine exklusive und dauerhafte „Betreuung“ der Arbeitslosen durch die Arbeitseinsatzverwaltung gesichert werden. In der „Verordnung über Arbeitslosenhilfe“ vom 5. September 1939671 wird schließlich festgelegt: „Die Arbeitslosenunterstützung ist von der Bedürftigkeit des Arbeitslosen abhängig.“ Damit ist vor dem Hintergrund extremer Arbeitskräfteknappheit der Versicherungsgedanke vollkommen zugunsten des Fürsorgeprinzips beseitigt. Dementsprechend sind auch Beitragszahlung und Erfüllung der Anwartschaft nicht mehr Voraussetzung des Unterstützungsanspruchs. Es kommt nur noch auf unfreiwillige Arbeitslosigkeit, Verfügbarkeit für den Arbeitseinsatz und Bedürftigkeit an. Große Bedeutung kommt diesen Vorschriften nicht mehr zu, da der Arbeitsmarkt völlig leergefegt ist. Zum „System“ der Begünstigung wehr- und arbeitsdienstpflichtiger Menschen zählt in Fortsetzung teilweise schon zuvor bestehender Regelungen eine Förderung nach dem „Gesetz über die Arbeitslosenunterstützung nach Wehr- und Arbeitsdienst“ vom 30. September 1939.672 Auch die „Reichsversicherung“ unterliegt bereits vor dem Beginn des Krieges dem Prozeß der territorialen Ausdehnung. Durch die „Verordnung über die Überleitung der

666 Zit. nach: Wankelmuth, Friedrich: Gesetz über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk vom 21. Dezember 1938. Kommentar. München und Berlin 1939, V. 667 Vgl.: RGBl. I 1939, 1255. 668 Vgl.: Peters, Horst: Die Geschichte der sozialen Versicherung...a.a.O.(=Anm. 571), 120. 669 Vgl.: RGBl. I 1937, 616. 670 Vgl.: RGBl. I 1937, 1410. 671 Vgl.: RGBl. I 1939, 1674. 672 Vgl.: RGBl. I 1939, 1049; vgl. als Kommentierungen: Bechtold, R.: Das Gesetz über die Arbeitslosenunterstützung nach Wehr- und Arbeitsdienst vom 30. 9. 1937 (RGBl. I S. 1049) und seine Bedeutung für die Fürsorgeverbände. In: Zeitschrift für das Heimatwesen, 42(1937)30, 421 - 424; Unterstützung nach Wehr- und Arbeitsdienst. In: Der Gemeindetag, 31 (1937)22, 641 - 644.

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Sozialversicherung des Saarlandes“ vom 15. Februar 1935673 wird festgelegt, daß, bei bestimmten Ausnahmemöglichkeiten, ab dem 1. März 1935 für die Sozialversicherung des Saarlandes das Reichsrecht gilt. Durch diese Regelung wird die Sozialversicherung des Saarlandes, die bis zu diesem Zeitpunkt wesentliche Strukturmerkmale der deutschen Tradition bewahrt hat und auch finanziell mit der Sozialversicherung Deutschlands verknüpft war,674 dem NS-Regime unterworfen mit den entsprechenden personellen, leistungsrechtlichen, und organisatorischen Folgen. Zu den organisatorischen Folgen gehört, daß die „Saarknappschaft“ und die „Versicherungsanstalt für Angestellte des Saargebietes“ zugunsten der reichsdeutschen Institutionen als selbständige Versicherungsträger entfallen. Durch Erlaß des Reichsarbeitsministers werden ab dem 1. Januar 1941 die „Landesversicherungsanstalt Pfalz“ und die „Landesversicherungsanstalt für das Saarland“ zur „Landesversicherungsanstalt Saarpfalz“ mit Hauptsitz in Saarbrücken vereinigt.675 Besondere Überleitungsvorschriften sind für die bei den Gemeinden angesiedelte Arbeitslosenunterstützung nötig, da das AVAVG im Saargebiet nicht eingeführt wurde. Die „Verordnung über die Überleitung der Arbeitslosenversicherung im Saarland“ vom 16. Februar 1935676 mit ihren Durchführungsvorschriften löst dieses Problem. Unter Erhaltung von saarländischen Zusatzversorgungseinrichtungen wird durch die „Verordnung über die hüttenknappschaftliche Versicherung im Saargebiet“ vom 13. Mai 1938677 eine Hüttenknappschaft für das Saargebiet errichtet. Die „Heimkehr“ Österreichs in das Deutsche Reich wird unmittelbarer Anlaß zu einer sozialversicherungspolitischen Aktion. Durch die bereits erwähnte „Verordnung über die Einführung sozialrechtlicher Vorschriften im Land Österreich“ vom 26. März 1938 wird u.a. die „Anwendung“ der reichsrechtlichen Vorschriften über die „Rentenversicherung der Arbeiter“ vorgesehen. Es handelt sich bei dieser Maßnahme um einen propagandistischen Coup, der in die Umbruch- und Machteroberungsphase plaziert wird. Eine dem deutschen „Modell“ vergleichbare Rentenversicherung der Arbeiter existiert zu diesem Zeitpunkt in Österreich nicht, die Altersfürsorgerenten sind unzulänglich. Entscheidend wird die „Verordnung über die Einführung der Sozialversicherung im Lande Österreich“ vom 22. Dezember 1938. Diese Verordnung führt die Reichsversicherungsordnung, das Angestelltenversicherungsgesetz, das Reichsknappschaftsgesetz und das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in das bald in die Rüstungskonjunktur einbezogene Österreich, in die „Ostmark“ ein.678 Nicht ohne daß es darüber zu internen Auseinandersetzungen kommt, geht damit die österreichische Sozialversicherung unter. Tiefgreifende Unterschie673 Vgl.: RGBl. I 1935, 240; vgl. in diesem Zusammenhang: D.: Die Erklärung der Reichsregierung über die Sozialversicherung im Saargebiet nach der Rückgliederung. In: Die Reichsversicherung, 8(1934)1, 329 - 330; Durchführungsvorschriften ergehen am 18. 4. 1935 (RGBl. I 1935, 545), am 23. 8. 1935 (RGBl. I 1935, 1110) und am 29. 8. 1935 (RGBl. I 1935, 1122); vgl. auch: Grünewald: Deutsches Sozialversicherungsrecht im Saarland. In: Der Sozialversicherungs-Beamte, 3(1935)8, 174 - 178. 674 Vgl.: Die Wiedereingliederung der Sozialversicherung des Saargebietes in die Reichsversicherung. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, 16(1935), 19 - 21. 675 Vgl.: Chronik der Landesversicherungsanstalt Rheinland-Pfalz 1890 - 1987. Speyer 1987, 53; weitere juristische Details der Überleitung der saarländischen Sozialversicherung finden sich bei: Engel, Hans, Eckert, J.(osef): Die Reichsversicherungsgesetze in jeweils neuestem Stande. Zweiter Band. München o.J. (Loseblattsammlung mit Ergänzungslieferungen bis April 1943), Anlage Nr. 54. 676 Vgl.: RGBl. I 1935, 244. 677 Vgl.: RGBl. I 1938, 526; vgl. insgesamt: 10 Jahre Soziale Sicherung...a.a.O.(=Anm. 635), 22. 678 Vgl. zur Verordnung vom 22. Dezember 1938: RGBl. I 1938, 1912; vgl. auch die Durchführungsverordnung im RGBl. I 1939, 196. Eine umfangreiche Sammlung einschlägiger Rechtsquellen findet sich in der: Reichsversicherungsordnung. 36. Auflage. Stuttgart und Berlin 1940, Anhang IV, 508 ff.

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de auf dem Gebiete der Organisation, der versicherten Personenkreise, der Leistungen, des Beitragswesens sowie der Verfahrensvorschriften werden mit bestimmten Modifikationen zugunsten der deutschen Regelung „aufgehoben“. Wichtige Leitlinie dieser Umstellungen ist, daß die Versicherten, aus legitimatorischen Gründen, keine Schlechterstellung gegenüber der vergangenen österreichischen Regelung erfahren sollen.679 Verschiedene Faktoren, wie z.B. erhebliche Preissteigerungen, dennoch in Kraft tretende Leistungsverschlechterungen und niedrige Leistungsniveaus führen vor dem Hintergrund nationalsozialistischer Leistungsversprechen und der sozialpolitischen Propaganda gleichwohl zu fortlaufenden Enttäuschungen und Unzufriedenheiten mit der in der „Ostmark“ eingeführten deutschen Sozialversicherung.680 Unmittelbare sozialversicherungsrechtliche Folgen hat auch die Abspaltung der „sudetendeutschen Gebiete“ von der Tschechoslowakei. Eine „Verordnung über die vorläufige Durchführung der Reichsversicherung in den sudetendeutschen Gebieten“ vom 12. Oktober 1938681 setzt rückwirkend zum ersten Oktober 1938, d.h. unmittelbar mit der „Eingliederung“, reichsdeutsches Sozialversicherungsrecht in Kraft. Diese Verordnung und ein darauf bezogener Erlaß hätten, so die Auffassung eines zeitgenössischen Sozialversicherungsfachmannes, „...die Abtrennung der Sozialversicherung in den sudetendeutschen Gebieten von der tschecho-slowakischen Sozialversicherung und ihre Überleitung in die Reichsversicherung schnell, zwar nur vorläufig, aber unverkennbar mit dem Ziel sauberer territorialer, organisatorischer, finanzieller und nicht zuletzt völkischer Trennung eingeleitet.“682 Die „Zweite Verordnung über die Durchführung der Reichsversicherung in den sudetendeutschen Gebieten“ vom 9. Februar 1939 regelt weitere Details.683 Besondere Schwierigkeiten ergeben sich aus der Tatsache, daß die übernommenen Institutionen Teile des tschechoslowakischen Sozialversicherungssystems gewesen sind und daß sie aus diesem System ausgegliedert werden müssen. An dem Prozeß der Abwicklung der tschechoslowakischen Sozialversicherung sind „...das Reich, die Slowakei, Ungarn und das Protektorat als Nachfolgestaaten beteiligt.“684 Ebenfalls noch vor der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges wird, wie bereits erwähnt, durch das „Gesetz über die Wiedervereinigung des Memellandes 679 Vgl. neben den Rechtsquellen die folgenden zeitgenössischen Publikationen: Kadgiehn, Fritz: Die Einführung der deutschen Sozialversicherung in Österreich. In: Volkstümliche Zeitschrift für die gesamte Sozialversicherung, 45(1939)3/4, 33 - 36; derselbe: Die Durchführung der Sozialversicherung im Lande Österreich und in den sudetendeutschen Gebieten. In: Ebenda, Heft 7, 89 - 92; Heller: Die Einführung der Sozialversicherung des Altreichs in der Ostmark. In: Deutsche Rentenversicherung, 11(1939)3, 39 - 44; Padowetz, Theodor: Einführung der deutschen Sozialversicherung im Lande Oesterreich. In: Versicherungs-Archiv, 9(1938), 425; Kurth, Bruno: Die Sozialversicherung im deutschen Österreich. In: Volkstümliche Zeitschrift für die gesamte Sozialversicherung, 44(1938)8, 105 - 108. 680 Vgl.: Talos, Emmerich: Sozialpolitik 1938...a.a.O.(=Anm. 308), 125 ff.; relativ ausführlich zur Sozialversicherungspolitik in Österreich 1938 bis 1945 auch: Hofmeister, Herbert: Landesbericht Österreich. In: Köhler, Peter A., Zacher, Hans F. (Hg.): Ein Jahrhundert Sozialversicherung...a.a.O.(=Anm. 586) , 445 - 730, hier: 655 ff. 681 Vgl.: RGBl. I 1938, 1437. 682 Bretschneider: Der Erlaß des Reichsarbeitsministers vom 25. Mai 1939 über die vorläufige Durchführung der Reichsversicherung in den sudetendeutschen Gebieten. In: Die Berufsgenossenschaft, 54(1939)17, 245 - 247, hier: 245. 683 Vgl.: RGBl. I 1939, 181; vgl. zur „Reichsversicherung“ in den „sudetendeutschen Gebieten“: Erbler, Hans: Die Sozialversicherung der Sudetendeutschen. In: Zentralblatt für Reichsversicherung und Reichsversorgung, (1938)22, 421 - 427; Künstler, H.: Die Durchführung der Reichsversicherung in den in das Land Bayern eingegliederten ehemals sudetendeutschen Gebietsteilen. In: Blätter für öffentliche Fürsorge und soziale Versicherung, 25(1940)22, 189 - 194; Riedel, Adolf: Die Regelung der Invalidenversicherung der Arbeiter in den sudetendeutschen Gebieten. In: Zentralblatt für Reichsversicherung und Reichsversorgung, 11(1940)21/22, 201 - 206. 684 10 Jahre Soziale Sicherung...a.a.O.(=Anm. 635), 23.

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mit dem Deutschen Reich“ vom 23. März 1939 das gesamte Reichsrecht mit Wirkung vom 1. Mai 1939 im Memelgebiet in Kraft gesetzt. Dieser Vorgang umfaßt auch das Sozialversicherungsrecht. Einzelheiten regelt die „Verordnung zur Durchführung der Krankenversicherung im Memelland“ vom 9. Mai 1939685 und die „Verordnung über die Einführung der Reichsversicherung im Memelland“ vom 17. August 1939.686 Wiederum sollen aus legitimatorischen Gründen Leistungsverschlechterungen verhindert werden und bestimmte Leistungsverbesserungen in Kraft treten. Die Umgestaltung der Sozialversicherung im Memelland zieht bedeutende organisatorische Folgen nach sich. Der Einheitssozialversicherungsträger, die „Landesversicherungsanstalt des Memelgebietes“, wird mit Wirkung vom 30. April 1939 aufgelöst. Die Zweige und die zerklüftete Organisationsstruktur der „klassischen Sozialversicherung“ werden übertragen. Überwiegend geschieht dies durch Erweiterungen der räumlichen Zuständigkeit von Sozialversicherungsinstitutionen des „Altreichs“. Mit dem Recht des „Altreichs“ werden auch hier die Elemente einer „völkischen Sozialpolitik“ in und im Umfeld der Sozialversicherung übernommen, es handelt sich also auch in diesem Falle nicht um einen rein technischen Vorgang, sondern um einen erheblichen Kontinuitätsbruch.

4.2 Die Zeit des Zweiten Weltkrieges 4.2.1 Die „Erb- und Rassenpflege“ Mit dem Überfall der deutschen bewaffneten Macht auf Polen am 1. September 1939 beginnt der Zweite Weltkrieg, der blutigste und verheerendste Krieg, den die Menschheit bis auf den heutigen Tag erlebt hat. Das „Dritte Reich“ beginnt diesen Krieg auf der Basis einer bereits intensiv vorbereiteten und ausgebauten Rüstungs- bzw. „Wehrwirtschaft“, einer auf diesen Aggressionsakt vorbereiteten Armee, „fortgeschrittener“ militärstrategischer und militärtechnischer Kenntnisse und ihrer Anwendung.687 Daß dieser im Osten eröffnete Krieg ein ganz besonderer, ein „Rassen- und Raumkrieg“ werden soll, hätte dem aufmerksamen Beobachter bereits an diesem Tag am Inhalt eines „Tagesbefehls“ der Oberbefehlshaber der drei Wehrmachtsteile deutlich werden können. Als Kampfziel wird „...die dauerhafte Sicherung deutschen Volkstums und deutschen Lebensraumes gegen fremde Uebergriffe und Machtansprüche“ ausgegeben.688 Schon am Vormittag des 1. September 1939 erklärt Hitler die „Freie Stadt Danzig“ als in das Deutsche Reich eingegliedert. Wie selbstverständlich als ein Akt der „Verteidigung“ gegen „polnische Angriffshandlungen“ und als Kampf zur „Herstellung eines Friedens“ gegenüber der deutschen Bevölkerung legitimiert, begleitet Hitler den Beginn dieses Krieges mit Drohungen, Prophezeiungen und 685 Vgl.: RGBl. I 1939, 896; vgl. auch: 10 Jahre Soziale Sicherung...a.a.O.(=Anm. 635), 23. 686 Vgl.: RGBl. I 1939, 1426; zur Geschichte der Sozialversicherung des Memelgebietes von der „Abtrennung“ bis zur „Rückgliederung“ vgl.: Matzies: Die Unfallversicherung im Memelgebiet. In: Die Berufsgenossenschaft, 54(1939)9, 125 - 126; Johnke, Lothar: Die Sozialversicherung des Memelgebiets. In: Zentralblatt für Reichsversicherung und Reichsversorgung, (1939)12, 223 - 225. 687 Dabei spielt der Blick auf und die Analyse des Ersten Weltkrieges eine erhebliche Rolle. Vgl. dazu: Deist, Wilhelm: Die Reichswehr und der Krieg der Zukunft. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen, (1989)1, 81 - 92. 688 Dieser „Tagesbefehl“ ist abgedruckt z.B. bei: Thürauf, Ulrich (Hg.): Schulthess' Europäischer Geschichtskalender. 1939. München 1940, 163; zu den äußeren Daten und grundlegenden Aspekten des Krieges vgl. z.B.: Hillgruber, Andreas, Dülffer, Jost (Hg.): PLOETZ. Geschichte der Weltkriege. Freiburg, Würzburg 1981, 99 ff.

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Anspielungen an den Ersten Weltkrieg: Das Jahr 1918 werde nicht wiederkehren, das Deutsche Reich des Jahres 1939 sei nicht mehr das Deutschland von 1914, der Kanzler des „heutigen“ Reiches heiße nicht mehr Bethmann Hollweg.689 Infolge der Konzentration der machtvollen Heeres- und Luftwaffenverbände im Osten und der Passivität von Großbritannien und Frankreich, die dem Reich am 3. September zwar den Krieg erklären, aber in ihn nicht wirksam eingreifen, gelingt die Eroberung Polens innerhalb weniger Wochen. Infolge der Kampfhandlungen und des Zusatzabkommens zum deutsch-sowjetischen „Grenz- und Freundschaftsvertrages“ vom 28. September 1939 erfolgt zwischen diesen beiden weltanschaulichen und politischen Antagonisten eine Grenzfestlegung, die eine Auflösung Polens beinhaltet. In einem Erlaß vom 8. Oktober 1939690 gliedert Hitler, über Westpreußen und Posen hinaus, polnische Gebiete (u.a. Lodz, Ciechanom, Suwalki) in das „Großdeutsche Reich“ ein. Zwischen diesen „Eingegliederten Ostgebieten“ und den Gebieten, die „vertragsgemäß“ von sowjetischen Truppen besetzt werden, entsteht das „Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete“ unter Hans Frank als „Generalgouverneur“ mit Sitz in Krakau. Damit hört der polnische Staat auf zu existieren und das deutsch-sowjetische Interessenbündnis auf der „Basis gemeinsamer Beutepolitik“ hat sich „bewährt“.691 Hiermit sind die Ausgangs- und anfänglichen Rahmenbedingungen der deutschen staatlichen Sozialpolitik skizziert. Spätere Etappen des Kriegsverlaufs mit Rückwirkungen auf die staatliche Sozialpolitik werden an gegebener Stelle nachgezeichnet. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich so etwas wie eine „normale“, primär auf das „Altreich“ (häufig auch Österreich mitumfassende) und auf Deutsche bezogene Kriegssozialpolitik und auch eine solche mit explizitem „Auslandsbezug“. Die normale Kriegssozialpolitik reagiert vor allem auf die „menschenökonomischen“ Bedarfe und Bedürfnisse der nun zur Kriegswirtschaft mutierenden „Wehrwirtschaft.“ Sie erfüllt aber auch erneut und weiterhin legitimatorische Funktionen, folgt weltanschaulichen Vorgaben und das große Projekt des Nationalsozialismus, die „Erb- und Rassenpflege“, findet eine spezifische Fortführung. Für bestimmte Gebiete der staatlichen Sozialpolitik ist jene viel diskutierte und kritisierte „Zweiteilung“ der Wirtschaftsgeschichte des Zweiten Weltkrieges von Bedeutung, nach der Deutschland zunächst über zwei Jahre an einer Strategie der begrenzten „Breitenrüstung“ festhält und der Ausstoß von Kriegsgerät von 1939 bis Anfang 1942 auf annähernd gleichem Niveau verharrt. Aus innenpolitischen Gründen wird in diesem Zeitraum die zivile Produktion nicht radikal eingeschränkt. Eine Ausbeutungsstrategie gegenüber den besetzten und beherrschten Ländern erleichtert diese (kriegs-)wirtschaftliche Entwicklungstendenz.692 Diese Zusammenhänge und die Tatsache, daß sodann unter dem Rüstungsminister Albert Speer eine neue, viel intensivere Epoche der Kriegswirtschaft eingeleitet wird, ist nicht ohne Auswirkungen auf die staatliche Sozialpolitik, insbesondere auf die Arbeitseinsatzpolitik geblieben. Der Krieg gebiert in seinem Verlauf eine ungeheure Fülle neuer Staats- und Verwaltungsorganisationen, die auch oder ausschließlich sozialpolitische Aufgaben übernehmen. Schon bestehende Behördenapparate unterliegen einem rasanten Wandel und teilweise auch 689 Vgl.: Thürauf, Ulrich (Hg.): Schulthess'...a.a.O.(=Anm. 688), 172, 174. 690 Vgl.: RGBl. I 1939, 2077. 691 Vgl.: Bracher, Karl Dietrich: Die Krise Europas 1917 - 1975. O.O., o.J., 189. 692 Vgl. dazu: Overy, Richard J.: „Blitzkriegswirtschaft“? Finanzpolitik, Lebensstandard und Arbeitseinsatz in Deutschland 1939 - 1942. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 36(1988)3, 379 - 435.

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einem Bedeutungsverlust. Das betrifft vor allem die sozialpolitisch relevante „klassische“ Ministerialbürokratie. Auffällig ist der nun rapide verlaufende Machtverlust des Reichskabinetts in der Rechtsetzung und die Ausschaltung des Ministerkollegiums aus der Führung der Gesamtpolitik des Reiches.693 Auch auf dem Gebiet der staatlichen Sozialpolitik entfaltet sich ein mitunter planlos wirkendes, polykratisches Institutionengefüge von alten und neuen Machtzentren und Verwaltungsträgern, dem aber eine gewisse, mitunter auch hohe Zielstrebigkeit und Effektivität bei der Verfolgung kriegs- und regimetypischer Ziele nicht abgesprochen werden darf. Wie gestaltet sich unter all diesen Bedingungen die Entwicklung der staatlichen Sozialpolitik? Am Anfang der folgenden Darstellung sollen die Maßnahmen stehen, die keinen bzw. wenig Bezug zu „angeschlossenen“ oder eroberten Gebieten haben, die sich also weder auf die „neuen Reichsgebiete“ noch auf den weiteren europäischen Raum beziehen, noch primär auf „fremdes Volkstum“. Es geht also zunächst vor allem um einen Aufriß der Gestaltungsformen der „deutschen Sozialordnung“ auf dem Gebiet des „Altreichs“. Auf dem Gebiet der „Erb- und Rassenpflege“ des „Altreichs“ sind zu Beginn des Zweiten Weltkrieges die grundlegenden rechtlichen Instrumente, Verfahrensweisen und Institutionen bekanntlich bereits geschaffen und wirksam. Eine „Verordnung zur Ergänzung der Ersten Ausführungsverordnung zum Blutschutzgesetz“ vom 16. Februar 1940694 macht generell den Mann für das mit drastischen Strafen bewehrte „Verbrechen der Rassenschande“ verantwortlich. Diese Verordnung signalisiert zugleich, daß die Sondergesetzgebung gegen Juden in ununterbrochener Folge fortgesetzt wird.695 Eine „Kinderbeihilfen-Verordnung“ vom 9. Dezember 1940696 gewährt Kinderbeihilfen für das dritte und jedes weitere minderjährige Kind unter der Voraussetzung, daß der Haushaltsvorstand „deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger“ ist. Die Kinder müssen „deutschen oder artverwandten Bluts“ sein. Ein Regierungsgesetz vom 28. Februar 1941 dient der Erhöhung der Einnahmen des Sondervermögens des Reichs für Ehestandsdarlehen und Kinderbeihilfen.697 Dieses Gesetz ergeht bereits in einer Situation, in der der auch „nach innen“ zerstörerisch wirkende Krieg die Zahl der Eheschließungen, der „Lebendgeborenen“ und der Ehestandsdarlehen teilweise deutlich absinken läßt.698 Es ist die „Zweite Verordnung zur Durchführung des Ehegesundheitsgesetzes“ vom 22. Oktober 1941699, die die Pflicht zur Vorlage einer „Eheunbedenklichkeitsbescheinigung“ statuiert und damit die Vorschriften über das „Ehetauglichkeitszeugnis“ verschärft, welches ursprünglich nur bei „begründeten Zweifeln“ vorgelegt werden sollte.700 Die Amtszeit der ebenfalls zentral an der „Erb- und Rassenpflege“ beteiligten ärztlichen Mitglieder der Erbgesundheitsgerichte

693 Vgl. dazu: Hartmannsgruber, Friedrich (Bearb.): Die Regierung Hitler. Band II...Teilband 1...a.a.O.(=Anm. 75), XIII ff. 694 Vgl.: RGBl. I 1940, 394. 695 Die einschlägige Sammlung zählt vom 1. September 1939 bis zum 16. Februar 1945 insgesamt 525 antijüdische Rechtsquellen; Vgl.: Walk, Joseph (Hg.): Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Heidelberg, Karlsruhe 1981, 303 ff. 696 Vgl.: RGBl. I 1940, 1571; vgl. in diesem Zusammenhang auch: 10 Jahre Soziale Sicherung...a.a.O.(=Anm. 635), 92. 697 Vgl.: RGBl. I 1941, 115. 698 Vgl. die Tabelle bei: Frerich, Johannes, Frey, Martin: Handbuch der Geschichte...a.a.O.(=Anm. 387), 316; vgl. auch die Tabelle in: Statistisches Handbuch von Deutschland...a.a.O.(=Anm. 163), 47ff. 699 Vgl.: RGBl. I 1941, 650. 700 Vgl. auch: Ganssmüller, Christian: Die Erbgesundheitspolitik...a.a.O.(=Anm. 82), 141 ff.

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und Erbgesundheitsobergerichte wird im Krieg durch Verordnungen verlängert.701 Vor dem Hintergrund der Endkrise des „Dritten Reiches“ und der Mobilisierung der letzten „Kraftreserven“ wird auf Grund der entsprechenden Vorschrift des „Gesetzes zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 in Verbindung mit dem „Erlaß des Führers über den totalen Kriegseinsatz“ vom 25. Juli 1944 im Einvernehmen mit dem Reichsminister und Chef der Reichskanzlei, dem Leiter der Partei-Kanzlei und dem Generalbevollmächtigten für die Reichsverwaltung verordnet: „Die Erbgesundheitsobergerichte stellen ihre Tätigkeit bis auf weiteres ein. Für die Dauer der Einstellung entscheidet das Erbgesundheitsgericht endgültig.“702 In einer Situation, in der der deutsche Angriff auf die Sowjetunion kurz bevorsteht, in der neue Belastungen für die deutsche Bevölkerung durch massenhafte Einberufungen bereits erfolgt sind bzw. noch erfolgen, und in der sich die zerstörerischen Folgen dieses barbarischen Feldzuges nun im Reich bemerkbar machen, greift der „Beauftragte für den Vierjahresplan“ zu einer bevölkerungspolitischen Maßnahme. Mit einer Verordnung vom 12. Mai 1941 kann, um den langfristigen Einsatz von Hausgehilfinnen in kinderreichen Familien zu fördern, unter bestimmten Bedingungen eine „Ausstattungsbeihilfe“ gewährt werden, eine Regelung, die auch in den „eingegliederten Ostgebieten“ gelten soll.703 Hier sieht sich jedoch das Regime mit „fremdem Volkstum“ konfrontiert. Dementsprechend deutlich sind die rassistischen, die „volkstumspolitischen“ Grenzziehungen, die sich in einer Durchführungsverordnung des Reichsarbeitsministers vom 10. Juli 1941 finden.704 Die Beihilfe wird nur „deutschen Hausgehilfinnen“ gewährt, die in kinderreichen Haushaltungen (d.h. mindestens drei Kinder unter 14 Jahre) deutscher Staatsangehöriger tätig sind. Sie kann auch für die Tätigkeit in kinderreichen „volksdeutschen Haushaltungen“ gewährt werden. Sie wird aus den Mitteln der Arbeitslosenversicherung finanziert. Der an diesen Rechtsquellen bereits deutlich werdende Vorgang des Herausdefinierens „fremden Volkstums“ aus dem Leistungsangebot einer staatlichen Sozialpolitik, die grundsätzlich nur für „erwünschte“ Deutsche konzipiert ist, verbreitet sich nunmehr mit großer Geschwindigkeit in der Sozialrechtsordnung des „Dritten Reichs“. Das „Gesetz zum Schutze der erwerbstätigen Mutter (Mutterschutzgesetz)“ vom 17. Mai 1942, vom Muttertag jenes Jahres,705 ist ein weiteres Beispiel. Es wird am 2. Dezember 1941 vom Reichsarbeitsministerium während einer Ressortbesprechung vorgeschlagen und liegt am 10. Februar 1942 als Entwurf mit beigefügter Begründung dem „Chef der Reichskanzlei“ vor. Die Begründung läßt erkennen, daß dieses Gesetz am Anfang einer Gesetzgebung stehen soll, die das Ziel hat, die kriegsbedingte Berufstätigkeit der Ehefrau wieder einzuschränken und die Frauen wieder ganz ihrer Familie zuzuführen. In der gegenwärtigen Situation stehe jedoch die Aufgabe im Vordergrund, die im Erwerbsleben stehende Frau vor Gefahren für ihre „Mutterschaftsleistung“ zu schützen, einen ungestörten Schwangerschafts- und Ge701 Es handelt sich um die „Verordnung über die Verlängerung der Amtszeit der ärztlichen Mitglieder der Erbgesundheitsgerichte“ vom 13. November 1941 (RGBl. I 1941, 713) sowie um die gleichlautende Verordnung vom 4. Dezember 1942 (RGBl. I 1942, 675), die eine Verlängerung „bis auf weiteres“ beinhaltet. 702 Vgl. die „Siebente Verordnung zur Ausführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. November 1944 (RGBl. I 1944, 330). 703 Vgl. die „Verordnung über eine Ausstattungsbeihilfe für Hausgehilfinnen in kinderreichen Haushaltungen“ vom 12. Mai 1941 (RGBl. I 1941, 255). 704 Vgl.: RGBl. I 1941, 382. 705 Vgl.: RGBl. I 1942, 321; vgl. dazu: Schmidt, F.H.: Das Gesetz zum Schutze der erwerbstätigen Mutter. In: Deutsche Jugendhilfe, 34(1942/43), 92 - 100.

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burtsverlauf sicherzustellen, sowie das Stillen und die Pflege des Kindes zu gewährleisten.706 Das Gesetz betont, die „deutsche Frau“ könne ihre größte Leistung für die Volksgemeinschaft, die Geburt gesunder Kinder, nur vollbringen, „...wenn sie vor allen Schäden und Nachteilen vor und nach der Niederkunft behütet wird. Die Sorge für einen ausreichenden Schutz gilt allen deutschen Frauen. Vordringlich ist jedoch ein besonderer Schutz für die im Erwerbsleben stehende Mutter, die trotz erschwerter Lebensbedingungen dem Vaterlande Kinder schenkt.“ Dieses Gesetz, das ebenfalls in den „eingegliederten Ostgebieten“ gelten soll, faßt die üblichen Mutterschutzvorschriften (Beschäftigungssverbote, Kündigungsverbot, Stillzeiten, Wochen- und Stillgeld) zusammen, verbessert diese teilweise und möchte auch das Betreuungsangebot für Kinder ausgebaut sehen. Die Ausführungsverordnung zum Mutterschutzgesetz vom 17. Mai 1942707 erstreckt, ganz im Sinne einer Intervention des Reichsministerium des Innern und in Kooperation mit dem „Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums“, den Geltungsbereich aller Vorschriften zum Mutterschutz auf Frauen, die deutsche Staatsangehörige oder „deutsche Volkszugehörige“ sind. Juden werden (abgesehen von einem gewissen Mindestschutz für Erwerbstätige) ausdrücklich ausgenommen. Personen, die den rassenpolitischen Vorstellungen des „Reichsführer SS, Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums“ (Heinrich Himmler) entsprechen und entsprechende Einwanderinnen wiederum werden in den Schutz- und Leistungsbereich dieser Gesetzgebung einbezogen.708 Um nicht nur, wie im Mutterschutzgesetz von 1942 geschehen, die erwerbstätigen Frauen zu schützen und zu fördern, entsteht 1944 im Reichsministerium des Innern ein Entwurf eines Reichsgesetzes über „Mutterschaftshilfe“. Auch dieser nicht verabschiedete Entwurf gehorcht den bevölkerungs- und rassenpolitischen Vorgaben indem der § 1(1) bestimmt: „Die Land- und Stadtkreise gewähren deutschen Müttern auf Antrag Mutterschaftshilfe, wenn die Erbgesundheit der Eltern vom Gesundheitsamt festgestellt ist.“ Als Leistungen sind Hebammenhilfe, Pflegezuschuß, Stillgeld, Einkommensausgleich, Arbeitshilfe, ärztliche Behandlung und Arznei- und Hilfsmittel vorgesehen. Das Gesetz scheitert an den „Anforderungen des totalen Krieges“, die keine weitere Belastung der „ausgedünnten“ Administration zulassen. Zudem erscheint das Gesetz als im Krieg nicht „dringend erforderlich“.709 Nach der Kapitulation der 6. Deutschen Armee in Stalingrad, nachdem sich die Verwüstungen durch den anglo-amerikanischen Bombenkrieg bereits tief in die Städtelandschaften eingefressen haben, nachdem sich die Lebenslage und die Entwicklungsperspektiven der Bevölkerung durch Tod und Zerstörung, durch Einberufungen, Kriegsversehrungen und Vermißtmeldungen, durch nun doch sehr spürbare Einschränkungen der Lebenshaltung im Zeichen der Mobilisierung für den „totalen Krieg“ zunehmend verdüstern, erläßt das NS-Regime eine auf den 9. März 1943 datierte „Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie

706 Vgl. dazu: Bajohr, Stefan: Die Hälfte der Fabrik. Marburg 1979, 311 f.; über interne Auseinandersetzungen und die (ablehnende) Intervention des Führers der DAF, Robert Ley, informiert: Winkler, Dörte: Frauenarbeit im „Dritten Reich“. Hamburg 1977, 155 ff. 707 Vgl.: RGBl. I 1942, 324. 708 Einbezogen werden auch Frauen, die in Deutschland auf Grund eines freiwillig geschlossenen Arbeitsvertrages tätig sind. Dies geschieht durch Erlasse, die einem kriegspolitischen Opportunismus entspringen; vgl.: Bajohr, Stefan: Die Hälfte…a.a.O.(=Anm. 706), 312, Fußn. 68. 709 Vgl.: Scheur, Wolfgang: Einrichtungen und Maßnahmen der sozialen Sicherheit ...a.a.O. (=Anm. 334), 152 f.

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und Mutterschaft“.710 Diese Verordnung des „Ministerrats für die Reichsverteidigung“ möchte die Familie bzw. Mutterschaft durch eine Umprägung, Ergänzung und Verschärfung von Strafvorschriften vor dem Verfall retten und die Reproduktion der Bevölkerung durch die nachdrückliche Kriminalisierung jener Handlungen sicherstellen, die die „Lebenskraft des deutschen Volkes beeinträchtigen“. Dabei wird durchaus gesehen, daß Krisen des Familienlebens nicht selten durch eine jahrelange Trennung der „Ehegatten“ als Folge der Einziehung des Ehemanns zum Wehrdienst geradezu heraufbeschworen werden.711 Wer die „Familienhabe“ zerstört, veräußert, beiseite schafft, wer sich den gesetzlichen Unterhaltspflichten entzieht, wer einer von ihm geschwängerten Frau „gewissenlos“ die Hilfe versagt und dadurch Mutter oder Kind gefährdet, wer das Wohl des Kindes dadurch gefährdet, daß er seine Fürsorge- oder Erziehungspflichten gröblich vernachlässigt, hat nunmehr schwere Gefängnisstrafen zu fürchten. Eine Zuchthausstrafe wird für den Fall der unerlaubten Abtreibung und der Unfruchtbarmachung vorgesehen. Hat der „Täter“ durch „Abtötung der Leibesfrucht“ „...die Lebenskraft des deutschen Volkes fortgesetzt beeinträchtigt, so ist auf Todesstrafe zu erkennen.“ Die Voraussetzungen für die Verhängung der Todesstrafe liegen nach der Auffassung von Martin Bormann dann vor, „...wenn ‘gewerbsmäßige’ Abtreiberinnen für 10 - 20 RM in ihrer Bekanntschaft abtrieben, oder wenn ‘Angehörige eines fremden, uns weitgehend feindlich gesinnten Volkstums’ der Bitte deutscher Frauen nachkamen.“712 Der Hintergrund dieser Stellungnahme ist, daß Schwangere zur damaligen Zeit in den besetzten Gebieten die Hilfe zur Abtreibung suchen, die sie im „Altreich“ wegen des entsprechenden Verbots nicht so leicht finden können.713 Es kann nicht erstaunen, daß auch diese „volkspflegerischen“ Vorschriften nur auf die „erbbiologisch wertvolle“ deutsche Bevölkerung bezogen werden sollen. Schon zuvor war es zu einer Verschärfung des Kampfes gegen die „Abtreibungsseuche“ gekommen. Abtreibungen sollen seit Februar 1941 registriert werden. Eine Polizeiverordnung vom 21. Januar 1941 verbietet bereits Verfahren, Mittel und Gegenstände zur Unterbrechung und Verhütung von Schwangerschaften.714 Die Zeit des Zweiten Weltkrieges stellt insgesamt einen Höhepunkt des Kampfes gegen die Abtreibung und Empfängnisverhütung dar.715 Der mit dem Kriegsbeginn vollzogene Schritt von der Ausgrenzung, der sonderrechtlichen Behandlung, von der Zerstörung der Fortpflanzungsfähigkeit, von der Abtreibung nicht erwünschten Lebens zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“, zur „Euthanasie“ ist eine Entwicklung, die erheblichen Widerstand in der Bevölkerung auslöst und auch die Kirchen zu Stellungnahmen herausfordert. Mängel der Geheimhaltung und Tarnung, die Tendenz zur Ausweitung der der Vernichtung preisgegebenen Personenkreise lassen die „Überzeugungsversuche“ des Regimes als nur begrenzt wirksam erscheinen.716 Ein allge-

710 Vgl.: RGBl. I 1943, 140; mit einer Durchführungsverordnung vom 18. März 1943 werden die Vorschriften dieser Verordnung in das Reichsstrafgesetzbuch inkorporiert; vgl.: RGBl. I 1943, 169. 711 Vgl.: Heinke, E.: Die Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft. In: Reichsarbeitsblatt. Teil V, 23(1943)17/18, 278 - 281, hier: 281. 712 Zit. nach: Bock, Gisela: Zwangssterilisation...a.a.O. (=Anm. 118), 163. 713 Vgl. dieselbe, ebenda, 163. 714 Vgl.: RGBl. I 1941, 63. 715 Weitere Details bei: David, Henry P., Fleischhacker, Jochen, Höhn, Charlotte: Abtreibung und Eugenik im nationalsozialistischen Deutschland. In: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 16(1990)2, 259 - 289; insbes. 272 ff. 716 So gibt es rassenhygienische Filme, Vorträge, Ausstellungen, Schulungsbriefe, Romane, Theaterstücke, Lehrgänge, Rechenaufgaben, die die „Rassenhygiene“ und auch den Gedanken der „Ausmerze“, ja sogar der

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meines Bedrohungsgefühl breitet sich aus. Die „Euthanasie“ wird vor diesem Hintergrund nicht nur in geheimer und getarnter Form vorbereitet, sie entbehrt auch der üblichen, der für die bisherige „Erb- und Rassenpflege“ typischen juristischen Form. In der auf den 1. September 1939 rückdatierten „Tötungsermächtigung“ beauftragt Hitler „offiziell“ den Leiter der Kanzlei des Führers der NSDAP, Philipp Bouhler, und seinen „Begleitarzt“ Karl Brandt damit, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, „...dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“717 Die geheim gehaltene, pauschale und vage Form der „Ermächtigung“ zum Eingriff in das höchste Gut des Menschen, in sein Leben, ruft heftige Reaktionen vor allem auch der übergangenen Justizverwaltung mit dem Reichsjustizministerium an der Spitze hervor und führt schließlich noch zu einem Entwurf eines „Euthanasie-Gesetzes“, das auf Intervention Hitlers jedoch nie verabschiedet wird.718 Das ausufernde Mordprogramm, zu dem sich die „Euthanasie“ entwickelt, wird nicht über die „normale“ Verwaltung vollzogen. An der Spitze der Organisation steht die „Kanzlei des Führers“, diese bedient sich organisatorischer Neugründungen, deren eigentliche Zielsetzung durch die Namensgebung verschleiert wird. Aus der Sicht der „Erb- und Rassenpflege“ erscheint die „Euthanasie“ bekanntlich nicht als zwingend „notwendig“. Das schon lange diskutierte Ziel einer raschen Kostenminderung, einer Umwidmung der Ressourcen für kriegerische Staatszwecke rückt jedoch nunmehr unerbittlich in den Vordergrund. Am Anfang der Euthanasie-Maßnahmen im „Dritten Reich“ steht die „KinderEuthanasie“, die „Kinderaktion“, bei der rund 5.000 Kinder auf staatlichen Antrag und im staatlichen Auftrag getötet werden. Der unmittelbare Anstoß zu dieser Aktion kommt von außen und besteht in einem Gesuch an Hitler, ein schwer behindertes Kind töten lassen zu dürfen.719 Schon vor dem Zweiten Weltkrieg werden die Grundlagen für diese Maßnahmen durch entsprechende Meldeverfahren für „mißgestaltete“ bzw. „geistig Unterentwickelte“ Neugeborene gelegt.720 Da diese Maßnahme vor allem auf Kinder zielt, die nicht in Anstalten leben, ist die zum Zweck der „Kindereuthanasie“ gegründete Tarnorganisation, der „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“, auf die Mithilfe der Gesundheitsverwaltung und der Hebammen, der Geburtshelfer und Ärzte angewiesen. Die bestialische Tötung der Kinder erfolgt unter Täuschung der argwöhnisch reagierenden Eltern bzw. Angehörigen in insgesamt rund 30 „Kinderfachabteilungen“ in ausgesuchten Heil- und Pflegeanstalten. Die „Kinder-Euthanasie“, die bis zur Zerschlagung des NS-Regimes fortgesetzt wird, erfaßt zunehmend auch ältere Kinder. Schließlich werden in diesen „Fachabteilungen“ auch Juden- und Zigeunerkinder ermordet.

Tötung populär machen sollen; vgl. die Hinweise bei: Dörner, Klaus: Nationalsozialismus und Lebensvernichtung. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 15(1967), 121 - 152, hier: 138. 717 Eine Kopie des Originaldokuments findet sich bei: Sick, Dorothea: „Euthanasie“ im Nationalsozialismus am Beispiel des Kalmenhofs in Idstein im Taunus. 2. Auflage. Frankfurt a.M. 1983, 20; der „Führerauftrag“ ist formlos auf dem privaten Briefpapier Hitlers in Schreibmaschinenschrift festgehalten. 718 Vgl.: Ganssmüller, Christian: Die Erbgesundheitspolitik...a.a.O.(=Anm. 82), 160 ff. 719 Dieser Vorgang und die gesamte „Euthanasie“ sind inzwischen vielfach zur Darstellung gebracht worden; vgl. etwa: Klee, Ernst: „Euthanasie“...a.a.O. (=Anm. 172); derselbe: Dokumente zur „Euthanasie“. Frankfurt a.M. 1985; Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene...a.a.O. (=Anm. 119), 182 ff.; Ganssmüller, Christian: Die Erbgesundheitspolitik...a.a.O.(=Anm. 82), 148 ff. 720 Vgl. den entsprechenden Erlaß des Reichsinnenministers vom 18. August 1939 bei: Ganssmüller, Christian: Die Erbgesundheitspolitik...a.a.O.(=Anm. 82), 151 f.

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Selbst schwer erziehbare Kinder und Jugendliche werden als „asoziale Psychopathen“ in die „Kinder-Euthanasie“ mit einbezogen.721 Als Hitler im Oktober 1939 die auf den 1. September 1939 rückdatierte „Tötungsermächtigung“ unterzeichnet, sind die Vorbereitungen zur Ausweitung der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ auf Erwachsene bereits weit gediehen. Schon Ende Juli 1939 laden Bouhler und Brandt 15 - 20 Ärzte nach Berlin zu einer Besprechung des „Euthanasieprogramms“ ein. Bouhler erklärt „...durch die Tötung eines Teils der ‘Geisteskranken’ würde notwendiger Lazarettraum für den bevorstehenden Krieg geschaffen. Das freiwerdende Personal könnte zur Versorgung Verwundeter eingesetzt werden.“722 Auch die „Erwachsenen-Euthanasie“, die „Aktion T 4“ beginnt in Deutschland nun in systematischer Form. Während in Polen schon zu dieser Zeit weitgehend planlos geistig und körperlich Behinderte erschossen werden, ergeht in Deutschland ein auf den 9. Oktober 1939 datierter Runderlaß, mit dem der „Reichsärzteführer“ Leonardo Conti die Leiter der Heil- und Pflegeanstalten auffordert, bestimmte für die „Euthanasie“ in Frage kommende Patienten zu melden.723 Der erfaßte Personenkreis ähnelt dem Personenkreis, der durch das Sterilisierungsgesetz vom 14. Juli 1933 anvisiert wurde, weist aber auch bestimmte Besonderheiten auf. Es geht insbesondere um jene „erblich belasteten“ Menschen, deren Arbeitskraft zumindest eingeschränkt ist und die deshalb als „therapierefraktär“ gelten. „Hinzu traten diejenigen Teilgruppen der Anstaltsbevölkerung, die nach den Kriterien des radikalen Antisemitismus als ‘rassisch minderwertig’ oder unter den Gesichtspunkten sozialer Diagnostik als sozial deviant eingestuft wurden, während aus Gründen der politischen Opportunität die Gruppen der Kriegsversehrten, Alterserkrankten und Ausländer ausgeklammert werden sollten. Die Kombination von Erblichkeit, Unheilbarkeit, Arbeitsunfähigkeit und ‘Asozialität’, die in diesen Selektionskriterien zum Ausdruck kam, knüpfte durchaus an die Euthanasiediskussion nach dem Ersten Weltkrieg an.“724 Im Rahmen der „Aktion T 4“ werden insgesamt sechs Tötungsanstalten eingerichtet. Auf der Grundlage eines alle Maßstäbe der Humanität brechenden, eines haarsträubenden „Begutachtungsverfahrens“ werden zwischen dem Januar 1940 und dem August 1941 über 70.000 Tötungen vorgenommen. Als Tötungsform wird die Vergasung gewählt. Die Leichen werden verbrannt. Dieses Vorgehen erscheint damit als Vorstufe der bald anlaufenden Judenvernichtung, der „Endlösung der Judenfrage“.725 Als im August 1941 vor allem der zunehmende Widerstand aus den Reihen der Bevölkerung, der Kirchen, der Justiz und auch aus den Reihen der NS-Bewegung selbst zu einer offiziellen Beendigung der „Euthanasie“ führt, bedeutet dies kein Ende der Tötungen. Die nicht zentral gesteuerte individuelle Tötung ersetzt die massenhafte, zentralisiert angeleitete Tötung. Die Überdosierung von Schlaf- und Betäubungsmitteln folgt der Vergasung. Tausende ließ man auch einfach verhungern oder man wandte andere Formen der Tötung an.726 Die „Euthanasie“ kennt darüber hinaus noch andere Formen, Bezeichnungen und Ansatzpunkte. Sozusagen als Auftakt zum Holocaust werden über 1.000 jüdische Anstaltsin-

721 Vgl.: Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene...a.a.O.(=Anm. 119), 189. 722 Ganssmüller, Christian: Die Erbgesundheitspolitik...a.a.O.(=Anm. 82), 156. 723 Vgl. denselben, ebenda, 156 f. 724 Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene...a.a.O.(=Anm. 119), 201. 725 Vgl. denselben, ebenda, 255. 726 Vgl.: Ganssmüller, Christian: Die Erbgesundheitspolitik...a.a.O.(=Anm. 82), 174; vgl. zu dieser „wilden Euthanasie“ auch: Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene...a.a.O.(=Anm. 119), 220.

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sassen ermordet.727 Ab dem Frühjahr 1941 nimmt die Tötung weltanschaulich unerwünschter Menschen in den Konzentrationslagern (KZ) ihren Fortgang. Hier wird, unter der Beteiligung von T 4 - Gutachtern und T 4 - Tötungsspezialisten eine „Sonderbehandlung 14 f 13“ durchgeführt. Dabei steht 14 f als Kürzel für Todesfälle in den KZ und 13 bezeichnet die Vergasung als Todesart. Die Zahl der KZ-Häftlinge, die im Rahmen dieser Aktion allein in den Tötungsanstalten der „Aktion T 4“ vergast werden, wird auf 20.000 geschätzt. Es geht hierbei schon lange nicht mehr um den „Gnadentod“ für unheilbar Kranke, sondern immer vor allem um die Menschenvernichtung aus politischen und rassistischen Gründen. So finden sich in den Begutachtungsbögen auch „Diagnosen“ wie „Hetzer und Deutschfeind“, „jüdische Dirne“, „namhafter Funktionär der KPD“, „schwerer Hetzer und Wühler“.728 Die Tötungsaktion „14 f 13“ gerät im NS-Herrschaftapparat nicht wegen ihrer Brutalität, wohl aber wegen der Vernichtung noch arbeitsfähiger Menschen in die Kritik, dies insbesondere zu einer Zeit, zu der sich das „Kriegsglück“ bereits deutlich gewendet hat und es nunmehr auch in der Produktion auf „jeden Mann“ ankommt: „Das ökonomische Interesse der SS an der Ausbeutung der Sklavenarbeit, die von den KZ-Häftlingen verrichtet wurde, überwog jetzt offenbar den rassistisch motivierten Vernichtungswillen.“729 Zu einer Zeit, in der die Heil- und Pflegeanstalten in verstärktem Maße als Ausweichkrankenhäuser für die Opfer der Luftangriffe benötigt werden, kommt es zu einem Wiederaufleben der Krankentötungen im Rahmen der durch die Räumung von Einrichtungen ausgelösten Verlegungswellen. Die Krankentötungen in den Jahren 1943/44 werden, „...da sich die Euthanasiezentrale vom Bevollmächtigten für das Sanitäts- und Gesundheitswesen autorisiert glaubte, als ‘Aktion Brandt’ bezeichnet.“730 In die Zeit der „Aktion Brandt“ fällt auch der Massenmord an kranken polnischen und sowjetischen Zwangsarbeitern, deren Arbeitskraft und Arbeitsfähigkeit nicht kurzfristig wiederhergestellt werden kann. Schließlich sei auf die Ermordung kranker Zwangsarbeiter in den preußischen Ostprovinzen, in Polen und der Sowjetunion hingewiesen.731 Während für die „Euthanasie“ vor dem Zweiten Weltkrieg zwar geworben, ihre mörderische Verwirklichung aber in der zeitgenössischen Literatur nicht diskutiert wird, gilt dies im Zweiten Weltkrieg für die staatliche Sozialpolitik im engeren Sinne keineswegs. Die Arbeitsverfassung, die Arbeitslosenunterstützung, die Arbeitskräftelenkung und die Sozialversicherung werden sowohl in der allgemeinen als auch in der Fachpublizistik der Jahre 1939 bis 1945 ausführlich diskutiert und dargestellt. Die Auffassung, daß die „soziale“ bzw. „sozialpolitische Rüstung Deutschlands“ im Ersten Weltkrieg dilettantisch und eine Ursache des Zusammenbruchs gewesen sei und daß man nunmehr sozialpolitisch den richtigen Weg beschreite und die alten Fehler vermeide, gehört zu den feststehenden Überzeugungen der sozialpolitischen Publizistik im Zweiten Weltkrieg. Insbesondere die Inflation, die daraus resultierende mangelhafte Unterstützung, die Not, das verbitternde „Kriegsgewinnlertum“, extreme soziale Gegensätze, Streiks und Aussperrungen stehen als Ursachen des Niedergangs und des Erfolgs der „zersetzenden Kräfte“ vor Augen. Ganz anders vorbereitet sei die Nation in den Zweiten Weltkrieg eingetreten. Der Klassengegen-

727 Vgl. denselben, ebenda, 215 f. 728 Vgl. denselben, ebenda, 217 ff. 729 Derselbe, ebenda, 219. 730 Derselbe, ebenda, 233. 731 Vgl. denselben, ebenda, 237 ff.

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satz und Klassenkampf sei bereits vor dem Kriegsbeginn überwunden worden.732 Der Erste Weltkrieg habe gelehrt, „...die in Kriegszeiten erforderliche Ergänzung und Intensivierung des sozialen Apparats schon im Frieden vorzubereiten. Wir besitzen heute eine straffe Arbeitsorganisation, die restlose Erfassung und zweckmäßige Auswertung aller Arbeitskräfte verbürgt; an die Stelle der Klassen- und Interessenkämpfe ist die staatliche geführte Gemeinschaftsarbeit aller Schaffenden getreten...“, vermerkt der Schriftleiter der inzwischen völlig gleichgeschalteten „Sozialen Praxis“ und kann, wie zum Beweis, die ersten Maßnahmen der staatlichen Sozialpolitik im Zweiten Weltkrieg seiner „Gesamtschau“ hinzufügen.733 Man kenne heute die „...untrennbare Verflechtung von Leistung und Mensch, von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Je schärfer die Forderung an die Leistungskraft, um so unabdingbarer wird auch die soziale Forderung.“734 Der gesamte Gang der sozialpolitischen Entwicklung seit 1933 gilt nicht selten als Akt der bewußten Kriegsvorbereitung. Der „deutsche Sozialismus“ sei eine „starke Wehr.“ Der neue Krieg selbst erscheint auch in der sozialpolitischen Fachpublizistik als „aufgezwungener Abwehrkampf“, als „Schicksalskampf des Volkes“, als „Kampf um Freiheit und Lebensrecht“. Das deutsche Volk selbst wird von Anfang an als „Opfer-“ und „Schicksalsgemeinschaft“ apostrophiert.735 Die Täter erscheinen als die eigentlichen Opfer. Im Lichte einer genaueren Analyse läßt sich tatsächlich eine durch den Ersten Weltkrieg gesteigerte „Sensibilität“ für die Problemzonen der kommenden Kriegsgesellschaft ausmachen und der Zweite Weltkrieg ist auch in erheblichem Maße sozialpolitisch vorbereitet worden, so daß die Umstellung auf den Krieg zunächst nur mit geringen Änderungen und Ergänzungen bewerkstelligt werden kann.

4.2.2 Die Entwicklung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen Wenig Veränderungen und Ergänzungen erfährt das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ vom 20. Januar 1934 als solches. Eine einundzwanzigste Durchführungsverordnung vom 25. April 1940736 verlängert die Amtsdauer der Beisitzer des „Reichsehrengerichtshofes“ und der „Ehrengerichte“ „bis auf weiteres“. Von größerer Bedeutung ist die zweiundzwanzigste Durchführungsverordnung vom 30. März 1943,737 die die „Ordnung der Arbeit“ in der Binnenschiffahrt regelt. Grundsätzlich gilt nun auch hier das AOG, allerdings mit den in der Durchführungsverordnung enthaltenen Modifikationen. Nunmehr wird ein Führer-Gefolgschaftsverhältnis auch für den Schiffahrtsbetrieb vorgesehen, ein Vertrauensrat muß unter bestimmten Voraussetzungen gebildet, eine Betriebsordnung muß erlassen werden. Die Durchführungsverordnung vom 30. März wird vom „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“, vom Reichsstatthalter und Gauleiter von Thüringen, Fritz Sauckel, in Abstimmung mit dem Reichswirtschaftsminister Walther Funk erlassen und zeigt damit 732 Vgl.: Sozialpolitik in zwei Weltkriegen. In: Monatshefte für NS-Sozialpolitik, 9(1942), 7 - 10, 73 - 75, hier: 74. 733 Sitzler: Soziale Rüstung einst und jetzt. In: Soziale Praxis, 49(1940)1, Sp. 65 - 68, hier: Sp. 67. 734 Gegen den Bolschewismus. In: Soziale Praxis, 50(1941)13, Sp. 497 - 498, hier Sp. 498. . 735 Auch der Überfall auf die Sowjetunion wird als „Abwehrkampf“, als Notwehr, als Kampf gegen ein russischenglisches Komplott und einen drohenden russischen Angriff legitimiert; vgl. die Proklamation Hitlers an das deutsche Volk vom 22. Juni 1941, abgedruckt z.B. bei: Domarus, Max: Hitler. Reden und Proklamationen 1932 1945. Band II. Untergang. Zweiter Halbband 1941 - 1945. München 1965, 1726 ff. 736 Vgl.: RGBl. I 1940, 684. 737 Vgl.: RGBl. I 1943, 174; vgl. mit Kommentierungen: Mansfeld, W.(erner): Die Ordnung der nationalen Arbeit...a.a.O. (=Anm. 316), 238 ff.

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exemplarisch einen bereits weit vorangeschrittenen Stand der Entmachtung des Reichsarbeitsministers an. Grundsätzlich darf die Konstanz der Rechtsnormen der NSArbeitsverfassung nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich in diesem Rahmen die Lebens-, Arbeitseinsatz-, Arbeits- und Entlohnungsbedingungen doch wesentlich verändern. Trotz dieser Ausweitung des Geltungsbereichs geht die Zahl der Beschäftigten, die dem AOG unterworfen sind, zurück. Während die Zahl der Frauen nur leicht zunimmt und sich in den Jahren 1939 bis 1944 zwischen 14,6 und 14,8 Millionen bewegt, sinkt die Zahl der abhängig beschäftigten deutschen Männer von 24,5 Millionen auf 14,2 Millionen, ein Spiegelbild der Mobilisierung des deutschen Gewaltpotentials und der Kriegsverluste. Diese „Lücke“ im Arbeitskräftepotential wird in hohem Maße durch Arbeitskräfte aufgefüllt, die als Ausländer und Kriegsgefangene überwiegend einem später darzustellenden sozialpolitischen Sonderrecht unterliegen.738 Einem Sonderrecht auf dem Gebiet des Arbeitsrechts unterliegen von vornherein die Juden. Der weiteren Diskriminierung und Entrechtung dieser Menschen dient die „Verordnung über die Beschäftigung von Juden“ vom 3. Oktober 1941.739 Juden stehen demnach in einem „Beschäftigungsverhältnis eigener Art“. Eine Durchführungsverordnung vom 31. Oktober 1941740 regelt die erschreckenden Details dieser Absonderungsstrategie. Juden sind als „Artfremde“ nicht Mitglied einer „deutschen Betriebsgemeinschaft.“ Juden haben nur noch für die „tatsächlich geleistete Arbeit“ einen Anspruch auf Vergütung. Sie haben keinen Anspruch auf Lohnzuschläge für Sonn- und Feiertagsarbeit, auf Familien- und Kinderzulagen, sie bekommen keine Wochenhilfe und betriebliche Altersversorgung. Im allgemeinen ist das Beschäftigungsverhältnis vom „Beschäftigungsgeber“ täglich kündbar. Beim Arbeitseinsatz sind Juden von der übrigen „Gefolgschaft“ getrennt zu halten. Sie unterliegen nur einem eingeschränkten Arbeitsschutz. Die Arbeitslosenhilfe für Juden soll sich auf das „zum Lebensunterhalt unerläßlich Notwendige“ beschränken. Diese Vorschriften gelten ab dem 1. April 1942 auch für Zigeuner und zwar für „Vollzigeuner (stammechte Zigeuner)“ und „Mischlinge mit vorwiegendem oder gleichem zigeunerischen Blutsanteil“.741 Gerade auf die Arbeitsverfassung und das Arbeitsleben konzentrieren sich zu Beginn des Zweiten Weltkrieges die Hoffnungen und Ängste des NS-Regimes. Intern und öffentlich wird immer wieder die Ansicht geäußert, daß „Erscheinungen“ wie die in den Jahren 1914 bis 1918 auf jeden Fall verhindert werden müßten. Insbesondere jener „Wettlauf“ der Löhne und Gehälter mit den Preisen und jenes spezifische „Kriegsgewinnlertum“ im Ersten Weltkrieg ist Anlaß zu zusätzlichen sozialpolitischen Erwägungen und Maßnahmen. Zunächst ist, rund zwei Jahre vor Kriegsbeginn, beschlossen worden, „...in einem Mobfall sämtliche Löhne und Gehälter auf die ursprünglichen Tarife zurückzuführen..“742 Aus der Einsicht heraus, daß dies zu einer 50%igen Lohnkürzung führen und eine starke Beunruhi738 Diese Zahlen sind Stichtagszahlen. Sie beziehen sich jeweils auf den Mai der entsprechenden Jahre. Das Sudetenland und Österreich sind einbezogen. Die komplette Statistik findet sich bei: Petzina, Dietmar: Die Mobilisierung deutscher Arbeitskräfte...a.a.O. (=Anm. 319), 450. 739 Vgl.: RGBl. I 1941, 675. 740 Vgl.: RGBl. I 1941, 681; vgl.: Küppers, Hans: Die vorläufige arbeitsrechtliche Behandlung der Juden. In: Reichsarbeitsblatt. Teil V (1941)6, 106 - 110; Derselbe, ebenda, 569 - 574. 741 Vgl. die „Anordnung über die Beschäftigung von Zigeunern“ vom 13. März 1942 (RGBl. I 1942, 138); die Verordnung erstreckt die Geltung der für Juden erlassenen „Sondervorschriften auf dem Gebiete des Sozialrechts“ auf Zigeuner. Eine Fußnote weist auf die angesprochenen „Sondervorschriften“ hin. Die Anordnung gilt gem. § 3 auch in den „eingegliederten Ostgebieten“. 742 Vgl. den Vermerk des Reichswirtschaftsministers vom 23. August 1939. BA Abt. Potsdam. 31.01 Reichswirtschaftsministerium, Nr. 10401, Bl. 2.

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gung der „Gefolgschaftsmitglieder“ nach sich ziehen würde, wird schließlich durch die „Kriegswirtschaftsverordnung“ vom 4. September 1939743 ein anderer Weg beschritten. Eingebettet in Kriegspropagandaformeln, in Strafvorschriften für „kriegsschädliches Verhalten“ und in Bestimmungen über Kriegssteuern wird verfügt: „Die Reichstreuhänder und Sondertreuhänder der Arbeit passen nach näherer Weisung des Reichsarbeitsministers die Arbeitsverdienste sofort den durch den Krieg bedingten Verhältnissen an und setzen durch Tarifordnung Löhne, Gehälter und sonstige Arbeitsbedingungen mit bindender Wirkung nach oben fest“ (§ 18). Zuschläge für Mehrarbeit, Sonntags- und Feiertags- und Nachtarbeit dürfen nicht mehr gezahlt werden. Die Vorschriften und Vereinbarungen über den Urlaub treten vorläufig außer Kraft. Darüber hinaus müssen Preise und Entgelte für Güter und Leistungen jeder Art „...nach den Grundsätzen der kriegsverpflichteten Volkswirtschaft gebildet werden“ (§ 22). Lohnkostenvorteile und andere Kostenvorteile müssen gegebenenfalls nach Zustimmung des „Reichskommissars für die Preisbildung“ als Preissenkungen weitergegeben werden. Vor dem Hintergrund von Erwägungen über die Rückwirkungen der Lohnpolitik auf die „Arbeitsfreudigkeit“ und den „Willen zur Leistungssteigerung“ wird in einem umfangreichen, differenzierten und vertraulichen Runderlaß vom 4. September 1939744 die Leitlinie ausgegeben, daß jede Lohn- und Gehaltserhöhung über den bisherigen Stand hinaus zu verhindern sei. Das werde jedoch nicht genügen. Die gebotene Einschränkung in der Lebenshaltung und die unvermeidbare Minderung des Verbrauchs sowie die Rücksichtnahme auf die Finanzierung des Krieges verlangten eine Zurückführung der Löhne und Gehälter, „...die in einer von allen Schichten des Volkes Opfer verlangenden Kriegswirtschaft als zu hoch anzusprechen sind.“745 Diese Vorgaben finden in sehr pauschaler und knapper Form ihren Ausdruck in zweiten Durchführungsbestimmungen zu Abschnitt III der Kriegswirtschaftsverordnung, die das Datum vom 12. Oktober 1939 tragen. Sie verfügen einen Lohnstop.746 Während auf dem Gebiet des Arbeitseinsatzes nach der Verabschiedung der bereits erwähnten „Arbeitsplatzwechselverordnung“ vom 1. September 1939 zunächst neue Weichenstellungen nicht erfolgen,747 da die entsprechenden Instrumentarien schon im „Frieden“ systematisch entwickelt wurden, kommt es kriegsbedingt auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes und der Arbeitszeitpolitik zu einem deutlichen Richtungswechsel. Durch die „Verordnung zur Abänderung und Ergänzung von Vorschriften auf dem Gebiete des Arbeitsrechts“ vom 1. September 1939748 werden wichtige Schutzvorschriften bis auf weiteres außer Kraft gesetzt. Die tägliche Arbeitszeit der erwachsenen männlichen Beschäftigten ist nunmehr an 743 Vgl.: RGBl. I 1939, 1609; vgl. insgesamt zu dieser Rechtsquelle und zur Lohnpolitik zu Beginn des Krieges: Recker, Marie-Luise: Nationalsozialistische Sozialpolitik im Zweiten Weltkrieg. Opladen 1985, 26 ff. 744 Vgl.: Der Reichsarbeitsminister III b 16592/39. Die Lohngestaltung im Kriegsfalle. Berlin SW 11, den 4. September 1939. BA Abt. Potsdam. 31.01 Reichswirtschaftsministerium, Nr. 10401, Bl. 3 ff. 745 Gemeint sind damit die durch die Rüstungskonjunktur stark erhöhten Löhne und Gehälter der „letzten Jahre“; vgl. ebenda, Bl. 3. 746 Vgl. die „Zweite(n) Durchführungsbestimmungen zum Abschnitt III (Kriegslöhne) der Kriegswirtschaftsverordnung (Zweite KLDB)“ vom 12. Oktober 1939 (RGBl. I 1939, 2028); die ersparten Lohnkosten sind unter bestimmten Bedingungen, insbesondere falls sie nicht zu Preissenkungen verwendet werden, an die Reichsfinanzkasse abzuführen; vgl. die „Durchführungsverordnung zum Abschnitt IV der Kriegswirtschaftsverordnung“ vom 11. Oktober 1939 (RGBl. I 1939, 2053). 747 Die „Erste Durchführungsverordnung zur Verordnung über die Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels“ vom 6. September 1939 (RGBl. I 1939, 1690) beinhaltet nur Ausnahmen von der Zustimmungspflicht der Arbeitseinsatzverwaltung bei der Einstellung und Lösung von Arbeitsverhältnissen. 748 Vgl.: RGBl. I 1939, 1683.

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keine Schranke mehr gebunden. Lediglich die Ruhezeitvorschriften lassen eigentlich eine Ausdehnung der täglichen Arbeitszeit über 13 Stunden hinaus nicht zu.749 Die traditionell begrenzten Arbeitszeiten für Frauen und Jugendliche können für einzelne Betriebe oder allgemein verlängert werden, eine Möglichkeit von der auch Gebrauch gemacht wird.750 Der Schutz gegen Unfall- und Gesundheitsgefahren hingegen soll nicht abgebaut werden, da der Einsatz ungeübter Kräfte und die gefährliche Herstellung der Sprengstoffe und der gewaltigen Zerstörungsmittel für die Wehrmacht zu erheblichen Gefahrenpotentialen führt und jeder Unfall einen Verlust an „wertvoller Arbeitskraft“ und kriegswichtiger „nationaler Erzeugung“ nach sich zieht. Darüber hinaus führt der Kriegsbeginn zu Betriebsumstellungen und -schließungen mit entsprechenden Umschichtungen am Arbeitsmarkt. Dazu gehört auch eine gewisse vorübergehende Arbeitslosigkeit, die offiziell „heruntergespielt“ wird. Auf diese reagiert das Regime mit einer Verbesserung der Arbeitslosenhilfe und mit der Einführung einer Kurzarbeiterunterstützung.751 In aller Deutlichkeit markiert schließlich der Beginn der öffentlichen Bewirtschaftung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen, die „zur Sicherung der Versorgung der Bevölkerung und Wehrmacht mit Lebens- und Futtermitteln“ eingeführt wird, den Anfang kriegsbedingter Versorgungsprobleme.752 Nicht zuletzt diese Maßnahme ist geeignet, in der Bevölkerung Erinnerungen an die Hungerkatastrophe des Ersten Weltkrieges zu wecken. Schließlich kommt es auch im Zweiten Weltkrieg zu Störungen in der Lebensmittelversorgung und nicht selten reicht das gekürzte Einkommen der „kleinen Leute“ nicht aus, um die nach der Bedarfsregelung zustehenden Lebensmittel tatsächlich zu kaufen, auch erweist sich die Zahl und die personelle Ausstattung der Verkaufsstellen als unzureichend.753 Oppositionelle Haltungen, tiefe Unzufriedenheit, Leistungszurückhaltung am und Fernbleiben vom Arbeitsplatz und Umgehungsstrategien als Reaktionsformen auf die immer schärfer werdenden Eingriffe des Staates in die „hergebrachten“ Rechte und Interessen der abhängig Beschäftigten sind - wie erwähnt - auch in der Vorkriegszeit nicht unbekannt geblieben. Diese Erscheinungen werden jedoch durch die Reaktionen in den Schatten gestellt, die die ersten Kriegsmaßnahmen vom September 1939 hervorrufen. „Es folgte eine massive Welle der Entrüstung. Vor allem das Fernbleiben von der Arbeit und die Weigerung, Überstunden und Wochenendschichten zu leisten, nahmen so stark zu, daß die Produktion im Oktober schwer gestört war. Der Appell an den Patriotismus der Arbeiter hatte

749 Vgl.: Kremer, D.: Der Arbeitsschutz in der Kriegswirtschaft. In: Soziale Praxis, 48(1939), Sp. 1219 - 1226, hier: 1221; diese maximale Arbeitszeit gilt einschließlich der Pausen. 750 Vgl.: Neitzel: Arbeitsschutz in fünf Kriegsjahren. In: Reichsarbeitsblatt. Teil V(1944)28, 283 - 288, hier: 283. 751 Vor dem Hintergrund der bei den Akteuren verbreiteten Erinnerung an den „Kriegsstoß“ zu Beginn des Ersten Weltkrieges und der damit einhergehenden hohen Arbeitslosigkeit ist auch dieses Phänomen Gegenstand erheblicher Befürchtungen und einer entsprechenden Erleichterung, als ähnliche Zustände wie 1914 ausbleiben; vgl.: Syrup, Friedrich: Arbeitslosigkeit zu Kriegsbeginn. In: Soziale Praxis, 48(1939), Sp. 1187 - 1190; Syrup leugnet das „Phänomen“ der „Kriegsarbeitslosigkeit“ weitgehend; Hinweise darauf finden sich jedoch in: Die deutsche Arbeitspolitik...a.a.O. (=Anm. 335), 55. 752 Vgl. die entsprechende Verordnung vom 27. August 1939 im RGBl. I 1939, 1521; diese Bewirtschaftung wird schon bald differenziert (vgl. die „Verordnung über die Gewährung von Sonderzulagen an Schwer- und Schwerstarbeiter, werdende und stillende Mütter, Kranke und gebrechliche Personen“ vom 16. September 1939 (RGBl. I 1939, 1825)) und auf immer mehr Produkte erstreckt; ausführlich informiert: Werner, Wolfgang Franz: „Bleib übrig!“ Deutsche Arbeiter in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft. Düsseldorf 1983, 44 ff. 753 Zwischen dem Reichswirtschaftsministerium und der „Reichsgruppe Handel“ ergibt sich daraus eine Auseinandersetzung über die Vermeidung des „Schlangestehens“; vgl. den entsprechenden Schriftwechsel in: BA Abt. Potsdam. 31.01 Reichswirtschaftsministerium, Nr. 10401, Bl. 49 ff.

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kaum eine Wirkung...“754 Ein Staatssekretär spricht sogar von „förmlichen Sabotageerscheinungen.“755 Diese „Verweigerungen“ als Ausdruck der Überbeanspruchung und als geeignete Formen materielle Interessen unter den Bedingungen der (verschärften) Diktatur zum Ausdruck und zur Geltung zu bringen, werden als so schwerwiegend und unter den Bedingungen des Krieges als so abträglich eingestuft, daß die Regierung innerhalb weniger Wochen als Ergebnis komplexer interner Auseinandersetzungen und Aushandlungsprozesse den sozialpolitischen Kriegskurs revidiert. Durch eine ganze Reihe von Rechtsetzungsakten werden Abmilderungen vorgenommen, obwohl dies „eigentlich“ den kriegswirtschaftlichen bzw. militärischen Interessen zuwider läuft.756 In groben Zügen ergibt sich das folgende Bild der bald einsetzenden Revision der (Kriegs-)Sozialpolitik: „Das Verbot, Zu sc h läg e für Sonn tags -, F e ier tag s- und N ach tarb e it zu zahlen, wurde durch die Verordnung des Vorsitzenden des Ministerrats für die Reichsverteidigung vom 16. November 1939 mit Wirkung vom 27. November 1939 aufgehoben, das Verbot für Meh rarb e itsz us ch läg e wurde durch die Verordnung des Reichsarbeitsministers über den Arbeitsschutz vom 12. Dezember 1939 teilweise beseitigt.“757 Mit der „Verordnung über den Arbeitsschutz“ vom 12. Dezember 1939758 bekennt sich der Reichsarbeitsminister zur Vermeidung „übergroßer Beanspruchung der Arbeitskraft.“ Er stellt für Jugendliche und Frauen die früheren Schutzrechte größtenteils wieder her, verschärft sogar das Nachtarbeitsverbot. Er reduziert die zunächst ermöglichten überlangen Arbeitszeiten für die erwachsenen männlichen Beschäftigten und fügt in der Präambel der Verordnung hinzu, daß nach diesen Änderungen von „allen Schaffenden“ erwartet werden könne und müsse, „...daß sie ihre volle Arbeitskraft für den unserm Vaterlande aufgezwungenen Kampf zur Verfügung stellen.“ Von vornherein auf einen stärkeren Schutz stellen drei Rechtsquellen ab, die am 30. Oktober 1939 auf dem Gebiet der sozialpolitischen Regulierung der Heimarbeit erlassen werden.759 Mit einer Anordnung des Reichsarbeitsministers vom 17. November 1939 wird die seit dem 4. September des Jahres bestehende Urlaubssperre mit Wirkung vom 15. Januar 1940 aufgehoben. Diese Bestimmung ist allerdings mit der Möglichkeit verknüpft, den Urlaubsanspruch, falls eine Gewährung infolge des Kriegszustandes nicht möglich ist, durch Geldzahlung abzugelten.760 Eine „Verordnung des Reichsarbeitsministers über den Ladenschluß“ vom 21. Dezember 1939 will 754 Vgl.: Mason, Timothy W.: Arbeiteropposition im nationalsozialistischen Deutschland. In: Peukert, Detlev, Reulecke, Jürgen (Hg.): Die Reihen fast geschlossen. Wuppertal 1981, 293 - 313, hier: 309. 755 Vgl. die Niederschrift zur Ressortbesprechung beim GBW vom 10.11.1939. BA Abt. Potsdam. 31.01 Reichswirtschaftsministerium, Nr. 10401, Bl. 85 - 86RS, hier: Bl. 85; weitere Dokumente bei: Mason, Timothy W.: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Dokumente und Materialien zur deutschen Arbeiterpolitik 1936 - 1939. Opladen 1975, 1137 ff. 756 Vgl. in diesem Zusammenhang, teilweise kritisch gegen Masons Ansatz: Recker, Marie-Luise: Nationalsozialistische Sozialpolitik ...a.a.O. (=Anm. 743),37 ff. Recker weist vor allem auch auf Vorbehalte und kritische Stimmen aus der NSDAP und ihren Gliederungen angesichts der Rückwirkungen der lohnpolitischen Maßnahmen auf die Stimmung hin. Teilweise führen die verlängerten Arbeitszeiten als solche und die steigende Erschöpfung zu einem Leistungsabfall, so daß auch von hier eine Revision der sozialpolitischen Bestimmungen nahegelegt wird. 757 Sechs Monate Kriegssozialpolitik. In: Reichsarbeitsblatt. Teil V (1940)7, 93 - 97, hier: 95. 758 Bgl.: RGBl. I 1939, 2403. 759 Es handelt sich um die „Verordnung zur Änderung des Gesetzes über die Heimarbeit“ vom 30. Oktober 1939 (RGBl. I 1939, 2143), das daraufhin neugefaßte „Gesetz über die Heimarbeit“ (RGBl. I 1939, 2146) und die „Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Heimarbeit“ ebenfalls vom 30. Oktober 1939 (RGBl. I 1939, 2152). 760 Vgl.: Kranig, Andreas: Lockung ...a.a.O. (=Anm. 232),138.

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die Fragen regeln, „...die durch die Kriegsverhältnisse dringlich geworden sind, also einmal die Geschäftszeit den durch Verdunklung, Warenknappheit, Lebensmittelkarten, Bezugsscheine bestimmten Verhältnissen anpassen, zum anderen dafür sorgen, daß den Hausfrauen die Einkäufe möglichst erleichtert werden.“761 Der mit dem weiteren Kriegsverlauf immer spürbarer werdende Mangel an Arbeitskräften führt später dann wieder zu Ausnahmeregelungen auf dem Gebiet der Beschäftigung von Jugendlichen und Frauen. Da Frauen aber neben der Betriebsarbeit gegebenenfalls auch noch Haushalt, Kinder und sonstige Angehörige zu „versorgen“ haben, kommt es oft zu Schwierigkeiten. Darauf reagiert man mit der „...Einführung von Halbtagsarbeit, wenn auch die damit gemachten Erfahrungen je nach der Lage der Verhältnisse keineswegs überall günstig sind.“762 Eine andere viel später greifende Reaktionsform ist die Anordnung des Reichsarbeitsministers über „Arbeitszeitverkürzung für Frauen, Schwerbeschädigte und minderleistungsfähige Personen (Freizeitanordnung)“ vom 22. Oktober 1943.763 Diese Anordnung beinhaltet den „Hausarbeitstag“, die Befreiung der Frauen mit Kindern von Mehrarbeit, Nacht- und Feiertagsarbeit. Sie befreit auch die Schwerbeschädigten und „minderleistungsfähigen“ Personen von Mehrarbeit. Aus einer tief verwurzelten Inflationsangst heraus bzw. um Fehler des Ersten Weltkrieges zu vermeiden, wird der mit dem Kriegsausbruch verfügte Lohnstop während der gesamten Dauer des Krieges nicht in Frage gestellt. Er führt allerdings zu erheblichen Schwierigkeiten und zu Erlassen des Reichsarbeitsministers, später des „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“, die die Vorschriften konkretisieren. Das große „Anreizmittel“ zur Erhaltung des Leistungswillens der Arbeiter und Angestellten, das Geld, kann deshalb nur beschränkt genutzt werden und die Einschaltung der „Reichstreuhänder der Arbeit“ bei allen Modifikationen und Ausnahmen vom Lohnstop soll sowohl die Wünsche der abhängig Beschäftigten als auch die der „verantwortungslosen“ Betriebsführer disziplinieren, die eine Umgehung der Vorschriften beabsichtigen, um in „unverantwortlichem Ausmaß“ Arbeitskräfte an sich zu binden.764 Dennoch bleiben sowohl bei den Zeitals auch bei den Akkordlöhnen Handlungsspielräume, der Lohnstop wird „elastisch gehandhabt“.765 Die Rechtsquellen lassen zudem erkennen, daß vielfältige Umgehungsformen praktiziert werden.766 Daneben ragen auf dem Gebiet der Lohnpolitik jene Aktivitäten hervor, die das Ziel haben, durch eine „Neuordnung der Löhne“ vermutete Leistungsreserven in der „Gefolgschaft“ zu mobilisieren. Es wird zu diesem Zweck auf Erfahrungen der „Betriebsführer“, der Reichsgruppe Industrie, staatlicher Stellen, der DAF und des „Reichsausschuß für Arbeitsstudien“ (REFA) zurückgegriffen. Die Strategie, die Löhne zu überprüfen und diese dem Wert und der Menge der Leistung anzupassen, verlangt die Überprüfung von zahllosen Akkorden und ihre Neufestsetzung bzw. Umgestaltung. Von diesem primär wirtschafts761 Sechs Monate...a.a.O.(=Anm. 757), 95; vgl. zu Einzelheiten: Werner, Wolfgang Franz: „Bleib übrig!“ ...a.a.O. (=Anm. 752), 44 ff. 762 Neitzel: Arbeitsschutz...a.a.O.(=Anm. 750), 284. 763 Vgl. denselben, ebenda, 284; Reichsarbeitsblatt. Teil I (1943)30, 508 - 509. 764 Vgl.: Knolle: Fünf Jahre Kriegslohnpolitik. In: Reichsarbeitsblatt. Teil V (1944)29/30, 300 - 303, hier: 301. 765 Knolle geht von einer Steigerung der Stundenverdienste bis 1944 um 15 v.H. aus; vgl. denselben, ebenda, 301. 766 Am 20. Juli 1942 erläßt der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz eine „Anordnung gegen Arbeitsvertragsbruch und Abwerbung sowie das Fordern unverhältnismäßig hoher Arbeitsentgelte in der privaten Wirtschaft“; vgl.: Kranig, Andreas: Lockung und Zwang...a.a.O.(=Anm. 232), 135, Fußn. 82.

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und produktionspolitisch bedingten „Umbau des Lohngebäudes“ sind vor allem der Bergbau, die Bauwirtschaft und die Rüstungsindustrie betroffen. Im Bergbau gilt die „Neuregelung der Gedinge“ im November 1942 als so gut wie vollendet. Für die Bauwirtschaft wird mit Datum des 2. Juni 1942 die „Reichstarifordnung über den Leistungslohn im Baugewerbe“ erlassen. Sie tritt zum 1. Januar 1943 in Kraft.767 Am 20. September 1942 erläßt der „Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz“ die „Richtlinien über lohnpolitische Maßnahmen zur Herstellung der Lohn- und Akkordgerechtigkeit und zur Leistungssteigerung in deutschen Rüstungsbetrieben“. Diese Richtlinien stehen im Zusammenhang mit anderen Vorschriften zur Herbeiführung der „Lohngerechtigkeit“.768 Neben produktionspolitischen Erfolgen sind jedoch auch bei diesen Maßnahmen Mängel in der Umsetzung, Schwierigkeiten und „Unzufriedenheiten“ aufgetreten. Insbesondere die Arbeiter sind skeptisch und befürchten und wittern verschärfte Antreiber- und Ausbeutungsmethoden. Unter den Bedingungen der letzten Kriegsphase treibt auch dieses Projekt dem Zusammenbruch zu und die Frage der „Lohngerechtigkeit“ verliert angesichts gravierendster Versorgungs- und Überlebensprobleme an Bedeutung.769 Wie zahlreiche andere sozialpolitische Projekte auch, geraten die „lohnordnenden Maßnahmen“ auf Seiten der DAF in den Verdacht, mit ihnen solle das Nachkriegssozialprogramm, insbesondere die „neue Reichslohnordnung“, an der die DAF arbeitet, präjudiziert oder torpediert werden.770 Am Lohnstop wird auch festgehalten, als im Jahre 1942 die Löhne des Auslandes dem deutschen Lohnstand - umgerechnet zur jeweiligen „Währungsparität“ - näherkommen und damit der Anreiz schwindet, im Deutschen Reich freiwillig Arbeit aufzunehmen. Statt Lohnerhöhungen werden Wechselkursänderungen diskutiert. Eine in Einzelfällen bereits praktizierte Besserstellung ausländischer Arbeiter sei jedoch unvertretbar.771 Dabei wird die Gefahr der Rückwanderung ausländischer Arbeitskräfte durchaus gesehen. Es wird auch erwogen, die Lohn- und Arbeitsbedingungen in den besetzten oder von Deutschland beeinflußten Gebieten so niedrig zu halten, daß von den in Deutschland geltenden Regelungen ein wirksamer Anreiz zur Arbeitsaufnahme im Reich ausgehe und kein Anreiz zur Rückwanderung entstehe: „Ein sichtbares Lohngefälle vom Reich zu den besetzten Gebieten muss also unter allen Umständen aufrechterhalten werden.“772 Lohnerhöhungen im Ausland gelten aus dieser Sicht geradezu als Sabotage an der deutschen Rüstungswirtschaft. Die Durchführung des totalen Kriegseinsatzes nach der militärischen Wende in Stalingrad und die absehbare Niederlage im Krieg bringen erneut Bewegung in die staatliche 767 Vgl.: Siegel, Tilla: Leistung und Lohn in der nationalsozialistischen „Ordnung der Arbeit“. Opladen 1989, 141. 768 Vgl. dieselbe, ebenda, 175 ff. 769 Vgl. insgesamt auch: Werner, Wolfgang Franz: „Bleib übrig!“...a.a.O.(=Anm. 752), 224 ff.; auf den Seiten 220 ff. auch Hinweise auf das „Eiserne Sparen“ und die Aktion „Tätige Reue“, die den sich zeigenden inflationären Tendenzen entgegenwirken sollen. Statistische Ausarbeitungen zeigen, daß die realen Bruttoarbeitsverdienste 1941 ihren Höchststand erreichen; vgl. die Statistik bei: Siegel, Tilla: Leistung und Lohn...a.a.O.(=Anm. 767), 128; vgl. auch: Statistisches Handbuch...a.a.O.(=Anm. 163), 463, 472; die Aussagekraft solcher Statistiken ist mit Vorsicht zu betrachten. 770 Vgl. dazu die „Aktennotiz über die Besprechung mit Staatssekretär Dr. Syrup am 18. Oktober 1941. BA Abt. Potsdam. 62 DAF 1. NS 5 IV, Nr. 194, Bl. 70 - 73, hier: 72. 771 Vgl. mit zahlreichen weiteren Erwägungen und Beobachtungen den geheimen Schnellbrief des „Beauftragten für den Vierjahresplan“ und des „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“ vom 21. Mai 1942. BA Abt. Potsdam. 62 DAF 1. NS 5 IV, Nr. 194, Bl. 32 - 34RS, hier: 32RS. 772 Vgl. den Schnellbrief des „Beauftragten für den Vierjahresplan“ und des „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“ vom 7. April 1942. Ebenda, Bl. 34 - 35, hier: 34.

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Gestaltung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen. 1944 werden alle Mehrarbeitszuschläge wieder zugelassen. Die acht Stunden übersteigende Arbeitszeit gilt als zuschlagspflichtig.773 Diese Regelung erfolgt vor dem Hintergrund der Tatsache, daß es durch die „Verordnung über die Sechzigstundenwoche“ vom 31. August 1944 zur „Durchführung der Maßnahmen des totalen Kriegseinsatzes“ zu einer allgemeinen Arbeitszeitverlängerung kommt und die Sechzigstundenwoche als Mindestarbeitszeit eingeführt wird.774 Die nun mit besonderem Nachdruck beabsichtigte volle „Ausschöpfung aller Kräfte für Wehrmacht und Rüstung“775 macht auch vor dem Urlaubsansprüchen keinen Halt mehr. Eine Anordnung vom 14. April 1943 hatte bereits den Urlaubsanspruch erwachsener Arbeitnehmer auf höchstens 14 Tage beschränkt und richtete sich vor allem gegen die Ansprüche besser verdienender Angestellter. Eine Anordnung vom 11. August 1944 führt eine „vorläufige Urlaubssperre“ für alle Arbeiter und Angestellten ein.776 Der vom Kriegsgeschehen und den „Menschen- und Materialanforderungen“ der Fronten ausgehende Druck auf die Arbeitszeiten findet seinen Niederschlag auch in Vorschriften über den Wegfall von fünf „Wochenfeiertagen“, die auf vorausgehende oder folgende Sonntage verlegt werden. Mit den entsprechenden Regelungen wird auch eine sozialpolitische Verbesserung, die Bezahlung von Feiertagen, rückgängig gemacht, eine Verbesserung, die in der Phase des „Vierjahresplans“ eingeführt wurde. Bemerkenswert ist, „...daß den kriegsbedingten Bestrebungen zur Ausweitung der Arbeitszeit seit 1942 auch der nationale Feiertag des deutschen Volkes am 1. Mai zum Opfer fiel...“777 Zu dieser Zeit, in der sich das NS-Regime auch „gedrängt“ sieht, verschärfte Straf- bzw. Sanktionsvorschriften gegen die „Disziplinlosigkeit“ namentlich jugendlicher „Gefolgschaftsmitglieder“ zu erlassen, wird die Arbeitszeit und die arbeitsgebundene Zeit auch auf eine andere Weise ausgedehnt. Verlängerte Anfahrtszeiten, Räumarbeiten und Wiederaufbaumaßnahmen nach Bombenangriffen, Mitarbeit im Werksluftschutz, in der Werksfeuerwehr, der Heimatflak usw. führen zu endlosen Arbeitstagen in der Endphase des Krieges.778 Die Reparatur der beschädigten Häuser und Wohnungen, die Sicherung der Überreste der Existenzgrundlage, Katastrophen der verschiedensten Art im Privatleben, die schlechte Versorgungslage bestimmen den „Feierabend“ insbesondere in den „luftgefährdeten“ Gebieten. Daneben gibt es weitere direkte Vorstöße mit dem Ziel, die Arbeitszeit als solche zu verlängern. Dazu gehört z.B. die Kampagne „2 für 3“, mit der schon Anfang 1942 versucht wird, in den dreischichtigen Betrieben durch Verlängerung der Schichtzeit eine Schicht komplett einzusparen, um trotz der vermehrten Einberufungen und Menschenverluste die Produktionsleistung auf hohem Stand zu halten. Im Bergbau werden Sonn- und Feiertagspflichtschichten vermehrt verlangt, da eine weitere Verlängerung der täglichen Arbeitszeit als produktionspolitisch sinnlos erscheint. Neben finanziellen Anreizen gibt es nunmehr auch Vergünstigungen in Form von Nahrungs- und Genußmitteln. Als 773 Vgl. den § 2 der „Zweiten Anordnung über die Vereinfachung der Lohn- und Gehaltsabrechnung“ vom 2. September 1944 (RGBl. I 1944, 196). 774 Vgl.: RGBl. I 1944, 191; für den öffentlichen Dienst vgl. die „Anordnung über die weitere Erhöhung der Mindestarbeitszeit im öffentlichen Dienst während des Krieges“ vom 7. September 1944 (RGBl. I 1944, 192); vorausgegangen war die „Anordnung über die Erhöhung der Mindestarbeitszeit im öffentlichen Dienst während des Krieges“ vom 10. März 1943 (RGBl. I 1943, 141). 775 So die Formulierung im „Erlaß des Führers über den totalen Kriegseinsatz“ vom 25. Juli 1944 (RGBl. I 1944, 161). 776 Vgl.: Kranig, Andreas: Lockung und Zwang...a.a.O.(=Anm. 232), 139; für Beamte gilt die „Anordnung über die vorläufige Urlaubssperre für Beamte“ vom 24. August 1944 (RGBl. I 1944, 176). 777 Derselbe, ebenda, 139. 778 Vgl. denselben, ebenda, 140 ff.

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Reaktion auf die Niederlage in Stalingrad werden „Stalingrad-“ bzw. „Panzerschichten“ im Bergbau gefahren. Im Zusammenhang mit den Angriffen der Alliierten, die Anfang 1944 die deutsche Luftfahrtindustrie zu zerstören drohen, kommt es ebenfalls zu rigorosen Arbeitszeitverlängerungen. Albert Speer, seit Februar 1942 „Reichsminister für Bewaffnung und Munition“, setzt mit Erlaß vom 25. März 1944 eine Wochenarbeitszeit von 72 Stunden durch.779 Es existieren aber auch gegenläufige Tendenzen der Arbeitszeitpolitik in den Branchen, wo z.B. Energieunterbrechungen und -verknappungen und Verzögerungen bei der Zulieferung verhindern, daß die volle Arbeitszeit erreicht werden kann.780 Darüber hinaus wird die Sozialpolitik ganz generell an die Auswirkungen des Luftkrieges der Alliierten angepaßt. Dies betrifft in besonderem Maße das Arbeitsrecht. Spezielle Ausfallzeiten werden definiert, luftkriegsbedingte Lohnausfälle werden aus Mitteln des „Reichsstock für den Arbeitseinsatz“ erstattet. Eine Pflicht zur Nacharbeit wird bei luftkriegsbedingtem Arbeitsausfall statuiert. Die Abwesenheit von der Arbeitsstelle zur Instandsetzung der Privatwohnung bzw. des Privathauses wird bemessen, entsprechende Verfahrensweisen werden festgelegt.781 Es ist kein Zufall sondern charakteristisch für die Endphase des Zweiten Weltkrieges, daß sich die letzte Rechtsquelle des „Dritten Reiches“, die im Reichsgesetzblatt publiziert wird, die „Verordnung über Ausfallvergütung“ vom 24. März 1945782, noch einmal mit kriegsbedingten Arbeitsausfällen und deren „Vergütung“ beschäftigt und daß Fliegerschäden wiederum eine große Rolle spielen.783

4.2.3 Die Entwicklung des Arbeitseinsatzes Mit der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges tritt die zur Arbeitseinsatzpolitik weiterentwickelte Arbeitsmarktpolitik in ihre fünfte Phase ein. Diese Phase endet teilweise bereits im Frühjahr 1942 und wird endgültig und offenkundig zu Beginn des Jahres 1943 verlassen.784 Wie auf keinem anderen sozialpolitischen Gebiet sind hier bereits im Zuge des „wehrwirt779 Vgl.: Werner, Wolfgang Franz: „Bleib übrig!“...a.a.O.(=Anm. 752), 242 ff. 780 Vgl. denselben, ebenda, 247 ff. 781 Vgl.: Arbeitsrechtliche Fragen nach Fliegeralarm. In: Wirtschaftsblatt der Gauwirtschaftskammer Berlin und Mark Brandenburg, 42(1944)9, 65 - 68; Hoppe: Das Arbeitsrecht im Luftkrieg. In: Reichsarbeitsblatt. Teil V, 24(1944)17/18, 171 - 177; vgl. grundlegend und zusammenfassend den „Erlaß über Maßnahmen des Arbeitsrechts und Arbeitseinsatzes sowie über besondere Hilfsleistungen bei Fliegeralarm und Fliegerschäden (Lohnausfallregelung bei Fliegerangriffen)“ vom 25. Januar 1944; auch diese Rechtsquelle differenziert nach rassistisch-politischen Kriterien und stuft die Leistungen entsprechend. Juden werden von den Erstattungen von Lohnausfällen vollkommen ausgenommen; vgl.: Reichsarbeitsblatt. Teil I, 24(1944)5/6, 66. 782 Vgl.: RGBl. I 1945, 50. 783 In diesem Sinne spiegelt auch die „Verordnung über die Krankenversicherung behördlich rückgeführter Versicherter“ vom 6. Februar 1945 (RGBl. I 1945, 28) und die „Verordnung zur Änderung und Ergänzung der Verordnung über das Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses bei Räumung oder Freimachung von gefährdeten Gebieten“ vom 25. Februar 1945 (RGBl. I 1945, 36) das Kriegsgeschehen. Letztgenannte Rechtsquelle bezieht sich auf das Arbeitsverhältnis der „Gefolgschaftsmitglieder von Räumungsbetrieben“ der „eingegliederten Ostgebiete.“ Sie überträgt die entsprechenden reichsgesetzlichen Rechtsquellen auf dieses Gebiet. Die erstgenannte Rechtsquelle stellt die Krankenversicherung behördlich rückgeführter Versicherter sicher. 784 Diese Phaseneinteilung entspricht der Unterscheidung zwischen der Phase des „Blitzkrieges“ und der des „totalen Krieges“; vgl. dazu: Recker, Marie-Luise: Nationalsozialistische Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 743),14; Overy geht davon aus, daß die Vorstellung einer begrenzten „Blitzkriegswirtschaft“ durch jene einer „totalen Mobilmachung“ ersetzt werden muß, die in der ersten Kriegsphase „elend scheiterte“; vgl.: Overy, Richard J.: „Blitzkriegswirtschaft“?...a.a.O.(=Anm. 692), 433.

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schaftlichen Umbaues“ der deutschen Wirtschaft, in der Vorkriegszeit also, die „Lehren“ des Ersten Weltkrieges gezogen und Institutionen und Instrumentarien entwickelt worden, die sich nun in der Kriegswirtschaft, in einer Wirtschaft unter den Bedingungen und Wirkungen des Krieges „bewähren“ sollen. Hastige Improvisationen, „Neuschöpfungen“, plötzlich aus dem Boden gestampft, sind im Unterschied zu der Lage im Ersten Weltkrieg nicht nötig. Trotzdem ist „...die Lage im Bereich des Arbeitseinsatzes in den ersten Kriegswochen von Konfusion und großer Hektik gekennzeichnet.“785 Eine wiederum unkoordinierte und sprunghafte Vergabe von Rüstungsaufträgen erschwert den zweckentsprechenden Arbeitseinsatz786 Der schon vor dem 1. September 1939 spürbare Mangel an Facharbeitern besteht fort und verschärft sich mit der Mobilmachung. Zudem stellt sich ein regionales Ungleichgewicht ein, das durch einen weiträumigen Arbeitskräfteausgleich überwunden werden soll. Dieses Hin- und Herschieben von Arbeitermassen jedoch gilt vor allem im Reichsarbeitsministerium als heikel. Der großräumige „Arbeitsausgleich“ dürfe nur mit „großer Vorsicht“ durchgeführt werden, um es nicht zu einer „bedenklichen Schwächung der inneren Front“ kommen zu lassen.787 Der kurzfristige Effekt des in diesem Zusammenhang unternommenen „Reichsausgleich Metall“ erweist sich zudem als gering. Schon Mitte September 1939 wird den Rüstungsbetrieben eingeräumt, bereits eingezogenen Facharbeiter zu reklamieren. Das System der Regelung der „U.k.-Stellungen“ wird modifiziert, ein „Sonderunabkömmlichkeitsverfahren“ wird eingeführt, die Kriegswichtigkeit von Betrieben wird neu festgelegt und natürlich fehlt es auch in diesem Zusammenhang nicht an intervenierenden Interessen, an Umsetzungsproblemen, die eine zweckrationale „Menschenökonomie“ auch im Zweiten Weltkrieg behindern. Das „Auskämmen“ von Facharbeitern aus Betrieben „minderer Wichtigkeit“ bringt nicht den erwünschten Erfolg und ruft Unruhe, Unwillen und Beschwerden hervor und zwar auf Seiten der Beschäftigten und der Unternehmer, die „ihre“ Arbeitskräfte behalten wollen. Auch die Dienstverpflichtungen, d.h. die Aufhebung der Arbeitsmarktfreiheit für abhängig Beschäftigte, führen (weiterhin) zu erheblichen Mißstimmungen. Die Durchkreuzung der Lebensplanung, eine möglicherweise geringere Entlohnung und wenig attraktive Arbeit, Barackenunterkünfte, die Trennung von Freunden, Verwandten und Familie sind es vor allem, die zur Unterminierung der „seelischen Stärke“, der „Reinerhaltung des deutschen Arbeitsgeistes“ beitragen.788 Um eine ausreichende Rüstungsproduktion sicherzustellen, beschreitet das NS-Regime weiterhin den Weg der Stillegung und Freisetzung von Kapazitäten bzw. Arbeitskräften in Wirtschaftsbereichen, die sich mit der Produktion von nicht kriegs- und lebenswichtigen Gütern und Diensten befassen. Göring umreißt in Richtlinien vom 29. November 1939 die entsprechenden Strategien. Am 21. März 1940 wird eine „Verordnung über die Stillegung von Betrieben zur Freimachung von Arbeitskräften“ erlassen.789 Sie und eine Durchführungsverordnung vom 27. August 1940790 regeln nunmehr vor allem die Beendigung des 785 Vgl.: Recker, Marie-Luise: Nationalsozialistische Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 743), 63. 786 Um in der Situation des Krieges flexibler reagieren zu können wird am 1. September 1939 die „Verordnung zur Änderung von Vorschriften über Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe“ (RGBl. I 1939, 1662) erlassen. Diese „Verordnung“ ermächtigt den Reichsarbeitsminister ganz generell „...Vorschriften über Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe den staatspolitischen Notwendigkeiten anzupassen.“ 787 Vgl.: Recker, Marie-Luise: Nationalsozialistische Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 743), 65. 788 Vgl.: dieselbe, ebenda, 65ff. 789 Vgl.: RGBl. I 1940, 544. 790 Vgl.: RGBl. I 1940, 1190.

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Arbeitsverhältnisses, den Fortbestand bzw. den Wegfall von Einrichtungen der betrieblichen Sozialpolitik und die „Abgangsentschädigung“. Als sich auch solche Aktionen, die wiederum auf erheblichen Widerstand stoßen, als insgesamt unzureichend erweisen, kommt es im Rahmen eines „Stillhalteabkommens“ vom 19. April 1940 dazu, „...daß aus Betrieben, die mit der Ausführung besonders vordringlicher Rüstungsvorhaben betraut waren, alle Angehörigen bestimmter Jahrgänge - vorläufig bis zum 30. Juni 1940 - nicht zur Wehrmacht einberufen werden sollten.“791 So sollen militärisch bedeutsame bzw. entscheidende Fertigungsvorhaben der obersten Dringlichkeitsstufe vor der personellen Ausblutung bewahrt werden. Diese Arbeitskräfte werden zunehmend durch ausländische Arbeitskräfte und Kriegsgefangene ergänzt. Vor diesem Hintergrund zeigen sich gegen Mitte des Jahres 1940 Zeichen einer leichten (vorübergehenden) Entspannung der Arbeitseinsatzlage, eine Erscheinung zu der auch die günstige Kriegslage beiträgt.792 Obwohl sich die Bürokratie, das Militär und die Wirtschaftsplanungsbehörden schon lange vor dem Krieg darüber einig waren, daß im Kriegsfalle eine umfassende Ausnutzung auch aller weiblichen Arbeitskräfte erforderlich sei,793 verzichtet das NS-Regime auf eine umfassende Zwangsmobilisierung der nichterwerbstätigen Frauen. Generelle Vorbehalte gegen das Instrument der Dienstverpflichtung, die Furcht vor einer zu starken Belastung der „inneren Front“, ideologische Vorbehalte, Skepsis hinsichtlich der davon zu erwartenden Leistungssteigerung und die vorübergehend fehlende dringliche Notwendigkeit führen dazu, daß ein Verordnungsentwurf über eine Meldepflicht im Jahre 1940 scheitert.794 Hitler spricht sich zudem mehrfach gegen eine allgemeine Frauendienstpflicht aus. Statt dessen setzt eine Kampagne der Arbeitseinsatzverwaltung ein, die der Frau die Mitarbeit in den Rüstungsbetrieben als „Ehrendienst“ schmackhaft machen soll. Arbeitsämter und Betriebe verbuchen allerdings nur spärliche Erfolge.795 So bleibt der Kreis der dienstverpflichteten, der aus ökonomischem Zwang heraus und der „freiwillig“ arbeitenden Frauen begrenzt. Dieses Bild ändert sich auch nicht durch den ab Kriegsbeginn forcierten Ausbau des „Reichsarbeitsdienstes für die weibliche Jugend.“796 Er ist wenig umfangreich und zunächst nicht auf den Krieg bezogen. Bei den rund 100.000 „Arbeitsmaiden“ handelt es sich um ledige Frauen im Alter von 15 bis 25 Jahren, die nicht berufstätig sind, nicht in einer Ausbildung stehen und nicht in der Landwirtschaft arbeiten. Während der „Reichsarbeitsdienst für die männliche Jugend“ schon weitgehend unter die Regie der Wehrmacht geraten ist und damit direkt dem Krieg dient797, werden die „Arbeitsmaiden“ zu Lasten der Kriegswirtschaft mit der Brauchtumspflege, unproduktiv betriebener Landwirtschaft, Haushaltswirt791 Recker, Marie-Luise: Nationalsozialistische Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 743), 78; das „Stillhalteabkommen“ wird mehrmals verlängert. 792 Vgl. dieselbe, ebenda, 80. 793 Vgl.: Winkler, Dörte: Frauenarbeit...a.a.O.(=Anm. 706), 82 ff. 794 Vgl. dieselbe, ebenda, 104 ff. 795 Vgl. ebenda, 108 f. 796 Ein Ausbau wird veranlaßt durch die „Verordnung über die Durchführung der Reichsarbeitsdienstpflicht für die weibliche Jugend“ vom 4. September 1939 (RGBl. I 1939, 1693); anschließend wird das Reichsarbeitsdienstgesetz neu gefaßt; vgl. die „Bekanntmachung der neuen Fassung des Reichsarbeitsdienstgesetzes“ vom 9. September 1939 (RGBl. I 1939, 1747); vgl. als weitere wichtige Ausführungsvorschriften die „Verordnung zur Durchführung und Ergänzung der Verordnung über die Durchführung der Reichsarbeitsdienstpflicht für die weibliche Jugend“ vom 21. Dezember 1939 (RGBl. I 1939, 1858) und die „Verordnung zur Durchführung und Ergänzung des Reichsarbeitsdienstgesetzes“ vom 29. September 1939 (RGBl. I 1939, 1967). 797 Vgl. als Rechtsquelle, die diese Unterordnung festlegt: „Verordnung über die Fortführung des Reichsarbeitsdienstes für die männliche Jugend während des Krieges“ vom 20. Dezember 1939 (RGBl. I 1939, 2465); vgl. auch die Durchführungsverordnung vom 10. April 1940 (RGBl. I 1940, 626).

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schaft usw. beschäftigt. Nach konfliktreichen Auseinandersetzungen wird ab Mitte 1941 nach Ableistung der Arbeitsdienstpflicht ein „Kriegshilfsdienst“ (KHD) vorgesehen,798 der allerdings keinen Einsatz in der Rüstungsindustrie vorsieht. Erst unter den Bedingungen des „totalen Krieges“ „im Winterhalbjahr 1942/43 stellte der KHD-Einsatz in der Rüstungsindustrie bereits die Regel, die Arbeit von ‘Kriegshilfsdienstmaiden’ bei Behörden, in Krankenhäusern und Familien die Ausnahme dar, 1943 wurden selbst Hausgehilfinnen nicht mehr von der Ableistung der KHD-Pflicht und damit von der Rüstungsarbeit freigestellt.“799 Vor dem Hintergrund einer Überlastung der Industrie- und Landarbeiterinnen, der Bäuerinnen und weiblichen Angestellten, wird der „Klassencharakter“ dieser Arbeitseinsatzpolitik der Frauen immer deutlicher. Bei ausbleibender „Generalmobilmachung der deutschen Frau“ und schließlich auch als Folge des Drucks primär nur auf jene Frauen, die ihre Erwerbstätigkeit bei Kriegsbeginn aufgegeben hatten,800 arbeiten schließlich vor allem jene, die aus einer Notlage heraus arbeiten müssen, einer kurzfristigen Dienstpflicht unterliegen, dienstverpflichtet sind oder aus ideologischen Gründen ihre Arbeitskraft dem Krieg zur Verfügung stellen. Zahlreich sind die Klagen vornehmlich aus dem Kreis der schwer arbeitenden und vielfältig belasteten Frauen, nicht selten derer, die Männer bzw. Söhne „im Feld“ wissen oder ihr Leben als Kriegerwitwen organisieren müssen. Sie entrüsten sich über sich „zu vornehm dünkende“ Frauen und Mädchen, die sich der (Kriegs-) Arbeit nicht stellen müssen, über „Töchter der höheren Schichten“, die sich „kriegsunwichtigen“ Studien widmen dürfen, etwa der Kunstgeschichte, der Malerei, der Musik. Sie beschweren sich über Frauen, die genügend Zeit haben, von Geschäft zu Geschäft zu laufen und den arbeitenden Frauen die „Mangelware“ wegkaufen würden. In besonderem Maße fordern auch jene jungen Frauen „mit erst einem oder zwei Kindern“, die eine „erhebliche Sucht“ sich „fein zu machen“ und auf der Straße zu „promenieren“ an den Tag legen, Kritik und Neid heraus. Selbst „Soldatenfrauen“, die bis mittags schliefen, sich die Fingernägel rot lackierten, beim Friseur Stunden säßen, werden Objekt des Neides und von überlieferten Beschwerden.801 Trotz des ideologisch bedingten zögerlichen Rückgriffs auf Frauen als Beschäftigte der Rüstungsindustrie vollzieht sich die Umschichtung des Arbeitskräftepotentials zu Gunsten der Rüstungswirtschaft als relativ rascher und kontinuierlicher Prozeß. Dies geschieht vor dem Hintergrund stetig wachsender „Anforderungen“, Bedarfe, Maßnahmen und Planungen, die erkennen lassen, daß das NS-Regime und die ihm dienstbaren Kräfte für einen 798 Vgl. den „Erlaß des Führers und Reichskanzlers über den weiteren Kriegseinsatz des Reichsarbeitsdienstes für die weibliche Jugend“ vom 29. Juli 1941 (RGBl. I 1941, 463); die erste Durchführungsverordnung datiert auf den 13. August 1941 (RGBl. I 1941, 491), die zweite auf den 29. November 1941 (RGBl. I 1941, 742), zur dritten Durchführungsverordnung vgl.: RGBl. I 1942, 95. 799 Bajohr, Stefan: Weiblicher Arbeitsdienst im „Dritten Reich“. Ein Konflikt zwischen Ideologie und Ökonomie. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 28(1980), 331 - 357, hier: 356; zahlreiche weitere Details zum Reichsarbeitsdienst der weiblichen Jugend bei: Winkler, Dörte: Frauenarbeit...a.a.O.(=Anm. 706), 129 ff. 800 Ihnen wird als „Arbeitsanreiz“ ein Teil der Familienunterstützung gestrichen; vgl: Bajohr, Stefan: Die Hälfte...a.a.O.(=Anm. 706), 269; sei es, daß sie als erwerbslose „Kriegerfrauen“ ausreichend Familienunterstützung bekommen haben, sei es, daß sie die Arbeiten des einberufenen Ehemanns z.B. im Garten, auf dem Hof, im Laden übernehmen müssen, verlassen von Oktober bis Dezember 1939 rund 300.000, bis zum Mai 1941 insgesamt 500.000 Frauen den offiziellen Arbeitsmarkt; vgl.: Sachse, Carola: Fabrik, Familie und kein Feierabend. In: Gewerkschaftliche Monatshefte, 35(1984)9, 566 - 579, hier: 571. 801 Vgl.: Bajohr, Stefan: Die Hälfte...a.a.O.(=Anm. 706), 267 f.; vgl. auch das Material der folgenden Akte: BA Abt. Potsdam. 94 Sammlung II. Weltkrieg, Nr. 686.

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großen Krieg um die Weltmacht rüsten. Ein weiteres Instrument zur Befriedigung des Bedarfs der Rüstungsindustrie an Fachkräften ist die Einführung des „Rüstungsurlaubs“ für Soldaten. So ordnet Hitler am 28. September 1940 an, „...daß 300.000 Facharbeiter (Metallarbeiter) den Winter hindurch in der Rüstungsindustrie eingesetzt werden sollten.“802 Auch diese Strategie, die bald auf andere Berufsgruppen ausgedehnt wird, führt zu Komplikationen, diesmal mit den betroffenen Truppenteilen, die solche Soldaten nicht freigeben wollen. Schließlich ergeben sich auch Probleme auf betrieblicher Ebene. Daneben dauert das Bemühen der rüstungsrelevanten Branchen an, „Schlüsselpersonal“ durch die Reklamierung als „unabkömmlich“ in den Betrieben zu halten. Die Umschulung und eine Berufsberatung, die sich weiterhin in die Richtung einer „Berufsnachwuchslenkung“ bewegt,803 tragen zur Umschichtung des Arbeitskräftepotetials ebenso bei, wie die zahlreichen Anlernkurse und bald auch die gezielte „Rückführung versehrter Soldaten in bürgerliche Berufe.“ Fritz Todt, jetzt im Amt des „Reichsministers für Bewaffnung und Munition“, setzt sich mit seinem Plan der Bildung von „Engpaß-Kommissionen“ durch, die nunmehr einen neuen Anlauf zur Versorgung der „dringlichsten Fertigungsprogramme“ mit Arbeitskräften nehmen. Besonders produktive Betriebe werden in diesen Jahren im Rahmen eines „Leistungskampfes“ als „NS-Musterbetriebe“ oder „Kriegsmusterbetriebe“ ausgezeichnet.804 Ein Erlaß vom 3. April 1940805 regelt den kriegsbezogenen Arbeitseinsatz „vorübergehend entbehrlicher“ Arbeitskräfte. Eine Durchführungsverordnung zur Verordnung über die Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels vom 7. März 1941 beinhaltet gewisse Ausnahmen von der Zustimmungspflicht des Arbeitsamtes bei Kündigungen, eine solche vom 10. Juli 1941 umschreibt gewisse Ausnahmen von der Zustimmungspflicht bei Einstellungen.806 Eine „Durchführungsverordnung zur Verordnung über die Beschränkung des Arbeitsplatzwechsel“ vom 28. Oktober 1941807 bestraft das vorzeitige Aufgeben einer Arbeitsstelle. Weitere bemerkenswerte arbeitseinsatzpolitische Aktionen finden vor einem dramatisch veränderten Kriegsverlauf statt. Im russischen Winter der Jahre 1941/42 scheitert das Blitzkriegprojekt „Barbarossa“. Die Winterkatastrophe des Ostheeres untergräbt die Siegeszuversicht. Schwere Abwehrkämpfe toben zu Beginn des Jahres 1942 an allen Fronten. Trotzdem erreicht die deutsche Machtstellung im Spätsommer 1942 ihre größte Ausdehnung. Gleichzeitig fehlen dem Krieg auf drei Kontinenten, auf den Meeren und zur Luft nun auf deutscher Seite endgültig die ausreichenden „Menschenmassen“, die entsprechende Rüstung, die Transportmittel und die „erforderlichen“ Rohstoffe. Vor diesem Hintergrund gibt die „Verordnung des Führers zum Schutze der Rüstungswirtschaft“ vom 21. März 802 Werner, Wolfgang Franz: „Bleib übrig!“...a.a.O.(=Anm. 752), 88; vgl. auch: Recker, Marie-Luise: Nationalsozialistische Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 743), 156 f. 803 Vgl. als Fortsetzung der entsprechenden Diskussionen aus der Vorkriegszeit: Menne, Otto: Berufsnachwuchslenkung ohne Zwang? In: Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe, 6(1939)20/21, 300 - 305; Stets, Walter: Nachwuchslenkung durch Nachwuchspläne. In: Monatshefte für NS.-Sozialpolitik, 9(1942), 143 - 144. 804 Vgl.: Nadrowski, Harry: Die Rückführung ‘versehrter’ Soldaten in bürgerliche Berufe. In: Monatshefte für NS.-Sozialpolitik, 8(1941), 224 - 227; vgl.: Hirche, Kurt: 44 Kriegsmusterbetriebe. In: Monatshefte für NSSozialpolitik, 9(1942), 211 - 212. 805 Vgl.: Reichsarbeitsblatt. Teil I (1940)11, 161. 806 Vgl.: RGBl. I 1941, 126 und 381. 807 Vgl.: RGBl. I 1941, 664; die NSDAP wird übrigens durch eine weitere DVO von der Zustimmung des Arbeitsamtes bei der Lösung von Arbeitsverhältnissen oder bei der Einstellung vollständig befreit; vgl. die „Fünfte Durchführungsverordnung zur Verordnung über die Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels“ vom 10. April 1942 (RGBl. I 1942, 172).

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1942808 einen unfreiwilligen Einblick in die verkommenden Sitten bei der Jagd nach Arbeitskräften. Sie wendet sich gegen vorsätzlich falsche Angaben über den Bedarf oder den Bestand an Arbeitskräften. Dem Ziel den „...Arbeitsplatzwechsel aus Betrieben der Kriegswirtschaft auf ganz besonders gelagerte und besonders dringliche Einzelfälle...“ zu beschränken und „Höchstleistungen in der kriegswirtschaftlichen Erzeugung zu erreichen“ soll die „Verordnung über die Sicherung des Gefolgschaftsstandes in der Kriegswirtschaft“ vom 20. Mai 1942809 dienen. Sie sieht für den Fall des unbefugten Verlassens eines entsprechenden Arbeitsplatzes Gefängnis und Geldstrafen, letztere in unbegrenzter Höhe oder eine dieser Strafen vor und erschwert die Lösung von Arbeitsverhältnissen in der Kriegswirtschaft. Die dazu ergehende Durchführungsverordnung vom 13. Juni 1942810 umschreibt die „Betriebe der Kriegswirtschaft“, benennt Ausnahmen von der Verordnung über die Sicherung des Gefolgschaftsstandes (Frauen, Jugendliche, Arbeitskräfte zur Probe oder Aushilfe). Sie verpflichtet „Unternehmer“ Arbeitskräfte, die für ihre kriegswirtschaftlichen Aufgaben entbehrlich sind, sofort dem Arbeitsamt zu melden. Die bereits am 1. Oktober 1942 außer Kraft tretende „Verordnung zur Sicherung des Gefolgschaftsstandes in der Kriegswirtschaft“ vom 20. Mai 1942 wird teilweise durch die „Sechste Durchführungsverordnung zur Verordnung über die Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels“ vom 29. September 1942 ersetzt.811 Am 1. Oktober 1942 wird auch für die Heimarbeiter bei kriegswichtigen Aufträgen die Arbeitspflicht ausgesprochen.812 Gemessen an der Kriegslage und am Kriegsverlauf erscheinen diese Maßnahmen gegenüber den deutschen Arbeitskräften als relativ moderat. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man auf das Ausmaß der Dienstverpflichtung blickt: „Nach einem Höhepunkt um die Jahreswende 1939/40 sank die Zahl der Dienstverpflichteten von 1,4 Millionen (Januar 1940) auf 0,68 Mill. im Oktober 1942...“813 Gerade mit Blick auf die sinkende Zahl der Dienstverpflichtungen darf nicht unterschlagen werden, daß dieses Instrument teilweise auf ungeeignete Arbeitskräfte angewendet wird und die disziplinarischen Schwierigkeiten ausgesprochen hoch sind. Schließlich muß auf den stark zunehmenden Einsatz von Ausländern und Kriegsgefangenen hingewiesen werden. Vor dem Hintergrund der fortbestehenden Lücke zwischen der „Bedarfsforderung“ und der „Bedarfsdeckung“ beim Arbeitseinsatz kommt es im Jahre 1942 zu personellen und organisatorischen Änderungen in der Arbeitseinsatzverwaltung. Diese Änderungen sind einmal darin begründet, daß Friedrich Syrup zu seinem 60. Geburtstag am 9. Oktober 1941 einen „...Zusammenbruch mit einer so schweren Erkrankung (erleidet), daß er sich nie mehr davon erholt hat.“814 Zum anderen existieren Bestrebungen des Reichsarbeitsministers, die Aufgaben der „Reichstreuhänder der Arbeit“ und der Landesarbeitsämter miteinander zu vereinigen.815 Nachdem Mansfeld in der Funktion eines „Generalbevollmächtigten für den Menscheneinsatz“ wenig bewirken kann, wird am 21. März 1942 der Gauleiter von Thürin808 Vgl.: RGBl. I 1942, 165. 809 Vgl.: RGBl. I 1942, 340. 810 Vgl.: RGBl. I 1942, 393. 811 Vgl.: RGBl. I 1942, 565. 812 Vgl. die „Anordnung zur Sicherung kriegswichtiger Heimarbeit“. In: Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger, Nr. 235 vom 7. Oktober 1942, 2. 813 Petzina, Dietmar: Die Mobilisierung...a.a.O.(=Anm. 319), 452. 814 So: Neuloh, Otto: Friedrich Syrup - ein Lebensbild. In: Derselbe (Bearb.): Hundert Jahre...a.a.O. (=Anm. 203), 24. 815 Vgl.: Kranig, Andreas: Lockung und Zwang...a.a.O.(=Anm. 232), 158.

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gen, Fritz Sauckel, zum „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“ ernannt.816 Ihm werden die Abteilungen III (Lohn) und V (Arbeitseinsatz) des Reichsarbeitsministeriums und deren nachgeordnete Dienststellen zur Verfügung gestellt und ihm wird nun die Aufgabe der Steuerung des Einsatzes sämtlicher verfügbarer Arbeitskräfte, einschließlich der „angeworbenen Ausländer“ und der Kriegsgefangenen sowie die Mobilisierung aller noch „unausgenutzten“ Arbeitskräfte im Großdeutschen Reich einschließlich des Protektorats sowie im Generalgouvernement und in den „besetzten Gebieten“ übertragen. Schließlich gewinnt Sauckel ein weitgehendes Recht zur eigenständigen Normsetzung.817 Sauckel, der auch für die Lohngestaltung verantwortlich ist, stützt sich schon Anfang April 1942 auf die „Gauleiter der NSDAP“, die er zu seinen Bevollmächtigten macht und die ihrerseits weisungsberechtigt gegenüber den Präsidenten der Landesarbeitsämter und den Reichstreuhändern werden.818 Schließlich werden mit einer Verordnung vom 27. Juli 1943 für die Reichsverteidigungsbezirke „Gauarbeitsämter“ mit den Aufgaben der Landesarbeitsämter und der „Reichstreuhänder der Arbeit“ gebildet.819 Mit diesen Entscheidungen wird der Arbeitseinsatz entschieden politisiert. Er folgt damit einer Entwicklung, die zu dieser Zeit auch auf anderen Gebieten des öffentlichen Dienstes zu beobachten ist und die der Erwartung entspricht, daß in der offenkundig desolaten militärischen Situation eine von allen „bürokratischen Hemmnissen“ freie, eine „starke nationalsozialistische Hand“ Wunder bewirken könne. Zur Bestellung Fritz Sauckels vermerkt der bekannte „Gewerkschaftsjurist“ der Weimarer Republik Franz L. Neumann aus dem Exil: „Eine bessere Wahl hätte nicht getroffen werden können, denn Sauckel repräsentiert die Hauptgruppierungen der herrschenden Klasse: Industrie, Partei und Bürokratie. Er ist ein Industrieller von nicht geringem Rang ... Er ist Parteigauleiter und insofern ein mächtiger Parteifunktionär. Er ist SS-Obergruppenführer und gehört also zum inneren Zirkel der Elite, die die Praxis der Gewaltausübung lenkt.“820 So wird nun Sauckel zur entscheidenden Figur der Arbeitseinsatzpolitik, bis dieser „europäische Menschendiktator“ im ersten Halbjahr 1944 zugunsten der Befugnisse von Speer, Himmler, Goebbels, der DAF und der Wehrmacht Kompetenzen verliert und zu einer Zeit unbedeutend wird, in der die Quellen der „Ausländerbeschaffung“ im Osten und Westen versiegen.821 Bei bestimmten Aktionen (den sog. Sauckel-Aktionen) werden in der Folge die traditionellen bürokratischen Strukturen fortlaufend ausgeschaltet. „Statt dessen zog Sauckel Angehörige der Arbeitsämter in erheblichem Maße zu mobilen Einsatzkommandos heran, die in den besetzten Gebieten mit Nachhilfe der Polizei Millionen von ‘Fremdarbeitern’ zusammenholten und

816 Vgl. den „Erlaß des Führers über einen Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“ vom 21. März 1942 (RGBl. I 1942, 179); vgl. auch die „Anordnung zur Durchführung des Erlasses des Führers über einen Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“ vom 27. März 1942 (RGBl. I 1942, 180); insgesamt und ausführlich vgl. auch: Naasner, Walter: Neue Machtzentren in der deutschen Kriegswirtschaft 1942 - 1945. Boppard am Rhein 1994, 30 ff.; zur programmatischen Grundlage seiner Arbeit vgl. ebenda, 51 ff. 817 Vgl. die „Verordnung über die Rechtsetzung durch den Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“ vom 25. Mai 1942 (RGBl. I 1942, 347). 818 Vgl. die „Anordnung Nr. 1 über Einsetzung der Gauleiter zu Bevollmächtigten für den Arbeitseinsatz in den Gauen“ vom 6. April 1942. In: Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger Nr. 117 vom 21. Mai 1942, 1. 819 Vgl. die „Verordnung über Gauarbeitsämter“ vom 27. Juli 1943 (RGBl. I 1943, 450). 820 Neumann, Franz L.: Mobilisierung der Arbeit ...a.a.O. (=Anm. 319), 261. 821 Vgl.: Eichholtz, Dietrich: Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939 - 1945. Band III: 1943 - 1945. Berlin 1996, 223 ff.

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diese als Zwangsarbeiter in die Rüstungsindustrie des Reiches pumpten.“822 Zunehmend greift das Regime auch auf die Arbeitskraft von Konzentrationslagerhäftlingen zurück.823 Mit dem Wirken Sauckels und den angesprochenen neuen Organisations- und Aktionsstrukturen ist der allmähliche Übergang der Arbeitsmarkt- bzw. Arbeitseinsatzpolitik in seine sechste und letzte Phase markiert. Vollends deutlich wird die neue Situation, als die Aussicht auf einen Sieg im „Lebensraum-Krieg“, im rassenideologischen Vernichtungsund wirtschaftlichen Raubkrieg im Winter 1942/43 schwindet. Am 2. Februar 1943 kapitulieren, nach einer von Haus zu Haus ausgefochtenen Schlacht kaum vorstellbarer Härte, die letzten Trümmer der Sechsten Armee in Stalingrad. Auch die Nachrichten aus dem Mittelmeerraum verschlechtern sich zu dieser Zeit dramatisch. Der „Alptraum von Stalingrad“ wird, wenn nicht in militärischer, so doch in psychologischer Sicht einer der großen Wendepunkte des Krieges. Die weitverbreitete Siegeszuversicht zerbricht endgültig und viele denken bereits voller Furcht über die Konsequenzen einer Niederlage nach. Auch Hitler selbst wird nun in die Kritik, in das „kritische Raunen“ der Volksstimmung einbezogen.824 Angesichts der allgemeinen Kriegssituation verkünden der Präsident der USA Franklin D. Roosevelt und der britische Premier Winston Churchill auf der Konferenz in Casablanca die Formel von der „bedingungslosen Kapitulation“ zu der Deutschland, Italien und Japan gezwungen werden sollen.825 In Deutschland leben die „Lehren“ vom „totalen Krieg“ schon seit dem Scheitern der „Blitzkriegstrategie“ wieder auf. Nunmehr soll eine Propagandawelle das Volk psychologisch auf die „totale Mobilisierung“ einstimmen. Am 18. Februar 1943 richtet Goebbels in einer Massenkundgebung im Berliner Sportpalast die mit einem begeisterten „Ja!“ beantwortete rhetorische Fragen „Wollt ihr den totalen Krieg...?“ an seine fanatisierten Zuhörer, die er sodann mit der Propagandaformel „Volk, steh auf! Und Sturm, brich los!“ entläßt.826 Die Versuche der „Umsetzung“ dieser Vorstellungen und Propagandaformeln in staatliche Sozialpolitik sind ernüchternd. Schon gegen Ende des Jahres 1942 zeigt eine „Sondereinberufungs-“ und „Rücktauschaktion“ die immer klarer hervortretende Unmöglichkeit die „Menschenbedarfe“ von Front und Heimat gleichzeitig zu befriedigen. Auch die Strategie im staatlichen und halbstaatlichen Bereich durch Arbeitskräfteaustausch, durch die Schließung von Dienststellen oder die weitere Ausdünnung des Personals genügend Menschen für Kriegszwecke „frei“ zu bekommen, bleibt angesichts des zunehmenden „Menschenhungers“ von Front und Rüstungsindustrie „ungenügend“.827 Unzureichend bleibt auch der „totale Kriegseinsatz“ in den besetzten Gebieten und die Durchführung „totaler Kriegsmaßnahmen“ in den deutschen Satellitenstaaten. Es wächst die Kriegsmüdigkeit und auch der Widerstand.828 Als Ergebnis interner Aushandlungs- und Auseinandersetzungsprozesse ergeht schließlich ein nicht zur Veröffentlichung bestimmter „Erlaß des Führers über den umfassenden Einsatz von Männern und Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung“ vom 13. 822 Broszat, Martin: Der Staat Hitlers. ...a.a.O. (=Anm. 59), 378. 823 Vgl. denselben, ebenda, 379. 824 Vgl.: Kershaw, Ian: Hitler 1936 - 1945. 2. Aufl. Stuttgart 2000, 722 ff. 825 Die Konferenz findet vom 14.01. - 25.01.1943 statt. Stalin ist wegen der Winteroffensive bei Stalingrad „unabkömmlich“. 826 Es handelt sich dabei übrigens um den „Freiheitsruf“ Theodor Körners aus dem Befreiungskrieg von 1813 gegen die Napoleonische Fremdherrschaft. 827 Vgl.: Recker, Marie-Luise: Nationalsozialistische Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 743), 176 - 179. 828 Vgl. auch: Bleyer, Wolfgang: Staat und Monopole im totalen Krieg. Berlin 1970, 80 ff.

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Januar 1943.829 Der „totale Krieg“ stelle vor Aufgaben, die im Interesse eines möglichst baldigen „siegreichen Friedens“ unverzüglich gemeistert werden müßten. Eine umfassende Erfassung von Männern und Frauen und ihr zweckentsprechender Einsatz seien notwendig. Das Ziel sei „...die wehrfähigen Männer für den Fronteinsatz frei zu machen.“ Alle UkStellungen sollen schärfstens überprüft und gegebenenfalls aufgehoben werden. Es werden weitere Reduzierungen der Verwaltungstätigkeiten verlangt. Alle Vorbereitungen und Planungen für „künftige Friedensaufgaben“ sollen nunmehr vollkommen eingestellt werden. Eine weitere Stillegung von Betrieben und Unternehmungen oder von Betriebs- oder Unternehmensteilen wird verlangt. Der „Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz“ wird verpflichtet, anzuordnen, „...daß sich für den Arbeitseinsatz noch nicht erfaßte Personen, und zwar Männer im Alter vom vollendeten 16. bis zum vollendeten 65. Lebensjahre, Frauen vom vollendeten 17. bis zum vollendeten 50. Lebensjahre zu melden haben.“ Männer und Frauen aus Handel, Handwerk, Gewerbe und aus Beschäftigungsverhältnissen in freien Berufen seien, soweit sie noch nicht eine „überwiegend kriegswichtige Tätigkeit ausüben“, in eine solche zu überführen. Es folgen Ausnahmen von der auszusprechenden Meldepflicht. Diesen Vorgaben entsprechend ergeht die (erste) „Verordnung über die Meldung von Männern und Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung“ vom 27. Januar 1943.830 Diese erste Meldepflichtverordnung zieht die Altersgrenze für Frauen niedriger als der Führererlaß und legt sie auf das vollendete 45. Lebensjahr. Sie schließt vor allem Ausländer, Männer und Frauen in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis, Angehörige der Wehrmacht, Polizei, des Reichsarbeitsdienstes, bereits voll beschäftigte Männer und Frauen, selbständig Berufstätige mit mehr als fünf beschäftigten Personen, in der Landwirtschaft und im Gesundheitswesen Tätige, Geistliche, Schüler, Schülerinnen, „Anstaltspfleglinge“, die erwerbsunfähig sind, aus. Von der Meldung befreit sind auch „werdende Mütter“ sowie Frauen mit einem noch nicht schulpflichtigen Kind oder mindestens zwei Kindern unter 14 Jahren, die im gemeinsamen Haushalt leben. Die zweite Meldepflichtverordnung vom 10. Juni 1944,831 die „weitere Kräfte“ für den „totalen Kriegseinsatz“ erfassen soll, beseitigt in der Form einer Neufassung der Verordnung vom 27. Januar 1943 einige Mängel der Meldepflicht. Die Meldepflicht, die zunächst als eine einmalige, stichtagbezogene Angelegenheit angesehen und durchgeführt wurde, wird jetzt zu einer Dauereinrichtung. „Man spricht insoweit von einem ‘Hineinwachsen’ in die Meldepflicht, d.h. jeweils bei Erfüllung der speziellen Voraussetzungen tritt die Meldepflicht ein. Das gilt nicht nur mit Erreichen der unteren Altersgrenze von 16 Jahren bei den Männern und von 17 Jahren bei den Frauen, sondern auch bei einem Fortfallen irgendwelcher Befreiungstatbestände...“832 Erst jetzt, in der Phase der Fortsetzung des Krieges über die eigentliche militärische Niederlage hinaus, wird noch einmal verstärkt auf das Reservoir der „abkömmlichen“ Frauen zurückgegriffen. Erst jetzt sind nur noch Frauen bei Schwangerschaft und mit „Kleinstkindern“ ohne Einschränkung von der Meldepflicht befreit. Kann in anderen Fällen eine Kinderbetreuung durch in Wohngemeinschaft lebende erwachsene weibliche Familienangehörige geleistet werden, die nicht berufstätig sind, so besteht grundsätzlich die Meldepflicht. Auch während der Kinderlandverschickung, die nicht mehr auf 829 Abgedruckt bei: Gersdorff, Ursula von: Frauen im Kriegsdienst 1914 - 1945. Stuttgart 1969, 375 ff. 830 Vgl.: RGBl. I 1943, 67. 831 Vgl. die „Zweite Verordnung über die Meldung von Männern und Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung“ vom 10. Juni 1944 (RGBl. I 1944, 133). 832 Stothfang, Walter: Die zweite Meldepflichtverordnung. In: Reichsarbeitsblatt. Teil V (1944)19/20/21, 194 195, hier: 194.

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bestimmte Zeit läuft, oder bei einer Umquartierung aus „luftbedrohten Gebieten“ tritt nun die Melde- und Arbeitspflicht ein. Ein Hinauswachsen aus der Meldepflicht wegen Überschreiten der Altersgrenze ist durch eine spezielle Regelung weiterhin ausgeschlossen.833 Die vielfach geforderte Heraufsetzung der Altersgrenze bei Frauen auf 50 Jahre wird erst durch die dritte Meldepflichtverordnung vom 28. Juli 1944 „nachgeschoben“. Sie „bringt“ allerdings zusätzlich nur noch die Erfassung von rund 4.000 arbeitseinsatzfähigen Frauen.834 Die vierte Meldepflichtverordnung vom 29. August 1944835 soll die durch die „Einschränkung des gesamten deutschen Kulturlebens freiwerdenden Kräfte“ erfassen helfen. Diese haben sich zum 15. September 1944 bei dem für ihren Wohnort zuständigen Arbeitsamt zu melden. Diese arbeitseinsatzpolitischen Maßnahmen eines Regimes im „Kampf um Sein oder Nichtsein“,836 werden durch weitere Maßnahmen zur Konzentration „aller Kräfte“ auf den Krieg ergänzt. Da die immer größer werdende kriegsbedingte Arbeitskräfteknappheit in der Landwirtschaft inzwischen die Lebensmittelversorgung gefährdet, beschränken sich die staatlichen Stellen nicht nur darauf, das Landdienstjahr durchzuführen und Schüler und Studenten in der Landarbeit zu beschäftigen und auch hier in großem Umfang Ausländer zu beschäftigen. Das NS-Regime spricht darüber hinaus mit einer Verordnung vom 7. März 1942 eine Dienstpflicht für nicht oder nicht voll beschäftigte „landarbeitsfähige Volksgenossen“ aus.837 Dem Geheimerlaß vom 13. Januar 1943 entsprechend, will die „Verordnung zur Freimachung von Arbeitskräften für kriegswichtigen Einsatz“ vom 29. Januar 1943838 dazu beitragen, weitere Arbeitskräfte aus Handel, Handwerk und Gewerbe unmittelbar oder mittelbar für Aufgaben der Reichsverteidigung freizumachen. Sie ermächtigt die entsprechenden Behörden Anordnungen zur Stillegung, Zusammenlegung oder Betriebseinschränkung zu erlassen. Nun „fällt“ endlich auch ein Privileg der Mittel- und Oberschichten, die während der Phase der „Arbeitsschlacht“ vielfältig geförderte Beschäftigung von Hausgehilfinnen und Hausangestellten. Die „Siebente Durchführungsverordnung zur Verordnung über die Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels“ vom 23. Februar 1943 verlangt, daß dieses Dienstpersonal dem Arbeitsamt gemeldet werden muß. Das Arbeitsamt kann nunmehr das entsprechende Arbeitsverhältnis (Lehrverhältnis) auch lösen und die so gewonnenen Arbeitskräfte in den Dienst des Krieges stellen. Eine Einstellung ist nur noch mit Genehmigung des Arbeitsamtes möglich. Die Zahl der Hausgehilfinnen bleibt jedoch hoch. Im September 1944 werden immer noch 1,3 Millionen Hilfskräfte im Haushalt beschäftigt.

833 Vgl. denselben, ebenda, 195. 834 Vgl.: „Dritte Verordnung über die Meldung von Männern und Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung“ vom 28. Juli 1944 (RGBl. I 1944, 168); vgl. auch: Naasner, Walter: Neue Machtzentren...a.a.O.(=Anm. 816), 83. 835 Vgl.: RGBl. I 1944, 190. 836 So die offizielle Propagandaformel, benutzt und „eingeführt“ an prominenter Stelle durch den im Reichsgesetzblatt abgedruckten „Beschluß des Großdeutschen Reichstags vom 26. April 1942“ (RGBl. I 1942, 247). Es handelt sich übrigens um die letzte Sitzung dieses Gremiums. 837 Vgl.: „Verordnung über den Einsatz zusätzlicher Arbeitskräfte für die Ernährungssicherung des Deutschen Volkes“ vom 7. März 1942 (RGBl. I 1942, 105). 838 Vgl.: RGBl. I 1943, 75. Die Inhaber stillgelegter Betriebe können eine „Stillegungshilfe“ zur Erhaltung des stillgelegten Betriebes und zur Sicherung eines angemessenen Lebensunterhaltes bekommen, das vor allem dann, wenn wegen des fortgeschrittenen Alters oder Krankheit ein andersweitiger Arbeitseinsatz des Betriebsinhabers nicht erfolgen kann. Vgl.: Die Hilfe bei Betriebsstillegungen. In: Sächsische Wirtschaft, 32(1943)26, 253 - 254; zu weiteren Hilfestellungen bei Betriebsstillegungen vgl. z.B.: Auswirkungen der Betriebsstillegung. In: Deutsche Volkswirtschaft, 50(1943)8, 85 - 86.

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1939 waren es 1,58 Millionen.839 Der „Erlaß des Führers über den totalen Kriegseinsatz“ vom 25. Juli 1944 soll das gesamte öffentliche Leben den „Erfordernissen der totalen Kriegführung in jeder Beziehung“ anpassen. Ein weiteres Mal sollen Kräfte aus dem „gesamten Staatsapparat“ freigemacht werden. Zu diesem Zweck wird ein „Reichsbevollmächtiger für den totalen Kriegseinsatz“ ins Leben gerufen.840 Eine „Verordnung über die Meldung von Arbeitskräften in Scheinarbeitsverhältnissen“ vom 28. Juli 1944841 ermöglicht es dem Arbeitsamt entsprechende Arbeitskräfte nach dem 15. August 1944 sofort für einen „kriegswichtigen Einsatz in der Rüstungswirtschaft“ zu verpflichten. Diese Verordnung zielt auf Menschen, die unter Ausnutzung persönlicher, insbesondere verwandtschaftlicher Beziehungen ein Beschäftigungsverhältnis fingieren oder nicht vollbeschäftigt sind. Diese Ausweichstrategien werden, nicht selten unter skandalösen Begleitumständen, insbesondere in den „höheren Kreisen“ wegen der um sich greifender Dienstverpflichtungen praktiziert. Die „Achte Durchführungsverordnung zur Verordnung über die Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels“ vom 11. August 1944842 soll dem Ziel der „Erringung des Endsieges“ dadurch dienen, daß der für die Rüstungsproduktion schädliche Arbeitsplatzwechsel noch stärker als schon zuvor eingeschränkt wird. Vor dem Hintergrund eines für das NS-Regime katastrophalen Kriegsverlaufs, schwindender „Räume“, aus denen immer weniger „Ostarbeiter“ frühzeitig genug „vor den bolschewistischen Horden“ in das Reich „überführt“ werden können,843 hoher Einberufungszahlen zur Wehrmacht, nunmehr geradezu gigantischer Menschenverluste an den Fronten und des „Abfalls“ aller Kriegsverbündeten ist der tatsächliche Mobilisierungserfolg der Meldepflichtverordnungen bei den Männern nicht nennenswert und bei den Frauen begrenzt. Die von der Arbeiterschaft ursprünglich mit geradezu enthusiastischer innerer Genugtuung begrüßte und insgeheim schon lange „geforderte“ Meldepflicht für Frauen,844 führt allerdings nur scheinbar zu Schließung von „Gerechtigkeitslücken“, indem nun auch Frauen aus der Mittel- und Oberschicht erfaßt werden. Faktisch sehen die Meldepflichtverordnungen immer noch derart viele Ausnahmebestimmungen vor, daß sich nur ein Teil dieser Frauen melden muß. Von den sich insgesamt meldenden und „abschließend bearbeiteten“ Frauen gilt nur etwas mehr als die Hälfte als „im Arbeitsprozeß einsetzbar“. Von den tatsächlich eingesetzten Frauen arbeiten wiederum nur 42,6 % in der Rüstungswirtschaft und dies teilweise auch nur halbtags.845 Dies wiederum führt zu einer anhaltenden Kritik der Arbeiterinnen und Arbeiter aus den unteren Gesellschaftsschichten an der Umsetzung der Meldepflichtaktionen. Diese vermuten, daß den „feinen Damen“ und „höheren Töch839 Vgl.: Eichholtz, Dietrich: Geschichte... Band III...a.a.O.(=Anm. 821),229 Fußn. 26; zur Verordnung vgl.: RGBl. I 1943, 114. 840 Vgl.: Reichsarbeitsblatt. Teil I (1944)22, 254. 841 Vgl.: RGBl. I 1943, 167; vgl. die Durchführungsverordnung in: Reichsarbeitsblatt. Teil I (1944)25, 309. 842 Vgl.: RGBl. I 1944, 176; die Geltungsdauer dieser Verordnung ist begrenzt. Durch die „Neunte Durchführungsverordnung zur Verordnung über die Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels“ vom 22. Februar 1945 (RGBl. I 1945, 31), wird die Geltungsdauer bis zum 31. Dezember 1945 verlängert, ein Termin, über den schon bald die bedingungslose Kapitulation hinweggeht. 843 So die verharmlosende, beschönigende und abschätzige Ausdrucksweise bei: Didier, Friedrich: Ein 15Punkte-Programm des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz. In: Reichsarbeitsblatt. Teil V (1944)22, 210 - 212, hier: 210. 844 Vgl.: Hachtmann, Rüdiger: Industriearbeiterinnen in der deutschen Kriegswirtschaft 1936 bis 1944/45. In: Geschichte und Gesellschaft, 19(1993), 332 - 366, hier: 357. 845 Vgl. denselben, ebenda, 359; vgl. in diesem Zusammenhang auch: Bleyer, Wolfgang: Staat...a.a.O.(=Anm. 828), 99.

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tern“ in erheblichem Ausmaß auch unter den Bedingungen des „totalen Krieges“ das bequemere Leben unter beinahe „friedensmäßigen Verhältnissen“ vergönnt sei. Von einer „Gummi-Verordnung“ ist die Rede. Auch die Rücksichtnahme und der besondere Betreuungsaufwand gegenüber den 1943 neu eingegliederten und arbeitsentwöhnten weiblichen Arbeitskräften stößt ab und führt zu Neid. Diese arbeits- und sozialpolitisch bedeutsame Kursänderung hin zu einer Forcierung der rüstungsrelevanten „außerhauswirtschaftlichen Frauenarbeit“ löst in den „vornehmen“ Kreisen der nunmehr meldepflichtigen Frauen geradezu einen „Schock“ aus. Es kommt wiederum zu erheblichen Ausweichreaktionen, die zu den erwähnten mäßigen „Rekrutierungserfolgen“ beitragen. Scheinarbeitsverhältnisse werden, trotz ihrer Illegalisierung, weiter gesucht und begründet. Ärztliche Atteste und Empfehlungsschreiben werden „hochgestellten Persönlichkeiten“ vorgelegt. „Die Anzahl der Anträge auf Pflegestellen und Adoptionen von Kindern, der Eheschließungen und von angemeldeten Schwangerschaften schnellte Sprunghaft in die Höhe. Bei vielen Frauen, selbst solchen über 45 Jahren, erwachte ‘der Wunsch zum Kind’, um dadurch vom Arbeitseinsatz freizukommen, konstatierte der Lagebericht des SD vom 11. Februar 1943.“846 Verbreitet ist offensichtlich auch der Wunsch, eine „Bürostelle“ anzunehmen und das möglichst auch nur halbtags.847 Bei ihrer Ablehnung der industriellen Arbeit können sich die Frauen auf die NS-Weltanschauung und Propaganda berufen, die zu besonderen Schutzmaßnahmen geführt und das traditionelle Frauenbild und die Mutterschaft der erbgesunden deutschen Frau als Ziele propagiert haben.848 Gerade die auf verschiedene Kräfte, Interessen und Anschauungen zurückgehende kompromißhafte und „halbherzige“ Form der Meldepflicht und ihre überaus späte Einführung führt dazu, daß sich jene Befürchtungen realisieren, nach denen die „Totalisierung“ des Krieges an der Heimatfront bedrohliche Spannungen auslösen werde. In der Arbeiterschaft vor allem wächst die Kritik an den nun deutlich sichtbarer werdenden klassengesellschaftlichen Strukturen und am braunen „Bonzentum.“ Vorstöße durch neue allgemeine oder spezielle lohnpolitische Maßnahmen die wachsenden Spannungen auszugleichen, oder, wie von der DAF vorgeschlagen, zum gleichen Zweck die Löhne der Frauen jenen der Männer anzugleichen, werden nicht umgesetzt. Die Vorstöße der DAF werden von Hitler aus familienideologischen Gründen zurückgewiesen, nach denen grundsätzlich nur der Mann verdienen soll. Die Frau solle „im Frieden“ hoffentlich „...im allgemeinen wieder aus den Betrieben herausgenommen werden können, damit sie sich der Familie widme.“849 Auf erheblichen Widerstand stoßen auch die Bestrebungen, im Zeichen des „totalen Krieges“, einem „totalen Arbeitseinsatz“850 dadurch näher zukommen, nicht kriegsbedeutsame Branchen in immer stärkerem Ausmaß stillzulegen, um sodann die Betriebsinhaber und ihre Beschäftigten zu einem Einsatz in der Kriegsindustrie zu verpflichten. Die entsprechenden durch die Verordnung vom 29. Januar 1943 ausgelösten, kontrovers diskutierten und uneinheitlich durchgeführten Maßnahmen851 rufen große Erregung bei den Betrof846 Bleyer, Wolfgang: Staat...a.a.O.(=Anm. 828), 98. 847 Vgl. den instruktiven Beitrag von: Harms, Gerda: Zur Verordnung über die Meldung von Männern und Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung. In: Die Ärztin, 19(1943) H. 4 - 6, 97 - 100, hier: 98. 848 Vgl. dazu vor allem auch: Naasner, Walter: Neue Machtzentren...a.a.O.(=Anm. 816), 60 f. 849 Niederschrift einer Sitzung vom 25. April 1944; zit. nach: Hachtmann, Rüdiger: Industriearbeiterinnen ...a.a.O.(=Anm. 844), 360 850 Vgl.: Stothfang, Walter: Totaler Krieg - totaler Arbeitseinsatz. In: Der Vierjahresplan. Zeitschrift für nationalsozialistische Wirtschaftspolitik, 7(1943)3, 98 - 99. 851 Vgl. zu Details: Bleyer, Wolfgang: Staat...a.a.O.(=Anm. 828), 99 ff.

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fenen und auch in den Bevölkerungskreisen hervor, die von Versorgungsmängeln und vernichteten Arbeitsplätzen betroffen werden. Jeder Händler und Gewerbetreibende versucht seinen Betrieb zu erhalten, der Existenzkampf nimmt noch erbittertere Formen an. Wie die Frauen, so können sich auch die „Mittelständler“ bei ihren Protesten auf die offizielle Ideologie berufen. Eine Fülle von Beschwerden erreicht die Behörden, Parteidienststellen und einzelne Exponenten des NS-Regimes. Um die Mißstimmung zu dämpfen, müssen Stillegungsbescheide revidiert werden. Offensichtlich verbreitet sich der Eindruck, daß der Mittelstand, daß das von der NS-Bewegung einst umworbene Kleinbürgertum zerschlagen werden solle „...zugunsten einer staatskapitalistischen Konzentration der Wirtschaft, von welcher eine kleine Führungsschicht allein den Vorteil habe.“852 Da die politische Verdrossenheit des Mittelstandes ernst genommen wird, führen diese Stillegungsaktionen in der Phase des „totalen Krieges“ zu dürftigen Ergebnissen. Bedeutsamer sind die Stillegungsund „Auskämmaktionen“ in der „nicht kriegswichtigen“ Industrie. Hier werden noch einmal etwa 400.000 bis 500.000 Arbeitskräfte im Frühjahr 1943 in rüstungswichtige Betriebe umgesetzt bzw. für die Rüstung neu eingesetzt.853 Durch die Gesamtheit aller Maßnahmen können in den Monaten Januar bis Juni 1943 noch einmal über eine Millionen Männer zur Wehrmacht eingezogen und etwa zwei Millionen deutsche Männer und Frauen für einen unmittelbar kriegsbezogenen Arbeitseinsatz verpflichtet werden.854 Das „Kriegsschicksal“ hat sich dadurch nicht wenden lassen, das gelingt auch durch die Maßnahmen des Jahres 1944 nicht. Die zweite und dritte Meldepflichtverordnung und die Gewinnung von Arbeitskräften durch die erneute Einschränkung von Verwaltungen und Betrieben erbringen noch einmal rund eine Millionen Arbeitskräfte, die dem „totalen Kriegseinsatz“ zugeführt werden. Es gibt daneben noch einige weitere „verzweifelte“ bzw. barbarische Strategien der Gewinnung von Arbeitskräften für die Rüstungswirtschaft. Dazu zählt der Einsatz von „leichtkranken Fällen“ aus Lazaretten und Krankenhäusern, der Einsatz der Justizhäftlinge, ein verstärkter Einsatz von Konzentrationslagerhäftlingen. Tatsächlich kommt es jetzt, gegen Ende des Krieges, unter Zurückstellung der Vernichtungsabsicht, auch noch zu einem nennenswerten Einsatz von Juden in der Rüstungsindustrie.855 Unter diesen Bedingungen erreicht die Kurve der Rüstungsproduktion, wenn und soweit man der überlieferten Statistik trauen kann, im Jahre 1944 in fast allen Bereichen Höchstwerte und steuert doch seit dem Sommer desselben Jahres in eine unaufhaltsame Endkrise.856 Im Herbst 1944 beginnt sich die Lage beim Arbeitseinsatz erstmalig zu „entspannen“. Das Gesamtvolumen der Rüstung schrumpft. Die Räumung bisher besetzter Gebiete bringt nun einen Zustrom von Arbeitskräften. Zu Beginn des Jahres 1945 steht die allgemeine wirtschaftliche und soziale Katastrophe, das Chaos der Zusammenbruchsgesellschaft, kurz bevor. Vorrückende Fronten, Frontnähe, Verlagerungsausfälle, fortgesetzte sowohl gegen die Bevölkerung als auch gegen die wirtschaftlichen Infrastrukturen gerichtete Luftangriffe, Alarme, Transportschwierigkeiten, Kohle-, Energie-, Rohstoffmangel, fehlende Zulieferungen und Vorprodukte führen nunmehr zu ganz bedeutenden Produktionseinschränkungen oder zu Produktionszusammenbrüchen. Die Fertigung in den wichtigen 852 So ein SD-Bericht vom 1. März 1943; zit. nach demselben, ebenda, 104. 853 Vgl. denselben, ebenda, 110. 854 Vgl. denselben, ebenda, 116. 855 Vgl.: Eichholtz, Dietrich: Geschichte...Band III...a.a.O.(=Anm. 821), 234 ff. 856 Vgl. denselben, ebenda, 79.

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Rüstungsprogrammen sinkt bedeutend. Die sowjetische Offensive im Januar 1945 setzt Flüchtlingsströme in Bewegung. Millionen Menschen geben Haus, Hof und Habseligkeiten auf und bewegen sich bei großer winterlicher Kälte nach Westen. Für die auch so „gewonnen“ Arbeitskraftreserven findet sich nun keine Verwendung mehr, obwohl auch 1945 noch zahlreiche Lenkungsmaßnahmen ergriffen werden. Es entwickelt sich jetzt eine rasch um sich greifende Arbeitslosigkeit. Zu dieser Zeit kommt es auch zu einer schweren Krise der Versorgung mit Lebensmitteln. Das Millionenheer der ausländischen Arbeitskräfte wird mehr oder weniger rasch „freigesetzt“ und gibt Anlaß zu vielerlei „Befürchtungen“ in der deutschen Bevölkerung. Auf den Kommandohöhen von Wirtschaft und Politik verbreitet sich noch einmal die Angst vor einer politisch-revolutionären Endkrise wie 1918/19. Die Haltung der Arbeiterschaft ist jedoch überwiegend von Apathie und dumpfem Fatalismus sowie von dem verzweifelten Willen bestimmt, zu überleben. Die traditionell revolutionären Kräfte aus der Arbeiterbewegung sind zudem durch Verfolgung und Tod geschwächt und bis in die letzten Tage und Stunden hinein muß der Spitzel- und Repressionsapparat des untergehenden NS-Regimes gefürchtet werden.

4.2.4 Die „Reichsversicherung“ im Kriege Auf vielfältige Weise wird auch die „Reichsversicherung“ an die veränderten Verhältnisse und Kriegsfolgen angepaßt. Dabei kann man zwischen Maßnahmen unterscheiden, die die „Reichsversicherung“ bzw. die Sozialversicherungen insgesamt und solchen die einzelne Zweige betreffen.857 Die Absicht einer möglichst umfassenden Mobilisierung der „Kräfte der Nation“ für kriegerische Staatszwecke führt zu einem Prozeß der „Vereinfachung“ in der Verwaltung des „völkischen Sozialstaats“. Die Grundlage ist der umfassende „Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Vereinfachung der Verwaltung“ vom 28. August 1939, der alle Behörden „verschlanken“ und noch einmal auf den Krieg, die „Reichsverteidigung“ einschwören soll. Er enthält entsprechende Maßnahmen und Ermächtigungen.858 Für das Gebiet der Sozialversicherungen wird die „Verordnung über die Vereinfachung des Verfahrens in der Reichsversicherung und der Arbeitslosenversicherung“ vom 28. Oktober 1939859 erlassen. Bereits vor dem Hintergrund des „totalen Krieges“ ergeht die „Verordnung über die weitere Vereinfachung des Verfahrens in der Reichsversicherung und der Arbeitslosenversicherung während des Krieges“ vom 26. Oktober 1943.860 Beide Verordnungen „beschneiden“ das Spruchverfahren in der „Reichsversicherung“ und nehmen den Versicherten bestimmte Möglichkeiten zur Wahrung ihrer Interessen bzw. Rechte. Aus nationalsozialistischer Sicht verhelfen sie „...zu einer trotz aller Personalbeschränkungen glatten Abwicklung der anfallenden Streitsachen. Allen Verzögerungen ist durch Abschaf857 So auch: Peters, Horst: Die Geschichte ...a.a.O. (=Anm. 571), 110 ff. 858 Vgl.: RGBl. I 1939, 1535. Der noch im „Frieden“ ergehende Führererlaß beginnt mit den Worten: „Die Verteidigung von Volk und Reich erfordert reibungslose Arbeit der öffentlichen Verwaltung“. Der Erlaß solle dem Zweck dienen, die Verwaltung instand zu setzen, „...auch unter schwierigsten Verhältnissen ihre Aufgaben gegenüber Volk und Reich zu erfüllen.“ Umfassend zu diesem Führererlaß und den Vorschriften für die Sozialversicherung: Knoll, E.(rnst): Die Vereinfachung der Verwaltung in der Sozialversicherung. In: Die Ortskrankenkasse, 26(1939)30, 969 - 974. 859 Vgl.: RGBl. I 1939, 2110. 860 Vgl.: RGBl. I 1943, 581; vgl. als Kommentierung: Goldammer, Otto: Zur Verordnung über die weitere Verfahrensvereinfachung in der Reichsversicherung und der Arbeitslosenversicherung vom 26. Oktober 1943. In: Reichsarbeitsblatt. Teil II, 23(1943)31, 473 - 478.

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fung des Antrags auf mündliche Verhandlung, die Einschränkung des Instanzenzuges und der Möglichkeit der Beibringung immer neuer Gutachten, der Boden entzogen.“861 Die endgültige Degeneration des Streitverfahrens in der „Reichsversicherung“ wird durch die „Verordnung über die Anpassung des Verfahrens der Sozialversicherung an den totalen Kriegseinsatz“ vom 26. Januar 1945 erreicht.862 Die Arbeit der Lohnbüros wird durch die Erste und „Zweite Verordnung über die Vereinfachung des Lohnabzugs (Zweite Lohnabzugs-Verordnung - Zweite LAV - )“ vom 1. Juli 1941 bzw. vom 24. April 1942 in Verbindung mit der Durchführungsverordnung vom 15. Juni 1942 „erleichtert“.863 Der Beitragseinzug der Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung wird durch diese Verordnungen zusammengefaßt und den Krankenkassen übertragen. Diesen obliegt dann die Verteilung auf die einzelnen Versicherungszweige. Schwierige Lohnabzugsverfahren sollten „...der Konzentration aller Kräfte auf die siegreiche Durchführung des Krieges nicht im Wege stehen.“864 Im großen Umfang wird das Markenkleben in der Rentenversicherung beendet. Durch weitere Rechtsvorschriften wird bestimmt, daß die Beiträge zur Sozialversicherung von dem Betrag zu berechnen sind, der für die Berechnung der Lohnsteuer maßgeblich ist, d.h. der Entgeltbegriff in der Sozialversicherung wird dem der Lohnsteuer angepaßt. Diese Lohnabzugsregelungen bringen in der Rentenversicherung den Übergang vom Lohnklassensystem auf die Prozentualbemessung.865 Daneben enthalten die eingangs erwähnten „Lohnabzugs-Verordnungen“ steuerrechtliche Vorschriften.866 Den Endpunkt der „Vereinfachungsbemühungen“ in der Sozialversicherung stellt die „Erste Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung“ vom 17. März 1945 dar. Zu dieser Zeit, zu der das durch den Luftkrieg schwer gezeichnete Berlin bereits von 40.000 bis 50.000 Ostflüchtlingen täglich „überflutet“ wird, in dieser Situation nur rund einen Monat vor dem Einsetzen der russischen Offensive auf die Reichshauptstadt, regelt die Verordnung vom 17. März 1945 auf über neun Druckseiten Fragen der Versicherungspflicht in der Krankenversicherung, der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, Fragen des Leistungs- und Beitragsrechts der Krankenversicherungen der Arbeiter und Angestellten und solche des Beitragseinzuges und weitere Punkte in akribischer Form. Unberührt vom „Stand der Dinge“ vergißt sie nicht, die „Alpen- und Donau-Reichsgaue“, die „ehemaligen tschechoslowakischen“ Gebiete und die „eingegliederten Ostgebiete“ in ihren Vorschriften indirekt oder ausdrücklich zu berücksichtigen. Sie erscheint letztlich wie eine Vorarbeit zu einer „Großdeutschen Reichsversicherungsordnung“. Im Reichsgesetzblatt vom 11. April 1945 (S. 41 ff.) veröffentlicht, soll die Verordnung im wesentlichen am 1. Juni 1945 in Kraft

861 Weitere Vereinfachung des Spruchverfahrens in der Reichsversicherung. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, 24(1943)11/12, 160. 862 Vgl.: RGBl. I 1945, 20. 863 Vgl.: RGBl. I 1941, 362; RGBl. I 1942, 252; RGBl. I 1942, 403. Später erfolgt dann eine weitere Erleichterung der Arbeit der Lohnbüros durch die „Erste Anordnung über die Vereinfachung der Lohn- und Gehaltsabrechnung“ vom 12. Juli 1944 (RGBl. I 1944,166). Die Anordnung sieht eine Verlängerung des Lohn- und Gehaltsabrechnungszeitraumes und Rundungen der Lohnbeträge vor. Am 2. September ergeht eine „Zweite Anordnung...“ (Vgl.: RGBl. I 1944, 196). 864 So: Engel, Hans: Die Entwicklung der Reichsversicherung im Kriege. In: Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft, 42(1942), 237 - 256, hier: 238. 865 Vgl. denselben, ebenda, 254. 866 Vgl. mit genaueren Angaben z.B.: Schatz, H.: Der einheitliche Beitragseinzug in der Sozialversicherung. In: Die Innungskrankenkasse, 20(1942)5, 65 - 73.

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treten. Sie verweist mit diesem Datum in das in Zonen aufgeteilte und von den Staaten der „Anti-Hitler-Koalition“ beherrschte Nachkriegsdeutschland. Das NS-Regime bewirkt schon aus Gründen der Legitimation und der inneren Stabilität mit einer ganzen Reihe von Rechtsvorschriften, daß die im Zweiten Weltkrieg expandierenden Zwangsdienste keinen Nachteil auf dem Gebiet der Sozialversicherung nach sich ziehen. Die „Zweite Durchführungsverordnung zur Notdienstverordnung (Sozialversicherung der Notdienstpflichtigen)“ vom 10. Oktober 1939867 gibt ein wichtiges Grundmuster vor: Ein kurzfristiger Notdienst berührt ein bestehendes Sozialversicherungsverhältnis nicht. Werden die bisherigen Dienstbezüge weitergezahlt, so bleibt das bestehende Sozialversicherungsverhältnis unberührt. Wird im „Notdienstverhältnis“ ein Beschäftigungsverhältnis begründet, „...so finden für die Sozialversicherung die allgemeinen Vorschriften sinngemäße Anwendung.“ Bei einem „Notdienstverhältnis“ ohne Beschäftigungsverhältnis besteht unter bestimmten Umständen Krankenversicherungspflicht. Die Beiträge werden nicht von dem Notdienstpflichtigen, sondern vom „Dienstleistungsempfänger“ allein getragen. Weitere Vorschriften sorgen bei bestimmten öffentlich Bediensteten für eine gewisse sozialversicherungsrechtliche „Komfortabilität“ auch des Notdienstes.868 Hinzu treten verschiedene Formen der „Dienstpflichtunterstützung“ während der Ausübung des Zwangsdienstes (Trennungszuschlag, Mehreinkommen, Sonderunterstützung), so daß ein eigener, in zahlreichen Rechtsquellen geregelter und sich im Zeitablauf ändernder sozialpolitischer „Mikrokosmos“ für diese Beschäftigungsformen besteht.869 Sozialversicherungsvorschriften gelten darüber hinaus u.a. auch für Luftschutzdienstpflichtige.870 Den Endpunkt dieser besonderen Art der sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen bildet der „Deutsche Volkssturm“. Durch Führererlaß vom 25. September 1944 gebildet,871 werden für die „Volkssturmsoldaten“ arbeitsrechtliche Bestimmungen geschaffen, die vom Beginn der siebenten Woche an den Bestimmungen für die „regulären“ Soldaten entsprechen.872 Die sozialversicherungsrechtlichen und andere Regelungen finden sich in den Durchführungsbestimmungen vom 6. Februar 1945.873 Von übergreifender Bedeutung für die drei Hauptformen der Rentenversicherung ist in diesem Zusammenhang eine Verordnung vom 13.

867 Vgl.: RGBl. I 1939, 2018. 868 Vgl. die „Sechste Durchführungsverordnung zur Notdienstverordnung (Zusätzliche Alters- und Hinterbliebenenversorgung bei Heranziehung zum langfristigen Notdienst)“ vom 22. Mai 1940 (RGBl. I 1940, 815). 869 Einen ersten Eindruck bietet: 10 Jahre Soziale Sicherung...a.a.O.(=Anm. 635), 85 ff.; vgl. etwa auch die „Erste Durchführungsverordnung zur Notdienstverordnung“ vom 15. September 1939 (RGBl. I 1939, 1775). 870 Vgl. die „Verordnung über die Sozialversicherung der einberufenen Luftschutzdienstpflichtigen“ vom 11. November 1939 (RGBl. I 1939, 2181); vgl. auf die Notdienstpflichtigen und die Dienstverpflichteten bezogen auch die Ausführungen bei: Engel, Hans: Die Entwicklung der Reichsversicherung im Kriege ...a.a.O. (=Anm. 864), 239. 871 Vgl.: RGBl. I 1944, 253; der Feind strenge seine Kräfte an, um „unser“ Reich zu zerschlagen, „...das Deutsche Volk und seine soziale Ordnung zu vernichten. Sein letztes Ziel ist die Ausrottung des deutschen Menschen“, heißt es in den Propagangdaformeln, die dem Erlaß vorangestellt sind. An anderer Stelle heißt es: „Dem uns bekannten totalen Vernichtungswillen unserer jüdisch-internationalen Feinde setzen wir den totalen Einsatz aller deutschen Menschen entgegen.“ 872 Vgl. die „Verordnung über die Stellung der Angehörigen des Deutschen Volkssturms“ vom 1. Dezember 1944 (RGBl. I 1944, 343) sowie: „Erste Durchführungsbestimmungen zur Verordnung über die Stellung der Angehörigen des Deutschen Volkssturms (Arbeitsrechtliche Vorschriften)“ vom 17. Januar 1945 (RGBl. I 1945, 15.) 873 Vgl.: „Zweite Durchführungsbestimmungen zur Verordnung über die Stellung der Angehörigen des Deutschen Volkssturms (Sozialversicherungs- sowie fürsorge- und versorgungsrechtliche Vorschriften)“ vom 6. Februar 1945 (RGBl. I 1945, 24).

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Oktober 1939,874 die die beitragsfreien Zeiten des Einsatzes in der Wehrmacht als Wartezeiten und Ersatzzeiten in den Rentenversicherungen anrechnet und den Versicherten aus Mitteln des Reiches Steigerungsbeträge gewährt.875 Auf diese Regelung nehmen die Sonderregelungen für die übrigen Zwangsdienste Bezug.876 Darüber hinaus gilt in den Rentenversicherungssystemen die Wartezeit bei Versicherten, „...die während des Krieges als Soldaten gestorben oder infolge Beschädigung bei besonderem Einsatz oder Wehrdienstbeschädigung invalide oder berufsunfähig geworden sind, stets als erfüllt.“877 So wird das System der Rentenversicherung mit Ansprüchen belastet, die aus dem Krieg resultieren. Für alle Zweige der Sozialversicherung gelten auch die allgemeinen Bestimmungen, die sich im „Gesetz über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus Anlaß des Krieges“ vom 15. Januar 1941878 finden. Dieses Regierungsgesetz verlängert die Amtszeit der ehrenamtlichen Leiter von Trägern der Reichsversicherung und ihren Verbänden und von ärztlichen Sachverständigen der Oberversicherungsämter bis auf weiteres. Dies gilt nicht für die Leiter, die am 31. Dezember 1940 das 68. Lebensjahr vollendet, „...oder die einer Loge oder ähnlichen Organisationen angehört haben.“ Der § 2, der auch für die Arbeitslosenversicherung gilt, bestimmt: „Verjährungsfristen und Ausschlußfristen für die Anmeldung von Ansprüchen laufen frühestens mit dem auf das Kriegsende folgenden Kalenderjahr ab.“879 Älteren invaliden Menschen z.B., die sich wieder dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt haben und denen die Rente wegen ihrer Berufstätigkeit entzogen wurde, wird sie auf Antrag wieder gewährt. In der Krankenversicherung, die durch den Krieg unmittelbar vor gravierende „Umstellungsprobleme“ gestellt wird, wird die „Betreuung“ der Familienmitglieder der zum Wehrdienst einberufenen Versicherten zu einer wichtigen Aufgabe. Für den zur Wehrmacht Einberufenen ruht die Versichertenkrankenhilfe, da er einen Anspruch auf „freie Heilfürsorge“ gegen die Wehrmacht hat. Trotz der den Familienmitgliedern zu gewährenden Leistungen ruht die Beitragspflicht während der Einberufung vollkommen. Es ruht auch die Krankenscheingebühr für die Inanspruchnahme der Familienkrankenpflege. Da die Krankenkassen demnach ohne entsprechende Beitragseinnahmen Leistungen gewähren müssen, ersetzt das Reich den Versicherungsträgern 80 % der entstehenden Aufwendungen der Familienhilfe der Einberufenen. Diese Regelungen gelten auch „...für die zu Übungen zur 874 Es handelt sich um die „Verordnung über die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten sowie die knappschaftliche Pensionsversicherung während des besonderen Einsatzes der Wehrmacht“ vom 13. Oktober 1939 (RGBl. I 1939, 2030). 875 Auch auf dem Gebiet der Arbeitslosenversicherung ruht die Beitragspflicht; vgl.: Münz: Sozialpolitik im Kriege. In: Die Ortskrankenkasse, 27(1940)1, 5 - 9, hier: 6 f.; zu den Steigerungsbeträgen vgl. die Verordnung des Reichsarbeitsministers vom 8. Oktober 1941 über die Gewährung von Steigerungsbeträgen im jetzigen Kriege (RGBl. I 1941, 634). 876 Diese Bestimmungen sind in der „Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung“ vom 17. März 1945 zu einem § 1263 der RVO „verdichtet“ worden. Sie werden erweitert auf Zeiten und auf Versicherte, die während eines Krieges, „...ohne Kriegsteilnehmer zu sein, durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr aus dem Ausland verhindert gewesen...“ sind, wenn die Versicherung vorher bestanden hat. 877 Engel, Hans: Die Entwicklung...a.a.O.(=Anm. 864), 246 ff. 878 Vgl.: RGBl. I 1941, 34. 879 Weitere Einzelheiten: Grünewald: Das Gesetz über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus Anlaß des Krieges. In: Die Ersatzkasse, 25(1941)3, 25 - 29 sowie: Künstler, H.: Die Durchführungsverordnung zum Gesetz über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus Anlaß des Krieges vom 13. September 1941. In: Blätter für öffentliche Fürsorge und soziale Versicherung, 26(1941)23/24, 141 - 146, dort auch weitere Erläuterungen.

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Polizeiverstärkung einberufenen versicherten SS-Männer, für die von den Hauptzollämtern einberufenen Hilfsgrenzangestellten, für die an der Rückkehr infolge feindlicher Maßnahmen verhinderten Besatzungsmitglieder deutscher Handelsschiffe und für Teilnehmer an sonstigen dem Wehrmachtdienst ähnlichen Diensten.“880 Dabei gestaltet sich die Sicherstellung der ärztlichen Behandlung als äußerst schwierig, da zahllose Ärzte und anderes medizinisches Fachpersonal eingezogen worden ist, um die „Wunden“, die der Krieg dem deutschen militärischen Gewaltpotential zufügt, „schließen“ zu helfen. Eine vorübergehende Zulassung von bislang nicht zugelassenen Ärzten, verlängerte Dienstzeiten, ein Abgehen von bisherigen Qualitätsstandards und andere Maßnahmen sollen diesem Mangel abhelfen.881 Die Zugänglichkeit des Krankenversicherungssystems etwa für Menschen, die als Zivilisten „gefährdete Grenzgebiete“ verlassen müssen, wird verbessert: Falls sie die Mitgliedschaft bei einer Kasse glaubhaft machen, können sie die in Frage kommenden Leistungen auch von einer an sich „unzuständigen“ Kasse gewährt bekommen. Die Tatbestände der „Luftverschollenheit“ und der „Kriegsverschollenheit“ finden Eingang in das Reglement der gesetzlichen Krankenversicherung und lösen gegebenenfalls die Zahlung des Sterbegeldes aus.882 Der „Wirkungskreis“ der Krankenversicherung folgt auch räumlich dem Kriegsverlauf: „...die Reichsdeutschen im Generalgouvernement, in Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien und dem besetzten Frankreich werden von deutschen Krankenkassen versorgt ... Daneben sind die ... Sonderkrankenkassen mit der Organisation Todt vorgerückt...“ vermerkt ein sachkundiger Kommentator im Jahre 1941.883 Unter den beinahe „zahllosen“ Anpassungsreaktionen der gesetzlichen Krankenversicherungen an den Krieg, die in Kürze gar nicht darstellbar sind, ragen die Leistungsverbesserungen heraus, die sich auf diesem Gebiet aus dem bereits erwähnten „Gesetz über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus Anlaß des Krieges“ vom 15. Januar 1941 ergeben. Es werden z.B. die immer noch bestehenden Notverordnungsvorschriften aufgehoben. § 9 (2) bestimmt: „Die Kosten für Arznei-, Verband-, kleinere Heil- und Hilfsmittel werden in vollem Umfange getragen. Die Gebühr für den Krankenschein und der Beitrag für das Arznei-Verordnungsblatt entfallen.“ Mehrleistungen, die nicht zu einer Erhöhung der Krankenkassenbeiträge führen dürfen, werden wieder zugelassen. Das Gesetz vom 15. Januar 1941 verbessert die Leistungen für Geschlechtskranke. Die Krankenversicherung beteiligt sich, neben der Rentenversicherung, an der vorbeugenden Gesundheitsfürsorge und an der Kinderfürsorge: „Sie hat in Zusammenarbeit mit der NSV. einen vollkommenen Krankheitsschutz der verschickten Kinder sichergestellt, und sie beteiligt sich an den Kosten der Diphtherie-Schutzimpfungen.“884 Von besonderer Bedeutung ist auch ein Erlaß des Reichsarbeitsministers vom 20. Mai 1941.885 Unter der Bedingung, daß nach vertrauensärztlichem Gutachten begründete Aussicht darauf besteht, daß ein Kranker in absehbarer Zeit wieder „arbeitseinsatzfähig“ sein 880 Engel, Hans: Die Entwicklung...a.a.O.(=Anm. 864), 239. 881 Vgl.: Kriegsmaßnahmen in der Krankenversicherung. In: Die Betriebskrankenkasse, 32(1939)17, Sp. 379 384, hier: Sp. 382 f.; um den Interessen der einberufenen Ärzte, Zahnärzte und Dentisten nicht zu schaden, unterbleiben zumindest zeitweise während des Krieges die ordentlichen Zulassungen zur Kassenpraxis; vgl.: Engel, Hans: Die Entwicklung...a.a.O.(=Anm. 864), 240. 882 Vgl.: Kriegsmaßnahmen...a.a.O.(=Anm. 881), Sp. 381f. 883 Vgl. teilweise im Original gesperrt gedruckt: Grünewald: Kriegsmaßnahmen in der Krankenversicherung. In: Reichsarbeitsblatt. Teil II, 21(1941)4, 71 - 76, hier: 71. 884 Engel, Hans: Die Entwicklung...a.a.O.(=Anm. 864), 240. 885 Es handelt sich um den Erlaß IIa 7213/41 des Reichsarbeitsministers, Betr.: Verbesserungen in der gesetzlichen Krankenversicherung; vgl.: Reichsarbeitsblatt. Teil II (1941)15, 197.

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wird, wird Krankengeld bis zur Wiederherstellung der Arbeitseinsatzfähigkeit weitergewährt. Die Leistungen der Krankenversicherung werden umfassend „entfristet“ und zugänglicher gemacht. Das Krankengeld wird dadurch verbessert, daß es auch für Sonn- und Feiertage gezahlt wird, falls die Arbeitsunfähigkeit an einem solchen Tag endet, „...weil der Krieg häufig Sonn- und Feiertagsarbeit erfordert, also der Versicherte auch für diesen Tag einen Lohnausfall erleidet.“886 Auch die ärztliche Behandlung für Familienangehörige, vorher zeitlich begrenzt, wird nunmehr unbegrenzt und ohne Wartezeit gewährt. Die Praxis der ärztlichen Versorgung der Bevölkerung im Kriege bleibt jedoch ein Gegenstand der Sorge und weiterer politischer Interventionen.887 Ausdrücklich soll der Erlaß vom 20. Mai 1941 mit seinen Leistungsverbesserungen der „Förderung des Arbeitseinsatzes“ unter Kriegsbedingungen dienen. Er soll helfen, das kriegswichtige Arbeitskräftepotential durch Leistungen der Krankenversicherung sicherzustellen und zu motivieren. Diesen primär kriegspolitisch motivierten Leistungsverbesserungen folgt die Ausdehnung des Versichertenkreises in der Krankenversicherung. Die „Verordnung über den weiteren Ausbau der knappschaftlichen Versicherung“ vom 19. Mai 1941888 bezieht die Rentner der „Bergleuteversicherung“ in die Krankenversicherungspflicht ein. Sie vereinheitlicht diesen Versicherungszweig, stellt das Beitragswesen auf neue Grundlagen und führt zu einem Ausbau der Gesundheitsfürsorge. Zu diesem letzten Zweck stellt der „Reichstock für Arbeitseinsatz“ der Reichsknappschaft eine Summe von jährlich 25 Millionen Reichsmark zur Verfügung.889 Eine weitere Ausdehnung bringt ein Erlaß des Reichsarbeitsministers, des Reichsministers des Innern und des Oberkommandos der Wehrmacht vom 18. August 1941.890 Durch ihn werden die Hinterbliebenen der „neuen“ Wehrmacht, der Waffen SS, des Reichsarbeitsdienstes und ähnliche Personengruppen ab dem 1. Oktober 1941 in eine „Krankenversicherung der Kriegshinterbliebenen“ einbezogen. Die wichtige „Verordnung über die Krankenversicherung der Rentner“ vom 4. November 1941891 regelt die Krankenversicherung der Rentner der Landesversicherungsanstalten, der Reichsbahnversicherungsanstalt, der Seekasse und der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte. Sie wird auf Grund von § 4 (6) des „Gesetz über die Verbesserung der Leistungen in der Rentenversicherung“ vom 24. Juli 1941892 erlassen. Die Beiträge für die Krankenversicherung der Rentner in Höhe von 3,30 Reichsmark werden, sieht man von den Weiterversicherten ab, von den Versicherungsanstalten gezahlt. Bezieher von Invalidenrenten und Ruhegeld bringen einen Monatsbeitrag in Höhe von einer Reichsmark auf. Witwen-, Witwer- und Waisenrentner brauchen keinen Beitrag zu zahlen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Rentner gezwungen, sich selbst zu versichern oder im Krankheitsfall die öffentliche Fürsorge in Anspruch zu nehmen.893

886 Engel, Hans: Die Entwicklung...a.a.O.(=Anm. 864), 241. 887 Vgl. die „Verordnung zur Sicherstellung der ärztlichen Versorgung der Zivilbevölkerung“ vom 27. Mai 1942 (RGBl. I 1942, 358) und die Durchführungsverordnung vom 22. Juni 1942 (Ebenda, 406). 888 Vgl.: RGBl. I 1941, 287; vgl. auch die „Zweite Verordnung über den weiteren Ausbau der knappschaftlichen Versicherung“ vom 8. Juni 1942 (RGBl. I 1942, 409) und die „Verordnung über die knappschaftliche Krankenversicherung der Rentner“ vom 8. Juni 1942 (Ebenda, 409). 889 Vgl.: Engel, Hans: Die Entwicklung...a.a.O.(=Anm. 864), 249 f. 890 Vgl.: Reichsarbeitsblatt. Teil II (1941)25, 348 f. 891 Vgl.: RGBl. I 1941, 689. 892 Vgl.: RGBl. I 1941, 443. 893 Vgl. ausführlicher: Grünewald: Die Krankenversicherung der Rentner. In: Reichsarbeitsblatt. Teil II(1941)32, 448 - 454 sowie auch: Engel, Hans: Die Entwicklung...a.a.O.(=Anm. 864), 242.

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Mit der „Siebzehnten Verordnung zum Aufbau der Sozialversicherung“ vom 31. Januar 1942894 endet in der Unfallversicherung die Aufbaugesetzgebung. Sie macht in den „Reichsgauen“ die „Reichsstatthalter“ zu Leitern der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften. Auf spezifische Weise werden Unfälle, die sich im Luftschutz ereignen, durch Bestimmungen vom 1. September 1939 und vom 15. Oktober 1942 weiterhin in die Unfallversicherung einbezogen.895 Eine grundlegende Weiterentwicklung erfährt die Unfallversicherung durch das von der Reichsregierung beschlossene „Sechste Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung“ vom 9. März 1942.896 Dieses Gesetz beseitigt Notverordnungsvorschriften und sonstige Härten in der Unfallversicherung. Es stellt an Stelle des Betriebes den Versicherten in den Mittelpunkt des Versicherungsschutzes und erweitert den Umfang des zu versichernden Personenkreises. Das beinhaltet: Das bisherige System der „Betriebsversicherung“ wird durch das System der „Personenversicherung“ abgelöst. Der Begriff des „Betriebsunfalls“ wird durch den des „Arbeitsunfalls“ ersetzt. Aus der GewerbeUnfallversicherung wird die „Allgemeine Unfallversicherung“. Hinzu tritt die landwirtschaftliche und die See-Unfallversicherung. Berechnungsarten werden modernisiert. Bei „Verschollenheit“ werden erhöhte Witwen- und Hinterbliebenenrenten vorgesehen. Die Unfallversicherung wird nunmehr auf praktisch „alle auf Grund eines Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisses Beschäftigten“ ausgedehnt (vgl. § 537 RVO in der Fassung des 6. Änderungsgesetzes). So werden jetzt z.B. auch „...die Angestellten in den öffentlichen Verwaltungen, in allen kaufmännischen und Bankbetrieben, ferner sämtliche Hausgehilfinnen gegen Unfall versichert.“897 Alle bei „Kriegsaufgaben“ unter erhöhten Gefahren Eingesetzten (z.B. die Dienstverpflichteten), jedes „Gefolgschaftsmitglied“ oder sonst bei besonderem Einsatz tätige „Volkgenossen“ sollten Gewißheit haben, daß für sie sowie für die Angehörigen und Hinterbliebenen bei jedem Arbeitsunfall in großzügiger Weise gesorgt sei. Offen bringt der Reichsarbeitsminister Hoffnungen des NS-Regimes zur Sprache, indem er verkündet: „Mit diesen Verbesserungen soll das neue Gesetz zugleich auch der Förderung der Arbeitsfreudigkeit, der Sicherung des Betriebsfriedens und der Stärkung des Zusammenhalts zwischen Heimat und Front dienen.“898 Die „Vierte Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten“ vom 29. Januar 1943899 setzt den Prozeß der Einbeziehung beruflich bedingter Krankheiten in den Schutz der Unfallversicherung fort. Auch diese Verordnung soll in erster Linie den Verhältnissen und Bedürfnissen des Krieges Rechnung tragen. „Danach bemessen sich auch Zahl und Umfang der beruflichen Erkrankungen, danach richten sich die Vorschriften für das Verfahren.“900 Einbezogen sind 894 Vgl.: RGBl. I 1942, 81. 895 Es handelt sich um die „Erste Durchführungsverordnung zum Luftschutzgesetz in der Fassung vom 1. September 1939“ (RGBl. I 1939, 1631) und die „Siebente Änderungsverordnung zum Luftschutzgesetz“ vom 15. Oktober 1942 (RGBl. I 1942, 615). Das Luftschutzgesetz selbst datiert vom 26. Juni 1935 (RGBl. I 1935, 827). 896 Vgl.: RGBl. I 1942, 107; mit der ersten Durchführungs- und Ergänzungsverordnung vom 20. August 1942 (RGBl. I 1942, 532) wird die NSDAP ein Träger der Unfallversicherung. 897 Vgl.: Seldte, Franz: Zum weiteren Ausbau der sozialen Unfallversicherung. In: Reichsarbeitsblatt. Teil II (1942), 208; die Versicherungsfreiheit ist durch den § 541 RVO in der Fassung des 6. Unfallversicherungsänderungsgesetz stark eingeschränkt. Versicherungsfrei sind vor allem noch Beamte, Wehrmachtsangehörige, Geistliche, Schwestern, alle, denen eine anderweitige „Versorgung“ bzw. Unfallfürsorge zusteht, Freiberufler. 898 Seldte, Franz: Zum weiteren Ausbau...a.a.O.(=Anm. 897), 208; ausführlich zum Gesetz: Jantz, Kurt: Das Sechste Gesetz über Änderung in der Unfallversicherung. In: Reichsarbeitsblatt. Teil II (1942)9, 209 - 216. 899 Vgl.: RGBl. I 1943, 85. 900 Bauer, M.: Die Vierte Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten. In: Reichsarbeitsblatt. Teil II (1943)9, 133 - 138, hier: 133.

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dementsprechend auch „...übertragbare Krankheiten jeder Art, die bei der beruflichen Tätigkeit außerhalb der Grenzen des Großdeutschen Reiches auftreten.“901 Im Zusammenhang mit den Leistungspflichten der Unfallversicherung gewinnen einige Rechtsquellen an Bedeutung, die das Verhältnis zu Ansprüchen auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften betreffen.902 Das „Gesetz über die erweiterte Zulassung von Schadensersatzansprüchen bei Dienst- und Arbeitsunfällen“ vom 7. Dezember 1943903 beseitigt „Unbilligkeiten“, die sich aus dem Ausschluß von Schadensersatzansprüchen durch die Versorgungsgesetze und die RVO ergeben können. Durch die „Verordnung über die Anpassung der sozialen Unfallversicherung an den totalen Kriegseinsatz“ vom 9. November 1944904, die auf der Grundlage des Erlasses des Führers über den totalen Kriegseinsatz vom 25. Juli 1944 ergeht, wird auch die Apparatur der Unfallversicherung in den Prozeß der „vollen Ausschöpfung aller Kräfte für Wehrmacht und Rüstung“ einbezogen. Es folgt eine grundlegende administrative und verfahrensmäßige Vereinfachung mit dem Ziel, nicht „unnötig“ Kräfte in der Verwaltung in einem Krieg zu binden, der auch in der „Heimat“ immer deutlichere Spuren der Not und des Elends zieht. Auf dem Gebiet der Handwerkerversicherung werden ebenfalls kriegsbedingte Sondervorschriften erlassen. Dieser zwar demagogisch umworbene, aber durch die kriegswirtschaftlichen Lenkungs- und Mobilisierungsmaßnahmen, durch Auskämm- und Stillegungsaktionen schwer getroffene und in hohem Maße in abhängige Lohnarbeit gebrachte Stand, verbleibt für die Dauer der Tätigkeit als „Gefolgschaftsmitglied“ in der Angestelltenversicherung, auch wenn eigentlich wegen der ausgeübten Tätigkeit ein Übergang in die Arbeiterrentenversicherung angezeigt gewesen wäre.905 Die Träger der Rentenversicherung organisieren ein umfangreiches „Sozialerholungswerk“, um der im Kriege stark strapazierten Arbeitskraft die Möglichkeit einer Regeneration in Form einer zweiwöchigen Kur zu geben.906 Die Rentner jedoch fühlen sich zu Beginn des Krieges immer noch als die ausgesprochenen Verlierer der NS-Sozialpolitik. Ein Lagebericht des Sicherheitsdienstes der SS vom 30. Januar 1941 drückt das folgendermaßen aus: „Die Rentenhöhe der Pflichtversicherungen (Invaliden-, Knappschafts-, Angestellten- und Unfallversicherungen) wird nach hier vorliegenden Meldungen aus allen Teilen des Reiches allgemein als äußerst unzureichend angesehen. Es wird darauf hingewiesen, daß der Nationalsozialismus die 7 Millionen Erwerbslosen und weitgehend die Kurzarbeit beseitigt habe, wodurch das Arbeitseinkommen des deutschen Volkes von Jahr zu Jahr gestiegen sei, und daß den Schaffenden die durch den Krieg auferlegten Lasten (Zuschläge für Mehr-, Nacht- und Sonntagsarbeit, Urlaub, Kriegssteuer, Lohnstop usw.) nach und nach erträglicher gestaltet worden seien. Neuerdings kämen auch die aus dem Jahre 1931 stammenden Gehaltskürzungen für die Beamten 901 Neitzel: Arbeitsschutz in fünf Kriegsjahren...a.a.O. (=Anm. 750), 286. 902 Vgl.: „Verordnung über die Entschädigung von Personenschäden (Personenschädenverordnung)“ vom 1. September 1939 (RGBl. I 1939, 1623). Diese Verordnung gewährt deutschen Staatsangehörigen, „...die infolge eines Angriffs auf das Reichsgebiet oder eines besonderen Einsatzes der bewaffneten Macht Schaden an Leib oder Leben erleiden...“ und deren Hinterbliebenen auf Antrag Fürsorge und Versorgung. Ausnahmen vom Erfordernis der Staatsangehörigkeit sind möglich. Vgl. auch die „Dritte Verordnung zur Durchführung und Ergänzung des Sechsten Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung“ vom 16. April 1943 (RGBl. I 1943, 267). 903 Vgl.: RGBl. I 1943, 674. 904 Vgl.: RGBl. I 1944, 324. 905 Vgl.: Engel, Hans: Die Entwicklung...a.a.O.(=Anm. 864), 247; der Unternehmer hat dem Handwerker sogar die Hälfte des Beitrags zur erstatten, den der Handwerker zuletzt auf Grund der Vorschriften der Handwerkerversicherung selbst vollständig aus eigenem Einkommen zu entrichten hatte. 906 Vgl. denselben, ebenda, 247.

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zum größten Teil in Fortfall. Weiterhin habe der Führer die Rückzahlungspflicht der bis 1935 erhaltenen Wohlfahrtsunterstützungen aufgehoben. So sei dem deutschen Volke im Rahmen des Möglichen geholfen worden. Nur die Empfänger von Renten aus den Pflichtversicherungen warten dringend auf eine Besserung ihrer Lage. Sie hätten immer noch unter der Last des ‘Brüningabzuges’ zu leiden.“907 Zu den Gründen, aus denen heraus ab dem Jahre 1941 auf dem Gebiet der Rentenversicherungen Verbesserungen vorgenommen werden, zählt nicht nur die verbreitete Mißstimmung in den angesprochenen Bevölkerungskreisen. Hinzu kommt auch, daß das „Dritte Reich“ nach den militärischen Siegen des ersten Kriegsjahres von einer Welle sozialpolitischer Propaganda „überrollt“ wird, die von der DAF, namentlich vom Leiter dieser Organisation, von Robert Ley ausgeht. Angelpunkt dieser Propaganda ist die Beauftragung der DAF im Herbst 1940 mit der Aufgabe, ein attraktives sozialpolitisches Nachkriegssozialprogramm vor den Augen einer in weiten Kreisen von Friedenssehnsucht erfaßten Bevölkerung zu entrollen. Dieses Nachkriegsprogramm soll ein Altersversorgungswerk, ein Berufserziehungswerk, eine neue Lohnordnung, ein Gesundheitswerk und ein Wohnungsbauprogramm umfassen.908 Schon am 15. Februar 1940, seinem 50. Geburtstag, wird R. Ley von Hitler beauftragt, „...die Grundlagen und Bedingungen der Durchführung einer umfassenden und großzügigen Altersversorgung des Deutschen Volkes in Zusammenarbeit mit den hierzu berufenen Stellen der Partei und des Staates zu prüfen, zu klären, die sich daraus ergebenden Vorschläge unverzüglich auszuarbeiten...“ und ihm zu unterbreiten.909 Das neue „Gesetzeswerk“ solle für alle Zeit „…unser Volk an den gemeinsamen Kampf der Front und Heimat um die Freiheit und Unabhängigkeit des Großdeutschen Reiches erinnern.“ Aus dem „Zusammenarbeitsgebot“ entwickelt sich schon bald ein ausgesprochenes Konkurrenzverhältnis zur überkommenen, an der „klassischen Sozialversicherung“ orientierten Fachbürokratie. Um nicht mit dem Makel des sozialpolitischen Stillstandes oder Rückschritts belastet zu werden, kommt es zu Vorarbeiten zu einer Rentenreform im Reichsarbeitsministerium. Das Ministerium geht nicht nur das Problem der Krankenversicherung der Rentner an, sondern konzentriert sich daneben vor allem auf die Aufhebung der Rentenkürzungen, die durch die Notverordnungspraxis verfügt worden waren und die inzwischen im Zuge der leicht inflationären Entwicklung unerträglich geworden sind. Robert Ley hält die vorgesehenen Verbesserungen für „ausnahmslos unzweckmäßig“, wenn nicht sogar „vollkommen undurchführbar.“ Der Reichsfinanzminister, der bis zu diesem Zeitpunkt immer sein Veto gegen Leistungsverbesserungen in der Rentenversicherung eingelegt hatte, macht seine Zustimmung zu einem Leistungsverbesserungsgesetz von der Zusage abhängig, daß von einer Durchführung des „Altersversorgungswerkes“ schon während des Krieges abgesehen werde. Er bekommt schließlich eine entsprechende, mit Bedingungen verknüpfte Zusage Leys und damit ist der Weg zum „Gesetz über die Verbesserung der Leistungen in der Ren907 Dokument Nr. 158 vom 30. Januar 1941 (Auszug): Meldungen zur Höhe der Renten aus den Pflichtversicherungen. In: Boberach, Heinz: Meldungen ...a.a.O. (=Anm. 300), 121 f. 908 Vgl.: Marrenbach, Otto: Fünf Aufgaben für Dr. Ley. In: Der Angriff Nr. 309 vom 24. Dezember 1940, 1 f.; vgl. auch: Recker, Marie-Luise: Nationalsozialistische Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 743), 82 ff.; zum Wohnungsbauprogramm vgl. den „Erlaß zur Vorbereitung des deutschen Wohnungsbaues nach dem Kriege. In: Der Angriff Nr. 280 vom 20. November 1940, 3. 909 Zum Führererlaß vgl. die mit „Geheim“ klassifizierte Ausarbeitung „Versorgungswerk des deutschen Volkes. Gesetzentwurf mit kurzer Erläuterung. Bearbeitet im Arbeitswissenschaftlichen Institut der Deutschen Arbeitsfront.“ BA Koblenz. R 41. Reichsarbeitsministerium, Nr. 5015, Bl. 18.

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tenversicherung“ vom 24. Juli 1941 frei.910 Neben der bereits angesprochenen Krankenversicherung der Rentner bringt dieses Gesetz zu den laufenden Renten Zuschläge in Höhe der 1932 durchgeführten Kürzungen. In der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten sowie der knappschaftlichen Pensionsversicherung werden die laufenden Renten aus Mitteln des Reiches um sieben Reichsmark monatlich erhöht, „…der Zuschlag beträgt bei den Renten der Witwen und Witwer 5 Reichsmark, bei den Renten der Waisen 4 Reichsmark.“ Damit die Rentner auch wirklich in den Genuß der Rentenverbesserungen kommen, bestimmt das Gesetz die Anrechnungsfreiheit in der Fürsorge, da zahlreiche Rentner neben ihrer Rente noch eine Unterstützung der Fürsorgeverbände beziehen. Für die neu festzusetzenden Renten werden die Grundbeträge entsprechend erhöht. Das Anwartschaftsrecht wird verbessert. Gleichzeitig werden durch einen Erlaß die Reichzuschüsse für die Kleinrentner erhöht.911 Deutschland sei, kommentiert die „Frankfurter Zeitung“, „…mitten im Kriege ständig bestrebt, die sozialen Leistungen zu verbessern. Nicht nur an den für die Nachkriegszeit in Aussicht genommenen Programmen wird laufend gearbeitet, sondern auch an der sofortigen Einführung konkreter Maßnahmen, die den breitesten Volkskreisen zugute kommen.“912 Während „Der Angriff“, die Tageszeitung der DAF, diese Rentenreform ohne Kommentar wiedergibt,913 läßt der Staatssekretär im Reichsarbeitsministerium, Hans Engel, den Konflikt mit der DAF erkennen, wenn er schreibt, das Reichsarbeitsministerium lehne es ab, „…mit billigen sozialpolitischen Versprechungen für die Nachkriegszeit aufzuwarten. Wir handeln bereits während des Krieges aktiv und bringen ständig sozialpolitische Verbesserungen.“914 Bereits im September 1941 unterbreitet das Reichsarbeitsministerium weitere Vorschläge zur Verbesserung der Leistungen in der Rentenversicherung. Vor allem soll das Ziel verfolgt werden, sie dem Leistungsstand der Angestelltenversicherung anzugleichen. Während das Reichsarbeitsministerium bei der Parteikanzlei hierfür Unterstützung findet und der Leiter der DAF ablehnend wiederum das „Versorgungswerk des Deutschen Volkes“ ins Spiel bringt, stellt sich nun auch der Reichsfinanzminister gegen die Absicht, eine entsprechende Leistungsverbesserung vorzunehmen. Er sieht mit Blick auf das bereits beträchtliche Ungleichgewicht zwischen Warenangebot und Nachfrage eine höchst „unerwünschte“ Vermehrung der Kaufkraft. Das „Zweite Gesetz über die Verbesserung der Leistungen in der Rentenversicherung“ vom 19. Juni 1942, das zunächst zum Führergeburtstag verkündet werden sollte,915 dann rückwirkend zum 1. Mai 1942, zum „Tag der Nationalen Arbeit“ in Kraft gesetzt wird, enthält dementsprechend nur unwesentliche Leistungsverbesserungen.916 Das zweite Leistungsverbesserungsgesetz hebt wiederum bestimmte Leis910 Vgl.: Recker, Marie-Luise: Nationalsozialistische Sozialpolitik...a.a.O. (=Anm. 743), 206 ff.; zum Gesetz vom 24. Juli 1941 vgl.: RGBl. I 1941, 443; vgl. auch die „Durchführungsverordnung zum Gesetz über die Verbesserung der Leistungen in der Rentenversicherung“ vom 7. März 1942 (RGBl. I 1942, 116). 911 Ausführlich: Kurzwelly: Großzügige Verbesserungen in der Rentenversicherung. In: Reichsarbeitsblatt. Teil V (1941)22, 373 - 376. 912 Bedeutende Verbesserungen in der Rentenversicherung. In: Frankfurter Zeitung, 86. Jahrg. Nr. 385 - 386, Donnerstag, 31. Juli 1941. 913 Vgl.: Die Renten erhöht. In: Der Angriff Nr. 183 vom Donnerstag, den 31. Juli 1941, 4. 914 Engel, (Hans): Die deutsche Sozialversicherung im Kriege. In: Reichsarbeitsblatt. Teil V (1942)18, 333 - 336, hier: 336. 915 Vgl.: Recker, Marie-Luise: Nationalsozialistische Sozialpolitik…a.a.O.(=Anm. 743), 210. 916 Vgl. insgesamt: Heller: Zweites Gesetz über die Verbesserung der Leistungen in der Rentenversicherung vom 19. Juni 1942 (Reichgesetzbl. I S. 407). In: Reichsarbeitsblatt. Teil II (1942)19, 402 - 404.

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tungsverschlechterungen, die auf die Notverordnung vom 14. Juni 1932 zurückgehen, auf. Das neue Gesetz erhöht nun auch für die ersten beiden Kinder des Versicherten die Kinderzuschüsse von 90 auf je 120 Reichsmark jährlich. Das gilt allerdings nicht für Kinder, für die bereits vor dem Inkrafttreten des Gesetzes ein Kinderzuschuß festgestellt worden ist. Diese Einschränkung beruhe auf „verwaltungsmäßigen“ Erwägungen der Versicherungsträger. Diese seien wegen der zahlreichen Einberufungen nicht in der Lage, „…die laufenden Renten umzurechnen. Dementsprechend ist die Verbesserung nur in solchen Fällen zuständig, in denen eine Neuberechnung erfolgt, also wenn ein Kind geboren oder eine Invalidenrente festgesetzt wird.“917 Der Bezug der Witwenrente wird für kinderreiche Witwen und im Falle der Erziehungstätigkeit erleichtert. Es wird durch das Gesetz die Möglichkeit geschaffen, daß u.a. auch geschiedene Ehefrauen eine Witwenrente bekommen. Die Wartezeit und die Regelungen zur Erhaltung der Anwartschaft für die Erstattung der halben Beiträge zu den Rentenversicherungen im Falle der Heirat einer Versicherten entfallen. Die Erstattungsregelung selbst wird etwas günstiger ausgestaltet. Das Gesetz bringt darüber hinaus den Wegfall der Wartezeit für einen Anspruch aus den Rentenversicherungen, wenn der Versicherte infolge eines Arbeitsunfalls invalide (berufsunfähig) wird oder stirbt. Das gilt allerdings nur für künftige Unfälle. Das Gesetz enthält zudem eine Ermächtigung, die Renten auch in den „neuen Reichsgebieten“ angemessen zu erhöhen. Sehr deutlich mit produktionspolitischen Zielen verknüpft sind die Verbesserungen, die für die Bergleute realisiert werden. Der Verbesserung der Rentenversicherung im Bergbau geht eine als bedrohlich empfundene Krise der bergbaulichen Berufsarbeit voraus und die ganze Aktion ist von dem Bestreben geprägt, die Ergreifung und Ausübung des extrem kriegswichtigen Bergmannberufs durch eine günstige sozialpolitische Gestaltung attraktiver zu machen. Die Initiative dazu geht vom Bergbau selbst aus. Er gewinnt Göring für einen entsprechenden Vorstoß.918 Das Ergebnis ist die „Verordnung über die Neuregelung der Rentenversicherung im Bergbau“ vom 4. Oktober1942,919 unterzeichnet von Reichsfeldmarschall Göring in seiner Eigenschaft als „Beauftragter für den Vierjahresplan“. Die primär produktionspolitische Intention wird schon in der Präambel der „Verordnung“ angesprochen. Der „deutsche Bergmann“ sei und bleibe entscheidend für die Leistung des Bergbaues: „Seine harte Arbeit sichert die Freiheit der deutschen Wirtschaft und den Bestand des Volkes. Sein Einsatz für die Allgemeinheit erfordert soziale Betreuung, die der schweren, kräfteverzehrenden Untertagearbeit gerecht und als eine der stolzen bergmännischen Tradition entsprechende Bevorzugung erkannt wird.“ Darum werde die „Rentenversorgung des Bergmanns“ neu gestaltet und ausgebaut. Dementsprechend enthält die Verordnung vom 4. Oktober 1942 ein Anreizsystem, das den Bergarbeiter veranlassen soll, „...von sich aus mit eisernem Willen seine ganze Kraft für eine Steigerung der Förderung herzugeben.“920 Die Leistungsverbesserungen, die mit dieser Neuregelung, die am Erntedanktag 1942 von Göring verkündet wird, einhergehen sind bemerkenswert. Sie schaffen, so die offizielle Auffassung, „...dem Bergmann und seiner Familie die b e ste So zialversich erung de r W e l t. “921 Die Verordnung vom 4. Oktober 1942, die in allen wesentlichen Teilen am 1. 917 Derselbe, ebenda, 403. 918 Zu einigen Details: Geyer, Martin H.: Die Reichsknappschaft ...a.a.O. (=Anm. 651), 357 f. 919 Vgl.: RGBl. I 1942, 569. 920 So ein Auszug aus einem Redemanuskript des Vorsitzenden der Reichsknappschaft, Reinhard Jacob, zitiert nach: Geyer, Martin H.: Die Reichsknappschaft...a.a.O.(=Anm. 651), 357. 921 Engel, Hans: Die Entwicklung...a.a.O.(=Anm. 864), 250.

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Januar 1943 in Kraft tritt, schafft für die Bergarbeiter und Bergbauangestellten unter Tage eine einheitliche knappschaftliche Rentenversicherung. Die bisherige Aufspaltung in knappschaftliche Pensionsversicherung und Invalidenversicherung entfällt. Bei Eintritt der Berufsunfähigkeit wird nunmehr die „Knappschaftsrente“, bei späterem Hinzutritt der Invalidität die „Knappschaftsvollrente“, bei „Bergfertigkeit“ der „Knappschaftssold“ gewährt. Zu den Steigerungsbeträgen wird ein „Leistungszuschlag“ gezahlt, der die „Flucht aus der Hauertätigkeit“ stoppen soll. Er wird nach mindestens 10 vollen Jahren Hauerarbeit unter Tage für jedes weitere Jahr in dieser kräftezehrenden und gesundheitsgefährlichen Tätigkeit gewährt. Das heißt, der Zuschlag steigt mit den Jahren. Der Kinderzuschuß wird auf 120 Reichsmark jährlich festgelegt. „Die Knappschaftsrente muß mindestens 360,- RM, die Knappschaftsvollrente mindenstens 600,- RM jährlich betragen. Höchstens dürfen die Renten 80 % des durchschnittlichen Verdienstes erreichen; wird für die Arbeit unter Tage der Leistungsszuschlag gewährt, so dürfen die Renten sogar bis 90 % ausmachen. Der Knappschaftssold ist einheitlich 600,- RM jährlich...“922 Zu den „sorgfältig gemessenen Anreizen“, die die Untertagearbeit attraktiv machen sollen, gehört das neuartige „Bergmanntreuegeld“ (§ 12). Auf diese Leistungsprämie „...hat jeder Bergmann nach 15 Jahren wesentlich bergmännischer Arbeit und nach Vollendung des 50. Lebensjahres dann Anspruch, wenn er weiterhin als Hauer unter Tage arbeitet.“923 Es beträgt für die beiden ersten vollen Jahre der weiteren Hauertätigkeit je 500, für jedes folgende volle Jahr 1.000 Reichsmark. Es wird fällig mit der Gewährung der Knappschaftsrente oder der Knappschaftsvollrente. Auf das Bergmannstreuegeld kann als Vorleistung ein verzinsliches Darlehen schon „in jungen Jahren“ gewährt werden. Um diese und die anderen Leistungsverbesserungen finanzieren zu können, werden die Beiträge des Bergbaues zum „Reichsstock für Arbeitseinsatz“ auf die knappschaftliche Rentenversicherung übertragen. Man wird die Wirkung dieser Maßnahmen auf die Bergleute nicht zu hoch veranschlagen dürfen. Für viele jüngere Kräfte sind es überwiegend Versprechungen auf die Zukunft. Diese Versprechungen werden zudem von einem Staat gemacht, der trotz der relativ erfolgreichen Zurückdrängung der Inflation auf dem Weg der erneuten Zerstörung der Währung bereits weit voran geschritten ist. Für die zahlreichen im Bergbau arbeitenden Ausländer gelten überwiegend „Sonderbestimmungen“. Die Lebenshaltung wird in erheblichem Umfang von rationierten Lebensmitteln bestimmt. Die Lebensmittelrationen werden zu dieser Zeit (am 6. April 1942) deutlich herabgesetzt. Für Bergleute existieren allerdings „Sonderzulagen“.924 Nach der Verkündung des „totalen Krieges“ durch Goebbels im Rahmen seiner berüchtigten Propagandarede vom 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast, wird die Herstellung von Gebrauchsgütern erneut reduziert. Der alliierte Bombenkrieg gegen deutsche Städte fordert auch in den Bergbauregionen zahllose Opfer: „Die Hauptlast hatten die Gebiete im Nordwesten des Reiches zu tragen: Köln, Dortmund, Duisburg, Hamm u.a. Städte verloren 60 bis 70 % ihres Wohnraumes; Essen, Düsseldorf, Bremen, Hannover, Gelsenkirchen, Bochum, Kiel u.a. 50 bis 60 %, Berlin etwa 40 % und Hamburg

922 Derselbe, ebenda, 251. 923 Derselbe, ebenda, 252; eine erste Änderung insbesondere des „Bergmanntreuegeldes“ aber auch des „Knappschaftssoldes“ erfolgt bereits mit der „Verordnung zur Durchführung der Verordnung über die Neuregelung der Rentenversicherung im Bergbau“ vom 22. Februar 1943 (RGBl. I 1943, 109); vgl. des weiteren die zweite Durchführungsverordnung vom 9. September 1944 (RGBl. I 1944, 209). 924 Vgl.: Blaich, Fritz: Wirtschaft und Rüstung im „Dritten Reich“. Düsseldorf 1987, 53.

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etwa 50 %.“925 Der produktionspolitische Erfolg der Reform der knappschaftlichen Versicherung kann bestenfalls von nur kurzer Dauer gewesen sein. Die Erschöpfung und mangelhafte Ernährung der Bergleute wird 1944 zu einem Kardinalproblem. Besonders dramatisch sind die Ernährungsschwierigkeiten bei den lagerverpflegten Ausländern und Kriegsgefangenen. Im vierten Quartal des Jahres 1944 kommt es als Folge der Luftangriffe gegen Produktionsanlagen und vor allem gegen das Verkehrswesen zu katastrophalen Produktionseinbrüchen. Der Kohlentransport wird immer schwieriger. Im Zuge des Bombenkrieges wird natürlich auch die Infrastruktur des Sozialstaates schwer in Mitleidenschaft gezogen.926 Auch die Reform der Sozialversicherung für Bergleute alarmiert den Reichleiter der DAF, Robert Ley, und führt zu entsprechenden Interventionen und Auseinandersetzungen. Er sieht erneut die Realisierungschance seines „Versorgungswerkes“ schwinden. Tatsächlich zieht Adolf Hitler Ende Dezember 1942 einen im Ergebnis endgültigen Schlußstrich unter die Neuordnungspläne der DAF.927 Gescheitert ist mit dem „Altersversorgungswerk des Deutschen Volkes“ ein Musterstück einer „völkischen Sozialpolitik“ von erstaunlicher Radikalität. Robert Ley beschreibt das im „Arbeitswissenschaftlichen Institut“ der DAF ausgearbeitete „Altersversorgungswerk“ in einer zehnteiligen Artikelserie im „Angriff“, der Tageszeitung der DAF, als die große Alternative zur „sozialpolitischen Flickschusterei“, zur „Sozialpolitik der kleinen Mittel.“928 Eingebettet in eine antikapitalistische Rhetorik verspricht Ley eine „Beseitigung des Proletariats“, eine Verwirklichung des „Rechts auf Arbeit“. Auf der Basis einer gesicherten Arbeit werde es möglich, dem Leben einen Zuschnitt zu geben, der durch „Sicherheit und Geborgenheit“ gekennzeichnet sei. Die bestehende Sozialversicherung wird als Ausfluß des „Liberalismus“ gekennzeichnet. Das unzulängliche Beitragssystem werde durch eine „allgemeine und geregelte Besteuerung“ als Grundlage ersetzt werden. Die Beiträge werden als Sondersteuer kritisiert, die der „marxistisch-demokratische Staat“ einem Teil seiner „Bürger“ aufgezwungen habe. Nunmehr übernehme der Staat endgültig und uneingeschränkt die Versorgungspflicht, die er früher auf die Versicherungsträger abgewälzt habe. Er versorge alle Volksgenossen nach den für politisch richtig und sozial gerecht gehaltenen Grundsätzen. Sein Plan, betont Ley, sei keine Reform der Rentenversicherung, sondern eine „revolutionäre Neuschöpfung“. Ergänzt werden seine Gedanken, die offensichtlich in den „plutokratisch westlichen Demokratien“ heftige Resonanz finden, durch Stellungnahmen zu seinen Kritikern und durch Angriffe auf die Sozialpolitik und die sozialen Zustände in England. Während in England nur geschwätzt werde, „…erfolgt bei uns die planmäßige Vorbereitung und Durchführung des gewaltigen, vom Führer befohlenen Sozialwerkes“, behauptet Ley am 14. Februar 1941 einleitend zum siebenten Teil seiner Artikelserie. Vor dem Hintergrund des Kriegsverlaufs 925 Vgl.: Herbst, Ludolf: Deutschland im Krieg 1939 - 1945. In: Broszat, Martin, Frei, Norbert (Hg.): PLOETZ... a.a.O. (=Anm. 688), hier: 71 f. 926 Vgl. in diesem Zusammenhang die Beiträge bei: Eichholtz, Dietrich: Geschichte...Band III...a.a.O.(=Anm 821), zur Kohlenförderung 1943 - 1945 vgl.: 115, zur Zahl der Beschäftigten: 119. 927 Vgl.: Geyer, Martin H.: Die Reichsknappschaft...a.a.O.(=Anm. 651), 366. 928 Da die Grundgedanken und Ideologien an dieser Stelle nicht annähernd vollständig wiedergegeben werden können, sei auf die Artikelfolge selbst verwiesen; vgl. also: Ley, Robert: Gedanken zur Altersversorgung. Teil I bis X. In: Der Angriff. Teil I in Nr. 258 vom 25. Oktober 1940, 1 f.; Teil II: Nr. 264 vom 1. November 1940, 1 f.; Teil III: Nr. 276 vom 15. November 1940, 1 f.; Teil IV: Nr. 282 vom 22. November 1940, 1 f.; Teil V: Nr. 294 vom 6. Dezember 1940, 1 f.; Teil VI: Nr. 300 vom 13. Dezember 1940, 1 f.; Teil VII: Nr. 38 vom 14. Februar 1941, 1 f.; Teil VIII: Nr. 44 vom 21. Februar 1941, 1 f.; Teil IX: Nr. 50 vom 25. Februar 1941, 1 f.; Teil X: Nr. 62 vom 14. März 1941, 1 f.; es handelt sich jeweils um die Freitagsausgaben des „Angriff“.

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nimmt die Kritik an England und seiner Sozialpolitik das Ausmaß und die Form einer heftigen Propaganda an.929 Zweifellos beziehen sich die Ausführungen Leys auf die Tatsache, daß kriegsbedingt damals auch in England heftige sozialpolitische Debatten entbrannt sind, die im Juni 1941 zu Aktivitäten Anlaß geben, aus denen schließlich der weltweit beachtete „BeveridgeReport“ hervorgeht.930 Daß das gesamte als das „größte Sozialwerk der Welt“ bezeichnete Nachkriegsprogramm, das Ley vergeblich schon im Krieg umgesetzt sehen möchte, zunächst und vor allem auch dem Kriegs- und Durchhaltewillen der deutschen Bevölkerung dienen soll, wird unter anderem am 5. November 1940 deutlich. Vor der „Gefolgschaft“ der AEG.-Fabrik beginnt Robert Ley seine Ausführungen mit der rhetorischen Frage „Wie sieht der Sieg für dich, deutscher Arbeiter, aus ?“ bevor er voller Siegesgewißheit seinen Zuhörern das Bild einer völligen „Neuordnung des gesamten deutschen Arbeiterlebens“ nach dem Siege entfaltet. Jedem einzelnen solle es nach dem Willen des Führers nach Abschluß dieses Krieges in einem „vorbildhaft aufgebauten Deutschland“ besser gehen. Die tätige und opferbereite Mitarbeit am Siege solle nicht umsonst gewesen sein.931 Der künftige „deutsche Sozialstaat“, der „größte Sozialstaat der Welt“, das kommende „große Reich des Friedens, der Arbeit, der Wohlfahrt, der Kultur“ wird als „positives Kriegsziel“ hingestellt. Hitler selbst treibt die sozialpolitische Propaganda auf die Spitze, indem er „zu erkennen gibt“, seine Absicht sei es nicht gewesen, Kriege zu führen, „...sondern einen neuen Sozialstaat von höchster Kultur aufzubauen.“932 Bemerkenswert sind auch die Perspektiven, die Robert Ley seinen ausländischen Zuhörern Mitte September 1940 eröffnet. In 10 Jahren werde Deutschland nicht wiederzuerkennen sein. Aus einem Proletariervolk werde dann ein Herrenvolk geworden sein. Der deutsche Arbeiter werde in 10 Jahren besser „aussehen“ als heute ein englischer Lord.933 Blickt man hinter die Kaskaden von Versprechungen und Propaganda enthüllt sich, im Grunde wenig überraschend, daß das „Altersversorgungswerk“ und die anderen Projekte des „großen Sozialwerks“ alle Strukturmerkmale der „völkischen Sozialpolitik“ beinhalten. Die geplante Altersversorgung räumt nur Reichsangehörigen „deutschen oder artverwandten Blutes“ einen Leistungsanspruch ein.934 Der „Treuepflicht des Volksgenossen“ steht der 929 Zur damaligen Zeit tobt der Luftkrieg gegen England. 930 Vgl. dazu: Eichenhofer, Eberhard: 50 Jahre Beveridge-Report. In: Zeitschrift für Sozialreform, (1992), 19 27; der „Report“ liegt schon bald in deutscher Übersetzung vor; vgl.: Der Beveridgeplan. Sozialversicherung und verwandte Leistungen. Bericht von Sir William Beveridge. Zürich, New York 1943. Das Schicksal des „Beveridge-Plans“ in England wird in der deutschen Ministerialbürokratie durchaus verfolgt; vgl.: Unterhausdebatte über den Beveridge-Plan. In: Reichsarbeitsblatt. Teil V (1943)6, 89 - 91; Karstedt: Rund um die Neugestaltung der englischen Sozialversicherung. In: Ebenda, (1945)2/3, 19 - 25. Insgesamt gilt: „Der Beveridge-Plan wurde als herausragendes Beispiel für die Sozialpolitik der Kriegsgegner von den Nationalsozialisten außerordentlich ernst genommen. Die vorwiegend propagandistische Behandlung kann die offensichtliche Furcht der Machthaber des Dritten Reiches vor sozialpolitischer Konkurrenz aus den Demokratien nur mühevoll verdecken. Die Breite und Intensität der Rezeption unterstreicht, für wie gefährlich diese Konkurrenz gehalten und welche bedeutende Rolle der Sozialpolitik und vor allem der sozialpolitischen Propaganda … zugebilligt wurde.“ Ein „Totschweigen“ sei schon wegen der Verbreitung des Radios und der Flugblattpropaganda wenig sinnvoll gewesen, so: Linne, Karsten: „Die Utopie des Herrn Beveridge“. Zur Rezeption des Beveridge-Plans im nationalsozialistischen Deutschland. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts (1993)4, 62 - 82, hier: 81 f. 931 Vgl.: Das Sozialwerk nach dem Siege. In: der Angriff Nr. 265 vom 6. November 1940, 3. 932 Des Führers Ziel: ein neuer Sozialstaat. In: Soziale Praxis, 49(1940)15, Sp. 449 - 450, hier: Sp. 449. 933 Vgl. die Rede Dr. Ley’s vor der ausländischen Presse. BA Koblenz. R 41 Reichsarbeitsministerium. Nr. 5014, unpag. 934 So der § 1 des Gesetzentwurfs zitiert aus: Versorgungswerk des Deutschen Volkes. Gesetzentwurf. BA Koblenz. R 41 Reichsarbeitsministerium. Nr. 5015, 8.

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„Anspruch auf Versorgung“ gegenüber. Der Versorgungsanspruch leitet sich aus der „Erfüllung der Pflichten gegenüber der Volksgemeinschaft“ ab, insbesondere aus der Erfüllung der „Pflicht zur Arbeit“.935 Den Versorgungsanspruch soll verlieren, wer z.B. wegen Arbeitsverweigerung oder der Teilnahme an Streiks abgeurteilt worden ist. Es heißt, „...wer sich durch schweren Verstoß gegen seine Gemeinschaftspflichten außerhalb der Volksgemeinschaft stellt, verliert diesen Anspruch“ (auf Versorgung, E. R.).936 Damit wird der Versorgungsanspruch an das Wohlverhalten geknüpft. Gearbeitet werden soll bis 65, möglichst noch darüber hinaus.937 Die „Versorgung“ soll so ausgestaltet werden, „...daß ein dauernder Ansporn zu freiwilliger Mehrleistung vorhanden ist.“938 Der Schwerpunkt der auch in diesem Zusammenhang wichtigen NS-Bevölkerungspolitik liegt naturgemäß nicht auf dem Gebiet der „Altersversorgung“. Dennoch soll als bevölkerungspolitische Leistung ein „Muttersold“ für Frauen, die das „Ehrenkreuz der deutschen Mutter“ besitzen, d.h. vier oder mehr Kinder haben, eingeführt werden. Selbstverständlich wird eine Fortführung der „Erb- und Rassenpflege“ veranschlagt und die Kostenrechnungen sowie entsprechende Ausführungen lassen erkennen, daß Aufwendungen für „Minderwertige“ nicht vorgesehen sind.939 Eine „angemessene“ Lohnordnung soll Probleme des „zweckmäßigen Arbeitseinsatzes“ lösen helfen. Die Lohnfindung soll anhand von bereits aus der Weimarer Republik geläufigen verwissenschaftlichten Methoden erfolgen. Eine Rückkehr zur „bürgerlichen Sozialreform“, zur „demokratischen Sozialpolitik“ mit ihren Verbänden von Arbeit und Kapital ist auch von dieser Seite ausgeschlossen. Darüber hinaus wird ein radikaler Bruch mit den noch erhaltenen traditionsreichen institutionellen Grundlagen des deutschen Sozialstaats angestrebt: Das „Altersversorgungswerk“ soll, bei seinem Bezug zur Arbeitspflicht, über die Arbeitseinsatzverwaltung abgewickelt werden. Konzipiert wird die „Sozialverfassung“ einer „aufsteigenden“, nicht einer „niedergehenden“ Nation. Das bedeutet im Selbstverständnis dieser Sozialplanungen: Das „Sozialwerk“ soll im wirtschaftlichen Bereich zu einer Leistungssteigerung, im politischen Bereich zu erhöhtem „Behauptungswillen“ und im biologischen Bereich zu einer stärkeren „Lebenskraft“ des deutschen Volkes führen.940 Die Entwicklung geht über diese Sozialplanungen hinweg und ein letztes Mal wird der Verweigerungskurs der Ministerialbürokratie gegenüber den Plänen der DAF deutlich, als Reichsarbeitsminister Franz Seldte seinen Lesern im „Reichsarbeitsblatt“ zum Jahreswechsel 1944/45 die gewaltigen Zerstörungen, die der Krieg angerichtet hat, vor Augen stellt und festhält, diese könnten auch durch die „günstigsten Friedensbedingungen“ nicht beseitigt werden. Für jedes Jahr der Zerstörung seien zwei Aufbaujahre mit „gleicher Anstrengung und Opferwilligkeit“ notwendig, um das Gröbste wieder in Ordnung zu bringen. Erst dann werde der „wahre Frieden“ eigentlich beginnen. Deshalb sei es doppelt erforderlich, mit einem langfristigen, befriedigenden und klar überschaubaren „Plan der Nachkriegssozialpolitik“ aufzutreten, „...damit in den Übergangsjahren bereits das Endziel sichtbar sei und 935 Vgl. ebenda, 20, 23. 936 Ebenda, 7. 937 Vgl. auch: Roth, Karl Heinz: Das Arbeitswissenschaftliche Institut der Deutschen Arbeitsfront. In: Derselbe (Bearb.): Jahrbücher des Arbeitswissenschaftlichen Instituts der Deutschen Arbeitsfront 1936 - 1940/41. Band 6: Kommentar und Register. München, London, New York, Paris 1992, 11 - 96, hier: 12. 938 Versorgungswerk des Deutschen Volkes. O.O., o. J. BA Koblenz. R 41...a.a.O.(=Anm. 934) , Bl. 81. 939 Vgl.: Roth, Karl Heinz: Das Arbeitswissenschaftliche Institut...a.a.O.(=Anm. 937),12. 940 Vgl.: Versorgungswerk des Deutschen Volkes…a.a.O.(=Anm. 934), Bl. 80; ausführlich zum „Sozialwerk des Deutschen Volkes“ vor allem auch: Recker, Marie Luise: Nationalsozialistische Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 743), 82 ff.

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die Willigkeit aller Volksgenossen begründe, mit der gleichen Einsatzbereitschaft wie der Kriegführung so auch der Aufbauarbeit zu dienen. Daß dieser Plan heute noch nicht verkündet, ja nicht einmal festgestellt werden kann, wird niemanden überraschen, der von der Führung der deutschen Sozialpolitik die höchste Verantwortung erwartet.“941 Sodann ist, wie nach einem „Erwachen“ aus der ideologischen Welt des Nationalsozialismus, in nebulöser Weise von der „Würde der freien Persönlichkeit“, von „standgemäßer Mitbestimmung“ die Rede, von der „Wiederherstellung der echten Lebensgemeinschaften“, in denen Menschen neu verwurzeln könnten. „Neuverwurzelung“, „Recht auf Arbeit“, „Idee des Rechts auf den Arbeitsplatz“, „Ortssessigkeit“, „Werksessigkeit“ sind die „Schlüsselworte“ dieser bemerkenswerten Neujahrsbotschaft des damals weitgehend entmachteten, ehemals deutschnationalen Ministers an seine „übrig gebliebenen“ Mitarbeiter. Diese in eine beispiellose Situation sozialer Desorganisation und in die beginnende militärische Endkrise „hineingesprochenen“ Worte werden um eine bemerkenswerte „oppositionelle“ Einsicht ergänzt: „Beschränkung der Freizügigkeit oder der Berufswahl sind keine tauglichen Mittel für eine fortschrittliche Sozialpolitik, und auch das Mittel der Dienstverpflichtung kann nur für Notzeiten als anwendbar angesehen werden,“942 heißt es nun, zu Beginn des Jahres 1945, in pointiert „unnationalsozialistischer“ Wortwahl und Perspektive. Offensichtlich handelt es sich hierbei um einen besonders widerwärtigen Versuch, die eigene Haut zu retten und sich für die Sozialpolitik der Nachkriegszeit zu „empfehlen.“

4.2.5 Weiterbau am „Großdeutschen Sozialstaat“ Die mit dem Jahr 1939 beginnenden militärischen „Erfolge“ der deutschen Wehrmacht führen dazu, daß das „Dritte Reich“ zum Zeitpunkt der weitesten Ausdehnung seines Herrschaftsbereichs im Jahre 1942 über eines der größten Imperien der Neuzeit herrscht, das in unglaublich kurzer Zeit durch militärische Gewalt zusammengebracht wurde. Diese Entwicklung führt in Deutschland selbst zu einer im Jahre 1940 „aufblühenden“ Diskussion um die „Neugestaltung“ Europas und darüber hinaus gehende Perspektiven.943 Alte, wilhelminische Konzepte und neuere Ansätze, die im Laufe der Zeit spezifische Modifikationen erfahren haben, erleben nunmehr unter Betonung rassistischer Grundzüge eine Renaissance. Die Zugriffsmöglichkeiten der Unternehmen, der „Wirtschaftsfachleute“, der „Verwaltungseliten“, der Sozial- und Bevölkerungspolitiker, der Raum- und Sozialplaner wachsen mit dem Vormarsch der deutschen Truppen und der Installation deutscher Herrschaftsund Verwaltungsapparaturen. Erstmals nach der „Episode“ des Ersten Weltkrieges kann „...eine ‘Neuordnung Europas’ ohne Rücksicht auf Eigenstaatlichkeit, zwischenstaatliche Hindernisse oder nationalwirtschaftliche Interessen durchdacht, geplant und begonnen werden.“944 Dabei gilt es als ausgemacht, daß eine solche Neuordnung nur auf „völkischer Grundlage“ in Kenntnis der „rassischen Substanz und Kultur“ aufgebaut werden könne.945 941 Seldte, Franz: Zum Jahreswechsel 1944/1945. In: Reichsarbeitsblatt. Teil V, 25(1945)1, 1 - 2, hier: 2. 942 Ebenda, 2. 943 Vgl. dazu jetzt grundlegend: Elvert, Jürgen: Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918 - 1945). Stuttgart 1999, 309 ff. 944 Vgl.: Kahrs, Horst: Von der „Großraumwirtschaft“ zur „Neuen Ordnung“. In: Modelle für ein deutsches Europa. Berlin 1992, 9 - 28, hier: 19. 945 Vgl.: Stuckart, Wilhelm: Staatsangehörigkeit und Reichsgestaltung. In: Reich, Volksordnung, Lebensraum, 5. Band (1943), 57 - 91, hier: 91.

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Die besetzten Länder erscheinen aus dieser Perspektive sozusagen als Kriegsbeute mit einer rassisch mehr oder weniger wertvollen Bevölkerung, die nicht nur kurzfristigen militärwirtschaftlichen Strategien unterworfen werden soll. Die Rede vom „Ostraum“, vom „Großwirtschaftsraum“, von einer auf deutsche Interessen zugeschnittenen „europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“, vom „intereuropäischen Arbeiteraustausch“946 verweisen auf neue Raumdimensionen und Möglichkeiten. Die „neuen Möglichkeiten“ motivieren einmal zu maßlosen, technokratischen und menschenverachtenden Vorstellungen und Zukunftsplänen eines sich nach Osten dehnenden „germanischen Elitestaats“ mit einem „neugebauten“ Berlin als gigantischer Hauptstadt. Sie führen auch zur Vorstellung der Eingliederung „germanischer Gebiete“ Frankreichs, Belgiens, Hollands und Skandinaviens in ein „neues Deutsches Reich“.947 Im Unterschied zu diesen Zukunftsplanungen im Westen, die nicht oder nur ansatzweise realisiert werden, aber durchaus in ihrem Geiste, gelangen die nicht „bescheideneren“ und ebenfalls rücksichtslosen Konzepte der „Gestaltung“ des „erweiterten Lebensraumes“ im Osten teilweise zur Realisierung. „Revolutionäre“ Siedlungs- und Ausrottungsvorhaben, die ebenfalls ihre Begründung und Gestalt aus der Asservatenkammer der in vielfacher Weise mit der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte verknüpften Rassenlehre der NS-Protagonisten und ihrer „Helfer“ gewinnen, werden über Jahre verfolgt und mit erheblichem Nachdruck durchgesetzt. Sie richten sich vor allem gegen die „slawischen Bevölkerungsmassen des Ostens“. „Rasseexperten“ der SS legen mit ihren Musterungen und Klassifizierungen in den besetzten Gebieten die Grundlage für eine vom „Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums“, von Heinrich Himmler, wesentlich zu gestaltende „Neuordnung“ großer Teile Europas. Diese Kräfte wenden den im Innern des Deutschen Reiches seit 1939 besonders virulenten Rassismus nach außen und entscheiden in einem vermeintlich wissenschaftlichen Ausleseverfahren, wer im Europa unter deutscher Führung als „erwünscht“ oder „unerwünscht“ zu gelten hat. Im Zusammenhang mit der „Neuordnung Europas“, auf dem Wege der Vertreibung, Umsiedlung, Neuansiedlung und Ermordung unerwünschter Menschen behaupten diese „Rasseexperten“ ihre Definitionsmacht über den „Rassewert“ von Individuen und ganzen Völkern. „Dies zeigt sich sowohl im konkreten Einzelschicksal als auch in der rassenpolitisch gesteuerten ‘Verschiebung’ von hunderttausenden ‘Fremdvölkischen’, Volksdeutschen und ‘Eindeutschungsfähigen’. Schließlich fanden die Erhebungen des RuSHA (Rasse- und Siedlungshauptamtes, E. R.) über den ‘Rassewert’ der einzelnen Völker Ost- und Südosteuropas Berücksichtigung in den zentralen Umsiedlungsplänen vom ‘Generalplan Ost’ bis zum ‘Generalsiedlungsplan’.“948 Als das Leitbild dieser Aktionen erscheint ein „rassisch“ homogenes „Großdeutsches Reich“. Zum eigentlichen Experimentier- und Anwendungsfeld einer solchen NSVolkstumspolitik wird das militärisch besiegte Polen.949 Von dieser Siedlungs- und Rassenpolitik gehen u.a. wegen der Engpässe der Beschaffung von Wohnraum und Siedlungs946 Vgl.: Syrup, (Friedrich): Intereuropäischer Arbeiteraustausch. In: Reichsarbeitsblatt. Teil V, (1941)20, 335 342. 947 Vgl. zu den „Ost-Plänen“ etwa: Rössler, Mechtild, Schleiermacher, Sabine (Hg.): Der „Generalplan Ost“. Berlin 1993. 948 So zusammenfassend in ihrer vorzüglichen Arbeit: Heinemann, Isabel: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut“: Das Rasse- und Siedlungshauptamt des SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas. Göttingen 2003, 589. 949 Vgl. in diesem Zusammenhang als aussagefähige Quelle die Denkschrift des „Rassenpolitischen Amtes“ der NSDAP über die Frage der Behandlung der Bevölkerung der ehemals polnischen Gebiete nach rassenpolitischen Gesichtspunkten vom 25. November 1939. In: Documenta Occupationis. Band V. PoznaĔ 1952, 2 ff.

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land radikalisierende Wirkungen auf die Ermordung der Juden aus. Diese gelten auch in den besetzten Gebieten als „rassisch wertlose“ Existenzen, die zu verschwinden haben und die „ihren Platz“ (d.h. immer auch ihre Arbeitsstelle, Wohnung usw.) für das Projekt der „Germanisierung“ zu räumen haben.950 Im Zuge dieser Politik und als Folge des Zweiten Weltkrieges verlieren nicht nur Millionen Juden, sondern auch Millionen nicht-jüdische Polen ihr Leben. Schließlich erstrecken sich die Germanisierungspläne der SS im Osten auch auf das Generalgouvernement.951 In „abgeschwächter“ Form werden Ansätze zu einer Gemanisierungspolitik auch im Südosten und Westen, in Elsaß-Lothringen und im besetzten Frankreich praktiziert. Eine letzte, von erheblicher weltanschaulicher Radikalität geprägte Kraftanstrengung unternahm „...der RuS-Führer in Paris, der bis kurz vor der Landung der Alliierten in der Normandie weitreichende Pläne zur rassistischen Auslese der Franzosen entwarf und partiell noch realisierte.“952 Wendet man den Blick von der „normalen“, primär auf das „Altreich“ und auf Deutsche bezogenen Kriegssozialpolitik ab, so wird ein ganz spezifischer „Internationalisierungs-“ und „völkischer“ Ab- und Einschließungsprozeß der NS-Sozialpolitik deutlich. Eine „diffuse“ Internationalisierung ist darin zu sehen, daß sich zentrale Strukturmerkmale der deutschen Sozialpolitik in verschiedenen Formen und unter diversen Bezeichnungen in jenen sozialpolitischen Ordnungen finden, die sich in den Ländern ausbreiten, in denen nationalistische, antikommunistische, autoritäre, antiparlamentarische Herrschaftsformen installiert werden. Die „Beseitigung des Klassenkampfes“, die Betonung der Rolle des Staates bei der Regelung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen, Dienstverpflichtungen, Arbeitsdienste, bevölkerungspolitische Leistungen verbreiten sich auch schon vor 1939 mit oder ohne erkennbare Abhängigkeit vom „Modell Deutschland“ in Europa. Diese Strukturen sind, wenn man so will, wie die verschiedenen Formen des Faschismus, ein Epochenphänomen. Überaus deutlich wird der deutsche Einfluß natürlich nach Kriegsbeginn vor dem Hintergrund der Besetzung bzw. des Besatzungsregimes. Das „liberale“, das demokratische Modell der staatlichen Sozialpolitik, das auch den sozialpolitischen Bestimmungen des Versailler Vertrages zugrunde lag, befindet sich europaweit auf dem Rückzug.953 Der Krieg bedingt vor allem im Rahmen des „intereuropäischen Arbeiteraustausches“ eine Internationalisierung der Arbeitseinsatzinstitutionen.954 Neben Vertretern der NSV., die sich vor allem um „Volksdeutsche“ kümmern, sind es Vertreter der Arbeitseinsatzverwaltung, die zu den ersten „sozialpolitischen Experten“ gehören, die der kämpfenden Truppe folgen. Sie sollen vor allem dem Ziel der Einbeziehung neuen „Menschenmaterials“ in die Kriegsökonomie dienen. Darüber hinaus verbreiten sich Zweigstellen deutscher Sozialleistungsträger, insbesondere der Krankenversicherung, im sich ausdehnenden Herrschaftsbereich des „Dritten Reiches“. Sie sollen die Betreuung der deutschen Mitarbeiter von Verwaltungsstellen, Wirtschaftsbetrieben und sonstigen Institutionen sicherstellen. Eigentlich hätten sich die „reichsdeutschen“ Arbeitskräfte bei den ausländischen, den „fremden“ 950 Vgl.: Heinemann, Isabel: „Rasse...a.a.O.(=Anm. 948), 302. 951 Vgl. dieselbe, ebenda, 415. 952 Dieselbe, ebenda, 356. 953 Die damit angedeuteten Zusammenhänge wären eine eigenständige Untersuchung wert. Die obigen Aussagen beruhen auf einer Auswertung der folgenden Schrift: Schmitz, Willy-Karl: Arbeitseinsatz und Sozialpolitik im europäischen Großraum. O.O., 1943 (MS), bes. 119 ff. 954 Eine sehr detaillierte Studie der Arbeitseinsatzverwaltung und der Arbeitskräftepolitik in Weißrußland enthält die vorzügliche Studie von: Gerlach, Christian: Kalkulierte Morde. 2. Aufl. Hamburg 1999, 449 ff.

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Sozialversicherungsträgern versichern müssen, da normalerweise das „Territorialprinzip“ gilt. Das ist jedoch nach nationalsozialistischer Auffassung „nicht tragbar“. Dem Ziel, die (Arbeits-)„Kameraden“ und ihre Angehörigen während „der Zeit ihrer Abordnung“ in der „Reichsversicherung“ zu belassen, dient bereits die „Verordnung über die Krankenversicherung im Ausland“ vom 26. Oktober 1939.955 Diese für „deutsche Reichsangehörige“ und für Angehörige der mit dem Deutschen Reich verbündeten oder neutralen Staaten geltende Regelung umfaßt die Menschen, die von „deutschen Betriebsführern bei im Interesse des Deutschen Reichs durchgeführten Arbeiten“ beschäftigt werden. Diese Regelung wird durch einen Erlaß des Reichsarbeitsministers vom 12. September 1940 auf alle übrigen Versicherungszweige erstreckt. Diese Einbeziehung in die „Reichsversicherung“ wird durch eine Verordnung vom 4. August 1941 umfassend geregelt.956 Die Verordnung schränkt den Kreis der Adressaten allerdings auf „deutsche Staatsangehörige“ ein, sieht aber gleichzeitig Erweiterungsmöglichkeiten vor. Soweit eine Krankenbehandlung notwendig ist, wird dem nach Möglichkeit zu realisierendem Anspruch auf Behandlung durch einen „deutschen Arzt“ bzw. Zahnarzt nicht selten dadurch Rechnung getragen, daß Ärzte bzw. Zahnärzte der Wehrmacht entsprechend tätig werden. Ähnlich wie bereits zu Friedenszeiten das Saarland, Österreich, das Sudetenland, das „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“ und das Memelgebiet Gegenstand einer umfassenden Eingliederungs- und „Ordnungspolitik“ geworden sind, so wiederholt sich dieser Vorgang im Krieg in den Gebieten, deren Angliederung an das Reich für Hitler und viele seiner Gefolgs- und Landsleute ganz außer Frage steht. Zeitweise, insbesondere in den Jahren 1940 und 1941, ist der weit überwiegende oder ein bedeutsamer Teil der im Reichsgesetzblatt zu identifizierenden sozialpolitischen Rechtsquellen dem Ziel gewidmet, eine ns-spezifische sozialpolitische Ausgestaltung in den „neuen Reichsgebieten“ zu erreichen und diese Gebiete sozialpolitisch mit dem „Altreich“ zu verklammern. Die atemberaubende territoriale Ausdehnung des deutschen Sozialstaats umfaßt dabei im Osten bald auch das „Generalgouvernement“ und verliert sich dahinter in „Reichskommissariaten“. Im Süden werden durch die Einbeziehung der Untersteiermark und der „besetzten ehemals österreichischen Gebiete Kärntens und Krains“ beinahe die Ufer des Mittelmeeres erreicht. Auch im Westen ergeben sich weitere Zugewinne. Im Selbstverständnis der damaligen sozialpolitischen Instanzen und Herrschaftsträger erfordert dieser Expansionsprozeß, insbesondere jener nach Osten, eine Stellungnahme des Sozialstaats zum „völkischen Problem“957 durch die Übertragung und Nutzanwendung der Rechtsformen und Kategorien der „Volkstumspolitik“ auf die staatliche Sozialpolitik. Ähnlich, wie gegenüber den Menschen in den „neuen Reichsgebieten“ „Blutszugehörigkeit“ und „politische Bewährung“ Kriterien namentlich der staatsrechtlichen Zugehörigkeit oder des Ausschlusses, der Privilegierung oder Diskriminierung bis zu Vertreibung und Tod werden, so geschieht dies nun auch im und durch das Sozialrecht. Dieses Vorgehen wird im Krieg zunächst gegenüber der Bevölkerung Polens in den „eingegliederten Ostgebieten“ praktiziert. Diese Gebiete umfassen etwa die Hälfte des besetzten polnischen Territoriums. Sie werden in die Reichsgaue Posen (später: Reichsgau 955 Vgl.: RGBl. I 1939, 2175. 956 Vgl. die „Verordnung über die Sozialversicherung in den besetzten Gebieten“ vom 4. August 1941 (RGBl. I 1941, 486); vgl. auch: 10 Jahre Soziale Sicherung...a.a.O.(=Anm. 635), 25 f. 957 So eine Begriffsbildung bei: Stuckart, Wilhelm: Staatsangehörigkeit...a.a.O.(=Anm. 945), 74; zu der „Südausdehnung“ vgl. z.B. das Kartenbild in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Band 5. Erster Halbband. Stuttgart 1988, 160.

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Wartheland), Danzig-Westpreußen und Ostoberschlesien eingeteilt. Hier liegt ein ganz besonderer Arbeitsschwerpunkt der Behörden des „Reichsführer SS, Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums“. Sie sollen die „großen deutschen Blutströme“, die über die Jahrhunderte vor allem nach dem Osten und Südosten Europas geflossen sind, durch Umsiedlung „zurückgewinnen“, neue Siedlungsgebiete gestalten und andere volkstumspolitische Maßnahmen durchführen.958 Der Stufung der im Osten in den deutschen Herrschaftsbereich geratenen Menschen nach rassistisch-volkstumspolitischen Kriterien sollen die Kategorien der „deutschen Volksliste“ dienen.959 In Fortsetzung der seit 1933 virulenten Tendenz der „Biologisierung“ und Politisierung der Staatsangehörigkeitsfrage960 und unter bewußter Durchbrechung des Grundsatzes, daß mit der Souveränität auch die Staatsangehörigkeit wechselt, sollen bis auf bestimmte Ausnahmen die „ehemaligen polnischen“ und die „ehemaligen Danziger Staatsangehörigen“ aufgenommen (d.h. überprüft) und in die vier „Abteilungen“ dieser „Volksliste“ zur Erfassung des „deutschen Volkstums“ eingetragen werden.961 In die Abteilung 1 werden die „Volksdeutschen“ eingetragen, „...die sich vor dem 1. September 1939 im Volkstumskampf aktiv für das Deutschtum eingesetzt haben...“962 In die Abteilung 2 kommen jene „Volksdeutschen“, die sich zwar nicht aktiv für das Deutschtum eingesetzt, „…aber gleichwohl ihr Deutschtum nachweislich bewahrt haben.“963 Die Abteilung 3 umfaßt deutschstämmige Personen mit Bindungen zum Polentum, bei denen es als gegeben erscheint, daß sie wieder „vollwertige Mitglieder“ der „deutschen Volksgemeinschaft“ werden. Sie umfaßt auch Personen in „völkischer Mischehe“ mit einem „deutschen Volkszugehörigen“, in der sich der „deutsche Teil“ durchgesetzt hat. Hinzu kommen bestimmte völkisch „nicht klar einzuordnende“ Minderheiten, die „blutsmäßig und kulturell“ zum Deutschtum hinneigen.964 In Abteilung 4 der deutschen Volksliste werden diejenigen als „rückdeutschungsfähig“ angesehenen „deutschstämmigen Personen“ aufgenommen, die „politisch im Polentum aufgegangen sind.“965 Während die „Volksdeutschen“, die in die Abteilung 1 oder 2 eingetragen werden, die deutsche Staatsangehörigkeit ohne weiteres erlangen, bekommen die „Volksdeutschen“ der Abteilung 3 eine deutsche Staatsangehörigkeit auf Widerruf, jene der Abteilung 4 und einige andere Personen erhalten die deutsche Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung.966 Für die übrige, in diesem Sinne nichtdeutsche Bevölkerung im Osten wird ein „neuer Typus“ im Staatsan958 Vgl. dazu den entsprechenden Erlaß vom 7. Oktober 1939; abgedruckt bei: Buchheim, Hans, Broszat, Martin, Jacobsen, Hans-Adolf, Krausnick, Helmut: Anatomie des SS-Staates. Band 1. 2. Auflage. München 1979, 182 ff. sowie vollständig in den Documenta Occupationis. Band V...a.a.O.(=Anm. 949), 176 ff. 959 Vgl. dazu die „Verordnung über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten“ vom 4. März 1941 (RGBl. I 1941, 118) verändert und ergänzt durch eine zweite Verordnung vom 31. Januar 1942 (RGBl. I 1942, 51); vgl. auch als aussagekräftige Quelle das Dokument „Die ‘Deutsche Volksliste’ in Posen. In: Documenta Occupationis. Band III. PoznaĔ 1949, 20 ff. 960 Zu erinnern ist an das bereits besprochene „Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit“ vom 14. Juli 1933 und an das Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935 mit seinen zahlreichen Durchführungsverordnungen. 961 Grundlegend auch: Majer, Diemut: „Fremdvölkische“ ...a.a.O. (=Anm. 97), 416 ff.; die „ehemaligen Danziger Staatsangehörigen“ erwerben überwiegend ohne weiteres die deutsche Staatsangehörigkeit; vgl.: Küppers, H.: Die Stellung der Polen im Arbeitsleben. In: Reichsarbeitsblatt. Teil V (1941)30, 532 - 537. 962 Stuckart, Wilhelm: Staatsangehörigkeit...a.a.O.(=Anm. 945), 81. 963 Derselbe, ebenda, 81. 964 Vgl. denselben, ebenda, 81 f. 965 Vgl. denselben, ebenda, 82; ausführlich auch: Majer, Diemut: „Fremdvölkische“ ...a.a.O.(=Anm. 97), 419 ff. 966 Vgl. die „Zweite Verordnung über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten“ vom 31. Januar 1942...a.a.O.(=Anm. 959).

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gehörigkeitsrecht geprägt, die „Schutzangehörigkeit“. Zu den „Schutzangehörigen“ zählt die große Masse der nichtdeutschen Bevölkerung, zählen die noch nicht klassifizierten Menschen und jene, deren Staatsangehörigkeit widerrufen ist. Juden und Zigeuner können nicht einmal „Schutzangehörige“ sein.967 Durch diese Bestimmungen und ihre Umsetzung ist in den „eingegliederten Ostgebieten“ nach damaliger Auffassung eine „Trennung“ von Deutschtum und Polentum geschaffen worden. Auf der Grundlage dieser Überlegungen werden auch die Staatsangehörigkeitsverhältnisse in den „befreiten Gebieten“ der Untersteiermark, Kärntens und Krains, in Eupen, Malmedy und Moresnet, im Elsaß, in Lothringen und in Luxemburg geregelt.968 Bevor die „Deutsche Volksliste“ ihre diskriminierende oder privilegierende Wirkung im Sozialstaat entfalten kann, ist die Rechtsetzung noch unsicher, uneinheitlich und, wegen fehlender Rechtskategorien und Erhebungen, auch nicht von vornherein „völkisch“ orientiert. Vor diesem Hintergrund beginnt der Weiterbau am „Großdeutschen Sozialstaat“ in Danzig. Das „Gesetz über die Wiedervereinigung der Freien Stadt Danzig mit dem Deutschen Reich“ vom 1. September 1939969 setzt (unter Vorbehalt) das „gesamte Reichsrecht und preußische Landesrecht“ zum 1. Januar 1940 in Danzig in Kraft. Schon bald jedoch werden umfangreiche Ausnahmebestimmungen und Modifikationen dieser forschen Regelung auf sozialpolitischem Gebiete festgeschrieben.970 Mit Datum des 22. Januar 1940 ergeht eine „Verordnung über die Einführung der Reichsversicherung in der bisherigen Freien Stadt Danzig.“971 Da das Sozialversicherungsrecht Danzigs während der „Abtrennungszeit“ im wesentlichen in Übereinstimmung mit dem Sozialversicherungsrecht des Reiches entwickelt wurde, ergeben sich nur geringe Anpassungsschwierigkeiten. Der Weiterbau am „Großdeutschen Sozialstaat“ setzt sich in den „eingegliederten Ostgebieten“ fort. Die für „wertvolle Deutsche“ konzipierte Bevölkerungspolitik des NS-Staats wird durch die „Verordnung zur Einführung von Ehestandsdarlehen, SiedlungsKinderbeihilfen, Ausbildungsbeihilfen, Einrichtungsdarlehen und Einrichtungszuschüssen in den eingegliederten Ostgebieten“ vom 9. Dezember 1940 in den eroberten Gebieten eingeführt.972 Mit der „Verordnung über die Einführung sozialrechtlicher Vorschriften in den eingegliederten Ostgebieten“ vom 6. November 1940973 wird das „Gesetz über die Heimarbeit“ vom März 1934, das „Gesetz über die Lohnfortzahlung am nationalen Feiertag des deutschen Volkes“ vom April 1934, das „Gesetz über einmalige Sonderfeiertage“ vom April 1939 und das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ vom Januar 1934 übernommen. Diese Gesetze gelten für „Polen“ inhaltlich nicht. Ein Ministerialbeamter vermerkt mit Blick auf die Arbeitsverfassung, die Grundgedanken des AOG über „Führung 967 Vgl. ebenda, Abschnitt IV. 968 Vgl. die „Verordnung über die Staatsangehörigkeit der Bewohner von Eupen, Malmedy und Moresnet“ vom 23. September 1941 (RGBl. I 1941, 584), die „Verordnung über den Erwerb der Staatsangehörigkeit in den befreiten Gebieten der Untersteiermark, Kärntens und Krains“ vom 14. Oktober 1941 (RGBl. I 1941, 648) und die „Verordnung über die Staatsangehörigkeit im Elsaß, in Lothringen und Luxemburg“ vom 23. August 1942 (RGBl. I 1942, 533). Später wird das „Volkslistenverfahren“ auch auf die Ukraine übertragen; vgl. die „Verordnung über die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit an die in die Deutsche Volksliste der Ukraine eingetragenen Personen“ vom 19. Mai 1943 (RGBl. I 1943, 321). 969 Vgl.: RGBl. I 1939, 1547. 970 Das geschieht durch die „Verordnung über die Geltung von Sozialrecht im Gebiet der bisherigen Freien Stadt Danzig“ vom 29. Dezember 1939 (RGBl. I 1940, 5). 971 Vgl.: RGBl. I 1940, 260. 972 Vgl.: RGBl. I 1940, 1570. 973 Vgl.: RGBl. I 1940, 1511.

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und Gefolgschaft“, die „gegenseitige Treue- und Fürsorgepflicht“ und die „soziale Ehre“ könnten auf den mit Polen abgeschlossenen „Beschäftigungsvertrag“ keine Anwendung finden.974 Auch die im Zuge der Aufrüstung entstandenen Instrumente des Arbeitseinsatzes einschließlich des Arbeitsbuches werden auf die „eingegliederten Ostgebiete“ übertragen.975 Hinzu tritt die Übernahme der wichtigsten Gesetze und der anderen Rechtsquellen auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes.976 Der Reichsarbeitsdienst wird mit der Verordnung vom 31. Januar 1940 in den gesamten „eingegliederten Ostgebieten“ eingeführt.977 Bald wird auch das Recht der Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenhilfe übertragen, dabei finden die Vorschriften keine Anwendung auf Juden.978 Es folgt im Jahre 1940 die Einführung der reichsdeutschen Ladenschlußvorschriften und der Feiertagsregelungen.979 Die Diskriminierung der Polen im Arbeitsleben wird auch auf den öffentlichen Dienst übertragen. Dies geschieht durch die „Verordnung über die Einführung des Gesetzes zur Ordnung der Arbeit in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben in den eingegliederten Ostgebieten“ vom 17. März 1941.980 Auch dieses Gesetz gilt für Polen inhaltlich nicht. Lediglich einige formale Regelungen und Verfahrensweisen gelten auf dem Gebiet des Erlasses, der Durchführung und des Schutzes von Tarif- und Dienstordnungen. Mit den beiden Arbeitsordnungsgesetzen gehört die kollektivrechtliche Ordnung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen in diesen Gebieten Polens der Vergangenheit an. De jure erfolgt die Liquidierung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen zugunsten des Vermögens der DAF mit Verordnung vom 8. Juli 1942.981 Mit einer typischen Formulierung, hinter der sich Diskriminierungsabsichten verbergen, wartet die „Verordnung über die Einführung der Krankenversicherung für Kriegshinterbliebene in den eingegliederten Ostgebieten“ vom 11. März 1941 auf.982 Nach § 1(2) sind Vor974 Vgl.: Küppers, H.: Die Stellung der Polen…a.a.O. (=Anm. 961),534. Zur Diskriminierung von Polen im Zusammenhang mit der Vertrauensmännerbestellung vgl. die „Anordnung über die Bestellung von Vertrauensmännern in den eingegliederten Ostgebieten“ vom 26. April 1941 (RGBl. I 1941, 237); eine Rechtsquelle, die weitere Diskriminierungen auf dem Gebiet der Arbeitsverfassung festschreibt, ist die „Anordnung über den Erlaß von Betriebsordnungen in den eingegliederten Gebieten“ vom 25. Juni 1941 (RGBl. I 1941, 356). 975 Vgl. die „Verordnung zur Einführung der Notdienstverordnung nebst Durchführungsvorschriften in den eingegliederten Ostgebieten“ vom 14. Juli 1940 (RGBl. I 1940, 1019), die „Verordnung über den Arbeitseinsatz in den eingegliederten Ostgebieten“ vom 13. August 1940 (RGBl. I 1940, 1129), vgl. auch die „Zweite Verordnung über den Arbeitseinsatz in den eingegliederten Ostgebieten“ vom 17. September 1941 (RGBl. I 1941, 594). 976 Vgl.: „Verordnung zur Einführung von Arbeitsschutzrecht in den eingegliederten Ostgebieten“ vom 5. September 1940 (RGBl. I 1940, 1232). 977 Vgl.: RGBl. I 1940, 248; vgl. auch die „Verordnung zum Schutze des Reichsarbeitsdienstes“ vom 12. März 1940 (RGBl. I 1940, 485) sowie die den Reichsarbeitsdienst für die weibliche Jugend umfassende „Verordnung über die Einführung von weiterem Reichsarbeitsdienstrecht in den eingegliederten Ostgebieten und im Protektorat Böhmen und Mähren“ vom 30. November 1940 (RGBl. I 1940, 1544). 978 Vgl. die „Verordnung über Arbeitslosenhilfe in den eingegliederten Ostgebieten“ vom 29. März 1940 (RGBl. I 1940, 574). 979 Vgl. z.B. die „Verordnung zur Einführung der Verordnung über den Ladenschluß in den eingegliederten Ostgebieten“ vom 6. April 1940 (RGBl. I 1940, 609), die „Verordnung über die Einführung des nationalen Feiertags des Deutschen Volkes in den Reichsgauen der Ostmark, dem Reichsgau Sudetenland und den eingegliederten Ostgebieten“ vom 23. April 1940 (RGBl. I 1940, 674). 980 Vgl.: RGBl. I 1941, 147; gegen Polen gerichtete Bestimmungen finden sich auch in der „Anordnung über die Bestellung von Vertauensmännern in den öffentlichen Verwaltungen und Betrieben der eingegliederten Ostgebiete“ vom 1. Oktober 1941 (RGBl. I 1941, 618). 981 Vgl.: „Verordnung über die Auflösung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen im Memelland, im Gebiet der bisherigen Freien Stadt Danzig, in den eingegliederten Ostgebieten und in den Gebieten von EupenMalmedy und Moresnet“ vom 8. Juli 1942 (RGBl. I 1942. 447). 982 Vgl.: RGBl. I 1941, 159.

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schriften, die nicht unmittelbar angewandt werden können, „sinngemäß“ anzuwenden. Die antisemitische deutsche Reichsärzteordnung wird durch eine Verordnung vom 20. März 1941 auf die „eingegliederten Gebiet“ übertragen.983 Die Nürnberger Rassengesetzgebung wird durch eine Verordnung vom 31. Mai,984 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und das „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes“ wird mit einer Verordnung vom 24. Dezember 1941 eingeführt.985 „Folgerichtig“ soll die administrative Grundlage der Durchführung der „Erb- und Rassenpflege“ in den „eingegliederten Ostgebieten“ wie im „Altreich“ über Gesundheitsämter erfolgen. Eine Verordnung vom 22. Mai 1942 führt das „Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ in die „eingegliederten Ostgebieten“ ein.986 Von erheblicher Bedeutung für die weitere arbeitsrechtliche Behandlung und Benachteiligung von „polnischen Beschäftigten“ im „Altreich“, in den bis zum Krieg hinzugekommenen Gebieten und in den „eingegliederten Ostgebieten“ sind zwei zentrale „Anordnungen“. Es handelt sich einmal um die von Friedrich Syrup unterzeichnete „Anordnung über die arbeitsrechtliche Behandlung der polnischen Beschäftigten“ vom 5. Oktober 1941.987 Dieser Anordnung sind die diskriminierenden „Polenerlasse“ vom 8. März 1940 vorausgegangen.988 Die Verordnung vom 5. Oktober 1941 regelt umfassend die Arbeitsund Entlohnungsbedingungen der Polen im Sinne einer Vereinheitlichung und der Schaffung eines nach „rassischen“ Gesichtspunkten diskriminierenden Sonderrechts. Dieses Vorgehen wird aus Sicht der NS-Machthaber mit dem Hinweis auf die Volkstumskämpfe zwischen Polen und Deutschen gerechtfertigt. Diese hätten die Form eines „scharfen und rücksichtslosen Ausrottungskampfes“ gegen Deutsche angenommen. Durch „Mord- und Greueltaten“ habe sich das polnische Volk selbst aus der Liste der „Kulturnationen“ gestrichen.989 Auch diese „Anordnung“ geht von der Nichtgeltung der deutschen Arbeitsverfassung für Polen aus. Sodann wird festgelegt, daß Polen, d.h. „Schutzangehörige“ und „Staatenlose polnischen Volkstums,“990 „...nur dann einen Anspruch auf Lohn oder Gehalt haben, wenn dafür entsprechende Arbeit geleistet wird.“991 Bis auf Ausnahmen (etwa: Arbeitsausfall bei Fliegeralarm, ungünstige Witterung) scheidet eine Lohnfortzahlung etwa an bestimmten Feiertagen, im Krankheitsfalle (es sei denn, sie geht auf einen unverschuldeten Betriebsunfall zurück) aus. Feiertagsarbeit begründet für Polen keinen Anspruch auf Feiertagszuschlag, unbeschadet eines etwaigen Anspruchs auf Sonntags- und Mehrarbeitszuschlag. Betriebliche Sozialzulagen wie z. B. Familien- und Kinderzulagen, Wochenhilfe, Geburten- und Heiratsbeihilfen, Weihnachtszuwendungen, dürfen an Polen nicht gezahlt 983 Vgl.: RGBl. I 1941, 161. 984 Vgl. die „Verordnung über die Einführung der Nürnberger Rassengesetze in den eingegliederten Ostgebieten“ vom 31. Mai 1941 (RGBl. I 1941, 297). 985 Vgl. die „Verordnung über die Einführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und des Gesetzes zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes in den eingegliederten Ostgebieten“ vom 24. Dezember 1941 (RGBl. I 1942, 15). 986 Vgl.: RGBl. I 1942, 342. 987 Vgl.: Reichsarbeitsblatt. Teil I (1941)29, 448 - 450. 988 Vgl.: Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter...a.a.O. (=Anm. 467), 74 ff. 989 Vgl. zu dieser immer wieder vorgebrachten Begründung und zu den umfangreichen und komplexen Regelungen sozialpolitischer Art: Küppers, Hans, Bannier, Rudolf: Arbeitsrecht der Polen im Deutschen Reich (Private Wirtschaft und Öffentlicher Dienst). Berlin, Wien, Leipzig 1942. 990 So die nunmehr offizielle Definition nach den Bestimmungen über die „Deutsche Volksliste“; vgl.: Küppers, H.: Die Stellung der Polen...a.a.O.(=Anm. 961), 533; zu den „Staatenlosen polnischen Volkstums“ zählen z.B. in Nordfrankreich siedelnde Polen, die durch die Zerschlagung Polens staatenlos geworden sind. 991 Derselbe, ebenda, 535.

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werden.992 An der betrieblichen Altersversorgung dürfen diese Arbeitskräfte nicht teilhaben. Urlaubsansprüche werden herabgesetzt. Die Trennungsentschädigung und der Lohnanspruch werden herabgemindert, die Kündigungsfrist wird gekürzt. Das Jugendschutzgesetz wird für polnische Beschäftigte suspendiert, es gelten die Bestimmungen für Erwachsene. Soweit es nicht „zwingende betriebliche Gründe“ erfordern, „...dürfen polnische Beschäftigte nicht an Arbeitsplätzen eingesetzt werden, die sie berechtigen, deutschen Gefolgschaftsmitgliedern Weisungen zu erteilen.“993 Die zweite in diesem Zusammenhang anzusprechende „Anordnung“ enthält entsprechende Regelungen für die im öffentlichen Dienst beschäftigten Polen.994 Am 5. August 1940 werden Polen durch die vom „Ministerrat für die Reichsverteidigung“ erlassene „Verordnung über die Erhebung einer Sozialausgleichsabgabe“995 dazu verpflichtet, eine entsprechende Abgabe als Zuschlag zur Einkommenssteuer zu entrichten. Sie beträgt 15 v.H. des Einkommens und fließt ausschließlich dem Reich zu. Eine Verordnung vom 21. Februar 1942 erweitert diese Abgabepflicht auf „Personen nichtdeutscher Volkszugehörigkeit“ aus dem Gebiet des damaligen Generalgouvernements, einschließlich des Distrikts Galizien und aus dem Bezirk Bialystok. Darüber hinaus beinhaltet diese Verordnung eine „Lohnausgleichsabgabe“ (§ 3), die für „Personen nichtdeutscher Volkszugehörigkeit“ aus dem Gebiet des „Reichskommissariats Ostland mit Ausnahme von Weißruthenien“ gelten soll.996 Die Einführung einer „Sozialausgleichsabgabe“ der Polen und der anderen „Ostvölker“ hat ein entsprechendes Abgaberecht für Juden997 und Zigeuner zur Folge.998 Diese offenkundigen rassistischen Diskriminierungsmaßnahmen scheinen für die dafür zuständigen Behörden „...ebenso wenig sensationell gewesen zu sein, wie für die deutsche Bevölkerung. Es gibt keine Hinweise darauf, daß die Sonderabgabe an irgendeiner Stelle auf Widerspruch gestoßen wäre. Die Hinweise, daß die Polen weniger Abgaben zu zahlen hätten und nicht zum Wehrdienst müßten, reichten aus, um die Beamten … von der Rechtlichkeit des Vorgehens zu überzeugen.“999 Es vermag kaum zu überraschen, daß auch die Einführung der deutschen Sozialversicherung in die „eingegliederten Ostgebiete“ die nationalsozialistischen Fragen von „Rasse und Volkstum“ veranschlagt. Erste Maßnahmen zur „Wiederingangsetzung“ der polnischen 992 Dementsprechend wird der Kinderreichtum bei den Polen, der immer mehr zunehme, ablehnend betrachtet. Die Polen hätten die Parole aufgestellt, die auch von der Geistlichkeit unterstützt werde: „Den Krieg haben militärisch die Männer verloren, die Frauen müssen ihn biologisch gewinnen.“ Als noch bedenklicher wird erwähnt, daß viele Polinnen von deutschen Männern, insbesondere von Soldaten, Kinder hätten „…und so neues deutsches Blut in den polnischen Volkskörper fließt.“ Vgl. die Anlage zur „Vorlage für den Herrn Minister“ vom 17. 6. 1942. BA Abt. Potsdam. 94 Sammlung II. Weltkrieg. Akte Nr. 686 (unpag.). 993 Vgl.: § 12 der „Anordnung über die arbeitrechtliche Behandlung der polnischen Beschäftigten“ vom 5. Oktober 1941...a.a.O.(=Anm. 987). 994 Vgl. die „Anordnung über die arbeitsrechtliche Behandlung der Polen“ vom 3. März 1941. In: Reichsarbeitsblatt. Teil I, (1941)10, 171 - 172. 995 Vgl.: RGBl. I 1940, 1077; vgl. auch die „Erste Verordnung zur Durchführung der Verordnung über die Erhebung einer Sozialausgleichsabgabe“ vom 10. August 1940 (RGBl. I 1940, 1094). 996 Vgl. die „Erste Verordnung zur Durchführung der Verordnung über die Besteuerung und die arbeitsrechtliche Behandlung der Arbeitskräfte aus den neu besetzten Ostgebieten (Erste DVStVAOst)“ vom 21. Februar 1942 (RGBl. I 1942, 86). 997 Vgl. die „Zweite Verordnung zur Durchführung der Verordnung über die Erhebung einer Sozialausgleichsabgabe“ vom 24. Dezember 1940 (RGBl. I 1940, 1666). 998 Vgl. die „Dritte Verordnung zur Durchführung der Verordnung über die Erhebung einer Sozialausgleichsabgabe“ vom 26. März 1942 (RGBl. I 1942, 149). 999 Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter...a.a.O.(=Anm. 467), 93.

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Sozialversicherung gehen unmittelbar nach der militärischen Niederlage und Zerschlagung des polnischen Staates von der deutschen Zivilverwaltung aus. Parallel dazu laufen Vorbereitungen zur Einführung der deutschen Sozialversicherung an. Noch im November 1939 wird von deutscher Seite für Ostoberschlesien bestimmt, daß im Bereich der Krankenversicherung die Vorschriften der RVO anzuwenden seien.1000 Von besonderer Bedeutung ist sodann die „Verordnung über die Einführung der Reichsversicherung in den der Provinz Schlesien eingegliederten, ehemals polnischen Gebieten“ vom 16. Januar 1940.1001 Diese Verordnung enthält bereits eine Differenzierung in „Berechtigte mit nichtdeutscher Volkszugehörigkeit“, denen Renten in bisheriger Höhe weitergewährt werden sollen und „deutsche Volkszugehörige“ oder „deutsche Staatsangehörige“, deren Renten neu berechnet werden sollen und deren Renten sich dementsprechend gegenüber den Renten an Polen entsprechend erhöhen. Eine „Verordnung über die Entrichtung von Beiträgen zur Sozialversicherung in den eingegliederten Ostgebieten“ vom 27. Mai 19401002 enthält die Ankündigung, daß die Einführung des Rechts der „Reichsversicherung“ beabsichtigt sei und regelt ansonsten übergangsweise Beitragsfragen. Gleichzeitig häufen sich die Anzeichen für eine kommende schwerwiegende Diskriminierung der Polen in der zur Einführung vorgesehenen „Reichsversicherung.“ Auf dem Erlaßwege werden Rentenzahlungen an Berechtigte, die sich offenkundig „in deutschfeindlichem Sinne betätigt haben“, schon vor der Einführung der RVO in Ostoberschlesien seit November 1939 verboten.1003 Diese Regelung wird alsbald auf Renten deutscher Versicherungsträger ausgedehnt. Neue Rentenanträge werden nicht erledigt. Im Wartheland wird die Auszahlung der Renten für Polen auf Anordnung des Reichsarbeitsministers eingestellt. Nach einer Anordnung des Reichstatthalters im Wartheland vom 13. Oktober 1941 zur vorläufigen Regelung der Krankenversicherung der in der Landwirtschaft Beschäftigten wird bestimmt, daß „Schutzangehörige des Deutschen Reiches nach § 7 der Verordnung über die Deutsche Volksliste“ die Leistungen ohne Rechtsanspruch und in niedriger Höhe als Unterstützung erhalten. Ähnliche Regelungen werden in Pommern und Oberschlesien erlassen. In einer Denkschrift wird die Vereinheitlichung der Regelung dieser Fragen in Form eines besonderen „Polenstatuts“ gefordert.1004 Wohl über eineinhalb Jahre wird über die Modalitäten der flächendeckenden Einführung der „Reichsversicherung“ in den „eingegliederten Ostgebieten“ verhandelt. Eine Schrift der DAF erwähnt Entwürfe vom 30. Mai 1940, vom 9. September 1940 und vom 29. August 1941.1005 Gegen Ende des Jahres 1941 ist die Entscheidung gefallen. Mit der „Verordnung über die Einführung der Reichsversicherung in den eingegliederten Ostgebieten“ vom 22. Dezember 19411006 gelten die Reichsversicherungsordnung, das Angestelltenversicherungsgesetz und das Reichsknappschaftsgesetz nebst den zu ihrer Ergänzung, Änderung und Durchführung erlassenen Vorschriften unter Berücksichtigung der sich aus der 1000 Vgl.: Szurgacz, Herbert: Das Polenstatut in der Sozialversicherung in den in das III. Reich eingegliederten Ostgebieten (1939 - 1945). In: Ruland, Franz, Maydell, Bernd Baron von, Papier, Hans-Jürgen (Hg.): Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats. Festschrift für Hans F. Zacher zum 70. Geburtstag. Heidelberg 1998, 883 894, hier: 885. 1001 Vgl.: RGBl. I 1940, 196. 1002 Vgl.: RGBl. I 1940, 561. 1003 Vgl. die Hinweise im Erlaß IIa Nr. 5071/40 des Reichsarbeitsministers vom 11. Juni 1940. Betr.: Verordnung über die Einführung der Reichsversicherung in den der Provinz Schlesien eingegliederten ehemals polnischen Gebieten. In: Reichsarbeitsblatt. Teil II (1940)22, 266. 1004 Vgl. die Hinweise bei: Szurgacz, Herbert: Das Polenstatut...a.a.O.(=Anm. 1000), 887 f. 1005 Vgl.: 10 Jahre Soziale Sicherung...a.a.O.(=Anm. 635), 24. 1006 Vgl.: RGBl. I 1941, 777.

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Verordnung ergebenden Besonderheiten in den „eingegliederten Ostgebieten“. Stichtag für die der Provinz Oberschlesien eingegliederten Gebietsteile ist der 1. Januar 1940. Für die übrigen Gebietsteile der „eingegliederten Ostgebiete“ gilt der 1. Januar 1942 als Stichtag. Vor dem Hintergrund dieser Regelung werden die Leistungen neu berechnet und das Institutionengefüge der deutschen Sozialversicherung wird auf das neue Gebiet erstreckt, unter Übernahme und Einbau ehemals polnischer Institutionen. Die differenzierende Scheidung der in diesen Gebieten lebenden Bevölkerung in „erwünschte“ und „unerwünschte“ Segmente wird auf der Grundlage der „Deutschen Volksliste“ vorgenommen indem in § 1 (1) bestimmt wird: „Diese Vorschriften finden jedoch keine Anwendung auf Schutzangehörige und Staatenlose polnischen Volkstums.“ Damit entfällt für Millionen von Polen der Schutz der deutschen Sozialversicherung, so wie er in den einschlägigen Gesetzen geregelt ist. Für diese diskriminierten und schutzlos gemachten Menschen, sieht der § 43 (2) der Verordnung vom 22. Dezember 1941 vor: „Der Reichsarbeitsminister bestimmt im Einvernehmen mit dem Reichsminister des Innern und dem Reichsminister der Finanzen das Nähere über die Behandlung der Personen, auf welche die durch § 1 Abs. 1 eingeführten Vorschriften keine Anwendung finden.“1007 Ein Erlaß des Reichsarbeitministers vom 10. Januar 19421008 empfiehlt bereits, sich auf die Auszahlung von Vorschüssen gegenüber Polen zu beschränken und keine Neufeststellung von Leistungen, zur Vermeidung späterer Umrechnungsarbeiten, bis auf weiteres vorzunehmen. Die Beitragserhebung könne jedoch schon nach Reichsrecht erfolgen. Die vielfach geforderte und angekündigte Grundlage für die Behandlung der Polen in der Sozialversicherung ergeht als „Erlaß über die den Schutzangehörigen und Staatenlosen polnischen Volkstums in den eingegliederten Ostgebieten an Stelle der Leistungen der Reichsversicherung zu gewährenden Unterstützungen“ vom 26. August 1942.1009 Der Erlaß bezeichnet zunächst die Paragraphen der Verordnung vom 22. Dezember 1941, die auf Polen keine Anwendung finden sollen. Es sind im wesentlichen Vorschriften, die für die als „volksdeutsch“ bzw. “deutschstämmig“ klassifizierten Menschen vorteilhafte Bestimmungen beinhalten. Darüber hinaus wird als separater Stichtag für die Regelungen des Erlasses der 1. Oktober 1942 festgelegt. Alle Leistungen der Sozialversicherungen sollen vom Stichtag an den Polen nur noch als „Unterstützungen“ gewährt werden, „…auf sie besteht kein Rechtsanspruch“ (§ 2). Damit folgt dieser Erlaß tatsächlich der bereits in den vorausgehenden Maßnahmen vorgezeichneten Linie. Unfall- sowie Invaliden- und Hinterbliebenenunterstützungen werden grundsätzlich nur „…bis zur Höhe des für den Schutzangehörigen oder den Staatenlosen polnischen Volkstums an seinem Wohnort beim Beginn der Unterstützungszahlung geltenden Richtsatzes der öffentlichen Fürsorge gewährt. Dieser Richtsatz bleibt für die ganze Dauer der Unterstützungszahlung maßgebend.“ Dabei ist, wie der Reichsarbeitsminister am 13. Oktober 1942 erklärt, nur an den Richtsatz für den Leistungsempfänger gedacht, nicht zu veranschlagen seien Richtsätze für Familienangehörige des Empfängers oder auch Familienzuschläge.1010 Damit sind diese Klienten des Sozialstaats 1007 Ausführlich über den für „Deutsche“ vorteilhaften Rechtsstatus informiert: Dobbernack, W.(ilhelm): Die Einführung der Reichsversicherung in den eingegliederten Ostgebieten. In: Reicharbeitsblatt. Teil II (1942)3, 50 56, Heft 4: 78 - 88. 1008 Vgl. den Erlaß IIa 395 42, Betr.: Behandlung der Schutzangehörigen und der Staatenlosen polnischen Volkstums in den eingegliederten Ostgebieten vom 10. Januar 1942. In: Reichsarbeitsblatt. Teil II (1942)3, 38 f. 1009 Vgl.: Reichsarbeitsblatt. Teil II (1942)25, 469. 1010 Vgl.: Szurgacz, Herbert: Das Polenstatut...a.a.O.(=Anm. 1000), 890; vgl. den Erlaß des Reichsarbeitsministers IIa 13773/42 vom 13. Oktober 1942. In: Reichsarbeitsblatt. Teil II(1942)30, 543.

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auf der einen Seite der Verelendung bzw. ergänzenden Fürsorge preisgegeben, auf der anderen Seite sind sie verpflichtet, die sich aus dem Versicherungsprinzip ergebenden hohen Beiträge zu zahlen.1011 Darüber hinaus bestimmt der Erlaß, daß als Krankenunterstützung lediglich die Regelleistungen gewährt werden sollen. Das Krankengeld wird nur zur Hälfte und erst vom achten Tag der Arbeitsunfähigkeit gezahlt. Bei der Wochenhilfe entfallen die Barleistungen, das Sterbegeld entfällt, die Familienhilfe wird auf unbare Leistungen beschränkt. Weitere diskriminierende Bestimmungen existieren auf dem Gebiet der „Unfallunterstützung“. Der Unfallverletzte erhält als Unterstützung den vollen Richtsatz der öffentlichen Fürsorge, wenn seine Erwerbsfähigkeit mindestens um die Hälfte, zwei Drittel dieses Richtsatzes, wenn sie mindestens um ein Drittel, aber weniger als die Hälfte gemindert ist. Die Witwe des Getöteten erhält die Hälfte des Richtsatzes, „...solange sie invalide ist oder mindestens vier Kinder unter fünfzehn Jahren erzieht.“ Kinderzulagen, Sterbegeld, Witwenabfindung, Witwerrente, Waisenrente, Aszendentenrente, Witwenbeihilfe, Pflege, Berufsfürsorge, Tage- und Familiengeld sowie Kannleistungen werden überhaupt nicht gewährt (§ 4). Der § 6 des Erlasses vom 26. August bestimmt: „Die Schutzangehörigen und die Staatenlosen polnischen Volkstums, die nach den reichsrechtlichen Vorschriften versicherungspflichtig in der Angestelltenversicherung oder in der knappschaftlichen Pensionsversicherung wären, werden ausschließlich nach den Vorschriften der Invalidenversicherung behandelt, jedoch sind die (sehr hohen, E. R.) Beiträge zur knappschaftlichen Pensionsversicherung nach den Vorschriften des Reichsknappschaftgesetzes zu entrichten.“ Auch auf dem Gebiet der Invalidenversicherung werden an Polen zahlreiche Leistungen nicht gewährt und es werden Bezugsvoraussetzungen erschwert, dies ganz abgesehen von der Ausrichtung der Geldleistungen an Fürsorgerichtsätzen ohne daß das „dazugehörige“ Bedarfsprinzip berücksichtigt wird. Schließlich unterliegen „Schutzangehörige“ und „Staatenlose polnischen Volkstums“, die entsprechende „Unterstützungen“ erhalten, nicht der Krankenversicherung der Rentner. „Konsequenterweise“ werden die Polen auch nicht in die Leistungsverbesserungen einbezogen, die mit einer Verordnung vom 10. Dezember 1942 und vom 12. Oktober 1943 in zahlreichen „eingegliederten Gebieten“ gewährt werden und die insgesamt nicht unbedeutend sind.1012 Von deutscher Seite werden gegen diese Sozialstaatspraxis mitunter Bedenken vorgebracht, da eine solche Politik zur Gefahrvermeidung bei der Arbeit, zur Leistungszurückhaltung und zur Ruinierung der Arbeitskraft erkennbar beiträgt. Lediglich in einigen Werken wird aus humanitären Gründen versucht „im Rahmen des Möglichen“ zu helfen und „...zwar durch Lieferung von Invalidenkohle oder durch Gewährung von Freikohle an Witwen.“1013 Dieses System der Diskriminierung von Polen, das offensichtlich bis zum Kriegsende fortgesetzt wird,1014 und andere Formen sozialstaatlicher Diskriminierung werden, folgt man den Rechtsquellen, bald auch im Generalgouvernement praktiziert. 1011 Vgl. denselben, ebenda, 891. 1012 Es handelt sich um die „Verordnung über Leistungsverbesserungen in der Rentenversicherung in den Alpenund Donau-Reichsgauen, den ehemaligen tschecho-slowakischen, dem Deutschen Reich eingegliederten Gebieten, den eingegliederten Ostgebieten und der bisherigen Freien Reichstadt Danzig“ vom 10. Dezember 1942 (RGBl. I 1942, 697) und um die identisch getitelte zweite Verordnung vom 12. Oktober 1943 (RGBl. I 1943, 565). 1013 Szurgacz, Herbert: Das Polenstatut...a.a.O.(=Anm. 1000), 893. 1014 Anfang 1943 erfolgt noch eine „Klarstellung von Zweifelsfragen bei der Durchführung“ des Erlasses; vgl. den Erlaß des Reichsversicherungsamtes II 22607a 9/43 - 82/4 - vom 5. Februar 1943. In: Reichsarbeitsblatt (1943)5, 56.

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Das Generalgouvernement, dessen staatsrechtliche Stellung von Hitler bewußt unklar gehalten wird, steht außerhalb des Deutschen Reiches. Es bildet ein „Gebiet der deutschen Machthoheit“ oder ein koloniales „Nebenland“, wie es der Generalgouverneur Hans Frank formuliert.1015 Das Generalgouvernement wird zum Arbeitskräftereservoir, Aufnahmeland für die aus den „eingegliederten Gebieten“ vertriebenen Polen, es ist industrielles und landwirtschaftliches Ausbeutungsobjekt und Hauptschauplatz für die Durchführung der „Endlösung“, der Ermordung der europäischen Juden. Einer relativ weitmaschigen deutschen Aufsichtsverwaltung und Herrschaftspraxis unterworfen, entwickeln die dort angesiedelten Herrschaftsträger dennoch erhebliche Gestaltungsansprüche, die dem bekannten Muster der Erniedrigung und Niederhaltung der polnischen Bevölkerung folgen, wenngleich unter diesen Rahmenbedingungen das „Eigenleben“ polnischer Traditionen und Institutionen im Vergleich zu den „eingegliederten Ostgebieten“ bedeutsamer bleibt. Es fehlt bekanntlich nicht an Exzessen der Gewaltsamkeit, an drastischen Eingriffen, Verboten, Zwangsmaßnahmen, die wiederum auch Maßnahmen der (Um-)Siedlung und Volkstumspolitik umfassen. Schon mit dem Winter 1942/43 droht jedoch der aktive und passive Widerstand der Polen die „...Verwaltung und Nutzung des Gebietes zunehmend illusorisch zu machen.“1016 Vor diesem Hintergrund beginnt ein reichsdeutscher Eingriff in die im Generalgouvernement fortbestehende polnische Sozialversicherung mit der „Verordnung über die Sozialversicherung der deutschen Staatsangehörigen im Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete“ vom 17. Juni 1940.1017 Ganz im Sinne der für die übrigen „besetzten Gebiete“ geltenden Regelung aber ungleich früher wird der Grundsatz festgehalten, daß „für die Beschäftigung von deutschen Staatsangehörigen im Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete ... die Vorschriften der Reichsversicherung...“ mit bestimmten Abweichungen gelten (§ 1). Die Verordnung umfaßt darüber hinaus zahlreiche organisatorische Regelungen.1018 Die Arbeitslosenversicherung wird für diese Beschäftigten nicht in Kraft gesetzt. Zwei Entwicklungen verweisen nach einiger Zeit in die Richtung auf einen Aufbau einer kompletten deutschen Sozialversicherung im Generalgouvernement unter Einbeziehung volkstumspolitischer Strategien. Einmal erscheint es dem Reichsarbeitsministerium als unumgehbar, eine von der polnischen Sozialversicherung getrennte selbständige Krankenkasse für das Generalgouvernement zu errichten. Das geschieht durch eine Verordnung vom 9. Juli 1942.1019 Sie bestimmt: „Die Sektion Krakau der Allgemeinen

1015 Vgl.: Rebentisch, Dieter: Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Stuttgart 1989, 173. 1016 Vgl.: Broszat, Martin: Nationalsozialistische Polenpolitik 1939 - 1945. Stuttgart 1961, 168; vgl. als neuere Untersuchung: Esch, Michael G.: „Gesunde Verhältnisse.“ Deutsche und polnische Bevölkerungspolitik in Ostmitteleuropa 1939 - 1950. Marburg 1998, 151 ff. 1017 Vgl.: RGBl. I 1940, 908. Diese Regelung gilt gemäß Erlaß des Reichsarbeitsministers II b 1776/40A vom 19. Oktober 1940 auch für aus dem Reich abgeordnete deutsche Staatsangehörige; vgl.: Reichsarbeitsblatt. Teil II (1940)30, 376. 1018 Vgl. in diesem Zusammenhang zur Krankenversicherung die zahlreichen Details besprochen und erläutert bei: Bogs, (Walter): Die deutsche Krankenversicherung im Generalgouvernement. In: Reichsarbeitsblatt. Teil II(1942)27, 499 - 502. 1019 Vgl. die „Verordnung über die Krankenversicherung der deutschen Volkszugehörigen im Generalgouvernement und die Errichtung der Deutschen Krankenkasse für das Generalgouvernement“ vom 9. Juli 1942 (RGBl. I 1942, 459); vgl. ergänzend die „Anordnung über die Überführung der deutschen Volkszugehörigen in die Deutsche Krankenkasse für das Generalgouvernement“ vom 22. Oktober 1942 (Verordnungsblatt für das Generalgouvernement (VBlGG.) 1942, 658) sowie die ergänzende Anordnung vom 16. November 1942 (Ebenda, 711) und die „Zweite Anordnung“ vom 21. Oktober 1943 (VBlGG. 1943, 618). Es folgt ein Erlaß vom 27. März 1944, der

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Ortskrankenkasse Kattowitz wird in die Deutsche Krankenkasse für das Generalgouvernement umgewandelt“ (§ 2(3)). Eine so schon signalisierte sozialpolitische Trennung des „Deutschtums“ vom „Polentum“ wird durch die mit der gleichen Verordnung vorgenommene sozialrechtliche Sonderstellung der „Volksdeutschen“, später auch der „Deutschstämmigen“ im Krankenversicherungsrecht des Generalgouvernement weiter voran getrieben. Die „Volksdeutschen“ gelten 1942 als nunmehr vollständig erfasst und durch „Kennkarten“ ausgewiesen.1020 Bei der Leistungsgewährung haben sie bereits nach den vom Generalgouverneur erlassenen Vorschriften in der polnischen Sozialversicherung eine „Vorzugsstellung“ genossen. Nunmehr werden die im Generalgouvernement beschäftigten „deutschen Volkszugehörigen“ Adressaten und Nutznießer der reichsrechtlichen Vorschriften über Krankenversicherung. Diese gelten für sie seit dem 1. August 1942 „…in derselben Weise wie für deutsche Staatsangehörige“(§ 1). Sie werden darüber hinaus wie die deutschen Staatsangehörigen Mitglieder der „Deutschen Krankenkasse.“ Dennoch sind die „Volksdeutschen“ im Generalgouvernement gegenüber den deutschen Staatsangehörigen benachteiligt. Für sie gilt vorerst lediglich das Recht der Krankenversicherung, „…die Frage der Erstreckung der übrigen Zweige der Reichsversicherung auf die deutschen Volkszugehörigen im Generalgouvernement ist einer späteren Entschließung vorbehalten geblieben“, vermerkt im Jahre 1942 der Sozialversicherungsexperte Walter Bogs.1021 Dieser Zeitpunkt ist zu Beginn des Jahres 1943 für bestimmte soziale Gruppen gekommen. Nach der „Verordnung zur Durchführung und Ergänzung der Verordnung über die Sozialversicherung in den besetzten Gebieten“ vom 10. Februar 19431022 wird die seit 1941 geltende Grundregel, daß auf die in den „besetzten Gebieten“ beschäftigten deutschen Staatsangehörigen die Vorschriften der gesamten „Reichsversicherung“ anzuwenden sind,1023 auch erstreckt auf die in den „besetzten Gebieten“ beschäftigten deutschen „Volkszugehörigen“ aus den „eingegliederten Ostgebieten“, auf besonders bezeichnete ehemalige polnische und Danziger Staatsangehörige, auf deutsche „Volkszugehörige“ aus dem Generalgouvernement und aus dem Bezirk Bialystok, auf bestimmte „deutsche Volkszugehörige“ aus dem Elsaß, aus Lothringen und Luxemburg, auf Protektoratsangehörige und „Schutzangehörige nichtpolnischen Volkstums“, die auf Veranlassung deutscher Stellen in den „besetzten Gebieten“ beschäftigt sind und auf bestimmte Ausländer.1024 Diese Regelung privilegiert zwar die Gewinner der „völkischen Bestandsaufnahme“ in weiten Teilen Europas. Zu den „besetzten Gebieten“ zählen nach diesen Bestimmungen jedoch unter anderem nicht: das Generalgouvernement, Elsaß, Lothringen, Luxemburg, die „befreiten Gebiete“ der Untersteiermark, Kärntens und Krains. In diesen Gebieten selbst ist die „Reichsversicherung“ durch diese Bestimmungen nicht eingeführt worden, „...ihre Einführung dürfte aber bevorstehen, und die Sozialversicherung wird bereits auf Grund von Verdie „deutschstämmigen“ in die reichsrechtliche Krankenversicherung einbezieht (VBlGG. 1944, 178) sowie eine Anordnung vom 9. Mai 1944 (VBlGG. 1944, 180). 1020 Vgl.: Bogs, (Walter): Die deutsche Krankenversicherung...a.a.O.(=Anm. 1018), 500; vgl. als Rechtsgrundlage die „Verordnung über die Einführung einer Kennkarte für deutsche Volkszugehörige im Generalgouvernement“ vom 26. Januar 1940 (VBlGG. 1940, 36). 1021 Derselbe, ebenda, 500. 1022 Vgl.: RGBl. I 1943, 90. 1023 Vgl. die bereits erwähnte „Verordnung über die Sozialversicherung in den besetzten Gebieten“ vom 4. August 1941 (RGBl. I 1941, 486). 1024 Ausgenommen sind „einheimische Arbeitskräfte“ in den „besetzten Gebieten“, polnische Arbeitskräfte unter Berücksichtigung der oben angeführten Ausnahme, Ostarbeiter, „Juden und Zigeuner“; vgl. mit weiteren Details die Verordnung vom 10. Februar 1943.

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ordnungen der zuständigen Chefs der Zivilverwaltung im wesentlichen nach den Grundsätzen der Reichsversicherung durchgeführt.“1025 Blickt man dementsprechend in das „Verordnungsblatt für das Generalgouvernement“1026, so beginnt die Regelung der polnischen Sozialversicherung mit der „Verordnung über die Sozialversicherung in den besetzten polnischen Gebieten“ vom 17. Oktober 1939.1027 Diese Verordnung kennt zahlreiche „Nachzügler“, von denen sicherlich die „Zweite Verordnung über die Sozialversicherung im Generalgouvernement“ vom 7. März 19401028 von besonderer Bedeutung ist. Sie folgt der Leitlinie der Sozialversicherungspolitik in den „eingegliederten Ostgebieten“, unter spezifischer „Aufrechterhaltung“ des polnischen „Sicherungssystems“1029 indem sie bestimmt: „Die Ansprüche auf Leistungen aus der polnischen Sozialversicherung sind erloschen. An ihre Stelle treten vom 1. März 1940 an Unterstützungen, auf die ein Rechtsanspruch nicht besteht. Dies gilt ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt des Versicherungsfalles“ (§ 1). Es folgen für die einzelnen Zweige der Sozialversicherung restriktive Bestimmungen und Beschneidungen der Rechtsschutzmöglichkeiten sowie eine Verschärfung der Strafmöglichkeiten. Die später für das Gebiet der Krankenversicherung abgeänderte und auf die „Deutsche Krankenkasse für das Generalgouvernement“ übertragene und ausgebaute Privilegierung der „Deutschen“ im Rahmen der polnischen Sozialversicherung erfolgt durch § 7: „Deutsche Volkszugehörige, die sich als solche durch ... Kennkarte ausweisen, erhalten die früheren gesetzlichen Leistungen der Sozialversicherung als Unterstützungen ... Deutsche Volkszugehörige sind möglichst durch deutsche Ärzte und in deutschen Krankenanstalten zu behandeln.“ Für versicherte Juden gilt, daß sie aus der polnischen Sozialversicherung „vorerst“ „...lediglich durch ärztliche Behandlung, Heilund Hilfsmittel unterstützt“ werden. In Ausnahmefällen, insbesondere bei ansteckenden Krankheiten oder einem Verdacht darauf, kann Krankenhausbehandlung gewährt werden. Diese im Einzelfall unmenschliche Entrechtung in der nun vom NS-Regime „gestalteten“ polnischen Sozialversicherung soll auch für den gelten, der rechtskräftig bestraft worden ist, „...weil er sich gegen deutsche Staatsangehörige oder deutsche Volkszugehörige oder ihr Vermögen vergangen hat oder weil er sich nach dem polnischen Feldzug gegen das Deutsche Reich feindlich betätigt hat.“ Hinterbliebene von Versicherten, die wegen der erwähnten Handlungen mit dem Tode bestraft worden sind, erhalten nunmehr überhaupt keine Unterstützung (§ 8). Wer sich eine Unterstützung oder eine höhere Unterstützung aus der Sozialversicherung „erschleicht“ oder zu „erschleichen“ versucht, wird mit Zuchthaus bedroht. Die gleiche Strafe wird einem eventuellen Helfer angedroht. Zuständig ist ein Sondergericht. Die Leistungen der polnischen Sozialversicherung werden im Laufe der Zeit etwas verbessert und an die inflationäre Entwicklung sowie die Kriegserfordernisse angepaßt.1030 Erwähnung verdient auch eine Verbesserung der Zahnbehandlung, die im Interesse 1025 Bogs, (Walter): Die Durchführungsbestimmungen zur Verordnung über die Sozialversicherung in den besetzten Gebieten. In: Reichsarbeitsblatt. Teil II, (1943)8, 110 - 118, hier: 110. 1026 Dieses Verordnungsblatt heißt bis ins Jahr 1940 „Verordnungsblatt des Generalgouverneurs für die besetzten polnischen Gebiete“; es wird hier einheitlich unter dem obigen Titel bzw. mit der Abkürzung VBlGG. zitiert. 1027 Auf diese Verordnung wird in der „ersten Durchführungsverordnung zur Verordnung vom 17. Oktober 1939 über die Sozialversicherung für die besetzten polnischen Gebiete“ vom 20. November 1939 hingewiesen (vgl.: VBlGG. 1939, 66), die Verordnung selbst wurde von mir nicht aufgefunden. 1028 Vgl.: VBlGG. 1940, 92. 1029 Dieses erfährt aber einige Abänderungen, so wird z.B. das Führerprinzip in die Verwaltung eingeführt. 1030 Das geschieht durch die „Dritte Verordnung über die Sozialversicherung im Generalgouvernement (Erhöhung der Unterstützungen)“ vom 19. September 1940 (VBlGG. 1940, 306) und die „Fünfte Verordnung...“ vom 14. November 1941 (VBlGG. 1941, 651).

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des allgemeinen Gesundheitszustandes und des Arbeitseinsatzes den Leistungen der deutschen Krankenversicherung angeglichen wird.1031 Die am 1. Juli 1943 in Kraft getretene „Sechste Verordnung über die Sozialversicherung im Generalgouvernement“ vom 11. Mai 1943 bringt erstmals grundlegende Änderungen des materiellen Rechts, die von Absicht getragen sind, „...für die Berechnung des Beitrags in der Sozialversicherung möglichst einfache und in allen Zweigen der Sozialversicherung übereinstimmende einfache Grundsätze anzuwenden und damit auch den Lohnabzug zu erleichtern.“1032 Auch werden wiederum einige Unterstützungen erhöht. Durch die „Zweite Anordnung zur Sechsten Verordnung über die Sozialversicherung im Generalgouvernement“ vom 1. Juni 1943 wird eine Krankenversicherung der Rentner eingeführt.1033 Die entsprechenden Regelungen gelten für „Unterstützungsempfänger“, d.h. in diesem Zusammenhang: für Polen. Für die „deutschen Volkszugehörigen“ gelten mit Zustimmung des Reichsarbeitsministers ausdrücklich die reichsrechtlichen Vorschriften über die Krankenversicherung der Rentner. Die Einführung der Krankenversicherung der Rentner für Polen liege zwar zunächst im Interesse der „allgemeinen Gesundheitsführung“, sie beweise jedoch schließlich auch, „...daß die deutsche Verwaltung ihre Fürsorge für den arbeitenden Menschen auch auf den arbeitswilligen nichtdeutschen Arbeiter erstreckt,“ betont ein deutscher Kommentator aus dem Generalgouvernement. Dabei unterschlägt er wohlweislich, daß Leistungsverbesserungen und die Abmilderung von Diskriminierungen für „Ausländer“ zu dieser Zeit eine produktions- und herrschaftspolitische Notwendigkeit geworden sind und auch „an anderer Stelle“ aus eben diesen Motiven im Gebäude der NS-Sozialpolitik bereits vorgenommen werden.1034 Einen weiteren Schritt zu einer spezifischen Trennung der polnischen und der deutschen Sozialversicherung beinhaltet der „Erlass betr. die Durchführung der reichsgesetzlichen Unfallversicherung im Generalgouvernement“ vom 5. Juni 1943.1035 Sie schließt an die Verordnung über die Sozialversicherung der deutschen Staatsangehörigen im Generalgouvernement vom 17. Juni 1940 an. Der Erlaß bestimmt, daß bis zu einer umfassenden Klärung der „Sozialversicherungsfrage“ die Vorschriften der Reichsunfallversicherung auch auf bestimmte „deutsche Volkszugehörige“, auf „Protektoratsangehörige“ und „Schutzangehörige nichtpolnischen Volkstums“, die auf Veranlassung deutscher Stellen im Generalgouvernement beschäftigt sind und auf „Ausländer (fremde Staatsangehörige und Staatenlose)“, die auf deutsche Veranlassung im Generalgouvernement beschäftigt werden, anzuwenden sind. Diese Beschäftigtengruppen werden reichsdeutschen Sozialleistungsträgern zugeordnet. Gleichzeitig wird bestimmt: „Zur Sicherung einer schnellen und örtlich nahen Betreuung der Versicherten, ihrer Angehörigen und Hinterbliebenen sowie einer zweckmäßigen Beratung der Unternehmer wird vom Reichsverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften bei der Deutschen Krankenkasse für das Generalgouvernement in Krakau eine Unfallversicherungsstelle für das Generalgouvernement errichtet.“ Auch hinter dieser Regelung hat, neben der „Einbürgerungsabsicht“ gegenüber den „Volksdeutschen“,

1031 Vgl.: Görlich, Karl: Neuerungen in der Sozialversicherung des Generalgouvernements. In: Reichsarbeitsblatt. Teil II (1943), 377 - 380, hier: 377. 1032 Vgl. denselben, ebenda, 377. 1033 Vgl.: VBlGG. 1943, 242. 1034 Vgl.: Görlich, Karl: Neuerungen...a.a.O.(=Anm. 1031), 380. 1035 Vgl.: VBlGG. 1943, 576.

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sicher auch der „Sachzwang“ gestanden, die Leistungsbereitschaft in den kriegswichtigen Betrieben durch eine „vorteilhafte“ sozialpolitische Gestaltung zu sichern.1036 Am 1. August 1941 wird Galizien dem Generalgouvernement eingegliedert, jenes Gebiet, das erst 1939 auf Grund des deutsch-sowjetischen „Freundschafts- und Grenzvertrages“ der ukrainischen bzw. weißrussischen Sowjetrepublik eingefügt worden war. In einer Proklamation des Generalgouverneurs Frank vom 1. August 1941 ist von Leid und Unterdrückung durch ein „sinnloses Willkürregiment“ der „Warschauer Regierungsclique“ und „grausamer Gewaltherrschaft der Sowjets“ die Rede und davon, daß die galizische Bevölkerung nunmehr durch die Zugehörigkeit zu dem „Machtbereich Großdeutschlands“ wieder eintreten werde „...in die europäische Kulturgemeinschaft, aus der Euch die Gewaltherrscher im Kreml hinausgedrängt haben.“1037 Daß diese Aussagen und die Anrufung des Willens, an der „Neuordnung Europas“ mit „ganzer Kraft“ mitzuwirken, leere Propagandaformeln sind, bekommt die einheimische Bevölkerung auch auf sozialpolitischem Gebiete zu spüren. In der Form einer ganzen Reihe von „Einführungsverordnungen“ wird Galizien bereits wenige Tage nach der „Eingliederung“ in die „völkisch“ geprägte sozialpolitische Ordnung des Generalgouvernements einbezogen. Die erste dieser Verordnungen datiert bereits auf den 7. August 1941, andere folgen in kurzen Zeitabschnitten. Hinzu treten andere Anordnungen und weitere Rechtsquellen, die eine Übertragung der im Generalgouvernement geltenden „völkischen“ sozialpolitischen Regelungen beinhalten.1038 Auch jenseits der Sozialversicherung zeigt das Bild der deutschen Sozialpolitik im Generalgouvernement bereits bekannte Grundrisse. Wie schon in der Proklamation des Generalgouverneurs vom 26. Oktober 1939 angekündigt, verfügt das „mächtige Weltreich der deutschen Nation“1039 unmittelbar eine „öffentliche“ Arbeitspflicht aller polnischen Bewohner des Generalgouvernements zwischen dem 18. und 60. Lebensjahr. Die Entlohnung solle „nach gerecht erscheinenden Sätzen“ geschehen.1040 Die jüdische Bevölkerung trifft ein besonderer Arbeitszwang, sie soll zu „Zwangsarbeitstrupps“ zusammengefaßt werden.1041 In Durchführungsverordnungen wird die arbeitsfähige polnische Bevölkerung in bekannter, im „Altreich“ erprobter Manier der Direktionsgewalt der Arbeitsämter unterworfen. Bald werden die zuständigen Stellen ermächtigt, die Arbeitspflicht für Polen auch auf Jugendliche zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr auszudehnen.1042 An die Stelle des Arbeitsbuches tritt im Generalgouvernement die Arbeitskarte als ein Mittel zur „zweckent-

1036 Aber selbst diese unfallversicherungsrechtliche Regelung kennt spezifische Diskriminierungslinien. Die Vorschriften der Reichsunfallversicherung sind ausdrücklich nicht anzuwenden auf „…die im Generalgouvernement beschäftigten einheimischen Arbeitskräfte, die polnischen Arbeitskräfte aus den eingegliederten Ostgebieten, aus dem Bezirk Bialystock und aus dem Reichskommissariat Ostland ohne Weißruthenien sowie auf die Ostarbeiter...“; grundlegend: Görlich, Karl: Neuerungen...a.a.O.(=Anm. 1031). 1037 Proklamation. An die Bevölkerung von Galizien! In: VBlGG. 1941, 441. 1038 Der allergrößte Teil dieser Rechtsquellen ergeht im Jahre 1941. 1039 So die Charakterisierung des „Dritten Reiches“ durch Frank in seiner Proklamation aus Anlaß der Aufnahme seiner „Regierungstätigkeit“ (VBlGG. 1939,2) 1040 Vgl. die „Verordnung über die Einführung der Arbeitspflicht für die polnische Bevölkerung des Generalgouvernements“ vom 26. Oktober 1939 (VBlGG. 1939, 5). 1041 Vgl. die „Verordnung über die Einführung des Arbeitszwangs für die jüdische Bevölkerung des Generalgouvernements“ vom 26. Oktober 1939 (VBlGG. 1939, 6); vgl. zur „arbeitseinsatzpolitischen“ Behandlung der Juden u.a. auch die erste und zweite Durchführungsverordnung zur „Arbeitspflichtverordnung“ vom 26. Oktober 1939, datiert auf den 11. bzw. 12. Dezember 1939 (VBlGG. 1939, 231, 246). 1042 Vgl.: „Verordnung über die Erstreckung der Arbeitspflicht für die polnische Bevölkerung des Generalgouvernements“ vom 14. Dezember 1939 (VBlGG. 1939, 224).

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sprechenden Verteilung der Arbeitskräfte.“1043 Nach und nach werden auch weitere „Arbeitseinsatzbestimmungen“, etwa zur Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels, zur Verteilung von Arbeitskräften, zur Arbeitsvermittlung, Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung, zur „Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung“ im Generalgouvernement nach dem Vorbild der reichsdeutschen Vorschriften eingeführt und es werden entsprechende Durchführungsverordnungen, Durchführungsvorschriften und Anordnungen erlassen. Die Strafen für den Fall der Zuwiderhandlung oder Umgehung sind hart und werden mit einer „Arbeitseinsatzstrafverordnung“ vom 16. Februar 19441044 noch einmal verschärft. Es droht Gefängnis und Geldstrafe in unbegrenzter Höhe oder eine dieser Strafen. In besonders schweren Fällen drohen nunmehr aber auch Zuchthaus und Geldstrafe in unbegrenzter Höhe. „Ferner können gegen den Täter polizeiliche Zwangsmaßnahmen (insbesondere Einweisung in ein Zwangsarbeitslager) und andere geeignete Verwaltungsmaßnahmen (insbesondere der Entzug der ihm für sich und seine Familienangehörigen gewährten Lebensmittelzusatzversorgung) an Stelle oder neben einer Bestrafung...“ verhängt werden (§ 2 (5)). Die während der Schlacht um Stalingrad erlassene „Verordnung über die Meldung von Männern und Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung“ vom 27. Januar 1943 wird mit dem Datum der Kapitulation der 6. Armee, dem 2. Februar 1943, im Generalgouvernement mit bezeichnenden Modifikationen in Kraft gesetzt. Sie verpflichtet im Generalgouvernement „alle deutschen Männer“ und „alle deutschen Frauen“ entsprechenden Alters, sich registrieren zu lassen. Als „Deutsche“ im Sinne der Vorschrift gelten deutsche Staatsangehörige, „deutsche Volkszugehörige“, „Deutschstämmige“ und Umsiedler, die einen Umsiedlerausweis besitzen.1045 Ganz im Sinne der „Volkstumspolitik“ werden auch die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen der im Generalgouvernement beschäftigten Menschen geregelt. Die im Verordnungsblatt veröffentlichten „Tarifordnungen“, die sich allerdings auf den öffentlichen Dienst beziehen, differenzieren nach „reichsdeutschen Angestellten und Arbeitern“, „volksdeutschen Angestellten und Arbeitern“ bzw. „deutschen“ und „nichtdeutschen“ Arbeitern und treffen überwiegend differenzierte Regelungen im Sinne einer Privilegierung oder Diskriminierung.1046 Von grundlegender Bedeutung ist vor diesem Hintergrund vor allem die „Verordnung über die Gestaltung der Arbeitsbedingungen und den Arbeitsschutz im Generalgouvernement“ vom 31. Oktober 1939.1047 Diese Verordnung stellt sozusagen das Grundgesetz der Arbeitspolitik im Generalgouvernement dar und ermöglicht unter 1043 Vgl.: „Verordnung über die Einführung einer Arbeitskarte im Generalgouvernement“ vom 20. Dezember 1940 (VBlGG. 1940, 377); vgl. auch die umfangreiche „Erste Durchführungsvorschrift zur Verordnung vom 20. Dezember 1940 über die Einführung einer Arbeitskarte“ vom 21. Dezember 1940 (VBlGG. 1940, 577). 1044 Vgl. die „Verordnung über die Bestrafung von Zuwiderhandlungen gegen Arbeitseinsatzvorschriften (Arbeitseinsatzstrafverordnung)“ vom 16. Februar 1944 (VBlGG. 1944, 57); diese Verordnung benennt die oben angegebenen Arbeitseinsatzvorschriften. Als arbeitseinsatzpolitische Sonderbestimmung für deutsche Staatsangehörige vgl. die „Verordnung über die Dienstverpflichtung deutscher Staatsangehöriger im Generalgouvernement (Dienstpflichtverordnung für deutsche Staatsangehörige)“ vom 18. Januar 1943 (VBlGG. 1943, 50); die erste Durchführungsverordnung ebenda, 51, sowie die Bekanntmachung dazu ebenda, 54. 1045 Vgl. die „Verordnung über die Meldung von Männern und Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung“ vom 2. Februar 1943 (VBlGG. 1943, 65); vgl. auch die Ergänzungsverordnung vom 30. Juni 1943, ebenda, 305. 1046 Natürlich können diese Hinweise eine umfassende sozialgeschichtliche Untersuchung nicht ersetzen. Während sich die Tarifverträge für den öffentlichen Dienst im „Verordnungsblatt“ finden, werden jene für die Privatwirtschaft im „Amtlichen Anzeiger für das Generalgouvernement“ veröffentlicht; vgl. den § 4 der „Fünften Durchführungsverordnung zur Verordnung vom 31. Oktober 1939 über die Gestaltung der Arbeitsbedingungen und den Arbeitsschutz im Generalgouvernement“ vom 14. Dezember 1940 (VBlGG. 1940, Teil II, 560). 1047 Vgl.: VBlGG. 1939, 12.

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anderem eine spezifische Lohnpolitik. Sie wird in Form zahlreicher Durchführungsverordnungen konkretisiert. Diese Rechtsquellen enthalten die bekannten „völkischen“ Differenzierungen. Die entsprechenden Bestimmungen sollen Disziplinlosigkeiten, Verstöße gegen Lohn- bzw. Lohnstopvorschriften, gegen das Verbot von Abwerbungen durch Strafen bekämpfen. Solche Regelungen finden sich z. B. in der elften Durchführungsverordnung für „deutsche Gefolgschaftsmitglieder“ und in der zwölften Durchführungsverordnung zur Verordnung vom 31. Oktober 1939 für „nichtdeutsche Beschäftigte des im Generalgouvernement ansässigen Volkstums.“1048 Dabei ist der Strafrahmen gegenüber „nichtdeutschen Beschäftigten“ in unbestimmtem Ausmaß erweitert, indem ihnen nicht nur Gefängnis und bzw. oder Geldstrafe in unbegrenzter Höhe angedroht wird, sondern auch die „Anwendung anderer geeigneter Maßnahmen“ an Stelle oder neben der für „Deutsche“ üblichen Bestrafung (vgl. § 6 (2)). In besonderer Weise werden Juden auch bei der Ausgestaltung ihrer Lohn- und Arbeitsbedingungen benachteiligt.1049 Ohne daß nach rassistischen Kriterien differenziert wird, erfolgt auch im Generalgouvernement eine gnadenlose Ausdehnung der Arbeitszeit. Die regelmäßige Arbeitszeit beträgt in der Privatwirtschaft einschließlich des Handwerks nach einer Verordnung vom 14. August 1944, zum Ende der deutschen Herrschaft also, 60 Stunden in der Woche.1050 Zum privilegierenden Sonderrecht für „Deutsche“ zählt die „Verordnung über die Fürsorge für deutsche Volkszugehörige im Generalgouvernement“ vom 27. März 1940.1051 Privilegierende Grundmuster enthalten auch wiederum jene Rechtsquellen, die der „Erbund Rassenpflege“ zugeordnet werden können oder die ihr nahe stehen. So gewährt eine Verordnung vom 10. März 1942 „gesunden, gemeinschaftswürdigen deutschen Familien“ im Generalgouvernement Kinderbeihilfen zur „Erleichterung der Familienlasten“. Auch „deutschstämmige Familien“, die einen entsprechenden Ausweis besitzen und in denen eine „deutsche Erziehung aller Kinder“ gewährleistet ist, können diese Kinderbeihilfe beziehen. Die Kinder müssen „haushaltszugehörig“ sein. Als „haushaltszugehörig“ gelten u.a. auch minderjährige Angehörige der Wehrmacht, der Waffen-SS, „Arbeitsmaiden“, Nachrichtenhelferinnen usw.1052 Ganz ähnliche Ziele verfolgt eine Verordnung des Generalgouverneurs vom 15. August 1942, die „deutschen Familien“ zur Sicherung einer angemessenen Haushaltsführung und damit zugleich zur Förderung der Erziehung der Kinder einen „Haushaltszuschuß“ gestaffelt nach Einkommen und der Zahl der „zuschußfähigen Kinder“ in Höhe von 40 Zloty je Kind gewährt.1053 Zum „Tag der nationalen Arbeit“, am 1. Mai 1943, wird das deutsche Mutterschutzrecht im Generalgouvernement eingeführt und auf spezifische Weise ausgestaltet. Die bereits aus der Gesetzgebung im „Altreich“ bekannten Schutzvorschriften werden „...nur auf Frauen angewendet, die deutsche Staatsangehörige - ausgenommen Juden - oder deutsche Volkszugehörige sind oder einen Deutschstämmigkeitsaus-

1048 Zu den beiden Durchführungsverordnungen vgl. VBlGG. 1943, 149 ff. 1049 Vgl. die „Neunte Durchführungsverordnung zur Verordnung vom 31. Oktober 1939 über die Gestaltung der Arbeitsbedingungen und den Arbeitsschutz im Generalgouvernement (Regelung von Arbeitsbedingungen der Juden im Generalgouvernement)“ vom 15. Dezember 1941 (VBlGG. 1942, 3). 1050 Vgl. die „Anordnung über die Regelung der Arbeitszeit in der privaten Wirtschaft“ vom 14. August 1944 (VBlGG. 1944, 253). 1051 Vgl.: VBlGG. 1940, 117. 1052 Vgl. die „Verordnung über die Gewährung von Kinderbeihilfen an Deutsche im Generalgouvernement (KBVGG)“ vom 10. März 1942 (VBlGG. 1942, 125). 1053 Vgl.: „Verordnung über die Gewährung eines Hauhaltszuschusses an Deutsche im Generalgouvernement (HZV)“ vom 15. August 1942 (VBlGG. 1942, 442).

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weis besitzen.“1054 Im Grunde analog verfährt der Gesetzgeber des Generalgouvernements auf dem Gebiet des Jugendschutzes. Der in der „Jugendschutzverordnung“ des Generalgouvernements vom 13. August 1943 enthaltene Arbeitszeitschutz, die Vorschriften über Mehrarbeitsvergütung, Ruhepausen, Urlaub usw. gelten zugunsten „deutscher Kinder und Jugendlicher“ in einem Lehr- oder Arbeitsverhältnis oder für solche, die mit „sonstigen Dienstleistungen“ beschäftigt sind, „...die der Arbeitsleistung in einem Lehr- oder Arbeitsverhältnis ähnlich sind.“ Die Beschäftigung deutscher Jugendlicher durch „nichtdeutsche“ Arbeitgeber wird sogar vollkommen verboten.1055 Daß diese Vorschriften nur für Deutsche gelten sollen, wird bereits im Gesetzestitel deutlich. Selbst bei Verordnungen, die das Kainsmal der „völkischen Sozialpolitik“ des „Dritten Reiches“ nicht bereits im Gesetzestitel offenkundig auf der Stirn tragen, mithin „auf den ersten Blick“ allgemeine Geltung haben, ist Vorsicht geboten. So gilt etwa die „Verordnung über die Gewährung von Arbeitslosenhilfe“ vom 9. November 19401056 nicht für Juden. Diese haben sich „...wegen Gewährung von Unterstützung an die jüdischen Fürsorgeorganisationen zu wenden.“ Den Vorschriften der „Verordnung über die Gewährung von Kurzarbeiterunterstützung“ vom 16. März 1941 entsprechend, erhalten „deutsche Volkszugehörige“ gegebenenfalls spürbar höhere Kurzarbeiterunterstützungen.1057 Als Beispiel für eine noch weitere „Ostausdehnung“ des Sozialstaats des „Dritten Reiches“ sollen die sozialpolitischen Maßnahmen in den „neu besetzten Ostgebieten“, insbesondere jene im „Reichskommissariat Ostland“ angesprochen werden. Es gehört zu jenen Gebieten, die im Kriege gegen die Sowjetunion erobert werden und die nach dem Willen Hitlers sobald wie möglich einer zivilen Verwaltung unterstellt werden sollen.1058 Das „Reichskommissariat Ostland“ umfasst, einem Erlaß vom 17. Juli 1941 entsprechend, die Gebiete der früheren baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland sowie „Weißruthenien“. Zum Reichskommissar mit Sitz in Riga wird der Gauleiter und Oberpräsident von Schleswig-Holstein, Hinrich Lohse,1059 ernannt. Lohse untersteht formal dem „Reichsminister für die besetzten Ostgebiete“. Diese Position wird auf Betreiben Hitlers durch einen weiteren Führererlaß vom 17. Juli 1941 vom verqueren und weitschweifigen „ParteiPhilosophen“ Alfred Rosenberg übernommen, der weder machtpolitisch noch von seiner persönlichen Substanz her diesem Amt gewachsen ist.1060 Das „Reichskommissariat Ostland“ selbst ist als Teilgebiet der in Folge des Russlandkrieges „neu besetzten Ostgebiete“ in vier Generalkommissariate, in Weißruthenien, Litauen, Lettland, Estland unterteilt. An der Spitze dieser Gebiete stehen Generalkommissare und zwar Theodor Adrian von Renteln 1054 Vgl. die „Verordnung zum Schutze der erwerbstätigen deutschen Mutter (Mutterschutzverordnung)“ vom 1. Mai 1943 (VBlGG. 1943, 187) und die „Anordnung zur Mutterschutzverordnung“ vom 1. Mai 1943 (VBlGG. 1943, 189). 1055 Vgl.: „Verordnung über die Beschäftigung der deutschen Jugend (Jugendschutzverordnung)“ vom 13. August 1943 (VBlGG. 1943, 463). 1056 Vgl.: VBlGG. 1940, 329. 1057 Vgl.: VBlGG. 1940, 103. 1058 Vgl.: Oldenhage, Klaus: Die Verwaltung der besetzten Gebiete. In: Deutsche Verwaltungsgeschichte. Band 4. Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus. Stuttgart 1985, 1131 - 1168, hier: 1163; zur räumlichen Ausdehnung vgl. die Karte in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Band 5. Erster Halbband…a.a.O.(=Anm. 957), 90 f.; die sozialpolitischen Maßnahmen im „Bezirk Bialystok“ und im „Reichskommissariat Ukraine“ werden aus Gründen des zur Verfügung stehenden Raumes nicht mehr analysiert. 1059 Vgl. die biographischen Anmerkungen in: Höffkes, Karl: Hitlers politische Generale. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen 1997, 234 - 236; vgl. auch seinen Aufruf „An das Führerkorps Ost“ im „Verordnungsblatt des Reichsministers für die besetzten Ostgebiete“ (VBl. RMOst) 1942, 1. 1060 Vgl. insgesamt: Rebentisch, Dieter: Führerstaat...a.a.O.(=Anm. 1015), 309 ff.

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für Litauen, Otto-Heinrich Drechsler für Lettland, SA-Obergruppenführer Karl-Siegmund Litzmann für Estland. Bei diesen Personen handelt es sich um enge Bekannte oder sogar Freunde des Reichskommissars Lohse. Im Generalkommissariat Weißruthenien, der „Strafkolonie“ des „Ostlandes“, residiert der frühere Gauleiter Wilhelm Kube mit Amtssitz in Minsk.1061 Wenn und soweit im folgenden die sozialpolitischen Rechtsetzungsakte des „Reichsministers für die besetzten Ostgebiete“, des „Reichskommissars für das Ostland“ und ergänzend auch einige Rechtsquellen des „Generalkommissars für Lettland“ mit Amtssitz in Riga dargestellt und analysiert werden, geschieht das nun erst recht in dem Bewußtsein, daß gerade für diese Gebiete eine Sozialrechtsgeschichte nur eine erster Schritt sein kann und einen weiterreichenden Ansatz keinesfalls erübrigt, daß vor allem auch maßnahmestaatliche Aspekte ausgeblendet sind. Eine „realitätsgestaltende Potenz“ des Sozialrechts kann aber auch angesichts der im Osten praktizierten Herrschafts- und Handlungsformen nicht glaubhaft bestritten werden. Zu beachten bleibt jedoch, daß zahlreiche rasse- und siedlungspolitischen Maßnahmen in der Praxis schlicht an der skizzierten Hierarchie der Zivilverwaltung vorbeigelaufen sind. Gerade im Osten herrschen ausgesprochen polykratische Strukturen. Dennoch bietet ein Blick in die überlieferten Rechtsquellen interessante Informationen. Im „Reichskommissariat Ostland“, dessen Gebiet bereits längerfristig oder relativ kurzfristig als Folge des Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffsvertrages vom 23. August 1939 unter sowjetischen Einfluß gekommen war, wird die von bedeutenden Teilen der Bevölkerung begrüßte Besetzung in deutschen Aufrufen und speziellen Rechtsquellen als Befreiung von „bolschewistischer Herrschaft“ bezeichnet.1062 Der „Bolschewismus“ habe ganz Europa bedroht, er sei auf dem Marsch gewesen, Deutschland zu überfallen. Mit dem Einsatz ihres Blutes habe „...die Wehrmacht des deutschen Volkes den bolschewistischen Weltfeind niedergeschlagen...“1063 Aus dieser Sicht Herrschafts- und Gestaltungsansprüche herleitend, kommt es vor dem Hintergrund einer durch Widerstandshandlungen und Partisanenkämpfe stets bedrohten deutschen und einheimisch-prodeutschen Regierungs- und Verwaltungsapparatur1064 zu einer ganzen Fülle von Vorschriften, die die (Wieder-)Herstellung einer kapitalistischen Wirtschafts- und bürgerlichen Gesellschaftsstruktur durch treuhänderisch begleitete1065 Reprivatisierungsmaßnahmen in den verschiedensten Wirtschaftszweigen bezwecken.1066 In dieser „zwielichtigen“ Situation, zu der auch die Beteili1061 Vgl. denselben, ebenda, 326; vgl. als „Ernennungsurkunden“ die beiden „Aufrufe“ im „Verkündungsblatt des Reichskommissars für das Ostland“ (Verk. Bl.) 1941, 1ff. 1062 So gegenüber dem „Führerkorps Ost“ schon A. Rosenberg in seinem Aufruf an das Führerkorps Ost vom 18. Dezember 1941. In: VBl. RMOst 1942, 1; die Zugehörigkeit zu diesem „Korps“ ist von regimetypischen „rassischen“ und politischen Voraussetzungen abhängig; vgl. die entsprechende Verordnung vom 23. Januar 1943 (VBl. RMOst 1943, 5). 1063 Vgl. den „Aufruf“ des Reichskommissars für das Ostland vom 28. Juli 1941. In: „Amtsblatt des Generalkommissars in Riga“ (Abl. Riga), 1941, 5. 1064 Das spiegelt sich in einem Aufruf vom 12. September 1941 (Verk. Bl. 1941, 17) und vom 15. November 1941, der zu umfassender Kollaboration und Denunziation auffordert (Verk. Bl. 1941, 61). 1065 Für das Vermögen der UdSSR vgl. die „Anordnung über die Errichtung einer Treuhandverwaltung für das Reichskommissariat Ostland“ vom 24. Oktober 1941 (Abl. Riga 1941, 82). 1066 Vgl. z.B. die „Anordnung über Aufhebung bolschewistischer Massnahmen auf dem Gebiet der Landbewirtschaftung“ vom 13. September 1941 (Abl. Riga 1941, 23); zentral ist auch die „Anordnung über die Neugestaltung von Handwerk, Kleinindustrie und Einzelhandel“ des Reichskommissars für das Ostland vom 17. Oktober 1941 (Verk. Bl. 1941, 29); zu den Durchführungsverordnungen vgl. Abl. Riga 1941, 244, 247, Verk. Bl. 1941, 99. Von übergreifender Bedeutung ist die „Verordnung über die Wiederherstellung des Privateigentums in den Generalbezirken Estland, Lettland und Litauen“ vom 18. Februar 1943 (VBl. RMOst 1943, 57) mit ihren Durchführungsver-

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gung einheimischer Freiwilliger an dem „Kampf gegen den Bolschewismus“ an der Front und in der Heimat und an der Ermordung des osteuropäischen Judentums gehört,1067 ist an die Privatisierung die Hoffnung geknüpft, daß Wirtschaftskräfte zugunsten der deutschen militärischen Kraft entfesselt werden könnten, daß die Eigentümer „...die aus dem Eigentum erwachsenden Pflichten, insbesondere gegenüber der deutschen Kriegswirtschaft, erfüllen werden.“1068 Vor dem Hintergrund der bald einsetzenden Eindeutschungspolitik und von Germanisierungsplanungen im Osten,1069 der sozialpolitischen Begünstigung „deutscher Volkszugehöriger“, die es trotz der Aussiedlung der Baltendeutschen immer noch bzw. bald wieder in nennenswerter Zahl gibt,1070 der Durchführung des „Volkslistenverfahrens“ auch in diesen „neu besetzten Ostgebieten“ mit den entsprechenden staatsangehörigkeitsrechtlichen Folgen,1071 befaßt sich der weitaus überwiegende Teil der für die „neu besetzten Gebiete“ oder für das „Reichskommissariat Ostland“ erfolgenden Rechtsetzung mit der Normierung der Arbeitseinsatz- und der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen. Die deutsche Absicht, die Ressourcen der im Osten eroberten Gebiete umfassend in die Kriegsökonomie einzubeziehen, schlägt sich im Aufbau von arbeitseinsatzpolitischen Behörden nieder. Mit der „Verordnung über die Einführung der Arbeitspflicht in den besetzten Ostgebieten“ vom 19. Dezember 1941 unterliegen „alle Bewohner“ der neu besetzten Ostgebiete „zwischen dem 18. und 45. Lebensjahr“ nach der „Maßgabe ihrer Arbeitsfähigkeit“ der „öffentlichen Arbeitspflicht“.1072 Die Reichskommissare werden ermächtigt, für bestimmte Bevölkerungsgruppen die Arbeitspflicht auszudehnen oder einzuschränken. Für Juden werden Sondervorschriften angekündigt. Die Entlohnung solle nach „gerecht erscheinenden Sätzen“ geschehen. Die „Fürsorge“ für die Arbeitspflichtigen und ihre Familien sei „...im Rahmen des Möglichen sicherzustellen.“ Mit einer Änderungsverordnung vom 27. August 19421073 werden „alle Bewohner“ nach „Maßgabe ihrer Arbeitsfähigkeit“ der Arbeitspflicht unterworfen, d.h. auch Kinder und alte Menschen beiderlei Geschlechts ohne jede Altersbegrenzung. Für das „Reichskommissariat Ostland“ hatte bereits eine „Anordnung zur Regelung des Arbeitseinsatzes“ vom 15. August 1941 eine Melde- und Ar-

ordnungen, die sich bis in die Zeit des Zusammenbruchs der NS-Herrschaft ziehen; vgl. darüber hinaus auch die „Deklaration über die Einführung bäuerlichen Grundeigentums“ vom 3. Juni 1943 (VBl. RMOst 1943, 83). 1067 Vgl. zusammenfassend: Waite, Robert G.: Kollaboration und deutsche Besatzungspolitik in Lettland 19411945. In: Okkupation und Kollaboration (1938 - 1945). Berlin, Heidelberg 1994, 217 - 237; vgl. auch den Beitrag von Hans-Heinrich Wilhelm über die Rolle der Kollaboration für die deutsche Besatzungspolitik in Litauen und „Weißruthenien“, ebenda, 191 - 216. 1068 So der Vorspruch zur Verordnung vom 18. Februar 1943...a.a.O.(=Anm. 1066). 1069 Vgl. in diesem Zusammenhang als ältere Quelle: Myllyniemi, Seppo: Die Neuordnung der baltische Länder 1941 - 1944. Helsinki 1973, 145 ff. 1070 So soll eine Verordnung vom 10. Oktober 1942 die Volksschulpflicht für „Kinder deutscher Volkszugehörigkeit“ in den „neu besetzten Gebieten“ ebenso sichern, wie die „...Erziehung und Unterweisung der Jugend deutscher Volkszugehörigkeit im Geiste des Nationalsozialismus“ (VBl. RMOst 1942, 83). Das Mutterschutzgesetz vom 17. Mai 1942 gilt in allen diesen Gebieten nur für „Frauen deutscher Staatsangehörigkeit und volksdeutsche Frauen“ (vgl. die Verordnung vom 12. März 1943; VBl. RMOst 1943, 59); auch der Familienunterhalt ist an rassistische Kriterien geknüpft; vgl. die Verordnung vom 27. Mai 1943 (VBl. RMOst 1943, 82). 1071 Vgl. z.B. die „Verordnung über die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit an die in die Deutsche Volksliste der Ukraine eingetragenen Personen“ vom 19. Mai 1943 (VBl. RMOst 1943, 80); die „deutschen Staatsangehörigen“ werden schon mit einer Verordnung vom 27. April 1942 dem „Regime“ deutscher Standesbeamter unterworfen, die die Anwendung der rassenpolitischen Vorschriften sicherstellen und damit das Eindringen „fremden Blutes“ verhindern sollen; vgl. zur Verordnung: VBl. RMOst 1942, 18. 1072 Vgl.: VBl. RMOst 1942, 5; vgl. die I. Durchführungsverordnung vom 25. Januar 1943 (VBl. RKO 1943, 3). 1073 Vgl.: VBl. RMOst 1942, 72.

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beitspflicht eingeführt.1074 Alle Bewohner und Organisationen des „Ostlandes“ werden darüber hinaus durch eine Anordnung vom 26. Januar 1942 in umfassender Weise zu „Hand- und Spanndiensten“ verpflichtet.1075 Die Reichsdeutschen unterliegen im „Ostland“ mit Verordnung vom 20. Juni 1942 einer Hilfsdienstpflicht.1076 Ob der Arbeitseinsatz „aller Bewohner“ allerdings in den „neu besetzen“ Gebieten selbst erfolgt, ist zweifelhaft. Auch diese Gebiete werden spätestens seit dem Herbst 1941 in die Strategien der massenhaften Rekrutierung von Zwangs- bzw. „Fremdarbeitern“ für den Arbeitseinsatz im Reich einbezogen. Diese Rekrutierungen bedienen sich der Massenpropaganda und ökonomischen Anreizen als „Lockmittel“. Die Rekrutierungsmaßnahmen nehmen jedoch, namentlich unter Sauckel, auch auf diesem Gebiet die Form von Gewaltaktionen und Menschenjägereien an. Sie können ganze Landstriche entvölkern und dort schwere Versorgungsstörungen hervorrufen. Sie führen zu Massenfluchten und stärken die Widerstandsbewegungen.1077 Obwohl die normgebenden Instanzen weitab von den Berliner Fachministerien handeln, erscheinen auch weitere arbeitseinsatzpolitische Instrumentarien im „Reichskommissariat“ bzw. in den „neu besetzten Ostgebieten“ als „Imitat“ erprobter reichsdeutscher Strategien. Die erste Durchführungsbestimmung zur Anordnung zur Regelung des Arbeitseinsatzes vom 31. Januar 1942 führt im „Ostland“ zur „Sicherung eines geordneten Arbeitseinsatzes“ einen „Arbeitsausweis“ ein.1078 Der Erfassung des Arbeitskräftepotentials dient auch die Pflicht zur Meldung von Schulabgängern, die mit einer Verordnung vom 1. März 1943 eingeführt wird.1079 Weitere spezielle Meldepflichten sollen zum gleichen Ziel beitragen.1080 Nach der für den Kriegsverlauf so entscheidenden Niederlage der deutschen Armee in Stalingrad werden durch eine „Meldepflichtverordnung“ vom 29. März 1943 „alle einheimischen Männer vom vollendeten 15. bis zum vollendeten 65. Lebensjahre und alle einheimischen Frauen vom vollendeten 15. bis zum vollendeten 45. Lebensjahre, die in den besetzten Gebieten wohnen...“ bis auf wenige Ausnahmen meldepflichtig gemacht. Diese Maßnahme wird als Beitrag der „neu besetzten Ostgebiete“ zur „Erringung des Endsieges“ bezeichnet.1081 Um die Ökonomie im Osten noch planvoller den „Imperativen“ des Krieges unterordnen zu können, wird auch hier die Einstellung, die Kündigung und die Anwerbung bzw. die Vermittlung von Arbeitskräften einem behördlichen Regelement unterworfen.1082 1074 Vgl.: Verk. Bl. 1941, 4. 1075 Vgl.: Abl. Riga 1942, 28. 1076 Vgl.: VBl. RKO 1942, 121. 1077 Vgl. dazu: Roth, Karl Heinz: Die Sozialpolitik des „europäischen Großraum“ im Spannungsfeld von Okkupation und Kollaboration (1938 - 1945). Bisherige Forschungen – Quellenprobleme – erste Ergebnisse. In: Okkupation und Kollaboration...a.a.O.(=Anm. 1067), 461 - 565, hier: 502 ff. 1078 Vgl.: Abl. Riga 1942, 39; diese zwischenzeitlich neugefaßte Verordnung wird später durch die „Verordnung über die Einführung eines Arbeitsausweises“ vom 26. Februar 1943 modifiziert und ersetzt (vgl.: VBl. RKO 1943, 15); darüber hinaus ergehen Ausführungsbestimmungen. 1079 Vgl.: Abl. Riga 1943, 157 bzw. VBl. RKO 1943, 18. 1080 Vgl. die „Verordnung über die Meldepflicht der männlichen Reichsdeutschen“ vom 15. Juni 1942 (VBl. RKO 1942, 115); vgl. auch eine Verordnung vom 10. September 1942 (Abl. Riga 1942, 191). Hinzu tritt die „Verordnung über die Meldepflicht der Ausländer und Staatenlosen im Reichskommissariat Ostland“ vom 3. August 1942 (VBl. RKO 1942, 133); für die gesamten „Ostgebiete“ gilt eine allgemeine auf deutsche Staatsangehörige bezogene Meldepflichtverordnung vom 7. Januar 1943 (VBl. RMOst 1943,1) und für das „Ostland“ die auf die „Einheimischen“ bezogene Verordnung über zusätzliche Vorschriften zur Meldepflicht vom 16. Februar 1943 (VBl. RKO 1943, 13); weitere Rechtsquellen sollen hier nicht vermerkt werden. 1081 Vgl. die „Verordnung über die Meldung von einheimischen Männern und Frauen in den besetzten Ostgebieten für Aufgaben der totalen Kriegführung“ vom 29. März 1943 (Abl. Riga 1943, 407). 1082 Vgl. z.B. die „Anordnung über die Anwerbung von Arbeitskräften für die Gebiete ausserhalb des Ostlandes“ vom 12. Dezember 1941 (Abl. Riga 1941, 148) sowie die „Anordnung über die Einstellung und Kündigung von

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Eine Art „Stillegungsverordnung“ vom 30. März 1943 soll die Konzentration von Arbeitskräften und Betriebsmitteln auf kriegswirtschaftliche Aufgaben bezwecken.1083 Vielfältige Strafvorschriften zum „Schutz der Rüstungswirtschaft“ des „Ostens“1084 und Regelungen über die Vergütung und Erstattung von Lohnausfällen bei Fliegeralarm und Fliegerschäden werden getroffen.1085 Im Rahmen dieser dirigistischen Strategien, die selbst wiederum in den Gesamtzusammenhang der Ausnutzung bzw. Ausplünderung der kriegs- und ernährungsnotwendigen Ressourcen des „Ostlandes“ bzw. der gesamten „neu besetzten Ostgebiete“ zu stellen sind,1086 regelt die deutsche Besatzungsmacht die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen im engeren Sinne. Sie tut dies vor dem Hintergrund einer allgemeinen Verelendungs- und Hungerpolitik im „Osten“ mit dem Ziel, eine ausreichend arbeitsfähige und leistungsbereite Arbeiterschicht zu erhalten. Obwohl sich die Berufsverbände als „rekonstruierbar“ erweisen und den Status „entpolitisierter“ Berufsverbände bzw. von korporatistischen Zwangsorganisationen erhalten, erfolgt die Regelung dieser Fragen „hoheitlich“ durch die deutsche Besatzungsmacht. Eine wie auch immer geartete Beeinflussung von Seiten der international agierenden DAF oder dieser einheimischen Verbände kann jedoch nicht ausgeschlossen werden.1087 Durch die „Allgemeine Anordnung über die Preis- und Lohngestaltung im Ostland“ vom 11. September 19411088 soll erreicht werden, daß Preise, sonstige Entgelte und Löhne, Gehälter, Ruhegehälter und sonstige Arbeitseinkommen nicht über den Stand vom 20. Juni 1941 erhöht werden. Bereits mit einer Bekanntmachung vom 12. September 19411089 wird in den Generalbezirken Litauen und Lettland ein Lohnzuschlag für die „nichtdeutschen Arbeitskräfte“ gewährt und es folgen sodann sowohl für den öffentlichen Dienst als auch für die Privatwirtschaft zahlreiche Regelungen zu den Lohn- und Arbeitsbedingungen der einheimischen Arbeiter und Angestellten.1090 Eine Anordnung vom 19. März 1942 bestimmt für den „Generalbezirk Lettland“: „Juden selbst erhalten keinen

Arbeitskräften, sowie die Verhinderung von Vertragsbruch und Abwerbung“ vom 22. Dezember 1941 (Abl. Riga 1941, 162). Von zentraler Bedeutung ist die „Verordnung über die Einstellung und Kündigung von Arbeitskräften sowie die Verhinderung von Vertragsbruch und Abwerbung“ vom 21. Oktober 1942 (VBl. RKO 1942, 159), die für das gesamte Reichskommissariat gilt und weitere Regelungen nach sich zieht. Für alle „neu besetzten Ostgebiete“ von Bedeutung ist die auf deutsche Staatsangehörige, Volksdeutsche sowie Ausländer bezogene „Verordnung gegen Arbeitsvertragsbruch und Abwerbung“ vom 20. März 1943 (VBl. RMOst 1943, 61). 1083 Vgl. die „Verordnung zur Freistellung von Arbeitskräften und Betriebsmitteln für den kriegswirtschaftlichen Einsatz“ vom 30. März 1943 (VBl. RKO 1943, 41). 1084 Vgl. eine entsprechende Verordnung vom 5. September 1942 (VBl. RMOst 1942, 76). 1085 Vgl. mit Geltung für das gesamte „Ostland“ eine Verordnung vom 8. September 1943 (VBl. RKO 1943, 127). 1086 Vgl. dazu übergreifend: Die faschistische Okkupationspolitik in den zeitweilig besetzten Gebieten der Sowjetunion (1941 - 1944). Berlin 1991; dort neben den Dokumenten insbesondere auch die Einleitung auf den Seiten 28 ff. 1087 Vgl. die Hinweise bei: Roth, Karl Heinz: Die Sozialpolitik...a.a.O.(=Anm. 1077), 527 f. 1088 Vgl.: Abl. Riga 1941, 11. 1089 Vgl. die „Bekanntmachung Nr. 1 über die Lohngestaltung im Ostland“ vom 12. September 1941 (Verk. Bl. 1941, 13). 1090 Von besonderer Bedeutung ist die subsidiär geltende „Allgemeine Anordnung für die einheimischen Arbeiter im öffentlichen Dienst und in der Wirtschaft“ vom 21. November 1941 (Verk. Bl. 1941, 75). Siehe auch die „Änderungsanordnung“ vom 21. März 1942 (VBl. RKO 1942, 53) sowie die „Erste Verordnung zur Regelung allgemeiner Arbeitsbedingungen der einheimischen Arbeiter im öffentlichen Dienst und in der Wirtschaft“ vom 25. April 1942 (VBl. RKO 1942, 71).

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Lohn.“1091 Für die nichtjüdischen Arbeiter und Angestellten finden sich hingegen Bestimmungen zu den Weihnachts- und Abschlußgratifikationen. Die „Verordnung zur Förderung der Leistungssteigerung“ vom 21. Dezember 19421092 schärft die damals gebräuchlichen Instrumente der Leistungssteigerung (Akkordarbeit, Prämien und Leistungszulagen, Anhebung der Löhne schwerarbeitender Frauen auf „Männerniveau“, Prämien für Verbesserungsvorschläge, „Sozialbetreuung“, Maßnahmen der beruflichen Aus- und Fortbildung) ein, verbietet aber Preiserhöhungen, die die so entstandenen Kosten decken sollen. Ebenfalls in die unmittelbare Vorweihnachtszeit des Jahres 1942 plaziert, werden Bestimmungen zur Regelung der Mehrarbeitsvergütungen und Zuschläge sowie des Urlaubs. Diese Regelungen reagieren auf die veränderte Kriegslage im „europäischen Schicksalskampf“, der eine „…weitgehende Leistungs- und Produktionssteigerung auch in den von der Sowjetherrschaft befreiten Gebieten…“ verlange.1093 Das Jahr 1943, in dem die Gefahr einer erneuten „Sowjetbesetzung“ nur allzu deutlich wird, sieht eine Fortsetzung der Normierung der Arbeitseinsatz- und der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen sowie eine Regelung der sozialpolitischen „Ordnungsstrafgewalt“ der General- und Gebietskommissare.1094 Darüber hinaus erfolgen im „Reichskommissariat Ostland“ spezifische Änderungen auf dem Gebiet des „Ostarbeitereinsatzes“. Das Reichskommissariat ist nämlich, was die arbeits- und sozialrechtlichen Vorschriften angeht, kein einheitliches „Rechtsgebiet“. Die erwähnten Rechtsquellen gelten typischerweise für die einheimischen Arbeitskräfte in den baltischen Staaten oder für große Gebiete dieser „Staatenwelt“. Die Arbeitskräfte, die im „Reichskommissariat Ukraine“, im „Generalkommissariat Weißruthenien“ und in weiter östlich gelegenen Gebieten erfaßt worden sind und die in die Generalbezirke Estland, Lettland und Litauen gebracht und dort auch eingesetzt werden, gelten als „Ostarbeiter.“1095 Diese unterliegen, namentlich wenn man vom Lohn die Lagerkosten bzw. die Kosten für „freie Unterkunft und Verpflegung“ abzieht, und das muß regelmäßig veranlaßt werden, einer deutlichen Diskriminierung gegenüber den einheimischen, den baltischen Arbeitskräften.1096 Diese die Arbeitsbereitschaft dämpfende „völkische“ Diskriminierung wird, ähnlich wie im „Altreich“ und in anderen Gebieten, unter dem Eindruck der sich verschlechternden Kriegslage eingeebnet.1097 Schließlich verfügt eine Verordnung vom 15. Dezember 1943: „Für Ostarbeiter gelten die in den Generalbezirken Estland, Lettland und Litauen für die einheimischen Beschäftigten erlassenen arbeits- und steuerrechtlichen Vorschriften und Bestimmungen.“1098 Der organisatorisch bzw. räumlich weit von dem „klassischen“, für die Sozialpolitik zuständigen Ressort entfernte „Gesetzgeber“ für bzw. im „Reichskommissariat Ostland“ befaßt sich auch mit der Regelung der Alters- und Invalidenrenten und mit den Kriegsbe1091 Vgl. die „Anordnung über die Entschädigung jüdischer Arbeitskräfte im Generalbezirk Lettland“ vom 19. März 1942 (Abl. Riga 1942, 149). 1092 Vgl.: VBl. RKO 1942, 177. 1093 So die „Verordnung zur Förderung der Leistungssteigerung“. 1094 Vgl. die entsprechende Verordnung vom 10. Juni 1943 (VBl. RKO 1943, 91). 1095 Vgl. die „Verordnung über die Einsatzbedingungen der Ostarbeiter in den Generalbezirken Estland, Lettland und Litauen“ vom 10. Dezember 1942 (VBl. RKO 1943, 170). 1096 Vgl. die Tabellen ebenda, 172 ff.; vgl. in diesem Zusammenhang auch zu der wichtigen, vom Unternehmer zu zahlenden „Ostarbeiterabgabe“ die „Ostarbeiterabgabe-Durchführungsverordnung“ vom 20. April 1943 (Abl. Riga 1943, 325). 1097 Vgl. die „Verordnung zur Änderung und Ergänzung der Verordnung über die Einsatzbedingungen der Ostarbeiter in den Generalbezirken Estland, Lettland und Litauen“ vom 31. Juli 1943 (VBl. RKO 1943, 108). 1098 Vgl.: VBl. RKO 1943, 163.

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schädigten- und Beamtenpensionen im „Ostland“. In einer Bekanntmachung vom 26. Oktober 19411099 ist vom Unrecht der „Bolschewisten“ gegenüber den Kriegsbeschädigten und den Staats- und Kommunalpensionären die Rede. Diese Gruppen werden in den Generalbezirken Litauen und Lettland wieder in eine Art Versorgung einbezogen. Einbezogen werden auch die „…beschädigten einheimischen Freiwilligen, die sich an der Vertreibung der Bolschewisten aktiv beteiligt haben…“ Diese werden wie Kriegsbeschädigte und ihre Hinterbliebenen behandelt und unterstützt. Die Beträge der Alters- und Invalidenrenten, „…die bis zum 20. 6. 41 gezahlt worden sind, werden verdoppelt mit der Massgabe, dass sie monatlich mindestens RM 12,- und höchstens RM 25,- betragen.“1100 Darüber hinaus bestimmt die Bekanntmachung vom 26. Oktober 1941 im § 7: „Juden und Bolschewisten erhalten keine Bezüge.“ Um die Loyalität der lettischen Bevölkerung zu gewinnen, erläßt der Generalkommissar in Riga mit Datum vom 1. Mai 1943 eine „Verordnung über den Aufbau einer Sozialversicherung“.1101 Diese Verordnung führt eine Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung für nichtdeutsche lettische Arbeiter, Angestellte und Lehrlinge ein.1102 Ein Jahr später schon droht das Baltikum erneut militärisches Operationsgebiet zu werden. Bereits im August 1944 rücken sowjetische Truppen in Estland ein. Im Herbst 1944 wird Lettland erneut von sowjetischen Truppen besetzt und im Juli 1944 besetzt die nach Westen vorwärts stürmende „Rote Armee“ Litauen und auch „Weißruthenien“ kommt wieder unter sowjetische Herrschaft. Schon vor der endgültigen Sowjetbesetzung herrscht Chaos im Regierungs- und Verwaltungsapparat des „Ostlandes“. Diese Entwicklung führt zum Abbruch der „völkischen Sozialpolitik“ in diesen Gebieten und zu den bekannten Flucht und Vertreibungsbewegungen auch aus diesen Territorien. Noch nicht einmal ein Jahr ist das Sudetenland Bestandteil des „Großdeutschen Reiches“, als durch den deutschen Angriff auf Polen der Zweite Weltkrieg, die große Weltkatastrophe entfesselt wird. Der Freudentaumel der Oktobertage des Jahres 1938 hat zu diesem Zeitpunkt bereits einer weitgehenden Ernüchterung Platz gemacht. Die von interessierten Kräften aufgebaute Hoffnung auf „paradiesische Zustände“ wie im Reich hat Enttäuschungen erfahren. Dennoch haben der langsam einsetzende Wirtschaftsaufschwung und die auch in diesem Gebiet propagandistisch ausgewertete „Besiegung der Arbeitslosigkeit“ einen positiven Eindruck hinterlassen. Die rassenideologisch motivierten Unterdrückungsmaßnahmen halten sich auch während der ersten Kriegsphase in Grenzen. „Umvolkungsaktionen“ werden im Sudetenland zunächst nur „halbherzig“ betrieben. Das Sudetenland hat auch nur eine geringe Bedeutung für die Ansiedlung von „Volksdeutschen“. Allerdings verschärft sich die gegen die Tschechen gerichtete „Minderheitenpolitik“ im Laufe des Krieges. In dem Ausmaß „…in dem sich die Judenvernichtung, die Kriegführung und die Innenpolitik radikalisierte, stieg auch der Druck auf die tschechische Minderheit im Reichsgau Sudetenland.“1103 Je stärker das Ziel der „Germanisierung“ dieses Raumes vor 1099 Vgl.: Abl. Riga 1941, 86. 1100 Ab April 1943 wird in Lettland zu den Alters- und Invalidenrenten ein Zuschuß von 8,- RM und zu den Hinterbliebenenrenten ein solcher von 4,- RM gezahlt; vgl. zu den Einzelheiten die „Verordnung über vorläufige Zuschüsse zu den Alters- und Invalidenrenten“ vom 1. April 1943 (Abl. Riga 1943, 301). 1101 Vgl.: Abl. Riga 1943, 329. 1102 Vgl. zur Durchführung: „Erste Verordnung zur Durchführung der Verordnung über den Aufbau einer Sozialversicherung“ vom 1. Mai 1943 (Abl. Riga 1943, 335); vgl. auch die „Bekanntmachung über die Neuregelung der Krankenversorgung“ vom 23. Juni 1943 (Abl. Riga 1943, 438) sowie die „Zweite Verordnung zur Durchführung der Verordnung über den Aufbau einer Sozialversicherung“ vom 1. Juli 1943 (Abl. Riga 1943, 507). 1103 Zimmermann, Volker: Die Sudetendeutschen im NS-Staat. Essen 1999, 336.

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allem anhand von Enteignungen und Aussiedlungen von Tschechen im Jahre 1943 sichtbar wird, desto schneller wachsen dort in der tschechischen Bevölkerung Verbitterung und Haß auf die Deutschen.1104 Insgesamt gesehen entwickelt sich auch im Sudetenland die staatliche Sozialpolitik vor dem Hintergrund eines insbesondere durch die Folgen des Versailler Vertrages vertieften und beschleunigten Mechanismus der Verfeindung, der nach bürgerkriegsähnlichen Zuständen vor dem Anschluß der „sudetendeutschen Gebiete“ weiterschwelt und durch die NS-Politik neue Nahrung erhält. Schließlich verbreitet sich in der deutschen Bevölkerung namentlich im letzten Kriegsjahr die Angst vor einem tschechischen Aufstand und dem Verlust der Heimat als Folge der deutschen Niederlage.1105 Bekanntlich bewahrheiten sich diese Befürchtungen mit dem Jahre 1945 beginnend, als die im Exil, im Widerstand und Untergrund entwickelten Vorstellungen und Pläne einer „Lösung der deutschen Frage“ in die Realität umgesetzt werden - als Rache der Opfer, als pauschale Abrechnung, als Vergeltung für die Schrecken und Taten des NS-Regimes.1106 Die Kriegssozialpolitik im Sudetenland wird insbesondere auf dem Gebiet der „Erbund Rassenpflege“ durch den auch hier praktizierten Prozeß der juristischen Trennung und Absonderung der zu diskriminierenden Bevölkerungsgruppen bestimmt. Im Sudetenland werden mit Gesetz vom 21. November 1938 die „alteingesessenen“ Bewohner, nach Maßgabe näherer Bestimmungen, deutsche Staatsangehörige.1107 Durch den Vertrag mit der Tschechoslowakei vom 30. November 19391108 werden die seit 1920 zugewanderten Tschechen vom Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit ausgeschlossen.1109 Nachdem in den sudetendeutschen Gebieten bereits durch Verordnung vom 21. Dezember 1938 das „Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ einschließlich der Durchführungsbestimmungen übernommen wurde,1110 entsteht nun auch im Sudetenland die Infrastruktur der „Erb- und Rassenpflege“. Mit der „Verordnung über die Einführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und des Gesetzes zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes im Reichsgau Sudetenland“ vom 15. Dezember 1939 wird zum 1. Januar 1940 das „Sterilisierungsgesetz“ und das „Ehegesundheitsgesetz“ im „Reichsgau Sudetenland“ in Kraft gesetzt.1111 Da auch die Nürnberger Rassengesetze bereits vor Kriegsbeginn in Geltung sind,1112 die Vorschriften über Kinderbeihilfen, Ehe-

1104 Vgl. denselben, ebenda, 434. 1105 Vgl. denselben, ebenda, 375. 1106 Von den einst über drei Millionen Sudetendeutschen bleiben nur etwa 200.000 in der Tschechoslowakei; vgl. mit entsprechenden Literaturhinweisen: Hirsch, Helga: Flucht und Vertreibung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. B 40-41/2003, 14 - 26, hier: 18. 1107 Vgl. das „Gesetz über die Wiedervereinigung der sudetendeutschen Gebiete mit dem Deutschen Reich“ vom 21. November 1938 (RGBl. I 1938, 1641). 1108 Vgl.: RGBl. II 1940, 895. 1109 Ausführlicher zur auf „Rasse und Volkstum“ basierenden Regelung der Staatsangehörigkeit, die auch die schon vor dem Ersten Weltkrieg zunehmende Siedlung von Tschechen in diesen Gebieten anzielt und diese Menschen aus der deutschen Staatsangehörigkeit ausschließen soll, vgl.: Stuckart, (Wilhelm): Die Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Gebieten. In: Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht, 8(1941)15, 233 - 237, hier: 233 f. 1110 Vgl. die „Verordnung über die Einführung des Gesetzes über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens in den sudetendeutschen Gebieten“ vom 21. Dezember 1938 (RGBl. I 1938, 1836). 1111 Vgl.: RGBl. I 1939, 2434. 1112 Vgl. die „Verordnung über die Einführung der Nürnberger Rassengesetze in den sudetendeutschen Gebieten“ vom 27. Dezember 1938 (RGBl. I 1938, 1997).

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standsdarlehen, Einrichtungsdarlehen und Einrichtungszuschüsse ebenfalls gelten1113 und da es selbst an der Übernahme des Erbhofrechts nicht fehlt,1114 darf man davon ausgehen, daß die „Erb- und Rassenpflege“ einen vordringlichen und besonderen Schwerpunkt der Angleichung der Verhältnisse im „Reichsgau Sudetenland“ an das „Altreich“ darstellt.1115 Auf dem Gebiet der Arbeitsverfassung erfolgt, nachdem das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ bereits in der Vorkriegszeit übernommen und die „Reichstreuhänderorganisation“ eingerichtet wurde, mit einer Verordnung vom 11. Januar 1941 auch die Übernahme der entsprechenden Regelungen für den öffentlichen Dienst.1116 Bei dem enormen Arbeitskräftebedarf der Rüstungsindustrie und den Ansätzen eines mit den Mitteln der Diktatur betriebenen „europäischen Arbeitskräfteaustausches“ kann es nicht ausbleiben, daß die arbeitseinsatzpolitischen Instrumente des „Altreichs“ übernommen werden. Diese Entwicklung beginnt mit der Arbeitseinsatzverordnung des Sudetenlandes vom 27. Oktober 1938,1117 sie umfaßt die Arbeitsvermittlung, Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung mit einer Verordnung vom 14. September 19391118 und sie sieht auch die Einführung eines Arbeitsbuches vor.1119 Darüber hinaus wird unter bestimmten Bedingungen Arbeitslosenhilfe gezahlt.1120 Nachdem bereits unmittelbar mit der Eingliederung der sudetendeutschen Gebiete in das Reich „provisorisch“ deutsches Sozialversicherungsrecht eingeführt wurde und es auch bis ins Jahr 1940 an interimistischen Interventionen nicht fehlt,1121 kommt es mit der umfangreichen „Verordnung über die endgültige Regelung der Reichsversicherung in den ehemaligen tschecho-slowakischen, dem Deutschen Reich eingegliederten Gebieten“ vom 27. Juni 1940 zu einer abschließenden Regelung.1122 Es folgen diskriminierende Be-

1113 Vgl. die „Verordnung über Ehestandsdarlehen, Kinderbeihilfen, Einrichtungsdarlehen und Einrichtungszuschüsse in den sudetendeutschen Gebieten“ vom 25. November 1938 (RGBl. I 1938, 1670). 1114 Vgl. die „Verordnung über die Einführung des Erbhofrechts im Reichsgau Sudetenland (SEHG)“ vom 27. Februar 1940 (RGBl. I 1940, 426) 1115 Zur Unterscheidung zwischen „sudetendeutschen Gebieten“, dem „Reichsgau Sudetenland“ und den „angegliederten sudetendeutschen Gebieten“ vgl. die Hinweise bei: Zimmermann, Volker: Die Sudetendeutschen…a.a.O.(=Anm. 1103), 120 f.; vgl. auch das „Gesetz über die Gliederung der sudetendeutschen Gebiete“ vom 25. März 1939 (RGBl. I 1939, 745), zum Verwaltungsaufbau: „Sudetengaugesetz“ vom 14. April 1939 (RGBl. I 1939, 780). 1116 Vgl. die „Verordnung über die Einführung des Gesetzes zur Ordnung der Arbeit in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben (AOGÖ) im Reichsgau Sudetenland“ vom 11. Januar 1941 (RGBl. I 1941, 31). 1117 Vgl. die „Verordnung über den Arbeitseinsatz in den sudetendeutschen Gebieten“ vom 27. Oktober 1938 (RGBl. I 1938, 1514). 1118 Vgl.: RGBl. I 1939, 1769. 1119 Vgl. den § 2 (1) der Arbeitseinsatzverordnung. 1120 Vgl. die Verordnung vom 30. September 1939 (RGBl. I 1939, 1990) sowie die ergänzende Verordnung vom 13. April 1940 (RGBl. I 1940, 679). 1121 Vgl. zur Umwandlung der sudetischen Krankenkassen in solche der RVO die „Verordnung über die Träger der Krankenversicherung im Reichsgau Sudetenland“ vom 8. November 1939 (RGBl. I 1939, 2177); vgl. zur Überleitung von anhängigen Verfahren auf deutsche Spruchbehörden die Verordnung vom 10. Januar 1940 (RGBl. I 1940, 58). 1122 Vgl.: RGBl. I 1940, 957; vgl. zu dieser Verordnung und weiteren Rechtsquellen auch: Eichelsbacher, Franz (Hg.): Reichsversicherungsordnung nebst Einführungsgesetz, Ergänzungsbestimmungen und Ausführungsvorschriften. München und Berlin 1944, 758 ff., 865 ff.; die Einführung der Reichsversicherung zieht auch ein Abkommen zwischen dem Deutschen Reich und der „Regierung des Protektorats Böhmen und Mähren“ über die Auseinandersetzung auf dem Gebiet der Sozialversicherung vom 14. März 1940 nach sich (vgl.: RGBl. II 1940, 108).

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stimmungen, die die Beendigung eines Dienstverhältnisses in der „Reichsversicherung“ aus politischen oder „rassischen“ Gründen betreffen.1123 Bei der Betrachtung der Gesamtheit der Rechtsquellen, die für das Sudetenland Geltung beanspruchen, wird ein gravierender Unterschied zu den Regelungen im „Reichskommissariat Ostland“ deutlich. Es existiert hier kein „territoriales Sonderministerium“, das einen „fremdvölkischen Raum“ sozialpolitisch gemäß den rassepolitischen Vorstellungen und den kriegswirtschaftlichen Erfordernissen entsprechend „gestaltet“. Die „klassische“, mehr oder weniger nazifizierte Ministerialbürokratie des Reiches selbst trifft die grundlegenden sozialpolitischen Weichenstellungen. Das gilt im Grunde auch für zwei weitere Gebiete des „Großdeutschen Reiches“, deren Kriegssozialpolitik nun untersucht werden soll, für das „Protektorat Böhmen und Mähren“ und für Österreich bzw. die „Ostmark“ bzw. die „Alpen- und Donau-Reichsgaue.“ Auch in Böhmen und Mähren bildet die deutsche Besatzungsherrschaft den vorläufigen Endpunkt eines langen und zunehmend konflikthaften Entfremdungsprozesses zwischen der tschechischen und der deutschen Bevölkerung auf diesem Gebiet des ehemaligen habsburgischen Vielvölkerstaats. Ähnlich wie für Polen, existiert für dieses Gebiet das „Fernziel“ einer „rassisch“ verstandenen Eindeutschung, einer „Germanisierung“ einschließlich der Strategien der „Umvolkung“, der Aus- und Ansiedlung großer „Bevölkerungsmassen“. Diese beunruhigenden Ziele werden allerdings wegen der großen Bedeutung einer ungestört arbeitenden Rüstungsindustrie auf die Zeit nach dem Kriege verschoben. Unter den im Jahre 1940 rund 7,5 Millionen Einwohnern des Protektorats befinden sich nur 225.000 Deutsche.1124 Trotzdem wird schon im Führererlaß über das „Protektorat Böhmen und Mähren“ vom 16. März 1939 ausgeführt, die „böhmisch-mährischen Länder“ hätten ein Jahrtausend zum „Lebensraum des deutschen Volkes“ gehört.1125 Die dort lebende Bevölkerung wird bereits durch diesen Führererlaß „aufgeteilt“. Die Rede ist von „volksdeutschen Bewohnern“, die deutsche Staatsangehörige und nach den Vorschriften des Reichsbürgergesetzes von 1935 auch „Reichsbürger“ werden können. Für diese gilt dann auch das Blutschutzgesetz vom 15. September 1935. „Die übrigen Bewohner von Böhmen und Mähren werden Staatsangehörige des Protektorats Böhmen und Mähren.“1126 In Begrenzung der Kompetenzen des „Reichsprotektors“ bestimmt der erwähnte Führererlaß, daß das Reich mit Gültigkeit für das Protektorat Rechtsvorschriften erlassen kann, „…soweit das gemeinsame Interesse es erfordert.“ Als weitere, auch für die staatliche Sozialpolitik bedeutsame Besonderheit kommt hinzu, daß sich die mehrfachen „Wandlungen“ unterworfene deutsche Okkupationsverwaltung auf ein kollaborierendes tschechisches „Regierungs- und Verwaltungsgebäude“ aus Staatspräsident, Protektoratsregierung, Landes- und Bezirksbehörden und aus anderen „Instanzen“ stützt. Sie ist „Aufsichtsverwaltung“ über eine weitgehend im deutschen Sinne funktionierende tschechische Administrati1123 Vgl. die von Syrup unterzeichnete „Verordnung über die Bediensteten bei den Trägern der Krankenversicherung in den Sudetendeutschen Gebieten“ vom 19. April 1941 (RGBl. I 1941, 213). 1124 Vgl. kurzgefaßt: Konfliktgemeinschaft, Katastrophe, Entspannung. München 1996, 15 ff.; vgl. auch: Maier, Robert (Hg.): Tschechen, Deutsche und der Zweite Weltkrieg. Hannover 1997. 1125 Vgl. zum Führererlaß: RGBl. I 1939, 485. 1126 Die in diesem Zusammenhang beachtlichen Rechtsquellen sind abgedruckt im „Verordnungsblatt des Reichsprotektors in Böhmen und Mähren“ (VBlRProt.) 1939, 7 ff., 60 f.; vgl. zur Frage der Staatsangehörigkeit auch die „Verordnung zur Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen gegenüber dem Protektorat Böhmen und Mähren“ vom 6. Juni 1941 (VBlRProt. 1941, 307); weitere Details und Rechtsquellen bei: Stuckart, (Wilhelm): Die Staatsangehörigkeit…a.a.O.(=Anm. 1109); zur Geltung des „Blutschutzgesetzes“ in Böhmen und Mähren vgl. auch die dritte Verordnung zu diesem Gesetz (RGBl. I 1941, 384).

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on. Soweit es deutschen Interessen nicht widerspricht, bleibt tschechisches Recht in Kraft und kann auch neu geschaffen werden.1127 Die deutschen Kräfte fanden „…im Staatspräsidenten, in der Regierung, den tschechischen Beamten und den Verbänden die Strukturen und Fachleute, die sie für die reibungslose Arbeit der Verwaltung, der Industrie und Landwirtschaft benötigten.“1128 Erst allmählich werden die Handlungsmöglichkeiten der tschechischen Seite, zu der auch gleichgeschaltete Gewerkschaften gehören, stärker eingegrenzt. Vor diesem Hintergrund ist die von den Rechtsquellen ablesbare eigenständige sozialpolitische Betätigung der deutschen Instanzen geringfügig. Das betrifft insbesondere die Regelung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen der tschechischen Arbeitskräfte in der Privatwirtschaft. Für die Arbeitsverhältnisse der „Gefolgschaftsmitglieder“ der „deutschen öffentlichen Verwaltungen und Betriebe“ gilt diese Zurückhaltung deutscher Organe allerdings nicht. Für sie sollen mit bestimmten Modifikationen reichsdeutsche Tarifordnungen gelten.1129 Die Höhe der Löhne wird im Einvernehmen mit bestimmten Reichsministerien vom „Reichsprotektor“ in der „Krohnen-Währung“ festgelegt.1130 Obwohl der Arbeitseinsatz von erheblicher Bedeutung ist, findet sich im „Verordnungsblatt“ auch zu diesem Gebiet recht wenig. Namentlich die „Notdienstverordnung“ vom 15. Oktober 1938 wird über ein Jahr später mit ihren Durchführungsverordnungen, dann allerdings durch den Gesetzgeber des Reiches, mit einigen Modifikationen auf Böhmen und Mähren übertragen.1131 Allgemeine, für „Arbeitnehmer“ in der Privatwirtschaft geltende Regelungen betreffen die Lohnzahlung an Feiertagen.1132 Bemerkenswert ist auch eine Verordnung des „Reichsprotektors“ über eine allgemeine Lohn- und Gehaltszulage vom 20. Mai 1940 für in der Privatwirtschaft und im Staatssektor beschäftigte Arbeitnehmer.1133 Eine Verordnung des „Reichsprotektors“ vom 2. Mai 1941 sieht die Auflösung privatrechtlicher Dienstverhältnisse wegen „reichsfeindlicher Betätigung“ vor. Als „reichsfeindliche Betätigung“ gilt „...jede Handlung, Duldung oder Unterlassung, die sich gegen den inneren oder äußeren Bestand und die Sicherheit des Großdeutschen Reiches richten.“1134 In großer Zahl werden darüber hinaus reichsrechtliche Vorschriften auf das „Protektorat Böhmen und Mähren“ übertragen. Soweit es sich um Vorschriften handelt, die einen „erb- und rassenpflegerischen“ Inhalt haben, handelt es sich wiederum um Maßnahmen oder Leistungen, die sich auf deutsche Staats- oder Volksangehörige beschränken. Auf 1127 Besonders deutlich wird diese Konstruktion in den Bestimmungen des „Erlaß über die Gliederung des Deutschen Staatsministeriums für Böhmen und Mähren“ vom 4. November 1943 (Verordnungsblatt des Deutschen Staatsministers für Böhmen und Mähren (VBlBM.) 1943, 147). 1128 Brandes, Detlef: Kollaboration und Widerstand im Protektorat Böhmen und Mähren. In: Maier, Robert (Hg.): Tschechen...a.a.O.(=Anm. 1124) 67 - 77, hier: 76. 1129 Vgl. die „Verordnung über die Einführung sozialrechtlicher Vorschriften im Protektorat Böhmen und Mähren“ vom 26. Oktober 1940 (RGBl. I 1940, 1460); zu den protektoratsspezifischen Modifikationen vgl. die Anordnung vom 14. November 1940 (VBlRProt. 1940, 574); vgl. auch die Anordnung vom 25. September 1941 (VBlProt. 1941, 584) sowie die Bekanntmachung vom 5. Oktober 1941, ebenda, 586; es handelt sich bei der Bekanntmachung überwiegend um disziplinierende Bestimmungen. 1130 Vgl. die „Anordnung betreffend die Gehälter und Löhne im deutschen öffentlichen Dienst des Protektorats Böhmen und Mähren“ vom 30. Oktober 1940 (VBlRProt. 1940, 572). 1131 Vgl. die „Verordnung zur Einführung der Notdienstverordnung im Protektorat Böhmen und Mähren“ vom 25. November 1939 (VBlRProt. 1939, 354 bzw. RGBl. I 1939, 2300). 1132 Vgl. die „Lohnzahlungsverordnungen“ im VBlRProt. 1940, 600, 601; sie betreffen Weihnachten und Neujahr. Die zahlreichen nachfolgenden Bestimmungen sollen hier nicht angemerkt werden. 1133 Vgl. die „Verordnung des Reichsprotektors in Böhmen und Mähren über die allgemeine Lohn- und Gehaltszulage“ vom 20. Mai 1940 (VBlRProt. 1940, 214). 1134 Vgl. zur Verordnung: VBlRProt. 1941, 241.

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diese Weise wird im Protektorat eine kleine, nach rassistischen und politischen Kriterien definierte soziale Schichte durch spezielle Sozialleistungen privilegiert.1135 Die weitgehend auf deutsche Staatsangehörige beschränkten ehe- und familienrechtlichen Vorschriften gelten bald auch im Protektorat.1136 Beginnend mit der „Anordnung über die Reichsarbeitsdienstpflicht der volksdeutschen Bewohner des Protektorats Böhmen und Mähren“ vom 1. August 1939, erlassen vom „Reichsprotektor“,1137 werden auch in Böhmen und Mähren junge deutsche Staatsangehörige jahrgangsweise zum Reichsarbeitsdienst herangezogen. Die Rechtsvorschriften zum männlichen und weiblichen Arbeitsdienst werden umfassend übertragen.1138 Die Luftschutzdienstpflicht gilt allerdings auch für Protektoratsangehörige. Dies zieht nun wieder Bestimmungen zur „sozialen Betreuung“ nach sich, dazu zählt später auch eine „Familienunterstützung“ für Protektoratsangehörige, die aber mit Wirkung vom 1. Juli 1943 wieder aufgehoben wird.1139 Im Protektorat besteht, unbeschadet der Zuständigkeit der „Reichsversicherung“,1140 eine Sozialversicherung des Protektorats. Das wiederum zieht, nach der Schaffung des slowakischen Satellitenstaats, ein deutsch-slowakisches Abkommen über die Auseinandersetzung auf dem Gebiet der Sozialversicherung nach sich.1141 Privilegierend wirken auch Bestimmungen über die Versorgung der „volksdeutschen Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen“ im Protektorat.1142 Körper- und Vermögensschäden „deutscher Staatszugehöriger“, die ihnen wegen ihres „deutschen Volkstums“ (d.h. im „Volkstumskampf“) zugefügt wurden, werden auf bestimmte Weise ebenso entschädigt, wie Schäden von juristischen Personen im weitesten Sinne, wenn sie unmittelbar oder mittelbar „…unter maßgebenden volksdeutschem Einfluß standen.“1143 1135 Vgl. zur Gewährung von Ehestandsdarlehen an dienstlich ins Protektorat entsandte „Volksgenossen“ den Erlaß vom 25. Oktober 1939 (VBlRProt. 1939, 287) sodann zur Übertragung der entsprechenden Rechtsvorschriften ganz allgemein die „Verordnung zur Einführung von Ehestandsdarlehen, Kinderbeihilfen, Einrichtungsdarlehen und Einrichtungszuschüssen im Protektorat Böhmen und Mähren“ vom 10. Februar 1941 (RGBl. I 1941, 103); auch die Förderung von „Landarbeiterwohnungen“ im Protektorat kommt nur deutschen Staatsangehörigen zugute; vgl. die entsprechende Verordnung vom 19. Februar 1942 (VBlRProt. 1942, 41). 1136 Vgl. die „Verordnung über die Anwendung deutschen Rechts auf deutsche Staatsangehörige im Protektorat Böhmen und Mähren“ vom 20. Juli 1939 (RGBl. I 1939, 1309); vgl. auch die zahlreichen Bestimmungen des Jahres 1943 zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft, die an anderer Stelle schon erwähnt wurden und die als Rechtsvorschriften, die auch in Böhmen und Mähren gelten, nun auch im VBlRProt. abgedruckt werden. 1137 Vgl.: VBlRProt. 1939, 67. 1138 Vgl. die vom Innenminister unterzeichnete „Verordnung über die Einführung von Reichsarbeitsdienstrecht im Protektorat Böhmen und Mähren“ vom 22. Dezember 1939 (RGBl. I 1939, 2472). 1139 Vgl. zur „sozialen Betreuung“ die „Zweite Ausführungsverordnung zur Verordnung über die Einführung des Luftschutzrechtes im Protektorat Böhmen und Mähren vom 9. Juli 1941“ vom 28. Mai 1942 (VBlRProt. 1942, 127); zur Familienunterstützung vgl. die Verordnung im VBlRProt. 1942, 33; zur Aufhebung vgl.: VBlRProt. 1943, 103. 1140 Die „Reichsversicherung“ gilt im Protektorat für deutsche Staatsangehörige, die dort bei den Behörden und Dienststellen des Reiches beschäftigt sind; vgl. die entsprechende Verordnung vom 30. August 1939 (RGBl. I 1939, 1737); vgl. auch die Durchführungs- und Ergänzungsverordnung vom 25. Juni 1941 (RGBl. I 1941, 375). 1141 Vgl. die entsprechende Bekanntmachung, das Abkommen und die Ergänzungsvereinbarung im VBlRProt. 1943, 107 ff. 1142 Mit der Verordnung vom 30. Dezember 1939 wird das reichsdeutsche Versorgungssystem auf diese „Volkszugehörigen“ übertragen (vgl.: VBlRProt. 1940, 51). 1143 Es handelt sich um ursprünglich für das Sudetenland geltende Vorschriften, die nunmehr auch auf Böhmen und Mähren bezogen werden; vgl. die „Verordnung zur Ergänzung des Gesetzes über den Ersatz der durch den Kampf um die Wiedervereinigung der sudetendeutschen Gebiete mit dem Deutschen Reich verursachten Personen- und Vermögensschäden“ vom 20. Juni 1940 (VBlRProt. 1940, 253) sowie das „Gesetz über den Ersatz der durch den Kampf um die Wiedervereinigung der sudetendeutschen Gebiete mit dem Deutschen Reich verursachten Personen- und Vermögensschäden“ vom 20. Oktober 1939 (RGBl. I 1939, 2119).

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Der „Reichsprotektor“ verfügt zusätzlich umfängliche „Wiedergutmachungsmaßnahmen“ für „öffentlich-rechtliche Bedienstete deutscher Staatsangehörigkeit“, die während der tschechoslowakischen Zeit wegen ihres „deutschen Volkstums“, d.h. im Zuge „volkstumspolitischer“ Aktionen und Reaktionen und Entzweiungen der deutschen und der tschechischen Seite Benachteiligungen erlitten haben.1144 Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges sind die Grundzüge der im „Altreich“ entstandenen NS-Sozialpolitik auf Österreich bereits übernommen. Dieser Übernahmevorgang setzt sich im Kriege fort und wird im wesentlichen durch die hierzu ermächtigten Reichsminister und in grundsätzlichen Fragen auch durch den „Führer und Reichskanzler“ betrieben.1145 Die „völkische Komponente“ dieses Vorgangs ist vergleichsweise schwach ausgebildet. Durch die „Verordnung über die deutsche Staatsangehörigkeit im Lande Österreich“ vom 3. Juli 19381146 erlangen die bisherigen österreichischen Staatsangehörigen, bis auf bezeichnende Ausnahmen (z.B. die Emigranten), die deutsche Staatsangehörigkeit, „….auch fremdvölkische und fremdrassige Personen nahmen an dem StA-Wechsel teil.“1147 So umfaßt die für „deutsche Staatsbürger“ konzipierte Sozialpolitik weite Teile der gesamten Bevölkerung. Der Aufbau des „völkischen Sozialstaats“ in Österreich kennt dabei verschiedene Wege. Zunächst einmal bleibt das in Österreich geltende Recht „bis auf weiteres in Kraft“, d.h. es gibt auch auf sozialpolitischem Gebiet keinen „rechtlosen Zustand“. Die Verdrängung des österreichischen Rechts im allgemeinen und des Sozialrechts im besonderen erfolgt auf zweierlei Wegen. Einmal gelten Reichsgesetze, die nach dem Inkrafttreten des „Wiedervereinigungsgesetzes“ vom 13. März 1938 erlassen werden auch für das „Land Österreich“ sofern „…ihre Inkraftsetzung für das Land Österreich nicht ausdrücklich vorbehalten ist.“1148 Insofern ist der räumliche Geltungsbereich zahlreicher seit dem Frühjahr 1938 erlassener Sozialgesetze von vornherein erweitert. Darüber hinaus werden sozialpolitische Rechtsquellen früheren Datums ausdrücklich übertragen. Unter Inkaufnahme eines beträchtlichen Bestandes an sozialpolitischem „Sonderrecht“ verliert Österreich auch im Zweiten Weltkrieg weiter an sozialpolitischer Identität. Diesem Vorgang entspricht die Auflösung der österreichischen Staatlichkeit. Das bereits zu einem Land des „Deutschen Reiches“ gewordene Österreich wird bald in „Ostmark“ umbenannt und zum 1. Mai 1939 wird die „Ostmark“ in sieben Reichsgaue aufgeteilt, in die „Alpen- und Donaureichsgaue.“1149 Österreich hat so auch als Verwaltungseinheit zu existieren aufgehört und bald schafft Hitler auch den Begriff „Ostmark“ ab, damit „…nicht einmal dieser Name an die Eigenstaatlichkeit seines Geburtslandes erinnerte.“1150 1144 Vgl. die Verordnung vom 1. Oktober 1940 (VBlRProt. 1940, 491). 1145 Vgl. das „Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ vom 13. März 1938 (RGBl. I 1938, 237). 1146 Vgl.:: RGBl. I 1938, 790. 1147 So mit bedauerndem Unterton: Stuckart, (Wilhelm): Die Staatsangehörigkeit…a.a.O.(=Anm. 1109), 233; natürlich hat das nachfolgende Diskriminierungsmaßnahmen und Vernichtungsakte gegenüber den Juden, den Sinti und Roma nicht behindert, aber die Sozialpolitik für bzw. in Österreich gerät nicht zu einer Politik für eine mehr oder weniger bedeutende „völkische Elite“ in einem Meer „minderwertigen Volkstums“, wie das im „Protektorat Böhmen und Mähren“ oder im Osten der Fall ist. 1148 Vgl. „Erster Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Einführung deutscher Reichsgesetze in Österreich“ vom 15. März 1938 (RGBl. I 1938, 247). 1149 Vgl. dazu das „Ostmarkgesetz“ vom 14. April 1939 (RGBl. I 1939, 777). 1150 Umbreit, Hans: Auf dem Weg zur Kontinentalherrschaft. In: Kroener, Bernhard R., Müller, Rolf-Dieter, Umbreit, Hans (Hg.): Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs. Stuttgart 1988, 3 - 345, hier: 14.

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Ist so einerseits ein zunehmender Einklang mit der sozialpolitischen Entwicklung im „Altreich“ zu beobachten, so ist andererseits die „Verordnung über die Einführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und des Gesetzes zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes in der Ostmark“ vom 14. November 1939,1151 ein markantes Beispiel einer „nachholenden“ sozialpolitischen Entscheidung. Diese Verordnung komplettiert die Maßnahmen der positiven und negativen „Erbpflege“ für das österreichische Gebiet. Darüber hinaus wird auch während des Krieges reichsdeutsches Arbeitsrecht ebenso übernommen, wie die erprobten Instrumente des Arbeitseinsatzes weiterhin zur Anwendung kommen. Die „Zweite Verordnung zur Durchführung und Ergänzung der Verordnung über die Einführung der Sozialversicherung im Lande Österreich“ vom 5. Februar 1940 und eine dritte Verordnung vom selben Tage zeigen, wie schwierig der Transfer des „fremden“ Rechts und der Institutionen auf einem derart hochkomplexen Gebiet sein kann.1152 Die Übernahme älterer Arbeitszeitvorschriften,1153 Bestimmungen über Landesarbeitsämter, die Reichstreuhänderverwaltung, die Gewerbeaufsichtsverwaltung1154 und über das Gewerbegerichtswesen1155 signalisieren eine spezifische Behandlung des ehemaligen Österreich im Rahmen einer allgemeinen sozialpolitischen Entwicklung an der dieses Gebiet nunmehr automatisch teilnimmt. Im Zuge eines in den frühen Morgenstunden des 10. Mai 1940 beginnenden spektakulären Westfeldzuges kapituliert bereits „…am 28. Mai der belgische König Leopold in seiner Eigenschaft als oberster Befehlshaber der belgischen Streitkräfte.“1156 Noch vor der Beendigung der Kämpfe in Belgien selbst wird bereits mit Führererlaß vom 18. Mai 1940 bestimmt: „Die durch das Versailler Diktat vom Deutschen Reich abgetrennten Gebiete von Eupen, Malmedy und Moresnet sind wieder Bestandteil des Deutschen Reiches.“1157 Die angesprochenen Gebiete werden der Rheinprovinz (Regierungsbezirk Aachen) zugeteilt. Ein Führererlaß vom 23. Mai 1940 nimmt bereits eine „völkische Scheidung“ vor: Die Bewohner „deutschen oder artverwandten Blutes“ sollen nach Maßgabe näherer Bestimmungen „deutsche Staatsangehörige“ werden, die „Volksdeutschen“ werden „Reichsbürger“ nach den Bestimmungen des Reichsbürgergesetzes. Ist bereits diese Regelung von einiger Bedeutung für die staatliche Sozialpolitik, so gilt das erst recht für die Entscheidung, in Eupen, Malmedy und Moresnet zum 1. September 1940 das „gesamte Reichsrecht

1151 Vgl.: RGBl. I 1939, 2230. 1152 Vgl.: RGBl. I 1940, 270 und 279. 1153 Vgl. die „Dritte Verordnung zur Einführung von Arbeitszeitvorschriften in der Ostmark“ vom 23. Januar 1940 (RGBl. I 1940, 233). 1154 Vgl. die „Verordnung über die Arbeitseinsatz-, die Reichstreuhänder- und die Gewerbeaufsichtsverwaltung in der Ostmark“ vom 7. März 1940 (RGBl. I 1940, 552); vgl. auch die „Verordnung über den Arbeitsschutz und die Gewerbeaufsicht in der Ostmark“ vom 5. April 1940 (RGBl. I 1940, 608); eine zweite Verordnung datiert vom 7. August 1941 (vgl.: RGBl. I 1941, 482). 1155 Vgl. die Bekanntmachung vom 25. Januar 1943 (RGBl. I 1943, 53 ff.). 1156 Vgl.: Die faschistische Okkupationspolitik in Belgien, Luxemburg und den Niederlanden (1940 - 1945). Berlin 1990, 20. 1157 Vgl. den „Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Wiedervereinigung der Gebiete von Eupen, Malmedy und Moresnet mit dem Deutschen Reiche“ vom 18. Mai 1940 (RGBl. I 1940, 777); zum genauen Hergang: Schärer, Martin R.: Deutsche Annexionspolitik im Westen. Die Wiedereingliederung Eupen-Malmedys im Zweiten Weltkrieg. Bern, Frankfurt a.M. 1975; bei diesem Vorgang der Eingliederung wird das deutsche Reichsgebiet großzügig zu Lasten Belgiens arrondiert.

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und preußische Landesrecht“ in Kraft zu setzen. Ausnahmen oder ein späteres Inkrafttreten des Reichsrechts sind dabei möglich.1158 Dieser „Logik“ folgend, erscheinen im Reichsgesetzblatt (bzw. in der Preußischen Gesetzsammlung) lediglich die „Ausnahmen von der Regel“ der pauschalen und unmittelbaren Inkraftsetzung der NS-Sozialpolitik zum 1. September 1940. Es erscheinen an dieser Stelle darüber hinaus Verordnungen, die Reichsrecht bereits vor diesem Zeitpunkt einführen. Dazu zählt eine Verordnung vom 17. Juli 1940, die den „Reichstreuhänder der Arbeit für das Rheinland“ ermächtigt, in entsprechender Anwendung des „Reichsrechts“, Tarifordnungen zu erlassen und Arbeitsbedingungen zu gestalten.1159 Hinzu tritt eine „Verordnung über Arbeitslosenhilfe in den Gebieten von Eupen, Malmedy und Moresnet“ vom 31. Juli 1940, die das AVAVG mit den zur Ergänzung und Durchführung ergangenen Vorschriften mit bestimmten Modifikationen in Geltung setzt.1160 Bereits kurz nach dem Stichtag 1. September 1940 erscheint eine Verordnung, die sich mit der Errichtung von Arbeitsgerichten befaßt und die das Landesarbeitsgericht Aachen auch für Eupen, Malmedy und Moresnet für zuständig erklärt.1161 Von erheblicher Bedeutung ist die „Verordnung über die Geltung von sozialem Reichsrecht in den Gebieten von Eupen, Malmedy und Moresnet“ vom 11. November 1940.1162 Diese Verordnung setzt mit besonderen „Maßgaben“ und mit Wirkung vom 1. September 1940 u.a. in Kraft: Das weibliche Pflichtjahr, die Verordnung über das Arbeitsbuch von April 1939 und das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ mit den zur Durchführung und Ergänzung getroffenen Vorschriften.1163 Teils mit Wirkung vom 1. September 1940, überwiegend jedoch vom 1. Januar 1941 sollen die Reichsversicherungsordnung, das Reichsknappschaftsgesetz sowie das Angestelltenversicherungsgesetz „... nebst den zu ihrer Ergänzung, Änderung und Durchführung erlassenen Vorschriften...“ in Kraft treten. Gerade auch die Wiedereinführung der komplexen deutschen Sozialversicherung verlangt nach zahlreichen Anpassungsvorschriften.1164 Der Westfeldzug bringt bald auch Luxemburg und die ehemaligen Reichslande „Elsaß-Lothringen“ unter deutsche Herrschaft. Die „Wiedergewinnung“ der ehemaligen Reichslande wird in weiten Kreisen Deutschlands als die endgültige Beseitigung des Versailler Vertrages begrüßt.1165 Auf der Grundlage von zwei nicht veröffentlichten Führererlassen vom 2. August 1940 über die „vorläufige Verwaltung“ in Luxemburg, im Elsaß und in Lothringen kommt es zur Einführung einer deutschen Zivilverwaltung („Angliederungsverwaltung“) in diesen drei Gebieten.1166 Zunächst noch an „fachliche Weisungen der O1158 Vgl. mit weiteren Differenzierungen den „Erlaß des Führers und Reichskanzlers zur Durchführung der Wiedervereinigung der Gebiete von Eupen, Malmedy und Moresnet mit dem Deutschen Reich“ vom 23. Mai 1940 (RGBl. I 1940, 803). 1159 Vgl.: RGBl. I 1940, 1003. 1160 Vgl.: RGBl. I 1940, 1101. 1161 Vgl. die „Verordnung über die Errichtung von Arbeitsgerichten in den Gebieten von Eupen, Malmedy und Moresnet“ vom 19. September 1940 (RGBl. I 1940, 1332). 1162 Vgl.: RGBl. I 1940, 1519. 1163 Dementsprechend endet auch in diesen Gebieten die Zeit der kollektiven Regelung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen; die endgültige Auflösung der „Ordnung des Klassenkampfes“, der Verbände von Arbeit und Kapital, erfolgt für Eupen, Malmedy und Moresnet sowie für andere besetzte Gebiete mit einer Verordnung vom 8. Juli 1942 (vgl.: RGBl. I 1942, 447). 1164 Vgl. die „Verordnung über die Einführung der Reichsversicherung in den Gebieten von Eupen, Malmedy und Moresnet“ vom 9. Mai 1941 (RGBl. I 1941, 271); vgl. auch noch eine zweite Verordnung vom 4. November 1943 (RGBl. I 1943, 632). 1165 Vgl.: Rebentisch, Dieter: Führerstaat und Verwaltung…a.a.O.(=Anm. 1015), 305 f. 1166 Vgl. die Dok. 44 und 45 bei: Moll, Martin (Bearb.): „Führer-Erlasse“ 1939 - 1945. Stuttgart 1997, 131 ff.

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bersten Reichsbehörden“, vor allem an den „Reichsminister des Innern“ gebunden, fügen sich die Chefs der Zivilverwaltungen nur schwer in den zentralisierten Instanzenzug ein und Hitler entspricht ihrem Wunsch nach „Autonomie“ durch zwei weitgehend gleich lautende Erlasse vom 18. Oktober 1940.1167 Diese beinhalten, daß Luxemburg bzw. die „elsässischen und lothringischen Gebiete“ in kürzester Zeit dem „deutschen Volkstum“ zurück gewonnen werden sollten.1168 „Um dieses Ziel schnell und reibungslos zu erreichen, muß grundsätzlich die Initiative für alle Maßnahmen, die dem Wiederaufbau ... dienen, von den mir unmittelbar unterstellten Chefs der Zivilverwaltung ausgehen. Die Chefs der Zivilverwaltung sind mir für den Wiederaufbau ... allein verantwortlich. Sie erhalten daher Weisungen ausschließlich von mir.“ Nur noch zur „Fühlungnahme“ verpflichtet, entfalten die Chefs der Zivilverwaltungen neben anderen „Angleichungsmaßnahmen“ auch umfassende sozialpolitische Aktivitäten. Luxemburg erhält den ehrgeizigen Gauleiter des Gaues Koblenz-Trier, Gustav Simon, als „Chef der Zivilverwaltung“. Bereits im Jahre 1940 werden die diskriminierenden Bestimmungen zur Eheschließung und zum Geschlechtsverkehr mit Juden eingeführt.1169 Die Bestimmungen über Leistungen mit „erb- und rassenpflegerischer“ Intention werden auch in Luxemburg auf „deutsche Staatsangehörige“ und „deutsche Volkszugehörige“ beschränkt, gegebenenfalls treten politische Kriterien hinzu.1170 Im Vordergrund der Sozialpolitik für Arbeiter und Angestellte steht eine zeitlich fortlaufende „unendliche“ Kette von staatlichen Regelungen der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen in den verschiedenen Gewerbezweigen. Flankiert werden diese Vorschriften durch Arbeitsschutz- und Betriebsschutzvorschriften, durch Vorschriften zum Luftkrieg, zum Verbot von „Locklöhnen“, zur „Sicherung der Ordnung in den Betrieben“, zum Arbeitsbuch usw., Vorschriften, die aus der Sozialpolitik des „Altreichs“ bekannt sind und die nun in meist modifizierter Form in Luxemburg Geltung erlangen. Eine Verordnung, die das Datum vom 26. Mai 1941 trägt, beinhaltet, in Anlehnung an das reichsdeutsche AOG, die „Ordnung der Arbeit in Luxemburg“,1171 eine weitere Verordnung vom selben Tag führt die deutsche Arbeitsgerichtsbarkeit mit bestimmten „Maßgaben“ ein.1172 Dem Ziel der Ausbeutung der luxemburgischen 1167 Vgl. die Dok. 58 und 59 ebenda, 146 ff. 1168 Vgl. dazu ausführlicher: Kettenacker, Lothar: Nationalsozialistische Volkstumspolitik im Elsaß. Stuttgart 1973 sowie einzelne Passagen der Diss. von Wolfanger, Dieter: Die nationalsozialistische Politik in Lothringen (1940 - 1945). Saarbrücken 1977, bes. 97 ff., 115 ff., 146 ff., 178 ff.; vgl. auch die „Verordnung über die Anlegung einer Volkstumskartei in Luxemburg“ vom 10. Oktober 1941 (Verordnungsblatt für Luxemburg (VOBl.f.Lux.) 1941, 410). Diese Verordnung bemerkt: „Die frühere luxemburgische Staatsführung hat ihre Pflichten zur Erhaltung und Sicherung des Volkstums nicht erfüllt. Ihre Gesetzgebung war lediglich auf die jederzeit veränderliche Staatsangehörigkeit abgestellt und nicht aufgebaut auf dem ewigen Volkstum und seinen natürlichen Grundlagen: Abstammung und Muttersprache.“ 1169 Vgl. die „Verordnung über Maßnahmen auf dem Gebiete des Judenrechts“ vom 5. September 1940 (VOBl.f.Lux. 1940, 10); vgl. in diesem Zusammenhang auch die Einführung reichsrechtlicher Vorschriften auf dem Gebiet des Personenstands- und Eherechts vom 31. Januar 1941 (VOBl.f.Lux. 1941, 118). 1170 Vgl. zu den Kinderbeihilfen bzw. Ehestandsdarlehen: VOBl.f.Lux. 1940, 439, 469; zu die Durchführungsanordnungen vom 15. Januar 1941 vgl.: VOBl.f.Lux. 1941, 41 und 46; zu den Kinder- bzw. Ausbildungsbeihilfen für „wertvolle“ kinderreiche Familien vgl.:VOBl.f.Lux. 1940, 439 und VOBl.f.Lux. 1941, 44; die ebenfalls rassistisch konstruierte „Verordnung über eine Ausstattungsbeihilfe für Hausgehilfinnen in kinderreichen Haushalten“ vom 26.Juli 1941 findet sich im: VOBl.f.Lux. 1941, 320. 1171 Vgl. die „Verordnung über die Ordnung der Arbeit in Luxemburg“ vom 26. Mai 1941 (VOBl.f.Lux. 1941, 249); es folgen Durchführungsverordnungen, die hier nicht angemerkt werden sollen; für den Staatsbereich vgl. die „Verordnung über die Ordnung der Arbeit in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben in Luxemburg“ vom 30. Juli 1941 (VOBl.f.Lux. 1941, 343). 1172 Vgl. die „Verordnung über die Arbeitsgerichtsbarkeit“ vom 26. Mai 1941 (VOBl.f.Lux. 1941, 254).

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Wirtschaft zu Kriegszwecken dient ein über die Arbeitsverwaltung abgewickelter „Arbeitseinsatz“. Wie im „Altreich“ wird er ergänzt durch einen zunächst nur „freiwilligen“, dann aber zur Pflicht erhobenen Reichsarbeitsdienst für alle „...männlichen und weiblichen Bewohner von Luxemburg zwischen dem vollendeten 17. und vor vollendetem 25. Lebensjahr, die die luxemburgische Staatsangehörigkeit besitzen...“1173 Von zentraler Bedeutung ist die „Verordnung über den Arbeitseinsatz“ vom 11. März 1941,1174 die mit ihren Durchführungsverordnungen ein umfassendes Regime der Zwangsarbeit einführt und die durch die Übernahme des deutschen Notdienstrechts ergänzt wird.1175 Schließlich wird auch die „Meldepflichtverordnung“ und die Verordnung zur Freimachung von Arbeitskräften für den kriegswichtigen Einsatz auf Luxemburg übertragen.1176 Einen ganz besonderen Aufwand zieht die Einführung der deutschen Sozialversicherung in Luxemburg nach sich. Sie erfolgt mit der „Verordnung über die Durchführung der Sozialversicherung in Luxemburg“ vom 30. September 1940.1177 Sie sieht die Übernahme aller Sozialversicherungsgesetze vor und zieht zahlreiche Übergangs- und Anpassungsvorschriften nach sich. Leistungsverbesserungen in der Rentenversicherung und „sozialpolitische Fortschritte“, wie die Krankenversicherung der Rentner, werden übernommen. Die vielgestaltige Organisationsstruktur der „klassischen Sozialversicherung“ wird wesentlich vereinfacht.1178 Mit Wirkung vom 1. Oktober 1940 tritt das antisemitische Kassenarztrecht auch in Luxemburg in Kraft.1179 In Lothringen amtiert seit dem 2. August 1940 der Gauleiter Josef Bürckel als Chef der Zivilverwaltung. Im Rahmen eines umfassenden und rücksichtslosen Eingliederungs-, Germanisierungs- und Nazifizierungsprozesses entfaltet auch seine Administration umfassende sozialpolitische Aktivitäten, die auf eine „Reformulierung“ der NS-Sozialpolitik für die Verhältnisse Lothringens hinauslaufen.1180 So entsteht auf diesem Gebiet eine neue, eine zusätzliche und lokal begrenzte Variante des NS-Sozialstaats als Folge des polykratischen Herrschaftssystems. Der darin eingeschlossene Niedergang der Regelungskompetenz der zentralen Ministerialbürokratie hätte sicher eine noch gewaltigere Aufsplitterung der „sozialpolitischen Materie“ bedingt, wären nicht gemeinsame Überzeugungen, wäre nicht die Vorbildwirkung der Sozialpolitik im „Altreich“, wären nicht kriegsbedingte „Sachzwänge und Sachnotwendigkeiten“ von so überragender Bedeutung gewesen. Als inzwischen geradezu „klassische“ Bestandteile der „Erb- und Rassenpflege“ werden Rechtsvorschriften zur „Neubildung deutschen Bauerntums“, aber nicht zur Schaffung

1173 Vgl. die „Verordnung über die Reichsarbeitsdienstpflicht in Luxemburg“ vom 23. Mai 1941 (VOBl.f.Lux. 1941, 232). 1174 Vgl.: VOBl.f.Lux. 1941, 143. 1175 Vgl. die „Verordnung über das Notdienstrecht in Luxemburg“ vom 30. Mai 1941 (VOBl.f.Lux. 1941, 246); auf die Wiedergabe der Ausführungsvorschriften wird verzichtet. 1176 Vgl. die „Verordnung über kriegswichtigen Kräfteeinsatz“ vom 12. Februar 1943 (VOBl.f.Lux. 1943, 22). 1177 Vgl.: VOBl.f.Lux. 1940, 22. 1178 So wird 1944 von der „Sozialversicherungsanstalt Moselland“ die allgemeine Unfallversicherung, die landwirtschaftliche Unfallversicherung, die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten durchgeführt; vgl. die „14. Verordnung zur Durchführung der Sozialversicherung in Luxemburg“ vom 31. März 1944 (VOBl.f.Lux. 1944, 58). 1179 Vgl. die „Bekanntmachung über das Kassenarztrecht in Luxemburg“ vom 6. Februar 1941 (VOBl.f.Lux. 1941, 99). 1180 Die folgenden Überlegungen basieren auf einer Analyse von rund 160 sozialpolitischen Rechtsquellen.

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von „Erbhöfen“1181, zu den „Ehestandsdarlehen“1182, den Kinderbeihilfen1183, den Ausbildungsbeihilfen1184 mit den regimetypischen „völkisch-politischen“ Kriterien der Inanspruchnahme für Lothringen erlassen.1185 Die Eingriffe in die Arbeitsverfassung sind ebenso tiefgreifend wie bezeichnend. Eine undatierte Bekanntmachung des Oberbefehlshabers der Armee verbietet Streiks und Aussperrungen und unterwirft dieses Gebiet der Kriegsgerichtsbarkeit.1186 Diktatorische Verordnungen sollen die Aufrechterhaltung der Wirtschaft zur „Versorgung der Bevölkerung“ und den „planvollen Wiederaufbau in Lothringen“ sicherstellen.1187 Staatliche Regelungen, die die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen gestalten, ergehen in großer Zahl. Erst in den Jahren 1942 und 1943 werden in Lothringen die „Grundgesetze“ zur Ordnung der Arbeit erlassen. Dies geschieht durch die „Verordnung zur Ordnung der Arbeit in Lotringen“ vom 29. August 1942.1188 Zum Zwecke der „Ordnung der Arbeit in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben“ wird das Reichsrecht durch eine kurze Verordnung vom 22. Februar 1943 für Lothringen in Anwendung gesetzt.1189 Der mörderische „Menschen- und Materialhunger“ des Zweiten Weltkrieges hinterläßt auch in Lothringen seine Spuren. In dichter Folge ergehen arbeitseinsatzpolitische Normierungen. Dabei geht es zunächst um den Aufbau der Arbeitseinsatz- und Treuhänderverwaltung,1190 dann um die Unterstützung der zunächst noch vorhandenen Arbeitslosen und Kurzarbeiter,1191 schließlich um die Registrierung und Verplanung des Arbeitskräftepotentials.1192 Sodann bewegt sich diese Politik in die Richtung eines immer intensiveren Arbeitseinsatzes. Bald schon sollen auf Lothringen übertragene reichsdeutsche Rechtsquellen und überall geltende „Sauckel-Verordnungen“ den „totalen Kriegseinsatz“ der Menschen auch dieses Gebietes erzwingen.

1181 Vgl. die Verordnung vom 11. Februar 1941 im „Verordnungsblatt für Lothringen“ (VBl.f.Lothr.) 1941, 130; zur nicht erfolgenden Übernahme des Erbhofrechts vgl. die Verordnung vom 11. Januar 1943 (VBl.f.Lothr. 1943, 7). 1182 Vgl. die „Anordnung über die Gewährung von Ehestandsdarlehen in Lothringen“ vom 17. März 1941 (VBl.f.Lothr. 1941, 229); vgl. die Durchführungsverordnung ebenda, 230. 1183 Vgl. die „Anordnung über die Gewährung von Kinderbeihilfen an kinderreiche Familien in Lothringen“ vom 17. März 1941 (VBl.f.Lothr. 1941, 233); vgl. die Durchführungsbestimmungen ebenda, 234. 1184 Vgl. die „Anordnung über die Gewährung von Ausbildungsbeihilfen an kinderreiche Familien in Lothringen“ vom 17. März 1941 (VBl.f.Lothr. 1941, 238); die Durchführungsbestimmungen ebenda, 239. 1185 Hier ergeben sich einige Schwierigkeiten wegen der Meinungsverschiedenheiten unter den drei Chefs der Zivilverwaltungen über die Staatsangehörigkeitsfrage, die deshalb erst sehr spät eine abschließende Regelung erfährt. Das Ergebnis der Auseinandersetzungen ist die „Verordnung über die Staatsangehörigkeit im Elsaß, in Lothringen und in Luxemburg“ vom 23. August 1942 (VBl.f.Lothr. 1942, 415). Diese Verordnung bietet durchaus gewisse Spielräume. Zur Entstehungsgeschichte vgl.: Wolfanger, Dieter: Die nationalsozialistische Politik…a.a.O.(=Anm. 1168), 209 ff.; Kettenacker, Lothar: Nationalsozialistische Volkstumspolitik...a.a.O.(=Anm. 1168 ), 232 ff. 1186 Vgl. die „Bekanntmachung für das besetzte Gebiet“ (VBl.f.Lothr. 1940, 3). 1187 Vgl. die Verordnungen vom 23. Juni und 3. Juli 1940 (VBl.f.Lothr. 1940, 8 und 9). 1188 Vgl.: VBl.f.Lothr. 1942, 385; daselbst auch erste Durchführungsverordnungen; vgl. ebenda, 393 und 396. 1189 Vgl.: VBl.f.Lothr. 1943, 52. 1190 Vgl. die „Bekanntmachung über den Aufbau der Arbeitseinsatz- und Treuhänderdienststellen in Lothringen“ vom 8. August 1940 (VBl.f.Lothr. 1940, 21). 1191 Vgl. die „Verordnung über die unterstützende Arbeitslosenhilfe in Lothringen“ vom 23. November 1940 (VBl.f.Lothr. 1940, 256); zur Kurzarbeiterunterstützung die entsprechende Verordnung vom 23. November 1940, ebenda, 257. 1192 Vgl. die „Anordnung über die Einführung des Arbeitsbuches in Lothringen“ vom 20. Oktober 1940 (VBl.f.Lothr. 1940, 177).

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Auf dem Gebiet der Sozialversicherungspolitik ergibt sich sowohl in Lothringen als auch im Elsaß eine Besonderheit. Nach der Abtretung dieser Gebiete an Frankreich durch Bestimmungen des Versailler Vertrages, während der Zeit des „französischen Zwischenregimes“ also, war es aus legitimatorischen Gründen nicht zu einer Abschaffung der vergleichsweise günstigen deutschen Sozialversicherung gekommen. Eine durchaus beabsichtigte Überführung des so entstandenen „elsaß-lothringischen Sondersystems“ auf das allgemeine französische System war ebenso unterblieben, wie eine Teilnahme dieser Sozialversicherung an der deutschen Gesetzgebung seit 1918.1193 Vorläufige Regelungen1194 und Zwischenlösungen münden schließlich in der „Verordnung über die Durchführung der Sozialversicherung in Lothringen“ vom 19. Oktober 1940,1195 die am 1. Januar 1941 in Kraft tritt und die die Rechtsangleichung und die Leistungen auf das aktuelle Niveau der „Reichsversicherung“ mit der Folge teilweise erheblicher Leistungsverbesserungen bringt. Eine weitgehend gleichlautende „Verordnung über die Durchführung der Sozialversicherung im Elsaß“ vom 28. Dezember 19401196 führt dort zu einem ähnlichen Resultat. Der lothringische Gesetzgeber erläßt bis in das Jahr 1944 hinein eine ganze Fülle von Durchführungsverordnungen für die verschiedenen Zweige und Angelegenheiten der Sozialversicherung.1197 Zum Herbst 1944 versiegt die sozialpolitische Rechtsetzung der NSZivilverwaltung in und für Lothringen. Bereits zu dieser Zeit stellen sich unter dem Eindruck des Vorrückens der Westalliierten Merkmale einer „Zusammenbruchsgesellschaft“ ein. Nach dem auf Ende August oder Anfang September datierten Befehl Bürckels an alle „Reichsdeutschen“, das Land sofort zu verlassen,1198 kommt es zu starken unkontrollierten Fluchtbewegungen, zu einem wilden Aktionismus bei verstärktem Widerstand bestimmter Teile der Bevölkerung gegen deutsche Maßnahmen und Kräfte einschließlich der Kollaborateure. Im Elsaß wird der Reichsstatthalter und Gauleiter des Gaues Baden, Robert Wagner, Chef der Zivilverwaltung. Er gilt als „mustergültiger Nationalsozialist“ und „fanatischer Glaubenskämpfer Adolf Hitlers“.1199 Auch er betreibt eine rigorose Einverleibungs- und Angleichungspolitik an die Strukturen des „Altreichs“. Vor diesem Hintergrund und wiederum eingefügt in den Rahmen einer besonders rigiden Eindeutschungs-1200 und rassistischen Germanisierungspolitik erfolgt die Entwicklung der NS-Sozialpolitik im Elsaß. Alle Teilbereiche der Reichssozialpolitik werden in spezifischer Weise auf das Elsaß übertragen. Der Schwerpunkt der sozialpolitischen Normgebung liegt in den Jahren 1941 und 1942, 1193 Vgl. dazu: Rauecker, Bruno: Die Sozialversicherung im Elsaß und in Lothringen 1918 bis 1940. In: Reichsarbeitsblatt. Teil II (1941)1, 13 - 16. 1194 Vgl. die „Vorläufige Anordnung über die Regelung der Sozialversicherung der in Lothringen beschäftigten Personen“ vom 12. August 1940 (VBl.f.Lothr. 1940, 27); für den Steinkohlenbergbau vgl. die Anordnungen vom 29. August 1940 (VBl.f.Lothr. 1940, 60) und vom 1. Oktober 1940 (VBl.f.Lothr. 1940, 74) 1195 Vgl.: VBl.f.Lothr. 1940, 378. 1196 Vgl. das „Verordnungsblatt des Chefs der Zivilverwaltung im Elsaß“ (VOBl.f.El.) 1941, 29; auch hier ergehen zunächst vorläufige Regelungen; vgl.: VOBl.f.El. 1940, 54. 1197 Eine neunte Verordnung trägt das Datum vom 14. Juni 1944 (VBl.f.Lothr. 1944, 41). 1198 Vgl. insgesamt: Wolfanger, Dieter: Die nationalsozialistische Politik…a.a.O.(=Anm. 1168), 251 ff. 1199 Vgl. zu seiner Biographie, Entwicklung und Charakterisierung: Kettenacker, Lothar: Nationalsozialistische Volkstumspolitik…a.a.O.(=Anm. 1168), 67 ff. 1200 Vgl. denselben, ebenda, 163 ff.; die erste Nummer des Verordnungsblatts des Chefs der Zivilverwaltung im Elsaß beinhaltet bereits die „Dritte (!) Anordnung zur Wiedereinführung der Muttersprache“ vom 16. August 1940 (VOBl.f.El. 1940,2); diese Anordnung bestimmt die deutsche Sprache als Amtssprache, verlangt die Eindeutschung der Vornamen und Familiennamen und Firmenbezeichnungen. Die Geschäftskorrespondenz solle in deutscher Sprache erfolgen, ebenso hätten die Inschriften auf Friedhöfen deutsch zu erfolgen.

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danach gehen die sozialpolitischen Aktivitäten stark zurück. Erwähnt wurde bereits die Einführung der „Reichsversicherung“. Von großer Bedeutung ist in den Augen der Machthaber „natürlich“ die Einführung der Arbeitseinsatzpolitik und die staatliche Regelung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen.1201 Diese Maßnahmen zur „Pflege“ des für die militärische Kraftentfaltung des „Dritten Reiches“ unentbehrlichen elsässischen Arbeitskräftepotentials werden früh in Kraft gesetzt und dementsprechend früh wird auch die „Arbeitsmarktfreiheit“ durch die deutschen Stellen aufgehoben.1202 Der Schwerpunkt der Einführung von Maßnahmen der „Bevölkerungspolitik“ bzw. der „Erb- und Rassenpflege“ liegt im Jahr 1941. Das berüchtigte „Sterilisierungsgesetz“ und die daran anschließenden Bestimmungen erlangen erstaunlicherweise erst mit einer Verordnung vom 6. März 1944 im Elsaß Geltung.1203 Zu dieser Zeit häufen sich die Bestimmungen, die disziplinierend und leistungssteigernd wirken oder die, wie die Meldepflichtverordnungen, das Arbeitskräftepotential ausschöpfen helfen sollen.1204 Für das Ende der deutschen Sozialpolitik im Elsaß, für den verordneten „Durchhaltefanatismus“ und die rassenideologische Verbohrtheit des Reichsstatthalters und Gauleiters Robert Wagner steht ein Flugblatt, das er zum Jahreswechsel 1944/45 verteilen lässt, als bereits beinahe das ganze Elsaß bis auf Colmar in der Hand der Alliierten ist. Es fordert zur Pflichterfüllung „für Deutschland“ auf und deklamiert: „Werdet nicht zu Verrätern an Eurem deutschen Blut und Eurer deutschen Herkunft! Helft nicht dem Feinde! Helft Deutschland! Fügt dem Feind Schaden zu, wo ihr könnt!“1205 Eine letzte Gelegenheit zu einem umfassenden „Anbau“ an den „Großdeutschen Sozialstaat“ ergibt sich im Zuge des „Blitzkrieges“ gegen Jugoslawien. Zwischen dem 6. und 10. April 1941 fallen deutsche Truppen gefolgt von italienischen, ungarischen und bulgarischen Verbänden in Jugoslawien ein, das bereits am 17. April 1941 kapituliert.1206 Noch während der Kampfhandlungen gehen „...die Invasoren und ihre Helfer daran, die einzelnen Gebiete und deren Bewohner zu germanisieren, italienisieren, magyarisieren, bulgarisieren, albanisieren und zu kroatisieren.“1207 Schon vor der offiziellen Beendigung des Balkan-Feldzuges werden für die dem Deutschen Reich zugeschlagenen Gebiete Zivilverwaltungen eingesetzt.1208 Mit einem Geheimerlaß des Führers vom 14. April 1941 wird als Chef der Zivilverwaltung für die „besetzten ehemals österreichischen Gebiete der Untersteiermark“ der Reichsstatthalter und Gauleiter der Steiermark Siegfried Uiberreither eingesetzt. Für Kärnten und Krain wird der stellvertretende Gauleiter von Kärnten, Franz Kutschera, durch Geheimerlaß vom gleichen Tag zum Chef der Zivilverwaltung ernannt. Ihm 1201 Dazu ergehen Verordnungen, die gleichzeitig zahlreiche Branchen umfassen; vgl. etwa die „Verordnung über die Regelung der Löhne in der privaten Wirtschaft im Elsass“ vom 7. Oktober 1940 (VOBl.f.El. 1940, 98); eine dritte Verordnung datiert bereits vom 31. Oktober 1940 (ebenda, 257), weitere Rechtsquellen folgen. 1202 Z.B. durch die „Verordnung über die Regelung des Arbeitseinsatzes im Elsass“ vom 20. August 1940 (VOBl.f.El. 1940, 13) sowie die „Verordnung über die Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels“ vom 12. Oktober 1940 (ebenda, 196). Das Arbeitsbuch wird allerdings erst mit einer Verordnung vom 18. Juli 1941 eingeführt (VOBl.f.El. 1941, 483). 1203 Vgl.: VOBl.f.El. 1944, 29. 1204 Schließlich findet sich auch noch die Verordnung zur Bildung des „Deutschen Volkssturms“ ihren Weg in das Verordnungsblatt des Elsaß und macht deutlich, daß dieses „letzte Aufgebot“ auch im Elsaß gestellt werden soll. 1205 Zit. nach: Kettenacker, Lothar: Nationalsozialistische Volkstumspolitik...a.a.O.(=Anm. 1168), 75. 1206 Vgl. die Einführung des Bandes: Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus in Jugoslawien, Griechenland, Albanien, Italien und Ungarn (1941 - 1945). Berlin, Heidelberg 1992, 32. 1207 Ebenda, 45. 1208 Vgl. die Kartenskizze bei: Kroener, Bernhard R., Müller, Rolf-Dieter, Umbreit, Hans (Hg.): Organisation und Mobilisierung...a.a.O.(=Anm. 1150), 160.

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folgt mit Führererlaß vom 23. November 1941 Friedrich Rainer.1209 Da auch diese Gebiete, wie bereits Luxemburg, das Elsaß und Lothringen, nicht formell in das Deutsche Reich eingegliedert werden, spiegelt sich die sozialpolitische Entwicklung nicht im Reichsgesetzblatt, sondern in den Verordnungs- und Amtsblättern der jeweiligen Zivilverwaltung. Die in diesen Gebieten durchgeführten Eindeutschungs- und die rassistischen Germanisierungsmaßnahmen richten sich vor allem gegen die Slowenen.1210 In den „besetzten Gebieten Kärntens und Krains“ liegt der Schwerpunkt der sozialpolitischen Rechtsetzung in den Jahren 1941 und 1942, aber auch das Jahr 1943 kennt noch zahlreiche sozialpolitische Rechtsetzungsakte, danach gehen diese Aktivitäten dramatisch zurück. Der Kern der „erbund rassenpflegerischen“ Maßnahmen wird für „deutsche Volkszugehörige“ bzw. „deutsche Volkszugehörige deutscher Staatsangehörigkeit“ durch eine Verordnung vom 6. Dezember 1942 eingeführt. Die entsprechenden Vorschriften treten zum 1. Januar 1943 in Kraft.1211 Bereits zum 6. Dezember 1942 gelten mit den jeweiligen Durchführungsverordnungen u.a. das „Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“, das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und das „Ehegesundheitsgesetz.“1212 Wie in den anderen de facto aber nicht staatsrechtlich eingegliederten Gebieten werden die Arbeitsund Entlohnungsbedingungen durch spezielle Rechtsquellen, hier durch „Anordnungen“ bzw. „Verordnungen“ des „Chefs der Zivilverwaltung“ Kärntens und Krains geregelt.1213 Auf dem Gebiete der Arbeitslosenunterstützung und des Arbeitseinsatzes werden die Verhältnisse, wie in den anderen besetzten Gebieten auch, nach dem Muster des „Altreichs“ ausgestaltet. Unter erheblichen Schwierigkeiten (fehlende Unterlagen, fehlende Fachkräfte und Mittel) wird in den von Deutschland besetzten Gebieten Jugoslawiens eine deutsche Sozialversicherung aufgebaut. Grundlage ist die „Verordnung zur Regelung der Sozialversicherung in den besetzten Gebieten Kärntens und Krains“ vom 15. Mai 1941.1214 Für die Durchführung der Sozialversicherung wird eine Sozialversicherungskasse (ein Einheitssozialversicherungsträger) in Krainburg (Kranj) errichtet.1215 Eine Fülle von Durchführungsverordnungen erweist sich als notwendig und trägt zu der „stark schillernden Verschiedenheit des Sozialversicherungsrechts“ in den „neu gewonnenen Gebietsteilen“ des „werdenden 1209 Moll, Martin (Bearb.): „Führer-Erlasse“...a.a.O.(=Anm. 1166), 165 f.; 209. 1210 Vgl. die erschreckenden Dokumente bei: Ferenc, Tone (Bearb.): Quellen zur nationalsozialistischen Entnationalisierungspolitik in Slowenien 1941 - 1945. Maribor 1980; sowie den Quellenband: Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus in Jugoslawien...a.a.O.(=Anm. 1206). 1211 Es handelt sich um Verordnungen über Kinderbeihilfen, Ausbildungsbeihilfen und Ehestandsdarlehen; vgl.: Verordnungs- und Amtsblatt des Chefs der Zivilverwaltung in den besetzten Gebieten Kärntens und Krains (VO.u.Amtsbl.K.u.K.) 1942, 228, 229. 1212 Vgl. die „Verordnung über die Einführung von reichsrechtlichen Bestimmungen auf dem Gebiete des Gesundheitswesens in den besetzten Gebieten Kärntens und Krains“ vom 6. Dezember 1942 (VO.-u.Amtsbl.K.u.K. 1942, 238). 1213 Sehr umfassend mit ihren Anlagen die „Anordnung zur Einführung arbeitsrechtlicher Vorschriften in den besetzten Gebieten Kärntens und Krains“ vom 23. Mai 1941 (VO.- u.Amtsbl.K.u.K. 1941, 57); ebenso eine Verordnung vom 19. Dezember 1941 mit entsprechenden Anlagen, sowie weitere Verordnungen mit gleichem Datum (vgl.: VO.- u.Amtsbl.K.u.K. 1942, 5, 31, 34); spätere Verordnungen für bestimmte Branchen sind nachweisbar; zu Sonderregelungen für das „Mießtal“ vgl. die „Verordnung zur Einführung arbeitsrechtlicher Vorschriften für die Privatwirtschaft im Mießtal“ vom 13. Oktober 1942 (VO.- u.Amtsbl.K.u.K. 1942, 180). 1214 Vgl.: VO.- u.Amtsbl.K.u.K. 1941, Nr. 4. 1215 Vgl.: Tropper, Anton: Neuregelungen der Sozialversicherung in den besetzten Gebieten Kärntens und Krains. In: Reichsarbeitsblatt II (1944)7, 52 - 58; Derselbe: Ausbau der Sozialversicherung in den besetzten Gebieten Kärntens und Krains. In: Die Ortskrankenkasse, 29(1942)6, 126 - 128; Hinweise auch bei: Grießmeyer: Die Angestelltenversicherung im werdenden Großdeutschland. In: Reichsarbeitsblatt. Teil II (1942)10/11, 256 - 261.

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Großdeutschland“ bei.1216 Eine „Wende“ in der Sozialversicherungsrechtsentwicklung bei gleichzeitigem Fortbestehen des einheitlichen Sozialversicherungsträgers kündigt sich durch die „Verordnung über die Neuregelung der Sozialversicherung“ vom 6. Dezember 1942 an, die zum 1. Januar 1943 in Kraft tritt.1217 Nach dieser Verordnung gilt das in Kärnten maßgebliche Sozialversicherungsrecht in den besetzten Gebieten Kärntens und Krains sinngemäß. Die „völkische“ Dimension dieser sozialrechtlichen Regelung wird dadurch herausgestellt, daß für die „Schutzangehörigen des Deutschen Reiches“1218 eine „...anderweitige Regelung der Sozialversicherung vorbehalten (bleibt). Bis dahin gilt die Regelung nach dieser Verordnung“ (§ 4). Eine Schrift der DAF vom Dezember 1942 meint, eine Sonderregelung sei nicht getroffen worden, „...da das Schutzangehörigenproblem voraussichtlich durch Umsiedlungen gelöst werden kann.“1219 Diese Formulierung verweist auf die ethnische Gemengelage und auf eine lange Konfliktgeschichte auch in diesem Gebiet. Hier und in der Untersteiermark haben sich namentlich die Kämpfe zwischen Slowenen und Deutschen seit dem Ende des Ersten Weltkrieges dramatisch verschärft und zu einer Zurückdrängung und Abwanderung der Deutschen geführt, ein Prozeß, der nunmehr mit radikalen Mitteln revidiert werden soll.1220 So spricht denn auch der Propaganda-Aufruf des Chefs der Zivilverwaltung in der Untersteiermark an die „Männer und Frauen“ dieses Gebietes von „großem Leid“, einer 23jährigen „jugoslawischen Fremdherrschaft“, von der „Heimholung dieses Gebietes“,1221 das einst „inmitten der innerösterreichischen Länder“ gelegen habe, das jetzt aber die „vorgeschobene südöstliche Spitze“ des „Großdeutschen Reiches“ bilde. Dies sei eine neue „raumpolitische Lage“, die die „Planung und Ordnung des Raumes vor große und zwingende Aufgaben“ stelle.1222 Auf diese Weise den Bezug des Zweiten Weltkrieges zum Ersten und zu den Folgen des Versailler Vertrags herstellend, „verspricht“ er der deutschen Bevölkerung, sie werde als Glied des „Großdeutschen Reiches“, als „...Glied dieser Weltmacht teilhaben an dem größten Aufbauwerk, das die Geschichte kennt.“1223 Was die staatliche Sozialpolitik während des Krieges anbetrifft, ist dieses „Aufbauwerk“ auch in der Untersteiermark wenig „innovativ“ und entspricht den aus den anderen besetzten Gebieten bekannten Grundmustern. Eingebettet in Preisregulierungen, Bewirtschaftungsmaßnahmen und auffallend zahlreiche Bestimmungen zur „Festigung des deutschen Volkstums“, erfolgt auch hier in großer Eile die Ausgestaltung der „Grundlagen der deutschen Volks- und Leistungsgemeinschaft“, der „deutschen Betriebe“ durch staatliche 1216 So die im Grunde auf alle Sozialrechtsgebiete übertragbare Ausdrucksweise bei: Grießmeyer: Die Angestelltenversicherung...a.a.O.(=Anm. 1215), 256. 1217 Vgl.: VO.- u.Amtsbl.K.u.K. 1942, 233; offensichtlich wartet das Reichsarbeitsministerium aber nur darauf, diesem „Modell“ einer einheitlich organisierten Sozialversicherung ein Ende zu bereiten; vgl. den Erlaß IIa 6628/43 vom 9. Juli 1943. In: Reichsarbeitsblatt. Teil II (1943)21, 328. 1218 D.h. vor allem für Slowenen und andere Gruppen, die weder die „deutsche Volkszugehörigkeit“ besitzen noch „deutschen oder artverwandten Blutes“ seien; vgl. die „Verordnung über den Erwerb der Staatsangehörigkeit in den befreiten Gebieten der Untersteiermark, Kärntens und Krains“ vom 14. Oktober 1941 (RGBl. I 1941, 648) 1219 10 Jahre Soziale Sicherung...a.a.O.(=Anm. 635), 25. 1220 Vgl. dazu die Beiträge in dem Band von Heppner, Harald (Hg.): Slowenen und Deutsche im gemeinsamen Raum. Neue Forschungen zu einem komplexen Thema. München 2002; insbes. den Beitrag von Janez Cvirn (S. 111 ff.) und Reinhard Reimann (S. 126 ff.). 1221 Vgl.: „Männer und Frauen der Untersteiermark!“ in: Verordnungs- und Amtsblatt des Chefs der Zivilverwaltung in der Untersteiermark“ (V.u.A.Bl.Un.), Nr. 1. 1222 Vgl. die „Verordnung über Neuordnungsmaßnahmen in der Untersteiermark“ vom 21. Juli 1941 (V.u.A.Bl.Un. 1941, 255 f.) 1223 „Männer und Frauen...a.a.O.(=Anm. 1221).

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Verordnungen.1224 Es finden sich darüber hinaus die Eckpunkte der reichsdeutschen Arbeitseinsatzpolitik einschließlich des Arbeitsbuches in den für dieses Gebiet erlassenen Rechtsnormen.1225 Natürlich ist auch für dieses Gebiet die „Erb- und Rassenpflege“1226 nur im Zusammenhang mit der „Volkstumsfrage“ und der Frage der Regelung der „Staatsangehörigkeit“ zu sehen. Dabei können „fremdblütige Mischlinge ersten Grades (Halbjuden, Halbzigeuner usw.)“ ausnahmsweise als „deutsche Volkszugehörige“ anerkannt werden, wenn sie sich nach dem „Zeugnis“ des Kreisführers des „Steirischen Heimatbundes“ oder des Bezirksführers des „Kärntner Volksbundes“ in der Zeit vor der Errichtung der deutschen Verwaltung „...aktiv unter besonderen Opfern für die deutsche Sache eingesetzt haben.“ Das eröffnet ihnen nach den Buchstaben der Rechtsvorschriften auch den Zugang zu rassenpflegerischen Leistungen. Im Ensemble der untersteiermärkischen Sozialpolitik fehlt schließlich auch die „Reichsversicherung“ nicht.1227 Vor diesem Hintergrund entwickelt sich die Sozialpolitik in der Untersteiermark ähnlich wie in den anderen besetzten Gebieten des deutschen Herrschaftsbereichs, bis ihr die Kriegsniederlage ein Ende setzt.

4.2.6 Die Sozialpolitik des „Fremdarbeitereinsatzes“ Das „Dritte Reich“, das zwischen 1939 und 1945 mit der halben Welt im Krieg liegt, konnte diesen „industrialisierten“ Großkonflikt zweifellos nur führen, „…indem es sich der Ressourcen der sukzessive eroberten oder von ihm anhängigen Länder in Europa bemächtigte; das galt für die Wirtschaftskraft dieser Länder, für ihre Rohstoff-, Devisen- und Goldvorräte, für militärtechnische Ausrüstung - und für Arbeitskräfte.“1228 Die Ausbeutung dieser Ressourcen für Kriegszwecke findet dabei entweder in den eroberten oder abhängig gemachten bzw. verbündeten Ländern statt, oder sie erfolgt, nach der „Verbringung“ dieser Ressourcen, im Reich bzw. an anderen Orten im deutschen Herrschaftsgebiet. Diese Zusammenhänge gelten auch für die Arbeitskräfte und teilweise sind sie bereits im vorigen zur Sprache gebracht und analysiert worden. Hier soll die sozialpolitische „Gestaltung“ des „Ausländer-“ oder „Fremdarbeitereinsatzes“ oder, wie man damals auch schon formuliert, des Einsatzes von „Gastarbeitern“ im „Großdeutschen Reich“ analysiert werden. Die Reihen dieser ausländischen „Zivilarbeiter“ werden damals um Kriegsgefangene ergänzt, die man ebenfalls dem Arbeitseinsatz 1224 Vgl. vor allem die „Verordnung zur Einführung arbeitsrechtlicher Vorschriften in der Untersteiermark“ vom 9. Mai 1941 (V.u.A.Bl.Un.1941, 69) mit zahlreichen Anlagen sowie die „Zweite Verordnung zur Einführung arbeitsrechtlicher Vorschriften in der Untersteiermark“ vom 16. Dezember 1941 (V.u.A.Bl.Un. 1941, 403) ebenfalls mit zahlreichen Anlagen. 1225 Vgl. zum Arbeitsbuch die entsprechende Verordnung vom 7. Oktober 1941 (V.u.A.Bl.Un. 1941, 335); die anderen Rechtsnormen sollen hier nicht verzeichnet werden. 1226 Vgl. dazu vor allem die „Verordnung über die Einführung der Nürnberger Rassengesetze, der Bestimmungen zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes, ferner des Personenstands- und Familienrechtes in der Untersteiermark“ vom 25. März 1942 (V.u.A.Bl.Un. 1942, 534); vgl. auch die Verordnungen über die Ehestandsdarlehen, Kinderbeihilfen, Ausbildungsbeihilfen und zur Förderung der Landbevölkerung in der Untersteiermark, alle vom 4. Juni 1942 (V.u.A.Bl.Un. 1942, 592 ff.). 1227 Vgl. z.B. die „Verordnung über die einstweilige Regelung der Sozialversicherung in der Steiermark“ vom 7. Mai 1941 (V.u.A.Bl.Un. 1941, 33); ausführliche Regelungen finden sich in der „Verordnung über die Regelung der Sozialversicherung“ vom 28. Juli 1942 (V.u.A.Bl.Un. 1942, 635); vgl. insgesamt auch: Die Sozialversicherung in der Untersteiermark. In: Zentralblatt für Reichsversicherung und Reichsversorgung, 14(1943), Nr.7/12, 94. 1228 So die vom Herausgeber verfasste Einleitung in: Herbert, Ulrich (Hg.): Europa und der „Reichseinsatz“ ...a.a.O. (=Anm. 465), 7

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zwangsweise zuführt. Nicht ohne Vorbilder in der Geschichte der Arbeitsmigration, nach einer „Probephase“ des Ausländereinsatzes während des Ersten Weltkrieges,1229 arbeitet schließlich als Folge und Voraussetzung des zerstörerischen Zweiten Weltkrieges ein Millionenheer ausländischer Arbeiterinnen und Arbeiter in Deutschland. Diese sind im Alltag jener Jahre unübersehbar, sie füllen die Lücken, die die Einberufungen zu den gigantischen, die Völker traumatisierenden Feldzügen und die die Kriegsverluste reißen. Sie leben ganz überwiegend in Lagern, die sich in großer Zahl an allen Ecken und Enden Deutschlands finden.1230 Mitte 1939 ist die Zahl der in Deutschland arbeitenden Ausländer noch sehr gering. Meist auf der Grundlage bilateraler Abkommen arbeiten lediglich 37.000 Italiener, 15.000 Jugoslawen, 12.000 Ungarn, 5.000 Bulgaren sowie 4.000 Niederländer in der Landwirtschaft.1231 In der Gesamtwirtschaft sind 301.000 ausländische Zivilarbeiter tätig, das entspricht einem Prozentsatz von 0,8 v.H. aller Beschäftigten.1232 Dieses Bild wandelt sich bereits während der „Blitzkriegsphase“ des Zweiten Weltkrieges. In der Endphase des „totalen Krieges“, im August/September 1944, sind im „Großdeutschen Reich“ 7.906.760 ausländische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene im „Arbeitseinsatz“ tätig. Darunter befinden sich 2.806.203 Millionen Arbeitskräfte aus der Sowjetunion, 1.690.642 aus Polen, 1.246.388 aus Frankreich, 714.685 aus Italien, 313.890 aus dem Protektorat und aus der Slowakei, 254.544 aus den Niederlanden, 249.823 aus Belgien, 187.119 aus Jugoslawien.1233 Um die „Funktionsnotwendigkeit“ dieser Arbeitskräftepolitik zu verstehen, sei daran erinnert, daß zu dieser Zeit auf deutscher Seite rund 13 Millionen Männer unter Waffen stehen und daß bereits beinahe vier Millionen getötete oder schwer verwundete Soldaten zu verzeichnen sind.1234 Die Zahl der insgesamt nach Deutschland verbrachten Arbeitskräfte dürfte sich um die 10 Millionen Menschen bewegt haben. Sie alle leisten Zwangsarbeit, d.h. auch, daß ihr Einfluß auf die Lebens- und Arbeitsumstände im „Reich“ ganz besonders gering ist oder vollkommen fehlt. Dieses Schicksal teilen sie mit den rund 400.000 KZ-Häftlingen, die vor allem in der zweiten Kriegshälfte Zwangsarbeit leisten müssen. Im September 1944 gehören „...etwa 33 % aller in der deutschen Wirtschaft beschäftigten Angestellten und Arbeiter zu den Kategorien ‘ausländische Zivilarbeiter’, ‘Kriegsgefangener’ oder ‘KZ-Häftling’.“1235 Nicht nur die Art der „Gestaltung“ der Lebens- und Arbeitsumstände legt es nahe, von Zwangsarbeit zu sprechen, zu einem erheblichen Teil sind die ausländischen Arbeitskräfte auch unter der Einwirkung von Gewalt und Zwang in das Reichsgebiet gebracht worden. Werbung und Versprechen, die mehr oder weniger freiwillige, häufig auch durch die desolate Arbeitsmarktsituation in den Heimatländern nahe gelegte Arbeitsaufnahme im Reich werden durch Täuschung, Gewalt und Zwang ergänzt oder ersetzt. Derartige Strategien können auch Inhalt des Handelns kollaborierender Behörden und Funktionsträger im Ausland sein. Häufig erweist sich ein „Zusammenspiel“ deutscher und ausländischer Stellen als 1229 Vgl. dazu: Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter...a.a.O. (=Anm. 467), 24 ff.; vgl. auch denselben: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. München 2001, bes. 85 ff. 1230 Zu dieser Thematik ist eine Fülle von Literatur erschienen; den Stand der Forschung bis 1990 analysiert: Ludewig, Hans-Ulrich: Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg: Forschungsstand und Ergebnisse regionaler und lokaler Fallstudien. In: Archiv für Sozialgeschichte, 31(1991), 558 - 577. 1231 Vgl.: Herbert, Ulrich: Geschichte der Ausländerbeschäftigung ...a.a.O. (=Anm. 1229), 121. 1232 Vgl.: Stamp, Friedrich: Zwangsarbeit in der Metallindustrie 1939 - 1945. Berlin 2001, 3. 1233 Vgl. die Statistik bei: Herbert, Ulrich (Hg.): Europa...a.a.O.(=Anm. 465), 8; zu zahlreichen Aspekten und Problemen des Ausländereinsatzes vgl. auch: BA Abt. Potsdam. 62 DAF 1. NS 5 IV. Akte Nr. 194. 1234 Vgl.: Blaich, Fritz: Wirtschaft und Rüstung im „Dritten Reich“. Düsseldorf 1987, 36. 1235 Vgl.: Herbert, Ulrich (Hg.): Europa...a.a.O.(=Anm. 465), 7.

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wichtige Voraussetzung einer „effektiven“ Rekrutierung der ausländischen Arbeitskraft. Regelrechte Menschenjagden und Zwangsaushebungen von Arbeitskräften werden nicht nur in Polen praktiziert.1236 Ganz ähnlich geht es in Rußland zu.1237 Für besonders weitreichende Kollaborationspraktiken auch auf dem Gebiet der Beschaffung von Arbeitskräften stehen die besetzten Niederlande,1238 das Vichy-Regime in Frankreich,1239 und das besetzte Belgien.1240 Aber auch in diesen Staaten wird, neben der Werbung und neben dem Einsatz von Anreizen (etwa der Streichung oder Herabsetzung von Sozialleistungen bei Verweigerung des „Reichseinsatzes“), die Grenze zur Gewalt überschritten, um durch eine immer rücksichtslosere Ressourcenmobilisierung der Kriegsniederlage zu entgehen. Der Arbeitskräftetransfer aus Italien schließlich steht als Beispiel für ein zunächst einvernehmlich geregeltes Verfahren zwischen „befreundeten Nationen.“ Er wird anfangs auch von Teilen der Bevölkerung begrüßt und verspricht eine Lösung des Arbeitslosenproblems in Italien. Diese Situation ändert sich jedoch grundlegend, als im September 1943 nach dem Sturz Benito Mussolinis und dem Waffenstillstand zwischen Italien und den Alliierten die deutsche Besetzung Nord- und Mittelitaliens beginnt. Vor allem die rund 600.000 Angehörigen der italienischen Armee, die als „Militärinternierte“ in den Arbeitseinsatz einbezogen werden, finden sich daraufhin auf der untersten Stufe des „Ausländereinsatzes“ wieder. Erst gegen Kriegsende werden ihre Arbeitsbedingungen etwas verbessert, um die Arbeitsproduktivität zu heben.1241 Es ist nicht möglich, die Arbeits- und Lebensbedingungen der ausländischen Arbeitskräfte auf engem Raum angemessen zu beschreiben. Groß sind die Unterschiede von Branche zu Branche, von Betrieb zu Betrieb, von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle.1242 Die Existenzbedingungen der „Fremdarbeiter“ werden durch ein umfassendes sozialpolitisches Sonderrecht mitgestaltet, das sich ab 1939 entwickelt. In diesem Sonderrecht schlagen sich, wenig überraschend, völkisch-rassistische Anschauungen, politische Stabilisierungsabsichten, Opportunitätsdenken und rüstungsökonomische Gesichtspunkte nieder. Betrachtet man den „Fremdarbeitereinsatz“ von dieser Ebene, so ist einmal zu unterscheiden zwischen den Regelungen für die „normalen“ ausländischen Arbeitskräfte und jenen Normen, die für die Polen, die „Ostarbeiter“ und die sonstigen Arbeitskräfte aus dem Osten gelten. Das sozialpolitische Sonderrecht für die nichtpolnischen und nichtsowjetischen Arbeitskräfte ist im allgemeinen bemüht, eine Annäherung an die für deutsche Arbeitskräfte geltenden Regelungen vorzuschreiben. Von erheblicher Bedeutung sind in diesem Zusam1236 Vgl. dazu auch: Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter...a.a.O.(=Anm. 467), 82 ff.; immer noch sehr lesenswert: Schminck-Gustavus, Christoph U.: Zwangsarbeitsrecht und Faschismus. Zur „Polenpolitik“ im „Dritten Reich“. In: Kritische Justiz, 13(1980)1, 1 - 27; Teil II: 184 - 206. 1237 Vgl. als kurzgefaßten Beitrag die Ausführungen bei: Schiller, Thomas: NS-Propaganda für den „Arbeitseinsatz“. Hamburg 1996, 60 ff. 1238 Vgl. dazu nunmehr: Bornheim, Silvia: Die arbeitsrechtliche Normsetzung des Reichskommissariats in den Niederlanden. Berlin 2002. 1239 Vgl. die Ausführungen bei: Schiller, Thomas: NS-Propaganda...a.a.O.(=Anm. 1237), 51 ff. 1240 Vgl. dazu: Haupt, Mathias Georg: Der ‘Arbeitseinsatz’ der belgischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkrieges. Bonn 1970 (Diss. phil.) 1241 Vgl. dazu etwa: Corni, Gustavo: Die deutsche Arbeitseinsatzpolitik im besetzten Italien 1943 - 1945. In: Overy, Richard J., Otto, Gerhard, Houwink ten Cate, Johannes (Hg.): Die „Neuordnung” Europas. Berlin 1997, 133 - 160. 1242 So sinngemäß auch: Schiller, Thomas: NS-Propaganda...a.a.O.(=Anm. 1237), 65 f.; vgl. als Beispiel für die Vielfalt der Arbeits- und Lebensbedingungen etwa auch die Arbeit von: Bermani, Cesare, Bologna, Sergio, Mantellli, Brunello: Proletarier der „Achse“. Sozialgeschichte der italienischen Fremdarbeit in NS-Deutschland 1937 bis 1943. Berlin 1997.

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menhang die zwischenstaatlichen Vereinbarungen. Diese „Vereinbarungen“, die in großer Zahl bestehen, enthalten Bestimmungen über die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen in Form von „Musterarbeitsverträgen“. Diese werden durch den jeweiligen Unternehmer ergänzt und konkretisiert. Sie bilden auch die Grundlage der Anwerbung der entsprechenden ausländischen Arbeitskräfte. Ähnliche Funktionen erfüllt ein „Vermittlungsauftrag“, der immer dann der Werbung und Zuweisung von ausländischen Arbeitskräften zugrunde gelegt wird, wenn kein „Musterarbeitsvertrag“ besteht. Diese Regelungen sollen vom „Geist der Gleichbehandlung“ getragen sein. Häufig findet sich ein solcher Passus auch in den Staatsverträgen. Dem deutschen Arbeiter müsse aber auch die Gewähr gegeben werden, daß die ausländischen Arbeiter nicht besser behandelt werden als er selbst.1243 Zu den genau geregelten „Gegenständen“ gehören des weiteren ausländerspezifische „Sachverhalte“, wie die Regelung der Kosten der Anreise, Trennungsgeld, Urlaub, Familienheimfahrten, Rückreisekosten, Lohnüberweisungen in die Heimat usw. Die ausländischen Arbeitskräfte unterliegen denselben Beschränkungen des Arbeitsplatzwechsels wie deutsche Beschäftigte, es herrscht auch für sie die Arbeitsbuchpflicht.1244 Während für Polen und „sonstige Arbeitskräfte aus dem Osten“ Sondervorschriften bestehen, sollen die anderen ausländischen Arbeitskräfte grundsätzlich dieselbe Lebensmittelzuteilung bekommen, wie die deutschen Arbeitskräfte. Sie sollen auch an den entsprechenden Schwer-, Schwerst- und Langarbeiterzulagen teilhaben. Ausländerinnen, die auf Grund von Staatsverträgen im Reich beschäftigt werden, unterliegen den Vorschriften des Mutterschutzgesetzes vom 17. Mai 1942. Betreut werden die ausländischen Arbeitskräfte durch das „Amt für Arbeitseinsatz“ der DAF und zusätzlich in bestimmten Fällen auch durch kollaborierende „heimatliche Arbeiterorganisationen“ oder Regierungsvertreter. Für die Landwirtschaft bestehen Sonderregelungen. Tiefes Mißtrauen signalisieren die Bestimmungen, die den Briefverkehr und das Abhören des heimischen Rundfunks reglementieren. Als Zeitungen sind die für das Reich zugelassenen (zensierten) Blätter vorgesehen. Darüber hinaus existieren fremdsprachige „Lagerzeitungen“, die der nationalsozialistischen Propaganda dienen und die den Informationen der „Feindsender“ (vor allem BBC und Radio Moskau), der Flüsterpropaganda und anderen Informationsquellen entgegenwirken sollen.1245 Sauckel gibt im Jahr 1944 den Befehl, aus dem Ausland Bibliotheken „herzuholen“, um die Lagerbewohner mit Lesestoff in ihrer Landessprache zu versorgen.1246 Grundsätzlich unterliegen die bisher angesprochenen „Fremdarbeiter“ den deutschen Sozialversicherungsvorschriften, das betrifft die Beitragspflicht und auch die Leistungen. Das Territorialprinzip und eine Fülle von Sozialversicherungsverträgen und Regelungen für 1243 Vgl.: Schelp: Arbeitsbedingungen der ausländischen Arbeitskräfte. In: Monatshefte für NS-Sozialpolitik, 8(1941), 55 - 61; vgl. insgesamt: Hertel, Philipp: Arbeitseinsatz ausländischer Zivilarbeiter. Stuttgart 1942; das Muster eines „Vermittlungsauftrages“ findet sich auf S. 97. 1244 Vgl.: Hertel, Philipp: Arbeitseinsatz...a.a.O.(=Anm. 1243), 35; Saisonarbeiter erhalten eine „Ersatzkarte“; vgl. auch: Schroeter: Das Arbeitsbuch für Ausländer und die Ausländerhauptkartei. In: Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe,10(1943)9/10, 67 - 69. 1245 Vgl.: Schiller, Thomas: NS-Propaganda...a.a.O.(=Anm. 1237), 133 ff.; vgl. die „Vereinbarung zwischen dem Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz und der Deutschen Arbeitsfront über die Betreuung der fremdvölkischen Arbeitskräfte“ vom 2. Juni 1943. In: Didier, Friedrich (Berab.): Handbuch für die Dienststellen des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz und die interessierten Reichsstellen im Großdeutschen Reich und in den besetzten Gebieten. Band I. Berlin 1944, 174 f.; vgl. zur Rolle der DAF: Die Mitwirkung der DAF. beim Ausländereinsatz - Auftrag und Gestaltung - o.O., o.J. (Berlin 1943). 1246 Vgl. den Beitrag „Keine Stunde versäumen.“ Ausführungen vor den Präsidenten der Gauarbeitsämter (17. Januar 1944, Weimar). In: Didier, Friedrich (Bearb.): Handbuch...a.a.O.(=Anm. 1245), 243 - 248, hier: 248.

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besetzte Gebiete führen zu diesem Ergebnis.1247 Das schließt ein, daß im allgemeinen auch Beitragszeiten erworben werden und für „zurückgebliebene Familienangehörige“ meist auch Familienkrankenhilfe und Familienwochenhilfe gewährt werden muß. Trotz dieser einfachen Grundsätze gibt es Unterschiede zwischen den Nationalitäten, Ausnahmen und zahlreiche komplexe Einzelfragen und -probleme.1248 Es sei „...Aufgabe der Arbeitseinsatzverwaltung, dieses Aktivum der deutschen Sozialpolitik bei der Anwerbung und dem Einsatz der ausländischen Arbeitskräfte gebührend zu verwerten.“1249 Gelten die erwähnten Arbeitskräfte in der verharmlosenden nationalsozialistischen Sicht noch als „Gäste des Deutschen Reiches“, die auch an den „Wohltaten der deutschen Sozialordnung“ teilnehmen sollen,1250 so gilt dies nicht für die meisten der aus Osteuropa stammenden Arbeitskräfte. Ihr Arbeitseinsatz gilt als die „Hereinnahme“ von Menschen „primitiver Art und Rasse“, die zahlreiche „völkische“ und „sicherheitspolitische“ Fragen aufwerfen würde. Lebten diese mit erheblichem Gewalteinsatz rekrutierten, teilweise regelrecht verschleppten Menschen1251 doch, wie Arbeitseinsatzspezialisten warnend feststellen, seit mehr als 20 Jahren unter „bolschewistischem Einfluß“ und seien sie doch im Sinne einer „unerbittlichen Feindschaft“ gegenüber dem deutschen Nationalsozialismus erzogen.1252 Als es schließlich um die Jahreswende 1941/42 zu einem Tauziehen um die genaueren Formen der Sozialpolitik gegenüber den Arbeiterinnen und Arbeitern Osteuropas kommt, ist nicht nur klar, daß es sich um eine „Ausgliederung“ aus der „normalen“ deutschen Sozialordnung handeln soll, es liegen auch schon Modelle für eine entsprechende „Sozialrechtsgestaltung“ vor. Vor allem handelt es sich dabei um das bereits existierende Sonderrecht für polnische Arbeitskräfte, auf das wir bereits im Zusammenhang mit der Ausgestaltung des „Großdeutschen Sozialstaats“ verwiesen haben. Dieses Sonderrecht wäre noch um die „polizeilichen Sondervorschriften“ für Polen zu ergänzen. Diese ergehen in großer Zahl im wesentlichen, aber nicht nur, auf unterer Ebene. Sie beinhalten Meldepflichten, Ausgehverbote, Gaststättenverbote, Kennzeichnungspflichten usw.1253 Auf eine radikale Ausgliederung aus der deutschen „Sozialordnung“ ist bekanntlich auch schon die „Verordnung über die Beschäftigung von Juden“ vom 3. Oktober 1941 mit ihrer Durchführungsverordnung vom 31. Oktober 1941 angelegt. Die geschilderten Vorbehalte werden dabei nicht auf die in Osteuropa siedelnden „Volksdeutschen“ erstreckt, die „...in der Regel nicht in das Reich vermittelt..“ werden1254 und für die gegebenenfalls auch die „normale“ für Deutsche konzipierte Sozialpolitik gilt. 1247 Vgl. ebenda, 39 ff.; grundlegend auch: Bogs, (Walter): Die Sozialversicherung der ausländischen Arbeitskräfte. In: Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe, 11(1944)1/4, 3 - 7. 1248 Vgl. die Hinweise bei: Aye, Hans Adolf: Die Krankenversicherung der ausländischen Arbeitskräfte. In: Zentralblatt für Reichsversicherung und Reichsversorgung, 14(1943)19/24, 168 - 173; Butterweck, Jos.: Die Krankenversicherung der Ausländer. In: Die Innungskrankenkasse, 19(1941)9, 109 - 116; Jaeger, H.: Wochenhilfe an ausländische Arbeitskräfte in Deutschland. In: Blätter für öffentliche Fürsorge und soziale Versicherung, 28(1943)9/10, 27 - 30; Bogs, (Walter): Personenschäden und Unfallversicherung bei ausländischen Arbeitskräften. In: Die Berufsgenossenschaft, 59(1944)5/6, 25 - 28. 1249 Bogs, (Walter): Die Sozialversicherung...a.a.O.(=Anm. 1247), 7. 1250 Vgl.: Küppers, Hans, Bannier, Rudolf: Einsatzbedingungen der Ostarbeiter sowie der sowjetrussischen Kriegsgefangenen. Zweite durchgesehene und ergänzte Auflage. Berlin 1943, 9. 1251 Vgl. dazu: Müller, Rolf-Dieter: Die Rekrutierung sowjetischer Zwangsarbeiter für die deutsche Kriegswirtschaft. In: Herbert, Ulrich (Hg.): Europa...a.a.O.(=Anm. 465), 234 - 250; Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter…a.a.O.(=Anm. 467), 157 ff. 1252 Vgl.: Küppers, Hans, Bannier, Rudolf: Einsatzbedingungen…a.a.O.(=Anm. 1250), 11. 1253 Verzeichnet sind die „Polizeiordnungen“ bei: Hertel, Philipp: Arbeitseinsatz...a.a.O.(=Anm. 1243), 63 ff. 1254 Vgl.: Küppers, Hans, Bannier, Rudolf: Einsatzbedingungen...a.a.O.(=Anm. 1250), 20.

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Auch die „nichtdeutschen Arbeitskräfte aus den ehemaligen Baltenländern“ werden ausgenommen. Sie werden wie „alle sonstigen Ausländer“ behandelt, da sie „...kulturell auf einer wesentlich höheren Stufe stehen als die (Arbeitskräfte, E.R.) aus den Gebieten der Sowjetunion...“1255 Besonderen Regelungen unterliegen auch die „nichtpolnischen und nichtdeutschen Arbeitskräfte“ aus dem Generalgouvernement einschließlich Galizien und aus dem Bezirk Bialystok (z.B. die Ukrainer, Goralen). Für sie gilt das sozialpolitische Sonderrecht für Polen nur vorübergehend. Mit Beginn des Jahres 1943 wird diese Gleichstellung mit den Polen aufgehoben.1256 Alle anderen Arbeitskräfte aus dem Osten werden den massiven rassistischen und politischen Vorbehalten entsprechend behandelt. Zu den ersten Rechtsquellen, die sich auf sie beziehen, zählen die „OstarbeiterErlasse“ vom 20. Februar 1942.1257 Es handelt sich um Erlasse des „Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei“ Heinrich Himmler. Auffanglager, geschlossene Transporte in das Reich, strikte „Absonderung“ von der deutschen Bevölkerung, von den ausländischen Zivilarbeitern und allen Kriegsgefangenen, der Arbeitseinsatz in „geschlossenen Kolonnen“ sollen das Leben der „Ostarbeiter“ im „Dritten Reich“ kennzeichnen. Nur in der Landwirtschaft soll auch ein Einzeleinsatz möglich sein. Als Ideal schwebt dem Erlaßgeber die Einrichtung von „Russenbetrieben“ vor, in denen ausschließlich russische Arbeitskräfte unter deutschen Vorarbeitern beschäftigt werden. Solidaritätsgefühle mit diesen Menschen sollen sich nach Möglichkeit gar nicht erst entwickeln können. Ihre Unterbringung soll in umzäunten, ständig bewachten Lagern erfolgen, in denen auch die gesamte arbeitsfreie Zeit verbracht werden soll. Ein Kontakt zur deutschen Bevölkerung soll vermieden werden. Eine „freie Bewegung in der Öffentlichkeit“ ist, abgesehen vom Weg von und zur Arbeit, untersagt. Sie unterliegen, wie die Polen und Juden, der Kennzeichnungspflicht („Ost“Kennzeichen). Für die „Abwehr der Gefahren“, die der „Sicherheit des Reiches“, der Produktion der deutschen Kriegswirtschaft und dem „deutschen Volkstum“ erwachsen sollen, sind die Staatspolizei(leit)stellen zuständig. Fälle „unerlaubten Geschlechtsverkehrs“ sind „... - wie bei den polnischen Zivilarbeitern - durch staatspolizeiliche Maßnahmen zu ahnden und schwangere weibliche Arbeitskräfte möglichst nach dem Osten abzuschieben.“1258 Die gesammelten Erfahrungen, betriebliche Unzweckmäßigkeiten und die Absicht, „bewährte Arbeitskräfte“ zu belohnen und zu motivieren, führen im Rahmen eines Erlasses vom 9. April 1942 zu gewissen Lockerungen der allzu rigiden Bestimmungen.1259 Schon die Verordnung des „Ministerrats für die Reichsverteidigung“ vom 20. Januar 19421260, die sich an die antisemitische Ausnahmegesetzgebung anlehnt, sieht vor, daß auch die „Ostarbeiter“ und „Ostarbeiterinnen“, die innerhalb des Deutschen Reiches eingesetzt werden, in einem „Beschäftigungsverhältnis eigener Art“ stehen. Dieses auszugestalten, wird der Reichsarbeitsminister ermächtigt. Die „Verordnung über die Einsatzbedingungen der Ostarbeiter“ vom 30. Juni 19421261 faßt die bis zu diesem Zeitpunkt ergangenen „Ar1255 Vgl. dieselben, ebenda, 18. 1256 Vgl. dieselben, ebenda, 20. 1257 Vgl. zu Inhalt und Zustandekommen: Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter...a.a.O.(=Anm. 467), 154 ff. 1258 „Allgemeine Bestimmungen über Anwerbung und Einsatz von Arbeitskräften aus dem Osten. Erlaß des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei“ vom 20. Februar 1942; wiedergegeben nach: Küppers, Hans, Bannier, Rudolf: Einsatzbedingungen...a.a.O.(=Anm. 1250), 105 - 109, hier: 109. 1259 Abgedruckt bei denselben, ebenda, 109 - 111. 1260 Es handelt sich um die „Verordnung über die Besteuerung und die arbeitsrechtliche Behandlung der Arbeitskräfte aus den neu besetzten Ostgebieten (StVAOst)“ vom 20. Januar 1942 (RGBl. I 1942, 41). 1261 Vgl.: RGBl. I 1942, 419.

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beitsrechtsvorschriften“ neu. Diese Verordnung definiert den „Ostarbeiter“ und zieht aus dem „Beschäftigungsverhältnis eigener Art“ den Schluß, daß die deutschen arbeitsrechtlichen und arbeitsschutzrechtlichen Vorschriften auf „Ostarbeiter“ nur insoweit Anwendung finden, „...als dies besonders bestimmt wird.“ Sie schreibt in Form einer „Entgelttabelle für Ostarbeiter“ eine gravierende Lohndiskriminierung für diese immer gewichtiger werdende „Fremdarbeitergruppe“ vor und versucht sie gleichzeitig zu Arbeitswilligkeit und zu Arbeitsleistung anzureizen: „Der Ostarbeiter wird nunmehr damit rechnen können, daß sein Arbeitsentgelt ansteigt, wenn er bessere und größere Leistungen an den Tag legt.“1262 Dabei soll auf jeden Fall ein gehöriger Abstand zu den Löhnen vergleichbarer „deutscher Gefolgschaftsmitglieder“ erhalten bleiben. Dieser Abstand kann sich bei „Arbeitsunwilligkeit“ dramatisch vergrößern. Bestimmte Lohnbestandteile (Zuschläge für Mehrarbeit, Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit z.B.) entfallen nach den Vorschriften der Verordnung vom 30. Juni 1942 vollständig. Urlaub und Familienheimfahrten werden „zunächst“ nicht gewährt. Für „Ostarbeiter“ gelte „...noch mehr als für den Polen der Grundsatz, daß Arbeitsentgelt nur für Arbeitsleistung gezahlt wird.“1263 Die Reglungen des Postverkehrs und des Rundfunkhörens sind so getroffen, daß eine intensive Überwachung möglich ist und das Abhören von „Feindsendern“ weitgehend ausgeschlossen werden kann. Aus der „Betriebsgemeinschaft“ ausgeschlossen, schlecht versorgt und untergebracht, durch Tarifordnungen und Betriebsordnungen nicht direkt erfaßt, vom Arbeitsschutz weitgehend ausgenommen, zur deutschen Arbeitsgerichtsbarkeit nicht zugelassen, gelten für die „Ostarbeiter“ auch die Vorschriften der „Reichsversicherung“ nicht. Statt dessen werden für „Ostarbeiter“ lediglich Bestimmungen über eine „Krankenversorgung“ durch Erlasse des Reichsarbeitsministers von August und September 1942 getroffen.1264 Eine Entgeltfortzahlung für den Fall der Krankheit ist nicht vorgesehen. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, daß die „Ostarbeiter“ eine besonders krankheitsgefährdete Gruppe darstellen (Mangel- und Magenerkrankungen, Tuberkulose, Paratyphus, Fleckfieber), die medizinisch besonders schlecht betreut wird. Insbesondere in der ersten Zeit ihres „Reichseinsatzes“ werden „Ostarbeiterinnen“ bzw. „Ostarbeiter“, sofern sie „transportfähig“ sind, im Falle der Schwangerschaft oder bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit unter entwürdigenden Umständen in ihre häufig durch den Krieg verwüstete Heimat zurücktransportiert, um sie dort ihrem Schicksal zu überlassen. Erst als für den ressourcenverschlingenden Krieg kein unbegrenztes „Menschenmaterial“ mehr zur Verfügung steht, wird diese gewissenlose Praxis eingeschränkt. Es werden z.B. „Entbindungsstätten“ und „AusländerkinderPflegestätten“ eingerichtet. Es handelt sich dabei allerdings um Einrichtungen „einfachster Art“, in denen die Mütter von ihren Kindern getrennt werden und die namentlich „nicht eindeutschungsfähige Kinder“ verkommen und sterben lassen.1265 Mit der lange Zeit praktizierten „Rückverschickung“ kranker oder schwangerer Menschen versiegt auch jeder materielle Rückhalt der Familien der „Ostarbeiter“ in der Heimat. Die Familienunterstützung entfällt (das geschieht übrigens auch bei „unerlaubter Arbeitsaufgabe“ und „Disziplinlosig-

1262 Hertel, Philipp: Arbeitseinsatz...a.a.O.(=Anm. 1243), 67. 1263 Küppers, Hans, Bannier, Rudolf: Einsatzbedingungen...a.a.O.(=Anm. 1250), 45. 1264 Wiedergegeben bei denselben, ebenda, 113 - 115. 1265 Vgl. in diesem Zusammenhang mit weiteren Literaturhinweisen: Danker, Uwe, Grewe, Annette, Köhler, Nils, Lehmann, Sebastian (Hg.): „Wir empfehlen Rückverschickung, da sich der Arbeitseinsatz nicht lohnt.“ Zwangsarbeit und Krankheit in Schleswig-Holstein 1939 - 1945. Bielefeld 2001, zusammenfassend: 316 ff.

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keit“), Lohnüberweisungen oder die Anweisung von Geld aus Ersparnissen hören auf.1266 Diese Folge hat auch der Tod in Deutschland. Eine Verordnung vom 13. Mai 1942 verbietet zudem die Überführung verstorbener „Ostarbeiter“ in ihre Heimat. Sie schreibt eine Beerdigung in Deutschland in „einfachster Form“ und unter Vermeidung „aller nicht unbedingt erforderlichen Nebenkosten“ vor.1267 Der Einsatz der „Ostarbeiterinnen“ geschieht nicht nur im industriell-gewerblichen Bereich oder in der Landwirtschaft. Er erfolgt auch in bestimmten „kinderreichen städtischen und ländlichen Haushaltungen.“ Dabei soll es sich um besonders ausgewählte, gründlich untersuchte, „für den Haushalt unbedenklich geeignete“ Frauen aus dem Osten im Alter zwischen 15 und 35 Jahren handeln. Diese werden im Reich aus der Vielzahl der „Ostarbeiterinnen“ ausgewählt oder sie werden im Rahmen einer „Sonderaktion“ in das Reich verbracht. In den Augen des „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“ bringt dieser Einsatz von Frauen „von kräftiger körperlicher Konstitution“ und einem Erscheinungsbild, das dem deutschen möglichst nahe kommen soll, wiederum spezifische „sicherheitspolizeiliche“ und „volkstumspolitische“ Gefahren mit sich.1268 Streng beaufsichtigt und getrennt untergebracht, sollen diese „Ostarbeiterinnen“ für die „technische Hauhaltsführung“ zuständig sein. Sie sollen ausdrücklich nicht mit Erziehungsaufgaben betreut werden. Die deutsche Hausfrau soll die Verantwortung dafür übernehmen, daß „Schäden für die Familie“ und „das deutsche Volk“ verhindert werden. Eine „Blutmischung“ soll auf jeden Fall vermieden werden. Auf die „Fremdheit“ und die „bolschewistische Erziehung“ dieses Personenkreises wird warnend hingewiesen. Beschäftigt werden sollen diese Kräfte aus dem Osten nur, falls deutsche Hausgehilfinnen nicht oder nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Der Einsatz soll nur in geeigneten, von Dienststellen der NSDAP überprüften Haushalten erfolgen. Für den Fall der Krankheit oder Schwangerschaft ist auch in diesem Zusammenhang der „Abtransport“ vorgesehen.1269 Stehen die „Ostarbeiter“ nach damaliger Auffassung in einem „Beschäftigungsverhältnis eigener Art“ und wird bei den sonstigen ausländischen Zivilarbeitern von einem „arbeitsrechtlichen Vertragsverhältnis“ ausgegangen, so liegt bei den Kriegsgefangenen nach damaliger Auffassung überhaupt kein Vertrags- oder Beschäftigungsverhältnis vor.1270 Arbeit bedeutet für sie die „Ausführung eines militärischen Befehls“, der gegebenenfalls „militärisch disziplinarisch“ durchgesetzt werden kann. Trotz dieser „juristischen Spitzfindigkeiten“ ähnelt die Stellung der Kriegsgefangenen in wichtigen Aspekten dem, was für die „Ostarbeiter“ in Geltung ist. Als „Feinde des deutschen Volkes“ sollen sie nicht zur „Haus- und Hofgemeinschaft“, zu deutschen „Feiern und Festlichkeiten“ gehören. Deutsche Frauen, die in Beziehungen zu Kriegsgefangenen treten, „...schließen sich von selbst aus

1266 Vgl. die Rechtsquellen bei: Küppers, Hans, Bannier, Rudolf: Einsatzbedingungen...a.a.O.(=Anm. 1250), 91 f., 115 ff. 1267 Vgl.: Küppers, Hans, Bannier, Rudolf: Einsatzbedingungen...a.a.O.(=Anm. 1250), 88 f. Die Verrechnung der Beerdigungskosten wird mit dem „Reichsstock für Arbeitseinsatz“ vorgenommen, sofern nicht „Betriebsführer“ kostenersatzpflichtig sind. 1268 Vgl. den Erlaß des „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“ vom 8. September 1942. In: Dieselben, ebenda, 76 ff. 1269 Vgl. das „Merkblatt für Hausfrauen über die Beschäftigung hauswirtschaftlicher Ostarbeiterinnen in städtischen und ländlichen Haushaltungen“. In: Dieselben, ebenda, 81 ff.; vgl. auch: Einsatz hauswirtschaftlicher Ostarbeiterinnen. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, (1942)12, 212 213. 1270 Vgl.: Küppers, Hans, Bannier, Rudolf: Einsatzbedingungen...a.a.O.(=Anm. 1250), 126.

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der Volksgemeinschaft aus und erhalten ihre gerechte Bestrafung.“1271 Lagerunterbringung und strengste Bewachung sind typisch. Auch ihre elenden Lebens-, Arbeits- und Entlohnungsbedingungen1272 sind in Anordnungen und Erlassen des „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“ und des Reichsarbeitsministeriums geregelt.1273 Die Kriegsgefangenen haben Anspruch auf die „zur Erhaltung der Leistungsfähigkeit erforderliche Ruhezeit“, „ihre Arbeitskraft ist auf das schärfste anzuspannen“. Es gilt bei allen Regelungen der Arbeitsverhältnisse der Grundsatz der „Erhaltung der Kriegsgefangenen-Arbeitskraft“ für die Kriegswirtschaft. Im Arbeitseinsatz befindliche Kriegsgefangene, mit Ausnahme der sowjetischen, sollen gegen Unfall versichert werden.1274 Dies ist ein Hinweis darauf, daß auch unter den Kriegsgefangenen eine Hierarchisierung nach politisch-rassistischen Kriterien durchgesetzt wird. Bekanntlich werden auch diese „Maßstäbe“ des Umgangs mit Menschen unterboten durch die Regelungen des Zwangsarbeitseinsatzes der KZ-Häftlinge. Dieser nimmt ab 1942 einen bedeutenden Umfang an. Bei diesem Arbeitseinsatz wird die „Leitlinie“ einer „Erhaltung der Arbeitskraft“, die schon im Arbeitsalltag der Kriegsgefangenen häufig verletzt wird, systematisch zugunsten einer „Vernichtung durch Arbeit“ durchbrochen.1275 Bereits bis zum Ende des Jahres 1942 hat das NS-Regime zahlreiche Mittel und Wege erprobt, die das Ziel haben, die schlechte Arbeitsproduktivität zu heben, die „Arbeitsbummelei“, den „Arbeitsvertragsbruch“ und Formen des Widerstands von „Fremdarbeitern“ zu bekämpfen. Ab 1943 sieht sich das Regime gezwungen, seine Haltung insbesondere gegenüber den „Ostarbeitern“ in wesentlichen Punkten grundsätzlich zu ändern. In einer Situation, in der es, in den Worten der Propaganda, mehr denn je darauf ankommt, daß „eiserne Disziplin“, „unbedingter Gehorsam“, „Treue“ und „absolute Pflichterfüllung“ herrschen, in der das unerbittliche Gebot „Tempo, Tempo, Tempo - Leistung, Leistung, Leistung!“1276 angesichts eines „Weltkampfes“ um „Leben und Tod“ gelten soll, erweisen sich insbesondere auch die rassistisch-politisch motivierten Diskriminierungen als große Gefahr für die Produktivität der Kriegswirtschaft. Mit dieser Produktivität jedoch steht und fällt die Zukunft des braunen Herrschaftsystems angesichts eines an „Zahl und Material unerhört überlegenen“ Gegners.1277 Vor dem Hintergrund dieser Diagnose sehen sich die Machthaber 1271 „Verhalten gegenüber Kriegsgefangenen“. Runderlaß des GBA. vom 26. August 1942 - IIIb 17821 - . In: Ebenda, 148. 1272 Für Kriegsgefangene sind 60% des Tariflohnes gleichartiger deutscher Arbeiter vorgesehen. Zusammen mit Akkord- und Leistungszulagen können 80 % erreicht werden. Davon werden die Lagerkosten, die Verpflegungskosten usw. abgezogen. Der verbleibende Rest wird „gutgeschrieben“ oder in Form eines „Lagergeldes“ ausgezahlt. Für sowjetische Kriegsgefangene ist eine Auszahlung zunächst überhaupt nicht vorgesehen. Schließlich wird angeordnet, daß sowjetische Kriegsgefangene im Arbeitseinsatz 20 Reichspfennig netto arbeitstäglich erhalten können; vgl. dieselben, ebenda, 138. 1273 Grundlegend ist das internationale Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen vom 27. Juli 1929 (RGBl. II 1934, 207). Zahlreiche Details finden sich in einem Erlaß des Reichsarbeitsministeriums vom 7. April 1942, dem ein umfangreiches Merkblatt beigefügt ist; vgl. die Wiedergaben bei denselben, ebenda, 149 ff. 1274 So zumindest das bereits erwähnte Merkblatt; vgl. ebenda, 151. 1275 Vgl. exemplarisch: Kaienburg, Hermann: „Vernichtung durch Arbeit“. Der Fall Neuengamme. Bonn 1990; zahlreiche Hinweise und Untersuchungsergebnisse auch bei: Naasner, Walter: Neue Machtzentren…a.a.O.(=Anm. 816), 234 ff. 1276 So die „Parole“ des „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“ zur Jahreswende 1943/44; vgl. seinen Aufruf zur Jahreswende 1943/44 in: Didier, Friedrich (Bearb.): Handbuch für die Dienststellen…a.a.O(=Anm. 1245), 199f. 1277 Vgl. zu diesen „Einsichten“, die nur allzu deutlich die kommende Niederlage signalisieren, die „Allgemeinen Grundsätze des GBA. Das Programm herausgegeben am Geburtstag des Führers 1942“. In: Ebenda, 27 - 39, hier: 27.

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nunmehr auch in starkem Maße vom „guten Willen“ und der Arbeitskraft jener „Rassen“ abhängig, die sie zu vernichten oder zu diskriminieren angetreten waren. Die Leistungsfähigkeit, der „richtige Einsatz der Fremdarbeiter“, „ausreichendes Essen“, „einwandfreie Unterbringung“ und „Lohngerechtigkeit“ werden „plötzlich“ zu wichtigen Themen und sie werden auf die „Ostarbeiter“ bezogen. Auch für „Russenlager“, heißt es, müßten auf das „allersorgfältigste die Grundsätze deutscher Sauberkeit, Ordnung und Hygiene Geltung haben.“1278 In dieser Zwangslage setzt das Regime seine „anreizenden“ und repressiven Strategien im Ausländereinsatz fort und beginnt sie zu modifizieren. Gleichzeitig werden die Anstrengungen der Rekrutierung weiterer einheimischer Kräfte vertieft.1279 Auf dem Gebiet der Beschäftigung von „Ostarbeitern“ besteht die Modifikation der Politik darin, daß nunmehr alle spezifischen schweren Diskriminierungen als abträglich für die „Erringung des Endsieges“ schrittweise aufgehoben werden. Bereits mit einer Verordnung vom 30. März 19431280 werden den „Ostarbeitern“ Leistungen der Unfallversicherung in Aussicht gestellt, auf die aber kein Rechtsanspruch besteht. Verordnungen vom 5. April 19431281 und vom 23. Juli 19431282 schwächen Lohndiskriminierungen ab und beinhalten Leistungsanreize. Die „Verordnung über die Einsatzbedingungen der Ostarbeiter“ vom 25. März 19441283 definiert noch einmal den Begriff des „Ostarbeiters“, gewährt ihnen u.a. Lohnzahlungen an „nationalen Feiertagen des deutschen Volkes“, hebt wesentliche steuerliche Diskriminierungen auf, erlaubt verzinsliches Sparen und bestimmt, daß „Ostarbeiter“ Sozialversicherungsbeiträge zu entrichten haben. Der Reichsarbeitsminister bestimme „...das Nähere über die Sozialversicherung der Ostarbeiter, insbesondere über die zu gewährenden Leistungen.“ Durch eine Polizeiverordnung des Reichsministers des Innern vom 19. Juni 19441284 werden die im Reich eingesetzten „Ostarbeiter und -arbeiterinnen“ in die Nähe „ihrer Brüder, Väter und Söhne“ gerückt, die mit der Waffe in der Hand „...an der Seite Deutschlands kämpfen.“1285 Die „Ostarbeiter und -arbeiterinnen“ hätten als Arbeitskräfte durch ihre Haltung und Leistung „...ihre Bereitwilligkeit zur Mitarbeit im Kampf gegen die jüdisch-bolschewistische Weltgefahr bewiesen.“ Als „Anerkennung“ sollen diese Arbeitskräfte nun besondere „Volkstumsabzeichen“ bekommen und „stets sichtbar“ tragen. Den Gipfel- und Endpunkt dieser Entwicklung stellt eine bemerkenswerte Verordnung vom 13. März 1945 dar.1286 1278 Vgl. ebenda, 38; vgl. etwa auch: Arbeitseignung und Leistungsfähigkeit der Ostarbeiter. In: Die Deutsche Sozialpolitik, 3(1944), 33 - 35; Setzt den Ostarbeiter richtig ein! In: Die Sächsische Wirtschaft, (1943)22, 213. 1279 Zu erwähnen sind z.B. der „totale Kriegseinsatz“ der Schüler und Schülerinnen der 8. Klasse der „Höheren Lehranstalten“ vom 5. September 1944 (Runderlasse für die Arbeitseinsatz-, Reichstreuhänder- und Gewerbeaufsichtsverwaltung (Rderl.), Ausgabe B, 474 (Erl.Nr. 893/44)), der „Aufruf zum freiwilligen Ehrendienst“ aller noch nicht erfaßten Menschen vom 17. Februar 1944 (vgl.: Didier, Friedrich (Bearb.): Handbuch...a.a.O.(=Anm. 1245), 203 sowie der Arbeitseinsatz der noch nicht ermordeten Juden gegen Ende des Zweiten Weltkrieges; vgl.: Herbert, Ulrich (Hg.): Europa...a.a.O.(=Anm. 465), 13. 1280 Vgl. die „Verordnung über die Unfallversicherung der Ostarbeiter“ vom 30. März 1943 (RGBl. I 1943, 165) 1281 Vgl.: RGBl. I 1943, 181. 1282 Vgl. die „Verordnung über die Gewährung von Prämien an Ostarbeiter“ (RGBl. I 1943, 451). 1283 Vgl.: RGBl. I 1944, 68. 1284 Vgl.: RGBl. I 1944, 147. 1285 Soweit solche „europäischen Mittäter“ als „deutschstämmig“ klassifiziert werden, erwerben sie mit dem Eintritt in die deutsche Wehrmacht, die Waffen-SS, die deutsche Polizei oder die Organisation Todt die deutsche Staatsangehörigkeit, was nicht nur von sozialpolitischem Vorteil sein kann; vgl. den Führererlaß vom 19. Mai 1943 (RGBl. I 1943, 315). 1286 Vgl. die „Verordnung über Aufhebung der arbeitsrechtlichen, steuerrechtlichen und sozialversicherungsrechtlichen Sondervorschriften für Ostarbeiter“ vom 13. März 1945 (RGBl. I 1945, 39).

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Diese hebt „in Anerkennung der guten Arbeitsleistungen und der Haltung und Bewährung der im Reich eingesetzten Ostarbeiter, insbesondere auch in der letzten Zeit“ die arbeitsrechtlichen, steuerrechtlichen und sozialversicherungsrechtlichen „Sondervorschriften“ auf und stellt sie nunmehr den übrigen ausländischen Arbeitskräften gleich. Diese unaufrichtige „Lobhudelei“ hat den „Ostarbeitern“ mittelfristig vermutlich geschadet. Die nach der Zerschlagung des NS-Herrschaftssystems zu „Displaced Persons“ werdenden „Ostarbeiter“ werden z. B. in der Sowjetunion, in die sie bald in großer Zahl zurückkehren, als „Kollaborateure“ betrachtet und behandelt. Angesichts der zerrütteten Währung, einer desolaten Versorgungs- und Lebenssituation haben diese Maßnahmen wohl nicht mehr viel bewirken können. „Fremdarbeiter“ müssen bis in die chaotischen Tage des Kriegsendes hinein, als es aus ihren Reihen heraus zu örtlichen Übergriffen und Racheakten kommt, um ihr Leben fürchten und viele fallen noch in den letzten Wochen und Tagen des Krieges den Gewaltaktionen von Nazis zum Opfer. Auch noch eine andere rassistisch motivierte „Rücksichtnahme“ kommt unter dem Eindruck des „totalen Krieges“ und der absehbaren Niederlage an ihr Ende: Hitlers Rücksichtnahme auf die „deutsche Frau“. Am letzten Tag des Februars 1945 genehmigt er sogar die Aufstellung eines bewaffneten Frauenbataillons. Im März 1945 kommentiert Hitler während einer „Mittagslage“: „Ob Mädchen oder Frauen, ist ganz wurscht: Eingesetzt muß alles werden.“1287 Am 19. März 1945 zeigt der „Führer-Erlaß“ über Zerstörungsmaßnahmen im Reichsgebiet (sog. Nerobefehl) „unfreiwillig“, daß die Truppen der Anti-Hitler-Koalition unerbittlich in das Reich vordringen und daß die Zeit der NS-Herrschaft endgültig ihrem Ende entgegengeht. Bei der Inbesitznahme des Führerbunkers durch die Alliierten in Berlin wird eine nur für den internen Gebrauch bestimmte deutsche Denkschrift gefunden, die sich mit dem Beveridge-Plan befaßt. Sie qualifiziert die von Beveridge skizzierte Sozialpolitik als „...der geltenden deutschen Sozialversicherung nahezu in allen Punkten überlegen...“1288 Sie zeigt noch einmal, wie stark diese „verlockende“ sozialpolitische Initiative eines Kriegsgegners die herrschenden Kreise des „Dritten Reiches“ herausgefordert hat. Die mit den siegreichen Truppen in das Reich kommenden auf sozialpolitische Fragen spezialisierten Verwaltungsfachleute für eine zu errichtende Militäradministration erweisen sich, zumindest was die Amerikaner angeht, als wohlinformiert über die fatale Geschichte des deutschen Sozialstaats seit 1933. Die Amerikaner stützen sich u.a. auf ein „Basic Handbook“, welches das Datum „Mai 1945“ trägt und vermutlich unter Mitwirkung deutscher Emigranten verfasst wurde.1289 Hinzu kommen „Civil Affairs Guides“, die sich mit Einzelgebieten beschäftigen und aus dem Jahre 1944 datieren. Im „Basic Handbook“ ist zu lesen: „To see the Nazi social security system in the proper light, one must bear in mind that, overlying all the social, economic and geographical groups for which the Träger are responsible, there is the Nazi grouping according to ‘genetic value’. Anti-Semitic legislation is only one part of a general system of racial and genetic discrimination. This system is essentially an attempt to apply ‘scientific’ biological principles to human society, without any restraints of humanitarianism, Christian morality or democracy. The aim of the system is to improve the race by ‘scientific’ breeding, encouraging the survival of the ‘fittest’ and 1287 Zitiert: Gersdorff, Ursula von: Frauen...a.a.O.(=Anm. 829), 72. 1288 Vgl. die Wiedergabe des Dokuments bei: Guinand, Cҿdric: Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und die soziale Sicherheit in Europa (1942 - 1969). Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt a.M., New York, Wien 2003, 62. 1289 Germany: Basic Handbook. Part II. Annexe VIII. Social Security. RG 260. OMGUS. OMGBS Manpower Br. 4/27 - 3/6.

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eliminating the ‘unfit’. These ideas were very much stimulated by the critical position of the social services in Germany and Austria after the last war, and particularly after the outbreak of the world economic crisis in 1929.”1290 Damit ist ein ganz zentraler Aspekt der nun anstehenden Neuordnung der staatlichen Sozialpolitik bereits bezeichnet. An dieser Neuordnung selbst haben zahlreiche Experten und Interessenten teil, die kurz zuvor noch dem sozialpolitischen Unrechtssystem gedient und an der „Kriminalgeschichte“ der staatlichen Sozialpolitik, mit welcher inneren Einstellung auch immer, mitgewirkt haben.

1290 Ebenda, 14 f.

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5 Rückblick und Ausdeutung 5.1 Rückblick und Ausdeutung

So steht am Anfang und am Ende dieses zweiten Bandes zur deutschen Sozialstaatsgeschichte eine Nachkriegszeit und -situation. Dazwischen liegen katastrophale und höchst fragwürdige sozialökonomische „Wechsellagen“: Inflation, Stabilisierung, Weltwirtschaftskrise, ein Wirtschaftsaufschwung im Zeichen eines „Rüstungskeynesianismus“, eine „boomende“, Tod und Verderben produzierende Kriegswirtschaft, der ökonomische Zusammenbruch als Folge der herannahenden Niederlage. Eingebunden in diese Fundamentalprozesse wechseln die Herrschaftsformen. Vor der Geräuschkulisse revolutionärer Unruhen entsteht die in weiten Kreisen ungeliebte, bekämpfte und gefährdete Demokratie. Verknüpft mit den sozialökonomischen Fundamentalprozessen findet sie ihr Ende in den Präsidialdiktaturen auf die sodann die NS-Diktatur folgt, die selbst wiederum ihre spezifischen Entwicklungsphasen durchläuft und die erst mit dem militärischen Sieg der Anti-HitlerKoalition und der Besetzung des deutschen Territoriums ihr Ende findet. Das leitet schließlich zu jener zweiten Nachkriegszeit über, deren Darstellung und Analyse nicht mehr Gegenstand dieses Bandes sein kann. In diese Entwicklung eingebunden, läßt sich der Aufstieg und Niedergang zweier Formen der staatlichen Sozialpolitik beobachten und analysieren. Es entsteht und vergeht der „demokratische Sozialstaat“ der Weimarer Republik und der „völkische Sozialstaat“ der NS-Diktatur. Beide Sozialstaatstypen entstehen in dramatischen gesellschaftlichen und politischen „Umbruchsituationen“. Sie beginnen ihre historische Existenz jedoch nicht ohne historischen „Vorlauf“, seien das nun Ideen oder relativ „binnenrationale“ weltanschauliche „Großkonzepte“, in der Vergangenheit gescheiterte Vorstöße und sie begleitende Diskussionen oder bereits bestehende „Vorstufen“ oder Vorbilder, die stilbildend wirken. Gewisse Bestände aus dem Repertoire der bereits bestehenden sozialstaatlichen Instrumente werden, wenn es ihnen an politischer Unterstützung nicht fehlt, „fortgeschleppt“ und dabei im Mahlstrom der Geschichte einem Wandel unterworfen. Vor dem Hintergrund revolutionärer Unruhen entstanden, erweist sich der „demokratische Sozialstaat“ der Weimarer Republik als besonders „pfadabhängig“1 und realisiert als Ergebnis konflikthafter und vielgestaltiger Auseinandersetzungsprozesse Ansätze aus dem sozialpolitischen Diskussions- und Formenschatzes des Kaiserreichs unter besonderen, die Gegenkräfte schwächenden sozialen und politischen Kräfteverhältnissen. Er erweist sich auch in seinem Fortbestand als abhängig von ganz spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen, Kräften und von der demokratischen Regierungsform. Traditionelle Mittel, die zur Lösung der „sozialen Frage“ im Sinne der „Arbeiterfrage“ bereits „ersonnen“ und im Rahmen der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“ realisiert und ausgestaltet wurden, werden in die Republik übernommen und im Sinne einer gleichberechtigten Mitbeteiligung der organisierten „Klassenkräfte“ demokratisiert. Die Sozialversicherungen und der Arbeiter- bzw. Arbeitsschutz gehören in diesen Zusammenhang. Andere sozialpolitische Mittel des Kaiser1 So der entsprechende Begriff aus der ökonomischen Forschung; vgl. als neueren Beitrag etwa: Schreyögg, Jonas, Farhauer, Oliver: Die Reformfähigkeit der Sozialpolitik in Deutschland aus der Sicht der ökonomischen Theorie der Pfadabhängigkeit. In: Sozialer Fortschritt, 53(2004)10, 247 - 253.

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reichs erfahren einen erheblichen „Entwicklungsschub.“ Aus Gerichtsinstitutionen, deren Zuständigkeit sich auch auf die Schlichtung von Streitigkeiten gewerblicher Art erstreckte, werden Vorläufer der Arbeitsgerichtsbarkeit und Schlichtung. Aus dem durch Gesetze noch nicht ausgestalteten Tarifvertragsgeschehen entwickeln sich Kernbestandteile des Weimarer Arbeitsrechts. Anfänge einer Betriebsverfassung werden Grundlage und Vorbild der Betriebsräte. Jahrzehnte diskutierte Fragen der Arbeitslosenunterstützung und vielgestaltiges Experimentieren mit Unterstützungs- und Arbeitslosenvermittlungsformen bilden den historischen Hintergrund der Entstehung der Arbeitslosenversicherung und Arbeitsvermittlung in der Weimarer Republik. Im Grunde wird das Programm der Gewerkschaften und der Sozialreformbewegung des Kaiserreichs in einer Zeit der Verarmung, der vorübergehenden Schwächung der Machtposition des Bürgertums und der haßerfüllten Verschärfung der Klassengegensätze auf spezifische Weise auf dem Boden der herrschenden Wirtschaftordnung vollendet, während die revolutionären Unruhen zeigen, daß ein Teil der enttäuschten und verbitterten „Massen“ den Boden des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft grundsätzlich verlassen möchte. Den Leitstern dieses Strebens bilden in erster Linie vielgestaltige Räte-, Sozialismus- und Sozialisierungsvorstellungen, aber auch die Idee der „Diktatur des Proletariats“ und das Beispiel „Sowjetrußland.“ Der Sozialstaatsumbau erfolgt in großem Umfang in Gestaltungsformen, die schon dem Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommen vom 15. November 1918 zugrunde liegen. Dieses umstrittene Abkommen verbürgt zunächst die wechselseitige Anerkennung der Verbände von Arbeit und Kapital und ihre Beteiligung an den Institutionen des auf diese Weise demokratisierten Sozialstaats. Diesem Muster folgt die Rechtsetzung der jungen Republik. Auf dem Gebiet der Ausgestaltung und des Wandels der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen, gegebenenfalls auch darüber hinaus reichender Fragen, sind die Verbände von Arbeit und Kapital prinzipiell zum Hauptträger der sozialpolitischen Dynamik geworden. Das alles geschieht vor allem auch mit dem Ziel der Herstellung gesellschaftlicher Stabilität, der Herrschaftssicherung angesichts der Gefahren einer Revolution. Diese Furcht bewegt schon im Ersten Weltkrieg die Innen- und Sozialpolitik des seinem Niedergang entgegensehenden kaiserlichen Regimes und sie ist ein wichtiges Grundmotiv der Herausbildung von Sozialpolitik seit „Anbeginn“. Es geht im Rahmen der „demokratischen Sozialpolitik“ bekanntlich nicht darum, daß sich die „Arbeiterklasse“ an die Stelle der alten „Beherrscher“ der Ökonomie setzen möchte. Derartige Absichten liegen den Ideen einer rein „proletarischen Sozialpolitik“ im Rahmen einer „Diktatur des Proletariats“ in einem „Sowjetdeutschland“ oder einer Strategie der durchgreifenden Sozialisierung zugrunde. Diese Auffassungen beinhalten sozusagen eine Fortsetzung und Radikalisierung der gesellschafts- und sozialpolitischen Auffassungen der „Vorkriegslinken“ und erkennbar auch eine Orientierung am sowjetischen Modell. Bedenkt man das Geflecht der Abhängigkeiten, denen die „demokratische Sozialpolitik“ der Weimarer Republik unterworfen ist, so wird deutlich, daß sozialökonomische „Wechsellagen“ und daß der „Wandel“ der Staatsform für sie eine drohende Gefahr darstellen muß. Die Inflation zerstört die Wirkung und Wirksamkeit aller Geldleistungsgesetze, stellt auch den Sinn von Tarifverhandlungen und Tarifverträgen in Frage. Die in alle Gesellschaftsbereiche ausstrahlende Weltwirtschaftskrise mit ihren dramatischen sozialen Folgen zerstört die schützende Funktion des Sozialstaats in einer Situation, in der sie dringend gebraucht worden wäre und diskreditiert die demokratischen Kräfte. Die große Krise zu Beginn der 30er Jahre bietet dem Beobachter vorübereilender Zeiten zudem das „Schauspiel“ einer als Sachzwang und

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als richtig und zukunftsweisend angepriesenen, in Wirklichkeit aber prozyklisch und krisenverschärfend wirkenden Fiskal-, Preis-, Lohn- und Sozialpolitik. Diese Politik verbindet sich mit dem Namen des Reichskanzlers Brüning. Sein Name steht zugleich für den Übergang zur Diktatur, für einen Bruch mit den bisherigen „Mustern“ der sozialpolitischen Interessendurchsetzung und -berücksichtigung. Eine endgültige Erosion der Macht linksgerichteter und demokratischer Kräfte ist die Folge. Damit werden die Kräfte geschwächt, die die „demokratische Sozialpolitik“ hervorgebracht und stabilisiert haben. Der machtpolitische Rückhalt der „demokratischen Sozialpolitik“ schwindet zusammen mit den Ressourcen und Mechanismen der Fortführung einer solchen Politik. Im Zuge dieser Entwicklung drängen antidemokratische Kräfte zur Macht, die in besonderer Weise vom Ersten Weltkrieg und der daraus resultierenden folgenreichen Niederlage geprägt sind und auf eine Revision seiner Ergebnisse sinnen. Da zweifellos auch alles, was durch oder unter der „Oberherrschaft“ des Nationalsozialismus an (Un-)Taten und Verbrechen zum Durchbruch gelangt, zumindest einer „ideellen“ Vorbereitung bedarf, erweist sich ein Blick in das nationale und „völkische“ Ideenreservoir, in das Brodeln mehr oder weniger unausgegorener und teilweise auch widersprüchlicher Ideen als notwendig, um die Gestalt des „völkischen Sozialstaats“, der auf den „demokratischen Sozialstaat“ der Weimarer Republik folgt, besser erklären zu können. Im Unterschied zum „demokratischen Sozialstaat“ hat der „völkische“ weniger einen realen als vielmehr einen „ideellen“ Vorlauf. Vor allem rückblickend wären in diesen „Vorlauf“ noch zahlreiche weitere Aspekte des „Geisteslebens“ vor 1933 einzubeziehen. Der unbedingte Wille sich die Gebiete, die einst zum Deutschen Reich gehörten, wieder einzuverleiben, verweist auf das fortdauernde Verlangen eines traumatisierten Nationalismus die Bestimmungen der Pariser Vorortverträge notfalls mit Waffengewalt zu revidieren. Das sozialpolitische Handeln im Osten verweist zusätzlich auf alldeutsche Ideen des Kaiserreichs, auf „Träume“ der Ostlandkolonisierung. Hierin eingeschlossen waren schon Ideen der „Evakuierung“ fremder Bevölkerung, der völligen Umgestaltung solcher Gebiete zur Vermeidung destabilisierender ethnischer Inhomogenität. Das sozialpolitische Handeln im „Osten“ während des Zweiten Weltkrieges verweist vor allem auf den Ersten Weltkrieg, der auch im Osten geführt wurde und der den Eroberungs- und Kolonisierungsideen vorübergehend Raum und Bestand zu geben schien. Schließlich läßt die wie selbstverständlich praktizierte „Erfindung“ von (Sozial-)Rechtssystemen in Abhängigkeit von einer „Rassenzugehörigkeit“ an internationale und deutsche kolonialistische Vorläufer und Vorgänge denken.2 Manche der sozialpolitisch bedeutsamen Ideologien im Deutschland vor 1933 stehen, wenn man den internationalen Kontext analysiert, nicht allein. Manche Praktiken laufen beispielgebend den Entwicklungen in Deutschland voraus. Das gilt auch für die Strategie der Zwangshomogenisierung des Nationalstaats. Zwangsumsiedelungen, ethnische Säuberungen als „Allheilmittel“ für die Gebrechen einer labilen Staatlichkeit sind spätestens seit dem „Bevölkerungsaustausch“ zwischen Griechenland und der Türkei in den 20er Jahren „Gemeinplatz“ der Weltkriegsepoche. Vom „nationalen Deutschland“ der Weimarer Republik wird der herrschaftstrategische auf „Klassenkooperation“ gerichtete Ansatz der Weimarer Sozialpolitik vehement abgelehnt. Die Idee des Zusammenbringens der Vertreter der Verbände von Arbeit und Kapital, der kollektiven Gestaltung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen und anderer Fragen 2 Vgl. dazu mit weiterführender Literatur: Zimmerer, Jürgen: Die Geburt des „Ostlandes“ aus dem Geiste des Kolonialismus. In: Sozial.Geschichte, 19(2004)1, 10-73.

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des Arbeitslebens zur Integration und Stabilisierung der Gesellschaftsentwicklung gilt als verfehlt. Die Entwicklung einer Sozialrechtsordnung, die die drei großen Gewerkschaftsrichtungen als „Vereinigungen“ qualifiziert und diese, wie auch die „Vereinigungen von Arbeitgebern“, mit Regulierungsaufgaben betreut, gilt als Förderung oder „unverantwortliche Prämierung des Klassenkampfes“. Die im rechten weltanschaulichen Spektrum siedelnden Kräfte vertreten die Auffassung von der Schädlichkeit der Arbeiterbewegung für die wirtschaftliche Entwicklung. Sie sehen in ihr auch zumindest eine Ursache für die Tiefe der Weltwirtschaftskrise und ein Hindernis ihrer Überwindung. Zudem ist in diesen Kreisen die „Dolchstoßlegende“ verbreitet. Gewerkschaften und Sozialdemokraten gelten als Hemmschuh auf dem Weg zum großen Revisionskrieg, der in diesen Kreisen als Racheakt und Tor in eine helle Zukunft angesehen wird. Die Bezeichnung der Sozialdemokraten als „Novemberlinge“ oder „Novemberverbrecher“ in der NS-Propaganda und in anderen rechtsgerichteten Schriften läßt erahnen, welche Wege der „Lösung der Arbeiterfrage“ nicht beschritten werden sollen. Die sozialpolitisch reaktionären Kräfte entwickeln als Negation der „demokratischen Sozialpolitik“ schillernde Konzepte einer „ständischen“ und „gemeinschaftsgebundenen“ Sozialpolitik, die ohne „Gewerkschaftsdiktatur“ und „Klassenkampf“ auskommen sollen, d.h. ohne relativ unabhängige Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, Streik und Tarifverträge. Sie lehnen darüber hinaus das demokratische Regierungssystem ab und ergehen sich in mehr oder weniger ausgeprägten Haßtiraden gegen den „Gewerkschaftsstaat“, gegen die „Ordnung des Klassenkampfes“, gegen die „Schäden“, die daraus für die Wirtschaft, aber auch für ein starkes, ein zur Revisions- und Expansionspolitik fähiges Deutschland erwachsen würden. Aus der Überzeugung heraus, daß der Erste Weltkrieg vor allem aus innenpolitischen Gründen verloren wurde, erscheint diesen Kreisen ein „Führer“, eine diktatorische Regierungsform als geeignet, die „Heimatfront“ in einem erneuten, einem wiederum für unvermeidbar angesehenen „Zukunftskrieg“ erfolgreich zu stabilisieren. Von dieser Seite wachsen der NS-Bewegung Kräfte, Denkmuster und Begriffe zu, die den Mangel an sozialpolitischen Konzepten in dieser Bewegung ausgleichen. Die Machtergreifung, die eine Zerschlagung der Arbeiterbewegung und eine Auflösung der Arbeitgeberverbände beinhaltet und die damit der „kollektiven Ordnung“ des Arbeitslebens den Boden entzieht, bietet dem neuen, dem reaktionären sozialpolitischen Denken eine Realisierungschance. Dabei zeigt sich, daß die um Stand, betriebliches Führertum, Betriebs- bzw. Werksgemeinschaft kreisenden sozialpolitischen Debatten ein vielgestaltiges Phänomen darstellen und daß natürlich nur eine Variante der Umgestaltung der Arbeitsverfassung realisiert werden kann. Es ist das Arbeitsordnungsgesetz von 1934, das die bereits außer Wirksamkeit getretenen kollektivrechtliche Ordnung der Weimarer Republik ersetzt und damit den Kernbereich des sozialpolitischen Fortschritts nach 1918 endgültig beseitigt. Teilweise bizarre und hochkomplexe „ständische“ Konstruktionen werden durch dieses Gesetz, das in wesentlichen Punkten großindustriellen Vorstellungen entspricht, nicht realisiert. Die ideologische Leugnung und institutionelle Verlegung des in der älteren sozialpolitischen Gesetzgebung nachweisbaren Klassendenkens, die damit einhergehende Beseitigung demokratischer Strukturen im Sozialstaat, der endgültige Verlust der lohnpolitischen Neutralität des Staates, die „Säuberung“ der Institutionen des Sozialstaats von Systemgegnern und Juden, die Privilegierung von Systemanhängern, der autoritäre Umbau und die Verstärkung der Staatsaufsicht, aber auch Elemente der Kontinuität wie das Festhalten am organisatorischen Aufbau und am herkömmlichen Finanzierungssystem auf dem Gebiet der

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Sozialversicherung gegenüber alternativen Entwürfen (Volksversorgung, Zwangssparsystem, Einheitsversicherung) sind zentrale Merkmale der NS-Sozialpolitik. Die alte „Behördenangst“ vor dem „Umsturz“ lebt im „Dritten Reich“ fort, verstärkt durch das Fanal der russischen Revolution und die revolutionären Unruhen namentlich gegen Ende des Krieges und zum Beginn der Nachkriegszeit. Die Konsequenz ist nunmehr jedoch nicht mehr die alte Praxis mit der „Dummheit der Repressionspolitik“ gegenüber der Arbeiterbewegung Schluß zu machen, die Konsequenz ist die politische Verfolgung, die Zerschlagung der Organisationen, Gewalt, Terror und Überwachung. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich eine „neue“ aber weiterhin natürlich um Integration bemühte Sozialpolitik und Propaganda. Auch der Nationalsozialismus möchte auf die Legitimationsleistungen bestimmter Maßnahmen der staatlichen Sozialpolitik nicht verzichten. Dies allerdings durch eine Einflußerweiterung der traditionellen Arbeiterbewegung zu erreichen, ist ihm in Übereinstimmung mit weiten Kreisen der nationalen „Eliten“ nie in den Sinn gekommen. Eine fortdauernde Kriegsmentalität, ein unbändiges Verlangen nach Revision der Ergebnisse des Ersten Weltkrieges erlauben es ab 1933 alle „Sachzwänge“ und Schranken der bisherigen Staatstätigkeit zu überwinden und einen Aufrüstungskurs als eine wichtige Voraussetzung der „Besiegung“ der Massenarbeitslosigkeit zu steuern. Zwangsdienste, arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zur Sicherstellung von Aufgaben von „besonderer staatspolitischer Bedeutung“, ein ständiges Vordringen eines gegen Individualinteressen gerichteten Arbeitsmarktdirigismus sind weitere Grundzüge der NS-Sozialpolitik. Schon lange vor der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges werden so die Lehren aus den Ereignissen des Ersten Weltkrieges gezogen, der arbeitsmarktpolitisch völlig unvollkommen vorbereitet war. Vor allem der „Rüstungskeynesianismus“, der Aufbau des Arbeitsdienstes und der Wehrmacht führen dazu, daß der Arbeitsmarkt bald leergefegt ist und die „Arbeitsschlacht“ zu einem „Arbeitseinsatz“ mutiert, der mit einer ausgeprägten Arbeitskräfteknappheit zu rechnen hat. Hierbei werden die Institutionen der 1927 durch das AVAVG geschaffenen Arbeitsverwaltung instrumentalisiert. Die so bewerkstelligte „Besiegung“ der Arbeitslosigkeit ist in weiten Kreisen der Bevölkerung als Erfolg des Nationalsozialismus empfunden worden. Diese sozialpolitische Entwicklung kann jedoch ohne die Akkumulation militärischer Vernichtungspotentiale, ohne die Berücksichtigung der sich ausdehnenden Kriegswirtschaft und schließlich ohne den Krieg und seine „Menschenbedarfe“, d.h. ohne kriegsbedingtes Leid und Zerstörungen gar nicht erklärt werden. Auf dem Gebiet der Ausgestaltung des Leistungsrechts befindet sich das NS-Regime insofern in einer komfortablen Situation, als namentlich unter dem Reichskanzler Brüning gravierende Leistungskürzungen vollzogen wurden, dadurch die von Sozialleistungen abhängige Bevölkerung in einen Zustand politischer Panik treibend. Bis in die 40er Jahre hinein können diese nun nach und nach zurückgenommen werden. Bald lassen sich unter dem Eindruck der Vollbeschäftigung auch „echte“ Leistungsverbesserungen realisieren. Erstmals in der deutschen Sozialstaatsgeschichte vollzieht sich die sozialpolitische Entwicklung vor dem Hintergrund einer „geneigten“, einer unfreien und zensierten Presse und eines „gelenkten“ Rundfunks. Die Kanäle, über die eine kritische Öffentlichkeit normalerweise Einfluß auf die Staatspolitik nehmen kann, sind verstopft. Die Arena einer kritischen, pluralistischen Öffentlichkeit als politische Handlungssphäre in der sich organisatorische und kommunikative Macht entfaltet, existiert nicht mehr. Meinungs- und Redefreiheit und andere für die Demokratie konstitutive Rechte und Möglichkeiten sind „außer Kraft“ gesetzt. Das hat zur Wirksamkeit der sozialpolitischen Propaganda beigetragen. Die durch die

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Sozialpolitik bewirkte Instrumentalisierung des Einzelnen für (kriegs- bzw. rüstungs-)wirtschaftliche Zwecke findet keinen wirksamen kritischen Kommentar. Das schließt den internen Streit um die Wege und Realisierungsformen der „neuen“ Sozialpolitik nicht aus. Vor dem Hintergrund eines breiten „Basiskonsenses“ wird vielmehr heftig um Gestaltungsmacht und Einfluß gerungen. Im Zuge dieser Entwicklung geraten (auch) sozialpolitische Ideen und „Weltbilder“ in den Auseinandersetzungs- und Radikalisierungsprozeß konkurrierender, polykratischer Herrschaftsinstanzen. In Abhängigkeit vom historischen Entwicklungsprozeß, namentlich vom Kriegsverlauf und von durchsetzungsfähigen Interessen entfalten sie ihre gestaltende, motivierende und legitimierende Funktion. Im Zuge dieses undemokratisch-politischen Handlungsprozesses mutiert die „völkische“ Weltanschauung zu praktischer Politik. Gegenüber der Bevölkerung zeigt die „völkische Sozialpolitik“ in Abhängigkeit von ganz konkreten Rahmenbedingungen, von handelnden Personen sowie zugrunde liegenden Rechtsnormen und organisatorischen Hintergründen ein vielgestaltiges Gesicht. Trotz der „Vielgestaltigkeit“ lassen sich prägende Grundzüge erkennen und formulieren. In diesem Sinne und als Ergebnis dieser politischen Prozesse gibt das NS-Regime nicht nur eine historisch neue Antwort auf die „soziale Frage“, die als Frage nach den Bedingungen der gesellschaftlichen und politischen Stabilität von großer Bedeutung für den angestrebten gigantischen Revisions- und Eroberungskrieg ist. Es werden, im Unterschied zur Vorbereitung und Durchführung des Ersten Weltkriegs, nicht nur „rechtzeitig“ die sozialpolitischen Formen entwickelt, die einer planmäßigen Aufrüstung und rüstungswirtschaftlichen Sicherstellung eines industrialisierten Großkrieges dienen sollen. Die NSSozialpolitik soll nach dem Willen der Machthaber den bisherigen Rahmen überschreiten und sie soll ihre Instrumente einer neuen Ideologie unterordnen. Sie soll das „Volk“ bzw. die „Volksgemeinschaft“ betreffen, nicht mehr nur die „Klassen am Arbeitsmarkt“. Dabei gilt das „Volk“ den NS-Sozialpolitikern als „natürliche und blutgebundene“ Einheit. Dieser Ansatz erweitert den Interventionsbereich der staatlichen Sozialpolitik in ungeheuerlicher Weise. Ohne daß die traditionellen sozialstaatlichen Interventionsbereiche aufgegeben werden, werden sie nunmehr in einen die gesamte Bevölkerung umfassenden sozialpolitischen Ansatz einbezogen. Das Wesen und die Methoden dieses Ansatzes resultieren aus einem parawissenschaftlichen erb- und rassenbiologischen Ideenreservoir, das sich bereits im 19. Jahrhundert entfaltet hat. Es handelt sich dabei um ein hochdifferenziertes natur- und geistesgeschichtliches Phänomen, das nicht nur die politisch rechtsstehenden Kräfte fasziniert und das auch nicht nur auf Deutschland begrenzt ist. Der Untergang der Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus verhilft in diesem Zusammenhang nicht der gemäßigten „Eugenik“, sondern der radikalen „Rassenhygiene“ zum Durchbruch. Diese fügt sich in den extremen Nationalismus und Rassismus der NS-Bewegung ein, lebt in ihm und wird geradezu zu einer Staatsdoktrin des „Dritten Reiches“. Die im „völkischen Milieu“ wurzelnde und nun dem Nationalsozialismus zufließende „Rassenbiologie“ beansprucht die geheimen, unsichtbaren und persistenten Ursachen der „Degenerationserscheinungen“ im Leben der „Völker“ zu kennen. Sie behauptet auch den Weg in eine „lichtvolle“ nationale Zukunft zu kennen, der vor dem Hintergrund der dramatischen Zeitläufe ersehnt und erstrebt wird. Noch sehr ursprüngliche und unentwickelte „Einsichten“ der Biologie verbinden sich mit dem zeittypischen Drang, die Erscheinungen der „Menschenwelt“ in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erklären zu wollen.

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Der unter diesen Bedingungen entstehende, durch Gegenkräfte und Kritik nicht gehemmte parawissenschaftliche Rassismus und Biologismus bringt als neuartiges wenngleich schon lange diskutiertes Instrumentarium die „Erb- und Rassenpflege“ hervor und verhilft Ordnungsideen erbbiologisch-rassistischer Art zur Realisierung. Diese Strategien beinhalten vor dem Hintergrund von katastrophische Bevölkerungsprognosen und Degenerationsthesen Maßnahmen zur Förderung der Reproduktion der als „wertvoll“ angesehenen Bevölkerungsteile und sind insofern pronatalistisch. Sie umfassen „folgerichtig“ aber auch Maßnahmen zur Ausschließung der als „minderwertig“ angesehenen Bevölkerungsgruppen aus dem „Erbstrom des deutschen Volkes“. Die Interessen der Individuen werden auch auf diese Weise dem „Gesamtinteresse“ der „Volksgemeinschaft“ unterworfen, die Interessen der lebenden Generation werden zugunsten der Generation der Zukunft relativiert. Im Rahmen dieses „gesellschaftssanitären“ Projekts sollen Kranke, Leistungsschwache, Deviante und bald auch „Fremdrassige“ kurz oder mittelfristig aus dem „Volksleben“ soweit wie möglich „ausgeschieden“ werden. Überzeugt von der erbbiologischen Verursachung solcher „Degenerationserscheinungen“ geht es in diesem Rahmen um eine rassenbiologische Ausdeutung und „medizinisch-naturwissenschaftliche Lösung“ der „Asozialenfrage“. Die „soziale Frage“ im engeren Sinn erfährt eine gemeinschaftsideologische Ausdeutung und soll im Rahmen einer gemeinschaftsbezogen-autoritär umgeformten „völkischen“ Arbeitsverfassungs-, Sozialversicherungs- und Arbeitsschutzpolitik „gelöst“ werden. Diese Strategien werden durch Terror, Gewalt und Überwachung flankiert. Betriebe und Verwaltungen werden als „völkische“ Leistungsgemeinschaften verstanden, die im Dienste der Staatsführung arbeiten. Als Antwort auf die kulturpessimistische Degenerations-Diagnose aber auch und mitunter vor allem um die Stellung der Nation in den „Kämpfen der Zukunft“ zu festigen, werden Massensterilisierungen praktiziert, neue Verehelichungs- und Scheidungsregelungen verabschiedet, Staatsangehörigkeitsfragen rassenbiologisch „unterlegt.“ Abtreibungsregelungen werden den neuen volksbiologischen Ansichten angepaßt, Ehestandsdarlehen, Kinderbeihilfen usw. usf. werden nach „rassenbiologischen“ aber auch nach Kriterien des „politischen Wohlverhaltens“ vergeben, um die integrative Wirkung solcher Strategien zu verstärken. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ aus dem Jahre 1933, das nicht zufällig am 14. Juli, einem Jahrestag der Französischen Revolution ergeht, steht ganz am Anfang eines Stromes von Maßnahmen zur Beeinflussung der Fortpflanzung und „Fortpflanzungsqualität“. Im Vorfeld des und vor dem Hintergrund der Geräuschkulisse des Zweiten Weltkrieges wird der Weg von der Nachwuchsförderung bzw. „Lebensverhütung“ zur Lebensvernichtung, zur „Euthanasie“, rasch durchschritten. Die der „Erb- und Rassenpflege“ zugrunde liegenden Wertungen und Anschauungen erweisen sich mit Blick auf die „umgebauten“ klassischen Bereiche der staatlichen Sozialpolitik als ausgesprochen anschlußfähig und „durchdringend“. Das Denken und Handeln in Kategorien des „Volkstums“, des „Blutes“ bzw. der Rasse bewirkt, daß die NSSozialpolitik zu einer spezifischen Ordnung der Ungleichheit wird. Diese Anschauungen bringen Einschluß und Ausschluß, Privilegierung und Diskriminierung auf zahlreichen Gebieten der staatlichen Sozialpolitik millionenfach hervor. Die um Führertum, Gefolgschaft, Treue und Pflicht kreisenden Konzepte und Strukturen der Arbeitsverfassung gelten als dem arteigenen, dem deutschen Geiste entsprungen. Der „Rassenfremde“ soll von ihr nicht erfaßt werden. Die nunmehr als „völkisch“ zu apostrophierende Arbeitsverfassung soll vor allem die im Zuge des Krieges in den deutschen Herrschaftsbereich gelangenden „Fremdvölkischen“ nicht umfassen. Ein diskriminierendes Sonderarbeits- und Sondersozi-

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alrecht, das es zuvor schon für Juden und „Zigeuner“ gegeben hat, wird für „Fremdarbeiter“ entwickelt. Auch die Herrschaftspraxis in den besetzten Gebieten zeigt, daß namentlich die Aktivisten und „Statthalter“ der NS-Bewegung die „normale“ deutsche staatliche Sozialpolitik als Sozialpolitik nur für Deutsche konzipieren und für die „Fremdvölkischen“ lediglich Schwundstufen des deutschen Sozialstaats vorsehen und aus eigener Machtvollkommenheit realisieren. Als Folge dieser Auffassungen existieren Rechtsquellen, die die Versichertenkreise, den Geltungsbereich des Arbeitsschutzes, die Art und Höhe der Sozialleistungen selbst nach „völkischen“ Kriterien definieren. Die politischen Vorbehalte, die sich in zahllosen sozialpolitischen Rechtsquellen finden, zeigen, daß die staatliche Sozialpolitik nicht nur zu einem „rassisch“ hochwertigen und homogenen, sondern auch zu einem weltanschaulich-politisch stabilisierten „Volkskörper“ beitragen soll. So richtet die „völkische Sozialpolitik“ ihren „wohlwollenden“ Blick nur auf den deutschen oder „artverwandten“ „Volkskörper“ als Gesamtheit. Ihr geht es vor allem um eine „ideale Zukunft“ der biologischen Substanz der deutschen Nation. Dieser „Ansatz“ betrifft die Menschen unabhängig von ihrer Gruppen-, Schicht- und Klassenzugehörigkeit. Ein Wandel im „Paradigma“ und in der Prioritätensetzung, eine grandiose Ausdehnung des Interventionsbereichs, eine Umformung des Wesensgehalts und ein Wechsel in den Methoden trennt diese „völkische“, die „blutbezogene“ Sozialpolitik von ihren liberal-staatlichen, obrigkeitsstaatlichen und demokratischen Vorläufern, die sich noch mehr oder weniger zentral auf die Regulierung von „Klassenfragen“ bezogen haben. Die in einer Rechtfertigungsschrift des Jahres 1947 verbreitete Auffassung, das Reichsarbeitsministerium, zumindest die Abteilung IIa – Reichsversicherung -, habe im „Dritten Reich“ die „Rechte der Menschlichkeit“ und der „Völkergerechtigkeit“ gewahrt,3 die bezogen auf einzelne Maßnahmen und Gebiete auch von Teilen der nachzeichnenden Sozialrechts- und Sozialpolitikgeschichte nahe gelegt wird, kann im Lichte der Ergebnisse dieser Arbeit nicht aufrechterhalten werden. Es ist geradezu ein Kennzeichen der NSSozialpolitik, daß auch die traditionellen, die „unverdächtigen“ Teilgebiete dieses Politikbereichs vom menschenverachtenden Rassismus nicht unberührt geblieben sind. Im „Dritten Reich“ entsteht ein monströses mehrschichtiges Sozialrechtsgebilde. Weit jenseits demokratischer Verfahrensweisen zustandekommend, hat es im Rahmen eines polykratischen Herrschaftssystems verschiedene „Väter“ und unterschiedlich komfortable „Etagen“, deren weitaus vorteilhafteste von den als „wertvoll“ und „deutsch“ oder „artverwandt“ klassifizierten Menschen „bewohnt“ wird. Aus diesem Geist lebt das Konzept und die Realität eines „Großdeutschen Sozialstaats“. Dieser wiederum ist eingebunden in eine Strategie der Ausbeutung und der Sicherung der ökonomischen und politischen Vormachtstellung der Deutschen in den „besetzten Gebieten“. Neben den „Fremdarbeitern“ sind es vor allem auch die nichtdeutschen und als nichteindeutschungsfähig angesehenen Menschen in den okkupierten Gebieten, die in der Praxis und vor Ort erfahren, welche Folgen ihre Einstufung in eine von den NSMachthabern konstruierte Skala „völkisch-rassischer“ Wertigkeit hat: „... als Maß des Terrors, der Unterdrückung und der abgestuften Lebensmöglichkeiten, als Maß der Ration der

3 Vgl. die Verteidigungsschrift des damaligen Ministerialbeamten: Eckert, J.(osef): Schuldig oder entlastet? München 1947, 202.

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Lebensmittel, der Kleiderkarten, Wohnungsbedingungen...“4 In den „besetzten Gebieten“ treten schließlich Vernichtungsaktionen, Ansiedelungen „deutschen Volkstums“ aus dem weiteren europäischen Raum im Rahmen von „Heim ins Reich“-Aktionen, „völkische Flurbereinigungen“ verschiedenster Art hinzu. Alles soll dem Ziel dienen, einen gewaltigen zentraleuropäischen, ethnisch homogenen Macht- und Nationalstaat, ein neues „Großdeutsches Reich“ in einem von Deutschland dominierten Europa zu schaffen. Die NSSozialpolitik schmiegt sich diesem Ziel und dieser Praxis an und soll zur Erreichung dieses Zieles beitragen. Im Osten ist die staatliche Sozialpolitik in besonderem Maße ein Ausdruck dieser Absichten und Großraumplanungen. Der biologisch eingefärbte, durch mancherlei politische Kriterien eingetrübte Rassismus, der im Inneren, im „Altreich“, als „Erb- und Rassenpflege“, als „Staatsbiologe“ zur „Rassenverbesserung“ beitragen soll, hält im Zuge der Eroberungs- und Okkupationspolitik an diesem auf „deutsches Blut“ konzentrierten Ziel fest. Als zentrales Ausgestaltungsmittel einer spezifisch deutschen Nation und Gesellschaft und eines „germanisierten“ Großraumes hat ein Politikbereich seine totalste, anmaßendste und inhumanste Form gefunden, der einst zur „Lösung der Arbeiterfrage“ ersonnen und umgesetzt wurde. Er regiert nun auf der Basis parawissenschaftlicher Annahmen und einer spezifischen NS-Völkerkunde in die biologische Substanz der deutschen und europäischen Völkerschaften hinein. An den Grenzen des vom „Dritten Reich“ beanspruchten „Großraumes“ soll die erfahrungsgemäß politisch destabilisierende ethnische Gemengelage durch „Säuberungen“ und Siedlungsmaßnahmen, durch „Rückdeutschung“, durch ergänzende Sprachenund Kulturpolitik beseitigt werden. Die für Deutsche konzipierte staatliche Sozialpolitik soll zu diesem Prozeß beitragen und den Herrschaftsraum stabilisieren und durch Vereinheitlichung und institutionelle Verzahnung markieren und festigen helfen. Staatliche Sozialpolitik wird unter diesen Bedingungen Bestandteil der Expansions- und Okkupationspolitik. Sie fügt sich in den Ablauf von militärischer Eroberung, Scheidung der Bevölkerung in einen „deutschen“ und „fremden“ bzw. „minderwertigen“ Teil, von Aus-, Um- und Ansiedlung, von Herrschaftsausweitung und Herrschaftssicherung. Diese Vorgänge werden erkennbar auch von der Vorstellung angeleitet, daß „Rassen“ die Subjekte der Weltgeschichte sind und daß es deshalb auf die Mehrung und die qualitative „Verbesserung“ solcher Abstammungsgemeinschaften ankomme. Die staatliche Sozialpolitik „spiegelt“ damit den größeren Zusammenhang geopolitischer Hegemonialvorstellungen, die Menschen zu welthistorischem „Rohstoff“ oder auch „Abfall“ umdeuten. Zahlreiche Charakterzüge der „völkischen Sozialpolitik“ lassen sich so aus dem Willen zum Aufbau eines leistungsfähigen, ethnisch und weltanschaulich homogenen, bevölkerungsreichen National- und Machtstaats ableiten. Diese Entwicklungsrichtung der staatlichen Sozialpolitik bricht mit dem Vormarsch der alliierten Truppen und der Zerschlagung und dem Zerfall der deutschen Herrschaftsapparatur ab. Der sozialpolitische NS-Diskurs stürzt in sich zusammen. Mit dem Untergang des „völkischen Sozialstaats“ endet eine Sozialpolitik, die auf vielfältige Weise und in unterschiedlicher Akzentuierung gleichzeitig massenpsychologischen, wehr- und produktionspolitischen Erfordernissen, „erb- und rassenpflegerischen“ sowie nationalistisch„volkstumspolitischen“ Zielen dienen sollte. Als Produkt der Weltkriegsepoche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der in ihr wirkenden Ideen, Kräfte, Interessen und Absich4 Röhr, Werner: Einleitung. In: Europa unterm Hakenkreuz. Okkupation und Kollaboration (1938-1945). Berlin, Heidelberg 1994, 17 - 30, hier: 24.

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ten präsentiert sich das NS-Regime als ein Regime, das eine erhebliche sozialpolitische Aktivität entfaltet hat. Daraus den Schluß zu ziehen, es habe sich um ein „soziales“ Regime, um einen wahren „Wohlfahrtsstaat“ gehandelt, ist in Anbetracht der Ergebnisse dieser Untersuchung ein geradezu abwegiger und aberwitziger Gedanke. Die „völkische Sozialpolitik“ ist ausdrücklich nicht auf eine Sicherung der individuellen Freiheit und Autonomie ihrer Klienten hin angelegt. Sie soll ebensowenig demokratische Strukturen fördern und eröffnen. Sie ist das Fundament der Diktatur. Selbst dort, wo etwa Geldleistungen im Sinne einer „sozialen Absicherung“ wirkten, haben die Schrecken des Krieges, die bis in die Familien wirkenden Zerstörungen und Entbehrungen, der millionenfache Soldatentod diesem „Sicherungsziel“ entgegengewirkt. Schließlich werden die Sozialleistungen in einer Währung gezahlt, die schon bald der Zerstörung anheim gegeben ist. Zweifellos war die NS-Sozialpolitik in manchem „geschickter“ und auch „erfolgreicher“, vergleicht man sie mit der Sozialpolitik im Ersten Weltkrieg. Dies gilt vor allem für den „Arbeitseinsatz“. Auf zahlreichen Gebieten ist die NS-Sozialpolitik eine regelrechte Negation der Sozialpolitik, die sich im Kaiserreich, im Ersten Weltkrieg und in der Zeit danach entwickelt hat. In solchen Fällen existieren zur „obrigkeitsstaatlichen“ und zur „demokratischen Sozialpolitik“ nur Gräben und keine Brücken. Geradezu paradigmatisch für diese Erscheinung ist die Tatsache, daß der „Verein für Socialpolitik“ und die „Gesellschaft für Soziale Reform“, Organisationen, die die Entwicklung der „obrigkeitsstaatlichen“ und der „demokratischen Sozialpolitik“ kritisch begleitet und beeinflusst haben, unter dem Druck der Zeit zu bestehen aufhören. Im Unterschied zur Sozialpolitik in den Friedensjahren des Kaiserreichs wird zudem die „völkische Sozialpolitik“ im großen Umfang bereits ab 1933 als Bestandteil einer kriegsvorbereitenden Militärpolitik betrieben. Schon zu Friedenszeiten wird die Tendenz deutlich, die „Arbeiterklasse“ durch politische und soziale Entmachtung, durch Überwachungsmaßnahmen und Desorientierung, durch autoritäre Umgestaltung der Betriebsstrukturen und durch den Aufbau einer Apparatur der Arbeitskräftelenkung direkt und unmittelbar zu einem disponiblen Werkzeug des Militärstaats und der Kriegsvorbereitung zu machen. Das in Terror und Diktatur, in die Kriegsvorbereitung und in die Durchführung eines furchtbaren rassistisch motivierten Revisions-, Raub- und Vernichtungskrieges eingebundene maßlose Projekt der „völkischen Sozialpolitik“ stößt aber auch, gemessen an den eigenen „Visionen“, an zahlreiche Grenzen. Diese treten besonders markant in Erscheinung, wenn durchsetzungsfähige Akteure unter spezifischen Bedingungen eine Störung der „Imperative“ des industriellen Massenkrieges durch sozialpolitische Strategien feststellen. Die Fortführung bestimmter Maßnahmen der „völkischen Sozialpolitik“ erscheint dann nicht mehr als Voraussetzung oder Dienst am Krieg, sondern als Gefährdung der unmittelbaren Kriegsziele. Namentlich in der zweiten Kriegshälfte sind solche Grenzen schnell erreicht. Eine solche „Störung“ der laufenden „Kriegsmaschinerie“ wird bald in einer allzu radikalen Durchführung der menschenverachtenden „Erb- und Rassenpflege“ gesehen. Mag sie nach damaliger Auffassung für „Deutschlands Stellung in der Welt“ und für die Kriege der Zukunft auch unverzichtbar sein und die „blendensten“ Perspektiven eröffnen, sie hätte enorme administrative und personelle Kapazitäten erfordert, die der Kriegführung hätten entzogen werden müssen. Darüber hinaus „beunruhigt“ gerade dieses Projekt die Bevölkerung. Ein weiteres Beispiel ist die diskriminierende Wirkung der rassistischen Sonderrechtssysteme. Sie führen bei den danach behandelten „Fremdarbeitern“ zu Einbrüchen in der Arbeits- und Folgebereitschaft. So kommt es auch hier zu entdiskriminierenden Maß-

Rückblick und Ausdeutung

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nahmen, die in einem markanten Gegensatz zur „völkischen“ Ideologie stehen. Auch auf anderen Teilgebieten zeigen sich ähnliche „Modifikationen“. In der zweiten Kriegshälfte drängen rüstungswirtschaftliche Kalküle, kriegsutilitaristische Ziele und Wertungskriterien zunehmend in den Vordergrund.5 Schließlich zehren die Zerstörungen des Bomben- und Bodenkrieges an der „Volkskraft“ und an den Realisierungschancen der „völkischen Sozialpolitik“. Mit dem herannahenden Ende des „Dritten Reiches“ fehlen dieser Politik die Menschen und „Räume“ und damit erlischt auch ihr machtpolitisch-ideologischer Rückhalt.

5 Vgl. insgesamt auch die sehr empfehlenswerte Studie von: Süß, Winfried: Der ‘Volkskörper’ im Krieg. München 2003.

Abkürzungsverzeichnis

577

6 Abkürzungsverzeichnis 6.1 Abkürzungsverzeichnis

a.a.O. Abl. Riga Abt. a.D. ADGB AEG AfA AG ALV Anm. AOG AOGÖ AOK Aufl. A.- und S. Räte AVAVG AVUS AWI BA Abt. Potsdam BBC BBG BDM Bearb. bes. Bl. BVP bzw. DAF DATSCH D.C. DDP DDR DGB dgl. d.h.

am angegebenen Ort Amtsblatt des Generalkommissars in Riga Abteilung außer Dienst Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund Allgemeine Elektricitätsgesellschaft Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände Aktiengesellschaft Arbeitslosenversicherung Anmerkung Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit Gesetz zur Ordnung der Arbeit in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben Allgemeine Ortskrankenkasse Auflage Arbeiter- und Soldatenräte Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung Automobil-Verkehrs- und -Uebungs-Straße Arbeitswissenschaftliches Institut der Deutschen Arbeitsfront Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam British Broadcasting Corporation Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums Bund Deutscher Mädel Bearbeiter besonders Blatt Bayerische Volkspartei beziehungsweise Deutsche Arbeitsfront Deutscher Ausschuß für technisches Schulwesen District of Columbia Deutsche Demokratische Partei Deutsche Demokratische Republik Deutscher Gewerkschaftsbund desgleichen das heißt

578 Dinta Diss. d.J. DMA DNVP Ed. e.h. EK. EKKI e.V./E.V. FAD FAZ f., ff. Fußn. GBA GDA GZ H.-D. H. Hg., hrsg. IRH Kap. KHD KPD KZ LAV LVA MS MSPD N.F. Nichtamtl. Nr. NS NSBO NSDAP NSV. OHL o. J. OMGBS OMGUS o.O. P.L. Proz.

Abkürzungsverzeichnis Deutsches Institut für Technische Arbeitsschulung Dissertation des (diesen) Jahres Reichsamt für wirtschaftliche Demobilmachung (Demobilmachungsamt) Deutschnationale Volkspartei Editor ehrenhalber Exekutivkomitee Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale eingetragener Verein Freiwilliger Arbeitsdienst Frankfurter Allgemeine Zeitung die folgende(n) Seite(n) Fußnote Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz Gewerkschaftsbund der Angestellten Gewerkschafs-Zeitung Hirsch-Dunckersche Gewerkvereine Heft Herausgeber, herausgegeben Internationale Rote Hilfe Kapitel Kriegshilfsdienst Kommunistische Partei Deutschlands Konzentrationslager Lohnabzugsverordnung Landesversicherungsanstalt Maschinenschrift (Mehrheits-)Sozialdemokratische Partei Deutschlands Neue Folge Nichtamtlich Nummer Nationalsozialismus Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationalsozialistische Volkswohlfahrt Oberste Heeresleitung ohne Jahr Office of Military Government Berlin Sector Office of Military Government for Germany ohne Ort Pommerscher Landbund Prozent

Abkürzungsverzeichnis RAM rd. RDI REFA RGBl. RGO RM RMdI RS. RuSHA RV RVA RVO S. s. SAPMO-BA SA SBZ SD sog. Sp. SPD SS St StGB u.a. UdSSR u.k. unpag. USA USPD usw. usf. VA. VBlBM. VBlGG. VBl.f.Lothr. VBlRProt. VBl. RKO VBl. RMOst

579 Reichsarbeitsministerium rund Reichsverband der Deutschen Industrie Reichsausschuß für Arbeitszeitermittlung bzw. -studien Reichsgesetzblatt Revolutionäre Gewerkschaftsopposition Reichsmark Reichsministerium des Innern Rückseite Rasse- und Siedlungshauptamt Reichsversicherung Reichsversicherungsamt Reichsversicherungsordnung Seite siehe Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Sturmabteilung Sowjetische Besatzungszone Sicherheitsdienst sogenannt Spalte Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schutzstaffel Stahlhelm (Bund der Frontsoldaten) Strafgesetzbuch und andere/unter anderem Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken unabkömmlich unpaginiert United States of America Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands und so weiter und so fort Versicherungsamt Verordnungsblatt des Deutschen Staatsministers für Böhmen und Mähren Verordnungsblatt für das Generalgouvernement Verordnungsblatt für Lothringen Verordnungsblatt des Reichsprotektors in Böhmen und Mähren Verordnungsblatt des Reichskommissars für das Ostland Verordnungsblatt des Reichsministers für die besetzten Ostgebiete

580 VDA Verk. Bl. vgl. v.H. VOBl.f.El. VOBl.f.Lux. VO.- u.Amtsbl.K.u.K.

V.u.A.Bl.Un. WRV ZA ZAG z.B. z.D. zit. z.T.

Abkürzungsverzeichnis Vereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände Verkündungsblatt des Reichskommissars für das Ostland vergleiche vom Hundert Verordnungsblatt des Chefs der Zivilverwaltung im Elsaß Verordnungsblattt für Luxemburg Verordnungs- und Amtsblatt des Chefs der Zivilverwaltung in den besetzten Gebieten Kärntens und Krains Verordnungs- und Amtsblatt des Chefs der Zivilverwaltung in der Untersteiermark Weimarer Reichsverfassung Zentralarchiv Zentralarbeitsgemeinschaft zum Beispiel zu Diensten zitiert zum Teil

Verzeichnis der archivalischen Quellen

581

7 Quellen- und Literaturverzeichnis

7.1 Verzeichnis der archivalischen Quellen 1. Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam 04.01 Vorläufiger Reichswirtschaftsrat Akten Nr. 723, 739 06.01 Präsidialkanzlei Akten Nr. 153, 155, 156, 157, 159, 164, 168, 176, 185/1, 186, 672 15.01 Reichsministerium des Innern Akte Nr. 14901/1 30.01 Reichsjustizministerium Akten Nr. 2178, 2179 31.05 Sozialisierungskommission Akten Nr. 1, 2, 4, 5, 6/1, 6/2 31.01 Reichswirtschaftsministerium Akten Nr. 10296, 10401 39.01 Reichsarbeitsministerium Akten Nr. 82, 83, 364, 367, 1791, 2178, 2179, 2315, 2322, 2329, 2339, 2341, 3446, 3496, 3497, 3696, 3697, 3698, 3699, 3700, 3701, 3702, 3723, 6462, 6463, 6497 Deutsche Arbeitsfront. AWI. NS 5 VI Akte Nr. 2455 62 DAF. 1. NS 5 IV Akten Nr. 16, 82, 192, 194 62.03 DAF. NS 5 VI Akten Nr. 3440, 3441, 3550 62.03 DAF. NS 5 VI Akte Nr. 4737 60 Vo 1 Deutsche Volkspartei Akte Nr. 230 94 Sammlung II. Weltkrieg Akte Nr. 686 R 8034 II Reichslandbund. Pressearchiv Akten Nr. 8227, 5729 R 8085 (70 Re 4) Reichsverband der deutschen land- und forstwirtschaftlichen Arbeitgebervereinigungen Akte Nr. 2 90 Gi 1 Nachlaß Johann Giesberts Akten Nr. 56, 59, 67, 128 90 He 1 Nachlaß Heine Akten Nr. 159, 170, 177, 178, 197, 205, 232

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Quellen- und Literaturverzeichnis

90 Le 6 Nachlaß C Legien Akte Nr. 29 90 Mu 3 Nachlaß Reinhard Mumm Akten Nr. 556, 563 90 No 1 Nachlaß G. Noske Akte Nr. 2 90 Wa 1 Nachlaß Conrad Freiherr Wangenheim Akte Nr. 14 2. Bundesarchiv Koblenz R 41 Reichsarbeitsministerium Akten Nr. 642, 5009, 5014, 5015 R 89 Reichsversicherungsamt Akten Nr. 3388, 4065, 3406, 3407, 3408, 3478, 10672, 10772 3. National Archives of the United States RG 260/OMGUS. OMGBS Manpower Br. Folder 4/27 - 3/6 4. Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Bestand: Kommunistische Partei Deutschlands. Zentralkomitee I 2/3/121, I 2/3/179, I 2/3/180, I 2/701/39, I 2/701/40, I 2/701/43, I 2/703/80, I 2/703/101, I 2/703/114, I 2/708/109, I 2/708/112, I 2/708/113, I 2/708/118, I 2/708/119, I 2/708/121, I 2/708/141, I 2/708/143, I 4/11/1, I 4/11/2 5. Bayerisches Hauptstaatsarchiv – Kriegsarchiv – München Mkr. 14029 6. Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Dortmund S 7, Nr. 1046 7. Historisches Archiv Krupp, Essen FAH 4 E 179 8. Historisches Archiv der Metallgesellschaft AG/IfG Mappe 152, Bündel Nr. 7 9. Evangelisches Zentralarchiv, Berlin I/A 2/147, 51/N Ia, 1,1, 51/N I 66, 51/N I 67, 51/N I 68 10. Institut für Zeitungsforschung, Dortmund Der Angriff Berliner Börsen-Courier Berliner Tageblatt Frankfurter Zeitung

Verzeichnis der Literatur

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Kölnische Volkszeitung Kölnische Zeitung und Handelsblatt Neue Preußische Kreuz-Zeitung Neuer Vorwärts Völkischer Beobachter Vorwärts Vossische Zeitung 7.2 Verzeichnis der Literatur1 7.2 Verzeichnis der Literatur Abelshauser, Werner (Hg.): Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat. Stuttgart 1987. Abendroth, Wolfgang (Hg.): Faschismus und Kapitalismus. Frankfurt a.M. 1979. Adam, Uwe Dietrich: Judenpolitik im Dritten Reich. Königstein/Ts., Düsseldorf 1979. Adjutant im Preussischen Kriegsministerium. Juni 1918 bis Oktober 1919. Aufzeichnungen des Hauptmanns Gustav Böhm. Stuttgart 1977. Albrecht, Gerhard: Vom Klassenkampf zum sozialen Frieden. Jena 1932. Allekotte, Josef: Die Beamten und das Streikrecht. Berlin 1920. Althaus, Hermann, Betcke, Werner (Hg.): Handwörterbuch der Wohlfahrtspflege. Dritte, völlig neubearbeitete Auflage. Berlin 1937 - 1939. Altner, Günter (Hg.): Der Darwinismus. Darmstadt 1981. Aly, Götz, Roth, Karl Heinz: Die restlose Erfassung. Frankfurt a.M. 2000. Ambrosius, Gerold, Petzina, Dietmar, Plumpe, Werner (Hg.): Moderne Wirtschaftsgeschichte. München 1996. An den Pranger. Taten von SPD.-Betriebsräten! O.O., o.J. Anschütz, Gerhard: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. 9. unveränderte Auflage. Berlin 1929. Anschütz, Gerhard: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. 14. Auflage. Berlin 1933. Anschütz, Gerhard u.a. (Hg..): Handbuch der Politik. Dritter Band. Dritte Auflage. Berlin und Leipzig 1921. Apelt, Willibalt: Geschichte der Weimarer Verfassung. München und Berlin 1946. Arbeiter- und Soldatenräte im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Wuppertal 1975. Die Arbeitsgerichtsbarkeit. Neuwied, Kriftel, Berlin 1994. Arbeitsgerichtsprotokolle der Richter am Arbeitsgericht… Neuwied und Darmstadt 1978. Arbeitsrecht und Arbeiterschutz (einschließlich Militärversorgung). Sozialpolitische Maßnahmen der Reichsregierung seit 9. November 1918. Berlin 1919. Arbeitsrecht und Arbeiterschutz (einschließlich Versorgung und Fürsorge für die Kriegsopfer). Die sozialpolitische Gesetzgebung des Reichs nach dem Stande vom August 1924. Zwei Bände. 4. neubearbeitete Ausgabe. Berlin 1924. Ardelt, Rudolf G., Hautmann, Hans (Hg.): Arbeiterschaft und Nationalsozialismus in Österreich. Wien, Zürich 1990.

1 Da die Literaturangaben in den Fußnoten ungekürzt sind bzw. über die Verweisungen problemlos nachvollzogen werden können, beschränkt sich auch dieses Literaturverzeichnis auf Monographien und herausgegebene Werke. Die Titelangaben verzichten wiederum weitgehend auf Untertitel, Reihenangaben und sonstige Hinweise. Zeitschriften- und Zeitungsbeiträge sowie Beiträge in Sammelwerken fehlen also. Reine Gesetzessammlungen, Quellenbände und Dokumentensammlungen werden in den Fußnoten unter den Namen der jeweiligen Bearbeiter angemerkt. Protokolle, Stenographische Berichte und Entscheidungssammlungen werden ebenfalls nicht angeführt.

584

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Verzeichnis der Literatur

587

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Personenregister

601

8 Personenregister 8.1 Personenregister

Arnhold, Carl 340-342 Aufhäuser, Siegfried 212, 238

Baden, Max von 119 Bang, Paul 329-333, 336f., 385, 390 Bauer, Gustav 15, 58, 128, 141 Bernstein, Eduard 160 Bethmann Hollweg, Theobald von 467 Beveridge, William Lord 562 Bismarck, Otto von 91, 97, 127, 220, 444 Bogs, Walter 524 Bormann, Martin 471 Bouhler, Philipp 472f. Brandt, Karl 472f. Braß, Otto 103 Brauns, Heinrich 49, 85, 129, 148, 158, 168, 211f., 230, 232, 236, 279 Brauweiler, Roland 305 Breitscheid, Rudolf 272 Brentano, Lujo 151, 220 Briefs, Goetz 249, 340, 345, 401 Brüning, Heinrich 247f., 260f., 263f., 266, 268, 270, 272, 274-277, 279f., 283, 285-287, 291, 293, 343, 567, 569 Brucker, Ludwig 356, 432, 440, 444f. Bürckel, Josef 546, 548 Burgdörfer, Friedrich 312-315

Cassel, Gustav 159 Churchill, Winston 490 Comte de Gobineau, Joseph Arthur 308 Conti, Leonardo 320, 473 Cuno, Wilhelm 48, 110f. Curtius, Julius 244

Darré, Richard Walther 321, 362, 382f. Darwin, Charles 307f. David, Eduard 89, 91f. Delbrück, Clemens von 18, 97, 103, 223 Dernburg, Bernhard 85 Dobbernack, Wilhelm 451 Drechsler, Otto-Heinrich 531 Duisberg, Carl 164 Dunkmann, Karl 324f., 328

Ebert, Friedrich 13, 15, 53, 77, 88, 143, 167, 224, 271 Ehrenberg, Richard 324 Engel, Hans 448, 505 Erkelenz, Anton 104, 225

Feder, Gottfried 271, 322, 338, 362 Fischer, Eugen 311, 318 Flesch, Karl 103 Fraenkel, Ernst 146 Francke, Ernst 34, 75, 119, 129 Frank, Hans 467, 523, 527 Frick, Wilhelm 361f., 368, 392 Fricke, Fritz 342f. Funk, Walther 325, 475

Galton, Francis 308, 313 Geiger, Theodor 322f. Gereke, Günther 303, 408 Geßler, Otto 53 Gierke, Otto von 87 Globke, Hans 371 Gobineau, Joseph Arthur Comte de 308 Göring, Hermann 353, 420, 423, 425428, 430, 484, 506 Goddard, Henry H. 313

602 Goebbels, Joseph 357, 489f., 507 Goerdeler, Carl Friedrich 288 Gompers, Samuel 121 Grieser, Andreas 138f., 304f., 361 Groener, Wilhelm 301 Günther, Ernst 135 Gütt, Arthur 368-370, 373

Haeckel, Ernst 307 Harmsen, Hans 320 Hartmann, Gustav 43 Hartz, Gustav 164, 444 Heinrichsbauer, August 325 Henke, Alfred 86 Herkner, Heinrich 151, 390 Hertling, Georg Graf von 25, 27, 117 Hierl, Konstantin 281, 416 Himmler, Heinrich 383, 470, 489, 512, 557 Hindenburg, Paul von 167, 247, 260, 279, 289, 291f., 305, 353, 360 Hitler, Adolf 289, 292, 295f., 301, 305f., 315f., 320f., 337f., 341, 351-356, 360, 362, 373f., 376-378, 382f., 390, 403, 407f., 420, 427, 457, 459, 466f., 472f., 485, 487, 490, 494, 504, 508f., 514, 523, 530, 542, 545, 548, 562 Hobsbawm, Eric 7, 10, 40 Höfle, Anton 43 Horneffer, Ernst 164 Hueck, Adolf 246 Hugenberg, Alfred 85, 261, 329f., 355, 362, 390

Imbusch, Heinrich 195

Joachim, Richard 293

Kahn-Freund, Otto 217 Kapp, Wolfgang 52 Karstedt, Oskar 443

Personenregister Kautsky, Karl 34, 75 Kennan, George F. 13 Knoll, Ernst 439 Koehler, Eberhard 325 Koeth, Joseph 15, 56, 67 Korsch, Karl 34, 160 Krohn, Johannes 361, 446f., 451f., 461 Krupp, Friedrich Alfred 309 Krupp von Bohlen und Halbach, Gustav 296 Kube, Wilhelm 531 Kutschera, Franz 549

Landsberger 207 Lautenbach, Wilhelm 290 Legien, Carl 17, 43, 92, 116f. Lehmann, Helmut 438 Lehr, Robert 341 Leipart, Theodor 298, 301, 356f. Lenin, Wladimir I. 33, 103 Lent, Friedrich 336 Lenz, Fritz 311f., 318 Leopold III. 543 Ley, Robert 357-359, 392, 401f., 445, 504, 508f. Liek, Erwin 164 Litzmann, Karl-Siegmund 531 Lohse, Hinrich 530f. Longert, Wilhelm 331-333 Lüttwitz, Walter Freiherr von 52 Luther, Hans 168, 211, 213 Luxemburg, Rosa 28

Maercker, Georg 50 Manes, Alfred 122 Mann, Thomas 349 Mansfeld, Werner 195, 212, 390f., 397, 418, 488 Marx, Wilhelm 148, 167, 236 Meißinger, Hermann 168 Mendel, Gregor 311, 374 Moellendorff, Wichard von 80f., 89 Moldenhauer, Paul 248 Muckermann, Hermann 319

Personenregister Müller, August 34 Müller, Hermann 168, 248, 259 Müller, Richard 108 Müller, Willy 325 Mussolini, Benito 335, 345, 554

Napoleon I. 201 Naumann, Friedrich 103 Neumann, Franz L. 398, 489 Noske, Gustav 36, 53

Osthold, Paul 341

Papen, Franz von 291, 293, 296, 298300, 304, 352, 355, 374, 408 Platon 308 Ploetz, Alfred 308f. Pohl, Wolfgang 390 Poppelreuter, Walther 340 Preller, Ludwig 48 Preuß, Hugo 87, 89 Pünder, Hermann 261

Rädel, Siegfried 211, 213, 237, 239 Radbruch, Gustav 209 Rainer, Friedrich 550 Rathenau, Walther 76, 80f. Reger, Erik 342 Reinhardt, Fritz 362, 408 Renteln, Theodor Adrian von 530 Roosevelt, Franklin D. 490 Rosenberg, Alfred 321, 530 Rüdin, Ernst 373

Sauckel, Fritz 475, 489f., 533, 555 Schacht, Hjalmar 362, 447 Schäffer, Hugo 291, 293 Schallmayer, Wilhelm 308f. Scheidemann, Philipp 49, 72, 79, 85 Schleicher, Kurt von 260, 286, 291, 300305, 360, 408f.

603 Schlicke, Alexander 43, 96, 102, 141, 224, 230 Schmidt, Robert 87 Schmitt, Kurt 362, 447 Schuhmann, Walter 432, 444f. Schücking, Walther 90 Schwerin von Krosigk, Johann Ludwig Graf von 362 Seeckt, Hans von 152 Seldte, Franz 360f., 401, 427, 447, 510f. Silverberg, Paul 325 Simmel, Ernst 65 Simon, Gustav 545 Sinzheimer, Hugo 93f., 96f., 299 Sitzler, Friedrich 179, 304 Spann, Othmar 328 Speer, Albert 467, 483, 489 Spencer, Herbert 307 Stadtler, Eduard 336 Stegerwald, Adam 43, 260, 267, 268 Stinnes, Hugo 148 Stöhr, Franz 214f., 239 Strasser, Gregor 301, 338 Stresemann, Gustav 48, 90, 144, 148, 206, 246 Stuckart, Wilhelm 371 Syrup, Friedrich 224, 240, 300, 305, 361, 427, 488, 518

Tänzler, Fritz 148 Tirpitz, Alfred von 167 Todt, Fritz 487 Tönnies, Ferdinand 327 Treuner, Gustav 333f. Trotzki, Leo 103

Uiberreither, Siegfried 549 Umbreit, Paul 119

Vögler, Albert 106, 341 Voigt, Andreas 336 Vorwerck, Karl 325, 328f., 331, 336, 385, 390

604 Wagemann, Ernst 290 Wagener, Otto Wilhelm 338f. Wagner, Gerhard 376 Wagner, Robert 548f. Wallichs, Adolf 339 Webb, Sidney und Beatrice 160 Weigert, Oskar 224, 231 Weindling, Paul 310 Wilhelm II., Deutscher Kaiser 118 Wilson, Thomas Woodrow 123 Wirth, Joseph 48 Wissell, Rudolf 75f., 80, 84f., 87, 89, 123, 168, 188, 244f., 248, 260, 293

Zimmermann, Albert 335

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