Wohlfahrtsstaat der Mittelschichten?: Sozialpolitik und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik Deutschland (1949-1975) 9783666370274, 9783525370278, 9783647370279


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German Pages [392] Year 2012

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Wohlfahrtsstaat der Mittelschichten?: Sozialpolitik und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik Deutschland (1949-1975)
 9783666370274, 9783525370278, 9783647370279

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© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370278 — ISBN E-Book: 9783647370279

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Gunilla Budde, Dieter Gosewinkel, Jürgen Kocka, Paul Nolte, Alexander Nützenadel, Hans-Peter Ullmann

Frühere Herausgeber Helmut Berding und Hans-Ulrich Wehler (1972–2011)

Band 208

Vandenhoeck & Ruprecht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370278 — ISBN E-Book: 9783647370279

Dagmar Hilpert

Wohlfahrtsstaat der Mittelschichten? Sozialpolitik und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik Deutschland (1949–1975)

Vandenhoeck & Ruprecht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370278 — ISBN E-Book: 9783647370279

Für Oliver

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-37027-8 ISBN 978-3-647-37027-9 (E-Book) Gedruckt mit Hilfe der Herbert Quandt-Stiftung und der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung. Umschlagabbildung: © picture-alliance / dpa © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370278 — ISBN E-Book: 9783647370279

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung: Die »Mitte« und der Wohlfahrtsstaat . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Alterssicherung in der Mittelschichtgesellschaft: Von der Überlebens- zur Lebensstandardsicherung . . . . . . . . . . 41 1. Entwicklung, Bedeutung und Funktion der Rentenversicherung 1889–1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1.1 Die »Bismarcksche Arbeiterversicherung« . . . . . . . . . . . . 43 1.2 »Verbürgerlichung« der Rentenversicherung . . . . . . . . . . 46 1.3 Bedeutungsgewinn und Funktionswandel nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2. Herausforderungen der Rentenpolitik am Beginn der Ära Adenauer 55 2.1 »Zum Leben zu wenig…«: Rentenleistungen und Einkommen der Rentnerhaushalte . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2.2 Auf dem Weg zu einer Neuordnung des Rentenrechts . . . . . 62 3. Soziale Sicherung in der prosperierenden Industriegesellschaft: Ordnungsvorstellungen und Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 3.1 Bürgerliche Sozialpolitik? Leitbilder und Reformpläne der CDU 71 3.2 Sozialistische Sozialpolitik? Reforminitiativen der SPD . . . . 76 3.3 Keine Klassenpolitik mehr: Experten-Wissen und Experten-Steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 4. Die Rentenreform 1957: Entstehung, Bedeutung und Folgen . . . . 87 4.1 Zwischen Restauration und Erneuerung: Zentrale Streitpunkte 88 4.1.1 Eigenständigkeit der Angestelltenversicherung . . . . . . 88 4.1.2 Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze? . . . . . . . 92 4.1.3 Eine neue Formel für die Rente . . . . . . . . . . . . . . . 94 4.1.4 Wieviel Dynamik bei Rentenanpassung? . . . . . . . . . 96 4.1.5 Am unteren Rand: Ersatzzeiten, freiwillige Versicherung und Mindestrenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4.1.6 Sonderregeln für Selbständige und Finanzierung durch Umlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4.1.7 Verabschiedung der Rentenreform im Bundestag . . . . 103 4.2 »Der Tag danach«: Die sozialpolitische Bedeutung der Rentenreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 5 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370278 — ISBN E-Book: 9783647370279

5. »Vermittelschichtung« der Rentner? Die sozialen Auswirkungen der Rentenreform . . . . . . . . . . . . 112 5.1 Zahltag: Erhöhung und Anpassung der laufenden Renten . . . 113 5.2 Gewinner und Verlierer: Rentenschichtung und Einkommen der Rentnerhaushalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 5.3 Horizontal oder vertikal? Sozialer Ausgleich und Umverteilung 128 5.4 Wohlstand und Teilhabe: Die neue soziale Position der Rentner 133 6. Ausbau zugunsten der »Mitte«: Die Rentenpolitik 1957–1972 . . . . 137 6.1 Beseitigung von »Härten«: Das Erste Rentenversicherungsänderungsgesetz . . . . . . . . 138 6.2 Konsolidierung und Strukturreform: Das Dritte Rentenversicherungsänderungsgesetz . . . . . . . . 143 6.3 »Freier Bauer in sozialer Sicherheit«: Die Alterhilfe der Landwirte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 6.4 Zwischen Pflichtversicherung und privater Vorsorge: Die Neuordnung der Handwerkerversorgung . . . . . . . . . . 153 6.5 Gesichertes Alter für alle: Die freien Berufe und die Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige . . . . . 160 7. Höhepunkt und Wende: Die Rentenreform 1972 . . . . . . . . . . . 166 7.1 Die Rentenpolitik der Nachkriegsjahrzehnte im Spiegel der Rentenreform von 1972 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 7.2 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 II. Höhere Einkommen, höhere Leistungen? Der mittelschichtenorientierte Familienlastenausgleich . . . . . . . . 177 1. Zwischen Sozial- und Bevölkerungspolitik: Kinder- und familienbezogene Leistungen 1891–1949 . . . . . . . . . . . . . . . . 179 1.1 Kaiserreich: Mehr Kinder, weniger Steuern . . . . . . . . . . . 180 1.2 Weimarer Republik: Grundrecht ohne Folgen . . . . . . . . . . 184 1.3 Nationalsozialismus: Von der Familien- zur Bevölkerungpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 1.4 Besatzungszeit: Versuch eines Neuanfangs . . . . . . . . . . . 194 2. Die soziale Lage der Familien im Nachkriegsdeutschland . . . . . . 196 2.1 Familienleben zwischen Wandel und Stabilisierung nach dem Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 2.2 »Heimchen am Herd«? Berufstätigkeit von (Ehe-)Frauen und Müttern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 2.3 Kinderzahl und soziale Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 2.4 »Kind als Kostenfaktor«: Familieneinkommen und Lebenshaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 6 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370278 — ISBN E-Book: 9783647370279

3. Der Wert der Familie: Familienpolitische Leitbilder und Konzepte 209 3.1 Schutz vor sozialer Deklassierung: Der Familienlastenausgleich der Unionsparteien . . . . . . . . 210 3.2 Kindergeld für alle Familien: Die Forderungen der SPD . . . . 217 3.3 Staatliches Kindergeld oder Soziallohn? Bedeutung und Einflussnahme der Verbände . . . . . . . . . . 223 3.4 Kinderreiche vs. Kinderlose? Der Familienlastenausgleich als Gegenstand wissenschaftlicher Expertise . . . . . . . . . . 227 4. Vom schichtinternen zum schichtübergreifenden Familienlastenausgleich: Die Kindergeldgesetzgebung 1954–1975 . 232 4.1 Umstrittenes Gesetz: Die Kindergeldregelung von 1954 . . . . 232 4.2 Änderung und Ergänzung der Kindergeldgesetzgebung (1955–1959) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 4.3 Zweitkindergeld und grundlegende Neuordnung (1961–1964) 238 4.4 Die Verwirklichung des sozialdemokratischen Kindergeldkonzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 5. Aufbau, Struktur und Wirkung des Familienlastenausgleichs . . . 248 5.1 Höhere Einkommen, höhere Leistungen? Die kinderbedingten Freibeträge im Steuerrecht . . . . . . . . 248 5.2 Der »Splittingeffekt«: Zusätzliche Steuergeschenke für hohe Einkommen und Kinderlose . . . . . . . . . . . . . . . . 255 5.3 Direkter Transfer: Determinanten und Wirkungen des Kindergeldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 5.4 Wer profitiert? Die Einkommensverteilung nach dem Familienlastenausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 5.5 Kinderzuschlag statt Kindergeld: Der Familienlastenausgleich im öffentlichen Dienst . . . . . . 264 5.6 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 III. Mittelschichtgerechtes Wohnen: Die staatliche Wohnungs- und Eigentumsförderung . . . . . . . . . . 271 1. Wohnen in der Nachkriegszeit: Leitbilder, Determinanten und Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 2. Die Wohnungsbaugesetzgebung der fünfziger Jahre . . . . . . . . . 278 2.1. Sozialer Wohnungsbau schichtübergreifend: Das Erste Wohnungsbaugesetz 1950 . . . . . . . . . . . . . . . 278 2.2 Primat des Eigenheims: Das Wohnungsbau- und Familienheimgesetz 1956 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 3. Ein Haus mit Garten: Traum oder Wirklichkeit? Erfolge und Versäumnisse der Wohnungs- und Eigentumsförderung 291 7 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370278 — ISBN E-Book: 9783647370279

IV. Mittelschichten des Wohlfahrtsstaats: Beschäftigungsfelder und beruflicher Aufstieg . . . . . . . . . . . . . 299 1. Soziale Arbeit als Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 2. Die »Professionalisierung« der sozialen Arbeit . . . . . . . . . . . . 312 3. Beruflicher Aufstieg und »Vermittelschichtung« der Arbeiterklasse 318 4. Der öffentliche Dienst als Aufstiegsmotor und Gesellschaftsgestalter 322 5. Zusammenfassung: Die Mittelschichten als »Dienstleistungserbringer« . . . . . . . . . 329 Fazit: Kein Abschied vom Wohlfahrtsstaat der Mittelschichten? . . . . . 333 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391

8 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370278 — ISBN E-Book: 9783647370279

Vorwort Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2010 vom Fachbereich Geschichtsund Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin angenommen wurde. Ohne die tatkräftige Hilfe zahlreicher Personen und Institutionen wäre die Anfertigung dieser Arbeit nicht möglich gewesen. Mein herzlicher Dank geht zuallererst an meinen Doktorvater Prof. Paul Nolte für die langjährige Förderung und Unterstützung, die vielen Ideen und Anregungen, die stets freundschaft­ liche Zusammenarbeit und nicht zuletzt für die Empfehlung für die Aufnahme in die »Kritischen Studien«. Ein Forschungsprojekt der Herbert Quandt-Stiftung zur »Zukunft der gesellschaftlichen Mitte« gab den Impuls zu dieser Arbeit. Für die finanzielle Unterstützung sowie für die anregenden Veranstaltungen und Diskussionen im Rahmen der Projektarbeit danke ich der Herbert Quandt-Stiftung sehr herzlich. Mein Dank gilt ebenfalls der Fritz Thyssen-Stiftung für die Gewährung eines Promotionsstipendiums, das mir die Freiheit gegeben hat, mich über zwei Jahre ganz der Dissertation zu widmen. Beiden Stiftungen sei darüber hinaus herzlich für die finanzielle Förderung bei der Drucklegung gedankt. Sehr wichtig für den Erfolg dieser Arbeit waren, vor allem im frühen Stadium, die Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen am Lehrstuhl. Hier möchte ich vor allem Christine Gundermann für die Kommentare und Kritik, aber auch die vielen gemeinsamen Stunden danken. Von den Wegbegleitern und Förderern während meines Studiums möchte ich PD Dr. Ina-Ulrike Paul und Prof. Uwe Puschner nennen. Darüber hinaus gilt mein Dank Prof. Dieter Gosewinkel für die Erstellung des Zweitgutachtens. Christa Hilpert, Nadine Lipp und Oliver Rüß haben das Manuskript sorgsam und kritisch gelesen. Von ihren Hinweisen und Verbesserungsvorschlägen hat der Text sehr profitiert. Meinem Ehemann Oliver Rüß gilt mein ganz tiefer Dank. Er hat mich stets motiviert und mir mit unendlich viel Geduld beigestanden. Ohne sein Verständnis, seinen Rückhalt und seine Liebe wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Besonders danken möchte ich auch meinen Eltern für ihre andauernde liebevolle Unterstützung, ihr Interesse und ihre Fürsorge, mit der sie mir diesen Weg ermöglicht haben. Berlin, im März 2012

Dagmar Hilpert

9 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370278 — ISBN E-Book: 9783647370279

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370278 — ISBN E-Book: 9783647370279

Einleitung: Die »Mitte« und der Wohlfahrtsstaat

Das Leitbild der »Mitte« ist im europäischen Denken tief verwurzelt. Bereits in der griechischen Antike wurde die »Mitte« als entscheidender Faktor der politischen und sozialen Ordnung wahrgenommen. Sie verhieß soziale Stabilität und politische Balance.1 Für Aristoteles galt grundsätzlich, dass die bürgerliche Gesellschaft die beste sei, die sich auf die Mittleren gründe. Eine breite mittlere Bürgerschaft ermögliche Demokratie und mache sie dauerhaft.2 Zugleich sollte – da allein der mittlere Besitz zwischen den Extremen des Übermaßes oder der Unzulänglichkeit ein vernunftgemäßes Leben erlaube  – die »Mitte« für jeden erreichbar sein. In ähnlicher Weise findet sich auch bei Horaz die Wertung der sozialen und moralischen Mitte als einer »goldenen« (»­aurea mediocritas«).3 Im 19.  Jahrhundert wurde der aristotelische Entwurf einer möglichst homogenen, um eine breite gesellschaftliche Mitte zentrierten Bürgergesellschaft als Zukunftskonzept aktualisiert. In den Wandlungen der Ständegesellschaft zu einer marktförmig organisierten Klassengesellschaft spielte der Appell an die »Mitte« eine wichtige Rolle, denn man glaubte den Mittelstand durch das Wachstum der industriellen Unterschichten, aber auch durch den Reichtum einer neuen Bourgeoisie in großer Gefahr.4 In der allgemeinen Wahrnehmung verlief die Unterscheidung zwischen Besitz und Nichtbesitz, zwischen Geld­ aristokratie und »Proletariat«; die Mitte dagegen schien in Deutschland zwischen beiden Extremen aufgerieben zu werden. Der Topos vom »Verschwinden des Mittelstandes« wurde zum Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher und publizistischer Abhandlungen.5 Doch entgegen allen Erwartungen verschwand der Mittelstand nicht. Vielmehr drängte sich die Erkenntnis einer relativen Stabilität der Mitte« auch in Krisenzeiten auf. Das quantitative Verhältnis von »Oben«, »Mitte« und »Unten« zeichnete sich vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis in die Zeit der Weimarer Republik hinein durch eine bemerkenswerte Konstanz aus.6

1 Vgl. Spahn; von Kielmansegg. 2 Aristoteles, Politik, Buch 4, Abschnitt 1296a. 3 Horaz, Carmina, Buch 2, Abschnitt 10. 4 Nolte, Ordnung, S. 39. 5 Vgl. z. B. Schmoller, Geschichte, S. 677. 6 Nolte, Ordnung, S. 41.

11 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370278 — ISBN E-Book: 9783647370279

Sowohl die »Mitte«-Rhetorik  – Attribute wie »Staats- und Ordnungserhaltung«, »gesunde Substanz«, »wirtschaftliche und moralische Wertschätzung« – als auch das Unbehagen an der Klassengesellschaft und die Angst vor dem Schwinden mittlerer Gesellschaftsschichten lebten indessen auch über den Ersten Weltkrieg hinaus fort. Die zwanziger Jahre waren von der Vorstellung einer scharf in Schichten, Klassen oder Stände segmentierten Gesellschaft beherrscht. Um 1930, in der sich zuspitzenden ökonomischen und politischen Krise der Weimarer Republik, weitete sich die Furcht zur »Panik im Mittelstand« aus.7 Die im 19.  Jahrhundert bereits geäußerten Befürchtungen, der Mittelstand könne einer Polarisierung der Gesellschaft zum Opfer fallen, wiederholten sich. Auch die neu-rechte Publizistik widmete sich der Sorge um die Gefährdung des Mittelstands.8 Insgesamt wurde der Mittelstand seit den zwanziger Jahren radikaler, von »Maßhalten« im Sinne der klassischen Theorie konnte keine Rede mehr sein. Jedoch entfaltete der »Mitte«-Begriff weder für die politischen Lehren Hitlers noch für die praktische Politik der dreißiger Jahre eine große Bedeutung. Die Vorstellung, der Nationalsozialismus sei ein »Extremismus der Mitte« gewesen und der Mittelstand eine Hauptstütze des nationalsozialistischen Aufstiegs bis 1933, ist von der neuen NS-Forschung relativiert worden.9 In der Zeit der frühen Bundesrepublik erlangte die »Mitte« als zentrale, wohlvertraute Denkfigur erneut große Bedeutung. Dazu trug vor allem die von Helmut Schelsky 1953 geprägte Formel von der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« bei.10 Dieses prägnante und leicht nachvollziehbare Bild der sozialen Ordnung, das Gegenwartsanalyse und Zukunftsentwurf zu verbinden schien, entwickelte eine Strahlkraft bis weit über die fünfziger Jahre hinaus.11 Die »Mitte« der fünfziger bis siebziger Jahre verkörperte Stabilität, Sicherheit und Wohlstand. Ihre Anziehungskraft spiegelte sich auch im Bewusstsein der westdeutschen Bevölkerung wider, die sich bei Meinungsumfragen möglichst in der Nähe der »Mitte« zu verorten versuchte.12 Seit den siebziger Jahren ging die Kategorie der »Mitte« aber mehr und mehr verloren. Das lag zum einen daran, dass die siebziger und achtziger Jahre eine Phase der Konsumnormalität bezeichneten, in der Klassenunterschiede tatsächlich keine große Rolle mehr spielten. Zum anderen passte die alte »Mitte«-Rhetorik nicht mehr zum neuen sozialen Vokabular der »68er« und Neuen Linken. Seit Mitte der achtziger Jahre verhinderte die Erfahrung von Massenarbeitslosigkeit und dem, was man als »neue Armut« zu beschreiben begann, die Rückkehr der »Mitte« als soziales Ideal.13 7 Auf diese bekannt gewordene Formel brachte es Theodor Geiger, vgl. ders., Panik. 8 Vgl. Leinweber. 9 Vgl. Winkler, Extremismus; Falter. Vgl. auch Lenger. 10 Schelsky, Bedeutung des Schichtungsbegriffs, S.  331 f. Vgl. dazu auch Braun, Schelskys ­Konzept. 11 Vgl. Nolte, Ordnung, S. 330; ders., Generation Reform, S. 50 f. 12 Vgl. Nolte, Ordnung, S. 341 f. 13 Vgl. Nolte, Generation Reform, S. 51.

12 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370278 — ISBN E-Book: 9783647370279

Am Beginn des 21.  Jahrhunderts, im Zuge der Debatte um eine »neue Bürgerlichkeit« und die Renaissance bürgerlicher Wertvorstellungen und Ver­ haltensleitbilder,14 taucht die Vision einer ausbalancierten, in der Mitte stabilisierten Gesellschaft erneut auf. Von den Randlagen wird wieder mehr auf das Zentrum der Gesellschaft geblickt, die Bedeutung der »Mitte« erneut thema­ tisiert. Dabei dominiert jedoch immer seltener ein selbstbewusster, optimistischer Ton. Vielmehr ist aus der stabilen Wohlstands-»Mitte« der fünfziger bis siebziger Jahre eine »Mitte« der Unsicherheit, der Abstiegsangst und der sozialen Erosion geworden.15 Das Bild der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« gilt als veraltet. Stattdessen ist das Gefühl zurückgekehrt, dass sich die gesellschaftlichen Abstände vergrößern und die »mittleren Sprossen« aus der »sozialen Leiter« herauszubrechen drohen.16 Wie Meinungsumfragen aus den letzten Jahren zeigen, macht sich ein wachsender Teil der »Mitte« über seine wirtschaftliche Situation »große Sorgen«.17 Hat dies auch etwas mit der Krise und Transformation des Wohlfahrtsstaats zu tun? Seit einigen Jahren lässt sich eine Neuordnung staatlicher Eingriffe und Bestandsgarantien in der Arbeitswelt, der Rentenversicherung, der Gesundheitsvorsorge oder der Eigenheimförderung beobachten. Es zeichnet sich ein Wandel staatlicher Aufgabenbestimmung und politischer Interventionsbereitschaft ab. Der »sorgende Wohlfahrtsstaat« mit seinem umfassenden Verständnis von gesellschaftlicher Gestaltung, Ungleichheitsdämpfung und Statussicherung scheint mehr und mehr abgelöst zu werden von einem »gewährleistenden Wohlfahrtsstaat«, der die soziale wie materielle Grundsicherung organisiert, eine Statusverantwortung jedoch zurückweist.18 Sind von der Neujustierung der Wohlfahrtsstaatlichkeit auch die vermeintlich »sicheren«, mittleren Lagen der Gesellschaft betroffen? Die neuen Statusängste der »Mitte« wurzeln jedenfalls nicht nur in geringeren Marktchancen, sondern auch in einer Bedrohung staatlich garantierter sozialer Sicherheit. Einiges deutet darauf hin, dass gerade die mittleren Schichten nach Jahrzehnten wirtschaftlicher Prosperität und sozialer Sicherheit Statusverluste und berufliche Abstiege zu befürchten haben.19 Erst in der Krise wird erkennbar, wie sehr das Selbstwertgefühl der »Mitte« in der Nachkriegszeit in den Wohlfahrtsstaat eingebettet war. In der sozialhisto­

14 Vgl. Hettling u. Ulrich; Hettling u. Hoffmann. 15 Vgl. dazu auch Herbert Quandt-Stiftung; Köcher. 16 Das Bild der »sozialen Leiter« stammt ursprünglich von dem Nationalökonom und Historiker Gustav Schmoller, der damit den gesellschaftlichen Wandel in der Zeit des Kaiserreichs zu beschreiben versuchte. Vgl. Die Eisenacher Versammlung zur Besprechung der socialen Frage und Schmollers Eröffnungsrede, in: JNS 20 (1873), S. 1–12. Vgl. dazu auch Nolte, Ordnung, S. 41 f.; Nolte u. Hilpert, S. 20 ff. 17 Vgl. insb. DIW, Schrumpfende Mittelschicht, S. 106 f.; Statistisches Bundesamt u. a., Datenreport 2008, S. 416 f. 18 So Vogel, S. 11. 19 Vgl. Vogel, S. 10.

13 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370278 — ISBN E-Book: 9783647370279

rischen Forschung ist die Frage nach dem Verhältnis von Wohlfahrtsstaatlichkeit und Sozialstruktur jedoch bisher kaum systematisch gestellt worden. Sozialpolitik galt seit der Einführung der Sozialversicherung in den 1880er Jahren in Deutschland traditionell als »Arbeiterpolitik«. So war in der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 von der »positiven Förderung des Wohles der Arbeiter« die Rede und davon, »den Hilfsbedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Bestandes, auf den sie Anspruch haben, zu hinterlassen«.20 Auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die »sociale Frage« noch eng mit der Arbeiterfrage verbunden.21 Nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich ein Paradigmenwechsel. Der Wohlfahrtsstaat übernahm neue Funktionen. Er diente nicht mehr nur dazu, im Falle von Krankheit, Invalidität und Alter sowie Arbeitslosigkeit eine finanzielle Hilfe­stellung, einen »Zuschuss« zum Lebensunterhalt, zu gewähren. Vielmehr war die Grundbedingung der Sozialpolitik, »dem Fleißigen und Tüchtigen jede Aufstiegsmöglichkeit zu geben«.22 Nicht nur die Hilfsbedürftigen, sondern »weite Schichten der Bevölkerung, die der Mittelklasse angehör[t]en«, bedurften nach den Worten von Bundeskanzler Konrad Adenauer, »der Sorge des Staates«.23 Der Kreis der Empfänger sozialer Leistungen wurde erweitert, und die Leistungen wurden in regelmäßigen Abständen dem steigenden Lebensniveau angepasst. Das galt nicht nur für den Bereich der Sozialversicherungen. Auch in der Familien-, Wohnungs- und Bildungspolitik weitete sich nach dem Zweiten Weltkrieg das Spektrum der sozialen Leistungen aus. Neue Formen der staatlichen Förderung wurden eingeführt, und das Netz der sozialen Sicherung wurde immer enger gespannt. Diese wohlfahrtsstaatlichen Ausbauund Förderungsmaßnahmen, so die grundlegende Vermutung, galten nicht in erster Linie den unteren, benachteiligten Schichten. Sie waren an die Mittelschichten gerichtet, die sie auch überwiegend in Anspruch nahmen. Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist demgemäß das Verhältnis von Wohlfahrtsstaat und Mittelschichten in der Bundesrepublik der fünfziger bis siebziger Jahre. Die Arbeit verfolgt dabei eine doppelte Fragestellung: Sie analysiert erstens, wie sich der Wohlfahrtsstaat in Hinblick auf die Mittelschichten entwickelt hat: wie er aufgebaut war, welche Leistungen er bereitstellte, aber auch welche Vorstellungen von sozialer Ordnung ihm zugrunde lagen. Lässt sich das westdeutsche Sozialsystem aufgrund seiner Organisation und Verteilungswirkung einem bestimmten Typus von Wohlfahrtsstaat zurechnen? Ist es möglich, dass die Leistungsberechnung und -verteilung bestimmten 20 Sten. Ber. über die Verhandlungen des Reichstags, V. Legislaturperiode, I. Session 1881/82, S. 2. 21 Vgl. Abelshauser, Weimarer Republik – ein Wohlfahrtsstaat, insb. S. 17; Metzler, S. 67. 22 Vgl. Erste Regierungserklärung von Bundeskanzler Konrad Adenauer am 20.9.1949 im Bundestag (Sten. Ber., Bd. 1, S. 22–30). 23 Vgl. Dritte Regierungserklärung Adenauers am 20.10.1957 im Bundestag (Sten. Ber., Bd. 39, S. 17–26).

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Einkommens- und Berufsgruppen besonders zugute kam? Welche sozialpolitischen Zielsetzungen verfolgten die jeweiligen Regierungen und Parteien, welche (Verbands-) Interessen wurden berücksichtigt? War die Mittelschichtorientierung der Sozialpolitik bewusste Intention, gar ideologisches Kalkül, oder un­intendierter Nebeneffekt? Zweitens wird erörtert, wie sich die Lebensbedingungen der Mittelschichten veränderten, welche Auswirkungen die wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen auf die sozialen Mittellagen hatten und welche sozialstrukturellen Effekte sich beobachten lassen. Haben die wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen den Aufstieg in die Mittelschichten befördert, wurden somit Aufstiegskanäle erschlossen oder verbreitert? War der Sozialstaat eine wesentliche Bedingung für die vor allem von Josef Mooser beschriebene »Entproletarisierung« und damit »Vermittelschichtung« der Industriearbeiterschaft der fünfziger bis siebziger Jahre?24 Oder hat der Wohlfahrtsstaat eher den sozialen Status derer protegiert, die bereits relativ etabliert und gesichert waren, also sozial konservierend, wenn nicht gar nach unten abschließend gewirkt? Mit anderen Worten: Kann von einer sozialen »Nivellierung« in der Mitte der Gesellschaft die Rede sein? Eine wichtige Leitfrage in diesem Zusammenhang richtet sich auch auf die Geschlechter­ dimension. Brachte der Ausbau des Wohlfahrtsstaats Leistungsverbesserungen für Frauen, z. B. in der Rentenpolitik durch die Anerkennung von Ersatzzeiten oder Möglichkeiten der freiwilligen Versicherung für nicht-erwerbstätige Mütter? Zielten die sozialen Leistungen in der Familienpolitik auf eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder beruhten die Wert- und Ordnungsvorstellungen in der Sozialpolitik doch eher auf dem »male-breadwinner«-Modell? Während die Gender-Perspektive in der Geschichte der Sozialpolitik bereits einen zentralen Platz einnimmt,25 ist sie für die Frage nach sozialen Strukturen und Klassenbildung bisher noch vernachlässigt worden. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen insgesamt die Wechselwirkungen zwischen wohlfahrtsstaatlicher Politik auf der einen und den Veränderungen der ökonomischen Bedingungen und Lebensverhältnisse der Mittelschichten auf der anderen Seite. Die erkenntnisleitende Annahme ist, dass die Ausweitung der Mittelschichten und die Entwicklung des Wohlfahrtsstaats in der Nachkriegsprosperität der fünfziger bis siebziger Jahre zwei eng miteinander verbundene Prozesse darstellten. Sie sind nicht nur zeitlich parallel verlaufen, sondern hingen in ihren Ursachen und Wirkungen unmittelbar zusammen. Der Ausbau des Wohlfahrtsstaats, so die zentrale These, hat die Expansion und den Aufstieg der Mittelschichten nach dem Zweiten Weltkrieg unterstützt und befördert; zugleich richtete sich die staatliche Sozialpolitik am Wohl und Aufstieg der Mittelschichten aus. Demnach könnten und müssten die Mittelschichten als »Profiteure« und »Nutznießer« des Auf- und Ausbaus des wohlfahrtsstaatlichen Systems nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet werden. 24 Vgl. Mooser, Arbeiterleben; ders., Auflösung. 25 Vgl. zuletzt Kuller, Ungleichheit.

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Der hier verwendete Begriff der »Mittelschichten« ist aus der Gesellschaftsbeschreibung des 20.  Jahrhunderts, und besonders dessen zweiter Hälfte, kaum mehr wegzudenken. Das zeigt auch seine zunehmende Verwendung in der sozialgeschichtlich orientierten Zeitgeschichte.26 Gleichwohl entzieht er sich einer einfachen und eindeutigen Definition und bleibt häufig diffus. Über wen oder was sprechen wir, wenn wir die »Mittelschichten« zum Thema historischer Analysen machen? Noch bis in die Mitte der fünfziger Jahre war »Mittelstand« der am häufigsten verwendete Begriff für die Bezeichnung der sozialen Mittellagen.27 Er entstand um die Mitte des 18. Jahrhunderts und beschrieb den anwachsenden, häufig auch als »bürgerlich« bezeichneten mittleren Teil der ständisch geordneten Gesellschaft zwischen Adel und Proletariat. 1777 erschien »Mittelstand« zum ersten Mal in einem deutschen Lexikon und wurde dort definiert als »der mittlere Zustand einer Person, besonders in Ansehung des Vermögens und des bürgerlichen Ranges, derjenige Stand, welcher zwischen reich und arm, zwischen vornehm und gering in der Mitte ist«.28 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts  – als Folge der begrifflichen Verklammerung von politischer Repräsentation und »Mittelstand« als dem »Kern der Nation« oder des eigentlichen Volkes – bildete sich ein konstitutioneller Mittelstandsbegriff aus. Dieser war von einem neuen bürgerlich-moralischen Selbstbewusstsein geprägt und enthielt einen Anspruch auf politische Führung. Statt »Mittelstand« war nun vielfach auch »Bürgertum« oder »Bürgerstand« in Gebrauch, wenn von der Trägerschaft des konstitutionellen Systems die Rede war.29 Das entsprach der Neigung, den allgemeinen Mittelstandsbegriff sozial enger einzugrenzen und die »Kaufleute, Künstler, Staatsbedienstete und durch andere Arbeiten des Geistes« ausgezeichnete Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft von dem »Nahrungsstand« zu unterscheiden.30 Am Ende des 19. Jahrhunderts zählten vor allem die selbständigen Handwerker und Gewerbetreibenden, Kaufleute sowie selbständige mittlere Bauern zum Mittelstand, daneben aber auch Teile des »neuen Bürgertums« wie mittlere Beamte, Akademiker, Gymnasiallehrer, Pfarrer und Ärzte sowie neue wirtschaftsbürgerliche Schichten. Indem dem Wort »Mittelstand« Prädikatoren wie »gebildeter«, »bürgerlicher« und »gewerblicher« Mittelstand beigefügt wurden, wurde der zunehmenden stratifikatorischen Differenzierung innerhalb des Mittelstands Rechnung getragen.31 26 Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1949–1990, S.  135 ff.; Rödder, S.  25, 199; Wolfrum, S. 149. 27 Vgl. zur Begriffsgeschichte vor allem Conze, Mittelstand. 28 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Bd. 3, S. 248. Vgl. dazu auch Conze, Mittelstand, S. 52. 29 Vgl. Conze, Mittelstand, S. 66 f. 30 Julius v. Massow (1800), hier zit. nach: Conze, Mittelstand, S. 59. 31 Vgl. Conze, Mittelstand, S. 81 f.

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Der soziale Wandel der Industriegesellschaft, der vor allem durch das Anwachsen unselbständiger Existenzen mittlerer Einkommen gekennzeichnet war, führte zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Erweiterung des Mittelstandsbegriffs herbei: Zum »alten Mittelstand« der Gewerbetreibenden trat der sog. »neue Mittelstand« der Unselbständigen, d. h. der Angestellten. Die Angehörigen dieses »neuen Mittelstands«,32 die vor allem in den Büros der großen Industriebetriebe und im Handel tätig waren und für die das »Angestellt sein« zum Beruf geworden war,33 galten mittelstandspolitisch nicht mehr als gleichrangig mit dem »alten Mittelstand« der Gewerbetreibenden. Ihre materielle Lage und abhängige Stellung, dazu die Expansion meist schlecht bezahlter weib­licher Angestellter und der relative Rückgang leitender Tätigkeiten näherten sie eher der Arbeiterschaft an.34 Dennoch verweigerte sich der Großteil der Angestellten in Bewusstsein und Verhalten der Zuordnung zum »Proletariat« (»Stehkragenproletarier«) und beharrte auf seinem »ständischen Eigenwert« sowie seiner Nähe zum »alten Mittelstand«. Schon für die Zeitgenossen symbolisierten die Angestellten damit in besonderer Weise das Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlichem Aufbruch und modernem, urbanen Lebensstil einerseits, dem Festhalten an alten, Sicherheit versprechenden sozialen Kategorien andererseits.35 In der Zeit der Weimarer Republik zeigte sich sodann immer deutlicher, dass der Mittelstand keine Einheit mehr bildete, sondern aus ganz verschieden strukturierten mittleren Einkommensschichten zusammengesetzt war. Dazu trug auch die individuelle Berufswahl bei, die soziale Mobilität erleichterte und die Klassenschranken durchlässiger machte. Gleichzeitig begann eine neue Massenkultur im Freizeitverhalten und im großstädtischen Alltag die scharf gezogenen Klassengrenzen und ihre nach außen sichtbaren Merkmale der Distinktion zu verwischen.36 Dennoch blieb »Mittelstand« der grundlegende Begriff zur Selbstbeschreibung und Identifizierung der sozialen Mittellagen. Auch die Nationalsozialisten führten den Mittelstandsbegriff weiter. Jedoch wurden unter ihrer Herrschaft in den dreißiger Jahren die herkömmlichen Begriffe zur Beschreibung der Gesellschaft durch die neuen, stärker nivellieren32 Die Bezeichnung »neuer Mittelstand« diente den Angestellten vor allem als Selbstbeschreibungskategorie. Die Angestellten fühlten sich nicht als Arbeitnehmer schlechthin, sondern als Mitglieder einer berufsgruppenübergreifenden Schicht, die sich sowohl von den Reichen und Mächtigen als auch von der Masse der Lohnarbeiter unterschied. Vgl. Kocka u. Prinz, S. 212. 33 Potthoff, S. 1090. 34 Vgl. dazu Prinz, Vom neuen Mittelstand, hier insb. S. 13 ff. Vgl. auch Lederer u. Marschak, die in ihrem umfassenden Artikel über den »neuen Mittelstand« zu dem Fazit gelangten, »dass die Bezeichnung ›neuer Mittelstand‹, die schon vor dem Kriege nur zum Teil zutreffend war, nach dem Zusammenbruch immer weniger zutreffend wird«. Lederer u. ­Marschak, S. 141. 35 Vgl. dazu insb. Kocka, Die Angestellten, S. 64 ff.; ders., Middle Classes, S.785 ff.; Kocka u. Prinz, S. 210 ff. Schulz, Die Angestellten, S. 5 ff., 63 ff. 36 Vgl. dazu vor allem die zeitgenössischen Beobachtungen des Journalisten Siegfried Kracauer über die Angestellten in Berlin, vgl. Kracauer. Vgl. dazu auch Nolte, Ordnung, 113 f.

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den Begriffe der NS-Ideologie wie »Gemeinschaft«, »Volk« und »Volksgemeinschaft« überlagert.37 Die »Volksgemeinschaft« verhieß Inklusion, Harmonie und eine Art »Egalitarismus«, der jegliche soziale Strukturierung zu überwinden versprach. Vor allem die Angestellten wurden ihres »ständischen Sonderbewusstseins« zunehmend beraubt und nicht nur sozialpolitisch, sondern auch semantisch einer universellen Kategorie der Arbeiter zugeordnet.38 Nach dem Zweiten Weltkrieg und in den Anfangsjahren der Bundesrepublik erlebte der lang etablierte Begriff des »Mittelstands« eine Renaissance, einschließlich seiner »politischen Obertöne«, die auf eine Stabilisierungs- und Pufferfunktion dieser Schichten gegenüber Proletariat und Großindustrie zielten.39 Er war ein Sammelbe­griff, der nicht nur die selbständigen Kleingewerbetreibenden umfasste, sondern häufig auch die Angestellten und neuen Dienstleistungsklassen einschloss. Im Laufe der fünfziger Jahre wurde dann aber statt des alten Begriffs des »Mittelstands« immer häufiger der Begriff der »Mittelschicht« verwendet, wenngleich dabei im Wesentlichen dieselben Gruppen gemeint waren, nämlich der früher sog. »alte« und »neue Mittelstand«. »Der industrielle Charakter unserer zivilisatorischen Verhältnisse bringt es mit sich«, so Karl W ­ ilhelm Böttcher 1956, »dass innerhalb der neuen Mittelschichten die Unterscheidung von Selbständig und Unselbständig, die früher ein Hauptmerkmal war, zweitrangig geworden ist«. Beide stünden »im Dienst«; ihr Erfolg messe sich ganz wesentlich »an der Wirksamkeit ihrer Dienstleistung«.40 Auch der Bericht der Bundesregierung über die Lage der Mittelschichten von 1960 hielt die Unterscheidung zwischen »Mittelstand« (= selbständiger Mittelstand) und »neuer Mittelstand« (= Angestellte und Beamte in der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst) für obsolet. Beide Gruppen seien »nur Teile jenes Bereichs der Gesellschaft, der mit dem in jüngster Zeit häufiger gebrauchten Ausdruck ›Mittelschichten‹ angesprochen ist«.41 Ebenso wie Böttcher ordnete der Bericht nun auch die Facharbeiter, zumindest dem Einkommen nach, den Mittelschichten zu. Wenn überhaupt noch von »Mittelstand« gesprochen werde, schränkte auch eine Denkschrift des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT) 1958 ein, so sei damit »selbstverständlich« kein Stand im Sinne der alten Ständelehre gemeint. »Dass es im sozialen Gefüge der modernen Industriegesellschaft keine hierarchische Gliederung – weder nach Ständen noch nach Klassen – mehr gibt, ist evident«.42 Dennoch hat der Begriff des »Mittelstands« als Residualkategorie bis in die Gegenwart überlebt. Bis heute dient er zur Selbstidentifikation von gewerblich Selbständigen, insbesondere des Handwerks und des Kleinhandels. Zum gän37 Vgl. dazu insb. Stolleis, Gemeinschaft; Wildt, Volksgemeinschaft; Bajohr u. Wildt. 38 Vgl. dazu Kocka, Die Angestellten, S. 178 ff.; Kocka u. Prinz, S. 216 ff.; Mooser, S. 181 f. 39 Nolte, Ordnung, S. 322. 40 Böttcher, S. 240. 41 BT-Drs. III/2012, S. 7. 42 Deutscher Industrie- und Handelstag, Stärkung der Mittelschichten. Gründe, Möglichkeiten und Grenzen (1958/59), S. 8, hier zit. nach: Nolte, Ordnung, S. 323.

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gigen Begriff der Beschreibung sozialer Mittellagen ist aber spätestens seit den sechziger Jahren der Begriff der »Mittelschicht« geworden.43 Wie der kurze begriffsgeschichtliche Streifzug deutlich gemacht hat, ist das Problem, die »Mitte« der Gesellschaft zu definieren, nicht neu. Es zieht sich mit beeindruckender Konstanz durch die Geschichte der Selbstverständigung der Gesellschaft. Die Definitionen und Begriffe von mittlerer Lage und mittleren Schichten waren oft umstritten und Gegenstand von akademischen ebenso wie politischen Konflikten. Die Geschichte der »Mitte« ist immer auch die Geschichte des Kampfes um ihre Deutungsmacht. Es gestaltet sich daher äußerst schwierig, die Grenzen der Mitte der Gesellschaft objektiv zu bestimmen oder sie mit eindeutigen, quantifizierbaren Indikatoren zu messen. In exemplarischer Weise hat der Schweizer Nationalökonom Fritz ­Marbach in seiner »Theorie des Mittelstandes« 1942 das methodische Grundproblem einer Untersuchung über die Mittelschichten benannt: »Wer über den Mittelstand etwas aussagen will«, so Marbach, »befindet sich nicht in der beneidenswerten Lage der Naturwissenschaftler, die, welches immer das Forschungsobjekt sein möge, einem willentlich frei abgrenzbaren und zur klaren Umschreibung geeigneten Fragenkomplex gegenüberstehen. Der Mittelstand ist, wie wir bald erkennen werden, ein praktisch nicht leicht zu umgrenzendes Gebilde«.44 Marbach kommt zu dem Schluss, dass »der Mittelstand« nur begrenzt sozialstatistisch fixierbar und daher relational zu bestimmen sei.45 In fast allen Schichtungsmodellen moderner Gesellschaften ist seit der Mitte des 20. Jahrhunderts immer wieder mit Grenzbegriffen wie der »oberen« und der »unteren Mittelschicht« operiert worden.46 Als »untere Mittelschicht« wurden häufig solche (Berufs-) Gruppen bezeichnet, die der produzierenden Industriegesellschaft, das heißt vor allem auch der körperlichen Arbeit, im Verlauf der Tertiarisierung entwachsen waren, ohne besondere Qualifikationen oder Einkommen erreicht zu haben. Diese Gruppen, zu denen seit Anfang des 20. Jahrhunderts auch die einfachen Büro- und Handelsangestellten gehörten, sind von Ralf Dahrendorf Mitte der sechziger Jahre auch als der »falsche 43 Vgl. Dahrendorf, Klassen; Bolte, Anmerkungen; Scheuch; Janowitz,. Vgl. dazu auch Geißler, Das mehrfache Ende; ders., Kein Abschied. – Im Übergang zum Schichtungsbegriff wirkte sich auch der Einfluss amerikanischer Analysen aus. Der Begriff der Schichtung stellte nicht nur auf ökonomische oder politische Kategorien ab, sondern erlaubte es, Kriterien wie Besitz, Einkommen, Berufsstellung, gesellschaftliches Ansehen, Konfession, Geschlecht oder Alter zu isolieren und zu Merkmalsbündeln für eine realitätsnahe Analyse zusammenzufassen. Vgl. Schulz, Die Angestellten, S. 67 f. 44 Marbach, S. 11. 45 Zu einer ganz ähnlichen Schlussfolgerung kommt Ende der achtziger Jahre auch der französische Soziologe Pierre Bourdieu. Die mittleren Positionen, so Bourdieu, lassen sich kennzeichnen als »in Bewegung begriffene, sich selbst verändernde Durchgangsstationen«, Bourdieu, S. 537. Vgl. auch Vogel, S. 22 f. 46 Vgl. dazu insb. die Übersicht bei Dahrendorf, Gesellschaft, S. 100. Vgl. auch Nolte u. Hilpert, S. 30 f.

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Mittelstand« bezeichnet worden.47 Umgekehrt schloss diese untere Grenzzone aber auch solche »Erwerbsklassen«48 der Hochindustriegesellschaft ein, die durch hohe Löhne und im Gefolge des allgemeinen Wohlstandszuwachses materiell die Schwelle zu den Mittelschichten überschritten. Das traf auf die obere Industriearbeiterschaft, die »Arbeiteraristokratie«, seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zu und galt in der Bundesrepublik seit den sechziger Jahren für größere Teile der männlichen industriellen Facharbeiterschaft.49 Zur »oberen« Mittelschicht dagegen wurden vor allem die ehemals bürger­ lichen Oberschichten gezählt, das sog. obere Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum. Diese »bürgerliche Mitte« betrieb schon in der ersten Jahrhunderthälfte auf der einen Seite die Abgrenzung von den unteren Schichten, indem sie auf die »Bürgerlichkeit« ihrer Lebensweise abhob; auf der anderen Seite gelang es ihr aber nicht, in ihrer Mehrzahl zur »Elite« bzw. »Oberschicht« aufzuschließen. In diesem Spannungsfeld zwischen materieller Zugehörigkeit zur Mittelschicht einerseits und dem Wunsch und Streben nach (kultureller) Exklusivität und wirtschaftlicher und politischer Führung andererseits, bewegte sich das Bürgertum während des gesamten 20. Jahrhunderts.50 Unterscheidet man pragmatisch zwischen einem engen und weiten Mittelschichtbegriff, geht die vorliegende Studie von einem weiten Begriff aus. Prinzipiell werden im Folgenden sowohl die »obere« als auch die »untere« Mittelschicht zu den Mittelschichten (im Plural) gezählt. Gerade mit Blick auf die leitende Fragestellung nach den Wechselwirkungen zwischen wohlfahrtsstaatlicher Expansion und Sozialstrukturentwicklung gilt es im Auge zu behalten, dass die Existenz der unteren oder auch »Rand-Mittelschicht« wesentliche Funktionen für die Integration der westdeutschen Gesellschaft erfüllt hat. Sie diente als Brücke für den sozialen Aufstieg, aber auch als ein kultureller Bezugspunkt der gesellschaftlichen Normalität, an dem sich Arbeiter- und Unterschichten ebenso orientieren konnten wie die besser gebildete und mehr besitzende »Kern-Mittelschicht«.51 Wie lässt sich der Mittelschichts­begriff noch weiter ein- oder abgrenzen? Welche Kriterien oder Definitionsmerkmale spielen für die Zugehörigkeit zu den Mittelschichten in der Bundesrepublik der fünfziger bis siebziger Jahre eine Rolle? Soziale Schichten werden grundsätzlich durch die berufliche Stellung, das Einkommen und den Bildungsabschluss charakterisiert.52 Im engeren Sinne wird in den Sozialwissenschaften jedoch erst dann von einer sozialen Schicht 47 Dahrendorf, Gesellschaft, S. 110. 48 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 177. 49 Vgl. auch die Unterscheidung »Untere Mittelschicht/nicht industriell« und »Untere Mittelschicht/industriell« bei Moore u. Kleining, S. 99 ff. 50 Vgl. Nolte u. Hilpert, S. 27. Vgl. auch Moore u. Kleining, S. 97 ff. – Die Frage nach dem Wesen und den Definitionsmerkmalen des Bürgertums wirft ähnlich große Schwierigkeit auf wie die Definition der »Mittelschichten«. Vgl. Mergel, S. 6 ff.; Schäfer, S. 12 ff. 51 Vgl. Nolte u. Hilpert, S. 31. 52 Vgl. zum Folgenden auch Hradil u. Schmidt, S. 169 ff.

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gesprochen, wenn mit der Stellung im Oben und Unten von Beruf, Einkommen und Qualifikation auch ähnliche Mentalitäten und Denkweisen einhergehen.53 Die »objektiven«, sozialökomomischen Faktoren, welche die äußere Lage oder auch die Lebensbedingungen der Menschen definieren, werden so durch »subjektive«, sozialkulturelle Merkmale ergänzt. Insgesamt gilt, dass nicht eine einzelne Kategorie, sondern ein Set von Merkmalen für die Zugehörigkeit zu einer Schicht bestimmend ist. Der Schichtbegriff verweist damit zwar auf aufzeig­ bare, nicht aber auf scharfe Abgrenzungen.54 Die Mittelschichten waren nach dem Zweiten Weltkrieg – in der Terminologie Max Webers – in erster Linie »Erwerbs«- und keine »Besitzklassen« mehr. Das regelmäßige monatliche Einkommen aus Erwerbsarbeit stellte die überwiegende Quelle materieller Sicherung der Mittelschichten dar. Demgegenüber spielte die Verfügbarkeit über Vermögen, das bekanntermaßen stärker ungleich verteilt war,55 für die Mittelschichten eine weniger bedeutende Rolle. Die Höhe des Markteinkommens, nicht die Vermögenssituation, wurde zur wichtigsten ökonomischen Determinante der sozialen Lage. Mit dem Einkommen hingen der Lebensstandard, die Ausstattung des Haushalts und die Konsumgewohnheiten zusammen, aber auch soziale Geltung und Prestige knüpften an den Bezug von Einkommen oder Einkommenslosigkeit an. »Im allgemeinen wird das, was die Leute tun und was ihnen widerfährt, von ihrem ökonomischen Status beeinflusst, d. h. von der Höhe ihres Einkommens […]«, so der Soziologe Gøsta Carlsson Anfang der sechziger Jahre.56 Auch im Mittelschichtenbericht von 1960 spielte das Einkommenskriterium eine wichtige Rolle. Dort hieß es: »Eine mittlere Einkommenslage bezeichnet insbesondere die Zugehörigkeit zu den Mittelschichten«. Und weiter: »Im Bereich der abhängig tätigen Erwerbspersonen fallen hierunter nicht nur Beamte und Angestellte, sondern auch Arbeiter, insbesondere Facharbeiter […]«.57 Doch was ist ein mittleres Einkommen? Besser als das Durchschnittseinkommen kann das Medianeinkommen zur Orientierung dienen.58 Nimmt man, wie heute üblich, als Armutsschwelle ein Äquivalenzeinkommen von weniger als 60 Prozent des Medians der Einkommen in der gesamten Bevölkerung an,59 so kann für die Mittelschichten von einem Äquivalenzeinkommen von etwa 53 Vgl. z. B. Geiger, Soziale Schichtung, S. 4 f.; Dahrendorf, Gesellschaft, S. 102 ff. Ähnlich auch der Bericht der Bundesregierung über die Lage der Mittelschichten (BT-Drs. III/2012), S. 6 f. 54 Dahrendorf, Klassen, S. 286 f. Vgl. auch Lepsius, Sozialstruktur, S. 277 ff. 55 Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1949–1990, S. 119 ff. 56 Carlsson, S. 190. 57 Bericht der Bundesregierung über die Lage der Mittelschichten (BT-Drs. III/2012), S. 6. 58 Das Medianeinkommen ist der zentrale Wert der nach der Einkommenshöhe gereihten Einkommen. Gegenüber dem arithmetischen Mittel hat der Median den Vorteil, dass er durch einzelne besonders hohe bzw. niedrige Einkommen nicht nach oben bzw. unten verzerrt wird. 59 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Lebenslagen, S. 20.

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80 bis 150 Prozent des Medianeinkommens ausgegangen werden. Der Anteil der Bevölkerung, der innerhalb dieser Grenzen lag, nahm im Untersuchungszeitraum aufgrund von Einkommenszuwächsen in den unteren Einkommenssegmenten deutlich zu. Die Arbeitnehmerverdienste näherten sich insgesamt einander an.60 Das Schichtungssystem wandelte sich tendenziell von einer »Pyramide« mit einem breiten Sockel von Niedrigverdienern zu einer »Zwiebel« mit einem breiten Bauch von mittleren Einkommen.61 Ein weiteres Merkmal für Zugehörigkeit zu den Mittelschichten ist der Beruf oder, genauer gesagt, die berufliche Stellung. Das Wachstum der Mittelschichten in der Nachkriegs- und Prosperitätsphase der Bundesrepublik war vor allem durch die Zunahme des »neuen Mittelstands«, d. h. der Angestellten- und Beamtenberufe geprägt. Aufgrund des steigenden Bedarfs an Büro- und Verwaltungstätigkeiten in Industrie und öffentlichem Dienst umfasste er bereits zu Beginn der sechziger Jahre rund ein Viertel aller Erwerbspersonen. Der »alte Mittelstand«, bestehend aus den Selbständigen des Handwerks, des Kleinhandels und der Landwirtschaft, der in der Zwischenkriegszeit noch einen größeren Anteil an den Erwerbstätigen gestellt hatte, verlor dagegen in der Nachkriegszeit zahlenmäßig an Bedeutung.62 Der Begriff der Mittelschicht wurde im Untersuchungszeitraum auf beide Berufsgruppen, den »alten« und den »neuen Mittelstand«, angewendet. Daher gelten auch im Folgenden qualifizierte mittlere und höhere Angestellten- und Beamtentätigkeiten auf der einen, selbständige Handwerksberufe, Kleinhändler und Bauern auf der anderen Seite als typische Mittelschichtberufe.63 Während Facharbeiter und Handwerksgesellen aufgrund ihrer beruflichen und ökonomischen Stellung und ihrer fachlichen Qualifikationen noch zur unteren Mittelschicht hinzugerechnet werden können, fallen die an- und ungelernten Arbeiter und die unqualifizierten Arbeiterinnen etwa in der Textil- und Lebensmittelindustrie eindeutig aus dem Mittelschichtbegriff heraus. Was das dritte, »objektive« Kriterium, die Bildungsqualifikationen, betrifft, lässt sich feststellen, dass für den Untersuchungszeitraum der fünfziger bis siebziger Jahre die Zugehörigkeiten zu den sozialen Mittellagen nicht zwingend einen höheren Bildungsabschluss (Abitur) oder eine akademische Berufsausbildung (Studium) voraussetzte. Vielmehr war für die Mittellagen charakteristisch, dass Einkommens- und Ausbildungsstatus relativ weit auseinanderfallen konnten.64 Dennoch stellte der Erwerb von Bildungszertifikaten oder eine qua60 Betrug das durchschnittliche Arbeitereinkommen 1925 noch 57 Prozent des Angestellteneinkommens, so waren es 1970 schon 82 Prozent. Vgl. Mooser, Arbeiterleben, S. 85; Kocka, Die Angestellten, S. 198 (Tab. 1). Vgl. dazu auch Nolte u. Hilpert, S. 48 ff. 61 Zum sog. »Zwiebel-Modell« der sechziger Jahre vgl. Bolte, Deutsche Gesellschaft, S. 233 ff. 62 Vgl. Geißler, Sozialstruktur, S. 167; Hradil u. Schmidt, S. 170. Zum Rückgang des »alten Mittelstandes« vgl. auch Winkler, Stabilisierung. 63 Vgl. dazu auch Daheim, insb. S. 247 ff. 64 Vgl. Bolte, Anmerkungen, S. 36.

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lifizierte Ausbildung das Tor zum Aufstieg in die Mittelschicht dar. Gelang der berufliche Aufstieg in mittlere Angestellten- und Beamtentätigkeiten (»whitecollar-worker«), brachte das nicht nur einen Gewinn an materieller Sicherheit, sondern auch an Ansehen und Prestige. Der Abschluss eines Hochschulstudiums und der damit verbundene Akademikerstatus dagegen sicherten den Zugang zur höheren Mittelschicht. Allerdings gelang nur wenigen Söhnen – und noch weniger Töchtern – aus der Arbeiter- oder unteren Mittelschicht bis Mitte der siebziger Jahre der Eintritt in die Universität. Der Besuch des Gymnasiums und anschließend der Universität blieb weitgehend den Kindern der nichtlandwirtschaftlichen Selbständigen und qualifizierten bzw. leitenden Beamten und Angestellten vorbehalten, mit anderen Worten: den Sprösslingen des mittleren und gehobenen Wirtschafts- und Bildungsbürgertums.65 Die Zugehörigkeit zu den Mittelschichten wird jedoch nicht nur durch »harte« Faktoren  – wie Einkommen, Beruf, Ausbildung  – bestimmt, sondern auch durch »weiche«, subjektive Merkmale, das heißt durch Denk- und Verhaltensweisen, Werte und Mentalitäten. Die Denk- und Verhaltensweisen des »alten Mittelstands« waren nach dem Zweiten Weltkrieg noch weitgehend traditionsbestimmt und beruhten auf einer handwerklich-bäuerlich geprägten Sozialmoral. Es dominierten Werte wie Eigenverantwortung und Autonomie sowie der bürgerliche Ehrenkodex der selbständigen Lebensführung. Die Haltungen des »neuen Mittelstands« dagegen waren in der Prosperitätsphase der Bundesrepublik vor allem durch das Bewusstsein von der eigenen Individualität und durch Aufstiegsstreben gekennzeichnet sowie durch das Bemühen, den gegenwärtigen Status zu erhalten. Weitere Verhaltens- und Mentalitätsmerkmale waren Zweckrationalität und Leistungsbewusstsein, aber auch individuelle Konkurrenz. Häufig dienten Stile und Verhaltensweisen der oberen, bürgerlichen Schichten dem »neuen Mittelstand« als Vorbild und wurden nachgeahmt.66 Insgesamt blieben bürgerliche Moralvorstellungen und bürgerliche Werte für die Mittelschichten nach dem Zweiten Weltkrieg prägend. Allerdings machten sich seit den fünfziger Jahren erste Tendenzen einer »Entbürgerlichung« bemerkbar. Durch den sozialen und ökonomischen Aufstieg der oberen Arbeiterschicht (»Arbeiteraristokratie«) wurden neue, nicht-bürger­liche Mentalitäten in die Mittelschichten hineingetragen. Zugleich bildeten sich mit der Ausbreitung des Massenkonsums neue, spezifische Verhaltensweisen in Konsum, Alltag und Freizeit in der Mitte der Gesellschaft heraus. Greift man auf die Webersche Klassentheorie zurück, können die Mittelschichten auch als »soziale Klasse« beschrieben werden,67 welche sich wiederum aus unterschiedlichen »marktbedingten« Erwerbs- und Berufsklassen 65 Vgl. Geißler, Soziale Schichtung, S. 284 ff. 66 Hradil u. Schmidt, S. 170 f. Vgl. dazu auch Vogel, S. 161 ff.; Moore u. Kleining, S. 97 ff. 67 »Soziale Klasse« bezeichnet nach Max Weber die »Gesamtheit derjenigen Klassenlagen«, »zwischen denen ein Wechsel persönlich bzw. in der Generationenfolge leicht möglich ist und typisch stattzufinden pflegt«. Vgl. Weber, S. 177.

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zusammensetzte:68 aus Teilen der Arbeiterschaft, des »alten Mittelstands« und der Angestellten- und Beamtenschaft. Die »Mittelklasse« war und blieb insgesamt heterogener als andere soziale Klassen (Unterschicht, Eliten). Mit der Zeit setzte sich jedoch eine gemeinsame »Klassenkultur«, eine »middlebrow culture«69 durch, die sich in bestimmten sozialen Verhaltensweisen und Wertorientierungen, einer bestimmten Art der Freizeitgestaltung sowie im Konsum-, Heirats- oder Wahlverhalten ausdrückte. Neben dem Mittelschichtbegriff bedarf auch der zweite zentrale Begriff der Studie, der Begriff »Wohlfahrtsstaat«, einer näheren terminologischen Bestimmung. Hier ist ein Blick auf die Begriffsgeschichte ebenfalls hilfreich. Denn je nachdem, wann und durch welche Umstände staatliche Sozialleistungen in einem Land eingeführt wurden, verbanden sich mit dem »Wohlfahrtsstaat« unterschiedliche Vorstellungen.70 In Deutschland dominierte seit Ende des 19.  Jahrhunderts der Begriff des »Sozialstaats«, der sich in seinem Ursprung auf Lorenz von Stein zurückführen lässt. Dieser prägte den Terminus der »sozialen Demokratie« und brachte später den des »sozialen Staates« auf.71 Seit der Einführung durch Bismarck war der deutsche Sozialstaat eng mit der Idee der Sozialversicherung verbunden. Da­ neben wurden Maßnahmen des Arbeitsrechts und Arbeiterschutzes zum »Sozialstaat« gezählt. In der Weimarer Republik wurde der Begriff des Sozialstaats positiv von Politikern, Ökonomen und Juristen verwendet, um die Weiterentwicklung von der politischen zur wirtschaftlichen Demokratie zu charakterisieren oder als Forderung aufzustellen.72 Er stand damit zeitweise im Gegensatz zum Begriff »Wohlfahrtsstaat«, der noch Anklänge an die bürgerliche Freiheiten beschränkende paternalistische Wohlfahrt vergangener Jahrzehnte zu enthalten schien. In Großbritannien bildete sich hingegen zur selben Zeit ein neues, modernes Verständnis von »Welfare State« aus, das, ähnlich dem deutschen Sozialstaatsverständnis, auf eine Verbesserung der Lage der arbeitenden Klasse zielte.73 Mit dem »Beveridge-Plan« von 1942 bekam das englische Wohlfahrtsstaatssystem seine für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts typische Ausprägung.74 Der Begriff des Wohlfahrtsstaats trat von Großbritannien aus »seinen 68 Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1949–1990, S. 146. 69 Vgl. Shelly Rubin. 70 Vgl. Köhler, Entstehung von Sozialversicherung; Wendt. 71 Vgl. dazu Ritter, Sozialstaat, S. 11; Kaufmann, Begriff, S. 15 ff. 72 Vgl. Ritter, Sozialstaat, S. 12; Abelshauser, Weimarer Republik  – ein Wohlfahrtsstaat, S. 10 f. 73 Vgl. Ritter, Sozialstaat, S. 5 f. 74 Vgl. Beveridge. Der Bericht macht konkrete Vorschläge zur Errichtung eines umfassenden Systems sozialer Sicherheit, das vor allem die Zusammenführung der Sozialversicherungen, die Schaffung eines allgemeinen Gesundheitsdienstes, die Einführung von Familienzuwendungen sowie den Schutz vor Massenarbeitslosigkeit umfasste. Vgl. dazu auch ­Hockerts, Vom Problemlöser, S. 5 ff.; Baldwin, S. 107 ff.; Wendt, S. 42 ff.

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Siegeszug in der Welt« an.75 In der Bundesrepublik behielt der Wohlfahrtsstaatsbegriff, gerade durch die Assoziation mit dem englischen »Beveridge«Modell, bis weit in die fünfziger Jahre eine negative Bedeutung. Mit ihm war die Vorstellung eines »Zuwachses an Staatsaufgaben«76 verbunden. »Wohlfahrtsstaat« wurde häufig mit »Versorgungsstaat« gleichgesetzt und damit, zumindest von den bürgerlichen Parteien, abgelehnt. Erst Theodor Blank, als zweiter Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, versuchte in einer Rede vom 14. September 1958 über »Die Freiheit im Wohlfahrtsstaat«, die Begriffe zu trennen und dem »Wohlfahrtsstaat« zur Akzeptanz zu verhelfen: »Was nun den Wohlfahrtsstaat betrifft, so gehört es schlechterdings zum Wesen des Staates, dass er für die Wohlfahrt seiner Bürger sich verwendet. Das pauschale Verdammungsurteil über den Wohlfahrtsstaat kann nicht unterschrieben werden. Man muss zu unterscheiden wissen zwischen dem, was richtig und notwendig ist am Wohlfahrtsstaat, und dem, was gefährlich ist, und man muss dieses zweite anders bezeichnen, nämlich als Versorgungsstaat«.77 Bis heute hat sich der Ausdruck »Sozialstaat« als spezifisch deutscher Begriff erhalten. Er gilt als neutraler Begriff, der politisch wertende Elemente von vornherein ausschließt.78 In der Bundesrepublik hat er sich vor allem in Anlehnung an die Sozialstaatsklauseln des Grundgesetzes etabliert.79 Seiner internationalen Anerkennung stand allerdings entgegen, dass er keine angemessene Übersetzung ins Englische gefunden hat.80 Seit den sechziger und siebziger Jahren hat sich daher international allmählich der Begriff des Wohlfahrtsstaats (»Welfare State«) als wissenschaftlicher Ausdruck und deskriptives Konzept zur Kennzeichnung staatlicher Maßnahmen in den Bereichen Einkommen, Gesundheit, Wohnung, Bildung und Familie durchgesetzt.81 Unter dem wissenschaftlichen Begriff des Wohlfahrtsstaats versteht man im Allgemeinen eine staatliche Intervention, die vier Zielsetzungen verfolgt: die Sicherung eines Mindeststandards an materiellen und immateriellen Lebenschancen, die gleiche Behandlung aller Bürger durch den Wohlfahrtsstaat, das Recht auf wohlfahrtsstaatliche, vor Gericht einklagbare Leistungen und den Ausgleich negativer Folgen der Marktwirtschaft.82 Nach Jens Alber kennzeich75 Ritter, Sozialstaat, S. 7. 76 Kaufmann, Sozialpolitik und Sozialstaat, S. 164. 77 Bericht über die Rede, in: SF 7 (1958), S. 228–330. – Blank hatte kurz nach seiner Er­nennung zum Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1957 auch intern darauf gedrungen, dass die Bundesregierung ihre bisherige Distanz zum Begriff des Wohlfahrtsstaats aufgebe. Vgl. Ritter, Sozialstaat, S. 7. 78 Vgl. Alber, Wohlfahrtsstaat, S. 542 f. 79 Vgl. Art. 20 Abs. 1 u. Art. 28 Abs. 1 Grundgesetz. Dazu Zacher, Das soziale Staatsziel; ders., Grundlagen, S. 391 ff. 80 Eine wörtliche Übersetzung mit »social state« ist schon deshalb nicht möglich, weil damit im Englischen in erster Linie der »Zustand der Vergesellschaftung« bezeichnet wird. Vgl. Ritter, Sozialstaat, S. 13. 81 Vgl. Alber, Wohlfahrtsstaat, S. 542; Kaelble, Sozialgeschichte, S. 332. 82 Vgl. Kaelble, Sozialgeschichte, S. 332 f. Vgl. auch Nullmeier, S. 568 f.

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net der Wohlfahrtsstaat einen bestimmten Typus der Staatstätigkeit: Länder, in denen der Staat aktiv wirtschaftliche und gesellschaftliche Abläufe zu steuern versucht und einen beträchtlichen Teil seiner Ressour­cen auf sozialpolitische Zwecke verwendet. Das Konzept des Wohlfahrtsstaats impliziert insofern eine Verpflichtung des Staates, eine »umfassende Politik des Ausbaus sozialer Staatsbürgerrechte« zu betreiben, »die sich nicht mit der Sicherung von Konsumchancen begnügt, sondern auch die Förderung von Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung anstrebt und den Abbau ungleicher Teilnahmechancen am gesellschaftlichen und politischen Leben zum Ziel erhebt«.83 Diese sozialpolitische Verpflichtung enthält auch der deutsche Begriff des Sozialstaats. Daher wird in der folgenden Untersuchung der Begriff »Wohlfahrtsstaat« auch synonym mit dem Begriff »Sozialstaat« verwendet. Jedoch öffnet der Wohlfahrtsstaatsbegriff die Perspektive deutlicher auf das spannungsreiche Verhältnis von Staat und Gesellschaft, was seine Attraktivität für die vorliegende Studie ausmacht.84 Beide Begriffe, »Wohlfahrtsstaat« und »Sozialstaat«, stehen in enger Beziehung zum heute ebenfalls häufig institutionell bestimmten Begriff der »Sozialpolitik«. Dieser entstand im deutschen Sprachraum im Horizont der Hegelschen Unterscheidung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft. Er wurde akademisch vor allem geprägt durch Wissenschaftler, die dem 1873 gegründeten »Verein für Socialpolitik« angehörten.85 Unter »Sozialpolitik« wird heute allgemein die Summe der punktuellen gesetzlichen Eingriffe des Staates in die gesellschaftlichen Verhältnisse auf der Grundlage konkreter Problemdiagnosen verstanden.86 Sie dient der »Vermittlung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft« – oder moderner ausgedrückt: der »Abarbeitung der Folgeprobleme einer funktionsorientierten Strukturdifferenzierung sich modernisierender Gesellschaften« – und kennzeichnet somit in besonderer Weise das Feld des Zusammenwirkens von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.87 Für den Kernbereich der sozialen Sicherung lassen sich in den westlichen Industrieländern empirisch drei bzw. vier Gestaltungsformen unterscheiden:88 erstens universelle und egalitäre Sicherungseinrichtungen, die umfassende, aus allgemeinen Steuermitteln finanzierte Transferzahlungen und soziale Dienstleistungen gewähren (Beispiel Schweden); zweitens steuerfinanzierte, universelle und egalitäre Sicherungs­systeme, die in erster Linie auf die Vermeidung von Armut abzielen und deren Leistungen daher knapper bemessen sind (Beispiel Großbritannien); drittens umfassende, aber kategorial getrennte Systeme mit überwiegender Beitragsfinanzierung, die die Statussicherung verschiedener 83 Alber, Wohlfahrtsstaat, S. 542; ders., Sozialstaat, S. 30. Vgl. dazu auch Marshall. 84 Vgl. dazu auch Vogel, S. 17 f. 85 Vgl. dazu Kaufmann, Begriff, S. 7, 18 ff. 86 Vogel, S. 17. 87 Kaufmann, Begriff, S. 99. Vgl. auch Rödder, S. 158 f. 88 Alber, Wohlfahrtsstaat, S. 544; ders., Vom Armenhaus, S. 40 ff. Vgl. dazu auch Schmidt, Sozialpolitik, S. 217 ff.; Baldwin, S. 107 ff.

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Berufsgruppen zum Ziel haben (Beispiel Deutschland und Frankreich). Schließlich sind, viertens, verschiedene Mischformen erkennbar. Dazu gehören die begrenzten und regional variierenden Sicherungen für bestimmte Sozialkategorien in den USA und in der Schweiz, die beitragsfinanziert sind und lediglich der Ergänzung privater Vorsorge dienen oder das System sozialer Sicherung in den Niederlanden, das ein Nebeneinander von Volksversicherungen und Arbeitnehmerversicherungen darstellt. Die Sozialstaatsforschung hat insgesamt eine ganze Reihe verschiedener Ansätze zur Typologisierung der westlichen Wohlfahrtsstaaten entwickelt. Die bekannteste stammt von Gøsta Esping-Andersen.89 Esping-Andersen unterscheidet »drei Welten des Wohlfahrtsstaats«, den »konservativen«, den »sozialdemokratischen« und den »liberalen« Wohlfahrtsstaat. Seine Unterteilung basiert auf dem Verhältnis von Staat, Markt und Privatsphäre, der Wirkung von Sozialpolitik auf soziale Schichten sowie dem Grad, in dem die Sozialpolitik die Arbeitnehmer vom Markt unabhängig macht. Die Bundesrepublik gehört, ebenso wie z. B. Frankreich, nach diesen Kategorien zum »konservativen« Modell des Wohlfahrtsstaats, die skandinavischen Staaten zählen zum »sozialdemokra­ tischen« und die angelsächsischen Länder zum »liberalen« Typus. Diese Auf­ teilung hat viel Zustimmung, aber auch viel Kritik erhalten.90 Neben der historischen Herleitung und der Indikatorenbildung ist vor allem die Eindeutigkeit der aufgestellten Kategorien und die Länderzurechnung in Zweifel gezogen worden. So hat Christiane Kuller hervorgehoben, dass man mit Blick auf das Geschlechterregime im Wohlfahrtsstaat zu Typisierungen gelange, die von den »drei Welten« signifikant abwichen.91 Darüber hinaus ist kritisiert worden, dass insbesondere die kontinentaleuropäischen Länder nationale Eigenheiten und damit eine große Variationsbreite aufweisen würden. Von einer »stabilen Klassifikation von Staaten innerhalb einer allgemein anerkannten Typologie« lässt sich daher nicht sprechen.92 In der deutschen sozialpolitischen Literatur wird der Sozialstaat traditionell vor allem mit den staatlichen Maßnahmen zur Sicherung des Einkommens im Falle verminderter Erwerbsfähigkeit und des Ausfalls der Arbeitskraft identifiziert, d. h. bei Alter, Invalidität, Krankheit oder Unfall.93 In jüngerer Zeit zeichnet sich indes, dem angelsächsischen Beispiel folgend, auch in Deutschland der Trend ab, der fortgesetzten Ausweitung des Feldes sozialpolitischer Interventionen Rechnung zu tragen und neben der Einkommenssicherung auch andere etablierte Politikfelder, wie die Gesundheits-, Familien- oder Wohnungspolitik zu den wohlfahrtsstaatlichen Aktivitäten zu rechnen. Auch die Bildungspolitik, 89 Esping-Andersen. 90 Vgl. den Diskussionsband von Lessenich u. Ostner, Welten; Kohl. Vgl. auch Schmidt, Sozial­ politik, S. 219 ff.; Siegel; Hockerts, Vom Problemlöser, S. 14 f. 91 Vgl. Kuller, Soziale Sicherung, S. 202 ff. 92 Kaufmann, Der deutsche Sozialstaat, S. 810. 93 Vgl. beispielsweise Ritter, Sozialstaat; Hentschel, Geschichte.

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d. h. die Versuche zum Ausgleich unterschiedlicher Startchancen des Einzelnen durch staatliche Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen, werden in jüngeren Darstellungen dem Aufgabenbereich wohlfahrtsstaatlicher Politik zugerechnet.94 Ähnliches gilt für die sozialen Dienste und Infrastrukturen. Darüber hinaus gehören traditionell die staatlichen Regulierungen des Arbeitsmarktes und der Arbeitsbedingungen zum Bereich des Wohlfahrtsstaats. Wenn im Einzelnen die Abgrenzung auch unterschiedlich ausfällt, herrscht doch allgemein Einigkeit darüber, dass die Einkommenssicherung noch immer zum Kernbereich des Wohlfahrtsstaats zählt.95 Sowohl in Bezug auf die Höhe der Ausgaben als auch auf die Zahl der von den Programmen erfassten Personen bilden die klassischen sozialen Sicherungsprogramme nach wie vor einen Schwerpunkt wohlfahrtsstaat­licher Politik. Jedoch haben die übrigen Politikbereiche im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den westlichen Wohlfahrtsstaaten an Bedeutung gewonnen. Insbesondere seit den späten sechziger und den siebziger Jahren sind die Ausgaben für Fördermaßnahmen im Politik­bereich der Familien- und Bildungspolitik erheblich gestiegen.96 Unstrittig ist der nicht nur für die Bundesrepublik gültige Befund eines signifikanten Funktionswechsels des Wohlfahrtsstaats und der Sozialpolitik von individueller Risiko­absicherung zu umfassender Daseinsvorsorge. Die vorliegende Untersuchung geht insgesamt von einem weiten Verständnis der Aufgaben wohlfahrtsstaatlicher Politik aus. Neben den Systemen der sozialen Sicherung von Lebensrisiken werden Familien-, Wohnungs- und Bildungspolitik, aber zum Beispiel auch Steuer- und Vermögensförderungspolitik zu den Handlungsfeldern des Wohlfahrtsstaats gerechnet. Dem Wohlfahrtsstaat standen im Laufe seiner Entwicklung unterschied­liche Instrumente und Interventionsmaßnahmen zur Realisierung seiner Ziele zur Verfügung. Neben dem direkten Transfer von Geld- und Sachleistungen wurden schon früh im Rahmen der Steuerpolitik Möglichkeiten geschaffen, über Tarife und Vergünstigungen das verfügbare Einkommen zu beeinflussen.97 Darüber hinaus gewannen in der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts vor allem die Bereitstellung öffent­licher Güter, welche die Kosten des Lebensunterhaltes verbilligen, sowie gesetzliche Regulierungen wie Mindestlohnbestimmungen oder Mieterschutz an Bedeutung. Auch sie können spürbare Auswirkungen auf das Einkommensniveau haben.98 Die modernen westlichen Wohlfahrtsstaaten bedienen sich seit dem Zweiten Weltkrieg zumeist aller dieser Maßnahmen 94 So auch in der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales und dem Bundesarchiv herausgegebenen »Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945«, vgl. Anweiler; ­Becker, Bildungspolitik; Rudloff. – Auch im englischsprachigen Raum zählt die Bildungs­ politik zu den »Social Services«. 95 Vgl. Alber, Wohlfahrtsstaat, S. 544; Nullmeier, S. 571. 96 Vgl. Transfer-Enquête-Kommission, Transfersystem, S. 55. 97 Zur Entwicklung der Steuerpolitik und des Steuersystems in Deutschland vgl. auch Hentschel, Steuersystem. 98 Alber, Wohlfahrtsstaat, S. 545.

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gleichzeitig, wobei jedes Land eine »spezifische Mischung« der verschiedenen Instrumente aufweist.99 In der Bundesrepublik überwogen im Untersuchungszeitraum die direkten gegenüber den indirekten Transfers. So stellten 1978 laut Bericht der sog. Transfer-Enquête-Kommission die direkten Leistungen 66,5 Prozent, die indirekten Leistungen dagegen nur 9,4 Prozent aller Transfers des Sozialbudgets dar. Der Anteil der Sachleistungen (»reale Transfers«) lag bei 24,1 Prozent.100 Berücksichtigt man allerdings zusätzlich die Bereitstellung sog. »öffentlicher Güter«, muss der Sachleistungsanteil insgesamt höher ver­ anschlagt werden. Die vorliegende Untersuchung erstreckt sich auf die fünfziger, sechziger und frühen siebziger Jahre der Bundesrepublik und damit auf das »goldene Zeitalter« (Hobsbawm) oder auch die »glorreichen dreißig Jahre« (Fourastié) der Nachkriegsprosperität. In sozialpolitischer Hinsicht werden Anfang und Ende des Untersuchungszeitraums jeweils von wichtigen Gesetzes­entscheidungen getragen: dem Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz von 1949 und der Renten­ reform von 1972 bzw. dem Bundeskindergeldgesetz von 1974/75. Insgesamt lässt sich der Zeitraum auch als die »Blütezeit des Wohlfahrtsstaats«101 be­zeichnen. In der Literatur sind verschiedene Vorschläge zur Abgrenzung der einzelnen Phasen der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung in der Bundesrepublik gemacht worden.102 Lutz Leisering unterscheidet z. B. in Bezug auf die Gesetzgebung und die wohlfahrtsstaatlichen Ausgaben insgesamt fünf Phasen: Restauration (1949–1953), Ausbau (1953–1975), Konsolidierung (1975–1990), späte Expansion (1990–1995) und Krise (ab 1995). In gesellschaftspolitischer Hinsicht sind, ihm zufolge, dagegen nur vier Phasen benennbar: eine Konstitutionsphase, die von 1949 bis 1966 reichte, eine Phase der Weiterentwicklung und Modernisierung des Sozialstaats von 1966 bis 1975, eine Zeit der Bedrängnis des Sozialstaats (1975–1995) und schließlich als vierte Phase die grundlegende Infragestellung und Krise von Sozialstaatlichkeit seit Mitte der neunziger Jahre.103 Leiserings Einteilungen orientieren sich jeweils an markanten Punkten der Sozialgesetzgebung bzw. an erkennbaren sozial- und gesellschaftspolitischen Veränderungen und sind insofern nachvollziehbar. Andere Abgrenzungen sind dennoch denkbar. So hat beispielsweise Hans Günter Hockerts überzeugend auf 1957/58 als wichtige Zäsur hingewiesen.104 Ging es für breite Kreise der Bevölkerung bis 1957 in erster Linie um die Rückkehr zur sozialpolitischen Normalität und die »Wiedergewinnung eines herkömmlich vertrauten, vom Zwang zur 99 Vgl. ebd. 100 Vgl. Transfer-Enquête-Kommission, Transfersystem, S. 23. 101 Kaelble, Europäisches Sozialmodell, S. 41. 102 Vgl. Leisering, Der deutsche Sozialstaat; Schmidt, Sozialpolitik; Zacher, Vierzig Jahre; ­Hockerts, Metamorphosen. Vgl. auch die Periodisierung der »Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945«. 103 Leisering, Der deutsche Sozialstaat, S. 182 f. 104 Hockerts, Metamorphosen, S. 37; ders., Periodisierung, S. 188.

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Bescheidenheit« befreiten Lebenszuschnitts, setzte in der dritten Legislaturperiode ab 1957 eine rasche Modernisierung der Lebensbedingungen ein, die dazu führte, dass aus der »Wohlstandserwartung« eine »Wohlstandserfahrung« werden konnte.105 In sozialpolitischer Hinsicht wurde die Zäsur vom herausragenden Ereignis der Rentenreform von 1957 markiert. Der Zeitraum von 1957/58 bis zum Anfang der siebziger Jahre kann als eine zusammenhängende Epoche verstanden werden.106 Dafür spricht der konti­ nuierliche Ausbau der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen nicht nur in den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung, sondern auch in anderen Bereichen wie der Familien- und Wohnungspolitik. Aufgrund unterschiedlicher Gesetze und Maßnahmen wurde der soziale Schutzbereich in dieser Phase weiter ausgedehnt und nach oben hin geöffnet; die Sozialleistungen wurden erhöht und verstetigt (»dynamisiert«), und die Lage der Leistungsempfänger wurde beständig verbessert. Dabei war die Erweiterung des wohlfahrtsstaatlichen Ak­tionsraums auch eine Reaktion auf gewachsene Ansprüche sozialer Teilhabe jenseits von materieller Sicherung. Wie noch zu zeigen sein wird, ging es in dieser »Blütezeit des Wohlfahrtsstaats« nicht mehr um die Beseitigung akuter Notlagen, sondern um die Absicherung breiter Schichten der Bevölkerung. Das anhaltende wirtschaftliche Wachstum, das durch die erste Nachkriegsrezession 1966/67 nur kurzzeitig unterbrochen wurde, trug nicht nur den weiteren Ausbau des Wohlfahrtsstaats mit, sondern wirkte auch als Katalysator dieses Wandels. Die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung blieb von politischen Machtwechseln weitgehend unberührt. Der Ausbau des Sozialstaates wurde von einem breiten, überparteilichen Konsens getragen und von keiner der Regierungen zwischen 1949 und 1975 in Frage gestellt. In der sozialpolitischen Literatur werden vor allem die späten sechziger und beginnenden siebziger Jahre, d. h. der Beginn der sozialliberalen Koalition und die Regierungszeit Willy Brandts, als Phase der größten wohlfahrtsstaatlichen Expansion identifiziert.107 Als Höhepunkt kann die Rentenreform von 1972 bezeichnet werden, die das »Ergebnis eines beispiellosen Sozialpolitikwettlaufs« war.108 Auch aus sozial- und strukturgeschichtlicher Sicht war der hier betrachtete Zeitraum der fünfziger bis siebziger Jahre eine außergewöhnliche Periode.109 In 105 Hockerts, Metamorphosen, S. 37. Vgl. auch Zacher, Vierzig Jahre, S. 36 ff. Auch Zacher betrachtet die Zeit von 1949–1957 als einen ersten Abschnitt der Sozialstaatsentwicklung in der Bundesrepublik. 106 Anders Hockerts, Metamorphosen, S. 38 ff. Hockerts sieht im Ausklang der Ära Adenauers und Erhards (1958–1966), in der Zeit der Großen Koalition (1966–1969) und in der Regierungszeit Brandts (1969–1974) jeweils »deutlich voneinander abgrenzbare Phasen«. 107 Hockerts, Metamorphosen, S.  40; Leisering, Der deutsche Sozialstaat, S.  184; Schmidt, Sozial­politik, S. 91  ff.; Zacher, Vierzig Jahre, S. 66 f. 108 Schmidt, Sozialpolitik, S. 94; ähnlich Hockerts, Metamorphosen, S. 40 f. 109 Vgl. Broszat; Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 331 ff.; Judt, S. 362 ff.; Kaelble, Sozialgeschichte, S. 87 ff. Aus dezidiert konsumgeschichtlicher Sicht: Siegrist u. a.; Wildt, Am Beginn; Andersen.

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diesen Wachstums- und Wohlstandsjahrzehnten vervielfachten sich die Realeinkommen, neue technische Konsumgüter wie Auto, Kühlschrank und Fernseher fanden massenhaft Verbreitung. Die Lebensbedingungen breiter Schichten in der »Mitte« der Gesellschaft wurden grundlegend modernisiert und vermittelten unmittelbar den für die bundesrepublikanische Wohlstandsgesellschaft charakteristischen »Fahrstuhleffekt« der sozialen Lagen.110 Wenngleich sich die soziale Modernisierung und die Expansion der Konsumgesellschaft noch bis in die achtziger Jahre fortsetzten, stellten die Jahre 1973 bis 1975, die den Endpunkt der Untersuchung bilden, sowohl ökonomisch als auch kulturell eine Zäsur dar. Mit dem Ölpreisschock von 1973, so haben neuere Untersuchungen gezeigt, setzte ein fundamentaler ökonomischer und sozialstruktureller Umbruch ein,111 der nicht nur den langen Nachkriegsboom beendete, sondern auch die wohlfahrtsstaatliche Expansion vorläufig an ihre Grenzen stießen ließ. Gleichzeitig breitete sich ein latentes, dauerhaftes Krisenbewusstsein aus. Der Glaube an die Planbarkeit des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts wurde erschüttert. An seine Stelle trat die Angst vor den unberechenbaren Folgen von reduziertem Wachstum, Arbeitslosigkeit und steigender Staatsverschuldung. Neuere zeitgeschichtliche Arbeiten diskutieren daher die 1970er Jahre auch als »Umbruchzeit« und »Strukturbruch« der industriegesellschaftlichen Moderne.112 Die Wachstums- und Beschäftigungskrise erzwang einen sozialpolitischen Kurswechsel. Die Regierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt musste vereinzelt sozialpolitische Ausbaumaßnahmen zurücknehmen. Bei gemäßigten wirtschaftlichen Wachstumsraten auch in den Folgejahren traten die finanziellen Folgen der expansiven Sozialpolitik der vorangegangenen Jahrzehnte deutlich zutage. Erstmals wurde der Wohlfahrtsstaat nicht nur als »Problemlöser«, sondern auch als »Problemerzeuger« wahrgenommen.113 Die Ausbauund Modernisierungsphase wurde durch die Phase der »Bedrängnis des Wohlfahrtsstaates« (Leisering) abgelöst. Das Verhältnis von Wohlfahrtsstaat und Mittelschichten wird in der vorliegenden Studie anhand von drei zentralen Bereichen des Wohlfahrtsstaats untersucht: der Alterssicherungs-, der Familien- und der Wohnungspolitik. Diese Politikfelder stehen paradigmatisch für bestimmte Interventions- und Verteilungsstrategien des bundesrepublikanischen Wohlfahrtsstaats. Mit der Politik 110 Beck, Risikogesellschaft, S. 122; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1949–1990, S. 53 ff. 111 Hobsbawm spricht von einem »Erdrutsch«, der das »Goldene Zeitalter« der Nachkriegsprosperität beendet und eine neue Zeit der »Instabilität« ausgelöst habe, vgl. Hobsbawm. Auch andere Autoren, so z. B. Maier; Wolfrum und Judt sehen den Ölpreisschock als Zäsur für die Entwicklung der hochindustriellen Länder an. Vgl. auch Boll u. Kruke. 112 Vgl. Doering-Manteuffel u. Raphael; Zeithistorische Forschungen 3 (2006), Heft 3 mit dem Schwerpunkt: »Die siebziger Jahre – Inventur einer Umbruchzeit«. 113 Vgl. Hockerts, Vom Problemlöser, insb. S.  16 ff.; Süß, Der bedrängte Wohlfahrtsstaat; Geyer, Gegenwart der Vergangenheit.

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der Alterssicherung werden die Funktionsmechanismen des wohl bedeutendsten Zweiges des deutschen Sozialversicherungswesens untersucht, der Rentenversicherung. Das dort geltende Versicherungsprinzip verpflichtete den Einzelnen zu vorgegebenen Beitragsleistungen und sicherte ihm im Versicherungsfall nach einem festen Modus errechnete Rentenleistungen zu. Dagegen lagen den wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen im Bereich der Familien- und Wohnungspolitik andere Sicherungs- und Verteilungsmechanismen zugrunde. Während das einkommensunabhängig gewährte Kindergeld als versorgungspolitische Maßnahme und damit als expliziter monetärer Transfer ohne Gegenleistung verstanden werden kann, stellten die kinderbedingten Steuerermäßigungen sowie die Vergünstigungen im Wohnungswesen und bei der Wohnungsbauförderung implizite Transferleistungen dar. Sie bedeuteten eine Entlastung bei den negativen Transfers, d. h. bei den Leistungen an den Staat und folgten damit anderen Grundsätzen.114 Anhand der gewählten Beispiele wird somit besonders gut erkennbar, wie vielfältig die Leistungsstruktur des Wohlfahrtsstaats war und welche unterschiedlichen Funktionen die Sozialleistungen erfüllt haben. Für die Auswahl der Untersuchungsfelder sprechen darüber hinaus auch quantitative Argumente. Die Rentenleistungen sowie die Maßnahmen zur Sicherung und Unterstützung von Familien hatten einen überragenden Anteil am Sozialbudget. Alterssicherung stellte im Untersuchungszeitraum den ersten, Ehe und Familie den drittgrößten Posten des Sozialbudgets dar. Gleichzeitig waren die Rentner die größte Gruppe unter den Transferbeziehern, Familien seit Einführung des allgemeinen Kindergeldes 1974 die zweitgrößte. In allen drei Teilbereichen der Untersuchung steht die Frage nach den Wechselwirkungen von wohlfahrtsstaatlicher Politik und Sozialstruktur im Vordergrund, nicht die Rekonstruktion der politischen Entscheidungsprozesse. Analysiert werden die strukturellen Herausforderungen des modernen Wohlfahrtsstaats, die Wert- und Ordnungsvorstellungen der jeweiligen Akteure sowie die Auswirkungen der sozialpolitischen Entscheidungen auf die soziale Lage der Leistungsempfänger. Zentral ist das Problem, zu wessen Gunsten, aber auch auf wessen Kosten die Gewährung zusätzlicher oder verbesserter sozialer Leistungen erfolgte: Lässt sich z. B. aufgrund der Wirkungen der Rentenreform von 1957 von einer »Vermittelschichtung« der Rentner sprechen? Waren durch die Ausgestaltung des Familienlastenausgleichs die Mittelschichtfamilien gegenüber anderen Familien im Vorteil? Für wen war die staatliche Wohnungsbauförderung bestimmt, und wer nahm sie in Anspruch? Mit Hilfe empirischer Daten werden die »Profiteure« der Reformpolitik ermittelt und die sozialstrukturellen Effekte der Förder- und Reformmaßnahmen auf die Gesamtgesellschaft diskutiert.

114 Zur Definition verschiedener Arten des Transfers vgl. Transfer-Enquête-Kommission, Transfersystem, S. 22. Vgl. auch Krupp, S. 37 f.

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Wenngleich sich die Untersuchung vor allem auf die Entwicklung in der Bundesrepublik konzentriert, werden vergleichende Blicke auch auf die Reformen in anderen, vornehmlich westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten geworfen. Dabei geht es darum, sowohl auf Gemeinsamkeiten aufmerksam zu machen (z. B. in der Alterssicherungspolitik zu Frankreich) als auch Unterschiede herauszuarbeiten (z. B. zur Staatsbürgerversicherung in Großbritannien oder Schweden), um so die Spezifik des bundesrepublikanischen Wohlfahrtsstaats – und eines möglichen »westdeutschen Weges« der Mittelschichtbildung – besser verstehen zu können. Weiter spielt auch die Frage nach wechselseitigen Einflüssen in den Konzeptionen und der Politikgestaltung eine Rolle. Das gilt vor allem für den deutsch-deutschen Vergleich. Die Sozialpolitik der DDR diente der jungen Bundesrepublik zugleich als Ansporn sowie als Negativfolie. Das letzte Kapitel der Studie »Mittelschichten des Wohlfahrtsstaats: Beschäftigungsfelder und beruflicher Aufstieg« ergänzt die vorangegangenen Analysen im Bereich der sozialpolitischen Handlungsfelder in besonderer Weise. Es erörtert die Folgen, die sich für die Sozialstruktur aus der Expansion wohlfahrtsstaatlicher Berufe und Tätigkeitsfelder in der zweiten Hälfte des 20. Jahr­ hunderts ergaben. Diesem letzten Untersuchungsteil, der sich als Problemskizze versteht, liegt die leitende Annahme zugrunde, dass die Herausbildung breiter und vielgestaltiger Mittelschichten nicht nur das Ergebnis wohlfahrtsstaatlicher Verteilungspolitik war, sondern auch durch die »wohlfahrtsstaatlichen Beschäftigungseffekte«115 bedingt wurde. Die bundesrepublikanischen Mittelschichten wären demzufolge nicht nur »Empfänger«, sondern auch »Erbringer« wohlfahrtsstaatlicher (Dienst-) Leistungen. Die »Mittelschichten« stellen in der sozialhistorischen Forschung insgesamt bisher ein Rand- oder Spezialthema dar. Im Gegensatz zu den umfangreichen Forschungen zur Geschichte der Arbeiterschaft im 19.  und frühen 20.  Jahrhundert116 kann die Geschichte der Mittelschichten in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern wie z. B. Frankreich oder Großbritannien, als wenig erforscht gelten. Für das 19.  und frühe 20.  Jahrhundert hat jedoch die europäische Bürgertumsforschung seit den achtziger Jahren den Rückstand zur Arbeitergeschichte verringert,117 wenngleich schon für diesen Zeitraum »Bürgertum« und »Mittelschichten« nicht problemlos in eins gesetzt werden können. Auch für die Nachkriegszeit gilt, dass höhere soziale Schichten bisher eher unter der Perspektive des »Bürgerlichen« als unter der weiteren Perspektive der »Mittelschichten« behandelt worden sind. Gerade für die Zeit nach 1945 reichen aber die bürgerlichen Kategorien nicht aus; insbesondere nicht, wenn es darum geht, die Veränderung der Sozial- und Gesellschaftsstruktur zu beschreiben. 115 Hockerts, Metamorphosen, S. 35. 116 Vgl. insb. Ritter u. Tenfelde; Winkler, Arbeiter; Tenfelde; Mooser, Arbeiterleben. 117 Vgl. Kocka, Bürgertum; Gall, Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft; ders., Bürgertum; Niethammer u. a.

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Dennoch stellt die neue Bürgertumsforschung mit ihrem Schwerpunkt auf der Untersuchung von bürgerlicher Kultur und Lebensführung sowie bürgerlichen Wertvorstellungen und Selbstentwürfen einen wichtigen Bezugs- und Anknüpfungspunkt dar.118 Weitere Anknüpfungspunkte für eine Geschichte der Mittelschichten bilden die historischen Forschungen zu einzelnen Berufs- oder Statusgruppen, wie den Angestellten oder dem selbständigen Mittelstand. Hier bilden die Arbeiten von Jürgen Kocka, Michael Prinz und Heinrich August Winkler eine wichtige Grundlage, da sie gerade auch die »subjektiven« Vorstellungen von sozialer Ordnung und sozialer Schichtung, von Mentalitätsprägungen und sozialen Wunschprojektionen mitbehandeln.119 Trotz dieser »Schneisen« zu einzelnen Teilgruppen mangelt es bisher an historischen Forschungen, die sich umfassend den mittleren sozialen Lagen, und damit den »Mittelschichten«, widmen. Das gilt auch und gerade für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Anders als in den USA, wo die »Middle Class« seit den achtziger Jahren einen festen Platz im wissenschaftlichen Diskurs eingenommen hat,120 lässt sich hierzulande von einem Forschungsdefizit sprechen. Überhaupt ist die Sozialgeschichte der zweiten Jahrhunderthälfte, anders als z. B. die Wirtschaftsgeschichte,121 noch immer »relativ unterentwickelt«.122 Bei den meisten zeithistorischen Forschungen liegt das Schwergewicht auf einer weit verstandenen Politikgeschichte. Allerdings gewinnen struktur- und sozialgeschichtliche Fragestellungen neben den außenpolitischen Themen allmählich an Bedeutung. Über den »Wohlfahrtsstaat« liegen insgesamt zahlreiche Forschungen vor, die sich auf unterschiedliche Aspekte beziehen: auf seine Entstehung und Entwicklung, auf seine Institutionen und Organisationsstrukturen oder auf die unterschiedlichen Sozialpolitiken und gesetzgeberischen Maßnahmen. Das Forschungsfeld ist inhaltlich und methodisch weit aufgefächert; es reicht von der quantitativ-empirisch ausgerichteten Sozialforschung über die Staats- und Sozialrechtslehre bis hin zu einem weiten Spektrum an sozialtheoretischer und qualitativ-hermeneutischer historischer Forschung. Darüber hinaus hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine rege international vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung herausgebildet.123 118 Vgl. dazu insb. Hettling u. Ulrich. Vgl. auch Hettling, Politische Bürgerlichkeit; Schäfer; Habermas; Mergel. 119 Vgl. Kocka, Die Angestellten; ders., Angestellte im europäischen Vergleich; Prinz, Vom neuen Mittelstand; Winkler, Zwischen Marx und Metropolen; ders., Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus. 120 Vgl. z. B. Blumin; Ehrenreich; Sullivan. 121 Vgl. etwa die Arbeiten von Abelshauser, Berghoff, Borchardt und Buchheim. 122 So Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1949–1990, Vorwort, S. XVI. 123 Dabei dominierte bisher jedoch der Vergleich mit anderen westeuropäischen Ländern. Vgl. zuletzt Hockerts u. Süß; weiter Ritter, Sozialversicherung; ders., Sozialstaat; Köhler u. Zacher; Alber, Vom Armenhaus; Flora. In gesamteuropäischer Perspektive dagegen: Tomka. Vgl. auch Lottes; Kaelble u. Schmid; Schmidt, Wohlfahrtsstaat.

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»Historiker vom Fach […] haben bisher kaum Beiträge zur Geschichte der Sozialver­sicherung geliefert«. Dieser 1977 formulierte Befund124 gilt heute so nicht mehr. Inzwischen haben die Arbeiten zahlreicher Historikerinnen und Historiker, darunter insbesondere die Untersuchungen von Gerhard A. Ritter zur Sozialpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts und von Hans Günter Hockerts zur Entwicklung des Sozialstaats nach 1945, das Defizit wettgemacht.125 Dennoch zeichnet sich die wohlfahrtsstaatliche Forschung auch weiterhin durch einen großen Anteil nicht-historischer Arbeiten aus. Sozial- und Politikwissenschaftler, Ökonomen und Juristen haben sozialrechtliche und politökonomische Makroanalysen, aber auch Überblicksdarstellungen zur historischen Entwicklung des Wohlfahrtsstaats erstellt, die sich durch konzise Zusammenstellung der gesetzesgeschichtlichen Entwicklung sowie der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen auszeichnen.126 Dabei werden die politischen Entscheidungen sowie ihre Ursachen und Wirkungen zumeist jedoch weniger in der konkreten historischen Situation analysiert als aufgrund theoretischer und normativer Annahmen. Die zeithistorischen Forschungen nach 1945 haben sich bislang vorwiegend mit dem institutionellen Ausbau des Wohlfahrtsstaats in den Jahrzehnten des »Booms« beschäftigt. Neuerdings erfasst jedoch die insgesamt mehr als zehntausend Druckseiten umfassende elfbändige »Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945« die sozialpolitische und gesetzesgeschichtliche Entwicklung bis zur Gegenwart.127 Die Bände befassen sich sowohl mit der Entwicklung in der Bundesrepublik als auch der DDR. Die Gliederung der einzelnen Bände erfolgt jeweils nach dem gleichen Muster. Zu Beginn werden zunächst die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen und die Denk- und Handlungsfelder erläutert; darauf folgt die Analyse verschiedener Politikfelder, wobei in jeweils 17 Sachbereichen  – von der Arbeitsverfassung über das Gesundheits­ wesen, die Bildungspolitik, die Wohnungspolitik, die Vermögenspolitik bis zur internationalen Sozialpolitik – die sozialpolitische Entwicklung nachgezeichnet wird. Alle Bände enthalten zuzüglich zum Darstellungsteil einen Quellenteil.128 Als Bandherausgeber zeichnen bekannte Historiker wie Martin H. Geyer, Hans Günter Hockerts, Christoph Kleßmann und Gerhard A. Ritter verantwortlich. Die 17 sachthematischen Unterkapitel wurden von Autorinnen und Auto-

124 Tennstedt, Selbstverwaltung, S. 9. 125 Vgl. neben den Arbeiten von Ritter und Hockerts auch Tennstedt; Baldwin; Hentschel; zuletzt: Metzler. 126 Vgl. Alber, Sozialstaat; ders., Vom Armenhaus; Kaufmann, Sozialpolitik und Sozialstaat; ders., Begriff; Zacher, Sozialpolitik und Verfassung; ders., Grundlagen. Vgl. auch Stolleis, Geschichte; Schmidt, Sozialpolitik. 127 Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, hg. v. Bundesministerium für Arbeit und soziale Sicherung und Bundesarchiv, 11 Bde. Vgl. dazu auch Raphael, Geschichte. 128 Dieser Quellenteil ist bis auf den 2. Band, der als Doppelband vorliegt, als CD-Rom erschienen.

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ren unterschiedlicher Fachrichtungen bearbeitet.129 Sie geben jeweils einen guten Einblick in die politik- und gesetzesgeschichtliche Entwicklung, behandeln die einzelnen sozialpolitischen Bereiche jedoch keineswegs erschöpfend. Häufig fehlt – bedingt durch die fachspezifisch unterschiedlichen Sicht- und Herangehensweisen, aber auch den Überblickscharakter der Darstellung – die historisch-analysierende Ebene sowie der vertiefende Blick auf die Ursachen und Wirkungen der sozialpolitischen Entschei­dungen.130 Das ist insbesondere für die hier untersuchten Politik- und Handlungsfelder der Alterssicherung, der sozialen Sicherung von Familien sowie der Wohnungs- und Eigentumspolitik festzustellen. Obwohl die Rentenpolitik nach 1945 kein unerforschtes Thema darstellt, ist die Zahl der historischen Arbeiten zur Alterssicherung überschaubar. Ein Grundlagenwerk stellt immer noch die Untersuchung von Hans Günther Hockerts von 1980 über die sozialpolitischen Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland und über die Rentenpolitik der fünfziger Jahre dar. Hockerts zeichnet den Gesetzgebungsprozess auf der Basis archivarischer Quellen detailliert nach, befasst sich jedoch nicht ausführlich mit der Frage nach den sozialstrukturellen Folgen der Reformentscheidungen. Weitere Darstellungen der Rentenpolitik der fünfziger Jahre bewegen sich zumeist im Rahmen seiner Erkenntnisse.131 Das gilt auch für die Beiträge von Winfried Schmähl in den entsprechenden Bänden der »Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945«, die in erster Linie einen politik- und institutionsgeschichtlichen Ansatz verfolgen.132 Die nachfolgenden Untersuchungen erweitern insofern die Perspektive, als dass sie insbesondere die Wirkungen und sozialstrukturellen Folgen des Ausbaus der Alterssicherung in der Bundesrepublik in den Blick nehmen und im Zusammenhang mit der sozialgeschichtlichen Entwicklung der fünfziger bis siebziger Jahre erörtern. Die Forschungen zur Familienpolitik haben in den letzten zehn Jahren deutlich an Intensität zugenommen. Dominierten bis in die neunziger Jahre vor allem soziologische und politikwissenschaftliche Untersuchungen,133 hat sich diese Forschungslücke in den letzten Jahren verkleinert. Das gilt vor allem für die Zeit der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte. Dazu beigetragen haben insbesondere die beiden, auf archivarischem Quellenmaterial beruhenden Arbei-

129 Einige Darstellungen liegen auch als Einzelveröffentlichung vor. Vgl. Kaufmann, Varianten; Dietrich, Eigentum; Wagner, Sozialstaat; Münch, Familienpolitik BRD. 130 Vgl. dazu und zu den »blinden Flecken« des Gesamtwerkes: Raphael, Geschichte, S. 564 ff. 131 Dies gilt auch für Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd. 2 u. 3. Vgl. auch Conrad, Alterssicherung. – Die grundlegenden Publikationen von Hockerts sind: Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen; ders., Sicherung im Alter; ders., Bürgerliche Sozialreform; ders., Gründungskrise; ders., Rentenreform 1972. 132 Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd. 4 u. 5. Vgl. außerdem: Ruland. 133 Z. B. Münch, Familienpolitik BRD; Kaufmann, Zukunft; ders., Staatliche Sozialpolitik; von Bethusy-Huc.

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ten von Christiane Kuller und Dagmar Nelleßen-Strauch.134 Kuller skizziert am Beispiel dreier familienpolitischer Aufgabenfelder  – dem Familienlastenausgleich, der Familienbildung und -beratung und der Kinderbetreuung  – nicht nur die familienpolitische Entwicklung, sondern geht auch auf das Wechselspiel zwischen Bundes- und bayerischer Landespolitik ein und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Familienpolitik im »föderativen Sozial­staat«. Dagegen steht bei Nelleßen-Strauch die Kindergeldgesetzgebung der fünfziger und sechziger Jahre im Mittelpunkt. Untersucht werden das Zustandekommen und die Entscheidungsverläufe, kaum dagegen die Wirkungen der Kindergeldgesetze. Die vorliegende Arbeit liefert hier wichtige weiterführende Erkenntnisse. Anders als bei Kuller und Nelleßen-Strauch konzentrieren sich die nachfolgenden Analysen der Familienpolitik vor allem auf die sozialen Folgen der familienpolitischen Entscheidungen und fragen auf dieser Basis nach deren Hintergründen und Motiven. Mit Hilfe empirischer Daten wird darüber hinaus die Auswirkung der monetären Transferleistungen auf die Sozialstruktur untersucht. Einen Anknüpfungspunkt bieten hierbei die Untersuchungen von Merith Niehuss sowie vor allem die von Franz-Ulrich Willeke und Ralph Onken durchgeführten empirischen Analysen zum Familienlastenausgleich.135 Zu den wichtigsten Darstellungen der wohnungspolitischen Gesetzgebung in der Nachkriegszeit gehört die Arbeit von Günther Schulz über den »Wiederaufbau in Deutschland«. Schulz widmet sich vor allem den Maßnahmen des so­ zialen Wohnungsbaus und rekonstruiert das Zustandekommen der Wohnungsbaugesetze der fünfziger Jahre.136 Als gut erforscht kann mittlerweile auch die Sozialgeschichte des Wohnens gelten.137 Eine Bestandsaufnahme zur Wohnungsversorgung in der Bundesrepublik der fünfziger bis siebziger Jahre liefert die in weiten Teilen empirisch angelegte Studie von Wolfgang Glatzer138 sowie eine Reihe zeitgenössischer Wohnungserhebungen und Umfragen.139 Die vorliegende Untersuchung weitet die bisherigen Erkenntnisse durch ihre Analysen zu den Auswirkungen der Wohnungsbauförderung und der »Mittelschichtorientierung« in der Wohnungs- und Eigentumspolitik aus. 134 Kuller, Familienpolitik; Nelleßen-Strauch, Kindergeld. Dazu auch Münch, Neuere A ­ rbeiten. 135 Vgl. Niehuss, Strukturgeschichte; dies., Kontinuität und Wandel; Willeke u. Onken.  – Weitere Arbeiten im Bereich der Familienpolitik: Moeller; Ruhl, Unterordnung; RölliAlkemper. 136 Schulz, Wiederaufbau. Zu den Strukturbedingungen des städtischen Wiederaufbaus vgl. außerdem von Beyme, Wiederaufbau; ders., Neue Städte; Wagner, Sozialstaat; ders., Wohnungspolitik, Bd. 3–4; Flagge. 137 Vgl. z. B. von Saldern; Schildt, Grindelhochhäuser. Einen guten Überblick über die unterschiedlichen Fragestellungen und Zugriffsweisen auf das Thema »Wohnungspolitik« bietet darüber hinaus der von Axel Schildt und Arnold Sywottek herausgegebene Sammelband über die den Wohnungsbau und das Wohnen in der Großstadt seit dem Ersten Weltkrieg, vgl. Schildt u. Sywottek; in europäisch vergleichender Perspektive Schulz, Wohnungspolitik im Sozialstaat.Vgl. auch den Forschungsbericht von Müller, Jahrhundert. 138 Glatzer, Wohnungsversorgung. 139 Vgl. z. B. Euler, Wohnverhältnisse kinderreicher Familien; Kaukewitsch.

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Kaum Aufmerksamkeit wurde in der Forschung bisher der Frage nach dem Wohlfahrtsstaat als Beschäftigungsfeld und berufliche Aufstiegsleiter gewidmet. Zwar ist über den sozialen Aufstieg der Arbeiterklasse im 20. Jahrhundert schon viel geforscht worden.140 Die mögliche Verbindung zwischen der »Ent­ proletarisierung« der Arbeiter und den Beschäftigungsmöglichkeiten und Mobilitätschancen des Wohlfahrtsstaats ist jedoch noch nicht systematisch untersucht worden. Der in dieser Arbeit unternommene Versuch, Bedeutung und Auswirkungen der Zunahme wohlfahrtsstaatlicher Beschäftigung zu analysieren und dabei insbesondere die sozialstrukturellen Veränderungen in der Mitte der Gesellschaft zu beleuchten, geht somit über die vorhandene sozialhistorische Forschung hinaus. Die Arbeit greift auf eine Vielzahl von Quellen unterschiedlicher Provenienz zurück. Die umfangreichen Bestände der Bundesministerien und die Gesetzes­ dokumentationen des Bundestages bilden den Ausgangspunkt der Untersuchung. Sie geben über den politischen Entscheidungsprozess Aufschluss, aber auch über die Motive und die sozialpolitische Sichtweisen der politischen Akteure. Eine besondere Rolle nehmen die Bestände des Bundeskanzleramts ein, das die aus seiner Sicht wichtigsten Unterlagen sammelte und eigene Vermerke über die Vorgänge in den Ressorts verfasste. Auch finden sich in diesem Aktenbestand zahlreiche Stellungnahmen von Verbänden und In­teressenvertretern, die aufzeigen, inwiefern von außen Einfluss auf sozialpolitische Reformentschei­ dungen geübt wurde. Die Ministerialakten geben naturgemäß nur begrenzt Einblick in die Meinungsbildung innerhalb der Parteien, insbesondere der Oppositionsparteien. Deshalb wurden hier ergänzend die Sitzungsprotokolle der Bundestagsfrak­ tionen, -fraktionsvorstände und der Parteigremien und -gliederungen herangezogen. Der Großteil dieser Akten ist für den Untersuchungszeitraum ediert.141 Weitere Materialen sowie die Nachlässe von führenden CDU- und SPD-Politikern befinden sich in den jeweiligen Archiven der parteinahen Stiftungen; sie sind, soweit relevant, über die vorhandene Literatur rezipiert worden. Um Aussagen zu Höhe, Ausmaß und Wirkungen der Sozialleistungen, aber auch über die wirtschaftliche und soziale Lage der verschiedenen Berufsgruppen und sozialen Schichten treffen zu können – dem Kernanliegen der Arbeit –, sind zahlreiche numerische Quellen erschlossen und ausgewertet worden. Bei diesen handelt es sich um amtliches Datenmaterial in Form von Statistiken, Tabellen, Bilanzen und anderweitigen Zusammenstellungen, die von den Ministerien (z. B. Sozialbericht), dem Statistischen Bundesamt (Statistisches Jahrbuch) oder 140 Vgl. vor allem Mooser, Arbeiterleben; ders., Auflösung; Tenfelde; Goldthrope u. a., Der wohlhabende Arbeiter. 141 Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1949–1966, 6 Bde.; Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1949–1966, 7 Bde.; Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1950–1966, 4 Bde.

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beispielsweise von den Sozialversicherungsträgern herausgegeben wurden; darüber hinaus um die Ergebnisse von Einkommens- und Verbrauchsstichproben sowie Mikrozensus-Erhe­bungen. Zusätzlich wurden empirische zeitgenössische sozialwissenschaftliche und soziologische Studien und Erhebungen, Bevölkerungsumfragen sowie Gutachten wissenschaftlicher Forschungseinrich­tungen herangezogen.142 Mit Hilfe dieses Datenmaterials lässt sich in der Zusammenschau ein verlässliches Bild der sozialen Lage verschiedener Berufs- und Bevölkerungsgruppen zeichnen. Allerdings setzt dies eine genaue Prüfung der er­ hobenen Daten und ihrer Aussagefähigkeit voraus. Systematisch ausgewertet wurden darüber hinaus die Zeitschriften der Verbände143 und die amtlichen Nachrichtenblätter.144 Die darin enthaltenen offiziellen Stellungnahmen und Diskussionsbeiträge geben Aufschluss über die vorherrschenden sozialpolitischen Diskurse und grundlegenden Ordnungsvorstellungen sowie die gesellschaftliche Aktzeptanz der Reformen. Nicht zuletzt spielen für die Untersuchung die sozialen Vorstellungen, Werte und Einstellungen sowie die Lebensgewohnheiten von Schichten oder Berufsgruppen wie den Angestellten, den Arbeitern oder dem selbständigen Mittelstand eine Rolle. Hier greift die Arbeit vor allem auf die sozialgeschichtliche Literatur zurück, in der die Frage nach »subjektiven« Dimensionen sozialer Ordnung und Schichtung sowie nach Mentalitätsprägungen behandelt wird.145 Insgesamt beruhen die nachfolgenden Analysen auf einer breiten Quellen­ basis, zumal auch Artikel aus allgemeineren, gesellschaftspolitischen Periodika rezipiert wurden. Doch sollen an dieser Stelle auch die Grenzen der Studie nicht verschwiegen werden. Vor allem im Hinblick auf die empirische Datengrundlage gilt, dass keine »neuen« Daten generiert und eigene Berechnungen angestellt wurden und werden konnten. Das ist nicht nur eine Frage fachlicher Kompetenz, sondern auch ein Problem der Verfügbarkeit von Datenmaterial. Datenreihen, wie sie das sozioökonomische Panel seit Mitte der 1980er Jahren zur Verfügung stellt, existieren für den Untersuchungszeitraum nicht. Hinzu kommt, dass die amtlichen Daten in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik häufig noch lückenhaft und unsystematisch erhoben wurden. Aufgrund der Behandlung verschiedener Themenfelder kann kein Anspruch auf Vollständigkeit der Daten erhoben werden. Dennoch hält die vorliegende Studie wichtige neue Erkenntnisse über die Entstehung und Entwicklung von Mittelschichten in der Bundesrepublik bereit und trägt zur Erhellung des Verhältnisses von wohlfahrtsstaatlicher Politik und Sozialstrukturentwicklung bei. 142 Vgl. z. B. Transfer-Enquête-Kommission, Transfersystem; Schmidt u. a. 143 Darunter: Der Arbeitgeber; Soziale Sicherheit; Gewerkschaftliche Monatshefte; Der An­ gestellte; Sozialer Fortschritt 144 Bundesarbeitsblatt; Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. 145 Vgl. z. B. Kockas Arbeiten über die »ständische« Prägung der Angestelltenschaft: ders., Die Angestellten; ders., Angestellte im europäischen Vergleich; für die Arbeiterschaft vgl. Mooser, Arbeiterleben; ders., Abschied.

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I. Alterssicherung in der Mittelschichtgesellschaft: Von der Überlebens- zur Lebensstandardsicherung

Die Alterssicherung als zentraler Bestandteil der westlichen Wohlfahrtsstaaten hat im Verlauf des 20.  Jahrhunderts kontinuierlich an Bedeutung gewonnen. Mit dem Fortschreiten der Industriegesellschaft wurde sie zum »wichtigsten und in mancher Hinsicht schwierigsten Problem sozialer Sicherheit«.1 Die staatlichen Transferleistungen in der Rentenversicherung entwickelten sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für einen wachsenden Anteil der älteren Bevölkerung zur entscheidenden Lebensgrundlage. Während 1930 in Deutschland etwa die Hälfte aller Frauen und Männer über 65 Jahre eine staatliche Rente oder Pension bezog, waren es 1989 im Westen 86 Prozent, im Osten an­nähernd 100 Prozent.2 Die Einkommenssicherung für Invalidität, Alter und Ruhestand stellte am Ende der ersten drei Nachkriegsjahrzehnte den größten Einzelposten des bundesrepublikanischen Sozialbudgets dar.3 In der unmittelbaren Nachkriegszeit gehörte die Alterssicherung zu den dringlichsten sozialpolitischen Handlungsfeldern. Sozialpolitiker aller Parteien sahen in der Reform der Rentenversicherung ein Anliegen von höchster Prio­rität. Während die Gesetzgebung Anfang der fünfziger Jahre zunächst noch von Maßnahmen zur Beseitigung akuter Notlagen und fallweisem Handeln geprägt war, wurde gegen Ende der zweiten Legislaturperiode – unter inzwischen grundlegend veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen – eine tiefgreifende konzeptionelle Neuorientierung in der Alterssicherung realisiert: die Rentenreform des Jahres 1957. Sie markierte den Durchbruch in der Entwicklung der Bundesrepublik zum »Sozialstaat«, wie ihn das Grundgesetz in Artikel 20 postulierte.4 Die Rentenreform von 1957 wurde zum Symbol für Aufstieg, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit in der frühen Bundesrepublik. Sie veränderte die ökonomischen Bedingungen und die Lebenswirklichkeit von Rentnern und Erwerbstätigen gleichermaßen und nahm nicht zuletzt auch Einfluss auf Men1 So William Beveridge, der Verfasser des »Beveridge Reports«, welcher die Grundlage schaffte für den Aufbau der sozialen Sicherungssysteme im Großbritannien der Nachkriegszeit, vgl. Beveridge, S. 90. 2 Vgl. Conrad, Vom Greis, S. 327; Statistisches Bundesamt, Ältere Menschen, S. 106 f. 3 Vgl. Transfer-Enquête-Kommission, Das Transfersystem, S.  23. Danach lag der Anteil der Rentenversicherung an den Gesamtausgaben des Sozialbudgets 1978 bei 36,9 Prozent. Schon 1976 bewegte die Rentenversicherung ein Ausgabenvolumen in Höhe von 82 Prozent der Bundesausgaben im selben Jahr. Vgl. auch Hockerts, Sicherung im Alter, S.  296; Conrad, Alters­sicherung, S. 102. 4 Abelshauser, Fünfziger Jahre, S. 49.

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talitäten und Verhaltensweisen. Für die Kanzlerschaft Konrad Adenauers war die Rentenreform eine der wichtigsten innenpolitischen Entscheidungen; sie war wahrscheinlich das »populärste Gesetz, das je in der alten Bundesrepublik verabschiedet wurde«.5 Adenauer selbst gab den Anstoß zu ihrer Realisierung. Er erkannte die außerordentliche (wahl-) politische Bedeutung der Rentenfrage und setzte die Reform gegen bestehende Widerstände durch.6 Mit der Reform von 1957 waren jedoch noch nicht alle Probleme der Alters­sicherung gelöst. Nach den Verbesserungen für die Arbeitnehmer musste die Regierung dem ebenfalls gestiegenen Sicherungsbedürfnis der Selbständigen nachkommen. Die Reform zog damit weitere Reformen nach sich. Mit der Rentenreform von 1972, die dem epochemachenden Ereignis von 1957 ein zweites hinzufügte,7 erreichte der Ausbau des Rentensystems schließlich seinen Höhe- und vorläufigen Endpunkt. Die nachfolgende Untersuchung zur Rentenpolitik widmet sich der Frage, ob und inwieweit die Reformen zur Alterssicherung in der Bundesrepublik eine Politik zugunsten bestimmter sozialer Schichten darstellten. Wurden die Bedürfnisse und Interessen der mittleren Berufs- und Einkommensgruppen, möglicherweise vermittelt durch Gewerkschaften und Verbände, besonders berücksichtigt? Lässt sich feststellen, dass die Facharbeiter- und Angestelltenschaft Bezugspunkt und Adressat der Reformüberlegungen war und damit bedeutend von der Rentengesetzgebung profitierte? Anders gefragt: Hat die Rentenpolitik in der Bundesrepublik zum Wandel der Sozial- und Gesellschaftsstruktur im Sinne einer Verbreiterung der mittleren Schichten und zur sozialen »Nivel­ lierung« beigetragen? Wenngleich die Rentenpolitik nicht als unerforschtes Gebiet der Sozialstaatsgeschichte gelten kann – bereits im Untersuchungszeitraum erschien eine Flut von wissenschaftlichen Ausarbeitungen und Veröffentlichungen zur Alters­ sicherung  –, gibt es nur wenige neuere, umfassende historische Arbeiten zur Entwicklung und vor allem zu den Auswirkungen der Rentengesetzgebung der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre. Die grundlegende Studie von Hans Günter Hockerts,8 die sich auf den Zeitraum 1945 bis 1957 erstreckt, ist durch verschiedene Arbeiten ergänzt worden.9 Eine auch empirische Daten berücksichtigende zeithistorische Untersuchung der Rentenreform und ihrer lang­ fristigen sozialstrukturellen und -kul­tu­rellen Folgen fehlt bislang. Insofern werfen die folgenden Analysen ein neues Licht auf die rentenpolitische Expansion der fünfziger bis siebziger Jahre. 5 Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1949–1990, S. 262. 6 Für Hockerts beschreibt die Rentenreform eine »Epochenzäsur«, vgl. ders., Die Renten­ reform 1957, S. 93. Der langjährige CDU-Bundestagsabgeordnete Thomas Ruf nennt sie die »wichtigste sozialpolitische Reform […] der gesamten Nachkriegszeit bis zum heutigen Tag«, vgl. Ruf, Aufzeichnungen, S. 73. 7 Vgl. Hockerts, Rentenreform 1972, S. 913. 8 Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen. Die Studie datiert von 1980. 9 Vgl. vor allem Schmähl, Sicherung bei Alter; Alber, Sozialstaat, S. 182 ff.

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1. Entwicklung, Bedeutung und Funktion der Rentenversicherung 1889–1949 Die Rentenreform von 1957 wurde von der Erkenntnis geleitet, dass das Leistungsrecht ebenso wie Aufbau und Struktur der Rentenversicherung veraltet waren und den veränderten Umständen einer modernen und dynamischen Industriegesellschaft nicht mehr entsprachen. Die Altersrente hatte seit der Schaffung der deutschen Sozialversicherung einen wesentlichen Wandel ihrer Funktion erfahren. Statt, wie ursprünglich, lediglich ein »Zuschuss zum Lebensunterhalt«10 zu sein, stellte die Altersrente nach dem Zweiten Weltkrieg die wesentliche Einkommensquelle der Rentner dar. Trotz einer Reihe von Gesetzgebungsmaßnahmen zur Erhöhung der Renten blieb die soziale Lage der Rentner in den fünfziger Jahren unbefriedigend. Die nachfolgenden Kapitel erörtern Bedeutung, Funktion und Entwicklung der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zum Beginn der fünfziger Jahre sowie, darauf auf­bauend, die soziale Lage der Rentner und ihre Stellung in der Gesellschaft nach dem Krieg. 1.1 Die »Bismarcksche Arbeiterversicherung« Das westdeutsche System der Alterssicherung beruhte zu Beginn der fünfziger Jahre im Wesent­lichen noch auf den Bestimmungen und Ordnungsprinzipien der Sozialversicherungsgesetzgebung der 1880er Jahre bzw. der im Jahre 1911 erlassenen Reichsversicherungsordnung (RVO) und dem Angestelltenversicherungsgesetz (AVG).11 Die Ursachen für die Entstehung der Sozialversicherung am Ende des 19. Jahrhunderts waren vielfältig gewesen.12 Sie hatten vor allem in dem durch Bevölkerungswachstum, Industrialisierung, Urbanisierung und Binnenwanderung vorangetriebenen Prozess des raschen ökonomischen und sozialen Wandels gelegen sowie in der politischen Mobilisierung der Massen. Die Auflösung von Ständegesellschaft und Zunftverfassung, der Bedeutungsverlust der Familie als Produktionsgemeinschaft und Institution zur Vorsorge gegen Not, die steigende Abhängigkeit von kapitalistischen Arbeitsmärkten, die zunehmende Gefahr von Arbeitslosigkeit und die damit verbundenen Formen des Massenelends sowie deren Thematisierung als soziale Frage – alles das hatte 10 Vgl. Kabinettsvorlage des Bundesministers für Arbeit »Grundgedanken zur Gesamtreform der sozialen Leistungen« v. 7.4.1955 (BA, B 149/393 u. B 136/1379; auch abgedruckt bei: Richter, Sozialreform, B III 1). 11 Reichsversicherungsordnung v. 19.7.1911 (RGBl. I, S. 509); Versicherungsgesetz für Angestellte v. 20.12.1911 (RGBl. I, S. 989). 12 Vgl. dazu insb. Köhler, Entstehung von Sozialversicherung; Ritter, Der Sozialstaat, S. 61 ff.

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ein Bedürfnis nach neuen Formen sozialer Sicherheit entstehen lassen.13 Doch neben diesen ökonomischen und sozialen Faktoren spielte auch die »Eigenart politischer und sozialer Ideen« eine Rolle.14 Entscheidend waren die Auffassung von der Aufgabe des Staates im Wirtschafts- und Sozialleben, die Kapazität der kommunalen und staatlichen Verwaltung, die Wahrnehmung, Interpretation und Verarbeitung sozialer Probleme durch die politischen und sozialen Eliten und deren Handlungsspielraum sowie nicht zuletzt Zeitpunkt und Ausmaß der politischen und gewerkschaftlichen Mobilisierung der Arbeiterschaft. Bedeutsam waren ferner auch die Interessenlage der Unternehmer und die Effektivität von Interessenorganisationen, die, wie die Versicherungswirtschaft, von der Regelung und Ausgestaltung der Krankenversicherung spürbar betroffen waren.15 Das Alter stellte unter den veränderten Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Industriegesellschaft ein großes Problem dar. Im Unterschied zur vorkapitalistischen Arbeitsverfassung gliederte der kapitalistische Arbeitsvertrag alle sozialen Kosten aus. Die Industriebetriebe und Unternehmen kamen in der Regel nicht für die Einkommenssicherung derer auf, die wegen Invalidität oder hohen Alters auf Dauer nicht mehr erwerbstätig waren.16 Für die meisten der von der Lohnarbeit abhängigen Arbeiter bedeutete der altersbedingte Verlust der Arbeitskraft auch den Verlust jeglicher Existenzsicherung. Nur die wenigsten Arbeiter waren in der Lage, Vorsorge für das Alter zu treffen, indem sie von ihrem geringen Lohn etwas ansparten. Viele, die für die industrielle Berufs­arbeit nicht mehr taugten,17 waren gezwungen, sich anderweitig zu betätigen, beispielsweise als Aufsichtsperson oder in der Heimarbeit. Das Projekt einer Altersversorgung für die Arbeiterklasse wurde seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts vor allem auf Initiative des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck vorangetrieben.18 Bismarck handelte jedoch nicht vorrangig aus sozialen Motiven; vielmehr bestand seine primäre Absicht darin, durch soziale Zugeständnisse die politische Dynamik der Arbeiterschaft zu bändigen. Die Arbeiter sollten durch die Verbesserung ihrer sozialen Lage dem Einfluss von SPD und Gewerkschaften entzogen und gleichzeitig an den Staat gebunden werden.19 Die Schaffung von öffentlichen Einrichtun13 Vgl. Ritter, Der Sozialstaat, S. 64 ff.; ders, Sozialversicherung, S. 9 ff.; Köhler, Entstehung von So­zialversicherung, S. 50  ff. 14 Ritter, Der Sozialstaat, S. 66. 15 Vgl. dazu Ullmann. 16 Vgl. Hockerts, Sicherung im Alter, S. 298 f. 17 Die geminderte »Tauglichkeit« für industrielle Berufsarbeit setzte im 19. Jahrhundert etwa mit dem 40. Lebensjahr ein. Vgl. Tennstedt, Sozialgeschichte, S. 184. 18 Vgl. Rundschreiben des Reichskanzlers Otto Fürst von Bismarck an die Bundesregierungen v. 5.8.1879: Aufforderung eines Berichts über die Erfahrungen mit den Altersversorgungskassen und über Vorschläge zu deren reichsgesetzlichen Regelung (= Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867–1914, Abt. 1, Bd. 6, Nr. 69). 19 Vgl. dazu Rede Bismarcks zur Alters- und Invaliditätsversicherung v. 18.5.1889 vor dem Reichstag, in: Fürst Bismarck’s gesammelte Reden Bd. I–III, S. 377 ff.; Gespräch des Reichs-

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gen, die den Arbeiter und seine Familie im Alter bzw. im Falle von Erwerbsunfähigkeit vor Verarmung und Verelendung bewahren sollten, war insbesondere von den unteren Verwaltungsebenen als notwendig anerkannt worden.20 Freilich konnte auch nach der Einführung der Rentenversicherung von einer gesicherten Existenz der Arbeiter im Alter keine Rede sein, denn die Altersrente war nicht mit dem Ziel konzipiert worden, das Auskommen im Alter hinreichend zu sichern. Dem Bestreben Bismarcks nach sollte sie »dem müden Arbeiter etwas Beßres und Sichres als die Armenpflege« gewähren,21 »dass er nicht rechtlos als reiner Almosenempfänger dasteht, sondern dass er ein Peculium an sich trägt, über das niemand anders außer ihm verfügen kann und das ihm […] in dem Hause, in dem er Aufnahme gefunden hat, eine bessere Behandlung sichert, wenn er den Zuschuss, den er mit hineinbringt, aus dem Hause auch wieder entfernen kann«.22 Hinter der Gewährung lediglich geringer Rentenleistungen mochte auch die damalige Befürchtung gestanden haben, dass sich höhere Sozialleistungen negativ auf die Arbeitsmoral der Arbeiter auswirken könnten.23 Damit lag die Bedeutung der Bismarckschen Rentenversicherung weniger in der Höhe ihrer materiellen Leistung, sondern vielmehr darin, dass ein grundsätzlicher – berechenbarer und rechtlich einklagbarer – Anspruch (»Peculium«) auf Leistungen bestand. Dieser Anspruch wurde durch Beitragszahlungen erworben und konnte weder vorenthalten noch wieder entzogen werden. Das unterschied die Rentenversicherung von der Armenunterstützung bzw. der späteren Fürsorge, bei der grundsätzlich kein Anspruch auf Leistungen bestand, sondern in der Regel eine Bedürftigkeitsprüfung Voraussetzung war.24 Neben dem Deutschen Reich führten um die Jahrhundertwende auch andere europäische Staaten staatliche Alterssicherungssysteme ein: Dänemark 1891, Großbritannien 1908, Frankreich 1910 und Schweden 1913. Sowohl Däne­ mark als auch Großbritannien knüpften an die traditionelle Armenhilfe an und machten eine Bedürftigkeitsprüfung zur Voraussetzung für den Leistungs­ bezug. Während in Großbritannien die Höhe der Renten einheitlich war, wurde sie in Dänemark individuell durch lokale Behörden festgelegt. In Schweden wurde die Alterssicherung nach dem Versicherungsprinzip organisiert und durch Zulagen für Bedürftige ergänzt. Die universalistische, wesentlich aus kanzlers Otto Fürst von Bismarck mit dem Publizisten Moritz Buch v. 21.1.1881 (= Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867–1914, Abt. 1, Bd. 6, Nr. 100). 20 Vgl. dazu: Zur Frage der Handhabung des Arbeiterstandes. Denkschrift des aus den Kreisen Duisburg, Essen, Bochum, Dortmund gebildeten Komitees zur Gründung einer Altersversorgungskasse, Essen 1868 (= Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozial­politik 1867–1914, Abt. 1, Bd. 6, Nr. 7; vgl. auch Nr. 74, 75, 93). 21 Zit. nach: Jantke, S. 224. 22 Bismarck in seiner Rede bei der Beratung des Reichshaushalts mit Bezug auf das vorgelegte Unfallversicherungsgesetz v. 2.4.1881, vgl. Fürst Bismarck’s gesammelte Reden Bd.  I–III, S. 48. 23 Vgl. van der Borght, S. 792. 24 Vgl. Hockerts, Sicherung im Alter, S. 301 f.

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Steuermitteln finanzierte schwedische Volksversicherung wies insgesamt kaum Gemeinsamkeiten mit der Bismarckschen Arbeiterversicherung auf.25 In Frankreich setzte sich dagegen eine ähnliche Lösung wie in Deutschland durch. Die 1910 geschaffene Pflichtversicherung für Arbeiter und Bauern wurde wie im Deutschen Reich von Beitragszahlungen durch die Arbeitgeber und die Versicherten getragen. Allerdings knüpfte die Bezugsberechtigung nicht an die Erwerbstätigkeit, sondern an die Staatsbürgerschaft an.26 Die Alterspflicht­ versicherung entfaltete in Frankreich jedoch kaum Wirkung. Sie wurde sowohl von Versicherten- als auch von Unternehmerseite abgelehnt und endete 1914 mit Beginn des Ersten Weltkrieges und im Zuge der eintretenden Geldentwertung als Misserfolg.27 In der Zwischenkriegszeit wurde ein zweiter Anlauf unternommen, der schließlich im Gesetz über die »Assurances sociales« von 1928 bzw. 1930 mündete.28 Neben der Alterssicherung wurden nun auch die Risiken der Invalidität und Krankheit sowie der Mutterschutz durch die Sozialversicherung erfasst. Die berufsständische Organisation und die Leistungsgewährung nach dem Ver­sicherungsprinzip wiesen deutliche Parallelen zum deutschen System auf.29 1.2 »Verbürgerlichung« der Rentenversicherung Bis in die Zwischenkriegszeit blieb Sozialpolitik in Europa weitgehend ein Mittel zur Unterstützung der Armutsbevölkerung. In Deutschland wurde jedoch schon früh die Tendenz sichtbar, neben den hilfsbedürftigen Arbeitern auch andere Berufsgruppen in die soziale Sicherung einzubeziehen. Mit der Einführung der Angestelltenversicherung als eigenen Zweig der sozialen Rentenversicherung im Jahre 1911 wurde der Versicherungsschutz auf einen Teil des »neuen Mittelstands« ausgedehnt. Das geschah aus dem sozialpolitischen Bewusstsein heraus, dass sich die soziale und wirtschaftliche Situation der einfachen Angestellten kaum von der der Arbeiter unterschied.30 Diese sollten damit 25 Vgl. Ritter, Sozialstaat, S. 87 ff.; Kaufmann, Der deutsche Sozialstaat, S. 878 ff., 904 ff. 26 Vgl. dazu Leclerc, S. 167ff; Kott, L’Etat social, S. 92 f. ; dies., Gemeinschaft, S. 318. 27 Vgl. Kaufmann, Der deutsche Sozialstaat, S.  933; Saint-Jours, S.  224; ausführlich Leclerc, S. 175 ff. 28 Vgl. dazu ausführlich Leclerc, S. 277 ff. 29 Vgl. Kaufmann, Der deutsche Sozialstaat, S. 933; Saint-Jours, S. 228 ff.; Valat, S. 14 ff. 30 Vgl. Sten. Ber. RT, XII. Leg. Per., I. Sess., Bd. 227, 18. Sitzung v. 14.3.1907, S. 446–495. Hier insb. die Ausführungen des Stellvertretenden Reichskanzlers und Staatssekretärs des Innern Graf von Posadowsky-Wehner (S. 470: »Über die wirtschaftliche Notwendigkeit, über die sittliche Berechtigung einer solchen Versicherung kann, glaube ich, kein Zweifel unter den Beteiligten bestehen«) und des Abg. Potthoff über die soziale Lage der Angestellten (S. 475 f.). Vgl. auch: Denkschrift über die von den Organisationen der Privatangestellten im Oktober 1903 angestellten Erhebungen über die wirtschaftliche Lage und Berechnung der Kosten einer Pensions- und Hinterbliebenenfürsorge (Sten. Ber. RT, XII. Leg. Per., I. Sess., Bd. 240, Anlagen, Drs.-Nr. 226 v. 14.3.1907, S. 1114–1204).

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ebenfalls in den Genuss entsprechender staatlicher Alterssicherungsmaßnahmen kommen.31 Mit der Angestelltenversicherung erhielten zugleich »bürgerliche Elemente« Einzug in die Sozialversicherung.32 So brachte die Angestelltenversicherung nicht nur die Grundlagen der modernen Familienversorgung in Gestalt der unbedingten Witwenrente in die Rentenversicherung ein. Der Verzicht auf den Reichszuschuss einerseits, die stärkere Berücksichtigung der geleisteten Beiträge und der Höhe des individuellen Einkommens andererseits steigerten außerdem die Bedeutung des Versicherungsprinzips und des Leistungsgedankens.33 In der Angestelltenversicherung waren insgesamt höhere, individuelle Rentenleistungen erzielbar.34 Die Altersgrenze lag darüber hinaus nicht wie in der Invalidenversicherung bei 70, sondern bei 65 Jahren. Auch der Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitsbegriff war günstiger gefasst, denn die »geistigen Arbeiter« mussten nur eine Erwerbsminderung von 50 Prozent und nicht von zwei Dritteln nachweisen wie in der Arbeiterversicherung.35 Alles in allem orientierte sich die »deutsche Pensionsbewegung«, verkörpert durch den »Hauptausschuss für staatliche Pensionsversicherung der Privatangestellten«, beim Entwurf des Angestelltenversicherungsgesetzes mehr an den Pensionsregelungen der »Staatsbeamten« als an den Arbeiterrenten.36 Die Schaffung einer Sondergesetzgebung für die Angestellten bedeutete die Anerkennung des Sonderstatus, den sich der »neue Mittelstand« aufgrund seiner beruflichen Stellung zuschrieb.37 Sie verstärkte damit die Tendenz, die in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts in Deutschland schnell wachsende Angestelltenschaft38 von der Arbeiterschicht sozialstrukturell zu trennen und abzuheben.39 31 Als Pflichtversicherung genoss die Sozialversicherung im Gegensatz zur Privatversicherung den besonderen Schutz des Staates (§§ 1384 Abs. 2 RVO und 168 Abs. 2 AVG). 32 Prinz, Arbeiterbewegung, S. 437. 33 In der Angestelltenversicherung wurde die Höhe und Anzahl der Beiträge stärker berücksichtigt. Statt fünf, wie in der Arbeiterversicherung, gab es neun Beitragsklassen (§§ 16 AVG und 1392 RVO). 34 Nach Ablauf von 120 Beitragsmonaten betrug das Ruhegeld ein Viertel des Wertes der in dieser Zeit entrichteten Beiträge und ein Achtel des Wertes der übrigen Beiträge (§ 55 AVG). Zu den Unterschieden vgl. auch Prinz, Arbeiterbewegung, S. 438 f. 35 Bei Feststellung von Berufsunfähigkeit wurde zudem nicht auf den allgemeinen Arbeitsmarkt, sondern lediglich auf ein engeres Berufsfeld verwiesen. 36 Vgl. Potthoff, Falsche Vorbilder für die Privatbeamtenversorgung, in: Die Hilfe Nr.  24, 16.6.1907 (= Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867–1914, Abt. 4, Bd. 3, Nr. 53). 37 Vgl. dazu Reif, Arbeitgeber, Angestellte und Privatbeamtenversicherung, in: Hansa-Bund Nr.  16, 22.4.1911 (= Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867– 1914, Abt. 4, Bd. 4, Nr. 49). 38 1882 wurden 307.268, 1895 schon 828.509 und 1907 sogar 1.620.310 »Privatangestellte« in Deutschland gezählt. Vgl. Theunert, S. 2 f. 39 Vgl. dazu auch Kocka, Die Angestellten, S. 64 ff.; Kocka u. Prinz, S. 211 ff.; Schulz, Die An­ gestellten, S. 28 f.

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Seit 1911 bestanden innerhalb der sozialen Rentenversicherung somit zwei unterschiedliche Zweige. Die Angestelltenversicherung hielt dabei nicht nur privilegierte Leistungen bereit, sondern versicherte tendenziell auch die »besseren Risiken«  – geringeres Berufsunfähigkeitsrisiko und im Durchschnitt höhere Gehälter. Doch lässt sich die Trennung von Arbeiter- und Angestelltenversicherung in ihrer weiteren Entwicklung nicht nur negativ – rückschrittlich, sozial konservierend – interpretieren, im Sinne der Aufrechterhaltung von »Standesprivilegien«40 und der Institutionalisierung von sozialen Ungleichheiten. Vielmehr spricht einiges dafür, dass die Angestelltenversicherung schon früh auch Vorbildcharakter hatte und als Schrittmacher beim Ausbau der Arbeiterversicherung fungierte.41 Beispielsweise wurden in der Zeit der NS-Herrschaft, in der die Sonderinteressen der Angestelltenschaft vergleichsweise wenig Beachtung fanden, die Leistungen der Invaliden- und der Angestelltenversicherung zum Vorteil der Arbeiter vereinheitlicht. Das traf unter anderem auf die Bestimmungen über die Selbst- und Weiterversicherung und auf die Erhaltung von Anwartschaften zu.42 Auch in der Nachkriegszeit und der Anfangszeit der Bundesrepublik standen den Forderungen der Arbeiter und ihrer Gewerkschaften die Regelungen der Angestelltenversicherung vor Augen und die Frage der Gleichberechtigung von Arbeitern und Angestellten trieb die Diskussionen um den Ausbau der Rentenversicherung voran. Im Sozialversicherungs-Anpassungs­gesetz (SVAG) von 1949 wurden die Leistungen der Arbeiterversicherung in wichtigen Punkten den Angestelltenversicherungsleistungen angenähert, so z. B. bei der Gewährung von Invaliditäts- bzw. Berufsunfähigkeitsrenten.43 Zum Zeitpunkt der Verabschiedung des AVG 1911 herrschte über die Einbeziehung der Angestellten in die soziale Rentenversicherung jedoch keineswegs Einvernehmen. Vor allem die Vertreter des »alten«, selbständigen Mittelstands übten Kritik. Sie befürchteten, der »Trieb« zur Selbsthilfe könne durch die Ausdehnung der Versicherungspflicht gefährdet werden. Weiter wurde argumentiert, dass Teile der selbständig tätigen Personen ein ähnliches Schutzbedürfnis geltend machen könnten, da sie einkommensmäßig zum Teil schlechter gestellt seien als die von der Versicherungspflicht erfassten »Privatbeamten«.44 40 Vgl. Zurückweisung einer »Standesversicherung« der Angestellten und die Forderung nach Ausbau der allgemeinen Invalidenversicherung der Gewerkschaften, in: Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands Nr. 6, 11. Februar 1911 (= Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867–1914, Abt. 4, Bd. 4, Nr. 26). 41 So auch Prinz, Die Arbeiterbewegung; ders., Vom neuen Mittelstand. Vgl. auch Conrad, Vom Greis, S. 257 f. 42 Gesetz über den Ausbau der Rentenversicherung v. 21.12.1937 (RGBl. I, S. 1393). Zur Nivellierung des Arbeiter-Angestellten-Unterschiedes im Nationalsozialismus vgl. Kocka u. Prinz, S. 215 ff.; Kocka, Die Angestellten, S. 178 ff.; Mooser, Abschied, S. 181 f. 43 Dazu ausführlich Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 91 f. 44 Vgl. Erklärung des Deutschen Handelstages zur Versicherung der Privatangestellten und zur Sozial­politik im Allgemeinen v. 4.4.1911 (= Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867–1914, Abt. 4, Bd. 4, Nr. 40); Resolution der Vereinigung von Handels­kammern des niederrheinisch-westfälischen Industriebezirks v. 19.4.1911 (= Quel-

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Dabei wurde jedoch übersehen, dass die besser verdienenden höheren und leitenden Angestellten von Anfang an von der Sozialversicherungspflicht ausgenommen worden waren – ursprünglich bis zu einer Jahresverdienstgrenze von 5.000 Mark. Sie mussten, wie der gewerbliche Mittelstand, selbständig für ihre Alterssicherung sorgen. Eine grundlegende Änderung trat erst 1938 mit dem »Gesetz über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk«45 ein. Es dehnte den Personenkreis der Versicherungspflichtigen erneut aus und bezog nun auch die selbständigen Handwerker in die Rentenversicherung ein. Damit war Deutschland – sieht man vom schwedischen System der Volksversicherung ab  – eines der ersten europäischen Länder, dessen Sozialversicherung die Mitgliedschaft einer großen Gruppe von Selbständigen vorsah.46 Allerdings wurden für die selbständigen Handwerker erneut Sonderregelungen geschaffen, da ihre sozialen Belange anders gelagert schienen als die der abhängigen Arbeiter und Angestellten. So durften sie selbst entscheiden, ob sie sich zu besonderen Konditionen in der Angestelltenversicherung sozial­ versicherten oder ob sie eine private Lebensversicherung abschließen wollten. Darüber hinaus bestand noch die Möglichkeit der »Halbversicherung«, wenn die Handwerker jeweils mindestens die Hälfte der ihrer Einkommensklasse entsprechenden Beiträge in die gesetzliche und eine private Versicherung einzahlten. Die Zusammenfassung von Handwerkern und Angestellten in einer Risikogemeinschaft ging eindeutig zu Lasten der abhängig beschäftigten Beitragszahler. Insbesondere die den Handwerkern vorbehaltene Wahlfreiheit führte »zu einer für die Angestelltenversicherung höchst ungünstigen Selbstauslese«.47 Denn es waren vor allem die Handwerker mit einem verhältnismäßig hohen Durchschnittsalter und einem geringeren Verdienst, die sich zum Eintritt in die gesetzliche Rentenversicherung entschlossen, da die Angestelltenversicherung – im Gegensatz zur Lebensversicherung – Durchschnittsbeiträge erhob, die nicht nach Alter gestuft waren. Die Einbeziehung der Handwerker in die staatliche Alterssicherung wurde 1938 offiziell damit begründet, dass die Lage der Handwerker mittlerweile »mit der des Arbeiters vor Schaffung der Rentenversicherung« vergleichbar geworden sei. Die Selbständigkeit biete keine Gewähr mehr für eine gesicherte Alters­ versorgung, vielmehr seien gerade die Merkmale der Selbständigkeit zugleich lensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867–1914, Abt. 4, Bd. 4, Nr. 42). Zur Einstellung der Unternehmerschaft vgl. auch Ullmann, S. 148 ff. 45 RGBl. I, S. 1900. 46 Ritter, Der Sozialstaat, S. 137. – In Frankreich wurden in den dreißiger Jahren für kleine Selbständige freiwillige Versicherungsmöglichkeiten geschaffen. Das Sozialversicherungsgesetz von 1930 erfasste nur unselbständig Erwerbstätige in Industrie, Handel und Landwirtschaft bis zu einer bestimmten Einkommensgrenze. Für die höheren Angestellten (»­Cadres«) wurden in den dreißiger Jahren eigene Einrichtungen mit Sonderkonditionen geschaffen. Vgl. Kaufmann, Der deutsche Sozialstaat, S. 933. 47 Scheybani, S. 468. Vgl. auch Baldwin, S. 269.

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Beweis für die Unsicherheit ihrer wirtschaftlichen Lage.48 Diese Argumentation war nicht vollkommen abwegig, denn es gab sozial schwache Gruppen von Selbständigen (z. B. Kleinbauern, Kleinhandwerker, Kleinhändler), deren Besitz nicht mehr zur Erzielung von angemessenem Einkommen genügte. Dennoch erreichte die wirtschaftliche und soziale Lage des Handwerks nie das gleiche Ausmaß an Unsicherheit wie die Situation der Arbeiter am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Der Besitz und die Verwertung von Vermögen, die Möglichkeit der Weiterführung des Betriebes durch Familienangehörige in Zeiten des eigenen Arbeitskraftausfalls und die größere Chance, auch bei Minderung der Arbeitsfähigkeit und im Alter erwerbsfähig zu bleiben, verschafften dem Selbständigen insgesamt eine bessere Position gegenüber den Lebensrisiken als dem abhängig Beschäftigten. Jenseits der offiziellen Begründung spielte für die Ausdehnung der Versicherungspflicht auf die Handwerker im Jahre 1938 daher auch die Erschließung neuer Zwangsspargelder zum Zwecke der Rüstungsfinanzierung eine wichtige Rolle.49 Darüber hinaus stand die Einführung der Handwerkerversicherung im Zusammenhang mit den Planungen zur Schaffung eines »Versorgungswerkes des deutschen Volkes«, die von den Nationalsozialisten, darunter insbesondere von Robert Ley und der Deutschen Arbeitsfront (DAF), vorangetrieben wurden.50 Im Streit um die Kompetenzansprüche im Bereich der sozialen Sicherung diente das Handwerkerversicherungsgesetz den Ministerialbeamten im Reichsarbeitsministerium dagegen als Mittel, um die Staatsbürgerversorgungspläne der DAF abzuwehren.51 Trotz einer Vielzahl von wirtschaftlichen und politischen Krisen, trotz Weltkrieg und Inflation gelang es der sozialen Rentenversicherung, ihr Institutionengefüge in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts im Großen und Ganzen aufrecht zu erhalten. Das galt auch für die Zeit des Nationalsozialismus. Zwar brach die NS-Diktatur mit einzelnen Elementen der institutionellen Entwicklung, und Teile des Herrschaftsapparates strebten die Überwindung der Sozial­ versicherungsprinzipien an.52 Letztlich blieben jedoch die alltägliche Realität 48 Vgl. Die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk, in: Amtliche Nachrichten für Reichsversicherung (1939), S. 23–32, hier: S. 23 f. 49 Zur Anlagepolitik im Dritten Reich vgl. Teppe, S. 236 f. 50 Unterlagen zu den Reformplänen Leys, dem Leiter der DAF, insbesondere auch zu seiner Denkschrift »Der deutsche Volksschutz« v. März 1939, in: BA, R 41/647. Vgl. auch die Edition der DAF-Planungen: Sozialstrategien der Deutschen Arbeitsfront, hg. v. der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. Vgl. dazu auch Teppe, S. 237–248; Ritter, Der Sozialstaat, S. 137 ff. 51 Vgl. Baldwin, S.  268 f.; Teppe, S.  257 ff.; Prinz, Vom neuen Mittelstand, S.  295, der darauf hinweist, dass insbesondere die Wahlfreiheit, die im HVG vorgesehen war, dem DAFProjekt eines Altersversorgungswerkes zuwiderlief, weil hierdurch neue Anwartschaften außerhalb des staatlichen Sicherungssystems entstanden. 52 Zu erwähnen sind hier insbesondere die Übertragung des Führerprinzips auf die Selbstverwaltungseinheiten der Sozialversicherung durch das Aufbaugesetz 1934 sowie die – letztlich gescheiterten – Pläne Leys zum Aufbau eines »Versorgungswerkes« unter Einbezug der gesamten deutschen Bevölkerung.

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der Rentenversicherung und ihre Institutionsstruktur davon weitgehend unberührt. Die Rentenzahlungen stellten gegenüber den Zäsuren der politischen Systeme und der Krisen von Wirtschaft und Währung eine verlässliche Konstante für die Versicherten dar.53 Die Höhe der Rentenleistungen hingegen blieb gemessen an den Lebenshaltungskosten während der gesamten ersten Jahrhunderthälfte äußerst gering. Daran änderten auch die verspäteten Maßnahmen zur Rentenaufbesserung der Nationalsozialisten nichts.54 1.3 Bedeutungsgewinn und Funktionswandel nach dem Zweiten Weltkrieg Auch nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und während der Besatzungszeit blieb die deutsche Rentenversicherung funktionsfähig. Sie beschritt jedoch aufgrund der Teilung in Ost und West unterschiedliche Entwicklungspfade. In der sowjetischen Besatzungszone wurde die Sozialversicherung 1946/47 grundlegend umgebaut, und die Versicherungszweige wurden unter einem Dach zusammengefasst. Das Sytem der Leistungsgewährung wurde vereinheitlicht. Langfristig blieb das Rentenniveau in der DDR hinter dem in der Bundesrepublik zurück.55 In den Westzonen wurden nach einer kurzen Phase der Unterbrechung sowohl die laufenden Rentenzahlungen als auch die Neufeststellung von Renten nach dem bestehenden Recht wieder aufgenommen.56 Durch die Folgen des Kriegs stieg die Zahl der Leistungsfälle – insbesondere in der Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung – deutlich an.57 1950 belief sich der Bestand der laufenden Renten in der Arbeiterversicherung auf 3,04 Millionen, in der Angestelltenversicherung auf 0,86 Millionen.58 Demgegenüber hatte der Rentenbestand im gesamten Deutschen Reich 1940 in der Rentenversicherung der Arbeiter »nur« insgesamt 3,97 Millionen betragen.59 Bis 1955 erhöhten sich die Zahlen weiter auf 4,51 (Arbeiterversicherung) bzw. 1,48 Millionen (Angestelltenversicherung). Durch den kriegsbedingten demographischen Einbruch in der männlichen Bevölkerung in der Altersgruppe der 25- bis 40-Jährigen nahm 53 Vgl. dazu näher Conrad, Alterssicherung, S. 104 ff. 54 Vgl. dagegen Aly, S. 71 f. Zur NS-Sozialpolitik vgl. auch Metzler, S. 112 ff. 55 Zur Entwicklung der Alterssicherung in der SBZ/DDR vgl. Hoffmann; Conrad, Alters­ sicherung. 56 Soweit Renten vor der Unterbrechung festgestellt waren, wurde die berechnete Rente weitergezahlt, neue Renten wurden grundsätzlich wieder nach den Rechtsvorschriften der einzelnen Zweige festgesetzt. Auf Anordnung der Alliierten wurden die Sozialrenten bei Währungsreform vor einer Abwertung bewahrt und im Verhältnis 1:1 umgestellt. 57 Vgl. Rocktäschel. 58 Vgl. Frerich u. Frey, Handbuch, Bd. 3, S. 46 (Tab. 8). 59 Einschließlich Sudetenland und Österreich, vgl. Frerich u. Frey, Handbuch, Bd.  1, S.  299 (Tab. 58).

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der prozentuale Anteil der alten Menschen an der Gesamtbevölkerung zu.60 Berechnungen zur demographischen Entwicklung der folgenden Jahre und Jahrzehnte sagten eine weiter steigende Rentnerquote voraus.61 Der Anstieg des Rentenbestands und damit der Leistungsfälle in den Rentenversicherungen der Arbeiter und Angestellten alarmierte die westdeutsche Politik und Öffentlichkeit. Anfang der fünfziger Jahre brach eine große öffentliche, zum Teil polemisch geführte Debatte über die »richtige« Verteilung sozialer Leistungen und die soziale Lage von Renten- und Sozialleistungsempfängern aus.62 Sie veranlasste den Bundesminister des Innern, 1953 die Durchführung einer Enquête über die »sozialen Verhältnisse der Renten- und Unterstützungsempfänger« anzuordnen.63 Sie sollte Aufschluss darüber geben, wie groß die Anzahl der Sozialleistungsempfänger tatsächlich war und wie viele Personen von ihren Rentenzahlungen lebten bzw. leben mussten. Hierüber gaben die verfügbaren Sozialstatistiken bisher keine Auskunft. Die Enquête bestätigte erstens die herausragende Bedeutung der Rentenversicherung unter den gesamten Sozialeinrichtungen. Zweitens lieferte sie genauere Informationen über die durchschnittliche Höhe der Rentenleistungen, ihre Streuung sowie die Haushalts­ situation von Rentnern. Nach den Ergebnissen der Sozialenquête, welche die Einkommensübertragungen der wichtigsten Sozialeinrichtungen umfasste,64 gab es insgesamt 13,84  Millionen laufende Renten und Unterstützungen. Knapp die Hälfte (47,2  Prozent) aller Fälle entfiel dabei auf die Rentenversicherung,65 die insofern den Kern des Sozialleistungsgefüges bildete. Wegen der Möglichkeit, mehrere Renten in einer Hand zu vereinen, war die Zahl der Leistungsempfänger geringer als die Zahl der Leistungsfälle. Erstere lag am 1. September 1953, dem Stichtag, bei insgesamt 10,31 Millionen – das waren rund 20 Prozent der Bevöl60 Vgl. Wengst, S. 49 f. 61 Der Rentenfallquotient, d. h. die Anzahl der Versicherten- und Witwenrenten in der Arbeiter- und Angestelltenversicherung je 100 Beitragszahler, lag 1957 bereits bei 34,7 Prozent. Vgl. Frerich u. Frey, Handbuch, Bd. 3, S. 44 (Tab. 6). Vgl. auch Galland. 62 Vgl. Art.: Dürfen wir 750 Mill. DM »blind« verteilen?, in: Die Zeit, 14.1.1954; Die RentenNeurose, in: Die Zeit, 6.5.1954; Vom Hazard-Charakter der Renten, in: Industriekurier, 19.1.1954. Die Artikel sind gesammelt in: BA, B 136/1386. Vgl. auch Kröplin; Hempel. 63 Verordnung über die Durchführung einer einwandfreien Statistik über die sozialen Verhältnisse der Renten- und Unterstützungsempfänger v. 12.8.1953, Bundesanzeiger Nr. 156 v. 12.8.1953. – Zu den Enquête-Ergebnissen vgl. Statistisches Bundesamt, Die sozialen Verhältnisse der Renten- und Unterstützungsempfänger, Heft 1: Die Sozialleistungen nach Leistungsfällen und Empfängern im September 1953; Heft 2: Die sozialen Verhältnisse der Haushaltungen mit Sozialleistungsempfängern im Frühjahr 1955. Vgl. dazu auch ausführlich Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 201 ff. 64 Die Enquête umfasste die Einkommensübertragung der Rentenversicherung, Unfallversicherung, Arbeitslosenversicherung, Arbeitslosenfürsorge, Kriegsopferversorgung, des Lastenausgleichs und der öffentlichen Fürsorge (nicht erfasst: z. B. Krankengeld, Wiedergutmachungsrenten, Beamtenpensionen). 65 Arbeiter-, Angestellten- plus Knappschaftsversicherung.

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kerung.66 Etwa zwei Fünftel aller Sozialleistungsempfänger hatten das 60. Lebensjahr überschritten. Rund 43 Prozent waren zwischen 18 und 60 Jahren alt und somit im vollerwerbsfähigen Alter. In der Arbeiterversicherung gehörten im Ganzen 62,8 Prozent, in der Angestelltenversicherung 63,5 Prozent der Leistungsempfänger zu den Altersrentnern mit 65 und mehr Jahren.67 Wie das durch die Enquête erhobene Material weiter erkennen ließ, waren die Renten nach dem Zweiten Weltkrieg oftmals die einzige bzw. hauptsäch­ liche Existenzgrundlage der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer. Wenn die Bismarcksche Idee der »Zuschuss-Rente« schon im Verlauf der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts aufgrund der strukturellen und sozialen Veränderungen immer utopischer geworden war,68 galt das erst recht für die Nachkriegszeit. Es zeigte sich, dass das in der ersten Jahrhunderthälfte praktizierte »income packaging«69  – d. h. die Ergänzung der gesetzlichen Rente durch andere Einkommensquellen wie z. B. Erwerbsarbeit, Untervermietung, Zuschüsse von anderen Haushaltsmitgliedern oder Unterstützung von Verwandten70 – nach dem Zweiten Weltkrieg immer weniger auf die Lebensrealität zugeschnitten war. Krieg, Flucht und Vertreibung hatten viele Familien zerstört oder auseinander gerissen. Sowohl die Zahl der alleinstehenden Rentner und alleinlebenden Rentnerehepaare als auch die der zurückgebliebenen verwitweten oder verwaisten Familienangehörigen war bedeutend gestiegen. Es gab häufig keinen familiären Zusammenhalt mehr; gegenseitige finanzielle Unter­ stützungsleistungen entfielen. Auch die Möglichkeiten zum Nebenerwerb im Alter waren eingeschränkt. Denn zum einen hielt die Entwicklung der modernen Arbeitswelt immer weniger Beschäftigungsmöglichkeiten für ältere Menschen bereit; zum anderen erlaubten der Gesundheitszustand und die schlechte körperliche Verfassung vieler älterer Arbeitnehmer nach dem Krieg kaum noch eine Fortsetzung der Erwerbstätigkeit über das Rentenalter hinaus.71 Er­ schwerend trat das Problem der Anfang der fünfziger Jahre herrschenden allgemeinen Arbeitslosigkeit hinzu.72 Die Rente erfuhr damit einen wichtigen Funk­ tionswandel: Sie konnte nicht mehr als Ergänzung zum Lebensunterhalt oder

66 Alle Sozialeinrichtungen. Bezog man die durch Familienzuschläge indirekt unterstützten Personen mit ein, so erhöhte sich die Empfängerzahl auf 13,1 Millionen oder 25,5 Prozent der Bevölkerung. Vgl. Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 202 f. 67 Vgl. Oel, S. 68; Scharlau, S. 77 f. 68 Vgl. Hockerts, Sicherung im Alter, S. 306. 69 Conrad, Alterssicherung, S. 113. 70 Vgl. Conrad, Vom Greis, S. 319 (Tab. 17: Die Erwerbsbeteiligung von Männern und Frauen in den höheren Altersgruppen, Deutsches Reich 1882–1939). 71 Vgl. Bundesministerium für Arbeit, Leitsätze für den Entwurf über die Beschäftigung Schwerbeschädigter v. 3.5.1950 (BA, B 149/914) (= Geschichte der Sozialpolitik, Dok. 3/21). 72 Vgl. dazu Art.: Die deutschen Notstandsgebiete. Schwerpunkte der Arbeitslosigkeit. Regionale Sanierungspolitik notwendig, in: Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung, 19.11.1949 (= Geschichte der Sozialpolitik, Dok. 3/12).

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als »Überlebenshilfe« verstanden werden, sondern musste das Aus­kommen des Versicherten im Alter oder im Falle von Invalidität ganz sichern. Spätestens seit Mitte der fünfziger Jahre führten außerdem die Veränderungen in der Erwerbsbeteiligung und -struktur einen Bedeutungswandel der Rentenversicherung und einen Zuwachs ihrer Mitglieder herbei. Zwischen 1950 und 1957 stieg die Zahl der Erwerbstätigen um 19,5 Prozent an. Bei einem Rückgang der selbständig Erwerbstätigen und mithelfenden Familienangehörigen von knapp zwei bzw. drei Prozent und einer Abnahme der in der Landwirtschaft Beschäftigten von über sechs Prozent war dies vor allem eine Zunahme zugunsten der abhängig beschäftigten Arbeitnehmer.73 Dieser Anstieg der Arbeitnehmerquote zog eine Zunahme der Zahl pflichtversicherter Arbeiter und Angestellter in der sozialen Rentenversicherung nach sich, wodurch sich wiederum auch das politische Gewicht der an öffentlichen Sozialleistungen Interessierten erhöhte. Parallel dazu trat in den fünfziger Jahren eine Veränderung in der Zusammensetzung der Arbeiterschaft ein. Neue Anforderungsprofile in den schnell wachsenden Sparten der Automobil- und Chemischen Industrie ließen die Zahl der Angelernten und Höherqualifizierten steigen. Ihrem Verdienst nach gehörte zumindest die Gruppe der höherqualifizierten »Facharbeiter« kaum mehr einer Schicht der Unterprivilegierten und Hilfsbedürftigen an, sondern wurde Teil eines neu entstehenden Mittelschicht-Milieus.74 Gleiches galt für die Angestellten, deren Einkommensklassen sich mehr und mehr ausdifferenzierten. Die Angestellten hatten schon in der Weimarer Zeit das Bewusstsein ausgebildet, Angehörige einer neuen mittleren Schicht zwischen Arbeiter- und bürgerlicher Mittelklasse (»neuer« Mittelstand) zu sein; in den fünfziger Jahren waren die Anzeichen für solche sozialstrukturellen Veränderungen kaum mehr zu übersehen. Für die Sozialver­sicherungspolitik wendete sich das Blatt in doppelter Weise: Anteilig waren immer mehr Erwerbstätige in der Sozialversicherung rentenversichert, zugleich gehörten diese nicht mehr vorrangig den unteren, sozial und ökonomisch benachteiligten Klassen der Gesellschaft an. In diesem Zusammenhang muss noch auf das Schicksal der Handwerkerversicherung hingewiesen werden: Das Handwerkerversicherungsgesetz von 1938 wurde nach dem Zusammenbruch des Krieges nie außer Kraft gesetzt; es blieb jedoch praktisch wirkungslos. Denn erstens wurden die Lebensversicherungen im Zuge der Währungsreform abgewertet, womit die meisten Lebensversicherungssummen nicht mehr den erforderlichen Mindestbetrag zur Freistellung von der Angestelltenversicherung erreichten. Zum Zweiten weigerten sich viele Handwerker nach der Erhöhung der Rentenbeiträge durch das 73 Während der Anteil der Arbeiter an den Erwerbstätigen von 51,0 auf 51,4  Prozent stieg, wuchs vor allem die Zahl der Angestellten und Beamten stark an, und zwar um knapp 5 Prozent von 20,6 auf 25,1 Prozent. Vgl. Sozialbericht 1958 (BT-Drs. Nr. 568), S. 6 f.; Schulz, Rahmenbedingungen, S. 47; Abelshauser, Fünfziger Jahre, S. 88 (Tab. 19). Zum Rückgang des Selbständigensektors vgl. auch Winkler, Stabilisierung. 74 Vgl. dazu Mooser, Abschied, S. 150 ff., 161.

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Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz, ihre Beitragspflicht zu erfüllen.75 Bis zur Neuregelung der Handwerkerversicherung im Handwerkerversicherungsgesetz von 1960 wurde die Versicherungspflicht daher großzügig gehandhabt (Beitragsamnestie);76 die Gruppe der Handwerker und kleinen Selbständigen blieb in der politischen Auseinandersetzung um die Neuregelung und Ausweitung der sozialen Rentenversicherung aber präsent.77

2. Herausforderungen der Rentenpolitik am Beginn der Ära Adenauer Mit Beginn der fünfziger Jahre verbesserte sich der Lebensstandard der erwerbstätigen Bevölkerung – vor allem bedingt durch steigende Löhne und Gehälter  – in der Bundesrepublik langsam, aber stetig. Das Arbeitnehmer-Real­ einkommen nahm zwischen 1949 und 1954 insgesamt um 41,9 Prozent zu. Das Volkseinkommen je Kopf der Bevölkerung stieg im gleichen Zeitraum sogar um knapp 64 Prozent. Dabei erlebten gerade die unteren Lohn- und Gehaltsklassen (Industriearbeiter, Landarbeiter, Angestellte im öffentlichen Dienst) einen spürbaren Anstieg ihres Einkommens.78 Ganz anders sah es dagegen bei den Empfängern von Renten und Unterstützungsleistungen aus der sozialen Renten­ versicherung aus. Ihre soziale Lage verbesserte sich, wie die folgenden Analysen zeigen, trotz mehrmaliger Anhebung der Rentenleistungen kaum. 2.1 »Zum Leben zu wenig…«:79 Rentenleistungen und Einkommen der Rentnerhaushalte In den ersten beiden Legislaturperioden der Regierung Adenauer wurden bis 1955 insgesamt fünf, mit den Sonderzulagengesetzen im Vorfeld der Renten­ reform sogar sieben Gesetze erlassen, die auf unterschiedliche Weise eine Auf75 Vgl. Scheybani, S. 470. 76 Vgl. Gesetz zur vorläufigen Änderung des Gesetzes über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk v. 27.8.1956 (BGBl. I, S. 755). Dazu ausführlich auch S. 153 ff. 77 Vgl. Regierungserklärung Adenauers 1957 (Sten. Ber., Bd.  39, S.  19); Kabinettsvorlage »Grundgedanken zur Gesamtreform der sozialen Leistungen« des Bundesministers für Arbeit v. 7.4.1955 (abgedruckt bei: Richter, Sozialreform, B III 1). 78 Vgl. Preller, Praxis, Bd. 1, S. 26 f.; Lepsius, Sozialstruktur, S. 272 f. Vgl. auch Rugo, Die Lohnund Einkommensentwicklung der unselbständig Beschäftigten in der Bundesrepublik seit der Währungsreform, in: BABl. 7 (1956), S.  651–656. Danach erhöhten sich die Realverdienste der Arbeiter und Angestellten in der Industrie 1948 und 1956 sogar um 69 bzw. 66 Prozent. 79 Vgl. Leistungen in der Rentenversicherung  – Zum Leben zu wenig…, in: WuW 2 (1951), Nr. 6, S. 4.

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besserung der Renten, insbesondere der laufenden Renten, vorsahen.80 Schon das Sozialversicherungs-Anpassung­sgesetz (SVAG) hatte mit Wirkung zum 1. Juni 1949 die Versichertenrenten global um 15 DM, die Witwenrenten um 12 DM und die Waisenrenten um 6 DM im Monat erhöht. Damit lag der beitragsunabhängige monatliche Grundbetrag der Versichertenrenten in der Arbeiterversicherung bei 28 DM (vormals 13 DM), in der Angestelltenversicherung bei 52 DM (vormals 37 DM). Die beitragsäquivalenten Steigerungsbeträge wurden bei 1,2 Prozent bzw. 0,7 Prozent des jeweiligen Entgelts belassen.81 Weiter legt das Gesetz Mindestsätze für die verschiedenen Rentenarten fest: Alle Versichertenrenten sollten danach mindestens 50  DM, alle Witwenrenten mindestens 40 DM und alle Waisenrenten mindestens 30 DM im Monat betragen. Darüber hinaus wurden in der Arbeiterversicherung in Angleichung an das Recht in der An­gestelltenversicherung bedeutende Erleichterungen insbesondere für die Gewährung von Invaliden- und Witwenrenten beschlossen. Das SVAG wirkte sich am stärksten für Bezieher von Niedrigrenten aus und das vor allem in der Arbeiterversicherung, da in der Angestelltenversicherung der Mindestbetrag in den allermeisten Fällen erreicht wurde.82 Dem SVAG folgte, mit Wirkung zum 1. Juli 1951, das sog. »Rentenzulagengesetz«, das die Renten, ausgehend vom Rentenzahlbetrag, um durchschnittlich 25 Prozent erhöhte.83 Damit wurden nicht nur die festen Bestandteile der Renten einschließlich der Zuschläge nach dem SVAG weiter angehoben, sondern auch die von der Höhe und Anzahl der geleisteten Beiträge abhängigen Steigerungsbeträge. Jedoch bestimmte das Gesetz, die »Auffüllungsbeträge«, d. h. die Rentenaufstockung auf die Mindestbeträge nach dem SVAG, auf die Rentenzulagen anzurechnen, wenn auch mit der Maßgabe, die Renten absolut nicht zu reduzieren. Der Vorteil, der den Kleinrentnern aus dem SVAG erwachsen war, wurde damit praktisch wieder zunichte gemacht. Ergänzend zum Rentenzulagengesetz trat im selben Jahr das »Teuerungszulagengesetz« in Kraft, das den Sozialrentnern Teuerungszulagen zur Abgeltung von Preiserhöhungen bei Grundnahrungsmitteln von monatlich 3 DM pro Person gewährte.84 80 Vgl. zum Folgenden auch Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd. 3, S. 361 ff.; Orda, Im Vorfeld, hier insb. S. 101. 81 Diese Steigerungsbeträge galten schon seit 1942. Auch davor waren die Steigerungsbeträge in der Angestelltenversicherung stets geringer gewesen als in der Invalidenversicherung: Sie betrugen zwischen 1934 und 1942 in der Invalidenversicherung 21 bis 22 Prozent vom Beitrag, in der Angestelltenversicherung dagegen nur 12,5 Prozent. Seit 1924 hatte sich die Angestelltenversicherung im Prinzip an die Methoden der Invalidenversicherung angelehnt, da die Berechnungsgrundlagen, das Beitragswesen und die Buchungsmethoden in der Angestelltenversicherung von 1913 bis 1922 zu umständlich und teuer waren. Vgl. Killat, Die Rentenversicherung. 82 Zur Entstehung und Wirkung der SVAG vgl. ausführlich Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 85 ff. 83 Rentenzulagengesetz v. 10.8.1951 (BGBl. I, S. 505). 84 Gesetz über die einstweilige Gewährung von Teuerungszulagen zur Abgeltung von Preiserhöhungen bei Grundnahrungsmitteln v. 10.8.1951 (BGBl. I, S. 507). Vgl. auch Gesetz zur Aufhebung des Teuerungszulagengesetzes v. 16.2.1956 (BGBl. I, S. 69).

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Das »Grundbetrags-Erhöhungsgesetz« erhöhte mit Wirkung vom 1. Dezember 1952 wiederum die beitragsunabhängigen Rentenbestandteile um einen einheitlichen absoluten Betrag: Anhebung der Versichertenrenten um 5 DM, der Witwenrenten um 4 DM und der Waisenrenten um 2 DM monatlich.85 Schließlich brachte das »Renten-Mehr­betrags-Gesetz«, das zum 1. Dezember 1955 in Kraft trat, weitere Rentenerhöhungen.86 Jedoch wurden dieses Mal weder pauschal die festen Rentenbeträgen noch wurde prozentual der gesamte Renten­ betrag aufgestockt: Die sog. »Mehrbeträge« standen in unmittelbarer Relation zu Höhe und Anzahl der geleisteten Beiträge und waren zudem danach abgestuft, ob sie vor oder nach dem 31. Dezember 1923 bzw. dem 31. Dezember 1938 entrichtet worden waren. Damit nahm das Gesetz in noch unausgereifter Form Elemente der »dynamischen Rente« vorweg.87 Doch trotz aller dieser Anstrengungen zur Anhebung der Renten verbesserte sich die soziale Lage der Rentner kaum. Die durchschnittliche Versichertenrente betrug 1950 nach erfolgter Erhöhung durch das SVAG in der Arbeiterversicherung 60,50 DM, in der Angestelltenversicherung 92,90 DM monatlich. Aufgrund der weiteren Gesetzesmaßnahmen zur Rentenerhöhung stieg die Durchschnittsrente bis 1955 auf monatlich 89,70  DM (Arbeiterversicherung) bzw. 137,30  DM (Angestelltenversicherung). Damit erreichten die Rentner jedoch auch 1955 in der Arbeiterversicherung nur 26,7 Prozent, in der Angestelltenversicherung 38,1  Prozent der durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelte.88 Wie unbefriedigend die Höhe der Renten insgesamt war, zeigt der Vergleich mit den Fürsorgeleistungen. So lag 1956 der Richtsatz der öffentlichen Fürsorge (ohne Mietbeihilfen und Alterszuschläge) in einer Stadt wie Bremen oder Hamburg für den Haushaltsvorstand bei 62 DM, für Haushaltsangehörige über 14 Jahre bei 50 DM pro Monat.89 Ein Ehepaar kam damit auf einen Betrag von 112 DM. Hält man die durchschnittlichen Rentenbeträge von 60,50 DM (1950) bzw. 89,70 DM (1955) in der Arbeiterversicherung dagegen, wird der Ernst der Lage der Rentnerhaushalte deutlich. Noch dramatischer war die Entwicklung 85 Grundbetrags-Erhöhungsgesetz v. 17.4.1953 (BGBl. I, S. 125). 86 Renten-Mehrbetrags-Gesetz v. 25.11.1954 (BGBl. I, S. 345). 87 Zum Ansatz und zur Begründung vgl. Jantz, Renten-Mehrbetrags-Gesetz; Orda, Grund­ gedanken. Als weitere Überbrückungsmaßnahmen bis zur Rentenreform dienten die beiden Sonderzulagengesetze v. 15.11.1955 (BGBl. I, S. 733) bzw. 16.11.1956 (BGBl. I, S. 854). Diese sahen die (mehrfache) Auszahlung einer Sonderzulage in Höhe des Sechsfachen des in der Rente enthaltenen Mehrbetrags vor. Vgl. dazu auch Orda, Sonderzulagengesetz. 88 Zu den Zahlen vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Stat. Taschenbuch, Tab. 1.14, 8.4, 8.7; Conrad, Entstehung des modernen Ruhestandes, S. 438 (Tab. 2). Vgl. auch Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd. 3, S. 366; Frerich u. Frey, Handbuch, Bd. 3, S. 47 (Tab. 9); Hensen, Geschichte, S. 138. Eigene Berechnungen. 89 Für Alleinstehende ohne wirtschaftlichen Anschluss an eine Haushaltsgemeinschaft betrug der Fürsorgerichtsatz 68 DM. Vgl. Fürsorgerichtsätze im Bundesgebiet, Stand vom 1.4.1956, in: BABl. 7 (1956), S. 311; Verwaltungsvorschriften über den Aufbau der Fürsorgerichtsätze und ihr Verhältnis zum Arbeitseinkommen, in: BABl. 7 (1956), S. 296 f. Vgl. auch Frerich u. Frey, Handbuch, Bd. 3, S. 125 (Tab. 28); Münke, Armut, 36 f.

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bei den Arbeiterwitwen, die eine Rente von durchschnittlich 36,20 DM (1950) bzw. 57,50 DM (1955) monatlich erhielten.90 Die »Ruheständler« in der Angestelltenversicherung waren allgemein etwas besser gestellt, was – wie erörtert – vor allem an den unterschiedlichen Rentenberechnungsmodalitäten lag.91 Allerdings stellen die hier aufgeführten Durchschnittsangaben, die lediglich auf den Zahlbeträgen aus der gesetzlichen Rentenversicherung beruhen, keine ausreichende Basis zur Beurteilung der sozialen Lage der Rentner dar. Sie lassen die Kumulation mit anderen Renten oder Einkünften des Rentners oder auch anderer Haushaltsmitglieder unberücksichtigt. Vor allem aber verdecken sie die zum Teil erhebliche Streuung der Renten. Die erwähnte Enquête über die »so­ zialen Verhältnisse der Renten- und Unterstützungsempfänger«92 lieferte Mitte der fünfziger Jahre erstmals das notwendige Material, um Aussagen über die Rentenstreuung treffen zu können. Dabei zeigte sich, dass etwa drei Viertel aller Arbeiter- sowie ein Drittel aller Angestelltenrenten lediglich eine Höhe von 50 bis 100 DM monatlich erreichten. Nur ein Fünftel aller Renten lag in der Arbeiterversicherung oberhalb dieser Grenze. In der Angestelltenversicherung dagegen gehörte die Hälfte der Renten zu der Klasse von 100 bis 150 DM; wiederum ein Fünftel wies einen höheren Betrag auf.93 Damit häuften sich besonders die Arbeiterrenten unterhalb des genannten Fürsorgerichtsatzes. Ursache für die Streuung der Renten waren Unterschiede in der Rentenhöhe zwischen Männern und Frauen,94 zwischen Vollrenten und abgeleiteten Renten95 sowie zwischen Alters- und Invaliden- bzw. Berufsunfähigkeitsrenten. Eine deutliche Differenzierung der Renten ergab sich zudem nach dem Jahr des Rentenzugangs bzw. der Zeiträume, in denen Arbeitsentgelt bezogen und Beiträge entrichtet worden waren, da die Rentenberechnung auf den jeweiligen Nominalbeträgen der Arbeitsentgelte beruhte. So lag beispielsweise der Durchschnittswert der 1953 neu zugegangenen Renten erheblich über dem Durchschnittswert der 1953 laufenden Renten.96 Auch diese Angaben geben insgesamt noch nicht Aufschluss darüber, wie viele Em­pfänger tatsächlich von diesen niedrigen Rentenbeträgen leben muss90 Vgl. Frerich u. Frey, Handbuch, Bd. 3, S. 47 (Tab. 9); Tietz, Entwicklung, S. 1087. 91 Vgl. S. 47, 56. Vor allem bei kleinen Einkommen und kurzer Versicherungsdauer waren die Renten in der Angestelltenversicherung höher als in der Arbeiterversicherung. 92 Vgl. S. 52, Anm.  63. 93 Vgl. Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S.  207; Scharlau, S.  80–82; Oel, S.  70 (Tab. 4). Vgl. auch: Die wahre Lage der Rentner, in: Die Quelle 6 (1955), S. 74–75, 80–81. 94 So beliefen sich z. B. am 1.3.1953 die jeweils im Rentenbestand befindlichen Versichertenrenten in der Arbeiterversicherung auf monatlich durchschnittlich 90,80 DM für Männer und lediglich 62,90 DM für Frauen. In der Angestelltenversicherung lagen sie bei 130,60 DM pro Monat für Männer und 99,70 DM für Frauen. Vgl. Tietz, Entwicklung, S. 1086. 95 Die Witwenrente betrug in der Arbeiterversicherung durchschnittlich 49,00 DM, in der Angestelltenversicherung 62,90 DM pro Monat. Die Waisenrente lag in der Arbeiterrentenversicherung bei 31,70 DM monatlich, in der Angestelltenversicherung bei 37,40 DM. Vgl. ebd. 96 Monatlich 128,50 DM vs. 103,40 DM in der Arbeiterversicherung; 167,70 DM vs. 133,50 DM in der Angestelltenversicherung. Vgl. ebd.

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ten, da, wie sich bei der Enquête herausstellte, 40  Prozent der Arbeiter- und 22 Prozent der Angestelltenrenten an Empfänger gezahlt wurden, die zugleich noch eine weitere Sozialleistung oder – vereinzelt – mehrere erhielten, zumeist aus der Kriegsopferversorgung und dem Lastenausgleich, seltener aus der Fürsorge.97 Es trafen somit relativ häufig verschiedene Rentenarten in einer Hand zusammen. Um zu einem Urteil über die Lebenshaltung der Rentenempfänger zu gelangen, müssen daher die Kumulationseffekte berücksichtigt werden. Vergleicht man die Leistungen der »Einfachbezieher« mit denen der »Mehrfachbezieher«, zeigt sich, dass Einfachbezieher besonders an den überdurchschnittlichen Einzelleistungen beteiligt waren, während die unterdurchschnittlichen Einzelleistungen zumeist an Mehrfachbezieher gingen. Das war Folge der für Kumulationsfälle vorgesehenen Anrechnungs- und Kürzungsbestimmungen.98 Die Mehrfachbezieher erhielten jedoch auf dem Wege der Kumulation wiederum ebenfalls Bezüge, die höher waren als der Einzelleistungsdurchschnitt. Wie sich feststellen lässt, blieb aber selbst bei Rentenkumulation das Sozialeinkom­ men vergleichsweise niedrig. Bei den männlichen Sozialleistungsempfängern von 65 und mehr Jahren kamen die Mehrfachbezieher im Durchschnitt auf einen Betrag von 120,40  DM, bei den weiblichen waren es im Schnitt nur 109,90 DM monatlich.99 Mit dem besonders strittigen Problem der »Verflechtung der Sozialleistungen« befasste sich, parallel zur Enquête, auch eine Studie des Vereins für Social­ politik, die vom Kieler Professor für Soziologie Gerhard Mackenroth durchgeführt wurde. Mackenroth wies nach, dass die Rentenüberschneidungen nicht die Erklärung für einen steigenden Sozialaufwand seien. Er widersprach damit dem weitverbreiteten Urteil, durch die Auszahlung von Doppelrenten würden öffentliche Gelder verschwendet und »ungezielt verfeuert«; folglich lasse sich der Sozialaufwand durch die Beseitigung von Doppelrenten erheblich verringern. Die »Kieler Stichproben« bestätigten vielmehr, dass auch bei den meisten kombinierten Rentenbezügen kein Einkommen erreicht wurde, das über einem sozial gerechtfertigten objektiven Bedürftigkeitsstandard lag.100 So aufschlussreich diese Ergebnisse waren  – der entscheidende Faktor, um den Wirkungseffekt der sozialen Einkommensübertragungen messen zu kön 97 Die seltenere Kumulation mit Fürsorgeleistungen erklärt sich daraus, dass viele Rentenund Unterstützungsempfänger es noch immer scheuten, sich bei der Fürsorge als »hilfs­ bedürftig« zu offenbaren. So Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 207, 214. Vgl. auch Münke, Armut, S. 133. 98 Von 4,2 Mio. Renten in der Arbeiterversicherung wurden 341.000 (8 Prozent) wegen ihres Zusammentreffens mit anderen Leistungen aus der Rentenversicherung oder mit Unfallrenten nur gekürzt ausgezahlt. Das Ausmaß der Kürzungen lag bei durchschnittlich 23 Prozent des Bruttobetrags. In der Angestelltenversicherung waren Kürzungsfälle relativ selten. Nur 41.000 (3,1 Prozent) unterlagen den Kürzungsvorschriften (zumeist Witwenrenten). Vgl. Scharlau, S. 81. 99 Zahlen nach Hockerts, Soziapolitische Entscheidungen, S. 208. 100 Mackenroth, Verflechtung der Sozialleistungen.

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nen, ist die Haushaltssituation. Hier ergab sich aus den Ergebnissen der Enquête folgendes Bild:101 Die kritischen Gruppen, die ganz oder überwiegend von den Sozialleistungen leben mussten, waren Einpersonenhaushalte bzw. alleinlebende Ehepaare. Unter diesen wiederum stellten Haushalte, deren Sozial­ einkommen überwiegend aus der Rentenversicherung floss, eine besondere Problemgruppe dar. Rentnerinnen und Rentner bildeten die Masse der unterhalb der Armutsgrenze lebenden Haushalte. Insgesamt hatten – nach den Berechnung von Hans Günter Hockerts – von den 1,28 Millionen Einpersonenhaushalten, deren Sozialeinkommen vorwiegend aus der Rentenversicherung stammten, 711.000, also 55,5 Prozent, ein monatliches Gesamteinkommen unter 125 DM, und davon 341.000 (26,6 Prozent) sogar ein solches unter 100 DM. Von den 1,5 Millionen Mehrpersonenhaushalten, deren Haushaltsvorstand vorwiegend Einkommen aus der Rentenversicherung erhielt, hatten dagegen immerhin nur 250.000, also 16,7  Prozent, ein monatliches Gesamteinkommen unter 150  DM; weitere 320.000 (21,3  Prozent) ein solches unter 200  DM. Die Haushalte mit einem Gesamteinkommen zwischen 150 und 200 DM verdankten ihre günstige Lage allerdings schon zu einem nennenswerten Teil »sonstigem Einkommen« oder einer Rentenakkumulation.102 Die Ergebnisse der Enquête zeigten damit in aller Deutlichkeit, was die Betrachtung der Durchschnittsrentenbeträge bereits nahe gelegt hatte: Unter den Rentenempfängern herrschte eine große wirtschaftliche Unsicherheit; die meisten Rentner lebten am Rande des Existenzminimums. Die Situation von Arbeiter- und Angestelltenrentnern unterschied sich kaum, auch wenn die Renten in der Angestelltenversicherung durchschnittlich etwas höher lagen als in der Arbeiterversicherung. Die Not im Alter konnte letztlich nur verhindert werden, wenn Rentenempfänger in größeren Haushalten lebten oder noch »sonstige« Einkommen zur Verfügung hatten.103 Wenn Theodor Geiger Anfang der dreißiger Jahre die »Sozialrentner« ganz am unteren Ende der sozialen Leiter verortet hatte,104 war die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die fünfziger Jahre hinein nicht viel besser. Die Kaufkraft und das relative Niveau der Renten im Vergleich zu den unteren Lohngruppen unterschieden sich kaum von den öffentlichen Fürsorgeleistungen oder waren sogar niedriger.105 Besonders problematisch war das seit der Währungsreform von 1948 deutlich angestiegene Preisniveau, das weit über 1 01 Zweiter Teil der Erhebung vom Frühjahr 1955, vgl. S. 52, Anm. 63. 102 Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 210 f. Vgl. auch Fehrs, Die wirtschaftlichen Verhältnisse, S. 812 ff. Oel, S. 329 ff. 103 Weitere, unabhängig von der Enquête des Statistischen Bundesamtes durchgeführte Stichprobenerhebungen kamen zu ähnlichen alarmierenden Ergebnissen zur sozialen Lage und Einkommenssituation der Rentner. Vgl. Münke, Armut, 35 ff., 66 f.; Elsner u. Proske, S. 107 ff. 104 Geiger, Soziale Schichtung, S. 70: »Der Sozialrentner ist – auch wenn er qualifizierter Arbeiter oder Angestellter war – proletarisiert«. 105 Für die Zwischenkriegszeit vgl. Conrad, Vom Greis, S. 327.

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dem der vorinflationären Jahre lag.106 Zusätzlich zu diesem Kaufkraftschwund litten die Rentenempfänger unter der in den Anfängen der Bundesrepublik besonders hohen Umsatz- und Verbrauchsteuer, die gerade die Lebenshaltung von Sozialleistungsempfängern durch hohe Besteuerung lebensnotwendiger Konsumgüter beträchtlich verteuerte. Ein großer Teil der Rentner war, wie in der Zwischenkriegszeit, auf Zusatzleistungen entweder aus der Fürsorge oder aus anderen Sozialeinrichtungen (Kriegsopferversorgung) angewiesen. Das Alter bedeutete somit für die meisten der früheren Arbeitnehmer so­ ziale Deklassierung. Selbst diejenigen, denen es im Laufe ihres Erwerbslebens gelungen war, ihren Lebensstandard zu verbessern, mussten im Alter erneut einen sozialen Abstieg fürchten.107 Auch für die Selbständigen verschärfte sich in der Nachkriegszeit die Alterssicherungsproblematik. Die Zerstörung von Haus- und Gewerbeeigentum als traditionelle soziale Sicherungsform, die Abwertung finanzieller Rücklagen und des Lebensversicherungskapitals durch die Währungsreform108 und der ökonomische Strukturwandel drohten auch den Kleinhandwerker oder Kleinbauern im Alter ins soziale Abseits zu stellen. Materiell sowie aufgrund ihrer Lebensbedingungen waren die Sozialrentner – aber nicht nur diese, sondern alte Menschen allgemein – damit auch nach dem Zweiten Weltkrieg im Geigerschen Sinne »proletarisiert«. Die Rentner wurden daher auch als die »Stiefkinder des deutschen Wiederaufstiegs« bezeichnet.109 Bundeskanzler Adenauer bemerkte in seiner Regierungserklärung am 20. Oktober 1953 folgerichtig, dass am wirtschaftlichen Aufschwung »nicht alle Bevölkerungskreise gleichmäßig teilgenommen« hätten. Vielmehr seien es »in erster Linie die im Arbeitsprozess Tätigen« gewesen, die »aus den Erfolgen der sozialen Marktwirtschaft« sichtbaren Nutzen gezogen hätten.110 Das niedrige Rentenniveau sowie die allgemeine Auseinanderentwicklung von Renten- und Arbeitnehmereinkommen waren umso bedeutender, als sich in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre die Arbeiterlöhne auf der einen und die Gehälter von Angestellten, Beamten und Selbständigen auf der anderen Seite anzunähern begannen. Nach einer Untersuchung des Instituts für Demosko106 Setzt man 1938 = 100, so war der Lebenshaltungsindex Ende 1948 um 73 Punkte gestiegen, die Durchschnittsrente dagegen nur um 35 (Arbeiter) bzw. 14 Punkte (Angestellte). Tietz, Entwicklung, S. 1087. 107 Vgl. Killat, Tatsachen und Märchen, S. 2: »Solange der Angestellte arbeitet, ist er mit seinem laufenden Einkommen am Sozialprodukt beteiligt. Wenn er dagegen als Rentner ausscheidet, untersucht man seine Einkommensverhältnisse einer 30- bis 50-jährigen Vergangenheit und wirft ihn mit dieser ›Versichertenrente‹ um Jahrzehnte in der Lebensführung zurück. Ein sozialer Abstieg ohnegleichen ist die Folge«. 108 Das Lebensversicherungskapital wurde zunächst im Verhältnis 10:1 abgewertet. Mit dem Rentenaufbesserungsgesetz vom 11.6.1951 wurde das ursprüngliche Umstellungsverhältnis modifiziert: Bis zu 70 RM wurden die Privatrenten im Verhältnis 1:1, von 70 bis 100 RM mit 2:1 umgestellt; bei höheren Beträgen blieb es bei 10:1. Angaben nach Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd. 3, S. 373. 109 Wallich, S. 50. 110 Sten. Ber., Bd. 18, S. 13.

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pie Allensbach von 1953 lagen die Arbeiterhaushalte mit 333 DM monatlichem Nettoeinkommen nicht mehr erheblich unter dem Gesamtdurchschnitt aller Haushalte von 360 DM. Ihre Einkommensquote von 41 Prozent lag nur wenig niedriger als ihre Bevölkerungsquote von 44,5 Prozent.111 Wenn sich hierdurch bei den Arbeitnehmern bereits ein Trend zur Angleichung der Lebensverhältnisse beobachten ließ, bedeutete das zugleich eine wachsende soziale Kluft zwischen den Erwerbstätigen und den Rentnern. Der Zusammenhang von Alter und Armut bzw. von Rentnerdasein und sozialem Abstieg spiegelte sich auch im Bewusstsein der Bevölkerung wider. Wie eine Umfrage über Altersbild und Altersvorsorge der Arbeiter und Angestellten aus dem Jahr 1955 ergab, sah die Mehrheit der Befragten in der »materiellen Not« das vordringlichste Problem im Alter.112 Ein Drittel der befragten Angestellten und Arbeiter hatte daher schon von sich aus etwas unternommen, um zusätzlich zu der Mitgliedschaft in der Sozialversicherung für die wirtschaftliche Sicherung im Alter vorzusorgen.113 Eine solche private Vorsorge war bis Mitte der fünfziger Jahre für die meisten jedoch nur durch unmittelbaren Konsumverzicht erreichbar. »Das Los der Rentner«, fasste Arthur Killat114 1953 die Problematik der deutschen Rentenversicherung zusammen, »wird nicht nur von diesen selbst beklagt und als unerträglich empfunden, sondern erfüllt jeden Arbeiter und Angestellten, insbesondere wenn er älter wird, mit einer fast panischen Furcht vor dem Rentneralter und dem damit beginnenden Rentnerdasein«.115 2.2 Auf dem Weg zu einer Neuordnung des Rentenrechts Die meisten Arbeiter-, aber auch Angestelltenrenten konnten nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die fünfziger Jahre hinein als »Hungerrenten«116 bezeichnet werden. Ein wesentlicher Grund dafür lag in der ursprünglichen Konzep111 Vgl. Einkommensverhältnisse im Bundesgebiet. Ein Versuch der Erfassung durch das Institut für Demoskopie, in: Bulletin Nr. 128, 10.7.1953, S. 1085–1086. Vgl. auch Osterkamp, Gehaltsstruktur. Nach den dortigen statistischen Berechnungen stiegen die Arbeiter­ wochenverdienste von 1949 bis 1951 doppelt so schnell wie die unteren und mittleren An­ gestelltengehälter, wodurch sich der Abstand der Einkommensebenen zwischen beiden Arbeitnehmergruppen verkleinerte. 112 Vgl. Friedeburg u. Weltz, S. 21. Vgl. auch Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 213. 113 Friedeburg u. Weltz, S. 46 ff. 114 Arthur Killat (1912–1977) war einer der Protagonisten in der Rentenreformdebatte. Er war von 1949 bis 1955 Leiter des Angestelltensekretariats beim Bundesvorstand des DGB und von 1955 bis 1960 Stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherung. Von 1959 bis 1972 gehörte Killat als Mitglied der SPD-Fraktion dem Deutschen Bundestag an. 115 Vgl. Killat, Problematik, S. 90. 116 Killat, Einkommen und Renten.

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tion der Rentenversicherung und den der Rentenberechnung zugrunde gelegten Prinzipien. Die Rentenversicherung war von Bismarck lediglich als »Hilfe zur Selbsthilfe« gedacht gewesen. Versichert war die Arbeitsunfähigkeit im Alter oder im Falle von Invalidität (Arbeiter) bzw. Berufsunfähigkeit (Angestellte). Der »Versicherungsvertrag« verpflichtete den einzelnen Arbeiter oder Angestellten zu einer genau vorgegebenen Beitragsleistung und sicherte ihm im Versicherungsfall die nach einem festen Modus errechneten Rentenleistungen zu. Die Risikostruktur in der Rentenversicherung glich somit derjenigen in der Kranken- oder Unfallversicherung. Insgesamt trug die Rentenversicherung die Risiken immer nur nach Maßgabe der gezahlten Beiträge. Wenn Beiträge, z. B. aufgrund von Arbeitslosigkeit oder Kriegsdienst ausfielen oder durch Inflation entwertet wurden, was in der ersten Jahrhunderthälfte häufig der Fall war, entstanden für diese Zeit auch keinerlei Ansprüche. Weiter bestand die Gefahr, dass der Versicherte seine Anwartschaft verlor, wenn er nicht für jedes Kalenderjahr eine bestimmte Anzahl gültiger Wochenbeiträge leistete.117 Der Mangel des ungedeckten Risikos traf insbesondere diejenigen hart, die zwar der Versicherungspflicht unter Umständen seit dem frühesten Alter unterlagen, aber durch Frühinvalidität vorzeitig aus dem Erwerbsprozess ausscheiden mussten. Je weiter der Eintritt der Frühinvalidität zurücklag, umso geringer war das Niveau der Rentenleistung. Bis zum Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz gab es zudem keine Regelung, die einen Mindestbetrag für die zu zahlenden Renten vorsah. Das erklärt die sog. Klein- und Kleinstrenten, die häufig durch zusätzliche Fürsorgeleistungen aufgebessert werden mussten. Das Versicherungsprinzip orientierte sich in seiner Anlage am typischen Fall des männlichen Ernährers. Frauen waren aufgrund ihrer allgemein kürzeren und unregelmäßigeren Erwerbszeiten sowie geringerer Verdienste von Anfang an in der Rentenversicherung benachteiligt. Im Sinne einer Familienversicherung hatte man 1911 zwar in beiden Versicherungszweigen Hinterbliebenenrenten eingeführt. Diese waren jedoch nur unzureichend ausgestattet und zwangen Hinterbliebene auch bei fortgeschrittenem Alter zur Aufnahme einer Beschäftigung. Neben dem Versicherungsprinzip charakterisierte ein weiteres Prinzip das deutsche Rentenversicherungssystem: die Beitrags-Leistungs-Äquivalenz. Diese sicherte zu, dass sich Höhe der Beiträge und Höhe der Leistungen entsprachen. Das Problematische daran war jedoch, dass jeder nominell gleich hohe Beitrag zu nominell gleich hoher Gegenleistung in den Renten führte, unabhängig davon, ob der Beitrag in Mark, Gold-, Renten-, Reichsmark oder schließlich in DM entrichtet worden war. Die Grundlage jeder Rentenberechnung bildete also der Nominalbetrag der in der Vergangenheit geleisteten Beiträge, gleichgültig wie sich der innere Wert der Beitragseinheit verändert hatte. Die Rentenleistungen vollzogen damit den gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Wandel nicht 117 Vgl. §§ 1280 ff. RVO; § 30 AVG; Orda, Im Vorfeld, S. 97 f.

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mit, sondern wurden unter der (falschen) Prämisse einer stationären Wirtschaft errechnet. Sie standen zum Zeitpunkt der Rentenfestsetzung sowohl in Diskrepanz zur zwischenzeitlich eingetretenen Preisniveausteigerung als auch zum jeweiligen Erwerbseinkommen. Denn erstens ließ sich für den Gegenwert der gezahlten Einheit immer weniger kaufen, was zu Kaufkraftschwund und eingeschränkten Konsummöglichkeiten der Rentner führte. Zweitens änderte sich in den Jahrzehnten des Bestehens der Rentenversicherung die Bewertung der Arbeit. Der Wert für jede gearbeitete Stunde stieg, so dass sich für einen Stundenlohn im Laufe der Zeit immer mehr kaufen ließ. Der Gegenwert für die Beitragseinheit, der sich aus der Unterentlohnung nach der Beitrags-Leistungs-Äquivalenz ergab, war damit umso geringer, je früher diese vor der Rentenfestsetzung entrichtet worden war. Aus dem Konsumverzicht, den der Versicherte einst zur Aufbringung der Beiträge hatte leisten müssen, erwuchs im Nachhinein ein immer geringerer Konsumanspruch als Rentner. Diese Diskrepanz zwischen Renten und Erwerbseinkommen setzte sich auch nach Beginn des Rentenbezugs fort, denn der Rentenzahlbetrag blieb in der Regel während der gesamten Rentenbezugsphase konstant, sein Realwert aber sank durch die fortgesetzten Lohn- und Preissteigerungen. Damit hatten die Rentner an der Steigerung des Lebensstandards wiederum nicht teil.118 Obwohl die dem Prinzip der Beitrags-Leistungs-Äquivalenz innewohnende Problematik schon seit längerem bekannt war,119 setzte die eigentliche Diskussion hierüber erst zu Beginn der fünfziger Jahre ein. Bei den Nachkriegsrentnern trat die Unzulänglichkeit »statischer« Renten offen zutage und wirkte sich in Kombination mit den übrigen Problemfaktoren des Rentensystems besonders negativ auf die Rentenhöhe aus: So waren erstens für die nach dem Krieg bestehenden und neu zugegangenen Rentner durch Militärdienst, Inflation und Massenarbeitslosigkeit Anfang der dreißiger Jahre erhebliche Beitrags­ lücken entstanden.120 Da diese in der Regel nicht ausgeglichen wurden, führte das auto­matisch zu geminderten Rentenansprüchen. Zweitens basierte die Rentenberechnung auf insgesamt niedrigen Nominallöhnen aus der Vor- und Zwischenkriegszeit, was sich aufgrund der Beitrags-Leistungs-Äquivalenz ebenfalls spürbar auf die Rentenhöhe auswirkte. Drittens kam, zumindest für die Arbeiter, das Problem der Unterversicherung dazu. Die viel zu niedrige Bemessungsgrenze, bis zu der der Lohn beitragspflichtig war – bis zum Mai 1949 lag diese bei 300  DM monatlich, auch wenn der Arbeiter beispielsweise 500  DM 118 Zur Problematik der Beitrags-Leistungsäquivalenz insgesamt vgl. insb. Orda, Im Vorfeld, S. 96 ff.; Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd. 3, S. 385 ff. 119 So hieß es in einer Veröffentlichung des Arbeitswissenschaftlichen Instituts der DAF Anfang der 1940er Jahre im Zusammenhang mit der geplanten Staatsbürgerversorgung für die Zeit nach dem Krieg: Die Höhe der Staatsbürgerversorgung »steht in fester Beziehung zu dem Einkommen, das durch die Arbeit erworben wird. Die Versorgung soll es ermöglichen, die bisherige Lebenshaltung in angemessenem Umfang aufrecht zu erhalten«. Zit. nach: Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd. 3, S. 385. 120 Vgl. Tietz, Entwicklung, S. 1087.

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verdiente  –, verhinderte bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, dass für besserverdienende Arbeiter auch ein höheres Rentenresultat entstehen konnte.121 Viertens schließlich sorgten die erheblichen Preissteigerungen nach der Währungsreform sowie die Anhebung von Löhnen und Gehältern – wie vorstehend dargelegt – für einen Kaufkraftverlust neuer wie auch laufender Renten. Wenn man künftig verhindern wollte, dass die Rentenleistungen weiter hinter dem allgemeinen wirtschaftlichen Wachstum zurückblieben und die Rentner um ihren realen Versicherungsanteil in Form geleisteter Beiträge »betrogen« wurden, musste die Berechnung der Altersrenten auf neue Grundlagen gestellt werden. Das Nominallohnprinzip der Altersrenten erschien vor allem auch deshalb anachronistisch, da in der Kranken- und Arbeitslosenversicherung zu Beginn der fünfziger Jahre bereits das Realeinkommen berücksichtigt wurde, nämlich insoweit, als Krankengeld und Arbeitslosenunterstützung in einem bestimmten Verhältnis zum letzten versicherungspflichtigen Einkommen gewährt wurden. Die Berechnung der Leistungen in der Unfallversicherung unter Berücksichtigung des »Gesetzes über Verbesserungen der gesetz­lichen Unfallversicherung« richteten sich sogar unter bestimmten Umständen nicht nur nach dem früheren Realeinkommen, sondern auch nach den vergleichbaren Einkommensverhältnissen der noch in Arbeit stehenden Arbeitnehmer. Beamte erhielten bereits nach zehnjähriger Dienstzeit Pensionen in Höhe von 53 bis 55  Prozent und nach 25-jähriger Dienstzeit in Höhe von 75 Prozent des zuletzt bezogenen Gehaltes. Indirekt wirkte auch das im Sozialversicherungsrecht vorgeschriebene Kapital­ deckungsverfahren niveausenkend auf die Leistungen aus der Rentenversicherung.122 Die Landesversicherungsanstalten und die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte sammelten bis 1953 ein Vermögen von zusammen 3,8 Milliarden DM an; das entsprach ungefähr 65 Prozent ihrer Gesamtausgaben im Jahre 1953. Den Versicherten, und über die Staatszuschüsse den Steuerzahlern, wurde damit mehr Kaufkraft entzogen als an die Rentenbezieher weitergeleitet wurde.123 Das Ziel eines solchen »Ganzheitsdeckungsverfahrens« war es, Rücklagen aufzubauen, die alle Verpflichtungen auf Jahrzehnte hinaus sichern und die Beitragszahler durch Zinsertrag langfristig entlasten sollten. Dieses Verfahren bedeutete jedoch für die Sozialrentner niedrigere Renten, als sie ein reines Umlageverfahren ergeben hätte. Darüber hinaus hatten die Rentenempfänger bereits zweimal die Erfahrung machen müssen, dass die Deckungskapitalien der 121 Nach Berechnung von Hockerts hatte ein Arbeiter, der auf dem durchschnittlichen Verdienstniveau der Arbeiter der Siemenswerke in Höhe von 1.468 Mark im Jahr 1908 lag, bei 20-jähriger Beitragsdauer 270 Mark Invalidenrente = 18,4  Prozent dieses Lohnes zu er­ warten; eine 50-jährige Beitragsdauer hätte ihm 30 Prozent gesichert. Hockerts, Sicherung im Alter, S. 301. 122 Vgl. dazu insb. Tietz, Finanzierungsverfahren. Vgl. auch die Übersicht über die gesetz­ lichen Vorschriften betr. Deckungsverfahren in: BABl. 7 (1956), S. 347. 123 Vgl. Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 206.

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sozialen Rentenversicherung, und damit ihre persönlichen Sparein­lagen, durch Inflation fast vollständig vernichtet worden waren.124 Wie gezeigt, hatten die Rentenerhöhungsgesetze der Nachkriegszeit die Renten unsystematisch und, bis auf das Rentenmehrbetragsgesetz, weitgehend pauschal erhöht, ohne auf den wirklichen Bedarf einzugehen. Nach einem halben Jahrhundert Sozialgesetzgebung war das Rentenrecht verworren und unübersichtlich geworden. In der Öffentlichkeit war die Rede vom »Rentendickicht« und dem »nicht mehr entwirrbaren Durcheinander« der Rentengesetzgebung; das Rentenrecht galt allgemein als »Geheimwissenschaft«.125 Die Berechnung der Renten, die sich in den verschiedenen Versicherungszweigen jeweils unterschied und von einer Vielzahl von individuellen Faktoren abhing, war für den Einzelnen kaum mehr durchschaubar126 – und auch für die Experten wurde es schwierig: Im Herbst 1953 bestanden mindestens 46 Rechtsgrundlagen für den laufenden Rentenbezug.127 Insgesamt war auf allen Feldern der Rentenpolitik  – bei der Organisation, der Leistungsberechnung und der Finanzierung – dringender Handlungsbedarf entstanden. Die Regierung war jedoch in der ersten Legislaturperiode noch mit Kriegsfolgengesetzgebung und der Beseitigung der schlimmsten sozialen Notstände beschäftigt. Erst in der zweiten Legislaturperiode setzten auf verschie­ denen Ebenen Bemühungen ein, die sozialen Leistungen umfassend neu zu ordnen.128 In seiner Regierungserklärung vom 20. Oktober 1953 kündigte Bundeskanzler Adenauer zwei Maßnahmen an, um die schlechte wirtschaftliche Lage der Rentner, Invaliden, Waisen und Hinterbliebenen zu verbessern: die Erhöhung des Sozialprodukts sowie eine »umfassende Sozialreform«. Der Kanzler betonte, dass eine Umschichtung innerhalb des Sozialhaushalts nicht nur vertretbar, sondern notwendig sei, »um manchen Schichten mehr helfen zu können, als das bisher möglich war«.129 Die Neuregelung der Rentenversicherung wurde nicht nur als Teil  der Sozialreform angesehen, sondern galt als deren dringendster Posten.130 Im Verlauf der Reformdiskussionen engte sich die Per124 Sowohl die Inflation 1923 wie nach 1945 hatten streckenweise den Übergang zum Umlageverfahren erzwungen. Zur schwierigen finanziellen Situation in den Jahren der Weimarer Republik vgl. Teppe, S. 198 ff.; Geyer, Soziale Rechte, S. 420 ff. 125 Vgl. Art.: Vom Hazard-Charakter der Renten, in: Industriekurier, 19.1.1954; Braunert, S. 605. 126 Vgl. Beck, Rentenberechnung, S.  361 f.; Müller, Im Irrgarten; Meyer, Im Paragraphen­ gestrüpp; Buschmann, Die Angestelltenversicherung. 127 Vgl. Bogs, Grundfragen, S.  78–85. Vgl. auch die Mackenroth-Studie »Verflechtung der Sozial­leistungen«, nach der 109 Rentenkombinationen für den Bezug von Witwenrente bestanden. 128 Vgl. Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 216. 129 Sten. Ber., Bd. 18, S. 13. 130 Vgl. Bericht des Bundesgeschäftsführers der CDU, Bruno Heck, vor dem CDU-Bundes­ vorstand am 13.1.1956 (Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1953–1957, S.  735–745); Schellenberg, S. 20.

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spektive immer mehr ein: Aus der »umfassenden Sozialreform« wurde ab Mitte 1955 eine umfassende Reform des bestehenden Alterssicherungssystems. Während in der Bundesrepublik die Reformplanungen somit in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre anliefen, waren in anderen europäischen Ländern, maßgeblich England und Frankreich schon früher, d. h. Anfang bis Mitte der vierziger Jahre, grundlegende Sozialreformen eingeleitet worden. Ausschlaggebend für die Neuordnungsmaßnahmen waren auch hier die sozialen Auswirkungen des Krieges und die Uneffizienz der bestehenden Systeme gewesen. Neue Impulse gingen zunächst vor allem von Großbritannien aus.131 Dort hatte eine Sachverständigen-Kommission unter dem Vorsitz von William Beveridge dem britischen Parlament bereits 1942 einen Plan zur Neuordnung des gesamten Systems der sozialen Sicherheit vorgelegt. Dieser sah eine Universa­ lisierung und Vereinheitlichung der bestehenden Leistungen vor. Ähnlich dem skandinavischen System der Volksversicherung sollte die gesamte Bevölkerung in die Sozialversicherung einbezogen und in einer Risikogemeinschaft zusammengefasst werden. Die Leistungen sollten nach dem sog. »flate rate principle« gewährt werden, d. h. einem einheitlichen Unterstützungssatz unabhängig von der Höhe des Verdienstes.132 Der einheitliche Leistungssatz, der für alle Hauptformen sozialer Risiken einschließlich der Alterssicherung galt, sollte die Sicherung des Existenzminimums garantieren und künftig die Bedürfnisprüfung überflüssig machen. Auch der Beitragssatz sollte einheitlich und unabhängig von der wirtschaftlichen Situation des Versicherten erhoben werden. Weitere Komponenten des Reformplans waren die Schaffung eines allen Bürgern unentgeltlich zugänglichen staatlichen Gesundheitsdienstes (National Health Service, NHS) und die Berücksichtung der besonderen Bedürfnisse größerer Familien durch Familienzulagen. Darüber hinaus sollte die soziale Gesetz­ gebung durch ein Programm zur Aufrechterhaltung von Vollbeschäftigung begleitet werden. Der Plan, der als Beveridge-Plan in die Geschichte eingegangen ist, wurde 1945 mit nur wenigen Änderungen von der Labour-Regierung durchgeführt.133 Er wurde von der Mehrheit der Bevölkerung begrüßt, da er mit der Mindest­ einkommensgarantie die Situation der Unter- und Arbeiterschichten deutlich verbesserte. Aber auch die Angehörigen der englischen »Middle Class« waren zufrieden. Die einheitlichen Leistungen und die niedrigen Standardbeiträge bei nur geringem Anteil an Steuerfinanzierung verhinderten größere Umverteilungseffekte. Zudem hatte das System bewusst genügend Spielraum für freiwillige betriebliche oder private Zusatzversicherungen gelassen.134

131 Vgl. zum Folgenden insb. Bremme, S.  39 ff.; Baldwin, S.  116 ff. sowie Ritter, Sozialstaat, S. 147 ff. 132 Vgl. Bremme, S. 47 f. 133 Vgl. dazu ausführlich ebd., S. 70 ff. 134 Vgl. Ritter, Sozialstaat, S. 149.

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Der Beveridge-Plan fand europaweit große Beachtung. Die skandinavischen Länder sahen sich durch die Entwicklung in Großbritannien in ihrer Sozial­ politik bestärkt und bauten ihre sozialen Sicherungssysteme weiter aus.135 In Schweden wurden 1946 die sog. »Volkspensionen« eingeführt, die allen Schichten der Bevölkerung im Alter einen angemessenen Lebensstandard garantieren sollten. Sie kamen damit auch den Besserverdienern, d. h. den Selbständigen und den höher bezahlten Angestellten zugute. Jedoch besaßen sie eine erkennbare Umverteilungswirkung, da sie zu 70  Prozent aus Steuerleistungen finanziert wurden.136 Einen großen Einfluss übte der Beveridge-Plan in Frankreich aus, das sich damit zunächst von seinem bisherigen System  – und dessen deutschem Vorbild – abwandte. Die sozialen Reformen, die 1945 in Frankreich in Angriff genommen wurden, waren eine direkte Folge der Bestrebungen nach einer poli­ tischen und sozialen Erneuerung Frankreichs nach dem Krieg.137 In Anlehnung an die Ideen von Beveridge entwickelten die links gerichteten Kräfte der Résistance ein Konzept, nach dem alle Staatsbürger in ein einheitliches System sozialer Sicher­heit einbezogen werden sollten.138 Vorgesehen war, die sozialen Risiken für Krankheit, Alter, Invalidität und Unfall sowie die Familienzulagen organisatorisch zu bündeln und in einer einheitlichen Versicherungsanstalt zusammenzufassen. Die berufsständische Zersplitterung sollte aufgehoben und neben den Arbeitern sollten auch die besser verdienenden Angestellten und die Selbständigen in das System integriert werden. Die Leistungen sollten auf Beitragszahlungen beruhen und aufbauend auf einen Grundbetrag, entsprechend der Höhe und Anzahl der geleisteten Beiträge berechnet werden. Das tragende Prinzip des französischen Plans der »Sécurité Sociale« war der Gedanke der nationalen Solidarität.139 Die Einbeziehung der gesamten Bevölkerung sollte eine gerechte Verteilung der sozialen Lasten garantieren. Die geplante Generalisierung der »Sécurité Sociale« scheiterte jedoch am Widerstand unterschiedlicher Gruppen und sozialer Kräfte.140 Zwar wurde der Reformplan mit den Verordnungen vom 4. und 19. Oktober 1945 von der Vorläufigen Beratenden Versammlung (»Assemblée Consultative Provisoire«) auf den Weg gebracht und durch die Gesetze der Ersten und Zweiten Verfassungsgebenden Versammlung (»Assemblée Constituante«) 1946 bestätigt.141 Doch täuschte diese politische Einigung über die außerparlamentarische Opposition aus Versicherungsvereinen, Verbänden und sozialen Interessengruppen hinweg. Der Konflikt entzündete sich unter anderem an dem Gesetz vom 13.  September 135 Vgl. Baldwin, S. 134 ff. 136 Vgl. Ritter, Sozialstaat, S. 152. 137 Zur sozialen Neuordnung in Frankreich vgl. ausführlich Galant, S. 27 ff.; Valant, S. 59 ff.; Palier, S. 65 ff.; Bremme, S. 136 ff.; Baldwin, S. 163 ff. 138 Vgl. Laroque, Le plan français; ders., De l’assurance. 139 Vgl. Bremme, S. 136. 140 Vgl. Bremme, S. 149 ff.; Baldwin, S. 167 ff.; Ritter, Sozialstaat, S. 154 ff.; Palier, S. 111 ff. 141 Vgl. Palier, S. 109; Barjot, S. 44 ff., 53 ff., 73 ff.

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1946 über die Generalisierung der Sozialversicherung auf dem Gebiet der Alterssicherung. Es rief den Boykott des französischen Mittelstands hervor. Die Selbständigen weigerten sich, die vorgesehenen Beiträge zu zahlen, und forderten separate Sicherungssysteme. Auch die Angestellten (»Cadres«) wandten sich gegen die Einbeziehung in die Einheitsversicherung. Beide Gruppen befürchteten eine Statusverschlechterung. Im März 1947 setzten die Angestellten die (Wieder-) Einführung von komplementären Renteninstitutionen außerhalb des allgemeinen Versicherungssystems durch. Das Gesetz vom 17. Januar 1948 erlaubte den Selbständigen, autonome Altersversicherungen zu schaffen. Die Einführung von Sondersystemen für weitere Berufsgruppen (Bergbau, Eisenbahn, etc.) sowie die von den Trägern der Familienausgleichskassen durchgesetzte gesonderte Administration der Familienleistungen führten schließlich dazu, dass die Prinzipien der neu geschaffenen »Sécurité Sociale« schon Ende der vierziger Jahre weit ausgehölt waren. Der Übergang zu einem Konzept egalitären Universalismus musste in Frankreich – im Gegensatz zu Großbritannien und Schweden  – als gescheitert gelten. Vor allem die Mittelklassen und unter ihnen der hohe Anteil der Selbständigen waren nicht bereit, den Bruch mit den bisherigen Traditionen des französischen Systems mitzutragen.142 In den fünfziger Jahren entwickelte sich der französische Wohlfahrtsstaat immer weiter vom britischen Modell weg und näherte sich stattdessen im Sozialversicherungswesen wieder dem deutschen berufsständischen System an. Die sozialpolitischen Debatten im Nachkriegsdeutschland blieben von den Entwicklungen im europäischen Ausland naturgemäß nicht unberührt.143 Der von den alliierten Besatzungsmächten 1946 vorgelegte Entwurf zur Neuordnung und Vereinheitlichung des deutschen Sozialversicherungswesens hatte wesentliche Grundprinzpien des britischen Beveridge-Modells übernommen. Er war in den Westzonen auf strikte Ablehnung bei den betroffenen Interessengruppen sowie bei der Sozialbürokratie gestoßen und Anfang 1948 schließlich gescheitert.144 Die innerfranzösischen Reformbestrebungen beeinflussten die Versuche zur Neuordnung der Sozialversicherung im Südwesten Deutschlands. So wurde dort während der Besatzungszeit beispielsweise das Krankenkassenwesen vereinheitlicht.145 Dieser Sonderweg wurde aber mit der Gründung der Bundesrepublik beendet. Jedoch fanden einzelne sozialpolitische Elemente, die in der französischen Zone schon vor 1949 verwirklicht worden waren, auch Eingang in das bundesrepublikanische soziale Sicherungssystem, darunter insbesondere die Angleichung der Versicherungsbedingungen von Arbeitern und Angestellten.146 142 Vgl. Ritter, Sozialstaat, S. 156. 143 Vgl. Diskussionsbeiträge im Arbeitsblatt für die brit. Zone: Beatty; Dobbernack, Neuordnung; ders., Ausland; ders., Frankreich. 144 Vgl. dazu ausführlich Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 36 ff. 145 Vgl. dazu Dede. 146 Vgl. Ritter, Sozialstaat, S. 156 f.; zur Sozialpolitik in der französischen Besatzungszone und ihrer Wirkung auf die frühe Bundesrepublik vgl. ausführlich Hudemann.

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3. Soziale Sicherung in der prosperierenden Industriegesellschaft: Ordnungsvorstellungen und Konzepte Wenn insgesamt über die Notwendigkeit einer Reform der Rentenversicherung spätestens ab Mitte der fünfziger Jahre weitgehend Einigkeit herrschte, wurde um die Umsetzung doch heftig gerungen. Dabei beschränkte sich die Debatte nicht auf die politische Sphäre, sondern wurde von der Öffentlichkeit aufgegriffen und bis in die Wissenschaft hinein geführt. Die politische Auseinandersetzung um die Rentenreform wurde im Wesentlichen von den beiden großen (Volks-) Parteien CDU und SPD geführt. Da­ gegen traten die kleinen Parteien wenig in Erscheinung. Zwar entwickelten FDP und DP jeweils eigene Vorschläge zur Neuordnung der sozialen Leistungen. Sie drängten dabei auf eine weitest­mögliche Eingrenzung der staatlichen Regulierungen und Eingriffe und traten für eine Stärkung der privaten, eigenverantwortlichen Altersvorsorge ein.147 Die Vorstöße der kleinen Parteien blieben letztlich aber erfolglos. Die Rentenpolitik der Regierung wurde maßgeblich von der CDU und ihrer kleineren Schwesterpartei, der CSU, bestimmt.148 Die Sozial- und Rentenreform war jedoch nicht nur ein politisches Thema, sondern auch Forschungs- und Betätigungsfeld für Wissenschaftler und Sozial­ forscher. In den fünfziger Jahren erschien eine ganze Flut von wissenschaft­ lichen Abhandlungen zur Sozialpolitik und zur sozialen Sicherung. Darüber hinaus brachten renommierte Professoren als Sachverständige ihre Vorstellungen und Erkenntnisse in Form von offiziellen Stellungnahmen und Gutachten in die politische Reformdebatte ein. Haben die Experten einen Beitrag zur Erneuerung der Sozialpolitik geleistet? War Sozialpolitik aus Sicht der Wissenschaft noch Klassenpolitik? Die folgenden beiden Kapitel erörtern zunächst die Reformvorstellungen und Konzepte von CDU und SPD und die sich daraus ergebenden Weichenstellungen für die Rentenreform. Im Anschluss untersucht das dritte Kapitel den Einfluss von wissenschaftlichen Experten auf die Reformplanung und die sozial­ politischen Leitbilder der Parteien. Die sozialpolitischen Konzepte und Initiativen von Unionsparteien und SPD, deren Zustandekommen und Bedeutung bereits in unterschiedlichen Forschungszusammenhängen erörtert wurden,149 werden im Folgenden vor allem 147 Vgl. 12-Punkte-Programm der FDP zur Reform der sozialen Gesetzgebung v. 20.6.1955, in: Freie Demokratische Korrespondenz, Jg. 5, Nr. 41, S. 2–5. Antrag der DP betr. Reform der Rentenver­sicherung v. 27.10.1955 (BT-Drs. II/1822). 148 Die nachfolgenden Analysen richten ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die Christdemo­ kraten, da die CSU im Falle der Rentenpolitik keine von der CDU grundsätzlich abweichende Position vertrat. Die Christsozialen waren in den Kabinetten Adenauers »loyale Gefolgspartei«. Vgl. Mintzel, S. 377. 149 Vgl. Lösche u. Walter; Berlepsch; Bösch; Buchhaas. Vgl. auch Schulz, Sozialpolitische Denkfelder, S. 82 ff.; Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 216 ff.

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in Hinblick auf die Frage nach dem Wechselverhältnis von Sozialpolitik und Sozialstrukturentwicklung untersucht: Inwieweit standen die Genese und der Wandel der sozialpolitischen Positionen in unmittelbarer Verbindung zum Wandel der sozialökonomischen und sozialkulturellen Verhältnisse im ersten Nachkriegsjahrzehnt? Oder anders gefragt: Inwiefern spiegelten sich die Ver­ änderungen der sozialen Verhältnisse nach dem Krieg in der Sozial- und Rentenpolitik der Parteien wider? 3.1 Bürgerliche Sozialpolitik? Leitbilder und Reformpläne der CDU Die sozialpolitische Programmatik der CDU war in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren durch das Nebeneinander von christlich-sozial­en und wirtschaftsliberalen Einflüssen geprägt. Während die christlich-sozialreformerisch orientierten Gruppen für eine progressive Gestaltung der Sozial­politik eintraten und wesentliche Veränderungen innerhalb des Systems der sozialen Sicherung herbeiführen wollten, nahm der konservative, wirtschaftsliberale Flügel eine abwartend-skeptische Haltung gegenüber sozialpolitischen Ausbaumaßnahmen ein. Die Sozialreformer organisierten sich seit 1946 in den Sozialausschüssen der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) – dem »sozialen Gewissen der Partei«.150 Als ihre Gegenspieler traten die Mittelstandsvereinigungen der CDU auf, die einen wohlfahrtsstaatlichen Ausbau möglichst verhindern wollten.151 Während der christlich-soziale Flügel noch einen relativ großen Einfluss auf das »Ahlener Wirtschafts- und Sozialprogramm der CDU« von 1947 ausübte,152 zeichnete sich schon mit den Düsseldorfer Leitsätzen 1949 ein Kurswechsel ab: Das christlich-soziale Gedankengut der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde zurückgedrängt zugunsten einer stärkeren Hinwendung zu privatwirtschaftlichem Denken. Neues Schlagwort wurde die »Soziale Marktwirtschaft«, die als »dritter Weg« zwischen dem System der »Planwirtschaft« und der »freien Wirtschaft« liberalistischer Prägung propagiert wurde.153 Mit der »Sozialen 150 So Robert Tillmanns auf dem Ersten Parteitag der CDU 1950 in Goslar (Parteitagsprotokoll 1950, S. 102). Zu den Gründungsmitgliedern der Sozialausschüsse gehörten vor allem ehemals christliche Gewerkschaftler. Vgl. Gundelach; Kleinmann, S. 97 ff., 210 ff. 151 Zu den Mittelstandsorganisationen vgl. Scheybani, S. 181 ff.; Kleinmann, S. 144 ff. 152 Die Sozialausschüsse hielten bis in die fünfziger Jahre am Ahlener Programm fest. Vgl. entsprechende Äußerungen von Hans Katzer und Jakob Kaiser auf der Bundestagung der Sozialausschüsse der CDA v. 28.2.–1.3.1953 in Köln (Protokollband: Von der Sozialpolitik zur Sozialreform, S. 21 f. bzw. 67). 153 Düsseldorfer Leitsätze v. 15.7.1949 (= Flechtheim, Bd.  2, Dok. 101, S.  58–76). Zum Konzept der »Sozialen Marktwirtschaft« und seiner Umsetzung vgl. Müller-Armack, Wirtschaftslenkung, S. 78 ff.; ders., Anfänge der Sozialen Marktwirtschaft; Erhard, Wohlstand, S. 101 ff.; ders., Wirtschaftspolitik.

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Marktwirtschaft« war das Konzept des »sozialverpflichtenden Kapitalismus« verbunden. Staatliche Sozialpolitik wurde als ein Korrektiv für gesellschaftliche Notlagen angesehen. Der »sozialverpflichtende Kapitalismus« appellierte an die soziale Verantwortung der Unternehmer und setzte auf die betrieb­ liche Sozialpartnerschaft sowie auf die Vielfalt der Trägerschaft in der Sozial­ versicherung.154 Die CDU war von ihrer Mitgliederstruktur her eine »soziale Massen- und Sammelpartei« und in diesem Sinne von Anfang an eine »echte« Volkspartei.155 Die organisatorische Unverbindlichkeit sowie der programmatische Pragmatismus und Facettenreichtum verstärkten den Volksparteicharakter. Das Fundament der CDU – bei den Wählern wie auch bei den Mitgliedern – bildeten Selbständige, »neuer Mittelstand« und Arbeiter.156 Dabei wurden die unterschiedlichen Berufs- und Statusgruppen sowohl organisatorisch – in Form der Sozialausschüsse oder der Mittelstandsvereinigungen – als auch sprachlich integriert. Das galt insbesondere für die Arbeiter. Da die Union bei den Arbeitern nur schwer mit der Sozialdemokratie konkurrieren konnte, bemühte sie sich um eine vorteilhaftere, harmonischere Neudefinition der Gesellschafts­ordnung. Unter dem Eindruck der scheinbar alles nivellierenden Kriegsfolgen sowie des in den fünfziger Jahren folgenden Wirtschaftswunders fand sie ihr Leitbild schnell in der »klassenlosen, nivellierten Mittelstandsgesellschaft«. Dieser Leitbegriff half den Gebrauch der Kategorie des Arbeiters, aber auch des – weit­gehend ungeliebten – Wortes »Bürgertum« zu vermeiden.157 Insbesondere Adenauer ließ die Kategorie des Arbeiters nicht mehr zu: »Unserer Arbeiterschaft geht es gut, und sie ist lange nicht mehr proletarisch; sie gehört wirklich zum Mittelstand«.158 Mit der Proklamierung dieses »sozialen Harmonie­modells« versuchte die CDU, jenseits der Berufsgruppen für alle Wähler attraktiv zu sein.159 Zugleich schien mit dem Argument, dass alle Standes- und Klassen­ unterschiede bereits eingeebnet seien, die Notwendigkeit einer umfassenden sozialen Neuordnung zu entfallen. Trotz des politischen Anspruchs der CDU, die Interessen breiter Schichten in der Mitte der Gesellschaft zu vertreten, blieb der sog. »alte Mittelstand«, bestehend aus Handwerk, Einzelhandel und Landwirtschaft, die »Drehachse 154 Vgl. Kleinmann, S. 85 ff.; Berlepsch, S. 468; Hartwich, S. 56 f. 155 Karl Arnold auf dem 2.  Parteitag der CDU v. 18.–21.12.1951 in Karlsruhe (Parteitags­ protokoll 1951, S. 34). Vgl. auch Buchhaas, S. 27 ff., 199 ff.; Kleinmann, S. 95 f.; Narr, S. 88, 92; Bösch, S. 283. 156 Allerdings war dieses Fundament am stärksten bei den Selbständigen und am schwächsten bei den Arbeitern ausgebildet, vgl. Bösch, S. 284 ff. 157 Bösch, S. 297. Vgl. auch die Referate Karl Arnolds und Friedrich Holzapfels zum Thema »Der soziale und wirtschaftliche Aufbau Deutschlands« auf dem 2.  Parteitag der CDU 1951 in Köln (Parteitagsprotokoll 1951, S. 26–37, 37–47). 158 Adenauer im Parteivorstand am 10.9.1953 (Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1953–57, S. 44). 159 Bösch, S. 297.

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ihrer sozialpolitischen Vorstellungswelt«.160 Die Union maß Werten wie Eigeninitiative, Selbständigkeit und Verantwortungsfähigkeit eine große Bedeutung zu und stellte sie dem allgemeinen Bedürfnis nach staatlicher Versorgung und Fürsorge gegenüber. Eine wichtige Rolle in der sozialpolitischen Konzeption der Union spiel­ten außerdem die aus der christlichen Soziallehre entwickelten sozialen Grund­prinzipien der »Solidarität« und »Subsidiarität«.161 Der Schutz der natürlichen Rechte und Freiheiten des Einzelnen und aller Gesellschaftsgruppen galt als Maxime des (sozial-) staatlichen Handelns. Für die Gestaltung der CDU-Sozial­politik bedeutete das konkret, dass vor allem die Förderung von Kapital und Privateigentum als Mittel zur eigenständigen Vorsorge sowie die Stärkung und Sicherung der Familie Vorrang vor anderen sozialpolitischen Maßnahmen hatten.162 Die hauptsächliche Aufgabe einer Sozialreform wurde darin gesehen, die Bestimmungen in der Sozialversicherung zu entflechten und ungerechtfertigte Überschneidungen zu beseitigen. An dem bestehenden Bismarckschen System sollte festgehalten werden, da es »das geeignete Mittel« sei, »den sozialen Schutzbedürftigen der Bevölkerung die nötige Versorgung […] an­ gedeihen zu lassen«.163 In der zweiten Legislaturperiode nahm die Reformbereitschaft innerhalb der CDU jedoch zu, bedingt durch den öffentlichen Druck und die Notwendigkeit, der prominenten Ankündigung der Sozialreform in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers im Oktober 1953 auch Taten folgen zu lassen. Wie groß der in der Öffentlichkeit erzeugte Erwartungsdruck war, zeigten die demos­ kopischen Umfragen. Die Bundesregierung wurde durch die Allensbacher Berichte ins Bild gesetzt, mit denen sie sich seit 1950 regelmäßig über die »Stimmung im Bundesgebiet« informieren ließ. »Bei weitem an der Spitze steht die Frage der Renten«, teilte Adenauer im Bundesvorstand der CDU im November 1956 mit.164 Auf Veranlassung des stellvertretenden Vorsitzenden der CDU und Sonderministers Robert Tillmanns wurde im Juni 1955 die Bildung eines für den Par160 Narr, S. 183. Das galt insbesondere auch für die CSU. 161 »Solidarität« verstanden als wechselseitige Angewiesenheit aller Gesellschaftsglieder auf­ einander; »Subsidiarität« in dem Sinne, dass all das, was der einzelne leisten kann, ihm nicht von der Gesellschaft abgenommmen werden darf. Vgl. von Nell-Breuning, Katho­ lische Soziallehre, insb. S. 29 f. Vgl. auch die Kabinettsvorlage »Grundgedanken zur Gesamtreform der sozialen Leistungen« des Bundesministers für Arbeit v. 7.4.1955 (ab­ gedruckt bei: Richter, Sozialreform, B III 1). 162 Vgl. beispielhaft Kultusminister Edo Osterloh auf dem Bundesparteitag der CDU 1956 in Stuttgart: »[…] scheint mir von wesentlicher Bedeutung zu sein, dass wir Familie und Eigentum als die beiden entscheidenden Brennpunkte all unserer Bemühungen um die Neuordnung des gesellschaftlichen Lebens erkennen und beachten.« (Parteitagsprotokoll 1956, S. 104). Vgl. auch von Nell-Breuning, Katholische Soziallehre, S. 10 ff., 23 ff. 163 Vgl. Horn (CDU) am 21.2.1952 im Bundestag (Sten. Ber., Bd. 10, S. 8381). 164 Vgl. Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1953–57, S. 1145 f. – Zur sinkenden Popularität der Unionsparteien 1956 vgl. auch Schmidtchen, S. 59 f., 68.

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teivorstand unmittelbar tätigen Arbeitskreises »Sozialreform« beschlossen. Dieser erhielt den Auftrag, Entschließungen für einen Sozialreform-Parteitag der CDU vorzubereiten.165 Der Bundesgeschäftsführer der CDU und Vorsitzende des Arbeitskreises, Bruno Heck, berichtete Mitte Januar 1956 dem Bundes­ parteivorstand über die bis dahin vorliegenden Ergebnisse und Empfehlungen des Arbeitskreises.166 Der Bericht skizzierte erstmals die Grundzüge eines umfassenderen Sozialreformprogramms. Als einmütige Meinung des Arbeits­ kreises wurde hervorgehoben, dass »das wichtigste der zu lösenden Probleme« die Alters- und Invaliditätssicherung sei; diese Aufgabe müsse »noch in dieser Legislaturperiode gesetzgeberisch geregelt werden«.167 Die Vorschläge, die der Arbeitskreis zu diesem Problemfeld unterbreitete, gingen weit über das hinaus, was zuvor an Reformüberlegungen innerhalb der Partei vorgetragen worden war. Dabei schien der Kanzler nicht ganz unbeteiligt an dieser Reformoffensive gewesen zu sein; zumindest ähnelten die Vorschläge ganz erheblich entsprechenden Vorarbeiten im Kanzleramt.168 Empfohlen wurde, alle Arbeitnehmer, unabhängig vom Einkommen, der Sozialversicherungspflicht zu unterwerfen. Darüber hinaus war der Arbeitskreis der Auffassung, dass es »unter den Selbständigen ebenfalls sicherungsbedürftige Berufsgruppen« gebe und für diese Selbständigen – Kleingewerbetreibende, kleine Landwirte und einige freie Berufe  – »eine eigenständige Sicherungseinrichtung geschaffen werden« solle.169 Diese Anerkennung des Sicherungsbedürfnisses von Arbeitnehmern und Selbständigen war  – wenngleich vom Bundes­arbeitsministerium ebenfalls befürwortet  – ein Novum innerhalb der sozialpolitischen Konzeption der Union und wurde von den Mittelstandspolitikern der Partei entsprechend kritisch gesehen. Auch bei der Rentenformel für die Altersrente waren die Vorschläge des Arbeitskreises weitgehend:170 Er sprach sich gegen eine statische Rente aus und empfahl »die Anpassung der Renten an die Löhne und Gehälter, und das nicht nur für die Festsetzung der Renten, sondern auch während ihrer Laufzeit«. Die-

165 Dem Arbeitskreis gehörten Vertreter des Sozialpolitischen Ausschusses beim Bundesvorstand, der Sozialausschüsse der christlich-demokratischen Arbeitnehmerschaft und CDU-verbundene Mitglieder des beim Bundesarbeitministerium eingerichteten »Beirats für die Neuordnung der sozialen Leistungen« an. Zu den Mitgliedern des Arbeitskreises vgl. auch Lünendonck, S. 127 f. 166 Vgl. Protokoll der Sitzung des Bundesvorstands v. 13.1.1956 (Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1953–57, S. 735–752). Dazu auch ausführlich Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 322 ff. 167 Protokoll der Sitzung des Bundesvorstands v. 13.1.1956, S. 740. 168 Vgl. insbesondere Adenauers Notizen (»Rhöndorfer Marginalien«) zu einer Vorlage des sozialpolitischen Ref. des BK v. 27.12.1955 (BA, B 136/1359). Dazu ausführlich Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen S. 320 ff. 169 Protokoll der Sitzung des Bundesvorstands v. 13.1.1956, S. 741. 170 Vgl. dazu auch S. 94 ff.

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ses Bekenntnis zur »dynamischen Rente« war insofern parteiintern strittig, als es vor allem die immer wieder geforderte eigenverantwortliche, zusätzliche Vorsorge in Frage stellte. Darüber hinaus fürchteten die mittelständischen und wirtschaftsnahen Kräfte der Partei negative Auswirkungen auf die wirtschaft­ liche Entwicklung, die Währung sowie die Spartätigkeit der Bevölkerung, wenn die Renten gleichzeitig mit den Löhnen anstiegen.171 Umstritten war auch der vor­geschlagene uneingeschränkte Rechtsanspruch auf die Leistungen der Alters- und Invalidenversicherung. Teile der CDU  – darunter Finanzminister Schäffer und Wirtschaftsminister Erhard  – forderten stattdessen die Einführung einer Bedürftigkeitsprüfung, insbesondere dann, wenn für die Finanzierung der Alterssicherung zusätzliche staatliche Gelder in Form von Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt verwendet würden.172 Trotz anhaltender innerparteilicher Meinungsverschiedenheiten waren die Beschlüsse des Arbeitskreises ein bedeutender Schritt für das Fortkommen der CDU in der Rentenfrage. Sie lehnten sich an Vorschläge des Bundesarbeits­ ministeriums173 an und stimmten weitgehend auch mit den Beschlüssen des Sozialkabinetts überein. Dieses Gremium entschied im Januar 1956, dass »der Übergang von der statischen zur sogenannten dynamischen Leistungsrente« das »Kernstück« der Neuordnung der Alters- und Invaliditätssicherung bilden solle.174 Auf dem 6. Bundesparteitag der CDU vom 26. bis 29. April 1956 in Stuttgart wurde die »dynamische Rente« beschlossen.175 Damit unterstützte der Parteitag offiziell das Reformvorhaben der Regierung. Es wurde jedoch schnell deutlich, dass längst nicht alle Gruppen innerhalb der Union mit den Parteitags­ beschlüssen einverstanden waren. Vor allem die konservativ-mittelständischen und wirtschaftsliberalen Kräfte drohten die Gefolgschaft zu verweigern, falls

171 Vgl. exemplarisch Ruf, Schneider u. Scharnberg in der Fraktionssitzung v. 26.9.1956 (Sitzungsprotokolle 1953–57, Bd. 2, S. 1226–1228). Vgl. auch Erhard, Wohlstand, S. 98 f. 172 Vgl. exemplarisch Elsholz. Vgl. auch Bundesfinanzminister Schäffer in der 3.  Sitzung des Sozialkabinetts am 7.10.1955 (Kabinettsprotokolle, Ministerausschuss für die Sozial­ reform, S. 96–110). 173 Vgl. Kabinettsvorlage des Bundesminister für Arbeit v. 7.4.1955 (abgedruckt bei: Richter, Sozialreform, B III 1) sowie die Ausarbeitung des Generalsekretariats für Sozialreform im BMA »Die Gestaltung der Altersversicherung für die in der sozialen Rentenversicherung pflichtversicherten Personen« v. 10.12.1955 (BA, B 136/1362). 174 Das Sozialkabinett, oder auch »Ministerausschuss für Sozialreform«, war auf Initiative Adenauers durch Kabinettsbeschluss vom 13.7.1955 eingerichtet worden. Es sollte das Kabinett von der Erörterung spezieller sozialpolitischer Themen entlasten. In drei entscheidenden Sitzungen – am 13.12.1955, 17.1. u. 18.2.1956 – legte das Sozialkabinett seine Meinung zur Sozial- bzw. Rentenreform fest. Vgl. die Beschlüsse des Sozialkabinetts in: Bulletin Nr. 15, 21.1.1956, S. 117; Schewe, Beschlüsse. 175 Vgl. Entschließung des 6.  Bundesparteitages der CDU (Parteitagsprotokoll, S.  198). Vgl. auch Bericht über die Ergebnisse der Arbeitskreise 1, 2 und 3 (Parteitagsprotokoll, S. 135). Vgl. auch Lünendonck.

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die »Dynamisierung« der Renten endgültig beschlossen würde.176 Diese internen Auseinandersetzungen verzögerten insgesamt den Reformprozess. Im Herbst 1956 verhärteten sich die Fronten zwischen rechtem und linkem Unions­ flügel, d. h. zwischen Gegnern und Befürwortern der Reform derart, dass die einen den von der Regierung vorgelegten Gesetzentwurf als undurchdacht zurückwiesen, während die anderen bekundeten, lieber mit der SPD eine ihnen gemäße Reform durchsetzen zu wollen, als noch weiter auf die Fraktionskol­ legen zuzugehen.177 Eine endgültige Einigung kam schließlich erst kurz vor der Verabschiedung der Rentenreformgesetze im Januar 1957 zustande.178 3.2 Sozialistische Sozialpolitik? Reforminitiativen der SPD Die SPD war in der Diskussion um die »Sozialreform« und der sich daraus entwickelnden Rentenproblematik von Anfang an hellwach. So begann die Rentenerhöhungsdebatte schon 1950 mit einem Initiativantrag der sozialdemokra­ tischen Fraktion im Bundestag.179 Bis zur endgültigen Reform 1957 trieb die SPD die Regierung immer wieder mit Aufstockungs- und Zahlungsanträgen zur Verbesserung der Rentenversicherung an180 und leistete damit nicht nur einen wichtigen Beitrag zur schrittweisen Verbesserung der sozialen Lage der Rentner. Sie sorgte durch immer neue Forderungen und Bekanntgabe eigener Reformvorschläge auch dafür, dass die Reformdiskussionen insgesamt nicht zum Erliegen kamen.181 Wegen des unmittelbaren Zusammenhangs der Sozialversicherungsgesetzgebung mit dem »Sozialistengesetz« und dem Kampf gegen die Sozialdemokratie Ende des 19. Jahrhunderts war die SPD nie eine Befürworterin des Bismarckschen Sozialstaats gewesen.182 Noch während der Besatzungszeit setzte

176 Vgl. exemplarisch die Interventionen des Hamburger Bankiers Hugo Scharnberg im Bundesparteivorstand der CDU am 20.9.1956 (Protokolle des CDU-Bundesvorstands ­1953–57, S.  1056 ff.) und in der Fraktionssitzung v. 26.9.1956, (Sitzungsprotokolle 1953–57, Bd.  2, S. 1227 f., 1232). 177 Vgl. Fraktionssitzungen v. 26.9. bzw. 1.10.1956 (Sitzungsprotokolle 1953–57, Bd. 2, S. 1223– 1233, bzw. S. 1242–1247). 178 Vgl. dazu im Einzelnen Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 407 ff. 179 Antrag der Fraktion der SPD betr. Anpassung von Leistungen der Sozialversicherung v. 29.7.1950 (BT-Drs. I/1271). 180 Vgl. Interpellation der Fraktion der SPD betr. Verbesserung von Versicherungs- und Fürsorgeleistungen v. 13.2.1951 (BT-Drs. I/1937); Antrag der Fraktion der SPD betr. Zuschlag zu den Renten der Sozialversicherung v. 22.10.1952 (BT-Drs. I/3791). 181 Vgl. Kurzprotokoll über die Kabinetts-Sondersitzung v. 22.3.1955 (Kabinettsprotokolle, Bd. 8, S. 194–200): »Es sei völlig undenkbar«, so der Kanzler, »dass die SPD der Bundes­ regierung bei der Sozialreform zuvorkommen dürfe«. 182 Vgl. Metzler, S. 17 f. Zur Haltung der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie zu den Sozialversicherungsgesetzen vgl. ausführlich Tennstedt, Vom Proleten, S. 305 ff.

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sie sich daher zusammen mit den Gewerkschaften für eine tiefgreifende Neuordnung der Sozialversicherungsstrukturen ein und unterstützte das Bestreben des Alliierten-Kontrollrates, das deutsche Sozialversicherungssystem zu vereinheitlichen.183 Die Vereinheitlichungsforderungen wurden mit den Mängeln des traditionellen Sozialversicherungssystems begründet, die sich aus Sicht von SPD und Gewerkschaften vor allem aus der Zersplitterung von Organisation und Leistungen in der Kranken- und Rentenversicherung ergaben.184 Von einer Zusammenfassung aller drei Versicherungszweige (Krankheit, Alter, Unfall) in einheitlichen Sozialversicherungsanstalten – wie sie in der Sowjetischen Besatzungszone Anfang 1947 bereits realisiert worden war185 – versprachen sich die Befürworter außerdem die Überwindung der Spaltung der Arbeitnehmerschaft. Ein besonderes Anliegen in diesem Zusammenhang war die Zusammenlegung von Arbeiter- und Angestelltenversicherung. Neben einer Verwaltungsvereinfachung sollte unter dem Gesichtspunkt von Gleichberechtigung und gegenseitiger Hilfe die Arbeiterversicherung besser fundiert und das Leistungsrecht dem der Angestelltenversicherung angeglichen werden. Nach dem Scheitern des sog. »Kontrollratsentwurfs« – und damit der Neuordnung des Sozialversicherungssystems für ganz Deutschland  – verzichteten die Sozialdemokraten darauf, im Frankfurter Wirtschaftsrat ihre prinzipiellen Reformziele erneut auf die Tagesordnung zu bringen. Hier verfügten die bürgerlichen Parteien (CDU/CSU, FDP, DP), die alle verhement für die Erhaltung der traditionellen Sozialversicherung eintraten, über eine klare Mehrheit. Die SPD-Führung rechnete hingegen fest mit einem Sieg bei den künftigen westdeutschen Parlamentswahlen. Unter diesen Umständen erschien es politisch klug, vorerst für eine Lösung einzutreten, welche die Strukturfragen offenhielt.186 Das Sozialversicherungs-Anpassungs­gesetz wurde dementsprechend mit den Stimmen der SPD verabschiedet. Als die Sozialdemokraten aber bei der ersten Bundestagswahl 1949 erfolglos blieben, wurden die Chancen für eine Durchsetzung »sozialistischer« Neuordnungspläne immer geringer. Sie rückten daher Anfang der fünfziger Jahre allmählich von ihren ursprünglichen Positionen ab. Ein definitiver Kurswechsel in der sozialpolitischen Programmatik der SPD vollzog sich nach der erneuten Niederlage bei der zweiten Bundestags-

183 Zum Kontrollratsentwurf für ein gesamtdeutsches Sozialversicherungsgesetz ausführlich Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 21 ff. 184 Vgl. Entschließung der Gewerkschaften auf dem Frankfurter Kongress vom 11.1.1947 zur Neuordnung der deutschen Sozialversicherung (abgedruckt in: Schieckel, Material, S.  ­73–56). Vgl. auch Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 7, Dok. 203–207. Zum Neu- bzw. Wiederaufbau der Gewerkschaften 1945 bis 1949 vgl. Schneider, S. 236 ff. 185 Vgl. Befehl Nr.  28 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland v. 28.1.1947 (= Geschichte der Sozialpolitik, Dok. 2/118). 186 Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 87 f.

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wahl 1953.187 Hier verfehlte die SPD den für eine Regierungsübernahme oder -beteiligung nötigen Stimmanteil bei den lohnabhängigen Mittelschichten sowie den kleinen und mittleren Selbständigen. Die Sozialdemokraten gaben nun endgültig ihre Forderung nach einer Vereinheitlichung der Versicherungsorganisation auf und konzentrierten sich auf die Verbesserung der Versicherungsleistungen für die Arbeiter und Angestellten. Die Abwendung von einer radikalen Sozialreform kann auch als eine Reaktion auf die Tendenzen der »Entproletarisierung« der Arbeiterschaft in der Bundesrepublik gewertet werden.188 Darüber hinaus spielten die mittelstands­ politischen Erfahrungen der Zwischenkriegszeit eine Rolle sowie die Überzeugung des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher, dass die Demokratisierung Deutschlands entscheidend davon abhinge, ob es gelänge, den »alten« und »neuen Mittelstand« für die SPD zu gewinnen.189 Die Präambel der erweiterten Berliner Fassung des Dortmunder Aktionsprogramms stellte 1954 fest, die Sozialdemokratie sei »aus der Partei der Arbeiterklasse, als die sie erstand, zur Partei des Volkes geworden. Die Arbeiterschaft bildet dabei den Kern ihrer Mitglieder und Wähler«.190 Neu eingefügt wurde ein Abschnitt über »Die Mittelschichten in der Wirtschaft«, der vom neugebildeten Arbeitsausschuss »Wirtschaftliche Fragen der Mittelschichten« erarbeitet worden war.191 Im Bundestag verlieh die SPD-Fraktion durch verschiedene Anträge ihrer Sorge um die »Mittelschichten« Ausdruck.192 Die Sozialdemokraten ver­stan­ den unter »Mittelschichten« alle diejenigen, die zwar über eigene Produktionsmittel, nicht aber über Kapital im eigentlichen Sinne des Wortes verfügten.193 »Mittelschichten« waren mithin für die SPD die Gruppen, die im allgemeinen 187 Vgl. Berlepsch, S. 468, 479; Miller, S. 34 ff. Gleiches galt für die Gewerkschaften, vgl. Schneider, S. 272; Schönhoven, Gewerkschaften, S. 219: »Für die Gewerkschaften markierte der Wahltag das Datum, an dem sie ihre Neuordnungspläne auf absehbare Zeit ad acta legen mussten und auf ihre traditionelle Rolle als tarifpolitisch ausgerichtete Arbeitsmarktpartei zurückverwiesen wurden.« 188 So Hockerts, Bürgerliche Sozialreform, S. 231 ff. Vgl. Berlepsch, S. 469. 189 Vgl. Kurt Schumacher, Leitsätze zum Wirtschaftsprogramm von 1945 (= Flechtheim, Bd. 3, Dok. 164, S. 9–13, hier: S. 12).; ders., Politische Richtlinien für die SPD in ihrem Verhältnis zu den anderen politischen Faktoren, August 1945, in: Dowe u. Klotzbach, S. 245– 280, hier S. 252. Vgl. dazu auch Lösche u. Walter, S. 30 ff., 91 ff. 190 Aktionsprogramm von 1952 mit den Erweiterungen vom Berliner Parteitag 1954 (= Flechtheim, Bd. 3, Dok. 177, S. 93–123, hier: S. 94). Vgl. auch Willi Eichler auf dem Berliner Parteitag zur Frage »Arbeiter- oder Volkspartei« (Parteitagsprotokoll 1954, S. 160). 191 Der neue Arbeitsausschuss entstand als Unterausschuss des Wirtschaftspolitischen Ausschusses beim Parteivorstand. Vgl. Scheybani, S. 230 f. 192 Vgl. Antrag der Fraktion der SPD betr. Förderung der Mittelschichten v. 13.12.1955 (­BT-Drs. II/1959); Antrag der Fraktion der SPD betr. Bericht über die Lage der Mittelschichten v. 5.12.1958 (BT-Drs. III/712). 193 In dieser Bedeutung tauchte der Begriff »Mittelschichten« schon auf Erfurter Parteitag der SPD im Jahre 1891 auf.

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Sprachgebrauch häufig noch als der »alte Mittelstand« bezeichnet wurden. Den Begriff des »Standes« hielten die Sozialdemokraten für veraltet.194 »Die SPD«, bekundete der Abgeordnete und Leiter des genannten Arbeitsausschusses »Mittelschichten« Erwin Lange 1955 im Bundestag, erkenne »die gesellschafts­ politische und volkswirtschaftliche Bedeutung dieser Selbständigen an, weil neben der ursprünglichen sozialen Frage der Lohnarbeiter und neben der sozialen Frage der Angestelltenschaft […] eine echte soziale Frage auch für diese Mittelschichten und damit für das ganze Volk entstanden« sei.195 Am 10. Juni 1955 veranstaltete die SPD einen großen Mittelschichten-Kongress in Köln, der unter dem Leitwort »Die Mittelschichten in der modernen Gesellschaft« stand. Er sollte der Öffentlichkeit, und insbesondere den mittleren Wählerschichten, zeigen, dass die SPD nicht mehr als »Gegner der selbständig Schaffenden« gelten konnte.196 Mit dem Ziel, in den Kreisen der selbständigen Mittelschicht, aber auch bei den Angestellten mehrheitsfähig werden zu wollen, waren wohlfahrtsstaatliche Konzepte nicht vereinbar, die auf eine Vereinheitlichung und »Nivellierung« der sozialen Leistungen hinwirkten: Wie Meinungsumfragen zeigten, wollte die Mehrheit der Arbeitnehmer das bestehende Sozialversicherungssystem nicht gegen eine egalitäre Staatsbürgerversorgung – etwa nach britischem Modell – eintauschen, vorausgesetzt, es träten Leistungsverbesserungen ein.197 Vor allem die Angestellten pochten auf ihre Privilegien und lehnten eine Vereinheitlichung strikt ab.198 Aber auch große Teile der Arbeiterschaft, zumal die besser verdienenden Facharbeiter, waren kaum noch an der Einführung einer »Einheitsversicherung«, geschweige denn an einer »Einheitsrente« interessiert. Dank der verbesserten Einkommenssituation im Zuge des einsetzenden Wirtschafts194 Vgl. Lange (SPD) am 16.12.1955 im BT (Sten. Ber., Bd. 27, S. 6463): »[…] einen anderen Hilfsbegriff, den wir Sozialdemokraten seit Jahr und Tag benutzen […], nämlich den Begriff der Mittelschichten. Dieser Begriff ist nicht ständisch abgegrenzt und entspricht den soziologischen Gegebenheiten weit besser als der Begriff des Standes oder auch der des Berufsstandes«. 195 Sten. Ber., Bd. 27, S. 6465. 196 Vgl. SPD, Die Mittelschichten in der modernen Gesellschaft (Tagungsbericht). Vgl. auch Berichterstattung in der Presse: SPD bricht Lanze für die Mittelschichten, in: Wiesbadener Kurier, 11.6.1956; SPD schützt selbständig Schaffende, in: Frankfurter Rundschau, 11.6.1956; Freiheit und Gerechtigkeit für die Mittelschichten. Ein SPD-Kongress in Köln, in: Stuttgarter Zeitung, 12.6.1956; SPD präzisiert klar ihre grundsätzliche Mittelstandspolitik, in: Badische Allgemeine Zeitung, 12.6 1956. Die Artikel sind gesammelt in: BA, B 135/132. 197 Vgl. Friedeburg u. Weltz, S. 67; Die Rentenreform in der öffentlichen Meinung (Umfrage des EMNID-Instituts für Meinungsforschung), in: Bulletin Nr. 214 (Sozialpolitische Mitteilungen), 14.11.1956, S. 2055. 198 Das machten insbesondere die Ergebnisse der Sozialwahl im Mai 1953 deutlich, bei denen die DAG, die mit der Parole der Beibehaltung und Ausgestaltung der gegliederten Sozialversicherung ins Wahlrennen gegangen war, mit 53,7 Prozent die absolute Mehrheit der Stimmen erreichte. Vgl. dazu Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 146.

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aufschwungs erschien eine vom Lohn losgelöste »Einheitsrente« vielen Arbeitnehmern nicht mehr als vorteilhaft.199 Es bestand die Erwartung, dass sich die steigenden Löhne aufgrund des Äquivalenzprinzips in Zukunft positiv auf die Höhe der Renten auswirken würden.200 Mit der Bekanntgabe der »Grundlagen des sozialen Gesamtplanes« auf dem Dortmunder Parteitag 1952 machten die Sozialdemokraten den ersten bedeutenden Schritt in Richtung einer Neuorientierung ihrer Sozialpolitik.201 Der Grundlagenplan stellte klar, dass die SPD »weder eine ›Eintopf­versicherung‹ noch eine bürokratische ›Staatsversorgung‹« anstrebe.202 Stattdessen wurde vorgeschlagen, die soziale Rentenversicherung für alle Arbeitnehmer zu öffnen. Darüber hinaus empfahl der Grundlagenplan, die Selbständigen in die bestehenden Systeme zu integrieren, da sie »in ähnlicher Sorge vor einer ungesicherten Zukunft« lebten wie die Arbeiter und Angestellten. Insgesamt näherte sich die SPD mit ihren Reformplänen bis Anfang 1956 überraschend weit den Positionen der Regierung an; Übereinstimmungen gab es vor allem mit den Reformvorstellungen des Bundesarbeitsministeriums.203 Bereits im Grundlagenplan hatten die Sozialdemokraten die Sicherung der Kaufkraft der Rente und die Teilhabe der Rentner an der Steigerung des Sozial­ produkts gefordert. Die soziale Rentenversicherung sollte so aufgebaut sein, dass sie dem Rentner nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben ein ausreichendes Einkommen sicherte. Das »reine« Versicherungsprinzip wurde dabei zunächst als undurchführbar angesehen. Stattdessen sollten die Renten durch einen sozialen Ausgleich aufgebessert werden: Zu einer Grundrente aus allgemeinen Mitteln sollte als Eigenleistung eine Zusatzrente auf Grund von eigenen Beitragszahlungen und Sozialabgaben treten. Im Verlauf des Jahres 1956 ging die SPD-Führung dann jedoch dazu über, das versicherte Arbeitsentgelt des gesamten Arbeitslebens und die Berücksichtigung der Versicherungsdauer zur maßgeblichen Grundlage für die künftige Rentenberechnung zu erklären.204 Dabei dürften vor allem die populären Entscheidungen im »Beirat zur Neu­ordnung der sozialen Leistungen« beim Bundesarbeitsministerium und im Sozialkabinett der Bundesregierung zur »dynamischen Leistungsrente« die 199 Vgl. auch Argumentation des SPD-Sozialexperten Schellenberg gegen die »Einheitsrente«: Schellenberg, S. 21. Vgl. dazu auch Berlepsch, S. 478 f. 200 Nach Berechnungen des DIW waren die Nettolohn- und Gehaltseinkommen allein zwischen 1951 und 1953 um 22 Prozent gestiegen. Vgl. Bericht über die Einkommensentwicklung in den letzten Jahren, in: Der Arbeitgeber 5 (1953), S. 793 f. 201 Bereits ein Jahr zuvor waren die entsprechenden »Grundsätze zur sozialen Sicherung« im sozialpolitischen Ausschuss beim Parteivorstand verhandelt worden. Vgl. undatierte Hekto­graphie des Protokolls über die Sitzung des sozialpolitischen Ausschusses beim sozialdemokratischen Parteivorstand am 17.–18.11.1951 (BA, B 149/395). 202 Grundlagen des sozialen Gesamtplanes der SPD (Richter, Sozialreform, G II 1, S. 5). Vgl. auch Preller, Der Sozialplan. 203 Vgl. die Kabinettsvorlage »Grundgedanken zur Gesamtreform der sozialen Leistungen« des Bundesministers für Arbeit v. 7.4.1955. 204 Vgl. Sozialplan für Deutschland – Leitsätze (Richter, Sozialreform, G II 3, S. 23 f.).

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SPD-Führung dazu bewogen haben, auf diesen Kurs einzuschwenken.205 Mit dem Verzicht auf feste Rentenbestandteile, der schließlich im Gesetzentwurf der SPD-Fraktion zur Reform der Rentenversicherung vom April 1956 festgeschrieben wurde, rückten die Sozialdemokraten schließlich endgültig von ihren ursprünglichen Standpunkten ab.206 Die neue Rentenformel folgte dem Prinzip, nach dem die Rente die Beitrags- und damit die Arbeitsleistung des Einzelnen widerspiegeln sollte. Ein sozialer Ausgleich ließ sich unter diesen Umständen nur noch begrenzt realisieren – so beispielsweise durch die Bezuschussung der Rentenversicherung aus Bundes- und damit Steuermitteln.207 Doch schien diese Politik dem zu entsprechen, was von der Mehrheit der Bevölkerung als »sozial gerecht« empfunden wurde. In einer Umfrage des ­EMNID-Instituts für Meinungsforschung, die vom Bundesarbeitsministerium in Auftrag gegeben worden war, sprachen sich 1956 63 Prozent der Befragten für eine beitragsgerechte Rente aus208 und damit für ein Leistungssystem, das die Aufrechterhaltung des eigenen, gestiegenen Lebensstandards garantierte. Die Annäherung der sozialdemokratischen Partei an eine bürgerliche und damit in den fünfziger Jahren mehrheitsfähige Sozial- und Rentenpolitik war insoweit auch eine Anpassung an die soziale Wirklichkeit in der Bundesrepublik, in der »Lebensstandard und Einkommensbildung den Trend nach einer mittleren Linie« aufzeigten.209 Sie bedeutete zugleich eine Distanzierung von den sozialreformerischen (Zwangs-) Maßnahmen im Ostteil Deutschlands. Die SPD war insgesamt in den 1950er Jahren darauf bedacht, sich von der Sozialpolitik in der DDR abzugrenzen. Insbesondere musste sie sich gegen den immer wieder von Regierungsseite erhobenen Vorwurf wappnen, sie betreibe den »Versorgungsstaat« und erstrebe eine Gesellschaftsordnung, in der dem Einzelnen die Verantwortung für sich und seine Familie vom Staat abgenommen werde.210 Ein 205 Vgl. Ergebnisse der Arbeitstagung des Beirats für die Neuordnung der sozialen Leistungen v. 2.–4.6.1955 in Königswinter (abgedruckt in: BABl. 6 (1955), S.  539–542) bzw. v. 6.–7.3.1956 in Bonn (abgedruckt in: BABl. 7 (1956), S. 234–235); Ergebnisse der Sitzungen des Sozialkabinetts v. 13.12.1955 sowie 17.1. u. 18.2.1956 (abgedruckt in: Bulletin Nr. 15, 21.1.1956, S. 117 bzw. Nr. 35, 21.2.1956, S. 297. 206 Vgl. BT-Drs. II/2314 v. 17.04.1956. Vgl. dazu auch S. 94 ff. 207 Vgl. Sozialplan für Deutschland – Gesamtüberblick (Richter, Sozialreform, G II 4, S. 50). 208 Vgl. Zusammenfassung der Umfrageergebnisse in: Bulletin Nr. 214 (Sozialpolitische Mitteilungen), 14.11.1956, S. 2055. Ausführliche Darlegung der Ergebnisse in: BA, B 136/758. Vgl. auch Schreiben des Deutschen Rentnerbundes an die Fraktionen im Deutschen Bundestag v. 10.10.1956, in dem sich der Rentnerbund »gegen Gleichmacherei« und für eine »automatische Leistungsrente« stark machte (Abschrift in: BA, B 136/758): »Wer es im Leben zu etwas gebracht hat, der soll auch die Früchte seines Fleisses und seiner Intelligenz geniessen«. 209 Die soziale Wirklichkeit in der Bundesrepublik (Vortrag des Abg. Otto Lenz auf einer Veranstaltung der »Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise« in Bad Godesberg), in: Bulletin Nr. 196, 17.10.1956, S. 1869–1872. Vgl. dazu auch Narr, S. 209 ff. 210 Vgl. entsprechende Vorwürfe in der Staatssekretär-Vorlage des Ref. 7 des BK v. 14.5.1955 (BA, B 136/1380).

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wirksames Mittel zur Abwehr solcher Behauptungen war das klare Bekenntnis zum Versicherungsprinzip und zur Verankerung des Leistungsgedankens im System der sozialen Sicherung. Auch so ist die Positionierung der SPD in der Rentendebatte zu erklären. Ein »sozialistisches Leitbild« lässt sich insgesamt in den Reformplänen der SPD zur Rentenversicherung 1956/57 nicht mehr ausmachen. Die Vereinheitlichungsbestrebungen beschränkten sich auf die einheitliche Ausgestaltung des Leistungsrechts für alle Arbeitnehmer. Die Leistungen selbst sollten weder für alle gleich sein, noch wurde die Forderung aufrechterhalten, dass alle Gesellschaftsschichten sich an der Aufbringung beteiligen sollten. Der Kampf für einen Ausbau der sozialen Sicherung wurde auch nicht mehr gegen das »kapitalistische System« geführt, sondern unter Zuhilfenahme der bereitstehenden wirtschaft­lichen Möglichkeiten. 3.3 Keine Klassenpolitik mehr: Experten-Wissen und Experten-Steuerung Die korporative Einbindung von Sachverständigen und Sozialexperten in Gesetzgebung und Exekutive war ein typisches Merkmal der frühen Bundes­ republik, die damit der Tradition der Weimarer Republik folgte.211 In den Entscheidungszentren und Verwaltungen des »Bonner Sozialstaats« kam es in den Nachkriegsjahren und -jahr­zehnten, nach Lutz Raphael, zu einem regelrechten »Verwissenschaftlichungsschub«. Die Ministerien versuchten bis in die 1970er Jahre, ihre Fachkompetenz unter Beweis zu stellen, indem sie vermehrt wissenschaftliche Experten einstellten bzw. Forschungsaufträge vergaben oder enge Verbindungen zu Forschungsinstituten herstellten.212 Die Wissenschaftler ihrerseits vertraten den Anspruch, die »großen Leitgedanken« für den künftigen »Sozialplan« zu liefern, wie dies der Kieler Soziologe Gerhard Mackenroth 1952 in einem Vortrag vor dem »Verein für Socialpolitik« formulierte.213 Nachfolgend werden die für die Reformdebatte zentralen Beiträge von Experten aus der Wissenschaft analysiert. Welchen Einfluss übten die wissenschaftlichen Experten auf die »mittelschichtorientierten« Planungen zur Sozial- und Rentenreform aus? Inwieweit arbeiteten Wissenschaft und Praxis zusammen? Welche Zu­sammenhänge bestanden zwischen dem spezifischen Expertenwissen und den sozialpolitischen Leitbildern der Akteure? Der erwähnte Vortrag von Gerhard Mackenroth vor dem »Verein für Socialpolitik« am 19. April 1952 mit dem Titel: »Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan«214 wurde im Nachhinein häufig als Beginn der 211 Vgl. dazu Raphael, Experten, S. 234 ff. 212 Ebd., S. 244 f. Vgl. dazu auch Krevert, Funktionswandel, S. 64 ff. 213 Vgl. Mackenroth, Reform der Sozialpolitik, S. 72; Raphael, Experten, S. 248. 214 Mackenroth, Reform der Sozialpolitik.

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Sozialreform-Diskussion bezeichnet.215 Zur Berühmtheit gelangte er aufgrund der kreislauftheoretischen Argumentation, mit der Mackenroth die notwendige »Verzahnung der Sozialpolitik mit dem volkswirtschaftlichen Kreislauf« sowie die Erfassung allen »Sozialaufwands« in einem Sozialbudget begründete: »Nun gilt der einfache und klare Satz, dass aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden muß«.216 Dieser später als »Mackenroth-These« bezeichnete Grundsatz spielte eine zentrale Rolle bei der politischen Auseinandersetzung um den Übergang vom Kapitaldeckungs- zum Umlageverfahren in der Rentenversicherung. Große Beachtung erfuhren auch seine Aussagen zum Verhältnis von sozialer Sicherung und dem Wandel der Sozialstruktur. Mackenroth erklärte, dass die klassische Konzeption von Sozialpolitik, nach der »eine sozial schwache ›Arbeiterklasse‹ gestützt werden müsse«, »heute überholt« sei.217 Eine »›Arbeiterklasse‹ in dem alten Sinne« gebe es nicht mehr; die Arbeiterschaft sei »in sich mindestens ebenso differenziert wie der frühere Mittelstand«. »Die Facharbeiterschaft«, so Mackenroth, sei heute »eine der besten gesicherten Gruppen im wirtschaftlichen Kreislauf«.218 Während die Arbeiterschaft ihre Position gefestigt habe, seien »ganz andere Schichten, die früher gesichert schienen, heute notleidend geworden oder gefährdet«. Als Beispiel führte Mackenroth die »soziale Schichtfestigkeit von Familien« an, die in der Generationenfolge geringer geworden sei. Besitz und Eigentum könnten heute nicht mehr die Soziallage einer Familie über Generationen sichern. Dementsprechend seien »die Auf­gaben der Sozial­ politik heute nicht mehr schichtspezifisch, sondern qualitativ ›total‹ geworden und damit auch quantitativ« gewachsen. Mackenroth folgerte, dass die Sozialpolitik nicht mehr als »Randerscheinung«, sondern als »integrierender Bestandteil« des wirtschaftlichen Kreislaufes und des Gesellschafts­aufbaus gesehen werden müsse; sie sei mit beiden durch vielseitige Wechselwirkungen verbunden.219 Diese Konzeption, nach der Sozialpolitik weder Klassen- noch Arbeiter­ politik mehr war, stützte umfassend die sozialen Ordnungsvorstellungen der Regierung. Sie stimmte mit der Einschätzung des Bundeskanzlers überein, dass »weite Schichten der Bevölkerung«, die der Mittelklasse angehörten, »der Sorge des Staates« bedurften.220 Sie lieferte außerdem eine Begründung dafür, warum der Ausbau des Sicherungssystems erstens überhaupt notwendig war, und warum 215 Vgl. Achinger, Sozialpolitik und Wissenschaft, S. 80. Tatsächlich lag der Vortrag zeitlich später als der Antrag der SPD-Fraktion im Bundestag zur Einrichtung einer sozialen Studienkommission, der den eigentlichen Auftakt der Reformdebatte markierte, vgl. BT-Drs. I/3024 v. 21.2.1952. 216 Mackenroth, Reform der Sozialpolitik, S. 41. – Die »Mackenroth-These« wurde allerdings nahezu wortgleich bereits 1939/40 in Schriften des Arbeitswissenschaftlichen Instituts der DAF publiziert. Vgl. Schmähl, Systemänderung, S. 72, 214; ders., Über den Satz. 217 Mackenroth, Reform der Sozialpolitik, S. 40. 218 Ebd. 219 Ebd. 220 Regierungserklärung Adenauers v. 29.10.1957 (Sten. Ber., Bd. 39, S. 19).

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er, zweitens, quer zu den so­zialen Schichten erfolgte und sich nicht mehr an den Bedürfnissen der ökonomisch schwächsten Schichten orientieren sollte. Aus Mackenroths wissenschaftlicher Arbeit leiteten sich zahlreiche Impulse und Leitgedanken für die praktische Politik ab, welche die Grundlage für zentrale Entscheidungen im Reformprozess bildeten.221 Seine »umfassende Darstellung der sozialen Leistungen« bot einen Ansatz, um soziale Tatsachen und soziale Politik »unabhängig von der gängigen Verwaltungsnomenklatur zu begreifen und in ihrem Effekt zu beurteilen«.222 Der zweite Experte von wissenschaftlicher Seite, der wichtige Grundlagen für die Reformpläne lieferte, war Walter Bogs, Professor für Arbeits- und Sozialrecht an der Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven. Bogs, der auch Mitglied des »Sachverständigenbeirats für die Neuordnung der sozialen Leistungen« beim Bundesarbeitsministerium war, wurde Anfang 1953, noch bevor der Beirat überhaupt seine Arbeit aufgenommen hatte, vom Bundesarbeitsministerium damit beauftragt, ein umfassendes Gutachten über »Die gegenwärtige Lage der Sozialversicherung« zu verfassen.223 Im April 1954 abgeschlossen, wurde dieses Gutachten dem Beirat als Diskussionsgrundlage vorgelegt.224 Als Leitschnur für die Neuordnung der Rentenversicherung diente darin der Versicherungsgedanke; allerdings wurde eine »allgemeine schematische Übertragung der Prinzipien der Individualversicherung auf die Sozialversicherung« aus sozialen Gründen abgelehnt. Indessen wurde vorgeschlagen, »zur Aktivierung des Gedankens der Selbsthilfe und der Selbstverantwortung« die Rentenhöhe stärker von der Beitragshöhe und der Beitragsdauer abhängig zu machen; idealerweise sollte die Rente künftig allein aus Steigerungs­beträgen bestehen.225 Zentral war der im Gutachten vertretene Gedanke, dass die Höhe der Rente »laufend oder in gewissen kürzeren Abschnitten« »einem erhöhten Lebensstandard« angepasst werden müsse.226 Bogs stellte sich damit auf die Seite der Befürworter einer »Lohnrente«. Die Vorschläge von Walter Bogs fanden einen bedeutenden Niederschlag in den »Grundgedanken« des Arbeits­ ministers »zur Gesamtreform der sozialen Leistungen« vom April 1955.227 221 Vgl. z. B. seine Untersuchung zur Verflechtung der sozialen Leistungen: Mackenroth, Verflechtungen der Sozialleistungen. 222 So Achinger, Sozialpolitik und Wissenschaft, S. 80 f. 223 Den Auftrag dazu erteilte Kurt Jantz, der gerade neu die Leitung des erst im Februar 1953 gegründeten »Generalreferats für die Reform der Sozialversicherung« im BMA übernommen hatte. Seine Aufgabe war es, die Reformplanungen des BMA, die bisher kaum gediehen waren, voranzutreiben. Vgl. dazu ausführlich Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen S. 231 ff. 224 Aprilfassung des Gutachtens (BA, B 136/1782). In Buchform wurde das Gutachten mit einigen (nicht gekennzeichneten) Änderungen publiziert als Bogs, Grundfragen. 225 Vgl. Schewe, Vorschläge. Vgl. auch Schmähl, Sicherung bei Alter, S. 394 ff. 226 Vgl. Bogs, Grundfragen, S. 129 f. 227 Vgl. Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 261. (Die »Grundgedanken« sind abgedruckt bei: Richter, Sozialreform, B III 1).

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Wie wichtig der Regierung die Meinung und Unterstützung von professoraler Seite war, zeigt ein weiteres Gutachten, das Anfang 1955 vom Bundeskanzler »strengvertraulich« bei den Professoren Hans Achinger, Joseph Höffner, Hans Muthesius und Ludwig Neundörfer in Auftrag gegeben wurde.228 Adenauer wollte damit die stockenden Arbeiten an der Reform durch Impulse von außen und mit Hilfe der Autorität von ausgewiesenen Experten voranbringen. Die als »Rothenfelser Denkschrift« nach dem Ort der Entstehung, der Burg ­Rothenfels, bekannt gewordene Schrift wurde innerhalb weniger Wochen in intensiver Klausur erstellt und am 22. Mai 1955 dem Bundeskanzler übergeben.229 Dieser veranlasste eine umgehende Veröffentlichung in hoher Auflage, die unter dem Titel »Neuordnung der sozialen Leistungen« erschien.230 In der ersten Junihälfte 1955 wurde die Denkschrift in Buchform an alle Parlamentarier, an die Presse sowie an alle unmittelbar und mittelbar beteiligten Verbände und sozialpolitisch Interessierte verteilt. Die »Rothenfelser Denkschrift« war ähnlich breit angelegt wie das BogsGutachten, enthielt jedoch andere Schwerpunkte. In ihrem ersten Teil  wurde der »Wandel und Stand der Lebensverhältnisse« beschrieben. Nach einer sozialstrukturellen Bestands­aufnahme und der Feststellung, dass der Anteil der Sozial­ versicherten an der Gesamtbevölkerung beträchtlich gestiegen sei – »Breiteste Kreise haben sich daran gewöhnt, auf die freie Disposition über Teile des ihnen zukommenden Einkommens zu verzichten, um im Falle von Krankheit, Invalidität und im Alter sowohl gewisse Sachleistungen […] als auch bestimmte Geldleistungen zur Bestreitung des Lebensunterhaltes garantiert zu haben«231 –, erörterte die Denkschrift die theoretischen Prinzipien der sozialen Sicherung (»Solidarität« und »Subsidiarität«) sowie die Interdependenz von Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik. In einem zweiten Teil folgten praktische Vorschläge für eine Sozialleistungsreform, wobei alle »allgemeinen Lebenstatbestände, die die gesellschaftliche Einwirkung bedingen«, einbezogen wurden.232 Der dritte Teil zeigte den Weg zu einem einheitlichen sozialen Gesetzeswerk (»code social«) auf, indem er Hinweise zu dessen Vorbereitung und Gliederung gab. Die Denkschrift schlug einschneidende institutionelle Veränderungen vor. Sie stellte das Ziel auf, künftig »für einen Tatbestand grundsätzlich nur eine 228 Vgl. Schreiben des Bundeskanzlers an Achinger, Höffner, Muthesius und Neundörfer v. 25.2.1955 (BA, B 136/1381). Diesem Beauftragungsschreiben waren Sondierungen vorausgegangen, die in den Dezember 1954 zurückreichten. Zum Entstehungsprozess ausführlich auch Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 279 ff. 229 Vgl. Schreiben von Achinger, Höffner, Muthesius und Neundörfer an den Bundeskanzler v. 22.5.1955 (BA, B 136/1381). 230 Vgl. Vertragsentwurf des Greven Verlags Köln über die Verlegung des Werks »Neuordnung der sozialen Leistungen« v. 4.6.1955 (BA, B 136/1381). 231 Achinger u. a., Neuordnung, S. 9 f. 232 Darunter Jugend, Krankheit und Invalidität, Arbeitslosigkeit, Tod des Ernährers und Alter. Vgl. ebd., S. 49. Zum Inhalt der Denkschrift vgl. auch Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 291 ff.

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Leistung durch einen verantwortlichen Träger« zu gewähren.233 Darüber hinaus sah sie gemäß dem Prinzip der »Subsidiarität« die (Rück-) Verlagerung von Aufgaben und Kompetenzen vom Staat nach »unten«, d. h. an die Gemeinden, die Betriebe, aber auch an den Einzelnen und den Familienhaushalt vor. Der Wille zur Selbsthilfe sollte durch steuerliche Vergünstigungen Anreize erhalten; weiter sollten »alle Möglichkeiten der Selbsthilfe, die außerhalb des Gelderwerbs den Lebensstandard zu sichern vermögen (Eigentumswohnung, Landbau zur Eigenversorgung, währungsbeständiges Sparen) weiter ausgebaut werden«.234 Die unmittelbaren Versorgungsleistungen des Staates waren in Zukunft enger zu begrenzen. Die Denkschrift stieß in der Tagespresse auf positive Resonanz235, und auch führende Sozialpolitiker der SPD zollten ihr Anerkennung.236 Damit war bereits ein wichtiger Zweck der Denkschrift erfüllt: Sie ermöglichte eine publizistische Offensive, die dem Eindruck sozialpolitischer Immobilität der Regierung, zumal der maßgeblichen Regierungspartei, entgegenwirkte. Im Kanzleramt zeigte man sich zufrieden mit den in der Denkschrift enthaltenen »Gedankengängen« und Anregungen und betrachtete sie als wichtige Beratungsgrundlage.237 Weitere wichtige Impulse lieferte die als Schreiberplan bekannt gewordene Denkschrift »Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft« des Bonner Volkswirtschaftsdozenten Wilfried Schreiber. Schreiber, der zugleich auch Geschäftsführer des Bundes Katholischer Unternehmer (BKU) war, veröffentlichte seine Vorschläge im Juli 1955 in der Schriftenreihe des BKU.238 Dank der Förderung des Bundeskanzlers rückten sie schnell ins Zentrum des allgemeinen Interesses.239 Der Kern des Schreiberplans war eine neuartige Rentenbemessungsformel, welche die Rente automatisch mit der Entwicklung des Lebensstandards der Erwerbstätigen verbinden und zugleich Geldwertänderungen auffangen sollte. Er empfahl außerdem die Abkehr vom Kapitaldeckungsverfahren und den Übergang zu einen »Solidar-Vertrag zwischen jeweils zwei Generationen«, bei der die aktive Generation das jährliche Beitragsaufkommen jeweils voll 233 Achinger u. a., Neuordnung, S. 135. 234 Ebd., S. 110 f. 235 Vgl. z. B.: Ein Sozialprogramm für mündige Menschen. Überblick über eine Denkschrift, die Adenauer veranlasste, in: FAZ, 24.6.1955; Wachsendes Interesse an der geplanten Sozialreform  – Kritische Erörterung des Professorengutachtens, in: Westfälische Zeitung, 16.7.1955 (auch abgedruckt in: Westfälische Zeitung, Die Sozialreform, S. 5–11). 236 Vgl. Auerbach, Vier Professoren, S. 258; rückblickend auch Preller, Praxis, Bd. 2, S. 561. 237 Vgl. Staatssekretär-Vorlage des Ref. 7 des BK betr. Denkschrift zur Sozialreform [o. Datum] (BA, B 136/1381). 238 Schreiber, Existenzsicherheit. 239 Adenauer erlangte durch seinen Sohn Kenntnis von Schreibers Schrift. Im August 1955 ließ Adenauer dem Kanzleramt sein »besonderes Interesse« an dem Reform-Plan mitteilen. Das sozialpolitische Ref. des BK fand den Schreiber-Plan ebenfalls »sehr beachtlich« und führte ihn in die Beratungen des Interministeriellen Ausschusses ein. Vgl. Schreiben Paul Adenauers an den Leiter des Ref. 7 des BK v. 26.8.1955 (BA, B 136/1384); Schreiben des Ref. 7 an die Mitglieder des Interministeriellen Ausschusses v. 30.8.1955 (BA, B 136/1384).

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an die vorhandenen Rentner weitergeben sollte. Drittens sah der Plan vor, alle Empfänger von Arbeitseinkommen (selbständig oder unselbständig Erwerbstätige) zu verpflichten, in die »Rentenkasse des deutschen Volkes« einzuzahlen.240 Während Schreibers Ideen wegen ihrer vermeintlich egalitären Tendenzen von Unternehmerseite heftig bekämpft wurden,241 fielen sie im Bundesarbeitministerium und im Kanzleramt auf fruchtbaren Boden. Mit seinem Plan trug Schreiber maßgeblich zum Durchbruch der »dynamischen Rente« bei.242 Die kurze Analyse macht deutlich, dass die wissenschaftlichen Experten »an dem gewundenen Weg zur Dynamisierung der Renten an hervorragender Stelle beteiligt« waren.243 Wenngleich der Weg von diesen »punktuellen Experteninterventionen«244 bis hin zur Verabschiedung des Gesetzes noch weit war, erwies sich die wissenschaftliche Expertise dennoch für die Entwicklung von neuartigen, den Reformprozess voranbringenden Gestaltungsvorschlägen als wichtig. Das galt insbesondere für das Konzept der dynamischen lohngerechten Rente. Besonderen Einfluss gewannen die wissenschaftlichen Stellungnahmen außerdem auf die sozialpolitischen Leitbilder der politischen Akteure, allen voran des Bundeskanzlers. Die Bundesregierung übernahm das von den wissenschaftlichen Experten gezeichnete Bild der sozialen Wirklichkeit und der sozialstrukturellen Veränderungen seit Ende des Krieges und legte es ihren Reformplänen zugrunde.

4. Die Rentenreform 1957: Entstehung, Bedeutung und Folgen Der parlamentarische Entscheidungsprozess zur Rentenreform kam in der ersten Jahreshälfte 1956 ins Rollen. Zuerst reichte die Bundestagsfraktion der SPD am 17.  April 1956 ihren »Entwurf eines Gesetzes über die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten« beim Bundestagspräsidium ein.245 Keine 48 Stunden später übergab Minister Storch der Presse den »Grund240 Zu den Besonderheiten des Schreiber-Plans vgl. auch Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S.  311 ff.; Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd.  3, S.  400 ff. Außerdem: Auerbach, Übereinstimmung; Hensen, Thema. 241 Vgl.: Zu einem Vorschlag zur Umgestaltung der sozialen Rentenversicherung, in: Der Arbeitgeber 7 (1955), S. 699–703; Osthold, Jahr der Entscheidung, S. 2; ders., Produktivitätsrente, S.  106. Vgl. auch: Katholischer Unternehmer für Kindheitsrenten und allgemeine Staatsbürgerversorgung, in: »Industriekurier«, 27.8.1955. 242 Am 13.12.1955 wurde Schreiber ins Sozialkabinett eingeladen und hielt dort einen Vortrag. Vgl. Kurzprotokoll über die 6.  Sitzung des Sozialkabinetts (Kabinettsprotokolle, Ministerausschuss für die Sozialreform, S.  127–135); Wilfried Schreiber: Memorandum zur Ergänzung meines Referats vor dem Ministerausschuss für die Sozialreform (BA, B 136/1384). Vgl. dazu auch Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S.  312 f.; 316 ff. 243 So Raphael, Experten, S. 252. 244 Ebd. 245 BT-Drs. II/2314.

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entwurf« des Bundesarbeitsministeriums für eine Neuregelung der Renten­ versicherung. Nach einiger Verzögerung passierte die Vorlage des Arbeitsministers am 23. Mai das Kabinett.246 Am 5. Juni schließlich ging der Gesetzentwurf der Regierung dem Bundestag zu.247 Dieser beriet am 27. Juni 1956 in Erster Lesung über den Regierungsentwurf und überwies ihn anschließend an den Sozialpolitischen Ausschuss.248 Mit Hilfe einer Anhörung, zu der er die Vertreter der wichtigsten Verbände sowie weitere Akteure der Rentenreformdebatte einlud, verschaffte sich der Sozialpolitische Ausschuss Anfang September einen Überblick über die verschiedenen Meinungen und Interessen sowie über die Widerstände gegen die geplante Rentenneuregelung.249 Auf dieser Grundlage wurde sodann über die einzelnen Vorschriften verhandelt.250 Die wichtigsten Etappen und Auseinandersetzungen bei der Realisierung der Reformpläne sind von Hans Günter Hockerts ausführlich beschrieben und er­örtert worden.251 Im Folgenden wird daher darauf verzichtet, den Entscheidungsablauf im Einzelnen erneut nachzuzeichnen. Stattdessen wer­den die zentralen Streitpunkte und Argumente bei den Beratungen im Ausschuss und im Plenum des Bundestages analysiert und dabei auch der Einfluss von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und anderen Interessengruppen erörtert. Es wird untersucht, welche Reformprinzipien sich durchsetzen konnten und welche sozialen Folgen sich daraus ableiteten. Im Mittelpunkt steht die Frage, inwieweit Interessen bestimmter sozialökonomischer Gruppen oder sozialer Schichten besonders berück­sichtigt wurden. 4.1 Zwischen Restauration und Erneuerung: Zentrale Streitpunkte 4.1.1 Eigenständigkeit der Angestelltenversicherung Sowohl der Regierungsentwurf als auch der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion sah eine Angleichung der rechtlichen Regelungen in der Rentenver­siche­rung der Arbeiter und der Angestellten vor. Die Berechnung der Arbeiter- und An246 Vgl. Jantz, Zum Grundentwurf; Ministervorlage v. 14.5.1956 (BA, B 149/442 bzw. B 136/755). 247 Gesetzentwurf zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten (BT-Drs. II/2437). 248 Anfang Mai war bereits der Gesetzentwurf der SPD nach kurzer Beratung an den Ausschuss weitergeleitet worden. Vgl. Sten. Ber., Bd. 31, S. 8334–8385 bzw. Bd. 29, S. ­7563–7573. 249 Am 5.9.1956 wurden die Vertreter der Gewerkschaften (Lepinski u. Killat (DGB) sowie Günther u. Diller (DAG)), des BDA (Erdmann u. Spielgelhalter) und der VDR (Liebing) vor dem Ausschuss gehört; am 14.9.1956 folgten die Vertreter des wissenschaftlichen Beirats beim BMW (v. Beckenrath), der Bank deutscher Länder (Vocke) und der Deutschen Gesellschaft für Versicherungsmathematik (Heubeck). Vgl. Protokolle der 93., 99., u. 102. Sitzung des AfSP (PA, II/356 A, Bd. 2 u. 6) sowie die schriftlichen Stellungnahmen (PA, II/356 A, Bd. 3). 250 Vgl. Kurzprotokolle der 93.–135. Sitzung des AfSP (PA, II/356 A, Bd. 2 u. 5). 251 Vgl. Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 320 ff.

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gestelltenrenten sollte künftig einheitlich, d. h. unter Zugrundelegung der gleichen Rentenformel, erfolgen. In beiden Gesetzentwürfen wurden zudem die bisherigen Begriffe der »Invalidität« bzw. »Berufsunfähigkeit« neu gefasst, und bei der Witwenrente wurde gleiches Recht für Arbeiter und Angestellte geschaffen.252 Im weiteren Verlauf der Verhandlungen ließ man den arbeitertypischen Begriff der »Invalidität« sogar ganz fallen und führte stattdessen in beiden Versicherungszweigen eine Unterscheidung zwischen »Berufsunfähigkeit« und »Erwerbsunfähigkeit« ein.253 Als Beurteilungsmaßstab sollte die Fähigkeit zum Erwerb eines Einkommens dienen.254 Die deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG) als vehementer Verfechter eines eigenständigen Angestelltenrechts protestierte gegen die angebliche Verschlechterung des Berufsun­f ähigkeitsbegriffs für die Angestellten; sie blieb jedoch ohne Erfolg.255 Die Bestrebungen zur Vereinheitlichung von Arbeiter- und Angestellten­ versicherungsrecht wurden zunächst auch dadurch hervorgehoben, dass von der SPD ebenso wie von der Regierung nur ein Gesetz zur Neuregelung beider Versicherungszweige vorgelegt worden war. Allerdings äußerte die Unionsfraktion bereits zu Beginn der Beratungen den Wunsch, der Eigenständigkeit der Angestelltenversicherung auch durch ein eigenes Renten-Neuregelungs­gesetz Ausdruck zu verleihen.256 Die CDU/CSU-Fraktion legte im Herbst im Sozialpolitischen Ausschuss einen entsprechenden Gesetzentwurf vor, der die Bestimmungen zur Neu­ regelung der Angestelltenversicherung enthielt. Dieser wies materiell-rechtlich nur wenige Abweichungen vom davon nun getrennten Neuregelungsgesetz für die Arbeiterrentenversicherung auf. Dennoch stellte die Trennung in zwei Gesetze einen Rückschritt dar. Zum einen wurde das Rentenversicherungsrecht dadurch wieder umfangreicher und komplizierter. Zum Zweiten wurde die kaum noch gerechtfertigte sozialrechtliche Unterscheidung von Arbeitern und Angestellten und damit das nach (Berufs-) Klassen differenzierende System der Vorkriegszeit zementiert. 252 Im SVAG war die Witwenrente für Arbeiterfrauen, deren Mann vor dem 1.6.1949 gestorben war, noch an bestimmte Bedingungen, wie das Erreichen einer bestimmten Altersgrenze oder das Vorhandensein von Kindern, geknüpft worden. Vgl. Hockerts, Sozial­ politische Entscheidungen, S. 93. 253 Vgl. Art 1, §§ 1246 u. 1247 ArVNG (BGBl. I, S. 133). 254 Vgl. § 24 des SPD-Entwurfs (BT-Drs. II/2314) bzw. Art. 1, § 1252 des Regierungsentwurfs (BT-Drs. II/2437). Vgl. dazu auch: Gleiche Ziele  – ähnliche Methoden, in: SF 5 (1956), S. 101. 255 Die Reformpläne erweiterten den traditionellen Berufsunfähigkeitsbegriff der Angestelltenversicherung insofern, als sie grundsätzlich alle Tätigkeiten für zumutbar erklärten, für die der Versicherte im Rahmen der Rehabilitation ausgebildet oder umgeschult worden war. Ursprünglich durften dagegen im Angestelltenversicherungsrecht zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit keine ausbildungs- oder berufsfremden Tätigkeiten herangezogen werden. Vgl. dazu Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 91 f., 360. 256 Vgl. Horn (CDU) in der 1.  Beratung des Regierungsentwurfs am 27.6.1956 in BT (Sten. Ber., Bd. 31, S. 8356).

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Erklären lässt sich diese Entscheidung vor allem aus der massiven Einflussnahme der Angestelltenverbände.257 Sie sahen ein eigenes Reformgesetz als Garantie dafür an, dass die Angestelltenversicherung auch in den kommenden Jahren als eigenständiger Versicherungszweig bestehen bliebe.258 Nach Überzeugung der DAG nahmen die »Angestellten in der modernen Gesellschaft«259 noch immer eine Sonderstellung ein.260 Zwar wurde eingeräumt, dass die Grenzen zwischen Arbeitern und Angestellten fließender geworden seien und vielen Arbeitern der Aufstieg in eine Angestelltentätigkeit gelänge. Grundsätzlich aber hielten die DAG-Vertreter an der Vorstellung fest, Arbeiter und Angestellte seien in ihren Bedürfnissen wie auch in ihren Fähigkeiten unterschiedlich und müssten daher unterschiedlich behandelt werden.261 Die Angestelltenversicherung war seit Anfang des 20. Jahrhunderts zugleich Ursache und Ausdruck des Sonderbewusstseins und der Eigenständigkeit der Angestellten gewesen. Sie stellte ein wichtiges Instrument dar, um die bürgerlich orientierten Angestellten äußerlich aus der Masse der lohnabhängigen Schichten herauszuheben. Unter den Angehörigen des »neuen Mittelstands« bildete sich in den zwanziger Jahren ein besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl aus, gleichzeitig aber gab es eine große soziale und berufliche Spannweite zwischen dem »einfachen« und dem »leitenden« Angestellten. Auf die Frage, wer eigentlich Angestellter war und was »Angestellter sein« bedeutete, konnte während der gesamten ersten Jahrhunderthälfte keine befriedigende Antwort gefunden werden.262 Eine wichtige Hilfestellung aber lieferte das Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) von 1911. Auch hier wurde der Angestelltenbegriff nicht definiert, jedoch stellte das AVG einen Katalog verschiedener Angestelltenkategorien auf, die unter die Angestelltenversicherung fallen sollten. Dieser 257 Vgl. Schreiben der verschiedenen Verbände an die Mitglieder des AfSP (PA II/356 B, Bd. 2); DAG-Stellungnahme zu den Entwürfen zur Neuordnung der Rentenversicherung (BA, B 136/769); Schreiben der DAG an das BMA v. 21.6. und 3.8.1956 (BA, B 149/397); Rundbrief der DAG an die Mitglieder des Bundestages v. 9.1.1957, auch dem Bundeskanzler als Anlage zum Schreiben v. 10.1.1957 übersandt (BA, B 136/770). – Vgl. auch: Gegen jede Nivellierung – für Erhaltung und Ausbau der Angestelltenversicherung, in: Der Angestellte 9 (1956), Nr. 5, S. 3; Schneider, Die tödliche Bedrohung, S. 126; ders., Abschaffung des Angestelltenbegriffs. 258 Vgl. Schreiben des CDU-Abg. und Mitglied im Hauptvorstand der DAG Georg Schneider an den Bundeskanzler v. 12.5.1956 (BA, B 136/769). 259 Croner. 260 Vgl. Schreiben des Hauptvorstandes der DAG an den Bundeskanzler v. 23.9.1949 (BA, B 136/6600): »Die Art ihrer [= der Angestellten] Aufgaben und ihrer Leistung in der Wirtschaft und in der Verwaltung, sowie die Eigenart ihrer soziologischen Stellung, bringen es mit sich, dass sie einen bedeutenden Faktor in Gesellschaft und Staat darstellen«. 261 Vgl. »Die Angestellten in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft«, Referat von Fritz Rettig auf dem 5. Gewerkschaftstag der DAG v. 14.–18.9.1954 in Hamburg (Tagungsbericht, S. 49 ff.); Killat, Die Angestellten, S. 300. 262 Vgl. Croner, S.  15 ff. Vgl. dazu auch Kocka u. Prinz, S.  235 f.; Kocka, Die Angestellten, S. 140 f.; Nolte, Ordnung, S. 113 ff.

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Katalog diente in den nachfolgenden Jahren und Jahrzehnten dazu zu beurteilen, ob jemand Angestellter war oder nicht.263 Für die Angestellten war »ihre« Rentenversicherung ein wichtiger Bestandteil ihrer Identität. Gleichzeitig hing von dem Erhalt der Angestelltenversicherung maßgeblich auch das (Weiter-) Bestehen einer starken Angestelltenbewegung ab. Wenn alle Anstrengungen der DAG daher Anfang der fünfziger Jahre darauf zielten, den Gesetzgeber von der Zusammenlegung der Arbeiter- und Angestelltenversicherung abzuhalten, hatte das auch verbandspolitische Hintergründe.264 Die Proteste der DAG fielen vor allem bei der Unionsfraktion auf fruchtbaren Boden.265 Sie profitierte darüber hinaus von ihrem »guten Draht« ins Kanzleramt. Der Kanzler selbst bezeichnete die Beziehungen zur DAG 1953 im CDU-Bundesvorstand als »sehr wertvoll«.266 Er sah in der unabhängigen Angestellten-Gewerkschaft ein Gegengewicht zum Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), dessen Stärke seiner Ansicht nach vor allem der Sozialdemokratie zugute kam.267 Den Vertretern der DAG gelang es mehrfach, persönlich Zugang zum Bundeskanzler zu bekommen.268 Doch auch die SPD zeigte sich für die Anliegen der Angestellten grundsätzlich empfänglich.269 Nach ihrer zweimaligen Niederlage bei den Bundestagswahlen von 1949 und 1953 waren die Sozialdemokraten auf Wählerstimmen außerhalb der Arbeiterschaft angewiesen. Dementsprechend verzichteten sie auf ihre Forderung, die organisatorische Trennung von Arbeiter- und Ange-

263 Vgl. § 1 AVG (Versicherungspflicht). Dazu insb. auch Kocka, Die Angestellten, S. 134 ff.; Schulz, Die Angestellten, S. 29 f., 53 f. 264 Vgl. Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 151; Kocka u. Prinz, S. 239 ff. Vgl. auch: Die Forderungen der DAG zur Sozialversicherung, in: VuV 2 (1948), S. 234. Killat, Angestelltenversicherung, S.  56–60; Deutscher Gewerkschaftsbund, Gewerkschaftsbewegung, S. 517–527. 265 Vgl. z. B. Hahn in den CDU/CSU-Fraktionssitzungen am 26.9.1956 u. 14.1.1957 (Sitzungs­ protokolle 1953–57, Bd. 2, S. 1226 u. 1380). 266 Protokolle des CDU-Bundes­vorstands 1950–53, S. 625. 267 Vgl. Adenauer im Parteivorstand der CDU am 22.5.1953 (Protokolle des CDU-Bundes­ vorstands 1950–53, S. 527 f.). Vgl. auch Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 371. 268 Vgl. Schreiben des Bundeskanzlers an den Bundesminister für Arbeit und den Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag v. 19.7.1956, betr. die Unter­redung mit Vertretern der DAG am 11.7.1956 (BA, B 136/757). Der Bundeskanzler gab dort an, weitgehendes Verständnis für die wesentlichen Anliegen der DAG bekundet zu haben und stellte fest, die Angestelltenschaft wünsche »mit vollem Recht die Beibehaltung eines eigenen ihre Belange regelnden Gesetzes«. – Weitere Treffen zwischen dem Bundeskanzler und der DAG fanden am 17.1.1956 und am 2.10.1957 statt (BA, B 136/6600). Vgl. auch Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 371. 269 Vgl. Schellenberg (SPD) in der 1. Beratung des Regierungsentwurfs am 27.6.1956 im BT (Sten. Ber., Bd. 31, S. 8340). Vgl. auch Bericht über ein Treffen zwischen dem Vorsitzenden der SPD, Erich Ollenhauer, und einigen Referenten des SPD-Parteivorstandes und DAG-Vertretern im August 1956, in: Der Angestellte 9 (1956), Nr. 8, S. 7; Günther, Wirklichkeit.

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stelltenversicherung aufzuheben, und stimmten der Aufrechterhaltung des Angestelltenstatus im Rentenrecht zu. Der lautstarke Protest der Angestellten gegen ihren Statusverlust war nicht nur ein bedeutendes Moment in der rentenpolitischen Debatte der Bundesrepublik, sondern charakterisierte auch den Reformprozess in Frankreich. Vor allem die Gruppe der leitenden Angestellten (»Cadres«) und ihre Berufsorganisation, die »Conféderation Générale des Cadres« (CGC), kämpften Ende der vierziger Jahre für die Anerkennung von Sonderrechten. Dabei beriefen sie sich zusammen mit den Aktionsgruppen des selbständigen Mittelstands auf ihren persönlichen Lebenszuschnitt und die Unvereinbarkeit jeglicher Verstaatlichungstendenzen mit der mittelständischen Lebensauffassung. Wie ihre deutschen Berufskollegen erreichten auch die französischen Angestellten mit Protestaktionen und Interventionen bei der Regierung und den führenden Parteien eine erneute berufsständische Differenzierung innerhalb des Systems der Alterssicherung und die Aufrechterhaltung ihrer eigenen Zusatzversorgung. Sie entzogen sich der »solidarité nationale« und damit auch den vorgesehenen Umverteilungsmaßnahmen.270 4.1.2 Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze? Im SPD- wie auch im Regierungsentwurf war vorgesehen, den Personenkreis durch die Einbeziehung sämtlicher Angestellter in die Versicherungspflicht – d. h. ohne Rücksicht auf die Höhe ihres Einkommens  – zu erweitern. Damit schien sich der Gedanke durchgesetzt zu haben, dass eine unterschiedliche Regelung für Arbeiter und Angestellte durch die weitgehende Angleichung ihrer Lebens- und Arbeitsverhältnisse nicht mehr gerechtfertigt sei. Während die SPD allerdings eine Beitragsbemessungsgrenze von monatlich 1.000  DM vorschlug,271 hielt die Regierung die bisherige Grenze von 750 DM im Monat auch in Zukunft für ausreichend.272 Die Beitragsbemessungsgrenze bezeichnete die Grenze, bis zu der Beiträge in der Rentenversicherung erhoben wurden. Mit Erreichen der Beitragsbemessungsgrenze blieben die Beiträge konstant auch wenn das tatsächliche Einkommen die Bemessungsgrenze überschritt; die über die Grenze hinausgehenden Einkünfte blieben sozialversicherungs­frei. Die Beitragsbemessungsgrenze war doppelt bedeutsam, da sie über den Weg der Rentenformel, welche die Anzahl und die Höhe der geleisteten Beiträge berücksichtigte, gleichzeitig die möglichen Rentenleistungen nach oben hin begrenzte. Eine höhere Beitragsbemessungsgrenze bedeutete somit einerseits höhere Beiträge, zugleich aber auch die Möglichkeit eines höheren Rentenresultats. Die SPD begründete die Heraufsetzung der Beitragsbemessungsgrenze dementsprechend auch damit, dass die Gefahr der »Unterversicherung« der Fach­

270 Vgl. dazu ausführlich Bremme, S. 169 ff.; Baldwin, S. 167 ff.; Palier, S. 112 ff. 271 Vgl. §§ 82 u. 83 des SPD-Entwurfs (BT-Drs. II/2314). 272 Vgl. Jantz, Zum Grundentwurf, S. 726.

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arbeiter und Angestellten dadurch weitgehend vermieden werden könne.273 Auf diese Gefahr hatten vor allem die DGB-Gewerkschaften hingewiesen.274 Bei der CDU hingegen war die Überlegung ausschlaggebend, wonach ein geringerer Höchstbeitrag in der sozialen Rentenversicherung den Beziehern höherer Einkommen mehr Spielraum für eine mögliche private Zusatzversicherung lasse.275 Dieser Gedanke, vor allem die höheren Angestellten so wenig wie möglich durch die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zu belasten, gewann im Verlauf der Verhandlungen innerhalb der CDU-Fraktion immer mehr Befürworter. Die Ausschussfassung schrieb schließlich nicht nur die niedrigere Beitragsbemessungsgrenze fest, sondern führte auch erneut eine Pflichtversicherungsgrenze in der Angestelltenversicherung ein.276 Mit diesem Beschluss kam die Unionsfraktion vor allem den Wünschen der Wirtschaft und der Arbeitgeberverbände nach.277 Die Begrenzung der Versicherungspflicht schaffte ein Betätigungsfeld für die private Vorsorge; sie verhinderte außerdem, dass für die höheren Ange­stellten weitere Pflichtversicherungs­beiträge von Seiten des Arbeitgebers fällig wurden. Zahlreiche Unternehmen hatten in den fünfziger Jahren damit begonnen, für ihre (leitenden) Betriebsangehörigen eine betriebliche Alters- und Hinterbliebenenversorgung einzurichten.278 Das hierfür anzusammelnde Kapital (Pensionsrückstellungen) war als Mittel der betrieblichen Selbstfinanzierung wie als Weg zur Steuerersparnis attraktiv, so dass selbst relativ kleine Betriebe diesen Vorteil zu nutzen suchten.279 Neben den wirtschaftlichen Interessen spielten auch normative Argumente eine Rolle. Dabei teilte insbesondere der rechte Unionsflügel die Haltung der Wirtschaftsverbände, reklamierte das Recht auf Freiheit vor »staatlichem Zwangsschutz« und verwies auf das »Primat der Selbsthilfe« sowie das Subsidiaritätsprinzip.280 273 Vgl. Auerbach, Bundesregierung, S. 162. Die viel zu niedrige Beitragsbemessungsgrenze in der Arbeiterversicherung hatte bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs verhindert, dass für besser verdienende Arbeiter auch ein höheres Rentenresultat entstehen konnte. Bis zum Mai 1949 hatte die Bemessungsgrenze bei 300 DM monatlich gelegen. 274 Vgl. Schreiben des DGB-Bundesvorstands v. 5.6.1956 an den Bundesminister für Arbeit und v. 9.1.1957 an den Bundeskanzler (BA, B 136/770). 275 Vgl. auch Begründung des Regierungsentwurfs v. 5.6.1956 (BT-Drs. II/2437, S. 83). 276 Vgl. Schriftlicher Bericht des AfSP (BT-Drs. II/3080, S. 30 ff.). 277 Vgl. Leitsätze der BDA zur Sozialreform v. 5.7.1955 (abgedruckt bei: Richter, Sozialreform, H V 1); BDA, Probleme der Sozialreform, April 1956 (Ausfertigung in: BA, B 136/1380). Vgl. auch Protestschreiben der »Union der leitenden Angestellten« gegen die Aus­dehnung der Versicherungspflicht an den Bundeskanzler v. 23.8.1955 (BA, B 136/1380) bzw. v. 23.4.1956 (BA, B 136/768). Die leitenden Angestellten bevorzugten die alte Regelung und den Weg der freiwilligen Altersvorsorge, bei der die steuerliche Absetzbarkeit ihrer Beiträge den fehlenden Arbeitgeberbeitrag leicht ausglich. 278 Vgl. BDA, Jahresbericht 1955, S. 227 f. 279 Vgl. Hockerts. Sozialpolitische Entscheidungen, S. 375. 280 Vgl. BDA, Gedanken zur sozialen Ordnung, Köln 1953. Erhard, Selbstverantworliche Vorsorge, S. 2; ders., Wohlstand, S. 256 ff. Vgl. dazu auch Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 374 f.

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4.1.3 Eine neue Formel für die Rente Im Bereich der Leistungen lag das Hauptanliegen von Regierung und Opposition in der Neuregelung der Berechnung der Altersrenten, d. h. in der Einführung einer »dynamischen« Rentenformel.281 Die SPD hatte bereits im Grund­ lagenplan von 1952 die Sicherung der Kaufkraft der Rente und die Teilhabe der Rentner an der Steigerung des Sozialprodukts gefordert.282 Demgegenüber verhielt sich die CDU zunächst zögerlich. Erst der für den Parteivorstand unmittelbar tätige Arbeitskreis »Sozialreform« sprach 1955 die Empfehlung aus, die Renten an die Löhne und Gehälter anzupassen.283 Im Januar 1956 entschied schließlich das Sozialkabinett, dass die sogenannte dynamische Leistungsrente« das »Kernstück« der Neuordnung der Alters- und Invaliditätssicherung bilden solle.284 Die Gesetzentwürfe von SPD und Regierung sahen jeweils unterschiedliche Verfahren vor, um das »Dynamisierungsversprechen« einzulösen. Beide Verfahren zielten darauf, die im Arbeitsleben gezahlten Beiträge von ihrem Nominalwert zu lösen und auf das zum Zeitpunkt der Rentenfestsetzung aktuelle Lohnniveau hochzurechnen. Dabei diente die Entwicklung der Brutto­verdienste aller Versicherten als Bezugsgröße.285 Während die Regierung jedoch vor einer direkten Lohnbindung zurückschreckte und als allgemeine Bemessungsgrundlage einen gleitenden Dreijahresdurchschnitt wählte, legte die SPD der Entgelt­ anpassung den Lohn- und Gehaltsstand des jeweils zuletzt vergangenen Jahres zugrunde. Wie seitens der SPD eingeräumt wurde, hatte der Regierungsvorschlag den Vorzug, dass »im Interesse der Rentner mögliche Schwankungen ausgeschaltet« würden.286 Unter der Voraussetzung jährlich steigender Löhne musste dieser Verzögerungseffekt aber zu Lasten des relativen Rentenniveaus gehen und daher sah die SPD in ihrem stärker aktualisierenden Vorschlag die bessere Lösung für die Rentner.287 Im Sozialpolitischen Ausschuss wurde die Lohnbindung der Renten kontrovers diskutiert. Dabei setzte die Unionsfraktion ihr Konzept durch und schob nunmehr noch ein weiteres Kalenderjahr (»Karenzjahr«) zur Feststellung der statistischen Daten ein. Dieser vergrößerte zeitliche Abstand zwischen Renten281 Auf die Neuregelungen zur Berechnung der Berufsunfähigkeitsrente (Verminderung der Arbeitsfähigkeit um 50 Prozent) bzw. der neu eingeführten Vollberufsunfähigkeits- bzw. Erwerbsunfähigkeitsrente wird im Folgenden nicht gesondert eingegangen; sie lagen im allgemeinen unter den Altersrenten, doch wurde ihre Berechnung derjenigen der Altersrenten weitgehend angepasst. 282 Vgl. S. 80 f. 283 Vgl. S. 74 f. Dazu auch ausführlich Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 322 ff. 284 Vgl. Beschlüsse des Sozialkabinetts in: Bulletin Nr. 15, 21.1.1956, S. 11; Schewe, Beschlüsse. 285 Vgl. §§ 11 ff. des SPD-Entwurfs (BT-Drs. II/2314); Art. 1 §§ 1260 ff. des Regierungsentwurfs (BT-Drs. II/2437). 286 Schellenberg (SPD) im BT am 21.1.1957 (Sten. Ber., Bd. 34, S. 10559). Vgl. auch Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 338, 357. 287 Vgl. ebd., S. 357. Vgl. auch zum Folgenden Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd. 3, S. 411 ff.

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und Lohnentwicklung sollte das Rentenniveau senken und damit die Sorge vor allem der Arbeitgeber abmildern, dass die Lohn­auseinandersetzungen künftig auch mit Blick auf die Rentner geführt würden. In ihren Stellungnahmen hatte die Arbeitgeberseite wiederholt darauf gedrängt, von einer »automatischen Kopplung der Renten an die Entwicklung der Arbeitseinkommen« ganz abzusehen, da eine solche Kopplung gesamtwirtschaftliche Konsequenzen von großer Tragweite haben werde. Diese lägen »vor allem im Bereich der Erhaltung der Kaufkraft der D-Mark und damit letztlich in der Stabilität der Währung sowie in der Frage der notwendigen Kapital- und Eigentumsbildung«.288 Obwohl die Regierung diese Bedenken ernst nahm, hielt sie an der Grundidee der »dynamischen Rente« fest. Die Rentenformeln von Regierung und Opposition unterschieden sich auch in der Höhe des Steigerungssatzes. Die Regierung gewährte für jedes anrechnungsfähige Versicherungsjahr 1,5  Prozent, die SPD 1,8  Prozent der auf die Höhe des Gegenwartslohnes aufgewerteten Entgelte aus der Vergangenheit.289 Im Ergebnis sah der Regierungsentwurf vor, dass die Altersrenten bei normaler Versicherungsdauer 60  Prozent des Bruttoverdienstes vergleichbarer Arbeitnehmer betragen sollten, während die Regelungen im SPD-Entwurf zu einer Rente von 75  Prozent des Bruttoverdienstes des letzten Monatseinkommens bzw. des Durchschnitts der besten fünf Jahre des Arbeitslebens führen sollten.290 Der Vorschlag der SPD stand im Einklang mit den Forderungen des DGB. Die Gewerkschaften strebten eine Angleichung der Renten an die Pen­ sionen der Beamten und damit die Gleichbehandlung der gesamten Gruppe der Arbeitnehmer an.291 Im Sozialpolitischen Ausschuss setzte sich jedoch die Rentenformel der Regierung durch.292 288 Vgl. insb. Denkschrift »Zur ›Dynamik‹ der Altersrenten«. Die Denkschrift war am 15.2.1956 sowohl dem BK als auch dem BMA übersandt worden (BA, B 136/1380). Vgl. auch BDA an Adenauer am 15.9.1956 (Abschrift an BMA, BMW und BMF): Übersendung der Stellungnahme und Vorschläge der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zur Rentengestaltung (BA, B 136/757); Niederschrift über eine Besprechung zwischen dem Bundeskanzler und Vertretern der BDA am 18.10.1956 (BA, B 136/758). 289 Vgl. Erklärungen und Rechenbeispiele zum Regierungsentwurf bei Jantz, Zum Entwurf, S. 333; zum SPD-Entwurf bei Schewe, Gesetzentwurf, S. 167. Zusammenfassend und kritisch: Hensen, Verfahrenstechnik. 290 Vgl. Art 1 § 1260 Abs. 1 des Regierungsentwurfs (BT-Drs. II/2437) bzw. § 23 Abs. 2 des SPDEntwurfs (BT-Drs. II/2314). Vgl. auch Beck, Rentenberechung, S.  361 ff. Beck vergleicht anhand eines Beispiels aus der Arbeiterversicherung den monatlichen Zahlbetrag eines durchschnittlichen Rentners nach der alten Rentenberechnungsmethode (154,27 DM) und nach den Rentenformeln von Regierung (248,30 DM) und Opposition (296,80 DM). 291 Vgl. »Forderungen zur Neuordnung der Rentenversicherung« v. 26./27.1.1956 (abgedruckt in: Soz. Sich. 5 (1956), S. 35 f.). Am 31.1.1956 übersandte der Bundesvorstand des DGB seine »Forderungen« an den Bundeskanzler (BA, B 136/1380). Vgl. auch die im Juni 1956 herausgegebene Denkschrift »DGB zur Sozialreform. Neuordnung der Rentenversicherung. Bearbeitet von Willi Richter« (Teildruck bei Richter, Sozialreform, H I 1e); Killat, Der DGB. 292 Die schließlich Gesetz gewordene Formel zur Erstberechnung der Rente basierte auf vier Elementen (vgl. Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 325): 1. der allgemeinen Be-

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Beide Rentenformeln folgten dem Prinzip, nach dem die Rente die Beitragsund damit die Arbeitsleistung des Einzelnen widerspiegeln sollte. Im Grundlagenplan, hatte die SPD die Berechnung der Renten nach dem »reinen« Versicherungsprinzip noch abgelehnt und vorgeschlagen, die Renten durch einen sozialen Ausgleich aufzubessern.293 Im Verlauf des Jahres 1956 rückte die SPDFührung jedoch von ihrem Kurs ab. Sie befürchtete, dass die Mehrheit der Arbeitnehmer die vorgeschlagene Regelung ablehnen könnte. Denn die steigenden Löhne ließen steigende Renten erwarten, wenn das versicherte Arbeitsentgelt und die Versicherungsdauer künftig die Grundlage der Rentenberechnung bildeten. Ein stärker egalitäres, auf Grund- und Zusatzrente aufgebautes System versprach damit keine Vorteile mehr. 4.1.4 Wieviel Dynamik bei Rentenanpassung? Ein zentraler Konfliktpunkt in der Auseinandersetzung um die neue Renten­ formel betraf die periodische Anpassung der Renten während ihrer Laufzeit. Die SPD wollte die Renten konsequenter Weise automatisch der jähr­lichen Lohn­bewegung folgen lassen; demgegenüber rang die Regierung mit einer Kompromisslösung, der zufolge ein Sachverständigengremium alle fünf Jahre über die Anpassung der Renten entscheiden sollte.294 Die Einrichtung eines Sachverständigengremiums war ursprünglich eine Idee der Arbeitgeber­verbände gewesen, die mit diesem Kompromiss die drohende automatische Anpassung der laufenden Renten verhindern wollten.295 Im Ausschuss schließlich konnte auch für die Fünfjahresregelung keine Mehrheit gefunden werden. Stattdessen wurde festgelegt, dass der Gesetzgeber bei einer Veränderung der allgemeinen Bemessungsgrundlage tätig werden müsse. Dabei wurde nicht die Lohnbewegung als messungsgrundlage (= Bruttoarbeitsverdienst aller Versicherten ohne Lehrlinge im Mittel des Zeitraums vor dem Kalenderjahr, das dem Jahr des Versicherungsfalls vorausgegangen ist); 2.  dem prozentualen Verhältnis, in dem der Bruttoarbeitsverdienst des Versicherten während seiner Beitragszeiten zu dem durchschnittlichen Bruttoarbeitsverdienst aller Versicherten gestanden hat; bezogen auf die allgemeine Bemessungsgrundlage ergab dieser Prozentsatz die persönliche Bemessungsgrundlage des Versicherten; 3. der Zahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre; 4. dem Steigerungssatz je nach Versicherungsjahr; dieser Faktor legte fest, dass der Versicherte für jedes Versicherungsjahr 1,5 Prozent seiner persönlichen Bemessungsgrundlage als Rente erhielt. Wer also durchschnittlich verdient hatte (so dass persönliche und allgemeine Bemessungsgrundlage identisch waren), erhielt (netto) nach 40 Versicherungsjahren 40 x 1,5 = 60  Prozent des aktuellen Bruttodurchschnittsverdienstes aller Versicherten. 293 Vgl. Bemerkungen und Vorschläge zur laufenden Diskussion über die Sozialreform, un­ datierte Hektographie (BA, B 136/1380). Vgl. dazu auch S. 80 f. 294 Vgl. § 44 des SPD-Entwurfs (BT-Drs. II/2314) bzw. Art. 1 § 1276 des Regierungsentwurfs (BT-Drs. II/2437). Vgl. auch Jantz, Reform der Rentenversicherung. Zur schwierigen Kompromissfindung innerhalb der Regierung vgl. Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 337 ff. 295 Vgl. BDA, Probleme der Sozialreform, S. 17; Denkschrift »Zur ›Dynamik‹ der Alters­renten« (BA, B 136/1380).

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Bezugsgröße für die Anpassung festgeschrieben, vielmehr sollten die Entwicklung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und Produktivität sowie die Veränderung des Volkseinkommens je Erwerbsperson den Ausschlag für die Rentenerhöhungen geben.296 Mit diesem Kompromiss ging die Ausschussfassung insgesamt auf die Gegner der dynamischen Rente zu: Die automatische Anpassung wurde durch die Zwischenschaltung des Gesetzgebers bedeutend abgeschwächt, ebenso der Anpassungsmaßstab.297 Den Befürwortern einer festen Bindung der Renten an die Löhne blieb immerhin die Hoffnung, dass »die jährliche Veränderung der allgemeinen Bemessungsgrundlage und ihre ›automatische‹ Auswirkung auf eine höhere Berechnung der Zugangsrenten« sich »mit einer gewissen Zwangsläufigkeit« auf den Anpassungssatz der laufenden Renten auswirken werde.298 Tatsächlich sollte sich zeigen, dass die Anpassungssätze bis weit in die siebziger Jahre stets der Lohnentwicklung folgten (»de-facto-Automatik«).299 Der Widerstand gegen die dynamische Rente hatte sich während der zweiten Jahreshälfte 1956 verschärft. Zahlreiche Verbände und Interessengruppen – darunter die Verbände der Banken und Sparkassen, die Versicherungsunternehmen und die »Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft«300 – teilten die Kritik von Unternehmerschaft und Arbeitgeberverbänden an der dynamischen Rente. Gewarnt wurde vor den Gefahren für die Stabilität der Währung, vor den negativen Auswirkungen auf das Sparverhalten der Bevölkerung sowie – besonders eindringlich – vor den Folgen des »totalen Wohlfahrtsstaats«.301 Vielen Arbeitnehmern, hieß es, werde ein Ausmaß an Versorgung bereitgestellt, das von 296 Bei ihrer Entscheidung zur Rentenanpassung sollte die Regierung durch einen Sozial­beirat beraten werden, der sich aus je drei Vertretern der Versicherten und der Arbeitergeber, einem Vertreter der BdL und drei Vertretern der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften zusammensetzen sollte. 297 Zusätzlich wurde eine Revisionsklausel eingeführt (§ 1257), wonach die allgemeine Bemessungsgrundlage in Fällen einer besonders angespannten Finanzlage der Rentenversicherung durch den Gesetzgeber festgelegt und damit von der realen Lohnentwicklung abgekoppelt werden konnte. Gegen diese Klausel sowie auch gegen die neuen Anpassungsmodalitäten, lief vor allem der DGB Sturm, vgl. Schreiben an den Bundeskanzler v. 9.1.1957 (BA, B 136/770). 298 Vgl. Jantz, Rentendynamik, S. 112; Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 410 f. 299 Vgl. dazu Geisen; Schenke, Bestimmungsgründe. Nach Einschätzung Schewes war »spätestens nach der 10. Rentenanpassung« (für 1968) der Grundsatz, dass die Bestandsrenten an die neufestzusetzenden Renten anzupassen sind, zum Normalfall geworden, vgl. Schewe, Formelkompromiss. 300 Die Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft vereinigte wichtige Vertreter der neoliberalen Schule der Nationalökonomie, wie die Brüder Alexander und Hanns-Joachim Rüstow und Wilhelm Röpke. Vgl. Aktionsprogramm der Aktionsgemeinschaft v. 22.7.1956 (Ausfertigung in: B 149/396); Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, Das Problem der Rentenreform. 301 Vgl. Vortrag von Alexander Rüstow »Sicherung in einer freien Gesellschaft« auf der 6. Tagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft (Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, S. 7–16, hier: S. 9).

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ihnen gar nicht benötigt werde.302 Weiter wurde auf die Benachteiligung hin­ gewiesen, die sich für die nicht in die staatliche So­zialversicherung einbezogenen Kreise ergäbe, wenn die dynamische Rente Gesetz würde. Schließlich beklagten die opponierenden Interessengruppen die Undurchsichtigkeit der durch die Reform vorgenommenen Einkommensverteilung: »Dem Staatsbürger wird das Verständnis für das rechte Maß seiner Ansprüche an das Sozialprodukt einfach unmöglich gemacht, wenn ihm durch Zuschüsse, die in Wirklichkeit in Form von niedrigeren Löhnen oder höheren Preisen und Steuern zum größten Teil  aus seiner eigenen Tasche kommen, vorgespiegelt wird, die Gemeinschaft biete ihm eine Leistung ohne Gegenleistung«.303 Die sich selbst auch als »kritische Öffentlichkeit« bezeichnenden Verbände und Vereinigungen begriffen die Gesetzentwürfe zur Rentenreform als massive Bedrohung der Struktur von Staat und Gesellschaft. Zwar sprachen sie den Rentnern den Anspruch auf höhere Rentenleistungen nicht grundsätzlich ab, jedoch sollten die Neuordnungs- und Ausbaumaßnahmen in der sozialen Rentenversicherung eng begrenzt bleiben.304 Die Verbände stützten vor allem die konservativen und wirtschaftsliberalen Kräfte innerhalb der Regierungskoalition. Sie erreichten, dass während der Beratungen im Sozialpolitischen Ausschuss bestimmte Regelungen – wie die Anpassung der laufenden Renten – neu verhandelt und aufgeweicht wurden. 4.1.5 Am unteren Rand: Ersatzzeiten, freiwillige Versicherung und Mindestrenten Indem keiner der beiden Gesetzentwürfe mehr beitragsunabhängige Renten­ bestandteile vorsah, war die Höhe der Rente im Wesentlichen von der Höhe des Arbeitsverdienstes und von der Beitragsdauer abhängig. Das benachteiligte künftig diejenigen Arbeitnehmer, bei denen entweder die Beitragszeiten durch Krankheit oder Arbeitslosigkeit verkürzt waren oder der Arbeitsverdienst besonders niedrig lag. Für das erste Problem sahen beide Entwürfe sog. »Ausfall-« (Regierung) bzw. »Ersatzzeiten« (Opposition) vor.305 Nach dem Willen der SPD sollten diese Zeiten voll ausgeglichen werden. Die Regierung tat sich dagegen mit der Anerkennung der Ausfallzeiten schwerer und wollte Krankheit und Ar302 Vgl. Schreiben der »Gemeinschaft zum Schutz der Deutschen Sparer« an den Bundes­ minister für Arbeit v. 29.9.1956 (BA, B 136/769). 303 Gemeinschaft zum Schutz der deutschen Sparer, S. 17. 304 Vgl. Vortrag von Wilhelm Röpke »Das Problem der Lebensvorsorge in der freien Gesellschaft« auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -­gestaltung v. 6.–7.6.1956 in Freudenstadt (Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -­gestaltung, S.  16–32, hier insb. S.  21 ff.). Vgl. auch Schreiben des Präsidenten des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes an Adenauer v. 24.8.1956 (BA, B 136/757); Stellungnahme der Bank deutscher Länder v. 22.2.1956 (BA, B 136/1380); Schreiben der Union der leitenden Angestellten an Adenauer v. 23.4.1956 (BA, B 136/768). 305 Vgl. § 9 des SPD-Entwurfs (BT-Drs. II/2314); Art. 1 § 1263 des Regierungsentwurfs (BTDrs. II/2437).

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beitslosigkeit zunächst erst ab der 13. Woche rentensteigernd berücksichtigen. Im Anschluss an die Diskussionen im Sozialpolitischen Ausschuss wurde diese Frist sodann auf sechs Wochen reduziert. Besonders für die Angestellten interessant war die im SPD-Entwurf ver­ ankerte Regelung über den Ausgleich von Ausbildungszeiten, die schließlich auch Eingang in die Ausschussfassung fand. Vorgesehen wurde, längere Zeiten der Berufsausbildung künftig auf die Wartezeit anzurechnen. Damit sollte verhindert werden, dass diejenigen, die mehr Zeit in ihre Ausbildung investiert hatten, Nachteile in Bezug auf ihre Versicherungszeiten hinnehmen mussten. Nicht dagegen gerechnet wurden freilich die höheren Verdienstmöglichkeiten – und in deren Folge die höheren Renten  – der besser Ausgebildeten, die diese vorübergehende Benachteiligung gegenüber dem un- oder angelernten Arbeiter leicht wieder ausgleichen konnten. Zu vermuten ist, dass diese Regelung weniger sozialen Erwägungen entsprang als vielmehr dem Willen, die Renten­(pflicht) versicherung für die Angestellten so attraktiv wie möglich zu gestalten. Für Kontroversen im Ausschuss sorgte die Frage der »freiwilligen Versicherung« in der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten. Die SPD wollte durch ihre Beibehaltung auch den Nichterwerbstätigen weiterhin den Eintritt in die Rentenversicherung ermöglichen und so die Perspektive für eine eigenständige Sicherung insbesondere für Hausfrauen offenhalten.306 Der Regierungsentwurf dagegen beseitigte die »freiwillige Versicherung« in der Überzeugung, dass damit ein »systemwidriger« Faktor aus der Rentenversicherung ausgeschlossen werde.307 Hinter diesen unterschiedlichen Positionen verbargen sich neben sachlichen Gründen  – die freiwillige Versicherung leistete die beim Umlageverfahren erforderliche Kontinuität der Beitragszahlung nicht  – auch unterschiedliche normative Leitbilder über die Rolle der Frau. Nach Ansicht der CDU wurde die Ehefrau durch die Arbeitstätigkeit und Rente des Mannes versorgt. Die SPD hingegen gestand auch der nicht berufstätigen Hausfrau und Mutter einen eigenen Versorgungsanspruch zu.308 Die Abschaffung der freiwilli306 Vgl. Schellenberg (SPD) in der 1. Beratung des Regierungsentwurfs am 27.6.1956 im BT (Sten. Ber., Bd. 31, S. 8340). 307 Die freiwillige Versicherung – auch »Hausfrauenversicherung« genannt – war in der Vergangenheit stets umstritten gewesen, da sie zum Missbrauch einladen konnte: Dank der beitragsunabhängigen Rentenbestandteile war es möglich, sich auf Kosten der Versicherungsgemeinschaft mit minimalen Beiträgen überdimensionale hohe Mindestrenten zu sichern. Das Argument des Missbrauchsschutzes entfiel jedoch eigentlich bereits dadurch, dass die Gesetzentwürfe keine beitragsunabhängigen Rentenbestandteile mehr vorsahen. Dennoch hielt die Regierung an der Abschaffung fest; möglich blieb lediglich die »freiwillige« Weiterversicherung im Anschluss an eine Pflichtversicherung. Vgl. auch die Debatte in der 2. Beratung des Regierungsentwurfs am 16.1.1957 im BT (Sten. Ber., Bd. 34, S. 10200 ff.); Jantz, Zum Grundentwurf, S. 726. 308 Vgl. Argumentation von Korspeters (SPD) in der 2. Beratung des Regierungsentwurfs am 16.1.1957 im BT (Sten. Ber., Bd. 34, S. 10200).

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gen Versicherung, wie die CDU sie im Sozialpolitischen Ausschuss schließlich durchsetzte,309 verstärkte insgesamt den Arbeitnehmercharakter und die geschlechtsspezifische Ausrichtung der Rentenversicherung. Ein weiteres brisantes Thema war die Aufbesserung von Klein- und Kleinst­ renten. Hier sah der SPD-Entwurf eine Sonderklausel in Form eines fiktiven Mindestlohnes vor. Bei der Rentenberechnung sollte mindestens ein Arbeitseinkommen von etwa zwei Dritteln des Durchschnittslohnes aller Arbeitnehmer zugrunde gelegt werden.310 Die CDU hingegen ignorierte das Problem der »Zwergrenten« zunächst und lehnte eine Mindestrentenregelung ab. Anfang September 1956 machte jedoch in der Presse ein versicherungsmathematisches Gutachten der Privatwirtschaft die Runde, das sowohl den Kanzler als auch die Unionsfraktion beunruhigte.311 Die Gutachter prognostizierten, dass die geplante Reform für einen großen Teil (40 Prozent) der Rentenbezieher, insbesondere der Klein- und Kleinstrentner, keine oder nur geringfügige Verbesserungen bringen würde.312 Die Zahl schien zwar überhöht, dennoch musste davon ausgegangen werden, dass etwa 20 Prozent der Rentenbezieher nach der neuen Rentenregelung keine Verbesserungen erwarten konnten.313 Während das Bundesarbeitsministerium zunächst versuchte, die Problematik herunterzuspielen, die sich vor allem aus dem Verzicht auf feste Rentenbestandteile in der neuen Rentenformel ergab,314 hielt der Kanzler es für »unmöglich, dass kleine Rentner keine Erhöhung und Rentner mit höheren Arbeitsverdiensten sehr starke Rentenerhöhungen erhielten«.315 Die Lösung, die schließlich vom Bundesarbeitsministerium ausgearbeitet und in die Ausschussfassung des Gesetzentwurfs übernommen wurde, bestand in der sog. »Sonderzuschussregelung«. Danach sollten mit Hilfe eines Sonderzuschusses alle Versicherungsrenten mindestens um 21 DM, alle Witwen- und Waisenrenten mindestens um 14 DM angehoben werden. Problematisch an dieser Regelung war, dass die vorgesehene Mindestaufbesserung auf die gesetzlichen Leistungen aus der Kriegsopferversorgung oder dem Lastenausgleichsgesetz angerechnet werden sollte. Dadurch konnte es passie309 Vgl. Art. 1 § 1233 des Regierungsentwurfs (BT-Drs. II/2437). 310 Vgl. § 23 Abs. 1 des SPD-Entwurfs (BT-Drs. II/2314). 311 Vgl. CDU/CSU-Fraktionssitzungen v. 26.9.1956 u. 1.10.1956 (Sitzungsprotokolle 1953–57, Bd. 2, S. 1226, 1242 ff.). Vgl. auch Stellungnahme von Horn (CDU) in einer Besprechung beim Bundeskanzler am 5.10.1956 (Vermerk des Ref. 7 des BK v. 9.10.1956 (BA, B 136/758)). 312 Vgl. die von H. P. Luzius und J. Mehring Anfang 1956 herausgegebene Zusammenfassung: Versicherungstechnisches Gutachten zu den Gesetzentwürfen über die Reform der sozialen Rentenversicherung, S. 3 f.; diese Broschüre (o.O.o. J.) lag auch dem AfSP vor (PA, II/356 B, Bd. 5). 313 Vgl. Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 401. 314 Vgl. Jantz, Der Rentner, S. 1148; Hensen, Jahresdefizit, S. 252. 315 Vgl. Niederschrift des BK über eine Besprechung des Kanzlers mit den Ministern Schäffer, Storch und Erhard und dem Vorsitzenden des Sozialpolitischen Arbeitskreises der Unionsfraktion v. 5.10.1956 (BA, B 136/758).

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ren, dass sich der positive Effekt sofort wieder aufhob und erneut »Härten« entstanden.316 Das Bundesinnenministerium rechtfertigte diesen Anrechnungsgrundsatz jedoch auf Nachfrage des Bundeskanzleramts im Mai 1957 mit dem Hinweis, dass andernfalls »die Leistungsberechtigten mit den zusätzlichen Fürsorgeleistungen auf Kosten der Allgemeinheit vielfach zu Einkommen gelang[t] en, die nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis zu den auf eigener Arbeitsleistung beruhenden Einkommen« stünden.317 Das Fehlen von Mindeststandards machte die bundesrepublikanische Rentengesetzgebung zu einer europäischen Ausnahme. Während das englische System auf die Gewährung von einheitlichen Mindestrenten ausgelegt war und sich weitgehend darauf beschränkte, wurden in den skandinavischen und im französischen Altersicherungssystem Mindeststandards festgelegt, die jedem Versicherten eine Rente in bestimmter Höhe garantierten. In Frankreich betrug die Mindestrente nach dreißig Beitragsjahren 40  Prozent des franzö­ sischen Basiseinkommens. Für die darüber hinaus gehenden Beitragszeiten war der durchschnittliche Lohn der vergangenen zehn Beitragsjahre ausschlag­ gebend.318 4.1.6 Sonderregeln für Selbständige und Finanzierung durch Umlage Die heikle Frage der Alterssicherung der Selbständigen wurde in beiden Gesetzentwürfen grundsätzlich ausgeklammert. Der SPD-Entwurf hob diesbezüglich hervor, dass eine gesetzliche Regelung für die Selbständigen in »klarer organisatorischer und finanzieller Trennung« neben der Arbeitnehmerversicherung unverzüglich in Angriff genommen werden müsse.319 Obwohl das Sozialkabinett in seiner Januarsitzung eine ähnliche Haltung bekundet hatte,320 blieben nach dem Regierungsentwurf sowie der Ausschussfassung die sog. »kleinen Selbständigen« (Hebammen, Küstenfischer etc.) weiter in der Rentenversicherung der Arbeiter bzw. der Angestellten pflichtversichert; für die übrigen Selbständigen behielten die im Rahmen des Handwerkerversorgungsgesetzes 1938 geschaffenen Sonderregelungen zunächst ihre Gültigkeit.321 Einen letzten umstrittenen Bereich stellte die Frage der Finanzierung durch Beiträge und der seit den Anfängen der Sozialversicherung gewährten staat316 Vgl. diesbzgl. Große Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion v. 28.11.1957, Frage 1a (BT-Drs. III/28). Vgl. auch Schreiben des Abg. Leonhard (CDU) an Bundeskanzler Adenauer v. 15.4. u. 17.5.1957 (Weitergabe von Beschwerden aus dem Wahlkreis über die Auswirkungen der Rentenreform auf die Rentenempfänger mit niedrigen Renten) und des stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion des Bundestages an Adenauer v. 7.5.1957 (BA, B 136/770). 317 Schreiben des Bundesministers des Innern an den StS des BK v. 17.5.1957 (BA, B 136/770). 318 Vgl. Valat, S. 94. 319 BT-Drs. II/. 2314, Begründungsteil, S. 58. 320 Vgl. das Kommuniqué im Bulletin Nr. 15, 21.1.1956, S. 117. 321 Vgl. Art. 1 § 1227, Art. 2 § 2 des Regierungsentwurfs (BT-Drs. II/2437); Begründungsteil, S. 88.

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lichen Zuschüssen dar. Während in Frankreich die Rentenfinanzierung auschließlich auf Beiträgen beruhte322 – in Großbritannien wirkten die Einheitsbeiträge wie eine Steuer –, sollte in der Bundesrepublik grundsätzlich an dem bisherigen zweigleisigen Modell festgehalten werden. Die SPD wollte den Beitragssatz zur Rentenversicherung lediglich um einen Prozentpunkt von 11 auf insgesamt 12  Prozent erhöhen, dafür aber den Bundeszuschuss deutlich an­ heben. Dieser sollte in Zukunft regelmäßig pauschal 40 Prozent der Rentenausgaben abdecken. Die Regierung schlug dagegen eine Erhöhung des Beitragssatzes von 11 auf 14 Prozent vor und setzte für den Bundeszuschuss im ersten Geltungsjahr eine Pauschalsumme ein, die nur 32 Prozent des neuen Ausgabenvolumens ausmachte.323 Für die Zukunft koppelte der Regierungsentwurf den Bundeszuschuss nicht an die Bewegung der Rentenausgaben, wie die SPD es wollte, sondern an die Veränderung der »allgemeinen Bemessungsgrundlage« und damit an die Entwicklung des durchschnittlichen Bruttoarbeitsverdienstes aller Versicherten. Darüber hinaus wurde festgelegt, dass die Zuschüsse nur für die Invaliditätssicherung, nicht aber für die Alterssicherung Verwendung finden sollten. Diese Vorschriften sollten verhindern, dass der Bundeszuschuss an dem Anstieg der Rentenausgaben teilnahm, soweit er durch demographische Verschiebungen im Aufbau der Bevölkerung bedingt war.324 In beiden Rentenplänen war der Übergang zu einem modifizierten Umlageverfahren vorgesehen, durch das ein Teil der Beitragseinnahmen direkt zur Finanzierung der laufenden Renten verwendet werden sollte.325 Obwohl dieses Verfahren auch in anderen europäischen Ländern praktiziert wurde (Schweden, Frankreich),326 gab es hiergegen Einwände und Bedenken von Seiten der Geldinstitute, die durch fehlende Wertpapierkäufe der Sozialversicherungsträger einen Einbruch auf dem Kapitalmarkt befürchteten.327 Auch die DAG war ein entschiedener Gegner des Umlageverfahrens. Sie wollte eine »sichere Finan-

322 Vgl. Palier, S. 77 ff.; Valat, S. 103 ff. 323 Vgl. § 103 des SPD-Entwurfs (BT-Drs. II/2314) bzw. Art. 1, § 1389 des Regierungsentwurfs (BT-Drs. II/2437). Vgl. auch Schellenberg (SPD) u. Horn (CDU) in der 2.  Beratung des Regierungsentwurfs am 18.1.1957 im BT (Sten. Ber., Bd. 34, S. 1043 f. bzw. 10435 f.). 324 Vgl. Bundesarbeitsminister Storch in der 1. Beratung des Regierungsentwurfs am 27.6.1956 im BT (Sten. Ber., Bd. 31, S. 8337): »Eine Abhängigkeit vom Staate sollte bei einer Neuordnung der sozialen Sicherheit im Interesse aller Menschen soweit wie möglich vermieden werden«. 325 Sowohl der SPD- wie auch der Regierungsentwurf sah noch kein reines Umlageverfahren vor, sondern ein sog. »Abschnittsdeckungsverfahren« jeweils für zehnjährige Deckungs­ abschnitte. Konzeptionell bedeutete dies aber eine Abkehr vom »Kapitaldeckungsverfahren«, das insgesamt den Aufbau einer erheblich höheren Vermögensreserve erfordert hätte. 326 Zur Diskussion in Frankreich vgl. Valat, S. 95 ff. 327 Vgl. »Stellungnahme der Bank deutscher Länder zu Fragen, die durch die beabsichtigte Sozialreform aufgeworfen worden sind« v. 22.2.1956 (BA, B 136/1380). Vgl. auch Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 383.

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zierung« der Angestelltenversicherung mit Hilfe des Kapitaldeckungsverfahrens.328 Dahinter stand auch die Sorge, die Angestellten könnten im Rahmen des Umlageverfahrens zur Finanzierung der Rentenversicherung der Arbeiter mit herangezogen. In der Vergangenheit war die Angestelltenversicherung finanziell stets besser ausgestattet gewesen als die Arbeiterversicherung. 4.1.7 Verabschiedung der Rentenreform im Bundestag Die von Regierung und Opposition gemeinsam erarbeitete Ausschussfassung unterschied sich in einer Reihe von Punkten deutlich von dem Gesetzentwurf der Regierung von April bzw. Juni 1956, der die Beratungsgrundlage dargestellt hatte.329 Zwar behielten die fortschrittlich gestimmten Kräfte der CDU/CSUFraktion zusammen mit ihren SPD-Kollegen die Oberhand, jedoch waren zum Teil erhebliche Zugeständnisse an den rechten Unionsflügel notwendig.330 Das betraf insbesondere die Eigenständigkeit des Angestelltenversicherungsrechts, die Aufrechterhaltung der Versicherungspflichtgrenze für Angestellte und die Lohnbezogenheit der Renten. Mit der »Sonderzuschussregelung« und der vorgesehenen Mindestaufbesserung der Rentenleistungen wurde eine ganz neue Vorschrift in den Gesetzentwurf aufgenommen. In der Frage der freiwilligen Versicherung und der Finanzierungsvorschriften hingegen wurden die Vorschläge aus dem Regierungsentwurf unverändert in die Ausschussfassung übernommen. Trotz aller Widerstände hatte sich der wichtigste Bestandteil der Reform, die Idee der gegenwartsbezogenen Sozialversicherungsrente, insgesamt behaupten können. Der Sozialpolitische Ausschuss schloss am 10. Januar 1957 nach 42 Sitzungen seine Beratungen ab und übermittelte seine Beschlüsse am selben Tag dem Bundestag. Die abschließenden parlamentarischen Beratungen zur Rentenreform begannen am 16. Januar 1957. Zur Debatte standen gemäß dem Antrag des Ausschusses zwei Gesetze, das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter (Arbeiterrentenversicherungs-Neurege­lungs­gesetz – ArVNG) und das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Renten­versicherung der Angestellten (Angestelltenversicherungs-Neu­rege­lungsgesetz – AnVNG). Insgesamt erstreckten sich die zweite und dritte Lesung zur Rentenreform über vier volle Beratungstage.331 Nach Meinung außenstehender Beobachter war es die längste, 328 DAG-Plan zum Aufbau einer neuen Angestelltenversicherung (PA, II/356 B, Bd. 2; auch abgedruckt bei: Richter, Sozialreform, H II 1). Vgl. auch Günther, Gegen die Enteignung. 329 Vgl. Schriftlicher Bericht des AfSP (BT-Drs. II/3080). Vgl. auch: Zur Beurteilung der Ausschlussbeschlüsse, in: SF 6 (1957), S. 12–14; Zöllner, Rentengesetze; Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 418 f. 330 Vgl. ebd., S. 407 ff. 331 2. Beratung am 16., 17. u. 18.1.1957 (Sten. Ber., Bd. 34, S. 10179–10245, S. 10304–10366 u. S. 10385–10471), 3. Beratung am 21.1.1957 (Sten. Ber., Bd. 34, S. 10510–10599). Vgl. auch die Berichterstattung über die Plenardebatten im Bulletin Nr. 11, 17.1.1956, S. 97; Nr. 12, 18.1.1957, S.  110; Nr.  13., 19.1.1957, S.  116–188; Nr.  14, 22.1.1957, S.  125–127 u. Nr.  15, 23.1.1957, S. 129–132.

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aber auch eine der intensivsten und »erfreulichsten« Debatten, die der Bundestag bis dahin erlebt hatte.332 Während die Unionsfraktion mit großer Geschlossenheit operierte und sich durch Angriffe von links, aber auch von rechts (fast) nicht irritieren ließ,333 herrschte innerhalb der Koalition insgesamt alles andere als Einvernehmen über das zu beschließende Reformwerk. Weder DP noch FVP334 konnten sich mit dem »Kernstück des Gesetzentwurfs«, der Rentendynamik, abfinden.335 Darüber hinaus machte sich die DP, deren Vorsitzende Margot Kalinke selbst Mitglied im Vorstand der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte war, zur Für­sprecherin der Angestellten und forderte die Rücknahme angeblicher Leistungsverschlechterungen und »Härten« in der Angestelltenversicherung.336 Ebenso wie die Änderungsanträge der Opposition fanden auch die Änderungsanträge aus den Reihen der Koalitionspartner zum überwiegenden Teil keine Mehrheit.337 Damit konnte sich die Ausschussfassung, dank der Unnachgiebigkeit der Unionsfraktion, in allen wesentlichen Punkten behaupten. Am Ende stimmte die FVP zusammen mit der CDU/CSU-Fraktion den Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetzen zu; die Abgeordneten der DP hin­ gegen enthielten sich oder votierten dagegen. Für die SPD betonte Ollenhauer in seiner Abschlusserklärung, dass in dem Gesetz »leider viele Mängel und Un­ gerechtigkeiten« enthalten seien; eine »soziale Neuordnung« müsse darüber hinaus »erst noch in Angriff genommen werden«. Da jedoch die Gesetze »die Lebenslage der alten und berufsunfähigen Menschen in unserem Volk verbessern« würden, stimmte auch die sozialdemokratische Fraktion für die Reformgesetze.338 Nachdem der Bundesrat am 8.  Februar 1957 einstimmig ebenfalls

332 Müller, Das Parlament, S. 32. Vgl. auch Bericht »Rentenreform beschlossen!«, in: WuW 8 (1957), Nr. 2, S. 2. 333 Vorübergehende Unstimmigkeiten gab es nur noch beim Berufsunfähigkeitsbegriff (Sten. Ber., Bd. 34, S. 10221 u. 10236 f.) und bei der Frage der Versicherungspflichtgrenze. Hier stimmten bei einer namentlichen Abstimmung 35 Unionsabgeordnete einem von FDP und DP eingebrachten Antrag zu, die Versicherungspflichtgrenze auf 1.000 DM monatlich herabzusetzen. Der Fraktionsmehrheit gelang es indessen, diesen Antrag zusammen mit der SPD zu Fall zu bringen (Sten. Ber., Bd. 34, S. 10620–10636). 334 Nachdem die FDP im Februar 1956 mehrheitlich die Koalition mit der CDU/CSU auf­ gekündigt hatte, traten 16 Mitglieder der FDP-Fraktion (darunter vier Bundesminister) aus der FDP aus und gründeten die Freie Volkspartei (FVP). Die FVP verblieb in der Regierungskoalition und fusionierte Anfang 1957 mit der DP. 335 Vgl. Kalinke (DP) am 17.1.1957 im BT (Sten. Ber., Bd. 34, S. 10313) und die gemeinsame Schlusserklärung von DP und FVP am 21.1.1957 (Sten. Ber., Bd. 34, S. 105597 f.). 336 Vgl. ebd.; außerdem: Sten. Ber., Bd. 34, S. 10312 ff., 10529 ff. 337 Da die CDU/CSU-Fraktion im BT die absolute Mehrheit hatte, entschied praktisch sie über die Annahme oder Ablehnung der Anträge. Vgl. auch: Der Kampf um die Anträge, in: SF 6 (1957), S. 59–62. 338 Sten. Ber., Bd.  34, S.  1595 f.  – Insgesamt stimmten 397 Abgeordnete für das Gesetz, 32 stimmten dagegen, 10 enthielten sich.

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seine Zustimmung erteilt hatte, konnten die Gesetze rückwirkend zum 1.  Januar 1957 in Kraft treten.339 4.2 »Der Tag danach«: Die sozialpolitische Bedeutung der Rentenreform Die Rentenreform stieß am Tag nach der Entscheidung in der Öffentlichkeit auf positive Resonanz. Insgesamt herrschte Erleichterung, dass die Reform nun endlich beschlossen war. Zwar blieb der Regierung wenig Zeit, sich auf ihrem Erfolg auszuruhen, da weitere Reformen ins Haus standen340 und der Wahlkampf für die bevorstehende Bundestagswahl im Herbst 1957 bereits in vollem Gange war; doch hob selbst die Opposition hervor, dass mit dem verabschiedeten Reformgesetzen etwas »Wichtiges« und »Nützliches« erreicht worden war.341 Die Gewerkschaften schwankten zwischen Lob und Tadel. Das offizielle Publikationsorgan des DGB, »Welt der Arbeit«, bezeichnete die Rentenreform als »soziale Großtat« und sprach von dem »bedeutendste[n] Sozialgesetzeswerk seit der Einführung der Sozialversicherung überhaupt«.342 Auf diese Lobeshymne der Redaktion folgte jedoch ein Interview mit dem DGB-Vorsitzenden Willi Richter, der die zahlreichen Versäumnisse hervor­hob und betonte, dass die Reformvorschläge des DGB »nicht in gebührendem Umfang« berücksichtigt worden seien.343 Ähnlich zwiespältig, ja, widersprüchlich waren auch die Äußerungen der DAG.344 Doch bestand genau darin das Dilemma der Gewerkschaften: Einerseits galt es, die Verbesserungen für die Arbeitnehmer in den Renten-Neuregelungsgesetzen hervorzuheben und sie als das Verdienst der Gewerkschaften zu deklarieren. Andererseits durfte nicht der Eindruck entstehen, man gäbe sich mit den Ergebnis­sen zufrieden und stimmte mit den gefundenen Kompromisslösungen überein, die zum Teil hinter den ursprünglichen Gewerkschaftsforderungen zurück blieben. 339 Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter v. 23.2.1957 (BGBl. I, S. 45); Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Angestellten v. 23.2.1957 (BGBl. I, S. 88). 340 Z. B. die Reform der Unfallversicherung oder die Alterssicherung der Landwirte. 341 Ollenhauer bei der Abschlusserklärung am 21.1.1957 im BT (Sten. Ber., Bd. 34, S. 1595). 342 Die Erhöhung der Renten ist gesichert, in: Welt der Arbeit 8 (1957), Nr. 4, 25.1.1957, S. 1. Vgl. auch Schreiben des Abg. Horn (CDU) an die Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages v. 24.1.1957 (BA, B 136/770). Dort hieß es unter Verweis auf diesen Artikel: »Diese Anerkennung in dem führenden Blatt des deutschen Gewerkschaftsbundes sollte von uns mit aller Betonung herausgestellt werden«. 343 Welt der Arbeit 8 (1957), Nr. 4, 25.1.1957, S. 1. Richter kritisierte vor allem die Rentenberechnung und die Bestimmungen zur Rentenanpassung, die Behandlung der Ersatzzeiten, die Bei­trags­erhöhung sowie die unzureichende Berücksichtigung der kleinen Renten. Ähnlich auch Lepinski. Vgl. auch Auerbach, Ansatz. 344 Vgl. z. T. widersprüchlichen Bewertungen von Otto Günther, Fritz Rettig und Georg Schnei­der, in: Der Angestellte 10 (1957), Nr. 1, S. 3; Nr. 2, S. 2 u. 3.

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Die Arbeitgeberverbände verzichteten weitgehend auf Stellungnahmen und Kommentare.345 Das dürfte zum einen daran gelegen haben, dass wichtige Forderungen berücksichtigt worden waren. Zum anderen ist zu vermuten, dass die Arbeitgeberseite der Regierung nicht in den Rücken fallen und sich künftige Gestaltungsspielräume verbauen wollte. Vor allem der Vorsitzende des Wirtschaftsarbeitskreises der Union, Fritz Hellwig, setzte sich bei der BDA dafür ein, den parlamentarischen Kompromiss zu akzeptieren.346 Auch um die übrigen Gegner der dynamischen Rente wurde es nach der Entscheidung ruhiger. Der ausgehandelte Kompromiss schien akzeptabel, und die ersten Umfragen nach Eintritt der Rentenerhöhungen zeigten, dass die befürchteten negativen Folgewirkungen auf die Währung und das Sparverhalten der Bevölkerung ausblieben.347 Der zeitgenössischen Demoskopie zufolge war die Zustimmung zur Rentenreform in der Bevölkerung außerordentlich hoch. Nach Angaben des Allensbacher Instituts für Demoskopie war bisher kein Beispiel dafür bekannt, dass irgendein Gesetz, eine Institution oder sogar Verfassung und Symbole des Staates auch nur annähernd so positive Resonanz gehabt hätten wie die Rentenreform.348 Die »tiefe Befriedigung«, mit der das Gesetz auf­genommen wurde,349 lässt sich am plausibelsten aus dem seit langem ge­tä­tigten Reformversprechen erklären, das nun endlich in Erfüllung zu gehen schien.350 Am 13. Februar 1957, direkt nachdem die Renten-Neu­re­ge­lungs­ge­setze auch den Bundesrat passiert hatten, hielt der Bundeskanzler im Ra­dio eine An­ sprache zur Rentenreform. Im April folgte ein Brief von Adenau­er und Arbeitsminister Storch an »alle Rentnerinnen und Rentner«.351 In seiner Rundfunk­ 345 In dem einzigen Bericht über die Verabschiedung der Rentenreform im »Arbeitgeber« wurde freilich bedauert, dass der Bundestag sich »über die schweren volkswirtschaftlichen Bedenken« hinweggesetzt habe, die von unterschiedlicher Seite gegen die Koppelung der Rentenentwicklung an die Lohnentwicklung geltend gemacht worden seien. Vgl. Der Arbeitgeber 9 (1957), S. 89–94, hier: S. 90. 346 Vgl. Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 393. Hellwig war Mitbegründer und langjähriger Leiter des von BDA und BDI gemeinsam getragenen Deutschen Industrie-Instituts. 347 Vgl. die zwei im Regierungsauftrag angefertigten Gutachten des Allensbacher Instituts für Demoskopie: »Auswirkungen der Rentenreform 1957–1958. Bericht über eine TrendErhebung« und »Nach der Rentenreform. Praxis und Perspektiven der Altersvorsorge« (BA, B 149/407); Zusammenfassungen in: BABl. 11 (1960), S. 66–67 bzw. S. 481–492. Vgl. auch den Sozialbericht 1958 (BT-Drs. III/568). Danach übertrafen die Ersparnisse der privaten Haushalte mit knapp 11 Milliarden DM (1957) bzw. 14,1 Milliarden DM (1959) erheblich die Vorjahresziffern. 348 BABl. 11 (1960), S. 66. Vgl. auch Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 424 f. 349 BABl. 11 (1960), S. 66. 350 Vgl. BABl. 11 (1960), S. 492: »Die Rentenreform hat eine Bevölkerung angetroffen, die nach einer solchen Regelung bereits dezidiert verlangte«. 351 Vgl. Rundfunkrede Adenauers v. 13.2.1957, abgedruckt in: Bulletin Nr.  31, 14.2.1957, S. 265; Brief »An alle Rentnerinnen und Rentner«, hg. v. Presse- und Informationsdienst der Bundesregierung. Entsprechende Entwürfe der Rundfunkansprache und des Kanzlerbriefes in: BA, B 136/1386.

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ansprache hob Adenauer noch einmal die wichtigsten Leitgedanken, Prinzipien und Ziele der Reform hervor. Er erklärte, dass es keine schematische Rentenerhöhung (»keine Einheitsrente«) geben werde, da das neue Gesetz »jede ungerechte Gleichmacherei« vermeide. So wie Lohn und Gehalt die Gegenleistung für Arbeit darstelle, so solle die Arbeit des ganzen Lebens in der Rente ihre Anerkennung finden. Weiter kündigte der Bundeskanzler an, dass die Renten in Zukunft am steigenden Wirtschaftsertrag teilnehmen würden. Er wies darauf hin, dass eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik stets die Voraussetzung für eine gute Sozialpolitik sei. Schließlich erklärte Adenauer, dass die getroffenen Entscheidungen nicht nur für jetzige Rentner von Bedeutung seien, sondern auch für die derzeit erwerbstätigen Arbeiter und Angestellten sowie alle kommenden Generationen. Keiner, betonte er, werde bei der Renten­reform »leer aus­ gehen«. »Der wichtigste Teil der von mir angekündigten Sozialreform ist damit, so glaube ich sagen zu können, in guter Weise gelöst worden. Unterdessen gehen die Arbeiten an der Reformierung unserer sozialen Gesetzgebung weiter«.352 Aus diesen Ausführungen wird deutlich, wie eng die neuen Regelungen mit der sozialstrukturellen Entwicklung sowie den Wert- und Ordnungsvorstellungen in der Bundesrepublik verbunden waren: mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und dem wachsenden Wohlstand in der Bevölkerung und bei großen Teilen der Arbeitnehmerschaft, mit dem gesellschaftlichen Leistungs- und Aufstiegsstreben und dem Verlangen nach Anerkennung der geleisteten Arbeit (­Statuserhalt). Zugleich trug die Rentenreform aber dem Wunsch nach Distinktion, vor allem bei den Angestellten, Rechnung sowie der weit verbreiteten Ablehnung von »Nivellierung« und »Gleich­macherei«. Das war somit eine Reform für die Leistungswilligen, die Aufsteiger oder – mit anderen Worten – für die »Mittelklassen« bzw. die, die es werden woll­ten. Dieses Ergebnis passt zu der Kritik, die in der Gewerkschaftszeitung des DGB »Die Quelle« an der »Rentenfibel«353 des Bundesarbeitsministeriums geübt wurde.354 Diese Fibel hatte nach eigenen Angaben den Zweck, die Versicherten »mit den Grund­sätzen der Neugestaltung ihrer sozialen Sicherung vertraut zu machen«.355 Nach Ansicht der Gewerkschaften erfüllte sie diesen Zweck je352 Bulletin Nr. 31, 14.2.1957, S. 265. – Am 26.2.1957 hielt Bundesarbeitsminister Storch aus Anlass der Unterzeichnung der Renten-Neuregelungsgesetze durch den Bundespräsidenten ebenfalls eine Rundfunkansprache (abgedruckt in: Bulletin Nr. 49, 30.2.1957, S. 351). Dort hieß es: »Wenn wir zu diesen Gesetzen Stellung nehmen, und wenn wir sie uns richtig betrachten, dann finden wir, dass wir ganz neue Grundprinzipien für unsere neue Ordnung gesucht und gefunden haben«. 353 Was bringt mir die Rentenreform? Rentenfibel für alle Versicherten und Rentner der Rentenversicherung der Arbeiter mit dem amtlichen Tabellenwerk, hg. v. Bundesminister für Arbeit (1957). 354 Vgl. Kritik an der Rentenfibel, in: Die Quelle 8 (1957), S. 178–179. 355 Rentenfibel, Einführung. Vgl. auch die Ausführungen Storchs zur Rentenfibel in der Sitzung des CDU-Bundesvorstands am 7.2.1957 (Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1953–57, S. 1217 ff.).

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doch nur unzureichend, da »für einen großen Kreis von Versicherten, der immerhin noch Millionen zählt«, Rechenbeispiele fehlten. Gemeint waren die freiwillig Versicherten und hier insbesondere »die Hausfrauen, die sich nach Aufgabe ihrer Berufstätigkeit freiwillig weiterversichert haben«. »Sollte durch das Fehlen solcher Hinweise und Beispiele das u. E. für eine amtliche Schrift zu schön gefärbte Bild über die Rentenneuregelung nicht gestört werden?«, so die Frage des Verfassers des Artikels. In der Tat enthielt die Rentenfibel vor allem Berechnungsbeispiele aus der Pflichtversicherung, die zu ansehnlichen Rentenbeträgen führten. Die Adres­saten der Reform traten damit klar hervor: Es waren die seit Jahren oder Jahrzehnten dauernd erwerbstätigen männlichen Arbeiternehmer. Der große propagandistische Aufwand der Regierung ist vor allem im Zusammenhang mit dem Bundestagswahlkampf von 1957 zu sehen und dem Rechtfertigungszwang, in dem sich gerade der Bundeskanzler nach seiner Regierungserklärung von 1953 und dem Versprechen einer »umfassenden Sozialreform« befand. Zugleich gab es jedoch noch einen anderen Hintergrund: So ging es bei der Vermarktung der Reform auch darum, die bereits ersichtlichen Mängel und Defizite der Reformgesetze zu überspielen. Diese Mängel, die vom politischen Gegner und den Verbänden zum Anlass genommen wurden, Veränderungen oder Nachbesserungen an den gerade beschlossenen Gesetzen zu fordern,356 waren zum Teil  schon vor der Entscheidung bekannt oder absehbar gewesen. Sie erklären sich aus der Vielzahl der zu berücksichtigenden Interessen, aber auch aus der mangelnden Geschlossenheit von Regierung und Regierungsparteien. Das war problematisch; noch schwerer wog freilich, dass es sich dabei auch um Defizite handelte, welche zu beseitigen die Reformer angetreten waren. Das gilt in erster Linie für die Unübersichtlichkeit und Verworrenheit des Sozialrechts. Hier konnte das neue Gesetzeswerk keine großen Erfolge vorweisen. Zwar waren die Bestimmungen von Arbeiterrenten- und Angestelltenversicherung weitgehend einander angeglichen worden, doch noch immer bestanden zwei unterschiedliche Gesetzestexte und zwei bzw. drei unterschiedliche Gruppen von Versicherten: Arbeiter, Angestellte und Handwerker. Der Status der Handwerkerversicherung war weiterhin ungeklärt. Obwohl hier eine Neuregelung angekündigt und verschiedene Vorschläge unterbreitet worden waren, blieb die Handwerkerversorgung – zum Verdruss der Angestellten  – vorläufig an die Angestelltenversicherung angegliedert.357 Das Angestelltenversicherungsgesetz war darüber hinaus insofern erweitert worden, als man nicht mehr mit Verweisen auf die RVO arbeitete, sondern die Paragraphen aus dem Arbeiterrentengesetz dupliziert hatte. Auch inhaltlich war durch die komplizierten und schwer verständlichen, uneinheitlichen Regelun356 Vgl. Große Anfrage der SPD-Fraktion v. 28.11.1957 (BT-Drs. III/28); Auerbach, Ansatz S. 40; Schneider, Forderungen. 357 Vgl. Günther, Sozialpolitik. Vgl. auch das Gesetz zur vorläufigen Änderung des Gesetzes über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk v. 27.8.1956 (vgl. S. 155).

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gen zur lohnwertgerechten Rente und zur Anpassung der laufenden Renten keine Vereinfachung der Gesetzesmaterie eingetreten, im Gegenteil: Für den Einzelnen war es noch schwerer durchschaubar, wonach sich seine Rente zukünftig berechnen würde. Das galt insbesondere, wenn alte und neue Regelungen zusammentrafen. Für die Stellen, die sich mit der Rentenberechnung befassten, war es unmöglich, auch sämtliche Renten der sog. alten Last nach der neuen Rechnungs­methode umzustellen. Daher verblieb ein Unterschied zwischen einer Rente, die vollständig nach der neuen Berechnungsweise festgestellt wurde, und einer laufenden Altrente, die für die Vergangenheit gemäß einer schematisierten Tabelle angepasst wurde.358 Für den größten Unmut sorgte der Umstand, dass sich die Rentenneuregelung erstens für die Rentenempfänger unterschiedlich und zweitens nicht für alle vorteilhaft auswirken würde. Schon vor der regulären Umstellung der Rentenberechnung im April 1957 war, auch in der Öffentlichkeit, bekannt, dass die neue Regelung besonders für diejenigen kaum Verbesserungen bringen würde, die schon jetzt eine niedrige Rente bezogen.359 Die besondere Betonung des Versicherungsprinzips und die »Lohngerechtigkeit« der Renten bewirkten, dass derjenige Rentner, der in seinem Arbeitsleben ein höheres Entgelt bezogen hatte, auch eine größere prozentuale Erhöhung seiner Rente erwarten konnte. Derjenige mit einem niedrigeren Entgelt hingegen, bei dem bisher der beitragsunabhängige Grundbetrag einen erheblichen Anteil an der Rente dargestellt hatte, wurde durch die ersatzlose Streichung der Grundbeträge zusätzlich benachteiligt. Um zu verhindern, dass Rentenempfänger nach der neuen Rentenformel schlechter gestellt sein würden als nach bisherigem Recht, wurde in den Übergangsvorschriften eine sog. Besitzstandswahrungsklausel eingeführt.360 Als äußerst problematisch musste auch die Abschaffung der freiwilligen Versicherung gelten, von der besonders Frauen betroffen waren. Überhaupt zählten Frauen nicht zu den Gewinnern der Rentenreform. Aufgrund von kürzeren und geringeren Arbeits- und Beitragsleistungen wurden sie gegenüber den Männern benachteiligt und profitierten wenig bis gar nicht von der neuen Rentenberechnung. Im Bundesarbeitsministerium war man jedoch der Auffassung, dass die Renten der (Haus- und Ehe-) Frauen vielfach zusätzlich zu anderen Einkommen 358 Vgl. Beck, Neue Rentenberechnung. Vgl. auch Stellungnahme der Regierung zur Großen Anfrage der SPD-Fraktion (abgedruckt in: BABl. 9 (1958), S. 98). 359 Vgl. Art.: Die Stiefkinder der Rentenreform, in: Die Zeit v. 24.1.1957. 360 Vgl. Art.  2 § 36 ArVNG bzw. Art.  2 § 36 AnVNG. Vgl. dazu auch Tietz u. Waldmann, S. 267. – Für die 1957 neu festzusetzenden Renten galt ebenfalls eine Übergangsregel, nach der für die nächsten fünf Jahre jede Rente sowohl nach der alten als auch nach der neuen Rentenformel berechnet werden sollte. Das bessere Rentenresultat sollte berücksichtigt werden. Wie sich die Verhältnisse nach Ablauf dieser Fünfjahresfrist ge­stalten würden, war allerdings noch ungeklärt. Von dieser Regelung betroffen waren insbesondere Berufsgruppen, die an der unteren Grenze der Arbeitsverdienststufen standen, wie z. B. Land­ arbeiter oder Hausgehilfinnen. Vgl. auch: Niedrige Renten – trotz langer Versicherungszeit, in: Soz. Sich. 6 (1957), S. 5–8.

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(meist des Ehemannes) gezahlt würden. Sie bräuchten daher auch nicht eine besondere Höhe zu erreichen.361 Dies legt offen, dass der Konzeption der Rentenreform – weiterhin – das sog. »Männlicher-Ernährer-Modell« zugrunde lag.362 Es wurde damit politisch eine bestimmte Konfiguration des Familienlebens unterstützt, die besonders bürgerlich-konservativen Werten und Ordnungsvorstellungen entsprach und die zur Überdauerung patriachialischer Familienund Geschlechterstrukturen beitrug.363 In Frankreich stellte sich prinzipiell ein ähnliches Problem. Das Prinzip der Lohn- und Beitragsäquivalenz sorgte auch hier für eine grundsätzliche Benachteiligung von Frauen.364 Jedoch hatte Frankreich insgesamt eine höhere Frauenerwerbsquote als die Bundesrepublik. Auch in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten waren Frauen häufiger erwerbstätig; zudem wirkte sich die einheitlichere Leistungsgestaltung für sie günstiger aus. Das galt prinzipiell auch für das Rentensystem der DDR. Wenngleich die Rentenhöhe insgesamt als unzureichend empfunden wurde, waren die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Renten weniger ausgeprägt als in der Bundesrepublik.365 Insgesamt wurde das bundesrepublikanische System der Rentengewährung und -berechnung  – wie die Beispiele deutlich machen  – in besonderer Weise vom Gedanken der Lohn- und Leistungsgerechtigkeit beherrscht, und zwar nach dem scheinbar simplen Prinzip, »dass der Fleißige eine hohe Rente, der andere eine entsprechend niedrigere Rente erhält«.366 Soziale Erwägungen, wonach z. B. die Empfänger von Ausgleichsrenten aus der Kriegsopferversorgung eine Rentenerhöhung möglicherweise besonders nötig hatten, weil sie ganz oder teilweise von Sozialleistungen abhängig waren, traten demgegenüber in den Hintergrund. Ebenso wurde die Geschlechterdimension vollständig aus der Debatte ausgeblendet: Frauen konnten nur dann Rentenansprüche 361 Vgl. Stellungnahme des BMA zur Anfrage des BK betr. des FAZ-Art.: Die Kleinsten beißen die Hunde (FAZ, 13.9.1956) v. 19.9.1956 (BA, B 136/769). Vgl. dazu auch Moeller, S. 210 ff. 362 Vgl. dazu insb. Lewis, Gender; dies., Decline; Lewis u. Ostner, Gender. Zur frühen Kritik an der geschlechtsspezifischen Ungleichbehandlung im deutschen Sozialstaat vgl. Kickbusch u. Riedmüller; Gerhard u. a. Vgl. zum Forschungsüberblick: Kuller, Soziale Sicherung. 363 In diesem Sinne musste auch die neue Vorschrift verstanden werden, die es Frauen erlaubte, sich nach Eheschließung die zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichteten Beiträge erstatten zu lassen. Oft geschah dies ohne Aufgabe der versicherungspflichtigen Tätigkeit und, wie sich später herausstellen sollte, zum Nachteil der Versicherten. Denn mit der Beitragserstattung gingen alle Rechte aus den zurückgelegten Versicherungszeiten verloren. Im 3. RVÄndG von 1969 räumte der Gesetzgeber daher die Möglichkeit ein, dass für die Zeiten freiwillige Beiträge nachentrichtet werden konnten, für die Beiträge wegen Heirat erstattet worden waren (vgl. S. 146). 364 Vgl. Palier, S. 78 f. 365 In den letzten beiden Jahrzehnten des Bestehens der DDR stieg die Ungleichheit der Alterseinkommen zwischen Männern und Frauen an, da Frauen am häufigsten Mindestrenten erhielten und kaum in den Genuss von Zusatzrenten kamen, vgl. Conrad, Alterssicherung, S. 113. 366 Stellungnahme des BMA v. 19.9.1956 (BA, B 136/769).

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geltend machen, wenn sie eine beitragspflichtige Beschäftigung nachweisen konnten. Schon jetzt ergab eine genauere Analyse der neuen Rentenberechnung vor allem eines: Das Kanzlerwort, niemand werde leer ausgehen, würde sich nicht bewahrheiten. Vielmehr gingen gerade diejenigen leer aus, die in verstärktem Maße auf Sozialleistungen angewiesen waren. Doch auch am oberen Ende der Rentenskala gab es »Härten«. Einbußen drohten insbesondere denjenigen, die in der Vergangenheit besonders hohe Beiträge geleistet hatten. Denn nach den neuen Vorschriften wurde bei der Rentenberechnung die persönliche Rentenbemessungsgrundlage des Versicherten auf die im Jahre des Versicherungsfalls geltende Beitragsbemessungsgrenze begrenzt. Der diese Grenze übersteigende Betrag wurde nicht ausgezahlt. Die Versicherten wurden damit Opfer der sog. »Rentenköpfung«.367 Dieser Regelung lag folgende Logik zugrunde: Mit der Rentenreform wurde beschlossen, das Entgelt des Einzelnen nur bis zur Höhe der Beitragsbemessungsgrenze zu versichern. Diese betrug das Doppelte der allgemeinen Bemessungsgrundlage, d. h. der Durchschnittslöhne und Gehälter. Eine solche Begrenzung hatte es in der Vergangenheit jedoch nicht gegeben. Zeitweise hatten früher die oberen Beitragsklassen der Angestelltenversicherung den fünf- oder sechsfachen Wert des durchschnittlichen Entgelts der Versicherten repräsentiert. Für die Renten­ berechnung nach altem Recht war das bedeutungslos gewesen, da für jeden Beitrag ein bestimmter Steigerungsbetrag gewährt worden war. Nach neuem Recht aber war das Verhältnis, in dem das Individualentgelt zum Durchschnittsentgelt aller während der Versicherungsjahre gestanden hat, für die Bestimmung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage und damit für die Rentenhöhe von entscheidender Bedeutung. Wenn nun bei Anwendung der neuen Rentenformel die sich aus den Jahren vor 1957 ergebenden Verhältniswerte übernommen worden wären, hätten Renten gezahlt werden müssen, die doppelt so hoch gewesen wären, wie Renten mit Beitragszeiten nach 1956. Die Begrenzung der persönlichen Bemessungsgrundlage (»Rentenköpfung«) ergab sich somit aus der Umstellung des Rentenrechts. Sie erschien den Rentenexperten des BMA sozial­politisch vertretbar; bei den Betroffenen hingegen regte sich heftiger Protest.368 In einer Untersuchung des BMA wurden die Zahl der Anfang 1964 vorhandenen begrenzten Renten und die Höhe der begrenzten Beiträge festgestellt.369 Dabei beschränkte sich die Untersuchung auf die Angestelltenversicherung, da in diesem Versicherungszweig der überwiegende Teil der begrenzten Renten anzutreffen waren. Die Ergebnisse zeigten, dass rund 19 Prozent der nach neuem Recht festgestellten Renten und etwa 5  Prozent der umgestellten Renten »geköpft« wurden. Die nach neuem Recht festgestellten Renten wurden um durch367 Vgl. Art. 1 § 1255, Abs. 1 ArVNG bzw. Art. 1 § 32, Abs. 1, AnVNG. Zum Folgenden vgl. auch Pappai, Rentenköpfung, S. 605. 368 Schayer, S. 144; Günther, Sozialpolitik. 369 Vgl. Brakel.

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schnittlich 80 DM pro Monat reduziert, die umgestellten Renten dagegen sogar um rund 140 DM.370 Insgesamt schien sich die Reform der Rentenversicherung damit in zwei Richtungen auf das Sozialgefüge auszuwirken. Während sich am unteren Ende der Rentenskala die Abstände zwischen einstigen Normal- und Geringverdienern sowie Vollzeit- und Nicht-Vollzeit-Erwerbstätigen vergrößerten, vor allem auch in Ermangelung von Mindestrenten, wurden im oberen Rentenbereich aufgrund der Beitragsbemessungsgrenze Einkommens­unterschiede abgebaut. Ist es somit möglich, von einer »Vermittelschich­tung« der Rentner zu sprechen? Wie viele Rentner schafften es tatsächlich, nach der Rentenreform in mittlere Einkommensklassen aufzusteigen, und wie groß war der Anteil derjenigen, die  – trotz oder gerade wegen der Rentenreform  – in den untersten Einkommensklassen verblieben? Das wird im Folgenden anhand der Veränderungen der sozialen Lage der Rentner nach der Rentenreform und den längerfristigen Auswirkungen des Reformwerks überprüft.

5. »Vermittelschichtung« der Rentner? Die sozialen Auswirkungen der Rentenreform Die Untersuchung der sozialen Lage der Rentner vor der Rentenreform hatte ergeben, dass die Rentner trotz einer Reihe von Rentenerhöhungen wirtschaftlich und sozial erheblich schlechter gestellt waren als die Mehrheit der erwerbstätigen Bevölkerung. Ein Großteil der Rentenempfänger lebte am Rande des Existenzminimums. Der Übergang ins Rentenalter war für viele Arbeitnehmer mit dem Verlust ihres sozialen Status und somit einer sozialen Deklassierung verbunden. Die Rentner hatten am wirtschaftlichen Aufstieg seit Beginn der fünfziger Jahre nachweislich nicht teilgenommen. Das sollte sich, nach dem Willen der Rentenreformer, nun ändern. Wie jedoch aus der Analyse der Prinzipien der Rentenreform bereits deutlich wurde, war keineswegs gesichert, dass die Neuregelungen allen Rentnern in der Arbeiterrenten- und Angestelltenversicherung Verbesserungen bringen würden. Vielmehr zeichnete sich ein Trend ab, nach dem bestimmte Einkommens- und Berufsgruppen von der Neuregelung mehr profitierten als andere. Lässt sich das auch empirisch nachweisen? Wie entwickelten sich die Renten­ einkommen in den Jahren nach 1957, welche langfristigen Auswirkungen hatte die Rentenreform auf die Lage der Sozialrentner? Wer waren die Empfänger besonders hoher oder besonders niedriger Altersrenten, und in welchen Haus­ 370 Vgl. ebd. (Übersicht 1 u. 2); zur Streuung der Begrenzungsbeträge vgl. ebd. (Übersicht 3 u. 4). Wie hoch die »geköpften« Renten insgesamt waren, ist nicht übermittelt. Die durchschnittliche Versichertenrente lag im Januar 1964 in der Angestelltenversicherung bei 307,70 DM. Vgl. Sozialbericht 1965, BABl. 16 (1965), S. 890 f.

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halten lebten sie? Entfaltete die Rentenreform eine umver­teilende Wirkung? Die nachfolgenden Kapitel erörtern die Auswirkungen der Rentensteigerungen und -anpassungen der späten fünfziger und sechziger Jahre, die Rentenschichtung und Einkommen der Rentnerhaushalte sowie den sozialen Ausgleich in der Rentenversicherung. Abschließend wird nach der neuen sozialen Position der Rentner in der Gesellschaft gefragt. 5.1 Zahltag: Erhöhung und Anpassung der laufenden Renten Die Umstellung der Renten ab Mai 1957371 schien ihr Ziel und ihre Wirkung zunächst nicht zu verfehlen. Bei hoher Beitragsdichte und durchschnittlichem Arbeitsentgelt konnte die prozentuale Erhöhung der Rente über hundert Prozent betragen.372 Der Einkommensstrom, der in die Rentner­haushalte geleitet wurde, verursachte eine »wirtschaftliche Euphorie«, die von breiten Bevölkerungskreisen geteilt wurde. Damit stellte die Rentenreform nicht nur einen bedeutenden Einschnitt in der Rentenentwicklung dar, sondern sollte sich langfristig auch auf die soziale Struktur der Bevölkerung auswirken.373 Nach Schätzungen des Allensbacher Instituts für Demoskopie wurden beginnend mit Mai 1957 etwa 7,2 Millionen Renten umgestellt.374 Aufgrund eini­ ger Rentenüberschneidungen waren nicht ganz so viele Rentenempfänger betroffen, aber zusammen mit den Familienangehörigen hatte mindestens ein Sechstel der erwachsenen Bevölkerung in der Bundesrepublik an den durch die Rentenreform verursachten Einkommensveränderungen unmittelbar teil.375 Nach eigenen Angaben benötigten zahlreiche Rentner, die zuvor von ihren Angehörigen finanziell unterstützt worden waren, nach erfolgter Rentenerhöhung diese Zuwendungen von privater Seite nicht mehr. Die Zahl der von familiärer Seite unterstützten Rentner sank von zehn Prozent im April 1957 auf sechs Pro371 In der Arbeiterrenten- und der Angestelltenversicherung wurden die Renten in den ersten Monaten des Jahres 1957 zunächst zum bisherigen Betrag weitergezahlt. Dies hing mit den überaus komplizierten Umrechnungs- und Umstellungsverfahren zusammen. Zur Überbrückung der ersten vier Monate wurde den Rentenempfängern im Februar 1957 ein Vorschuss nach dem Rentenvorschusszahlungsgesetz v. 23.12.1956 (BGBl. I, S. 1072, vgl. auch Soz. Sich. 6 (1957), S. 29 f.) gezahlt. Im April 1957 wurde den Rentnern der Unterschiedsbetrag zwischen den Renten neuen Rechts und den Renten alten Rechts für die ersten vier Monate, abzüglich der Rentenvorschusszahlung vom Februar, nachgezahlt. 372 Vgl. Tietz u. Waldmann, S. 265 f. 373 Schmidtchen, S. 92 f. 374 Renten der Arbeiterrenten- und Angestelltenversicherung sowie Knappschaftsversicherung. Vgl.: Die Altersrentner nach 1957, in: BABl. 11 (1960), S. 66. – Die Regelungen der knappschaftlichen Rentenversicherung wurden durch das Gesetz zur Neuregelung der knappschaftlichen Rentenversicherung v. 21.5.1957 (BGBl I, S.  533) entsprechend der Neuordnung in der Arbeiterrenten- und Angestelltenversicherung angepasst. Vgl. dazu Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd. 3, S. 425 f. 375 Die Altersrentner nach 1957, in: BABl. 11 (1960), S. 66.

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zent im Mai 1957.376 Die psychologische Resonanz der Gesetzgebung reichte jedoch weit über den unmittelbaren Empfängerkreis hinaus. Die neuen Gesetze trafen die Erwartungen von Millionen von Versicherten, die sich über die Neuregelung befriedigt zeigten und längerfristig von ihr zu profitieren hofften. Wie die Bundesregierung in ihrem Sozialbericht von 1958 feststellte, erhöhten sich die laufenden Renten durch die Neuregelungsgesetze in der Arbeiterrentenversicherung durchschnittlich um 63,5  Prozent, in der Angestellten­ versicherung sogar um 71,9 Prozent.377 Die Einkommen der Rentnerhaushalte hatten damit im Zeitraum zwischen 1955 und 1960 eine höhere Zuwachsrate als alle anderen Einkommenskategorien.378 Die Versichertenrenten379 stiegen bei den Arbeitern im Durchschnitt von 90,50 DM (April 1957) auf 144,00 DM (Jan. 1958), bei den Angestellten von 138,00 (April 1957) auf 228,00 DM (Jan. 1958) an.380 Wie sich aus dem Sozialbericht von 1960 ablesen lässt, lagen die Altersrenten insgesamt deutlich höher als die Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten. So betrug das durchschnittliche Altersruhegeld (65 Jahre)  im Januar 1958 in der Arbeiterrentenversicherung 159,40 DM, in der Angestelltenversicherung 259,20 DM. Das Altersruhegeld an Frauen (60 Jahre) betrug zur selben Zeit dagegen in der Arbeiterrentenversicherung nur 120,30 DM, in der Angestelltenversicherung 204,50 DM.381 Die Rentenreform bewirkte insgesamt eine deutliche Differenzierung der Renten. Die individuelle Rentenhöhe war außer von der Höhe des früheren Arbeitsentgelts und der davon abgeleiteten Beitragsleistung von einer Reihe weiterer Faktoren abhängig: so z. B. vom Zugangsdatum der Rente, vom Zugangsalter und von der Beitragsdichte bzw. den anrechnungsfähigen Versicherungsjahren.382 Bei den Frauen lag die durchschnittliche Höhe der Versichertenrente beträchtlich unter derjenigen der Männer. Das war zum Teil  dadurch bedingt, 376 Ebd. 377 Vgl. Sozialbericht 1958 (BT-Drs. III/568), S. 22 f. 378 Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 422. Mit 54,2 Prozent wuchs das Einkommen der Rentnerhaushalte zwischen 1955 und 1960 prozentual am stärksten, gefolgt von den Angestellten- und Beamtenhaushalten, die mit 48,7 Prozent folgten. Allerdings nahm in der gleichen Zeit die Zahl der Rentnerhaushalte um 8,9  Prozent, die der Angestellten- und Beamtenhaushalte um 10,3 Prozent zu. Vgl. Schmidt u. a., Umverteilung, S. 100 (Tab. 33). 379 Altersrenten Männer und Frauen sowie Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten. 380 Sozialbericht 1958 (BT-Drs. III/568), S. 23. Die Witwen- und Waisenrenten stiegen in der Arbeiterrentenversicherung von monatlich 56,00 DM auf 100,30 DM bzw. von 31,80 DM auf 50,60 DM; in der Angestelltenversicherung stieg die Witwenrente von 74,20 DM auf 142,40 DM im Monat, die Waisenrente von 38,70 DM auf 54,60 DM. 381 Vgl. Sozialbericht 1960, in: BABl. 11 (1960), S. 616. 382 Allgemein galt, dass die Renten umso höher waren, je weiter das Zugangsdatum der Rente zurücklag, je älter der Rentner beim Beginn seiner Rentenzeit war und je höher die Beitragsdichte (= Anzahl und Regelmäßigkeit der geleisteten Beiträge) bzw. die Zahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre war. Vgl. Tietz u. Waldmann, S.  267 f.; Hensen, Renten­niveau.

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dass Frauen in der Vergangenheit im Allgemeinen geringer entlohnte Tätigkeiten ausgeübt hatten als Männer. Ihre Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt (durch niedrigere Löhne) schlug nun – wegen des Wegfalls der festen Rentenbestandteile – noch schärfer als zuvor auf die Rentenhöhe durch. Ein weiterer Grund waren die Versicherungsverläufe der Frauen, die sich über einen kürzeren Zeitraum erstreckten. Die Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre war bei Frauen in der Regel niedriger als bei Männern.383 Dabei wirkte sich auch aus, dass Erziehungszeiten grundsätzlich nicht angerechnet wurden. Das (politisch durchaus erwünschte) Aussetzen der Erwerbstätigkeit zum Zeitpunkt der Familiengründung führte zu Beitragslücken, die sich empfindlich auf die spätere Rentenhöhe auswirkten.384 Wie Vergleichszahlen zeigen, wurden die bestehenden Einkommensunterschiede zwischen männlichen und weiblichen Rentenempfängern aufgrund der durch die Rentenreform bewirkten Veränderungen mit der Zeit sogar noch größer. Nach den Angaben von Volker Hentschel erhöhte sich die durchschnitt­ liche monatliche Rente von versicherten Frauen der Arbeiterrentenversicherung von 103 DM im Jahre 1960 auf 181 DM im Jahre 1970. Das entsprach einer Erhöhung von 76 Prozent. Dagegen stieg die durchschnittliche monatliche Rente von versicherten Männern in der Arbeiterrentenversicherung um 122 Prozent, von 215 DM (1960) auf 477 DM (1970).385 Insgesamt bezogen 1970 noch 67 Prozent der Frauen eine Rente von bis zu 200 DM im Monat. Nur zehn Prozent der männlichen Arbeiterrenten lagen ebenso niedrig.386 Verantwortlich für diese unterschiedliche Entwicklung der Renten von Männern und Frauen waren nicht nur die nach der neuen Rentenformel zu berücksichtigenden Faktoren und der Wegfall des Grundbetrages. Auch das Phänomen der sog. »Rentenschere« trug zur Vergrößerung des Unterschieds zwischen

383 Entsprechend häuften sich die an Frauen ausgezahlten Renten, wenn man ihre Verteilung gegliedert nach der Zahl anrechnungsfähiger Versicherungsjahre betrachtete, in den unteren und mittleren Gruppen. Vgl. Rentenanpassungsbericht 1974 (BT-Drs. VII/1176), Übersicht 11 u. 12. 384 Zur Problematik der sozialen Sicherung von Frauen in der Rentenversicherung vgl. auch Schulz, Soziale Sicherung, S. 132 f.; Moeller, S. 210 ff. Vgl. auch den Zwischenbericht der Transfer-Enquête-Kommission »Zur Einkommenslage der Rentner«, welcher der sozialen Sicherung der Frau ein eigenes Untersuchungskapitel widmet, vgl. Transfer-Enquête-Kommission, Einkommenslage, S. 158 ff. 385 In der Angestelltenversicherung erhöhte sich die durchschnittliche monatliche Rente von versicherten Frauen von 190  DM im Jahre 1960 auf 365  DM im Jahre 1970; die durchschnittliche monat­liche Rente von versicherten Männern stieg in der Angestellten­ versicherung dagegen von 328 DM (1960) auf 731 DM (1970). Vgl. Hentschel, Geschichte, S. 169 (Tab. 4). 386 In der Angestelltenversicherung lagen nur noch knapp 3  Prozent der männlichen Angestelltenrenten bei einem Rentenzahlbetrag bis zu 200  DM, dagegen aber 24  Prozent der Frauenrenten. Vgl. Hentschel, Geschichte, S.  170 (Tab. 5). Vgl. ergänzend: TransferEnquête-Kommission, Einkommenslage, S. 169 (Tab. 6.10).

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Männer- und Frauen-Renten bei.387 Denn entsprechend der im Gesetz vorgesehenen Bestimmung wurden die Renten Jahr für Jahr mit einem für alle Renten gleich hohem Prozentsatz der Lohnentwicklung angepasst. Die Folge war, dass bei den laufenden Renten die höheren Renten stärker anstiegen als die niedrigen und der Abstand damit im Laufe der Zeit nominal größer wurde. Ohne Zweifel gehörten die versicherten Frauen insgesamt zu den »Stiefkindern« der Reform.388 Wie kam es, dass die laufenden Versicherten- und Witwenrenten der An­ gestelltenversicherung stärker angehoben wurden als die laufenden Renten der Arbeiterrentenversicherung? Auch das lässt sich recht einfach erklären. Der Grund waren die durchschnittlich höheren Angestelltengehälter. Durch die ausgeprägte Berücksichtigung des Versicherungsprinzips und des Prinzips der »Lohngerechtigkeit« in der neuen Rentenformel schlug die Lohndifferenz auf die neue Rentenhöhe durch. Darüber hinaus glich die Erhöhung des Steigerungsbetrages von 0,9 auf 1,5 Prozent in der Angestelltenversicherung den Wegfall des Grundbetrages voll aus. Bei den Arbeitern hingegen konnte eine Erhöhung des Altersruhegeldes nur durch die Aufwertung der früheren Einkommen bzw. der hiernach geleisteten Beiträge eintreten, da der Steigerungsbetrag in der Arbeiterrentenversicherung bereits vor 1957 bei 1,5 Prozent gelegen hatte. Damit traf eine im Herbst 1956 gemachte Vorhersage des DGB ein, dass die Arbeiter bei der geplanten Rentenerhöhung gegenüber den Angestellten benachteiligt würden und sich die Differenz zwischen den Leistungen aus den beiden Renten­ versicherungen weiter vergrößern werde.389 Auch in den Jahren nach Inkrafttreten der Rentenreform stieg die durchschnittliche Höhe der laufenden Renten in der Arbeiterrenten- und Angestelltenversicherung weiter an. Dafür sorgten die alljährlich von Regierung und Bundestag beschlossenen Rentenanpassungsgesetze. Die Rentenneuregelungsgesetze hatten ja nicht nur einmalig eine beträchtliche Erhöhung der laufenden Renten gebracht, sondern auch künftig Rentenanpassungen im Einklang mit der wirtschaftlichen Entwicklung vorgesehen.390 Die erste Rentenanpassung erfolgte jedoch erst mit einiger Zeit Verzögerung in der zweiten Hälfte des 387 Vgl. Pappai, Rente nach Mindesteinkommen, in: BABl. 24 (1973), S. 147 f. 388 Art.: Die Stiefkinder der Rentenreform, in: Die Zeit, 24.1.1957. – Auch die Enquête-Kommission »Frau und Gesellschaft« stellte 1976 fest, dass sich das im Großen und Ganzen positive Urteil über das deutsche System der sozialen Sicherung für den Bereich der sozialen Sicherung der Frau nur mit Einschränkungen aufrecht erhalten lasse (BT-Drs. VII/5866, S. 15). Vgl. dazu auch Moeller, S. 211 f. 389 Vgl. Richter, Mindestforderungen; Vortrag Ludwig Prellers »Sozialreform im sozialen Lebensbereich« auf dem 4.  Ordentlichen DGB-Bundeskongress v. 1.–6.10.1956 (Protokollband, S. 214–253, hier: S. 218 ff.). 390 Die Anpassung hatte »der Entwicklung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der Produktivität sowie den Veränderungen des Volkseinkommens je Erwerbstätigen Rechnung zu tragen«. Alljährlich hatte die Bundesregierung daher zur Begründung der Anpassung den gesetzgebenden Körperschaften den Sozialbericht und das Gutachten des Sozialbeirats vorzulegen (Art. 1 §§ 1272 f. ArVNG bzw. Art. 1 §§ 49 f. AnVNG).

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­Jahres 1959.391 Nach zwei Anpassungsrunden (mit Anpassungssätzen von 6,1 bzw. 5,9 Prozent) hatte sich die durchschnittliche Versichertenrente in der Rentenversicherung der Arbeiter (Männer und Frauen) im Juni 1960 auf 159,80 DM, in der Rentenversicherung der Angestellten auf 258,10 DM erhöht.392 Auch hier machte sich das Problem der »Rentenschere« bemerkbar. Der Abstand zwischen Arbeiterrenten und Angestelltenrenten betrug jetzt rund 100 DM, während er 1958 noch 84 DM betragen hatte. Im Mai 1962 stiegen die Rentenbeträge auf durchschnittlich 174 DM bei den versicherten Arbeitern und 286  DM bei den versicherten Angestellten an.393 Die Differenz zwischen Arbeiter- und Angestelltenrenten nahm damit weiter zu. Noch deutlicher fielen die Unterschiede beim Vergleich des Betrages des Altersruhegeldes in beiden Versicherungszweigen aus. So lag das Altersruhegeld bei den Arbeitern (65 Jahre) 1962 im Durchschnitt bei 195,70 DM, bei den Angestellten dagegen bei 321,40 DM.394 Die Altersrenten erreichten in beiden Fällen im Durchschnitt nicht die angestrebte »Standardrente« in Höhe von 60  Prozent des aktuellen durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelts aller Ver­ sicherten.395 Denn die Bruttolohn- und -gehaltssumme je beschäftigten Arbeitnehmer lag im Vergleich 1960 bei 512 DM (Arbeiter) bzw. bei 616 DM (Angestellter) im Jahre 1962.396 Immerhin bewegten sich die durchschnittlichen Altersrenten jedoch bruttobezogen zwischen 32 Prozent (Arbeiter) und 56 Prozent (Angestellte) der Lohn- und Gehaltssumme, nettobezogen lagen sie sogar bei 38 bzw. 67 Prozent.397 Insgesamt stiegen, gerade zu Beginn der sechziger Jahre, die Brutto- (aber auch die Netto-) löhne und -gehälter zwar stärker an als die Renten, die von 1959 bis 1963 durch die fünf Rentenanpassungsgesetze um insgesamt 32 Prozent an391 Vgl. Zweng; Schewe, Fünf Rentenanpassungen, S. 261 f. – Der Gesetzgeber hatte den ersten Sozialbericht der Bundesregierung erst für den 30.9.1958 bestellt. Damit fehlte Ende 1957 der Anstoß für eine Rentenanpassung. Darüber hinaus waren die Rentenversicherungsträger Ende 1957 und Anfang 1958 noch vollauf damit beschäftigt, die Antragsfülle, die durch die Rentenreform ausgelöst worden war, zu bewältigen. Das Auslassen der Anpassung für ein Jahr ist bei den folgenden Rentenanpassungen nicht wieder aufgeholt worden. Vgl. dazu auch Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd. 4, S. 305 ff. 392 Vgl. Sozialbericht 1960, in: BABl. 11 (1960), S. 609–619, hier: S. 616. 393 Sozialbericht 1962, in: BABl. 13 (1962), S. 801–839, hier: S. 824 f. 394 Vgl. dazu auch Alber, Sozialstaat, S. 185. 395 Der Standardfall sollte für einen Rentner mit 40 Beitragsjahren und einer persönlichen Bemessungsgrundlage von 100 Prozent gelten. 396 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Stat. Taschenbuch, Tab. 1.13. – Die Nettolohn- und -gehaltssumme je beschäftigten Arbeitnehmer betrug demgegenüber 1960 431 DM und 1962 512 DM, vgl. ebd., Tab 1.1.4. 397 Das Niveau der Standardrente wurde v. a. auch deshalb nicht erreicht, weil der mit Karenzjahr gleitende Dreijahresdurchschnitt der Bruttoverdienste (allgemeine Bemessungsgrundlage) infolge der jährlichen Lohnsteigerungen immer deutlich niedriger lag als der aktuelle Jahresdurchschnitt. Vgl. Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 423. Vgl. dazu auch Alber, Sozialstaat, S. 183. Zum Verhältnis von Lohn- und Rentenentwicklung im Zeitraum von 1957 bis 1972 vgl. auch Berié, S. 211 f.

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gehoben wurden.398 Längerfristig gesehen war der Anstieg des Lebensstandards der Rentner jedoch bedeutender als derjenige der aktiven Bevölkerung, da die Rentenanpassung – gemäß der Definition der »allgemeinen Bemessungsgrundlage« – den Bruttolöhnen folgte und nicht den durch Steuerprogression und Beitragssteigerungen gedrückten Nettolöhnen.399 Betrachtet man die Leistungsverbesserungen in der sozialen Rentenversicherung von 1948 bis 1962 im Längsschnitt, lässt sich feststellen, dass die durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelte auf 331 Prozent gestiegen sind, die Renten in der gleichen Zeit aber auf 415 Prozent erhöht wurden.400 Dieses erstaunliche Ergebnis beruht darauf, dass der Ausgangspunkt des Jahres 1948 für die Rentner besonders niedrig war. Vergleicht man die Rentenerhöhungen vor und nach der Rentenreform, lag das Besondere der Periode von 1957 bis 1962/63 – abgesehen von den beträchtlichen Erhöhungen durch die Rentenreform – vor allem darin, dass die Rentenerhöhungen regelmäßig stattfanden und sich eine feste Praxis der Rentenanpassung herausbildete. Langfristig mehrjährige Unterbrechungen der Anpassung waren unwahrscheinlich geworden.401 Die Rentner konnten sich damit auf eine jährliche Steigerung ihrer Renten einstellen, die, auch wenn sie der Lohnentwicklung hinterher »hinkte«,402 die Verschlechterung des Geldwertes und den Anstieg der Lebenshaltungskosten mehr als ausglich und an die Lohnentwicklung zumindest Anschluss hielt. Die Rentenerhöhungen im Zeitraum von 1949 bis 1956 waren dagegen wenn nicht willkürlich, so doch ohne einen systematischen Ansatz und unter Verwendung unterschiedlicher Methoden erfolgt. Auch hatten sie die soziale Situation der Rentenempfänger nicht wirksam zu verbessern vermocht.403 Das war nun anders. Beinahe noch wichtiger als die finanziellen waren die psychologischen Auswirkungen. Noch Anfang der fünfziger Jahre hatte eine fast »panische Furcht« vor dem Rentenalter geherrscht.404 »Materielle Not« war die häufigste Assoziation, die das Stichwort »Alter« bei den sozialversicherten Arbeitern und An­ 398 Vgl. Schewe, Fünf Rentenanpassungen, S. 261 (Übersicht 2). 399 Zwischen 1957 u. 1969 stiegen die Nettolöhne noch um 115,7 Prozent und die Renten um 110,5 Prozent; zwischen 1969 u. 1978 stiegen die Nettolöhne dagegen um 98,1 Prozent, die Renten aber um 123,7 Prozent. Vgl. Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 423. – Vgl. dazu und zum Folgenden auch das Jahresgutachten 1964 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (BT-Drs. IV/2890; in Aus­ zügen abgedruckt auch in: BABl. 16 (1965), S. 201–206, hier insb. S. 202). 400 Schewe, Rentenerhöhungen, S.  386. Vgl. auch Fehrs, Öffentliche Sozialleistungen S.  767. In Frankreich fand seit Ende der fünfziger Jahre eine vergleichbare Entwicklungs statt: Die durchschnittliche Rentehöhe folgte dem Anstieg der Einkommen, vgl. Gaspard, S. 49 (Tabelle 2). 401 Vgl. Schewe, Fünf Rentenanpassungen, S. 274. 402 Die Anpassungssätze folgten der Lohn- und Gehaltsentwicklung mit einem vierjährigen Abstand. 403 Lediglich das SVAG 1949 hatte eine annähernd vergleichbare Rentensteigerung wie die Rentenreform 1957 bewirkt. Vgl. dazu Schewe, Rentenerhöhungen, S. 387 (Übersicht 1). 404 Vgl. Killat, Problematik, S. 90.

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gestellten ausgelöst hatte. Die niedrigen Rentenleistungen waren das Sinnbild für die herrschende soziale Unsicherheit nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie standen in einem deutlichen Widerspruch zum allgemeinen Streben nach Sicherheit405 und nach einer Stabilisierung und Verbesserung der persönlichen Lebenbedingungen. Die Rentenreform löste diesen Widerspruch auf, indem sie nicht mehr von einer Rente als Überlebenshilfe ausging, sondern die Sicherung des Status quo, und damit des erreichten Aufstiegs, anstrebte. Sie traf darin die Wohlstandserwartung und das Aufstiegsbewusstsein der Mehrheit der Arbeitnehmerschaft. Darüber hinaus, und das war wichtig, stellte die Reform das Vertrauen der Bürger in den westdeutschen Wohlfahrtsstaat wieder her, das Anfang der fünfziger Jahre aufgrund der schlechten Alterssicherung in einer Krise geraten war. Die Rentenreform leistete auf diese Weise einen wichtigen Beitrag zur inneren Fundamentierung und Konsolidierung der jungen Bundesrepublik.406 5.2 Gewinner und Verlierer: Rentenschichtung und Einkommen der Rentnerhaushalte Wenn sich aus den vorgestellten Daten bereits ein Trend zur Verbesserung der Lage der Rentner ablesen lässt, muss noch weiter differenziert werden, um zu genaueren Aussagen über »Gewinner« und »Verlierer« der Rentenreform zu gelangen. In seinem Wochenbericht vom 11. Oktober 1957 wies das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin im Zusammenhang mit der Rentenreform darauf hin, dass es »im einzelnen auch häufig Rentenverdopplungen gegeben« habe, denen andererseits »zahlreiche Aufbesserungen nur um die Mindestzuschläge« gegenüber gestanden hätten.407 Diese Feststellung zielte auf die unterschiedlichen Auswirkungen der Rentenreform und auf die große Streuung der Rentenbeträge. Es stellt sich die Frage, welche und auch wessen Renten verdoppelt bzw. nur geringfügig erhöht wurden und wie sich dies auf die Einkommenslage der Rentner auswirkte. Inwiefern verbesserte sich durch die Rentenreform dauerhaft die soziale Lage der Rentner? Wer waren die Empfänger von besonders hohen bzw. besonders niedrigen Renten und in welchen Haushalten lebten sie? Das verfügbare Datenmaterial lässt eine weitere Aufschlüsselung und Differenzierung der Einkommenslage und des Lebensstandards der Rentner nach der Rentenreform leider nur bedingt zu.408 So wiesen beispielsweise die Geschäftsstatistiken der Rentenversicherungsträger in der Regel nur die Zahl und 405 Vgl. Conze, Suche; Braun, Streben. 406 Vgl. Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 435; ders., Sicherung im Alter, S. 315. Vgl. dazu auch Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 199 f.; Wolfrum, S. 88 ff. 407 Vgl. DIW, Schichtung der Sozialeinkommen, S. 165. Vgl. dazu auch Tietz u. Waldmann, S. 264–268. 408 Vgl. auch Alber, Sozialstaat, S. 189.

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die durchschnittliche Höhe der Renten und Unterstützungen aus. Durch sie lässt sich weder feststellen, wie viele Personen überhaupt Leistungen erhielten, noch in welchen Verhältnissen sie lebten und wie sich das Gesamteinkommen der Rentenempfänger zusammensetzte. Die folgenden Aussagen beruhen daher vor allem auf den empirischen Daten verschiedener Mikrozensus-Erhebungen und Einkommens- und Verbrauchsstichproben (EVS).409 Von besonderer Bedeutung sind hierbei die Daten, welche die von der Bundesregierung eingesetzte Transfer-Enquête-Kommission für die siebziger Jahre erarbeitet hat.410 In den genannten Erhebungen ist der Begriff des Rentners weit gefasst. In den Einkommens- und Verbrauchsstichproben werden nicht nur alle Empfänger von Geldleistungen aus den drei gesetzlichen Rentenversicherungen zusammengefasst (Berufs- und Erwerbsunfähgkeitsrentner mit Altersrentnern), sondern zusätzlich auch Rentenempfänger aus der gesetzlichen Unfallversicherung dazu gerechnet und die Summen zusammen ausgewiesen.411 Beim Mikrozensus werden zusätzlich auch Pensionäre (Ruhegehalts- und Witwengeld­ empfänger des öffentlichen Dienstes), Unterstützungsempfänger (z. B. aus der Kriegsopferversorgung oder aus der Fürsorge)  und sog. »Privatrentner« (Bezieher privater Unterstützungen oder von Einkommen aus eigenem Vermögen) unter dem Rentnerbegriff zusammengefasst.412 Das wirft einige methodische Schwierigkeiten auf, da in der vorliegenden Untersuchung aufgrund der Fragestellung ja vor allem die soziale Lage der Rentenempfänger aus der gesetzlichen Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten und hier insbesondere der Altersrentner von Interesse ist. Problematisch ist auch der verwendete Einkommensbegriff. So wird beispielsweise in der EVS – in Anlehnung an das in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung benutzte Konzept – auch der unterstellte Nettomietwert (Bruttomietwert abzüglich der laufenden Kosten von Eigentümerwohnungen) zum Einkommen gerechnet. Ferner zählen in der EVS alle einmaligen empfangenen Einkommensübertragungen unter 1.000 DM zum Einkommen des Haushalts. Diese Komponenten sind im Einkommen des Mikro­zensus in der Regel nicht enthalten. Die Einkommensangabe im Mikro409 Der Mikrozensus wurde seit 1957 jährlich erhoben, die EVS dagegen nur in größeren Abständen (1962/63, 1969, 1973 und 1978). 410 Vgl. Zwischenbericht der Transfer-Enquête-Kommission von 1979 »Zur Einkommenslage der Rentner«. Die Transfer-Enquête-Kommission legte ihren Aussagen vor allem das Material des Mikrozensus von 1977 und der EVS von 1973 zugrunde. Vgl. Transfer-EnquêteKommission, Einkommenslage, S. 57. 411 Nicht unterscheidbar sind Versicherten- und Hinterbliebenenrenten, gleichgültig aus welcher Quelle. Vgl. Transfer-Enquête-Kommission, Einkommenslage, S. 59. Vgl. auch Kunz, S. 706. Eine weitere Einschränkung besteht darin, dass die EVS auf freiwilliger Mitarbeit von Haushalten beruht und der Erfolg der Stichprobe von dieser Bereitschaft abhängt. 412 Beim Mikrozensus wird dagegen zwischen Versichertenrenten und Witwen-/Waisenrenten unterschieden. Vgl. Transfer-Enquête-Kommission, Einkommenslage, S. 57 f.; Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Renten-, Pensions- und Unterstützungsempfänger, S. 8.

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zensus bezieht sich in aller Regel auf das Nettohaushaltseinkommen im Monat März des Erhebungsjahres, wogegen in der EVS ein durchschnittliches Monatseinkommen aus allen während des gesamten Jahres anfallenden Einkünften errechnet wird. Die Einkommensangaben aus der EVS sind daher genauer und tendenziell auch höher als die Angaben im Mikrozensus.413 Trotz dieser Schwächen soll dieses Datenmaterial den folgenden Betrachtungen als Grundlage dienen. Aussagekraft besitzt es vor allem deshalb, weil auch innerhalb eines weiten Rentnerbegriffs die Sozial- und Altersrentenempfänger prozentual bei weitem die größte Gruppe darstellten.414 Vergleicht man die Daten und Ergebnisse unterschiedlicher Untersuchungen zur Einkommenslage der Rentner in den sechziger und siebziger Jahren, scheint auf den ersten Blick die dichte Besetzung der untersten Einkommensklassen für das Einkommensbild der Rentner charakteristisch geblieben zu sein. Nach der EVS von 1969 bezogen knapp 30 Prozent der Bezieher von Sozialversicherungsrenten aus der sozialen Renten- und Unfallversicherung ein Renteneinkommen von unter 200 DM, weitere 30 Prozent ein Renteneinkommen von 200 bis 400  DM monatlich.415 Wenn man diesen Zahlen die Daten vor der Rentenreform gegenüber stellt, lässt sich zwar eine Steigerung feststellen. Jedoch waren in dem Zeitraum bis 1969 auch die Löhne und Gehälter auf der einen, die Lebenshaltungskosten auf der anderen Seite gestiegen. Gerade im Vergleich mit den Löhnen und Gehältern – die Nettolohn- und -gehaltssumme je beschäf­tigten Arbeitnehmer lag 1969 bei monatlich 791 DM416 – erschien ein großer Teil der Rentenbeträge weiterhin niedrig. Allerdings enthielten die genannten Zahlen nicht nur die Altersrenten, sondern auch Unfallrenten, Berufsund Erwerbsunfähigkeitsrenten sowie Witwen- und Waisenrenten und die Renten von (Ehe-) Frauen, die nur kurzzeitig berufstätig gewesen waren. Alle diese Renten lagen im Schnitt erheblich niedriger. Darüber hinaus kam es darauf an, ob die Rentenzahlungen durch andere Einkommensarten, z. B. durch Erwerbstätigkeit oder Vermögen, ergänzt wurden. Weiter spielte für die Beurteilung der sozialen Lage der Rentner eine Rolle, in welchen Haushalten die Rentenbezieher lebten, welche Stellung sie darin einnahmen – Haushaltsvorstand oder »andere« Haushaltsmitglieder – und welche Bedeutung die individuellen Renteneinkünfte für das gesamte Haushaltseinkommen besaßen. Selbst bei alleinlebenden Rentenbeziehern konnte nicht ohne weiteres von der Höhe der Rente auf die Höhe des Einkommens, erst recht nicht auf den Lebensstandard, geschlossen werden. 413 Vgl. Transfer-Enquête-Kommission, Einkommenslage, S. 60 f. Zu weiteren Problemen des statistischen Materials vgl. ebd.; Schmidt u. a., Umverteilung, S. 4 ff.; Kunz, S. 706 f. 414 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Renten-, Pensions- und Unterstützungsempfänger, S.  9, 13; Ergebnisse des Mikrozensus v. Oktober 1962 bzw. April 1969 (Zusammenfassung in: BABl. 16 (1965), S. 975 f. bzw. BABl. 21 (1970), S. 677). 415 Vgl. Kunz, S. 709. 416 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Stat. Taschenbuch, Tab. 1.14.

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Der EVS von 1969 und 1973 zufolge417 wurden die Rentenzahlungen aus der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung in den meisten Fällen von anderen Einkommensarten ergänzt. Sie stellten 1969 im Durchschnitt nur 39 Prozent des verfügbaren Einkommens der Haushalte mit Rentenbeziehern dar. Ein fast ebenso hoher Prozentsatz entfiel auf Einkommen aus Erwerbstätigkeit. Weitere zehn Prozent waren Einkünfte aus anderen öffentlichen Renten und Pensionen (z. B. Kriegsopferrechten, Lastenausgleichsrenten oder Sozialhilfe), 13 Prozent stammten aus sonstigen Quellen (z. B. Vermögenseinkünfte, Privatrenten).418 Diese Durchschnittswerte lassen bereits erkennen, dass es eine große Zahl von Haushalten geben musste, in denen Einkommen aus Renten der sozialen Renten- und Unfallversicherung zwar vorkamen, aber keineswegs als Haupt­einkommensquelle dienten. Fast alle Haushalte mit Rentenbeziehern hatten nach der EVS von 1973 neben Renten auch Einkünfte aus Vermögen – wenngleich es sich dabei zum überwiegenden Teil um geringe Beträge handelte –, während 45 Prozent Einkommen aus unselbständiger Arbeit und 30 Prozent Einkommen aus Unternehmertätigkeit erhielten. Die Häufigkeit und die Höhe der einzelnen Einkunftsarten waren jedoch in Haushalten, die überwiegend von Rente lebten – also den Rentnerhaushalten im engeren Sinne – und in den übrigen Rentenbezieher-Haushalten recht unterschiedlich. Erstere bezogen erwartungsgemäß im Durchschnitt erheblich seltener entsprechende Einkünfte aus Erwerbs- und Unternehmertätigkeit; zugleich lagen diese Einkünfte im Schnitt niedriger.419 Wie eine Gliederung der Bezieher von Renten der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung nach ihrer Stellung zum Haushaltsvorstand zeigt, standen 1973 drei von vier Rentenbeziehern einem eigenen Haushalt vor; von diesen waren etwa 80 Prozent 60 Jahre und älter.420 Rentenbezieher konnten jedoch nicht einfach Rentnerhaushalten zugeordnet werden. So lebte beispielsweise jeder fünfte Bezieher einer Rente der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung in einem Haushalt mit einem erwerbstätigen Haushaltsvorstand.421 Insgesamt mussten nach der EVS von 1973 nur 54,5 Prozent aller Haushalte, die Renten bezogen, überwiegend von dieser Einkunftsart leben.422 417 Zwischen 1969 und 1973 erhöhten sich die Sozialversicherungsrenten aufgrund der Rentenanpassungsgesetze um rd. 45  Prozent, jedoch blieben die grundlegenden Strukturen, wie die Daten erkennen lassen, weitgehend unverändert. Dies gilt auch trotz der zum 1.1.1973 in Kraft getretenen Rentenreform vom 1972. Vgl. auch Kunz, S. 711. 418 Vgl. ebd., S. 708 (Tab. 2). Vgl. auch Transfer-Enquête-Kommission, Einkommenslage, S. 90 (Übersicht 4.20). 419 Transfer-Enquête-Kommission, Einkommenslage, S. 90 f. 420 Ebd., S. 81 (Übersicht 4.13). 421 Ebd., S. 82 (Übersicht 4.14). 422 Diese können als Rentnerhaushalte im engeren Sinne verstanden werden, in Abgrenzung von den Rentenbezieher-Haushalten, in denen zwar Rentenbezieher lebten, die Rente aber nicht die Haupteinkommensquelle darstellte. Vgl. Transfer-Enquête-Kommission, Einkommenslage, S. 73.

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Das Zusammenleben in größeren Haushalten und die Kombination mehrerer Einkunftsarten verbesserten die Lebenssituation der Rentner erheblich. Allgemein galt: Je niedriger die Rentenzahlung desto niedriger war tatsächlich auch ihr Anteil am verfügbaren Haushaltseinkommen der Empfänger. Sehr geringe Renteneinkommen (unter 100 DM) wurden vor allem von anderen – meist weiblichen – Haushaltsmitgliedern und nicht in erster Linie von Haushaltsvorständen bezogen.423 Nach den Berechnungen der Transfer-Enquête-Kommission erhielt 1973 knapp ein Viertel aller Rentner der gesetzlichen Renten- oder Unfallversicherung monatliche Zahlungsbeträge von unter 250 DM und damit Beträge, die kaum über den zu dieser Zeit geltenden Regelsatz der Sozialhilfe von 218 DM hinausgingen. Die Rente stellte in diesen Fällen im Durchschnitt aber nur neun Prozent des verfügbaren Haushaltseinkommens dar. Ein weiteres Viertel erhielt Renten zwischen 250 und 500 DM monatlich. Hier lag der Anteil der Rente am verfügbaren Haushaltseinkommen bei knapp 28 Prozent. Bei Beziehern von Renten über 750 DM im Monat machten diese schon mehr als die Hälfte des Haushaltseinkommens aus. Mit weiter steigenden Rentenbeträgen stieg der Anteil der Rente am Haushaltseinkommen weiter an.424 Insgesamt war der Anteil der Frauen an den niedrigen Renten besonders hoch. So wurden der EVS von 1973 zufolge 70 Prozent der Renten unter 250 DM von Frauen bezogen. Das waren insbesondere Rentenbezieherinnen im Alter von über 60 Jahren. Jedoch mussten auch diese Frauen zum überwiegenden Teil nicht allein von dieser Rente leben. Sie stellten im Durchschnitt nur zehn Prozent des verfügbaren Haushaltseinkommens dar. Allerdings lag dieser Anteil bei den alleinstehenden Frauen höher.425 Wie auch die Transfer-EnquêteKommission in ihrem Bericht hervorhob, lässt sich aus den Angaben über die relative Bedeutung von Renten für das Haushaltseinkommen nicht ersehen, ob eine niedrige Rente, die nur relativ wenig zum Haushaltseinkommen beitrug, Ursache der Erschließung weiterer Einkommensquellen war. Hierzu wären Informationen über die Einkommens- und Beschäftigungssituation der betreffenden Personen, insbesondere während ihrer Erwerbsphase, erforderlich, die jedoch nicht vorliegen.426 Wie sich aus den Berechnungen der Transfer-Enquête-Kommission ergab, waren von den Rentnerhaushalten im engeren Sinne – d. h. von den 6,5 Millionen Rentnerhaushalten, die zum überwiegenden Teil von ihren Rentenzahlungen lebten – 90 Prozent Ein- oder Zweipersonenhaushalte. Die übrigen Haushalte, die auch Renten bezogen, bestanden demgegenüber in 70  Prozent der Fälle aus drei oder mehr Personen. Die »typischen« Rentnerhaushalte waren 423 Vgl. Kunz, S. 709 (Tab. 3). 424 Transfer-Enquête-Kommission, Einkommenslage, S. 84 (Übersicht 4.16); Alber, Sozialstaat, S. 188. Vgl. auch Kunz, S. 711. 425 37 Prozent der Renten unter 250 DM im Monat wurden von alleinstehenden Frauen empfangen; diese Rentenzahlungen machten im Durchschnitt 22 Prozent des verfügbaren Einkommens aus. Vgl. Transfer-Enquête-Kommission, Einkommenslage, S. 83, 85. 426 Ebd., S. 85.

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somit Ein- und Zweipersonen-Haushalte, genauer gesagt: alleinstehende Frauen und Ehepaare, die zusammen über 80  Prozent der Rentnerhaushalte stellten. Wurde dagegen der Lebensunterhalt in Rentenbezieher-Haushalten überwiegend durch andere Einkommensarten bestritten, waren das zumeist Mehr­ personenhaushalte.427 Die verschiedenen Haushaltsgruppen wiesen beim Einkommensniveau erhebliche Unterschiede auf. Besonders ausgeprägt waren die Einkommensunterschiede zwischen Rentnerhaushalten und (Arbeitnehmer-) Haushalten mit Rentenbezug. Aber auch innerhalb der überwiegend von Renten lebenden Rentnerhaushalte war die Einkommensstreuung groß. Bezogen auf das durchschnittlich verfügbare Einkommen alleinstehender Männer betrug das Einkommen von alleinstehenden Frauen 82  Prozent, das Einkommen von Zweipersonenhaushalten mit männlichem Haushaltsvorstand 147  Prozent.428 Von den Haushalten, die überwiegend von Renten lebten, blieben nach den Ergebnissen der EVS von 1973 fünf Prozent unter der Armutsgrenze der Sozialhilfe. Das waren 231.000 Haushalte.429 Insgesamt waren etwa zwei Drittel aller Haushalte unterhalb der Armutsgrenze gemäß Sozialhilfestandard Rentnerhaushalte.430 Die Renten reichten vor allem für allein lebende Frauen häufig nicht aus, um Armut zu vermeiden. 1973 lebten 2,1 Millionen alleinstehende Frauen über­ wiegend von einer gesetzlichen Rente. 17  Prozent von ihnen hatten ein monatliches Haushaltsnettoeinkommen von unter 500 DM. Das entsprach ungefähr dem Sozialhilfeniveau, das von der Transfer-Enqête-Kommission für diese Gruppe einschließlich Wohnkosten auf 437 DM festgesetzt worden war.431 Damit stellt sich die Frage nach dem Zusammentreffen von Renten und Sozialhilfe. Geht man von den 12,3 Millionen Personen im Mikrozensus von 1977 aus, die Rente, Pension und Sozialhilfe bezogen (Rentenbezieher), ergab sich, dass von den 2,5 Millionen Personen (20,7  Prozent), die zwei Renten bezogen, insgesamt 155.000 Personen (1,2 Prozent) Renten- und Sozialhilfezahlungen empfingen.432 Diese Zahl erscheint niedrig und weckt insofern Zweifel, als bei einer nicht geringen Anzahl von Kleinrentnern das verfügbare Nettoeinkommen unter den Leistungssätzen der Sozialhilfe lag.433 Zieht man die Sozial­ hilfe-Zusatzstatistik von 1972 hinzu, lässt sich ersehen, dass etwa jeder zweite Empfänger von Hilfen zum Lebensunterhalt nach der sozialen Stellung Rentner oder Pensionär war. Insgesamt waren das 210.000 Personen. Diese Zahl ist wohl die realistischere. Sie verdeutlicht, dass eine nicht unbeträchtliche Anzahl von 427 Ebd., S.  91. Von den Rentenbezieher-Haushalten, die überwiegend von Einkommen aus unselbständiger Arbeit oder von Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen lebten, hatten jeweils rund die Hälfte vier und mehr Personen. Vgl. ebd., S. 75. 428 Ebd., S. 92. 429 Alber, Sozialstaat, S. 189. 430 Vgl. Transfer-Enquête-Kommission, Einkommenlage, S. 100 f. 431 Vgl. ebd., S. 167, 169 (Übersicht 6.9), 175; Alber, Sozialstaat, S. 189. 432 Vgl. Transfer-Enquête-Kommission, Einkommenslage, S. 130 (Übersicht 5.2). 433 Vgl. ebd., S. 150 f.

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Rentenbeziehern wegen unzureichender Rentenzahlungen auf Sozialhilfe angewiesen war.434 Gemessen an der Gesamtzahl der Rentenbezieher war das jedoch wiederum ein recht geringer Teil. In diesem Zusammenhang muss zuletzt noch auf die Problematik der sog. »Rentenkumulierung« eingegangen werden. Wie bereits festgestellt wurde, war es der Rentenreform nicht gelungen, die Sozialleistungen wesentlich zu entflechten; noch immer kam es vor, dass ein Rentner zwei oder mehr Renten gleichzeitig bezog, z. B. aus der sozialen Rentenversicherung und der Kriegsopferversorgung. Nach den Ergebnissen des Mikrozensus von 1962, 1969 und 1977 verblieb dieser Anteil relativ konstant bei etwa zwanzig Prozent.435 Auf fünf Rentner (Renten-, Pensions- und Unterstützungsempfänger einschließlich »Privatrentner«) kam damit ein Bezieher von zwei oder mehr Renten. Wie schon vor der Rentenreform, lässt sich auch für die sechziger Jahre feststellen, dass die Bezieher von zwei oder mehr Renten im Durchschnitt zwar ein höheres persönliches Nettoeinkommen hatten als Bezieher von nur einer Rente.436 Die Besserstellung der Mehrfachbezieher hielt sich jedoch aufgrund der geltenden Anrechnungsbestimmungen in Grenzen. Gerade die Rentenerhöhungen im Zuge der Rentenreform 1957 brachten den Mehrfachbeziehern kaum Vorteile, da durch die Anrechnungsbestimmungen437 die Rentenbezüge an anderer Stelle wieder ge­kürzt wurden. Was lässt sich aus diesen Einkommensanalysen in Bezug auf die soziale Lage der Rentner nach der Rentenreform und ihre »Vermittelschichtung« ableiten? Eine wichtige Erkenntnis ist zunächst, dass die Empfänger kleinster Sozial­ versicherungsrenten  – die, urteilt man allein auf Grundlage der Rentenhöhe, zu den Verlierern der Rentenreform gezählt werden müssen – nicht vorwiegend in den wirt­schaftlich schwächsten Haushalten lebten. Vielmehr trugen die nie­ drigen Renten relativ wenig zum Haushaltseinkommen bei – und das umso weniger, je größer der Haushalt war. Die hohe Zahl an weiterhin niedrigen Renten war somit nicht unbedingt ein Indikator für die schlechte soziale Lage der Rentenempfänger. Niedrige Renten bedeuteten nicht, dass die Empfänger automatisch am Rande des Existenzminimums lebten, sondern niedrige Renten dienten in den meisten Fällen als Ergänzung des Haushaltseinkommens. Mit großer Wahrscheinlichkeit stammten derart geringe Rentenbezüge aus vergleichsweise kurzen Versicherungszeiten, wie sie besonders bei (Ehe-) Frauen häufig vorkamen. 434 Vgl. ebd., S. 151. 435 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Renten-, Pensions- und Unterstützungsempfänger, S. 9 f.; BABl. 21 (1970), S. 677; Transfer-Enquête-Kommission, Einkommenslage, S. 130. 436 Vgl. Transfer-Enquête-Kommission, Einkommenslage, S.  136 f. (Übersicht 5.7 zeigt die Rentenbezieher nach der Anzahl der im Mikrozensus nachweisbaren Renten und der Höhe des persönlichen Nettoeinkommens, das jedoch nicht nur aus Renteneinkommen zu bestehen braucht). 437 Vgl. §§ 1278–1285 ArVNG bzw. §§ 55–62 AnVNG. Vgl. auch Zewe.

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Zweitens lässt sich feststellen, dass die relative Bedeutung der Rente mit der Rentenhöhe stieg. Rentenbezieher mit einem hohen Einkommen aus Sozialversicherungsrenten lebten daher auch fast ausschließlich von diesen Renten und bezogen weder in nennenswertem Umfang sonstige öffentliche Renten und Pensionen noch Erwerbs­einkommen.438 Hohe Renteneinkommen wurden indessen fast ausschließlich von Haushaltsvorständen bezogen.439 Dabei ist davon auszugehen, dass hinter diesen Haushaltsvorständen vor allem männliche Altersrentner mit ehemals hohen Erwerbseinkommen und einer hohen Beitragsdichte standen. Renteneinkommen dienten insbesondere in Ein- bis Zweipersonenhaushalten als überwiegendes Haushaltseinkommen. Das waren die »typischen« Rentnerhaushalte. In den übrigen Mehrpersonenhaushalten ist davon auszugehen, dass ein größerer Teil des Haushaltseinkommens von den anderen Haushaltsmitgliedern beigesteuert wurde. Generell waren Haushalte mit Rentenbeziehern im Durchschnitt zwar schlechter gestellt als die Gesamtheit aller Haushalte – so waren bei den Rentenbezieher-Haus­halten die unteren Einkommensgruppen relativ stärker, die oberen Einkommensgruppen dagegen relativ schwächer besetzt als bei der Gesamtheit der Haushalte. Die relative Einkommensposition von Rentner- im Vergleich zu Arbeitnehmerhaushalten hatte sich dennoch Anfang der siebziger Jahre erheblich verbessert. Nach den Berechnungen der Transfer-En­quête-Kommission lag die Relation des Einkommens in Rentnerzu Arbeitnehmerhaushalten bei alleinstehenden Frauen 1973 bei gut 58  Prozent, bei alleinstehenden Männern bei 67  Prozent.440 Dabei traten erhebliche Streuungen auf: Ein Teil der Rentnerhaushalte hatte erheblich weniger Einkommen zur Verfügung, ein anderer Teil aber dafür ein Nettoeinkommen, das sich von der durchschnittlichen Nettolohn- und Gehaltssumme je Arbeitnehmer nicht wesentlich unterschied.441 Verfügten nach Angaben des DIW 1970 39 Prozent der Rentnerhaushalte über ein monatliches Nettoeinkommen von 500 bis unter 1.000 DM, traf das auch auf 26,7 Prozent der Arbeiter- und 20,7 Prozent der Angestelltenhaushalte zu. Weitere 30 Prozent der Rentnerhaushalte hatten 438 Die EVS von 1969 zeigte, dass Haushaltsvorstände mit einem durchschnittlichen monat­ lichen Renteneinkommen von 435 DM noch 85 DM (20 Prozent) Einkommen aus sonstigen öffentlichen Renten und Pensionen und 111  DM (26  Prozent) Einkommen aus Erwerbstätigkeit bezogen. Im Vergleich dazu hatten Haushaltsvorstände bei 686  DM Durchschnittsrente nur 8 Prozent an Einkommen aus sonstigen öffentlichen Renten und Pensionen und 12 Prozent an Einkommen aus Erwerbstätigkeit. Vgl. Kunz, S. 711 (Tab. 5). 439 Vgl. Kunz, S. 709. 440 Vgl. dazu Transfer-Enquête-Kommission, Einkommenslage, S. 103. 441 Der EVS von 1969 zufolge hatten von den 6,6 Millionen Rentenbeziehern, die 1969 Haushaltvorstände waren, 2,7 Millionen eine durchschnittliche Rente aus der sozialen Rentenund Unfallversicherung von 435 DM, knapp eine Million eine Rente von 686 DM und weitere 0,6 Millionen sogar eine Rente von über 800 DM im Monat. Vgl. Kunz, S. 711 (Tab. 5). Im Vergleich dazu lag die durchschnittliche Nettolohn- und Gehaltssumme je Arbeitnehmer im Jahr 1969 bei monatlich etwa 791 DM.

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sogar ein Einkommen über 1.000  DM.442 Einer beträchtlichen Anzahl von Rentnerhaushalten war somit Anfang der siebziger Jahre der Aufstieg bzw. der Verbleib in den mittleren Einkommensschichten gelungen. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass unter den Haushalten, die in einkommensmäßiger Armut lebten, immer noch viele Rentnerhaushalte waren. Vor allem alleinstehende bzw. -lebende Rentenbezieher und hier insbesondere Frauen waren von der Altersarmut betroffen. Insgesamt lassen sich Frauen eindeutig als Verlierer der Rentenreform ausmachen.443 Sie waren häufig auf andere Einkommensquellen und Hilfen oder die finanzielle Unterstützung anderer Haushaltsmitglieder angewiesen. Frauen stellten damit, nach M. Rainer Lepsius, eine »unterprivilegierte Versorgungsklasse« dar.444 Denn die Rentenversicherung knüpfte die Leistungen an Beiträge und Anwartszeiten, die von Frauen regelmäßig nicht erbracht wurden. Das System diskriminierte die so­ ziale Gruppe der Frauen und ließ sie so zur »Versorgungsklasse« werden. Zuspitzend lässt sich formulieren, dass eine Frau die beste soziale Sicherung durch die Ehe mit einem gesunden und gut verdienenden Ehemann erlangte.445 Im Gegensatz zu den Verlierern lassen sich eindeutige Gewinner empirisch schwieriger ausmachen. Letztlich waren es alle jene, die aufgrund der neuen Regelungen (Rentenformel, Lohnbindung, Anerkennung von Ersatzzeiten etc.) langfristig dem Armutsrisiko entkamen und eine auskömmliche Rente bezogen. Das war, im Vergleich zu den Verhältnissen vor der Rentenreform, ein wachsender Teil.446 In diesem Zusammenhang muss jedoch auch auf die strukturelle Benachteiligung der Arbeiter gegenüber den Angestellten hingewiesen werden. Die Rentner in der Angestelltenversicherung standen wesentlich besser da als die der Arbeiterrentenversicherung. Der Anteil der auskömmlichen Renten war hier erheblich höher.447 Zwar hatte sich auch die Lage der Arbeiterrentner im Vergleich zu den frühen fünfziger Jahren spürbar verbessert. Die relativen Einkommensabstände zwischen den Renteneinkommen der Arbeiter und der Angestellten blieben jedoch in dem Maße erhalten, wie sich in der Vergangenheit die Markteinkommen zwischen Arbeitern und Angestellten unterschieden hatten und auch noch in den sechziger und siebziger Jahren weiter unterschieden.448 Die pauschale prozentuale Erhöhung der Renten bei den jährlich 442 Vgl. DIW, Einkommensschichtung sozialer Gruppen, S. 306 (Rentnerhaushalte mit Rentner als Haushaltsvorstand einschließlich Ruhegehalts- und Witwengeldempfänger sowie Personen, die ausschließlich aus eigenen Vermögenseinkünften lebten). 443 Vgl. Transfer-Enquête-Kommission, Einkommenslage, S. 100 f. 444 Lepsius, Soziale Ungleichheit, S. 179 f. 445 Moeller, S. 212. 446 Vgl. auch Alber, Sozialstaat, S. 184. 447 Vgl. ebd., S. 185. Vgl. auch Osterland u. a., S. 155. 448 Zwischen 1950 und 1970 näherten sich die Einkommen von Arbeitern und Angestellten zwar an. Diese leichte Nivellierung konnte die Einkommensdifferenz zwischen Arbeitern und Angestellten aber nicht einebnen. Insgesamt nahm der Unterschied der Modal- und Medianwerte stärker ab als der Unterschied der arithmetischen Mittelwerte. Dies erklärt

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erfolgenden Anpassungen bewirkte, dass sich der Abstand bei den laufenden Renten tendenziell noch vergrößerte.449 Das war nicht allein eine westdeutsche Entwicklung. Auch im franzö­sischen Rentensystem wurden die bestehenden Einkommensunterschiede zwischen den Berufsgruppen auf die Sphäre der Sozialeinkommen übertragen. Hin­gegen waren die Strukturen des skandinavischen Pensionssystems stärker auf eine Ver­wischung der berufsspezifischen Unterschiede beim Einkommen orientiert. In Großbritannien verlief die Spaltung der Renteneinkommen zwischen denen, die auf eine staatliche Rente angewiesen waren – zumeist Arbeiter und ein­ fache Angestellte sowie Erwerbslose – und der englischen »middle« und »upper class«, die ihr Auskommen im Alter mit Hilfe von Privat- und Zusatzversicherungen sicherten. Die Tatsache, dass die Leistungen für Männer und Frauen sowie wie für Arbeiter und Angestellte in der Bundesrepublik nach wie vor sehr ungleich waren und blieben, führt zu der Frage nach der umverteilenden Wirkung oder dem sozialen Ausgleich in der Rentenversicherung. Fand in der Rentenversicherung in Bezug auf die Altersrenten überhaupt eine soziale Umverteilung statt? Welche Arten des sozialen Ausgleichs gab es und in welche Richtung wirkten sie? 5.3 Horizontal oder vertikal? Sozialer Ausgleich und Umverteilung Vor der Rentenreform war der soziale Ausgleich in der Rentenversicherung relativ leicht zu erfassen gewesen. Er bestand in erster Linie darin, dass diejenigen, die nur wenige und niedrige Beiträge gezahlt hatten, den gleichen festen Grundbetrag erhielten wie diejenigen, die viele und hohe Beiträge gezahlt hatten. Die einen mussten somit insgesamt weniger, die anderen mehr abgeben, um die festen Rententeile zu erhalten. Auf diese Weise wurden innerhalb der einzelnen Versicherungszweige Gelder von den hohen zu den niedrigen Beitragszahlern – und damit von den hohen zu den niedrigen Arbeitsverdiensten  – umverteilt. Der Grund für diese Art des Ausgleichs lag seit der Einführung des Systems sich daraus, dass zwischen 1950 und 1970 die Verdienstunterschiede innerhalb der Angestelltenschaft wuchsen und die Gehälter der höheren Angestellten besonders deutlich anstiegen, was sich im arithmetischen Mittelwert niederschlug, während die große Masse der unteren und mittleren Angestelltengehälter den insgesamt homogener werdenden Arbeiterlöhnen ähnlicher wurden. Vgl. Kocka u. Prinz, S. 231 f.; Kocka, Die Angestellten, S. 198; Osterland u. a., S. 123 ff. 449 Berechnungen Hentschels zufolge hatte die Rentenformel die Kluft zwischen Arbeiterund Angestelltenrenten von rund 1: 1,53 in den fünfziger Jahren auf etwa 1: 1,67 in den sechziger und frühen siebziger Jahren erweitert. Daran schien auch der Umstand nichts zu ändern, dass die alles in allem überdurchschnittlichen Arbeitseinkommen der Angestellten in der allgemeinen Bemessungsgrundlage mit den Arbeitseinkommen der Arbeiter zusammengefasst wurden und bei der Rentenberechnung auch den Arbeitern zugute kamen. Vgl. Hentschel, System der sozialen Sicherung, S. 334; ders., Geschichte, S. 167 ff.

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Ende des 19. Jahrhunderts vor allem darin, den Geringverdienern mit geringen Beitragsleistungen, d. h. insbesondere den unteren Arbeiterschichten, eine Art von Mindestrente zu sichern.450 Die Rentenreform schaffte die festen Rentenbestandteile bekanntlich ab und individualisierte die Rentenbemessung weiter; jeder Versicherte sollte »seine« Rente erhalten, die »das Arbeitsschicksal seines Lebens« widerspiegelte.451 Ein Ausgleich in der bisherigen Form war nicht vorgesehen. Jedoch gab es andere Formen des Ausgleichs, bei denen zu untersuchen ist, worauf sie zielten und inwiefern sie eine umverteilende Wirkung besaßen. Zunächst muss dabei auf den Begriff des »sozialen Ausgleichs« eingegangen werden, der sich nicht so leicht erschließt, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. »Sozialer« Ausgleich meint nicht zwingend, dass Gelder nach sozialen Gesichtspunkten verteilt werden. Vielmehr kann und muss auch dann von einem sozialen Ausgleich gesprochen werden, wenn das Maß für Leistungen von dem Maßstab für die Aufbringung der Mittel abweicht. In diesem Sinne stellen Beiträge und Steuern, die nach der Höhe des Einkommens erhoben werden, Elemente des sozialen Ausgleichs dar. Wesentlich ist auch, dass es beim sozialen Ausgleich Begünstigte und Benachteiligte innerhalb einer geschlossenen Gruppe gibt, deren wirtschaftliche Lage einander angenähert werden soll.452 In der reformierten Rentenversicherung lassen sich insgesamt vier bzw. fünf Ausgleichsarten unterscheiden: erstens der Ausgleich zwischen den Generationen durch das Umlageverfahren, zweitens der Ausgleich der Versicherungszeiten durch die Einführung von Ersatz- und Ausfallzeiten, drittens der Ausgleich nach Bedarfsgrundsätzen durch die Besitzstandswahrung und die Sonderzuschüsse und viertens der Ausgleich unterschiedlicher Arbeitsverdienste durch die sog. »Rentenköpfung«.453 Hinzu gerechnet werden kann fünftens noch der soziale Ausgleich, der durch die staatlichen Zuschüsse zur Rentenversicherung bewirkt wurde und der auch schon vor der Rentenreform wirksam war, mit der Zeit jedoch seine Bedeutung veränderte. Dem Ausgleich zwischen den Generationen kam insgesamt die größte Bedeutung zu. Ihm lag die Entscheidung der Reformer zugrunde, in der Rentenversicherung auch formal auf das Kapitaldeckungsverfahren zu verzichten  – faktisch waren die Renten seit den 1920er Jahren immer wieder durch Umlagen finanziert worden. Damit wurde 1957 offiziell der Übergang zu einer modifizierten Generationenumlage vollzogen. Das bedeutete, dass die jeweils aktive Generation durch ihre Beiträge die Rentenleistungen der jeweils älteren, aus dem Arbeitsleben ausgeschiedenen Generation finanzierte. Damit wurde das Prinzip beseitigt, nach dem die Rente im Versicherungsfall aus den eigenen 450 Allerdings konnte diese Regelung auch denjenigen zugute kommen, die aufgrund eines Arbeitsplatzverlustes, durch Kriegsfolgen oder als freiwillig Versicherte wenige und niedrige Beiträge bezahlten. Vgl. Schewe, Ausgleich, S. 335 f. 451 Ebd., S. 338. 452 Vgl. ebd., S. 333 f. 453 Diese Aufteilung erfolgt in Anlehnung an Schewe, Ausgleich, S. 338; ders., Umverteilung, S. 148 ff.

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Beiträgen und deren Zinsen gezahlt werden sollte; vielmehr flossen die Beiträge als Einnahmen der Rentenversicherung zum überwiegenden Teil sogleich wieder als Ausgaben den Rentenempfängern zu.454 Auf diese Weise entstand eine horizontale Umverteilung: Die erwerbstätige Generation trat auf dem Wege über die Beiträge Konsumansprüche an die nicht mehr erwerbstätige Generation ab. Der eigentliche soziale Ausgleich bei dem durch die Rentenreform eingeführten Verfahren trat dann ein, wenn die aktive Generation durch Beiträge mehr belastet wurde als die vorangegangene. Denn nicht das Aufkommen der Beiträge wurde unter den jeweils vorhandenen Rentnern aufgeteilt, sondern die jeweils aktive Generation musste die Beiträge zahlen, die dem Rentenvolumen entsprachen. Nahm die Zahl der Altersrentner gegenüber den Erwerbstätigen zu, wie es für die Zukunft wahrscheinlich war, oder wurden die Renten bedeutend erhöht, wie bei der Rentenreform 1957 erfolgt, stieg zwangläufig die Beitragsbelastung für die aktive Bevölkerung.455 Im Falle der Rentenreform war der Beitragssatz von 11 auf 14 Prozent angehoben worden. Eine zweite Art des sozialen Ausgleichs stellten die sog. Ersatz- oder Ausfallzeiten dar. Hierbei wurde ein Ausgleich zwischen den Rentnern geschaffen, die von Schäden durch Ereignisse politischer, wirtschaftlicher oder persön­ licher Art betroffen waren (z. B. Militärdienst, Arbeitslosigkeit bzw. Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit oder Unfall) und dadurch einen Ausfall von Beitragszeiten zu verzeichnen hatten, und solchen, die von diesen Schick­salen verschont geblieben waren.456 Ein ähnlicher Ausgleich steckte auch in der Altersgrenze für pflichtversicherte Frauen, die schon vor dem 65. Lebensjahr Altersruhegeld erhalten konnten. Für sie wurde bei gleicher Arbeitsleistung ihre »andere Konstitution« durch einen längeren Bezug des Altersruhegeldes aus­geglichen.457 Einen besonderen Charakter hatte die Ausfallzeit für die Ausbildung.458 Sie war vorgesehen, um die qualifizierte, auf einer Ausbildung beruhenden Tätigkeit gegenüber einer unqualifizierten, ungelernten, aber dennoch frühzeitig Verdienst bringenden Beschäftigung auszugleichen. Diese Art des sozialen Ausgleichs kam vor allem für die (höheren) Angestellten in Frage, die in der Regel eine längere Zeit in ihre Ausbildung investiert hatten als der durchschnittliche Arbeiter. Gleichwohl lässt sich über die Berechtigung dieser Ausgleichsmaßnahme streiten. War es tatsächlich angemessen, wenn die Ungelernten den Gelernten die Kosten der Ausbildung und den Gehaltsausfall während dieser Zeit ersetzten? Und stellte nicht der höhere Verdienst – und damit die später höhere 454 Vgl. Gegenüberstellung der Ausgaben und Einnahmen in der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten vor und nach der Rentenreform, in: BABl. 8 (1957), S. 257. 455 Vgl. dazu ausführlich Schewe, Umverteilung, S. 148 ff. Vgl. auch Tietz, Aufbringung. 456 Vgl. ausführlich Schewe, Ausgleich, S. 340 ff. Vgl. auch Stempell, S. 35. 457 Art. 1 § 1248, Abs.  3 ArVNG bzw. Art.  1 § 25, Abs.  3 AnVNG. Vgl. Schewe, Ausgleich, S. 341. 458 Art. 1, § 1259 ArVNG bzw. Art. 1 § 36 AnVNG. Vgl. Schewe, Ausgleich, S. 342.

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Rente – aufgrund der besseren Ausbildung einen hinreichenden Ausgleich dar? Auch wenn letztlich nicht nur die ungelernten, sondern alle Versicherten aus ihrem gemeinsamen »Topf« für die Ausbildungskosten aufkamen,459 war diese Regelung weniger ein Ausgleich als eine Privilegierung. An diesem Beispiel wird jedoch deutlich, dass der soziale Ausgleich in der Rentenversicherung nicht unbedingt an den Kriterien von sozialer Bedürftigkeit orientiert war. Die dritte Variante des sozialen Ausgleichs, der Ausgleich nach Bedarfsgrundsatz, war nach der Rentenreform kaum mehr existent. Nach der früheren Rentenformel hatten die festen Rentenbestandteile, wie gezeigt, für die Deckung des Mindestbedarfs der Rentner gesorgt. Da sich bei der Aushandlung der Rentenreform weder die Forderung nach einer Mindestrente noch der sozialdemokratische Vorschlag von Renten nach Mindestlohn durchsetzen konnten, kam ein Ausgleich nach Bedarfsgrundsätzen in den Renten-Neurege­lungs­gesetzen eigentlich nicht vor. Jedoch gab es zwei Ausnahmen: die Besitzstandswahrungsklausel und die sog. Sonderzuschussregelung. In beiden Fällen hing die Bemessung der Leistung vorrangig vom Bedarf und nicht von dem Maßstab ab, der für die Bemessung der Beiträge verwendet wurde.460 Die sog. Besitzstandwahrung sollte vermeiden, dass durch die Rentenumstellung Bestandsrenten gesenkt wurden. Damit wurde der in den laufenden Renten enthaltene soziale Ausgleich für die gesamte Laufzeit dieser Renten verlängert. Auf ähnliche Weise fand der Ausgleich nach Bedarfsgrundsatz auch in die Regelung über die Sonderzuschüsse an die laufenden Renten Eingang. Die Sonderzuschüsse hatten nämlich die Funktion, die niedrigen Renten, die eine Aufbesserung besonders nötig hatten, aber nicht von der Neureglung profitierten, um einen Mindestbetrag zu erhöhen. Sie standen in keinem Verhältnis zur Beitragsleistung, sondern wurden zusätzlich gewährt. Insgesamt nutzte der Sonderzuschuss gerade den Rentnern, deren bisherige Steigerungsbeträge niedrig waren und bei deren Renten der feste Grundbetrag bisher einen Ausgleich geschaffen hatte.461 Der Ausgleich unterschiedlicher Arbeitsverdienste wurde nach der Rentenreform ebenfalls zu einer Randerscheinung. Er fand sich nur noch in der Umstellung der Renten des Bestandes wieder und hier besonders eingängig in Form der sog. »Rentenköpfung«. Die »Rentenköpfung« resultierte vor allem aus der Verschiebung der Beitragsklassen und deren Verhältnis zueinander.462 Während die Beitragsbemessungsgrenze nach der Rentenreform beim Doppelten der Durchschnittslöhne und -gehälter lag, waren die Angehörigen der oberen Beitragsklassen in der Angestelltenversicherung früher mit einem Einkommen versichert gewesen, das ein Mehrfaches des durchschnittlichen Entgeltes betragen 459 Vgl. ebd., S. 342. 460 Vgl. ebd., S. 345. 461 Vgl. Tietz u. Waldmann, S. 267; Schewe, Ausgleich S. 344 f. 462 Vgl. S. 111.

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hatte. Die früheren Gehalts- bzw. Beitragsunterschiede wurden bei der Berechnung der Rente zwar in Rechnung gestellt, ihre Auswirkungen aber durch die Geltung der Beitragsbemessungsgrenze abgefangen.463 Damit wurde ein sozialer Ausgleich zu Ungunsten der obersten Gehaltsklassen der Vergangenheit eingeführt, der davon ausging, dass die Gehaltsstruktur von 1957 auch für die Vergangenheit maßgebend wäre.464 Die Auswirkung der Beitragsbemessungsgrenze war ambivalent. Sie verhinderte zum einen einen Ausgleich unterschiedlicher Arbeitsverdienste über die Beiträge, indem sie die Pflichtversicherten mit den höchsten Arbeitsentgelten relativ geringer als die anderen belastete. Zum anderen begrenzte sie die Renten aber entsprechend nach oben hin und verhinderte damit allzu große Einkommensdisparitäten zwischen den Rentenempfängern. Zuletzt lässt sich noch der soziale Ausgleich durch den Staatszuschuss als fünfte Ausgleichsart unterscheiden. Ein solcher steuerfinanzierter Zuschuss war von Anfang an in der Bismarckschen Arbeiterrentenversicherung vorgesehen. Die verwendeten Steuergelder wurden von allen Betrieben und Personen aufgebracht, kamen aber nur den Arbeitnehmern zugute. Im Gegensatz zu den Beiträgen zur Rentenversicherung, die sich proportional zu Lohn und Gehalt bemaßen, wurden die Steuern teils progressiv nach dem Einkommen, teils nach der Höhe des Verbrauchs und des Umsatzes aufgebracht. Durch die Verschiebung im Verhältnis von direkten und indirekten Steuern nahm jedoch der Effekt des sozialen Ausgleichs seit Ende der fünfziger Jahre ab. Die gestiegene Bedeutung der indirekten Steuern bewirkte, dass der Bundeszuschuss in er­ heblichem Maße von den Schichten mitfinanziert wurde, zu deren Gunsten er einmal eingerichtet worden war.465 Insgesamt beseitigte das neue Rentenrecht den sozialen Ausgleich nicht; er nahm jedoch andere Formen an. Die größte umverteilende Wirkung ging von dem Ausgleich zwischen den Generationen durch das Umlageverfahren aus.466 Im Gegensatz zu dieser ausgeprägt horizontalen Umverteilung fiel die vertikale Umverteilung gering aus. Der Ausgleich zur Deckung eines Mindestbedarfs der Rentner war nur noch schwach ausgeprägt und auf die Bestandsrentner beschränkt. Der Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Arbeitsverdiensten, war – mit Ausnahme der »Rentenköpfung« – ersatzlos entfallen. Auch die Umverteilungs­f unktion des Staatszuschusses hatte aufgrund des hohen Anteils indirekter Steuern an Bedeutung verloren. Eine besondere Funkion erfüllte der soziale Ausgleich der Versicherungs­ zeiten. Er verdeutlicht, dass sich die Einstellung zur Sozialpolitik gewandelt hatten: Sozialpolitische Ausgleichs- und Umverteilungs­maßnahmen waren nicht mehr nur einer bestimmten, durch ihr Arbeitseinkommen besonders benach463 Zur Erläuterung dieser Vorschriften vgl. erneut Pappai, Rentenköpfung, S. 605. 464 Schewe, Ausgleich, S. 348. 465 Vgl. ausführlich ebd., S. 350 ff.; Schewe, Umverteilung, S. 157 f. Vgl. auch Krupp, S. 61 ff. 466 Vgl. Schewe, Umverteilung, S. 158.

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teiligten Schicht zugedacht, sondern galten allen, die in ihrem Leben von unvorhergesehenen Ereignissen bedroht sein konnten. Dabei kam der Ausgleich für Ausbildungszeiten sogar denen besonders zugute, die in ihrem Erwerbs­ leben voraussichtlich die höchsten Einkünfte innerhalb der Pflichtversicherung erzielen würden. Insgesamt spiegelte sich hierin die gewandelte Auffassung wider, nach der Sozialpolitik keine »Politik für die armen Leute« mehr war, sondern »eine Sozialordnung für das ganze Volk« erstrebte.467 Diese Auffassung war auch in anderen westeuropäischen Staaten vorherrschend. An dieser Stelle kann zwar nicht ausführlich auf die Umverteilungswirkung der unterschiedlichen europäischen Sozialsysteme eingegangen werden. Grundsätzlich galt jedoch, dass auch vom französischen System, wo Steuermittel zur Finanzierung der »Sécurité Sociale« nicht vorgesehen waren, nur eine geringe vertikale Umverteilung ausging.468 Umverteilungselemente waren überhaupt nur vom Basisrentensystem (»régime général«) in nennenswertem Umfang – v. a. aufgrund der vorgesehenen Mindeststandards – zu erwarten. In Großbritannien waren zwar alle Staatsbürger zur Beitragsleistung verpflichtet. Jedoch war der Betrag so gering, dass auch hier kaum von oben nach unten umverteilt wurde. Aufgrund der ebenfalls geringen Leistungsbeträge ließ sich die britische Sozialpolitik noch am ehesten als Armutspolitik zu bezeichnen. Anders war es in Schweden. Die »Allgemeine Volkspension«, die eine bedarfs­unabhängige Grundsicherung für alle alten Leute darstellte, wurde zum überwiegenden Teil  aus einer zweckgebundenen Lohnsummensteuer finanziert. Sie kam zwar auch den höheren sozialen Schichten zugute – dieser waren aber mit einem höheren Finanzierungsanteil beteiligt. Insgesamt ging vom schwedischen sozialen Sicherungssystem die größte vertikale Umverteilungswirkung aus.469 5.4 Wohlstand und Teilhabe: Die neue soziale Position der Rentner Wenn noch für den Beginn der fünfziger Jahre in den Bundesrepublik der Ausspruch Theodor Geigers von den »proletarisierten Sozialrentnern« gegolten hatte und sich mit dem Rentnerdasein eine düstere Vorstellung verband, wandelte sich mit der Rentenreform das Bild. Spätestens seit dem Ende der sechziger Jahre gehörten die Rentner nicht mehr ganz überwiegend der untersten Schicht, sondern in größerer Zahl auch den mittleren Einkommensgruppen an. Wie die Untersuchungen zur Einkommensschichtung ergaben, verfügten 1970 39 Prozent der Rentnerhaushalte über ein monatliches Nettoeinkommen von 500 bis 1.000 DM. In derselben Einkommensklasse befanden sich zugleich

467 Jantz, Erste Rentenanpassung, S. 161. 468 So auch Palier, S. 118. 469 Vgl. Ritter, Sozialstaat, S. 152; Kaufmann, Der deutsche Sozialstaat, S. 906.

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auch 26,7 Prozent der Arbeiter- und 20,7 Prozent der Angestelltenhaushalte.470 35 Prozent der Rentenbezieher (41 Prozent der Rentenbezieher als Haushaltsvorstand) hatte 1969 ein Renteneinkommen aus der sozialen Renten- und Unfallversicherung von 300 bis 600 DM, weitere 12 Prozent (15 Prozent) bezogen eine Rente von 600 bis 800 DM im Monat.471 Im gleichen Jahr lag die durchschnittliche Nettolohn- und -gehaltssumme je beschäftigten Arbeitnehmer bei monatlich 791 DM.472 Insgesamt hatte sich die wirtschaftliche Lage der Rentner damit erheblich gebessert; zwischen Rentner- und Erwerbstätigenhaushalten war der Abstand geringer geworden – nicht nur in Bezug auf das Einkommen, sondern auch hinsichtlich des Lebenswandels. Am Ende des Arbeitslebens stand Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre nicht mehr unweigerlich die soziale Deklassierung. Dafür waren insbesondere die neuen Prinzipien der Rentenberechnung verantwortlich. Sie erlaubten dem ehemaligen Arbeiter oder Angestellten, seinen Lebensstandard im Alter aufrecht zu erhalten. Wer im Berufsleben den Aufstieg in die Einkommens-Mittelschicht geschafft hatte, konnte in der Regel mit einer auskömmlichen Rente rechnen. Wenn das vor allem für künftige Rentner­ generationen relevant war, wirkte sich die Rentenreform auch für einen Großteil der Bestandsrentner positiv aus. Auch sie konnten ihren Lebensstandard verbessern. Ihr »Gewinn« lag darin, dass sie in der Vergangenheit im Vergleich viel niedrigere Beitragssätze hatten entrichten müssen als jetzige Pflichtversicherte. Wie das Institut für Demoskopie Allensbach bereits 1960 resü­mierte, stellte die Rentenreform »einen drastischen und zugleich heilsamen Eingriff in die soziale Struktur der Bundesrepublik dar«.473 Im Gegensatz zum Nachkriegsjahrzehnt war die Mehrzahl der Rentner und Rentnerhaushalte in den sechziger und siebziger Jahren nicht mehr auf fremde Hilfe oder Fürsorgeleistungen des Staates angewiesen. Es entstanden neue finanzielle Spielräume, die sich, Umfragen zufolge, auch in einem veränderten Konsum- und Sparverhalten der Rentner ausdrückten.474 Zwar gab es nach den Ergebnissen der EVS von 1962/63 noch starke Unterschiede in der Ausstattung mit langlebigen Gebrauchsgütern nach der sozialen Stellung des Haushaltsvorstandes. Jedoch waren Radio- und Fernsehgeräte, Nähmaschinen und Kühlschränke zunehmend auch in Nichterwerbstätigen- und damit in Rentner­ haushalten zu finden.475 Mit den materiellen Verbesserungen trat auch ein 470 Vgl. DIW, Einkommensschichtung sozialer Gruppen, S. 306. 471 Vgl. Kunz, S. 709, 711. 472 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Stat. Taschenbuch, Tab. 1.14. 473 Die Altersrentner nach 1957, in: BABl. 11 (1960), S. 67. 474 Vgl. Die Altersrentner nach 1957, in: BABl. 11 (1960), S. 66 f. Institut für Demoskopie Allensbach, Auswirkungen der Rentenreform – Bericht über eine Trend-Erhebung, 1957–58, S. 24 ff. Vgl. auch Schmidtchen, S. 92. 475 Vgl. Abelshauser, Fünfziger Jahre, S.  59, 85 (Tab. 15). Zur Konsumentwicklung in den 1950 und 60er Jahren allgemein vgl. auch Wildt, Kunst der Wahl; ders., Ende der Be­ scheidenheit.

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Stimmungsumschwung ein. Statt Resignation herrschte Zuversicht, die Rentenreform verschaffte den Rentnern neues Selbstvertrauen.476 Gleichzeitig bildete sich eine neue Freizeitkultur der Rentner aus. Freizeitaktivitäten wie die Pflege von Hobbies, ehrenamtliche Tätigkeiten oder Reisen traten an die Stelle der auch im Alter fortgesetzten Erwerbstätigkeit. Was an Vergnügen während des Berufslebens aus zeitlichen Gründen oder finanziellen Verpflichtungen nicht realisiert werden konnte, wurde nun im Alter nachgeholt. Psychologisch eine wichtige Wirkung hatte auch der Entschluss, die Entwicklung der Renten an die Entwicklung der Löhne und Gehälter zu koppeln und Rentner und Erwerbstätige im sog. »Generationenvertrag« aneinander zu binden. Die Rentner waren nun nicht mehr ihrem Schicksal überlassen. Das Verhältnis zwischen den Generationen entspannte sich. Die Rentner waren viel seltener auf die direkte Hilfe von Familienangehörigen angewiesen und konnten ihrerseits der jüngeren Generation zur Seite springen. Zugleich hielt die neue Regelung des Umlageverfahrens für die Zukunft aber auch Konfliktstoff bereit. Denn die Interdependenz zwischen der Lebenslage der Erwerbs­tätigen und der Rentner konnte zu Disparitäten zwischen Aufwand und Ertrag für einzelne Generationslagen führen. Ging das Beitragsaufkommen aufgrund demographischer und konjunktureller Schwan­kungen zurück und mussten die Beiträge erhöht werden, traten die Rentner den Erwerbstätigen als »Ver­sorgungsklassen« entgegen, um hier den von Lepsius geprägten Begriff erneut aufzugreifen.477 Eine solche Situation schien angesichts der demographischen Entwicklung in nicht allzu weiter Ferne. Dennoch standen zunächst die Aufhebung des Altersrisikos und die Durchbrechung der Armutsspirale im Vordergrund, was über mögliche spätere Konflikte hinwegsehen ließ. Die verbesserte soziale Position der Rentner schlug sich auch in der poli­ tischen Stimmung nieder. Die Rentenreform stärkte das Vertrauen in den So­ zialstaat und damit auch in das politische System der Bundesrepublik und leistete einen entscheidenden Beitrag zur Sta­bilisierung und Legitimation des westdeutschen Staates.478 Aus »zahlreichen Leuten, die etwas haben wollten«, waren nun Leute geworden, »die etwas bewahren wollten«.479 Das Verdienst daran wurde vor allem der Regierung zugeschrieben. Es mag daher kaum verwundern, dass die Union bei der Bundestagswahl im Herbst 1957 mit 50,2 Prozent der Stimmen einen spektakulären Wahlsieg davon trug, der ohne diese Reform kaum denkbar gewesen wäre.480 476 Nach einer Repräsentativerhebung des Instituts für angewandte Sozialwissenschaften in Bad Godesberg von 1970, die im Auftrag des BMA durchgeführt worden war, blickten die Befragten dem Prozess des Alterns überwiegend positiv entgegen. Ebenso äußerten sie sich hinsichtlich der zu erwartenden Renten generell positiv. Vgl. Schenke, Einführung, S. 22. 477 Vgl. S. 127. 478 Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1949–1990, S. 263. 479 Schmidtchen, S. 93. 480 Vgl. ebd., S. 53 ff.

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Die befürchteten negativen wirtschaftlichen Auswirkungen der Renten­ reform traten dagegen mittelfristig nicht ein. Der von den Reformgegnern für 1957 vorausgesagte »Konsumstoß« blieb aus481 und damit auch die prophezeite Preissteigerung, die zu einer erneuten Verschlechterung der sozialen Lage, aber auch der Stimmung hätte führen können. Auch die pessimistischen Prognosen hinsichtlich der künftigen Kapitalbildung der Rentenversicherung sollten sich als gegenstandslos erweisen.482 Die Ergebnisse der Al­lens­bacher Repräsentativerhebung vom März 1958 machten darüber hinaus deutlich, dass die Einstellung zum dynamischen Rentenprinzip nicht durch das dunkle Bild überschattet wurde, das zuvor gemalt worden war, sondern dass es von einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung über 18 Jahren gutgeheißen wurde.483 Freilich darf nicht übersehen werden, dass die Rentenreform auch »mehr als einen Bodensatz von nach wie vor unauskömmlichen Renten« konservierte484 und es dementsprechend Enttäuschungen bei Rentnern und Versicherten gab. Das traf vor allem auf diejenigen zu, die lediglich eine Verbesserung ihrer Renten in Höhe des Sonderzuschusses erhalten hatten sowie für jene, die aufgrund der Anrechnungsbestimmungen praktisch ganz von den positiven Effekten der Rentenreform ausgenommen waren.485 Zu den Verlierern der Rentenreform gehörten außerdem die Personen und sozialen Gruppen, die nur kurze Versicherungszeiten und/oder geringe Verdienste aufweisen konnten, wie viele Frauen, aber auch Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrentner.486 Besonders schwierig war die soziale Situation, wenn die Betroffenen alleine lebten und nicht durch die Einkommen anderer Haushaltsmitglieder unterstützt wurden. Von einer »Vermittelschichtung« der Rentner zu sprechen, ist somit nur eingeschränkt möglich. Im Sinne des sog. »Fahrstuhleffektes«487 verbesserte sich nach der Rentenreform die soziale Lage der Mehrheit der Rentnerbezieher  – die Rentner wurden insgesamt »eine Etage höher gefahren« –, und spätestens seit Ende der sechziger Jahre konnte sich ein wachsender Teil der Rentner dem Einkommen nach zu den Mittelschich­ten zählen. Das galt insbesondere dann, wenn man das niedrigere Bedarfsniveau im Alter in Rechnung stellte.488 Gleichzeitig bestanden Ungleichheiten zwischen männlichen und weiblichen Versi481 Vgl. Die Altersrentner nach 1957, S. 67 (Tab. 2 u. 3). – Zu den ausgebliebenen Negativfolgen insgesamt und im Rückblick, Jantz, Entwicklung und Durchsetzung, S. 422 f.; ders., Erste Rentenanpassung, S. 168. 482 Vgl. Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 199. 483 Vgl. Nach der Rentenreform, in: BABl. 11 (1960), S. 490 f. (Übersicht 21–24). – Vgl. auch Adenauer im Bulletin Nr. 150, 16.8.1957, S. 1405: »Glücklicherweise haben sich auch jene Befürchtungen nicht bewahrheitet, die vielfach bei der Verabschiedung des Gesetzes geäußert worden waren«. 484 Hentschel, Geschichte, S. 168. 485 Vgl. Schreiben des Abg. Leonhard (CDU) v. 15.4 u. 17.5.1957 an den Bundeskanzler, in denen er die Beschwerden der Rentner direkt an Adenauer weiterleitete (BA, B 136/770). 486 Vgl. Osterland u. a., S. 156. 487 Vgl. Beck, Risikogesellschaft, S. 122; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1949–1990, S. 208 f., 119. 488 Vgl. Achinger u. a., Neuordnung, S. 103.

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cherten, zwischen Arbeiter- und Angestelltenrentnern aber fort. Die Expansion des Wohlfahrtsstaats in Form der Rentenreform wirkte sich somit nicht gegen die Kontinuität von Klassenstrukturen aus. Insofern stimmen die Befunde mit den Analysen Hans-Ulrich Wehlers zur Ungleichheitsstruktur in der Bundesrepublik überein.489 Die berufsständischen Unterschiede zwischen Angestellten und Arbeitern, die Anfang des Jahrhunderts ihre typische Ausprägung erfahren hatten, wurden durch die Reform nicht grundsätzlich aufgehoben oder »nivelliert«, sondern eher verstetigt und ins Rentenalter hinein verlängert. Dennoch galt für den durchschnittlichen (männlichen) Arbeitnehmer, der ein regelmäßiges, mittleres Einkommen und 40 bis 45 anrechnungsfähige Versicherungsjahre aufzuweisen hatte, dass die soziale Abwärtsbewegung im Alter von einer der Erwerbsbiographie entsprechenden Aufwärtsbewegung abgelöst wurde.490

6. Ausbau zugunsten der »Mitte«: Die Rentenpolitik 1957–1972 Die Rentenreform von 1957 stellte für die Entwicklung der Sozialstruktur in der Bundesrepublik ein entscheidendes Ereignis dar. Mit Hilfe der neuen Renten­ formel und der Einführung der »dynamischen Rente« gelang es, dem Renten­ alter neue Bedeutung zu verleihen. Die soziale Lage der Altersrentner verbesserte sich im Laufe der darauffolgenden Jahre und Jahrzehnte erheblich. Jedoch stellte die Rentenreform von 1957 noch nicht den Endpunkt der Entwicklung dar. Vielmehr war sie ein erster großer Schritt; weitere Reformen sollten folgen. Denn zum einen enthielten die Renten-Neuregelungsgesetze, wie bereits erörtert wurde, eine Reihe von Mängeln und Unzulänglichkeiten; zum anderen stand eine Lösung für Teile der Bevölkerung, »die der Mittelklasse angehörten«, noch aus.491 So wurden z. B. die Regelungen zur Handwerkerversicherung weiterhin von verschiedenen Seiten als unbefriedigend empfunden und harrten einer endgültigen Neuregelung. Doch auch andere Gruppen von Selbständigen sollten nach den Plänen von Regierung und Opposition eine gesetzlich geregelte Alterssicherung erhalten. Alles deutete somit auf einen weiteren Ausbau der Rentenversicherung hin. Die folgenden Analysen widmen sich der Expansion der Rentenpolitik in den sechziger und frühen siebziger Jahren: Was waren die Motive oder auch Zwänge beim weiteren Ausbau der Alterssicherung? Wer profitierte von den Nachbesserungen bei der Rentenreform? Lässt sich Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre noch von einer »Arbeitnehmerversicherung« sprechen oder markieren die 489 Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1949–1990, S. 207 ff. 490 Vgl. Glaß, S. 172: »[Die kollektive soziale Sicherung] funktioniert nur in den Fällen ganz, auf die sie als Massentypus eingestellt ist, also denen einer langjährigen, eigentlich sogar lebenslangen außerhäuslichen Berufstätigkeit als Arbeitnehmer«. 491 Regierungserklärung 1957 (Sten. Ber., Bd. 39, S. 19).

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späten sechziger Jahre bereits den Übergang zu einer »Volksversicherung« nach skandinavischem Vorbild? Im Folgenden werden zunächst die beiden wichtigsten Ausbau- und Änderungsgesetze der Rentenreform von 1957, die sog. »Härte­ novelle« von 1965 und das »Dritte Rentenversicherungsänderungsgesetz« von 1969, in Bezug auf ihre sozialstrukturelle Wirkung erörtert. Im Anschluss daran erfolgt die Untersuchung der Alterssicherung der Selbständigen anhand der 1957 neu geschaffenen Altershilfe für Landwirte, der Reform der Handwerker­ versorgung und der Maßnahmen zur Alterssicherung der freien Berufe. 6.1 Beseitigung von »Härten«: Das Erste Rentenversicherungsänderungsgesetz Nach dem legendären Wahlsieg seiner Partei bei der dritten Bundestagwahl im Herbst 1957 kündigte Bundeskanzler Adenauer in seiner Regierungserklärung am 29. Oktober – knapp elf Monate nach Inkrafttreten der Rentenreform – die »Korrektur von zutage tretenden Mängeln« in der neuen Rentengesetzgebung an.492 Uneinigkeit zwischen den Kabinettsmitgliedern, aber auch in den Reihen der Unionsfraktion über einige grundlegende Fragen, darunter das Problem der Mindestrenten, verhinderte jedoch eine zügige Umsetzung des Reformversprechens. Erst im Herbst 1964 – und damit eine Legislaturperiode später – legte die Bundesregierung unter Führung von Bundeskanzler Ludwig Erhard den an­ gekündigten Entwurf für ein Reformgesetz vor.493 Das »Gesetz zur Beseitigung von Härten in den gesetzlichen Rentenversicherungen und zur Änderung sozialrechtlicher Vorschriften« (sog. »Härtenovelle«) wurde schließlich am 2.  ­April 1965 im Bundestag verabschiedet.494 Es ging über die ursprüngliche Zielsetzung, lediglich einzelne Unebenheiten und »Härten« bei der Durchführung der Renten-Neu­regelungsgesetze auszugleichen, weit hinaus. Sowohl in Bezug auf den Personenkreis als auch auf das Leistungsrecht wurden grundlegende Änderungen beschlossen. Die leistungsrechtlichen Änderungen betrafen insbesondere bessere Voraussetzungen zur Anrechnung und Bewertung von Ausfall- und Ersatzzeiten.495 492 Vgl. Sten. Ber., Bd. 39, S. 20. 493 Entwurf eines Gesetzes zur Beseitigung von Härten in den gesetzlichen Rentenversicherungen v. 23.9.1964 (BT-Drs. IV/2572). Zur Vorgeschichte des Gesetzes vgl. Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd. 4, S. 322 ff. 494 Auch bezeichnet als Erstes Rentenversicherungsänderungsgesetz (BGBl. I, S. 476). – Der Regierungsentwurf war zuvor im AfSP in insgesamt 18 Sitzungen beraten worden (PA, IV/315 A, Bd. 1). Die Beratungen begannen am 5.11.1964 mit einer Sachverständigenanhörung, zu der u. a. auch Vertreter der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände eingeladen waren. Vgl. Protokoll des AfSP v. 5.11.1954 (PA, IV/315 A, Bd. 1). Am Ende der Beratungen stand ein in nahezu allen Punkten geänderter Gesetzentwurf. Vgl. Schriftlicher Bericht des AfSP (BT-Drs. IV/3233 u. zu IV/3233). 495 Vgl. dazu im Einzelnen Ruf, Härtenovelle, S. 158 ff.; Hermann, S. 111.

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Die nach dem Rentenrecht von 1957 möglichen und häufig beklagten Rentenein­ bußen durch niedrige Beitragsleistungen zum »falschen« Zeitpunkt sollten fortan vermieden werden.496 Künftig sollte »jeder Pflichtbeitrag oder freiwillige Beitrag die Rente verbessern«.497 Im Ganzen zielten die vielen kleinen Abänderungen einzelner Bestimmungen darauf, den individuellen Ablauf des Berufs­ lebens bei der Rentenberechnung optimal zu berücksichtigen und Nachteile, die aus »unverschuldeten« Besonderheiten im Arbeitsleben resultierten, auszugleichen. Der soziale Schutz in der gesetzlichen Rentenversicherung wurde damit weiter ausgebaut und auf den Einzelfall zugeschnitten.498 Damit geriet die bundesrepublikanische Rentenversicherung noch deutlicher als in den Jahren zuvor in einen Gegensatz zum Rentensystem der DDR. Letzteres vergab zwar je nach Stellung im politischen System und Nähe zur Parteiführung Privilegien. Auch wurden im Laufe der Jahre für bestimmte Berufe Alters-Zusatzversorgungen eingerichtet. Für die große Masse der Rentner waren die Rentenleistungen aber stark vereinheitlicht und verharrten bis in die siebziger Jahre auf niedrigem Niveau.499 Von besonderer Bedeutung für die westdeutschen Rentner war die Entscheidung zur Abmilderung der sog. »Rentenköpfung«. Die Kappung der hohen Renten galt als ungerecht und systemwidrig, da sie dem Grundsatz der Beitragsgerechtigkeit widersprach. Die »Härtenovelle« beseitigte zwar die mit der Rentenreform eingeführte Begrenzung der persönlichen Bemessungsgrundlage (durch die Beitragsbemessungsgrenze in Höhe von 200  Prozent der allgemeinen Bemessungsgrundlage) nicht; jedoch wurde eine Änderung der bisherigen Regelung herbeigeführt und rückwirkend vom 1. Januar 1957 der Teil der persönlichen Bemessungsgrundlage, der über dem Doppelten der allgemeinen Bemessungsgrundlage lag, partiell mit angerechnet.500 Diese erst kurz vor Verabschiedung des Gesetzes eingeflochtene Maßnahme501 begünstigte einseitig die 496 Vgl. Hermann, S. 111. – Nach der alten Regelung war es möglich, dass die Entrichtung von Beiträgen nicht eine Rentensteigerung, sondern unter Umständen sogar eine Verschlechterung der bereits erworbenen Rentenansprüche ergab. Das war stets dann der Fall, wenn die persönliche Bemessungsgrundlage durch die Entrichtung »falscher« freiwilliger Beiträge oder durch niedrige Pflichtbeiträge nach unten gedrückt worden war. Vgl. dazu auch Gellhorn. 497 Jantz, Einleitung zu den Erläuterungen, S. 586. 498 Vgl. ebd. 499 Vgl. Conrad, Alterssicherung, S. 113. 500 Dabei wurde danach unterschieden, ob die Rente nach Art. 2 §§ 32 bis 34 ArVNG (AnVNG entsprechend) umgestellt worden war oder ob es sich um eine nach neuem Recht berechnete Rente handelte. Zu den Einzelheiten vgl. Pappai, Rentenköpfung, S. 605 f.; Ruf, Härtenovelle, S. 161. 501 Erst während der 2. Beratung im BT wurde Art. 1 § 1260b und für das Umstellungsrecht Art. 2 § 34a ArVNG (AnVNG entsprechend) auf gemeinsamen Antrag von CDU/CSU- und SPD-Fraktion in den Entwurf eingefügt (vgl. Umdruck 607, Sten. Ber., Bd. 58, S. 8891). Im Ausschussbericht (BT-Drs. zu IV/3233, S. 4) hatte es dagegen noch geheißen, dass es »nicht vertretbar sei, Renten in einer Höhe zu zahlen, die von den heutigen Versicherten nicht erreicht werden können«.

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Bezieher hoher Rentenleistungen und führte insbesondere in der Angestelltenversicherung zur Anhebung von etwa 175.000 ohnehin überdurchschnittlich hohen Renten. Die Entscheidung hatte damit einen nicht unbeträchtlichen Anteil an den Gesamtaufwendungen für die Durchführung der Reform.502 Der umstrittenste Teil  der »Härtenovelle« betraf die Erhöhung der Ver­ sicherungspflichtgrenze. Eine Anhebung war notwendig, da die (statische) Versicherungspflichtgrenze von jährlich 15.000 DM 1965 nur knapp über der dynamischen Beitragsbemessungsgrenze von 14.400  DM im Jahr lag und ohne Anhebung im kommenden Jahr bereits darunter gelegen hätte. Damit war die Beitragsbemessungsgrenze ihrer Funktion beraubt, die Beiträge, aber auch die Rentenleistungen, nach oben hin zu begrenzen. Bei kräftigen Einkommenszuwächsen waren zudem seit Jahren immer mehr Angestellte aus der Versicherungspflicht heraus­ge­fallen. Aus zunächst lediglich drei Prozent war mittlerweile ein Anteil von mehr als 15  Prozent geworden  – das waren rund 1,2 Millionen Beschäftigte.503 Auch die Versicherungspflichtgrenze erfüllte somit ihre Funktion nicht mehr, die darin bestand, sowohl den sicherungsbedürftigen Personenkreis zu bestimmen als auch den Kreis der Beitragszahler, auf dessen laufenden Beitragszahlungen das finanzielle Gleichgewicht der Versicherung beruhte.504 Um dem grundsätzlichen Problem einer statischen Versicherungspflichtgrenze innerhalb eines dynamischen Rentensystems zu begegnen, schlug der Bundesarbeitsminister vor, die Pflichtgrenze auf das 3,5fache der allgemeinen Bemessungsgrundlage anzuheben und künftig ebenfalls zu dynamisieren. Diesem Vorschlag folgte das Kabinett jedoch nicht. Der Regierungsentwurf sah zunächst nur eine sehr moderate Anhebung der Versicherungspflichtgrenze auf 18.000 DM im Jahr vor. Diese sollte jedoch künftig für beide Zweige der gesetzlichen Rentenversicherung gelten. Die Einführung einer Pflichtgrenze auch für Arbeiter wurde mit der »sozial- und gesellschaftspolitischen Gleichstellung der Arbeiter mit den Angestellten« begründet.505 Erwartungsgemäß lehnten die SPD-Opposition wie auch die Gewerkschaften (DGB und DAG) eine Versicherungspflichtgrenze für Arbeiter strikt ab. Sie forderten stattdessen, das »Privileg« eines uneingeschränkten Zugangs zur Rentenversicherung auf alle Angestellten auszudehnen.506 Nach Ansicht ­Walter 502 Die Begünstigen hatten aufgrund dieser Bestimmung im Durchschnitt eine Rentenerhöhung zwischen 30 und 40 DM zu erwarten. Vgl.: Über 380 000 Angestelltenrenten von der Härtenovelle betroffen, in: DAngVers. 12 (1965), S. 182; Ruf, Härtenovelle, S. 161. Vgl. auch Hermann, S. 111. 503 Vgl. Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd.  4, S.  322 f.; Hermann, S.  111. Vgl. auch Gellhorn, S. 587 f. 504 Vgl. dazu Eicher, S. 4 f. 505 Vgl. Begründung zum Regierungsentwurf (BT-Drs. IV/2572), S. 23 f. Vgl. auch Schmähl, Sicherung bei Alter, S. 323. 506 Vgl. Kurzprotokolle der 104. u. 112. Sitzung des AfSP v. 20.1. bzw. 11.3.1965 (PA, IV/315 A, Bd. 1); schriftliche Stellungnahmen von DAG und DGB zum Entwurf eines Gesetzes zur Beseitigung von Härten v. Oktober 1964 (PA, IV/315 A, Bd. 3).

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Auerbachs, einem der führenden SPD-Sozialpolitiker, passte der Regierungsvorschlag »in den Rahmen der üblich gewordenen Als-Ob-Sozialpolitik« der Regierung, die aus dem »Gedanken, dass Arbeiter und Angestellte sozialund gesellschaftspolitisch gleichgestellt werden sollten«, die Konsequenz ziehe, »dass schon heute, also bevor diese Gleichstellung gesellschaftliche Wirklichkeit« geworden sei, Arbeiter »ausgerechnet« bei der Festlegung einer Versicherungspflichtgrenze genauso wie Angestellte zu behandeln seien. Man wisse nichts davon, »dass die Bundesregierung Maßnahmen erwäg[e], um die für die Rentenleistungen besonders wichtige Differenz der bei Arbeitern und Angestellten typisch unterschiedlichen Verdienstkurve während des Arbeitslebens auszugleichen«.507 Im Sozialpolitischen Ausschuss wurde schließlich die Einführung einer Versicherungspflichtgrenze in der Rentenversicherung der Arbeiter abgelehnt. Entsprechend dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion wurde eine Anhebung der Grenze der Versicherungspflicht für Angestellte auf 21.600 DM im Jahr beschlossen, eine gleichzeitige Dynamisierung dagegen von den Unions­ parteien verhindert.508 Die beschlossene Anhebung der Pflichtgrenze, die den Kreis der versicherungsfreien Angestellten (zunächst) auf gut vier Prozent schrumpfen ließ,509 konnte lediglich als Kompromiss und »Zwischenlösung angesehen werden; das Problem der Versicherungspflicht der Angestellten war damit noch nicht beseitigt.510 Im Zusammenhang mit der Härtenovelle wurde auch die Frage der Mindest­ renten erneut verhandelt. Die Regierung hatte unterschiedliche Untersuchungen veranlasst, um mehr über die Ursachen von niedrigen Rentenzahlbeträgen in der Arbeiterrenten- und der Angestelltenversicherung zu erfahren.511 Entgegen der Forderungen von Gewerkschaften und SPD,512 aber auch entgegen der Meinung der CDU-Sozialausschüsse kam die Regierung auf der Grundlage der Untersuchungsergebnisse aber zu dem Schluss, dass die Kleinstrenten größenordnungsmäßig nicht ein solches Problem darstellten, wie bei der öffentlichen Diskussion immer wieder behauptet. Die überwiegende Zahl der Kleinstrenten beruhe nicht auf einer schlechten Entlohnung und damit geringen Pflichtbeitragsleistungen in der Vergangenheit. Es seien vielmehr Gründe, die in der Person des Versicherten zu suchen und die von seinem Willen abhängig seien, wie 507 Auerbauch, Rentennovelle, S. 210. Vgl. auch Müller, Ruf nach Volksversicherung, 508 Vgl. Kurzprotokolle der 104. u. 112. Sitzung des AfSP v. 20.1. bzw. 11.3.1965 (PA, IV/315 A, Bd. 1); Schriftlicher Bericht des AfSP (BT-Drs. zu IV/3233), S. 3, 7.  509 Vgl. Gellhorn, S. 587 f.; Müller, Ruf nach Volksversicherung, S. 77; Ruf, Härtenovelle, S. 158. 510 Hermann, S. 112; Jantz, Einleitung zu den Erläuterungen, S. 586. 511 Vgl. Abschlussbericht betr. Untersuchung der Ursachen von niedrigen Rentenzahlbeträgen bei Renten der Arbeiterrenten- und der Angestelltenversicherung, Ref. IV c 2 des BMA (BA, B 149/116837). Vgl. auch Tietz, Beitrag; Münke, Untersuchung. 512 Die SPD forderte bei »vollem Arbeitsleben« eine Mindestrente in Höhe von 225 DM. Für Personen, »die nur zeitweise als Erwerbstätige versichert waren«, sollten, je nach Versicherungsdauer, entsprechende Teilbeträge errechnet werden. Vgl. das Rentenprogramm der SPD v. 1961 (abgedruckt bei: Richter, Sozialreform, G II 12).

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z. B. niedrige freiwillige Beiträge oder Teilerwerbstätigkeit. Bei den Verhandlungen um die Härtenovelle wurden Mindestrenten somit von Unionsparteien und Regierung als »systemwidrig«, »nicht gerechtfertigt« und »letzter Weg, um ›Soziale Gerechtigkeit‹ zu verwirklichen« abgelehnt.513 Mit der Beibehaltung der Versicherungspflichtgrenze sowie dem Verzicht auf Mindeststandards setzte die Bundesrepublik damit ihren europäischen Sonderweg fort. Eine Anhebung niedriger Renten durch nachträgliche Höherbewertung wurde erst unter der sozialliberalen Koalition im Zusammenhang mit der am Ende der sechsten Legislaturperiode beschlossenen Rentenreform 1972 umgesetzt. Die Härtenovelle brachte insgesamt eher fragwürdige Neuerungen, die vor allem einseitig die Bezieher hoher Rentenleistungen begünstigten. Darüber hinaus verstärkte sie die Tendenz zur weiteren Individualisierung und Spezifizierung des Rentenrechts. Das wiederum hatte zur Folge, dass die eigent­ lichen »Härtefälle« – diejenigen, die aus dem Systems herausfielen, weil sie die Voraussetzungen nicht erfüllten, oder diejenigen, die von ihren geringen Rentenbeträgen nicht leben konnten und daher auf die Fürsorge angewiesen waren – allmählich ganz aus dem Blickfeld der politischen Ak­teure gerieten. Das Änderungsgesetz vergrößerte die Kluft zwischen Arbeiter- und Angestelltenrenten, da die modifizierte Ersatz- und Ausfallzeitenregelung wie auch die zurückgenommene Rentenköpfung vor allem den Angestellten zugute kam. Die Härtenovelle war im Ergebnis vor allem eine Reform für die besserverdienenden, mittleren sozialen Schichten. Sie kam deren Wunsch nach weitergehender sozialer Absicherung nach. Die finanziellen Mehrbelastungen der Novelle intensivierten die Diskussion über die künftige Finanzentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung. Von verschiedener Seite, darunter die ehemaligen Gegner der Rentenreform, wurde die Befürchtung geäußert, dass die Rentenfinanzierung für die Zukunft nun endgültig nicht mehr gesichert sei. Tatsächlich standen  – auch aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung – schon sehr bald Finanzierungsfragen im Vordergrund der Debatten über die weitere Entwicklung und den Ausbau der Rentenversicherung.514

513 Vgl. Ausführungen des Abg. Ruf (CDU) bei der 3.  Beratung der »Härtenovelle« am 2.4.1965 im BT (Sten. Ber., Bd. 58, S. 8909 ff.). Ruf (Sten. Ber., Bd. 58, S. 8912 f.) bezog sich dabei auf die Schlussfolgerungen von Tietz, Beitrag, S. 292: »Die mechanische Einführung von Mindestrenten würde also einem größeren Kreis von Rentnern […] Rentenerhöhungen bringen, die nicht gerechtfertigt wären«; und Münke, Untersuchung, S.  290: »Mindestrenten erscheinen nach dieser Untersuchung deshalb als der letzte Weg, um ›Soziale Gerechtigkeit‹ zu verwirklichen«. 514 Vgl. Müller, Härtenovelle, S. 141. Zur Finanzentwicklung in der gesetzlichen Rentenversicherung vgl. insb. Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd. 4, S. 326 ff.

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6.2 Konsolidierung und Strukturreform: Das Dritte Rentenversicherungsänderungsgesetz Das Dritte Rentenversicherungsänderungsgesetz, das um die Jahreswende 1965/66 konzipiert und erst im Sommer 1969 von Bundestag und Bundesrat endgültig verabschiedet wurde, sollte nach dem Willen des Gesetzgebers die Rentenleistungen bis zum Jahre 1985 sichern helfen. Es galt als Stabilisierungsund Vervollkommnungsmaßnahme der Rentenreform von 1957.515 Seit Mitte der sechziger Jahre waren verschiedene Vorschläge zur Änderung des Finanzierungsverfahrens in der gesetzlichen Rentenversicherung diskutiert worden. Der Grund waren vor allem die Veränderungen im Altersaufbau der Bevölkerung. Das Verhältnis von Beitragszahlern und Rentenempfängern hatte sich in der ersten Hälfte der sechziger Jahre ungünstig entwickelt. Während 1958 auf 100 Beitragszahler erst 35 (Versicherten- und Witwen-) Renten entfielen, waren es 1965 bereits 41. Den Prognosen zufolge sollte sich das Verhältnis bis 1976/77 – dem prognostizierten Höhepunkt des »Rentenberges« – weiter verschlechtern (49 Renten auf 100 Beitragszahler) und sich der Trend erst danach umkehren.516 Neben der sich abzeichnenden demographischen Entwicklung wirkten sich auch strukturelle Verschiebungen im Verhältnis von rentenversicherten Arbeitern und Angestellten negativ auf das finanzielle Gleichgewicht der gesetzlichen Rentenversicherung aus. Zwischen 1957 und 1966 hatte sich die Zahl der ver­ sicherten Arbeiter um rund 500.000 erhöht, während die Zahl der Angestellten mit fast 2,5 Millionen um das Fünffache gestiegen war. Im Jahr der Rentenreform kamen noch 38 Angestellte auf 100 Arbeiter, 1966 waren es bereits 56.517 Diese Strukturverschiebung bei den Erwerbstätigen hatte die Bundesregierung schon 1964 dazu veranlasst, eine abschließende Regelung des »Wanderversicherungsausgleichs« zwischen der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und den Landesversicherungsanstalten herbei­zuführen: Im RentenversicherungsFinanzaus­gleichs­gesetz wurde die Regierung ermächtigt, unter bestimmten Voraussetzungen durch Rechtsverordnung die Aufteilung der Bundeszuschüsse auf die beiden Zweige zu ändern.518 Diese Maßnahme erwies sich jedoch lang515 Vgl. Jantz, Langfristige Sicherung; Brück. 516 Vgl. Regierungsentwurf eines 3. RVÄndG (BT-Drs. V/896, Begründung. S. 6); Schriftlicher Bericht des AfSP (zu BT-Drs. V/4474, S. 4, 21). Vgl. auch Hermann, S. 113; Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd. 4, S. 329. 517 Vgl. Schriftlicher Bericht des AfSP (zu BT-Drs. V/4474, S. 6); Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd. 4, S. 330. – Zum Verhältnis von Arbeiter- und Angestelltenschaft in den unterschied­ lichen Wirtschaftsbereichen vgl. auch Mooser, Arbeiter, Angestellte und Frauen, S.  364 (Tab. 1); Osterland u. a., S. 27 ff. 518 Vgl. Gesetz über die Neuregelung des Finanzausgleichs zwischen der Rentenversicherung der Arbeiter und der Rentenversicherung der Angestellten v. 23.12.1964 (BGBl. I, S. 1090); dazu Regierungsentwurf v. 12.6.1964 (BT-Drs. IV/2354). Vgl. auch Schewe, Rentenversicherungs-Finanzausgleichsgesetz.

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fristig als unzureichend. Gegen Ende der sechziger Jahre wurde deutlich, dass der Wandel der Erwerbsstruktur zusammen mit den demographischen Veränderungen weitere Eingriffe des Gesetzgebers erforderten. Alle seriösen Prognosen wiesen darauf hin, dass die Defizite in der Arbeiterrentenversicherung deren Vermögen in wenigen Jahren vollständig aufzehren würden, während die Angestelltenversicherung ihre Rücklagen weiter ausbauen konnte.519 Mitte 1966 legte die Regierung Erhard daher einen Gesetzentwurf zur Änderung der Finanzierungsvorschriften in der gesetzlichen Rentenversicherung vor (Drittes Rentenversicherungsänderungsgesetz).520 Dieser sah Beitragserhöhungen und einen Ausgleich zwischen Arbeiterrenten- und Angestelltenversicherung vor. Daneben sollte der Zeitraum des Deckungsabschnitts verkürzt und das Wachstum der Rücklage begrenzt werden.521 Die Änderungen sollten insgesamt bewirken, dass das Rentensystem in seiner bisherigen Form erhalten und die Rentenanpassung in bewährter Weise fort­geführt werden konnte.522 Schon im Herbst 1966 verschoben sich jedoch die ökonomischen Voraussetzungen für die geplante Reform. Die Einnahmen der Arbeiterrenten- und Angestelltenversicherung wuchsen infolge der Wirtschaftsrezession in der zweiten Jahreshälfte nicht wie erwartet.523 Darüber hinaus war zu befürchten, dass die steigenden Defizite der öffentlichen Haushalte sich auf die Finanzlage der Rentenversicherung auswirken würden. Das Bundeskabinett der Großen Koalition unter Führung von Bundeskanzler Kiesinger524 beschloss daher, einen Teil der

519 Vgl. Bericht des AfSP (zu BT-Drs. V/4474), S. 6, 26; Memorandum des Sozialbeirats über den Finanzausgleich in der Rentenversicherung, in: BABl. 19 (1968), S. 559 f. 520 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Deckungsverfahrens in der Rentenversicherung der Arbeiter und der Rentenversicherung der Angestellten v. 5.9.1966 (BT-Drs. V/896). 521 Das am Ende des ersten, zehnjährigen Deckungsabschnitts 1966 notwendige Rücklagevermögen von einer Jahresausgabe war bereits Anfang der sechziger Jahre erreicht worden. 522 Vgl. Entwurf des 3. RVÄndG (BT-Drs. V/896), Begründung, S. 6. Vgl. auch Rentner werden weiter am wirtschaftlichen Fortschritt beteiligt, in: Bulletin Nr. 86, 29.6.1966, S. 685; Schewe, Werdegang.  – Dem Entwurf gingen eingehende Berechnungen voraus, welche an die versicherungstechnischen Bilanzen vom 1.1.1963 anknüpften und sie aktualisierten (BT-Drs. IV/3410). Vgl. dazu ausführlich auch Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd.  4, S. 331 ff. 523 Wurden Anfang April 1966 in der Gemeinschaftsdiagnose der Konjunkturforschungsinstitute für 1966 noch ein (reales) Wirtschaftswachstum von 4,4  Prozent und Preisniveausteigerungen von 3,4 Prozent prognostiziert, wurde dies im Herbst deutlich nach unten revidiert: Wachstum 2,6 Prozent, Preisniveausteigerungen 2,4 Prozent. Vgl. Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd.  4, S.  341.  – Zur ersten Nachkriegsrezession 1966/67 vgl. auch Ambrosius, insb. S. 11, 15 ff., 61 ff. Zeitgenössische Lagebeschreibung: BT-Drs. V/2310, hier insb. S. 17 ff. 524 Die politischen Auseinandersetzungen in der CDU/CSU-FDP Koalition über den Bundeshaushalt 1966 hatten am 27.10.1966 zum Austritt der FDP aus der Regierung geführt und – nach etwa einem Monat der Minderheitsregierung – zum Rücktritt von Kanzler Erhard am 30.11.1966. Einen Tag später wurde Kiesinger als Kanzler eines Kabinetts der Großen Koalition gewählt.

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geplanten Finanzreform vorzuziehen. Im Finanzänderungsgesetz vom 21. Dezember 1967525 wurde eine Anhebung des Beitragssatzes von 14 auf 15 Prozent für 1968 und weiter auf 17 Prozent bis 1970 vorgesehen. Als zusätzliche Maßnahme zur Erhöhung der Einnahmen einigte sich die Regierung darauf, die seit langem strittige Versicherungspflichtgrenze für Angestellte aufzuheben.526 Gleichzeitig dienten drastische Kürzungen des Bundeszuschusses an die gesetzlichen Rentenversicherungen im Umfang von insgesamt vier Milliarden DM als Mittel zur Haushaltssanierung.527 Wenn die fiskalpolitischen Vorgaben den seit Jahrzehnten schwelenden Streit um die richtige Abgrenzung der Solidargemeinschaft weithin geräuschlos entscheiden konnten, lag das wesentlich am Umfang des angestrebten Konsolidierungsvolumens sowie am Fehlen einer echten Alternative. Zwar hätte mit der Erhöhung des Beitragssatzes das 1967 entstandene Ausgabendefizit der Rentenversicherung zunächst ausgeglichen werden können; angesichts des zu erwartenden »Rentenberges« erschienen die Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze und der Einschluss aller Angestellten in die Solidargemeinschaft jedoch unverzichtbar.528 Damit holte die Bundesrepublik einen Entwicklungsschritt nach, der in anderen europäischen Rentensystemen bereits nach dem Krieg vollzogen worden war. Nach Verabschiedung des Finanzänderungsgesetzes gingen die Beratungen am Dritten Rentenversicherungsänderungsgesetz weiter. Das Gesetz, das schließlich am 2. Juli 1969 im Bundestag ohne Änderungsanträge und bei nur einer Gegenstimme angenommen wurde,529 sah eine Anhebung des Beitragssatzes auf 18  Prozent ab 1973 vor. Es führte darüber hinaus die vollständige Abkehr vom Abschnittsdeckungsverfahren und damit den Übergang zum reinen Umlageverfahren herbei.530 Künftig sollte auf ein hohes und stetig wachsendes Rücklagen-Soll verzichtet werden. In Erweiterung des Rentenfinanzausgleichgesetzes von 1964 wurde ein fester Finanzausgleich zwischen den Trägern der Arbeiterrenten- und der Angestelltenversicherung für den Fall vorgesehen, dass in einem der beiden Zweige die Mindestrücklage von zwei Monatsaus­ 525 BGBl. I 1967, S. 1259; dazu Regierungsentwurf v. 20.10.1967 (BT-Drs. V/2149). 526 Zum Finanzänderungsgesetz vgl. ausfühlich Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd. 5, S. 415 ff. Vgl. auch Hermann,, S. 112 f. 527 Vgl. Regierungsentwurf zum Finanzänderungsgesetz (BT-Drs. V/2149), Begründung, S. 32; Schriftlicher Bericht des Haushaltsausschusses (zu BT-Drs. V/2341), S. 10. 528 Vgl. Hermann, S. 113; Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd. 5, S. 419 f. Zur Entscheidungsfindung im AfSP vgl. Kurzprotokolle der 52. u. 55. Sitzung v. 16.11.1967 bzw. 29.11.1967 (PA, V/150 A, Bd. 2). – Gegen die Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze wandte sich vor allem die BDA, die eine Mehrbelastung der Wirtschaft befürchtete. Dagegen wurde sie vom DGB als »sozialpolitisch notwendig begrüßt«. Vgl. Zusammenstellung von Stellungnahmen zum Entwurf des Finanzänderungsgesetzes (PA, V/150 A, Bd. 4). 529 Sten. Ber., Bd.  70, S.  13685. Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd.  5, S.  433. Vgl. dazu auch Schewe, Werdegang, S. 465 f. 530 Vgl. dazu Bogs u. a., Soziale Sicherung, S. 192 ff.

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gaben unterschritten würde.531 Die namentlich von den Angestelltenverbänden massiv propagierte Forderung nach finanzieller Eigenständigkeit der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte blieb damit ohne Erfolg. Angesichts der Entwicklung der Arbeiter- und Angestelltenzahlen und der daraus resultierenden unterschiedlichen Finanzentwicklung der Rentenversicherungszweige war die Abschaffung der finanziellen Exklusivität der Angestelltenversicherung sozialpolitisch ohne Alternative.532 Die Änderungsgesetze von 1967 und 1969 führten für die weiblichen Versicherten zu Verbesserungen. So wurde im Finanzänderungsgesetz die durch die Rentenreform von 1957 ermöglichte Beitragserstattung an Frauen bei Heirat wieder rückgängig gemacht. Im Dritten Rentenversicherungsänderungs­ gesetz wurde darüber hinaus verfügt, dass Frauen freiwillige Beiträge nachentrichten konnten, wenn sie sich ihre Beiträge bei Eheschließung hatten erstatten lassen.533 Damit wurden notwendige Korrekturen am geltenden Rentenrecht durchgeführt, und es wurde verhindert, dass Frauen, selbst wenn sie berufstätig gewesen waren, später ohne eigene Alterssicherung dastanden. Die grundsätz­ liche Benachteiligung von Frauen im erwerbsarbeitszentrierten Rentenversicherungssystem war damit freilich nicht behoben. Die Maßnahmen des Finanzänderungs- und des Dritten Rentenversicherungsänderungsgesetzes führten insgesamt zu einer Konsolidierung und Festigung des durch die Rentenreform von 1957 geschaffenen Systems.534 Die politischen Entscheidungen wurden, nach den Worten des Vorsitzenden des Sozialpolitischen Ausschusses Ernst Schellenberg, von dem Willen getragen, »durch eine langfristige Finanzierung das Vertrauen in die Rentenversicherung und ihre bruttolohndynamische Rente zu stärken«.535 Hatte nach den Rentenreformgesetzen von 1957 das Finanzierungssystem als prinzipiell konstant und das Leistungssystem als notfalls variabel gegolten, war es nunmehr umgekehrt: Das Rentenleistungssystem in Form der bruttoarbeitsentgeltbezogenen dynamischen Rente galt als das zu Bewahrende, die Finanzierungsvorschriften hingegen waren entsprechend modifizierbar. Demgemäß wurde allen in dieser Zeit vorhandenen Versuchen eine Absage erteilt, die Regierung »mittels gezielter 531 Vgl. Kurzprotokoll der 88. Sitzung des AfSP v. 16.1.1969 (PA, V/369 A, Bd. 2). Vgl. auch Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd. 5, S. 430 ff. 532 Hermann, S.  116. Zu den Forderungen der DAG vgl. DAG-Pressedienst Nr.  96/68 v. 3.7.1968 (abgedruckt in: DRV 23 (1968), S. 260 f.); Stellungnahme der DAG zum 3. RVÄndG v. 27.9.1966 (PA, V/369 A, Bd. 4). Vgl. auch Eike, S. 292 f.; Katzbach, S. 5 ff.; Müller, Rentenfinanzierung. 533 Die Nachentrichtung war jedoch nur möglich für Zeiten, für die eine Beitragserstattung erfolgt war. Ferner musste nach der Beitragserstattung und zur Zeit der Antragsstellung auf Nachentrichtung eine versicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt worden sein bzw. ausgeübt werden. Vgl. Schriftlicher Bericht des AfSP (zu BT-Drs. V/4474), S. 7. Vgl. auch Schellenberg (SPD) bei der 3.  Beratung des 3.  RVÄndG am 2.7.1969 im BT (Sten. Ber., Bd. 70, S. 13676 f., 13684), der die Verbesserungen für Frauen gesondert hervorhob. 534 So auch das Urteil der Zeitgenossen Brück, S. 193; Jantz, Langfristige Sicherung, S. 458. 535 Vgl. Schriftlicher Bericht des AfSP zum 3. RVÄndG v. 25.6.1969 (zu BT-Drs. V/4474), S. 4.

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Hiobsbotschaften über die Entwicklung der Rentenversicherungs­finanzen«536 zur Abkehr von der auto­matischen Rentenanpassung oder zu grundlegenden Änderungen des Leistungsrechts zu bewegen.537 Die Arbeitgeberverbände konnten sich nicht mit ihrer Forderung durchsetzen, statt des Bruttolohns künftig den durchschnittlichen Nettolohn als Maßstab für die Rentenbemessung zugrunde zu legen.538 Im Gegenzug musste die Gewerkschaftsseite ihrerseits Forderungen nach Aufstockung der Bundeszuschüsse zur Bewältigung der finanziellen Engpässe in den Rentenversicherungen aufgeben und stattdessen sowohl Beitragserhöhungen als auch Kürzungen der Bundesmittel in Kauf nehmen.539 Insgesamt betrachtet, stellte die endgültige Beseitigung der Versicherungspflichtgrenze für Angestellte sicherlich das markanteste Ereignis dar. Es bescherte der Angestelltenversicherung 170.000 neue Versicherte und führte zu einer beinahe lückenlosen Erfassung aller abhängig Beschäftigten in der Rentenversicherung, einschließlich der höheren Einkommensschichten.540 Für die Gewerkschaften und die SPD war damit eine alte sozialpolitische Forderung erfüllt. In der Union blieb die Entscheidung umstritten.541 Dennoch setzte sich auch hier langsam die Erkenntnis durch, dass ein Festhalten an der Versicherungspflichtgrenze anachronistisch erscheinen musste und der dem Renten­ system innewohnenden Dynamik zuwiderlief. Mit der Ausdehnung des Schutzbereichs und der Öffnung nach »oben« hörte die Rentenversicherung endgültig auf, eine besondere Einrichtung für 536 Brück, S. 193. 537 Vgl. dazu Schmähl, Sicherung im Alter, Bd. 5, S. 434 ff. Vgl. auch die Angriffe auf Regierung und Bundesarbeitsminister in der Presse: Kapitulation vor dem Rentenberg, in: Die Welt, 4.7.1968; Marsch ins Defizit, in: Der Volkswirt Nr. 27, 5.7.1968; Die sozialpolitischen Manipulierer, in: FAZ, 12.7.1958. 538 Vgl. Zusammenstellung von Stellungnahmen zum Entwurf des Finanzänderungsgesetzes (PA, V/150 A, Bd. 4); Stellungnahme der BDA zum 3. RVÄndG (PA, V/369 A, Bd. 4). Vgl. auch Müller, Rentenfinanzierung, S. 216, sowie die von Heubeck und Preller ausgetragene Kontroverse zur Frage von brutto- oder nettobezogener Rentendynamik, in: SF 17 (1968), S. 31–32. 539 Vgl. Zusammenstellung von Stellungnahmen zum Entwurf des Finanzänderungsgesetzes (PA, V/150 A, Bd. 4); Stellungnahme des DGB zum 3. RVÄndG v. 7.10.1966 (PA, V/369 A, Bd. 4). Vgl. auch: Höhere Beiträge zur Rentenversicherung? Bundesregierung brachte Entwurf eines Dritten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes ein, in: Soz. Sich. 15 (1966), S. 328–329. 540 Vgl.: 170.000 neue Versicherte in der Angestelltenversicherung? in: SF 17 (1968), S. 69. – Allerdings bestand auf Antrag eine zeitlich begrenzte Möglichkeit zur Befreiung von der Versicherungspflicht für Angestellte, die das 50. Lebensjahr vollendet hatten oder entsprechend bei einem privaten Versicherungsunternehmen versichert waren; laut FAZ v. 25.7.1968 machten rund 220.000 »gut verdienende Angestellte« von diesem Antragsrecht Gebrauch. 541 So erklärte Kalinke (CDU) in der 52. Sitzung des AfSP am 16.11.1967, dass die Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze »sozialpolitisch nicht nötig und finanzpolitisch nicht ausreichend zu begründen« sei. Vgl. Kurzprotokoll, S. 7 (PA, V/150 A, Bd. 2).

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die ökonomisch schwächsten Schichten und Berufsgruppen zu sein. In der gesetzlichen Rentenversicherung waren nun alle versichert, die in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis standen, gleich welcher beruflichen Qualifikation und welcher Lohn- oder Gehaltsklasse. Der Gedanke der selbständigen Vorsorge geriet damit weiter in den Hintergrund. Die gesetzliche Rentenversicherung war die Institution, die im Alter Sicherheit und Wohlstand versprach. Trotz neuer Regierungskonstellationen 1966 und 1969 zeichnete sich die Rentenpolitik in den sechziger Jahren insgesamt durch Kontinuität aus. Das lag zum einen daran, dass die großen politischen Parteien schon Mitte bis Ende der fünfziger Jahre ihre rentenpolitische Programmatik einander angeglichen hatten. Zum anderen war die Rentenreform »bereits ein Bestandteil der sozialen Ordnung geworden und wirkt[e] in dieser«.542 Sie rückgängig zu machen oder an ihren Grundprinzipien zu rütteln, wurde von keiner Seite ernsthaft mehr erwogen. 6.3 »Freier Bauer in sozialer Sicherheit«:543 Die Alterhilfe der Landwirte Bei der Rentenreform von 1957 war trotz entsprechender Ankündigungen und Beschlüsse eine umfassende und durchdachte Lösung für die Alterssicherung der Selbständigen ausgeblieben. Aus sozialen, aber auch aus Gründen der Gleichberechtigung erschien es angebracht, nachträglich gesetzgeberische Maßnahmen zur Alterssicherung der selbständig tätigen Personen zu er­greifen. Auch die meisten anderen europäischen Wohlfahrtsstaaten hatten  – soweit nicht durch das Staatsbürgerprinzip die selbständigen Berufsgruppen bereits erfasst waren – nach dem Zweiten Weltkrieg Regelungen zur Alterssicherung der Selbständigen erlassen.544 Wie aus verschiedenen empirischen Untersuchungen der späten fünfziger und sechziger Jahren über die Lebenssituation von Selbständigen in der Bundesrepublik hervorging, waren die Einkommensverhältnisse der aus dem Beruf ausgeschiedenen Selbständigen (und der Witwen von Selbständigen) häufig ungünstig, ja, zum Teil sogar schlechter als die der Arbeiter und Angestellten.545 Eine 1960 in Köln angestellte Stichprobenerhebung über die Lage der älteren Einwohner ergab, dass 50  Prozent der Selbständigenhaushalte ein Nettoeinkommen von unter 200 DM im Monat hätten, im Vergleich zu 34 Prozent der 542 Schewe, Sozialreform, S. 36. 543 Entschließung »Freier Bauer in sozialer Sicherheit« des Vorstandes und Kuratoriums der Agrarsozialen Gesellschaft v. 11.1.1963 (abgedruckt bei: Richter, Sozialreform, L IV 2). 544 Vgl. im Falle Frankreichs das Gesetz vom 17.1.1948 betr. Handwerk, Handel und freie Berufe sowie das Gesetz v. 10.7.1952 betr. Landwirtschaft. Palier, S. 109 f. 545 Vgl. dazu Guderjahn, S. 195 ff.

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Arbeiter- und 25 Prozent der Angestelltenhaushalte.546 Derselben Er­hebung zufolge äußerten 7 Prozent der Arbeiter, 3 Prozent der Angestellten, aber 12 Prozent der ehemals Selbständigen, dass ihr Einkommen »gar nicht ausreichend« sei.547 Auf die Frage, wer im Falle zu geringen Einkommens helfen solle, nannten 71  Prozent der Selbständigen den Staat.548 Insgesamt sahen große Teile der Selbständigen nach Kriegsende eine gesetzlich geregelte soziale Sicherung nicht mehr als Hindernis, sondern als Voraussetzung für selbständiges Tätigsein an.549 Die erste Volks- und Berufszählung des Statistischen Bundesamtes vom 13. September 1950 zeigte, dass in der Bundesrepublik von insgesamt 22 Millionen Erwerbspersonen etwa 3,25 Millionen selbständig tätig waren, darunter – als größte Gruppen – 1,25 Millionen in der Land- und Forstwirtschaft und 0,8 Millionen im Handwerk.550 Im Gegensatz zu den Handwerkern standen die Landwirte weiterhin außerhalb des deutschen Sozialversicherungs­systems  – es sei denn, sie hatten durch eine versicherungspflichtige Nebentätigkeit Ansprüche in der gesetzlichen Rentenversicherung erworben oder von dem bis zur 1957er-Reform bestehenden Recht auf Selbst- bzw. Weiterversicherung Gebrauch gemacht.551 Die Grundbedürfnisse für die ländliche Bevölkerung galten aufgrund der Verfügung über Grund und Boden lange als gesichert, zusätzliche Funktionen im Bereich der sozialen (Alters-) Sicherung übernahmen traditionell die Familie oder die Dorfgemeinschaft. Jedoch hatten sich auch im landwirtschaftlichen Sektor seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erhebliche strukturelle Veränderungen vollzogen, die nicht ohne Rückwirkung auf die soziale Lage der bäuer­ lichen Bevölkerung und ihrer Familien blieben.552 Ein besonderes Problem stellte die Überalterung der selbständigen bäuerlichen Bevölkerung dar und daraus folgend die Schwierigkeit für den Nachwuchs, sich bei verspäteter Hofübergabe und begrenzter Bodenfläche eine eigene Existenz aufzubauen. Mehr und mehr setzte sich daher in den fünfziger Jahren die Auffassung durch, dass 546 Vgl. Blume, S. 29 f. Vgl. auch die Untersuchungsergebnisse über die Einkommensverhältnisse des selbständigen Mittelstandes bei Leverkus u. Wieken, S. 25 ff. 547 »Kaum ausreichend« nannten ihr Einkommen von den Arbeitern 30 Prozent, von den Angestellten 22 und von den Selbständigen 29 Prozent, vgl. Blume, S. 92. 548 Arbeiter und Angestellte nannten den Staat zu 70 Prozent, vgl. Blume, S. 92 f. Vgl. auch die Ergebnisse von Leverkus u. Wieken, S. 183 ff., über den »Ruf nach Staatshilfe« und das Vertrauen in die eigene Vorsorgefähigkeit. 549 Das ging auch aus der bereits mehrfach erwähnten Allensbacher Enquête von 1958 hervor. Vgl. Nach der Rentenreform, in: BABl. 11 (1960), S. 484 ff. 550 Vgl. Zur Alterssicherung der Selbständigen, in: Bulletin Nr. 106, 13.6.1956, S. 1050. 551 Vgl. Stellungnahme des Deutschen Bauernverbandes zum Entwurf des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten v. 6.12.1956 (PA, II/356 B, Bd. 2). Der Bauernverband wandte sich darin gegen den Wegfall der Selbstund freiwilligen Weiterversicherung, da sie einen wichtigen Bestandteil der sozialen Sicherung der Selbständigen in der Landwirtschaft darstelle. 552 Vgl. dazu auch Hagedorn, S. 17 f.

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eine über den landwirtschaftlichen Betrieb und die familiäre Sicherung hinausgehende Alterssicherung für weite Kreise, insbesondere für die überwiegende Zahl der Familienbetriebe, vonnöten sei.553 Nachdem im Rahmen der Sozialreformdebatte die Alterssicherung der ländlichen Bevölkerung an verschiedener Stelle thematisiert worden war, legte das Bundesministerium für Arbeit am 12. Juni 1956 einen Referentenentwurf für ein Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte vor.554 Darin wurde vorgeschlagen, die Alterssicherung auf berufsständischer Grundlage in Anlehnung an die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften durchzuführen. Zu diesem Zeitpunkt war bei der Reform der gesetzlichen Rentenversicherung für Arbeiter und Angestellte zwar noch nichts endgültig entschieden. Dennoch ließen die Grundzüge der Gesetzentwürfe von Regierung und Opposition erkennen, dass der Charakter einer Arbeitnehmerversicherung gewahrt bleiben sollte und eine Einbeziehung der Landwirte damit nicht in Frage kam. Der Beratungs- und Gesetzgebungsprozess vollzog sich vergleichsweise schnell. Am 19.  Januar 1957  – noch während der Beratungen zur Renten­ reform  – wurde der Entwurf des Bundesarbeitsministeriums in leicht überarbeiteter Form als Initiativantrag von der Unionsfraktion in den Bundestag eingebracht555 und am 6. Februar 1957 an die Ausschüsse für Sozialpolitik (federführend)  sowie Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (mitberatend) überwiesen.556 Ohne größere Verzögerungen wurde das Gesetz sodann am 2. und 3. Juli 1957 im Bundestag beraten und ohne Gegenstimmen verabschiedet.557 Diese schnelle Einigung war vor allem deshalb möglich, weil auch die politischen Kräfte, die einer Erweiterung der Sozialversicherung ansonsten ablehnend gegenüber standen, das Vorhaben einer Altershilfe für Landwirte befürworteten und unterstützten.558 Die in Göttingen ansässige Agrarsoziale Gesellschaft hatte sich schon seit längerer Zeit für eine gesetzliche Regelung der »Altersversorgung der gesamten bäuerlichen Bevölkerung« eingesetzt.559 Auch der Deutsche Bauernverband hatte schließlich seine ursprünglich skeptische 553 Vgl. Zöllner, Frage der Alterssicherung, S.  1051; Schewe u. Zöllner, S.  531 f. Vgl. auch die Ergebnisse der Dorfuntersuchung der Forschungsgesellschaft für Agrarsoziologie und Agrarpolitik über die Altersversorgung unter Kleinlandwirten, in: Bulletin Nr. 106, 13.6.1956, S. 1052. 554 Vgl. Bulletin Nr. 106, 13.6.1956, S. 1044, 1051. 555 BT-Drs. II/3118. 556 Sten. Ber., Bd. 35, S. 10860. Kurzprotokolle der Ausschussberatungen in: PA, III/458 A); Beratungsergebnis: BT-Drs. II/3707. 557 Vgl. Sten. Ber., Bd. 38, S. 13060–13078 (2. Beratung) bzw. S. 13103–13122 (3. Beratung). Die Zustimmung des Bundesrates erfolgte ebenfalls einstimmig. 558 Vgl. beispielsweise Antrag der FDP-Fraktion auf Vorlage einer gesetzlichen Regelung v. 19.4.1956 (BT-Drs. II/2318); Die Notwendigkeit einer baldigen Regelung der bäuerlichen Alterssicherung wurde auch vom Arbeitskreis »Landwirtschaft« auf dem 6. Bundesparteitag der CDU v. 26.–29.4.1956 in Stuttgart betont (Parteitagsprotokoll, S. 204). 559 Vgl. Beschluss von Vorstand und Kuratorium der Forschungsgesellschaft v. 9.12.1955, abgedruckt in: Abel, S. 138 f.

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Haltung gegenüber einer gesetzlichen Regelung aufgegeben und sich für die Schaffung einer berufsständischen Sondereinrichtung ausgesprochen.560 Eine besondere Rolle kam schließlich der SPD zu. Sie steuerte und beschleunigte mit ihren Vorschlägen und Gesetzesinitiativen den Entscheidungsprozess und war damit eine der treibenden Reformkräfte.561 Das nach dem »Gesetz über die Altershilfe für Landwirte«562 (GAL) zu gewährende Altersgeld kam grundsätzlich allen landwirtschaftlichen Unternehmern zugute, deren Betrieb einen bestimmten Einheitswert – als Indikator für »eine dauerhafte Existenzgrundlage« – erreichte.563 Es war zunächst lediglich als Bargeldzuschuss konzipiert und sollte nur eine von insgesamt drei oder vier Stufen der Alterssicherung der Land­w irte darstellen. Die übrigen Stufen bestanden – idealerweise – in den Naturalbezügen des Altenteils, der Barleistung des Hoferbens bzw. -nachfolgers sowie einer freiwillig abgeschlossenen privaten Vorsorgeversicherung. Das Altersgeld war eine für alle einheitliche Leistung, bei der nur nach dem Familienstand differenziert wurde. Vorgesehen waren 60 DM monatlich für Verheiratete und 40 DM für Alleinstehende.564 Die Finanzierung sollte durch Einheitsbeträge der Beitragspflichtigen von 10 DM monatlich erfolgen. Damit wurde ein in mehrfacher Hinsicht konzeptionell von der Arbeiterrenten- und Angestelltenversicherung abweichender Ansatz realisiert.565 Vom GAL profitierten besonders die mittelständischen Bauern, d. h. die Inhaber von kleinen bis mittleren Familienbetrieben. Ihnen kam das Altersgeld zugute, ohne dass sie einer allzu großen Beitragslast ausgesetzt waren. Für die Inhaber größerer Betriebe, die in der Regel nicht zwingend auf staatliche Leistungen im Alter angewiesen waren, war dagegen der geringe, einheitliche Beitragssatz attraktiv, da er einen Solidarausgleich zwischen größeren und kleineren Betrieben ausschloss.566 Die »Verlierer« des GAL waren die ärmeren Bauern, 560 Vgl. die Hinweise in: Sten. Ber., Bd.  38, S.  13104, 13115.  – Der deutsche Bauernverband hatte lange Zeit eine gesetzliche Regelung der Alterssicherung mit der Begründung abgelehnt, dass ein Versicherungszwang sich nicht mit der Daseinsform des »freien Bauern auf freier Scholle« vereinbaren lasse. Vgl. Frehsee u. Zöllner, S. 265; Guderjahn, S. 181. 561 Vgl. Frehsee u. Zöllner, S. 265. 562 BGBl. I, S. 1063 (27.7.1957). – Der Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion hatte noch von einer »Alterssicherung der Landwirte« gesprochen. Der Grund für die Umbenennung von »Alterssicherung« in »Altershilfe« wurde damit begründet, dass die in dem Gesetz vorgesehenen Leistungen nicht bezweckten, den Lebensunterhalt zu »sichern«, sondern lediglich einen Zuschuss zu gewähren. Vgl. Kurzprotokoll der 167. Sitzung des AfSP v. 29.9.1957 (PA, II/458 A). 563 Vgl. § 1 Abs. 4 GAL. Vgl. dazu im Einzelnen Schewe u. Zöllner, S. 534. 564 Voraussetzung für den Erhalt der Altershilfe waren die Vollendung des 65. Lebensjahres, 15 Beitragsjahre und die Hofübergabe nach Vollendung des 50. Lebensjahres, was die agrar­politische Zielsetzung verdeutlichte. Vgl. dazu Schewe u. Zöllner, S. 535 f. 565 Vgl. Sten. Ber., Bd. 38, S. 13064 ff. Schewe u. Zöllner, S. 538. 566 Diese geringe Belastung dürfte auch ausschlaggebend für die Zustimmung des Deutschen Bauernverbandes gewesen sein, dessen Führungsschicht eher über größere und wohlsituierte Betriebe verfügte. Vgl. Schmähl, Sicherung im Alter (Bd. 3), S. 433; Guderjahn, S. 181.

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die  – wegen der geringen Größe des Betriebes und/oder geringer Produktivität – den »Einheitswert« nicht erreichten sowie alle diejenigen, die in der Landwirtschaft nicht selbständig, sondern als mithelfende Familienangehörige tätig waren. Zur letzten Gruppe gehörten vornehmlich (Ehe-) Frauen. Trotz dieser »Härten« wurde das GAL von der Landwirtschaft insgesamt mit großer Zufriedenheit aufgenommen.567 Die bewusste Beschränkung der Altershilfe auf die selbständig Tätigen hatte zur Folge, dass die mithelfenden Familienangehörigen – wenn für sie nicht ein versicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis abgeschlossen wurde  – ganz durch das soziale Sicherungsnetz zu fallen drohten. Denn das Gesetz sah, analog zur neuen Regelung in der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, keine Möglichkeiten für einen freiwilligen Beitritt zur Altershilfe vor.568 Damit war den Mithelfenden der Zugang doppelt versperrt, denn sie konnten sich weder in der Arbeitnehmerversicherung noch bei den selbständigen Landwirten selbstversichern. Ähnlich wie bei der Rentenreform 1957 wurde auch beim GAL die Streichung der Selbstversicherung mit dem Hinweis auf Missbrauchsverhütung und kalkulatorischer Sicherheit begründet.569 Die Lage blieb damit für die »sozial Schwächsten in dieser Berufsgruppe« prekär.570 Die im europäischen Vergleich sehr späte Einführung einer gesetzlichen Alterssicherung für die Landwirte war, gesellschaftspolitisch betrachtet, eine Entscheidung von weitreichender Bedeutung. Nicht nur verlieh sie der sozialpolitischen Entwicklung eine neue Dynamik und eine neue Zielrichtung, sondern ab sofort war Rentenpolitik nicht mehr nur eine Angelegenheit der Arbeitnehmer, sondern auch der Mehrheit der Selbständigen. Mit dem GAL wurden mehr als eine Million selbständig Erwerbstätige in der Landwirtschaft in das System der gesetzlichen sozialen Sicherung einbezogen. Zusammen mit den Handwerkern gehörten damit rund zwei Millionen der insgesamt 3,25 Millionen Selbständigen der Pflichtversicherung an. Die »Sicherung aller Erwerbstätigen im Alter«, wie sie »manchen Reformplänen vorgeschwebt« hatte, war damit in der Bundesrepublik  – wenn auch in getrennten Einrichtungen  – »weit­gehend verwirklicht«.571

567 Vgl. Frehsee, Neuordnung, S. 107. 568 Die Möglichkeit zum freiwilligen Beitritt für mithelfende Familienangehörige war im Referentenentwurf des BMA noch enthalten gewesen. Sie wurde jedoch nicht in den Antrag der CDU/CSU-Fraktion übernommen. Vgl. dazu näher Schewe u. Zöllner, S. 533, 535. 569 Ebd. Vgl. auch Begründung von Klausner (Berichterstatter, CSU) in der 2. Beratung des GAL am 2.7.1957 im BT (Sten. Ber., Bd. 38, S. 13062). 570 Die SPD beantragte während der 2. Beratung im BT am 2.7.1957 die Einbeziehung der »sozial schwächsten in dieser Berufsgruppe«. Sie blieb allerdings erfolglos (Sten. Ber., Bd. 38, S. 13064). 571 Schewe u. Zöllner, S. 539.

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6.4 Zwischen Pflichtversicherung und privater Vorsorge: Die Neuordnung der Handwerkerversorgung Im Vergleich zu den recht zügigen und einvernehmlichen Verhandlungen über die Einführung einer Altershilfe für Landwirte war die Reform der Handwerkerversorgung ein ungleich heikleres und umstritteneres Thema. Dabei stand auf den ersten Blick gar nicht so viel auf dem Spiel: Erstens waren die Handwerker bereits seit 1938 durch das Rentenversicherungssystem erfasst; zweitens waren fast alle Inhaber eines Handwerksbetriebs selbst als Lehrlinge und Gesellen bereits einmal in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig gewesen. Eine schnelle Einigung wurde daher weniger von den politischen Gegensätzen zwischen Regierung und Opposition verhindert, als vom Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH), der massiv in die Debatte eingegriff. Meinungsverschiedenheiten gab es aber auch zwischen den mittelständisch orientierten Kräften und dem Arbeitnehmerflügel in der Unionsfraktion. Die Debatte über die Reform des HVG wurde von zwei Grundfragen beherrscht: Sollte die Zwangsversicherung der selbständigen Handwerker beibehalten werden und, wenn ja, war dann das im HVG gewählte Modell der Wahlfreiheit zwischen gesetzlicher Rentenversicherung und privater Renten- bzw. Lebensversicherung noch zeitgemäß? Seit der Währungsreform krankte die Handwerkerversorgung daran, dass die befreienden Lebensversicherungen abgewertet worden waren und die meisten Versicherungssummen den für die Freistellung von der Angestelltenversicherung erforderlichen Mindest­betrag nicht mehr erreichten.572 Viele der lebensversicherten Handwerker konnten oder wollten ihre Versicherung nicht aufstocken. Zugleich waren sie nicht bereit, stattdessen Angestelltenversicherungsbeiträge zu zahlen. Die »Beitragsmoral« war aber auch bei den gesetzlich versicherten Handwerkern schlecht, denn im Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz vom 17. Juni 1949 war der Beitrag zur Rentenversicherung für die Handwerker von durchschnittlich 4,8 auf 10 Prozent erhöht worden.573 Durch den ökonomischen Strukturwandel in den fünfziger Jahren verstärkte sich die Problematik der Alterssicherung. Zwar hielt das Handwerk, wie die Handwerkszählung von 1956 zeigte, mit der wirtschaftlichen Entwicklung 572 Vgl. Guderjahn, S. 177 f. – Nach der 1938er Regelung mussten die Handwerker in der Privatversicherung ebenso hohe Beiträge (Prämien) zahlen wie sonst in der Angestelltenversicherung (ausreichend galt eine Lebensversicherung von 5.000 RM), um versicherungsfrei zu sein. Allerdings waren bei der Währungsreform 1948 die Sozialversicherungsrenten im Verhältnis 1:1, die Lebensversicherungen der Handwerker dagegen nur im Verhältnis 1:10 umgestellt worden. Vgl. dazu auch Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd. 3, S. 373; Heyn, S. 332 f. 573 Da schon bei Erlass des SVAG eine Neuregelung des Handwerkerversorgungsrechts in Aussicht genommen wurde, unterließ man es, nach den damals geltenden Vorschriften gegen die säumigen Handwerker vorzugehen. Vgl. Hoernigk, S. 502; Zöllner, Versorgungswünsche, S. 28. Vgl. auch Scheybani, S. 472.

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Schritt. Der Handwerksumsatz war 1956 gegenüber 1949 um 127 Prozent gestiegen, der Handelsumsatz von Handwerksbetrieben sogar um 186 Prozent.574 Jedoch war die Zahl der Handwerkbetriebe insgesamt zurückgegangen  – sie verringerte sich seit 1949 im Durchschnitt jährlich zwischen einem und vier Prozent.575 Die wirtschaftliche Lage der Kleinstbetriebe wurde damit immer unsicherer. Das Sterben der Ein-Mann-Betriebe (»Alleinmeister«) hatte in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre bedeutende Ausmaße angenommen. Unter den Betroffenen waren nicht selten ältere Handwerksmeister. Damit wurde die Möglichkeit zur Fortsetzung der Arbeit gerade für jene Altersgruppe immer problematischer, die im Vergleich wirtschaftlich am schlechtesten gestellt war.576 Die Bundesregierung legte erstmals am 9. Juli 1952 einen Gesetzentwurf zur Änderung des HVG vor.577 Dieser ging an verschiedenen Stellen auf die Vorstellungen und Wünsche des Handwerksrates ein, der bereits 1950 einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt und darin vor allem eine »Auflockerung« der Versicherungs­pflicht gefordert hatte.578 Der Regierungsentwurf sah nun vor, die im HVG von 1938 festgelegte Versicherungspflicht zwar beizubehalten; jedoch war die Einführung einer Versicherungspflichtgrenze analog zum Versicherungsrecht der Angestellten vorgesehen. Die besserverdienenden Handwerker sollten mithin  – wie vom ZDH gefordert  – künftig nicht mehr zwangsversichert sein. Das Sonderrecht der Handwerker, zwischen den Versicherungs­arten zu wählen, sollte bestehen bleiben.579 Der Entwurf der Regierung stieß bei SPD, Gewerkschaften und Rentenversicherungsträgern auf Kritik; diese lehnten Sonderrechte der Handwerker zu Lasten der übrigen Pflichtversicherten grundsätzlich ab.580 Wegen anhaltender Meinungsverschiedenheiten, insbesondere über die vorgesehene Wahlfreiheit, wurde der Regierungsentwurf in der ersten Legislaturperiode nicht mehr abschließend behandelt; eine neue Gesetzesinitiative kam erst 1955 zustande.581 574 Vgl. Ergebnisse der Handwerkszählung 1956, in: Wirtschaft u. Statistik 9 (1957), S. ­472–478. 575 Vgl. Die pflichtversicherten Handwerker am 1. Juli 1973, in: BABl. 24 (1973), S. 582. 576 Scheybani, S. 469. Vgl. dazu auch Lenhartz, S. 157 f., 161 f.; Leverkus u. Wieken, S. 117 f. 577 Entwurf eines Gesetzes zur vorläufigen Änderung des Gesetzes über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk (BT-Drs., I/3598). Vgl. auch Vorlage des BMA v. 15.3.1952 (BA, B 136/2665); Kabinettssitzungen v. 25.3.1952 u. 10.11.1953 (Kabinettsprotokolle, Bd.  5, S. 194 bzw. Bd. 6, S. 507). 578 Vgl. Handwerkseigener Gesetzentwurf zur Altersvorsorge, in: DHBl. 2 (1950), S. 135–137. Vgl. dazu auch Scheybani, S. 471 f.; Heyn, S. 338 ff. 579 Allerdings sollte die Mindestversicherungssumme bei einer Kapitallebensversicherung von 5.000 auf 10.000 DM erhöht werden und auf diese Weise der Risikoauslese zuungunsten der Angestelltenversicherung entgegengewirkt werden. Vgl. Scheybani, S. 471 f. 580 Vgl. DAG, Denkschrift zur Reform der Handwerkerversorgung (abgedruckt bei: Richter, Sozialreform, H II 2, S. 14 f.). Zur ablehnenden Haltung des VDR vgl.: DVersZ 6 (1952), S. 127. Vgl. auch Heyn, S. 341. 581 Vgl. Scheybani, S. 272; Heyn, S. 342.

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Es war die Unionsfraktion, die am 21. Juni 1955 einen Gesetzentwurf zur vorläufigen Änderung der Handwerkerversicherung einbrachte, überzeugt, dass eine gesetzliche Überganglösung notwendig sei, um endlich die herrschende Rechtsunsicherheit zu beenden.582 Ein Jahr später wurde das »Gesetz zur vorläufigen Änderung des Gesetzes über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk« mit nur einer Gegenstimme vom Bundestag angenommen.583 Eine Grundsatzentscheidung in der Frage der Handwerkerversorgung war damit jedoch noch nicht gefallen. Das sog. »Bereinigungsgesetz« gab den Handwerkern, die in den Jahren nach der Währungsreform beitragssäumig geworden waren, Gelegenheit, einen ausreichenden Versicherungsschutz wiederherzustellen und ihren Anspruch auf eine Rente zu bewahren.584 Wie bereits festgestellt wurde, kam es auch im Rahmen der Rentenreform von 1957 nicht zu einer Neuordnung der Handwerkerversicherung. Dennoch wurde die Handwerker-Problematik während der verschiedenen Beratungsstufen und insbesondere in der Zweiten und Dritten Lesung im Bundestag kontrovers diskutiert.585 Dazu trugen vor allem die heftigen Proteste des ZDH gegen die Beschlüsse des Ausschusses für Sozialpolitik bei.586 Nach langen Verhandlungen wurde schließlich sehr weitgehend auf die Wünsche des Handwerks eingegangen. Das Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz bestimmte, dass diejenigen Handwerker, die 15 Jahre Pflichtbeiträge entrichtet hatten, sich auf Antrag von der Versicherungspflicht befreien lassen konnten und ihnen danach die Möglichkeit zur freiwilligen Weiterversicherung offenstand.587 Eine weitere wichtige Entscheidung zugunsten der Handwerker betraf die Anpassung an das Leistungsrecht der Angestellten, d. h. auch die Handwerkerrenten wurden dynamisiert und damit spürbar erhöht.588 Damit kam der entscheidende Schritt der Rentenreform auch den Handwerkern zugute. Die Handwerkerrenten erhöhten sich infolge der Rentenreform von durchschnittlich 112 DM auf 163 DM 582 BT-Drs. II/1479. Vgl. auch Schriftlicher Bericht des AfSP (BT-Drs. II/2486); Freidhof (SPD, Berichterstatter) und Becker (CDU/CSU) in der 2.  Beratung am 27.6.1956 im BT (Sten. Ber., Bd. 31, S. 8386 bzw. 8387). 583 BGBl. I, S. 755 (27.8.1956). – Die Gegenstimme bei der Schlussabstimmung am 27.6.1956 gehörte dem Abg. Schneider (CDU), der damit die Interessen der Angestellten verteidigen wollte (Sten. Ber., Bd. 31, S. 8389). Vgl. auch Heyn, S. 345. 584 Vgl. Scheybani, S. 473 f.; Heyn, S. 342 ff. 585 Insgesamt wurden dort 26 Anträge zur Handwerkerversorgung gestellt, von denen zwei angenommen wurden. Vgl. dazu Schewe, Neuordnung der Handwerkerversorgung, S. 121 f. 586 Vgl. Zwangsversicherung des Handwerks aufheben!, in: DHBl. 9 (1957), S. 1 f. Abgelehnt wurde insbesondere die Erhöhung des Beitragssatzes auf 14 Prozent und Schaffung eines Sondervermögens für die Handwerker bei der BfA. Vgl. dazu auch Scheybani, S.  476 f.; Heyn, S. 346 ff. 587 Vgl. Art. 2 § 52 Abs. 3 AnVNG. Zur Bedeutung dieser Vorschrift vgl. insb. Heyn, S. 349 ff. 588 Das war im Regierungsentwurf ursprünglich nicht vorgesehen gewesen. Vgl. Schriftlicher Bericht des AfSP v. 12.1.1957 (zu BT-Drs. 3080), S. 33 f. Dazu auch Schewe, Neuordnung der Handwerkerversorgung, S. 40.

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monatlich, d. h. um 48 Prozent.589 Als Nachteil für die Handwerker war zu werten, dass die Handwerkerversorgung künftig auf dem Gebiet der Finanzierung von der Angestelltenversicherung abgetrennt und ein sog. Sondervermögen eingeführt werden sollte.590 Kurz nach Inkrafttreten der Rentenreform und erneut nach der Bundestagswahl im Herbst 1957 unterbreitete der ZDH Regierung und Parlament die Wünsche des Handwerks für eine endgültige Regelung der Handwerkerversicherung. Ziel des ZDH war es, die Beschränkung der Versicherungspflicht und die Modalitäten der Weiterversicherung aus der Rentenreform in ein neues Handwerkerversicherungsgesetz zu übernehmen und damit zu zementieren. Der ZDH pädierte darüber hinaus für einen Wechsel des Versicherungsträgers von der Angestellten- zur Arbeiterrentenversicherung591 sowie für die Beseitigung des neu geschaffenen Handwerkersondervermögens.592 Während der ZDH Unterstützung von Seiten des Diskussionskreises »Mittelstand« der CDU/CSU-Fraktion und des Bundeswirtschaftsministeriums erwarten konnte,593 wurden seine Vorschläge vom fraktionsinternen Arbeitskreis »Arbeit und Soziales«, aber auch vom Bundesarbeitsminister sehr kritisch gesehen. Arbeitsminister Blank favorisierte eine von der gesetzlichen Rentenversicherung der Arbeitnehmer losgelöste Zwangsversicherung aller selbständigen Handwerker. Er befürchtete, dass die 15-jährige Pflichtversicherung zur Finanzierung der laufenden Handwerker-Renten­leistungen nicht ausreichen und die Handwerkerversicherung dauerhaft die Arbeitnehmerversicherung belasten könnte.594 589 Vgl. Schewe, Entwicklung der Handwerkerversorgung, S. 222. 590 Das Gesetz zur vorläufigen Änderung des Gesetzes über die Altersversorgung für das deutsche Handwerk hatte bereits verfügt, dass die Einnahmen und Ausgaben der Handwerkerversorgung gesondert auszuweisen waren. Nunmehr wurde ein nicht rechtsfähiges Sondervermögen mit eigener Wirtschafts- und Rechnungsführung geschaffen. Dazu ausführlich Heyn, S. 353 ff. 591 Der Wechsel des Versicherungsträgers wurde damit begründet, dass die überwiegende Zahl der Handwerker bei Betriebsgründung bereits wesentliche Versicherungszeiten in diesem Versicherungszweig zurückgelegt hatte. Vgl. ZDH-Präsident Wildt in der Sachverständigenanhörung des AfSP v. 29.4.1959 (Protokoll in: PA, III/244 A, Bd. 1). 592 Vgl. die Stellungnahme des Handwerks zur Grundkonzeption der gesetzlichen Regelung seiner Altersversicherung sowie zu Einzelfragen des Entwurfs eines Handwerkerversicherungsgesetzes v. 19.5.1956 (PA, III/244 A, Bd. 2). Vgl. auch Scheybani, S. 477; Heyn, S. 356 ff. 593 Das BMW, als Gegenspieler des BMA, stand dem Um- und Ausbau der Handwerkerversicherung von Beginn an skeptisch gegenüber. Es unterstützte daher alle Bestrebungen, die auf eine Beschränkung der Versicherungspflicht hinausliefen und die den Handwerkern zwar eine Grundsicherung garantierten, ihnen aber auch einen ausreichenden Spielraum zur eigenverantwortlichen Altersvorsorge überließen. Vgl. Scheybani, S. 472, 478. Unterlagen zur Diskussion über die Altersversorgung des Handwerks in: BA, B 102/14758. 594 Wie es um die finanzielle Situation der Handwerkerversicherung und damit um die Risikoauslese innerhalb der Angestelltenversicherung bestellt war, konnte einer 1959 von Schewe veröffentlichten Analyse entnommen werden. Danach ergab sich im Jahre 1957 ein Defizit von 35 Millionen DM. Vgl. Schewe, Entwicklung der Handwerkerversorgung. Zur Kritik an Schewes Untersuchung vgl. Hausmann.

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Darüber hinaus äußerte er Bedenken, ob die Handwerker die Zahlungen für die Rentenversicherung nach Ablauf der Pflichtmonatsbeiträge tatsächlich freiwillig fortsetzen würden; das war zur Sicherung einer ausreichenden Rente jedoch unbedingt notwendig.595 Blank legte seinen, den Wünschen des ZDH teils widersprechenden Gesetzentwurf am 22. Januar 1959 dem Kabinett vor.596 Das massive Einwirken des ZDH auf Parlamentarier und Regierungsstellen, insbesondere auf die Mittelstandsabgeordneten der Unionsfraktion und den Bundeskanzler,597 bewirkte schließlich, dass in den darauffolgenden Wochen eine Einigung zu seinen Gunsten herbeigeführt wurde.598 Der Arbeitsminister und mit ihm die Arbeitnehmergruppe fanden sich bereit, von den Plänen zur Errichtung einer separaten Handwerkerversicherungsanstalt abzurücken und die Beseitigung des Handwerkersondervermögens zu akzeptieren. Die handwerksnahen Kreise in der Fraktion erklärten sich im Gegenzug damit einverstanden, die Wahlfreiheit im neuen Handwerkerversicherungsgesetz abzuschaffen und stimmten der Ausdehnung der Versicherungspflichtzeit von 15 auf 18 Beitragsjahre zu. Auf der Grundlage dieses Kompromisses brachte die Unionsfraktion am 22. April 1959 einen Initiativgesetzentwurf in den Bundestag ein, der in den entscheidenden Punkten der Konzeption des ZDH entsprach.599 Obwohl der Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik Ende Oktober 1959 vorlag,600 wurde das Handwerkerversicherungsgesetz erst Ende Juni 1960 vom Bundestag verabschiedet. Unstimmigkeiten innerhalb der Unionsfraktion hatten den Gesetzgebungsprozess erneut verzögert. Ursache des Streits war die vom Ausschuss befürwortete separate Rechnungslegung,601 die der ZDH als 595 Vgl. Bericht über einen Vortrag des Bundesarbeitsministers in der Vollversammlung der Handwerkskammer Düsseldorf, in: DHBl. 10 (1958), S.  104.  – Wie Untersuchungen des BMA zur Alterssicherung Selbständiger Anfang der siebziger Jahre ergaben, waren die Bedenken des Arbeitsministers durchaus berechtigt. Vgl. Bericht: Versorgungslücken bei Selbständigen, in: BABl. 22 (1971), S. 63. 596 Vorlage des BMA (BA, B 136/2667). Das BMF brachte daraufhin am 2.2.1959 eine Gegenvorlage ein, die die Auffassungen des Zentralverbandes unterstützten (BA, B 136/2667). Vgl. auch Stellungnahme des ZDH zu den Vorschlägen des BMA, in: BABl. 10 (1958), S. 145 f. 597 Vgl. Denkschrift des ZDH an Bundestagsabgeordnete (auszugsweise abgedruckt in: DHBl. 19 (1958), S. 366) sowie die Besprechung des ZDH-Präsidenten Wild am 19.1.1959 mit Adenauer (Bericht in: DHBl. 11 (1959), S. 37). Vgl. auch Wellmanns. 598 Vgl. Scheybani, S. 478 f. Fraktionssitzungen der CDU/CSU v. 10.12.1958 u. 24.2.1959 (Sitzungsprotokolle 1958–61, Bd. 1, S. 282 f. bzw. 331). 599 BT-Drs. III/993 v. 10.4.1959. Ausführliche Erörterung des Gesetzentwurfs bei Heyn, S. 368 ff. Zu den Änderungswünschen des ZDH, die sich vor allem auf das Beitragsrecht bezogen, vgl. DHBl. 11 (1959), S. 138 f. 600 Vgl. BT-Drs. III/1379. Der Entwurf des Handwerkerversicherungsgesetzes wurde in den Ausschüssen für Sozialpolitik (federführend) und Mittelstandsfragen (mitberatend) von April bis Oktober 1959 beraten. Am 29.4.1959 fand eine Sachverständigenanhörung statt, zu der u. a. Vertreter des ZDH, des VDR und der Gewerkschaften gehört wurden (Protokolle in: PA, III/244 A, Bd. 1). 601 Vgl. Kurzprotokoll v. 8.10.1959 (PA, III/244 A, Bd.  1); Schriftlicher Bericht (BT-Drs. III/1379), S. 2.

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»Dis­ k riminierung der selbständigen Handwerker« brandmarkte.602 In der Zweiten Beratung am 29.  Juni 1960 wurde der umstrittene Paragraph 5b, der die getrennte Rechnungslegung sowie die besondere Kennzeichnung der Beitragsmarken und Versichertenkarten für Handwerker vorschrieb, aus dem Gesetzentwurf gestrichen. Das wiederum hatte zur Folge, dass die SPD, die in 5b die »Kernfrage« erblickte, das gesamte Gesetzeswerk ablehnte. Eine solche Regelung müsse, so betonte der SPD-Abgeordnete Killat, »geradezu einen Klassenkampf der Arbeiter gegen die selbständigen Handwerker in der Arbeiterrentenversicherung heraufbeschwören«.603 Als erstes unter den Reformgesetzen zur Rentenversicherung wurde das Handwerkerversicherungsgesetz (HwVG) somit am 1. Juli 1960 ohne die Stimmen der SPD-Opposition im Bundestag verabschiedet.604 Nachdem auch der Bundesrat dem HwVG mit großer Mehrheit zugestimmt hatte, wurde es am 8.  September 1960, nach zehnjähriger Be­ ratungsdauer, verkündet.605 Mit dem HwVG wurde die 1938 eingeleitete Entwicklung, die gesetzliche Rentenversicherung für selbständige Handwerker zu öffnen, fortgesetzt und bestätigt. Durch die Abschaffung der Wahlfreiheit waren die Handwerker künftig sogar noch umfassender als zuvor in die Rentenversicherung integriert. Überdies hatten die Bestimmungen zur Versicherungspflicht und zur freiwilligen Weiterversicherung Vorbildcharakter; an ihnen orientierten sich ab Mitte der sechziger Jahre verschiedene Vorschläge und Überlegungen zur allgemeinen Öffnung der gesetzlichen Rentenversicherung für Selbständige.606 Der Übergang von einer reinen Arbeitnehmer- zu einer alle Erwerbstätigen erfassenden Versicherung besaß damit einen realen Kern607  – die Beschränkung auf Erwerbstätige stellte jedoch einen grundlegenden Unterschied zur »Volksversicherung« in Schweden oder Staatsbürgerversicherung in Großbritannien dar.

602 Vgl. die Entschließung des ZDH, abgedruckt in: DHBl. 11 (1959), S. 393 f.; Stellungnahme des ZDH v. 5.10.1959 (PA, III/244 A, Bd. 2). 603 Sten. Ber., Bd.  46, S.  6983. Der SPD-Vorschlag, die durch die Einbeziehung der Hand­ werker in die gesetzliche Rentenversicherung verursachten finanziellen Defizite durch Bundeszuschüsse auszugleichen, hatte weder in der 2. noch in der 3.  Beratung entsprechende Zustimmung gefunden (Sten. Ber., Bd. 46, S. 6972 ff., 7118). 604 Sten. Ber., Bd. 46, S. 7119. 605 Gesetz über eine Rentenversicherung der Handwerker v. 8.9.1960 (BGBl. I, S. 737). In § 16 war bestimmt, dass das Gesetz erst mit Wirkung v. 1.1.1962 in Kraft treten sollte. Durch das Hinausschieben des Inkrafttretens wurde den Rentenversicherungsträgern Zeit zur Erfassung der versicherungspflichtigen Handwerker und zur Vorbereitung des Beitragseinzugs eingeräumt. Vgl. dazu auch Schlageter, S. 207 f. 606 Vgl. z. B. Vorschläge des Mittelstandskreises der CDU/CSU zur Alterssicherung der Selbständigen, in: SF 17 (1968), S. 68; Volksversicherungsplan der SPD von 1965 (abdruckt bei: Richter, Sozialreform, G II 16). 607 Vgl. auch die Ergebnisse der Analyse über die sozialversicherten Handwerker von Hausmann, S. 81 ff.

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Wie eine Untersuchung über die Altersvorsorge bei Angehörigen des selbständigen Mittelstands aus dem Jahre 1963 ergab, befürworteten die selbständigen Handwerker mehrheitlich die vom ZDH ausgehandelte Regelung. 79 Prozent der Handwerker sprachen sich für eine gesetzliche Rentenversicherung mit Pflichtbeiträgen aus, die jedem Versicherten eine Mindestrente garantierte.608 Zur Begründung ihrer positiven Einstellung zu einer Pflichtversicherung nannten die Befragten überwiegend die aus ihr resultierende größere materielle Sicherheit oder die im Vergleich zur Eigenvorsorge besseren Versicherungsbedingungen.609 Schließlich ist noch die Frage zu beantworten, wem die gesetzlichen Regelungen zur Altersversicherung besonders zugute kamen. Eine 1959 durchgeführte Erhebung über Kölner Schreiner zeigte, dass zwischen der Erfüllung der Versicherungspflicht und der wirtschaftlichen Situation der Betriebsinhaber ein Zusammenhang bestand. Der Anteil der Handwerker, die weder der Angestellten- noch der Lebensversicherung beigetreten waren, betrug in den Umsatzgrößenklassen bis 20.000 DM Jahresverdienst 22,7 Prozent, während der entsprechende Wert in den höheren Klassen um 10 bis 15 Prozent geringer war.610 Die Verweigerungsquote war damit gerade bei den Handwerkern am höchsten, deren Verdienst am niedrigsten lag. Das war mit großer Wahrscheinlichkeit darauf zurückzuführen, dass für Betriebsinhaber mit weniger Umsatz die Beiträge, relativ betrachtet, ein größeres Opfer bedeuteten als für einkommensstarke Handwerker.611 Daraus wiederum lässt sich schließen, dass die Handwerkerversicherung vor allem für die mittleren Handwerksbetriebe gut funktionierte. Sie profitierten von den gesetzlichen Regelungen zur Altersvorsorge, ohne dabei übermäßig finanziell beansprucht zu werden. Das Gegenteil war bei wirtschaftlich schwachen selbständigen Handwerkern der Fall. Obwohl sie die Altersvorsorge besonders nötig hatten, war absehbar, dass sie, mangels Er­ füllung der Beitragspflicht oder mangels freiwilliger Weiterversicherung, aller Voraussicht keine ausreichende Rente erhalten würden.612 Der Teil der Handwerkerschaft, der ökonomisch am besten gestellt war, gehörte auch nach 1962 nicht der Arbeiterrentenversicherung an, da er aufgrund bestehender Lebensversicherungsverträge von der Versicherungspflicht befreit war und blieb.613 608 Vgl. Leverkus u. Wieken, S.  186 (Tab. 75). Ausdrücklich gegen eine Pflichtversicherung wandten sich nur 10 Prozent der selbständigen Handwerker. 609 Vgl. Leverkus u. Wieken, S. 187 f. 610 Vgl. Scheybani, S. 483; Sack, S. 185 (Tab. 68). Im Vergleich zu den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren war die Verweigerungsquote allerdings in den späten fünfziger Jahren insgesamt zurückgegangen. Vgl. Hausmann, S. 55–57. 611 So auch Scheybani, S. 483. 612 Vgl. dazu auch Kurzbericht: »Versorgungslücken bei den Selbständigen«, in: BABl. 22 (1971), S. 63. 613 Vgl. Ergebnisse der Handwerkszählung von 1960 und einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahre 1958 bei Schewe, Entwicklung der Handwerkerversorgung, S. 216 ff., Sack, S. 185 f.

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6.5 Gesichertes Alter für alle: Die freien Berufe und die Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige Wenn mit dem GAL und dem HwVG der überwiegende Teil des »alten Mittelstands« in das Rentenversicherungssystem integriert worden war, so stellte sich in den sechziger Jahren noch die Frage nach der Alterssicherung der freien Berufe. Die Gruppe der freien Berufe umfasste in der Bundesrepublik 1961 etwa 250.000 Personen, zuzüglich ihrer Angehörigen.614 Davon waren knapp die Hälfte (43 Prozent) in Heilberufen tätig, 21 Prozent arbeiteten in technischen Berufen und 15 Prozent gehörten zu den rechts-, wirtschafts- und steuerberatenden Berufen. Von allen diesen Berufsangehörigen waren etwa 38.000 Personen in der Rentenversicherung der Angestellten pflichtversichert.615 Für den Rest bestanden bis zur Rentenreform von 1972 keine einheitlichen gesetzlichen Regelungen zur Alterssicherung, ein Teil  (etwa 100.000 Personen) war allerdings in landesgesetzlichen Versicherungs- und Versorgungseinrichtungen erfasst. Diese Uneinheitlichkeit resultierte unter anderem daraus, dass sowohl die Vertreter der freien Berufe selbst, als auch Teile der Regierung der Auffassung waren, die freien Berufe sollten »frei bleiben« und dürften nicht an den Staat appellieren, »ohne sich selbst an den Staat auszuliefern«.616 Ein weiterer Grund lag darin, dass die freien Berufe nicht zu einem gemeinsamen Vorgehen in der Versorgungsfrage zusammenfinden konnten.617 Zusätzlich erwies sich das Bundeskabinett, als es über die Frage der Alterssicherung der freien Berufe zu entscheiden hatte, wiederholt als beschlussunfähig.618 Indes war bei den Freiberuflern selbst – wie bei anderen Selbständigengruppen auch – nach dem Krieg das Bedürfnis nach staatlich garantierter sozialer Sicherheit gestiegen.619 Im Bundestag wurde das Thema erstmals Anfang 1950 erörtert, nachdem die Zentrumspartei ein Gesetz angeregt hatte, »durch das eine Rentenversicherung der freien Berufe […] geschaffen« werden sollte.620 Da eine gemeinsame 614 Zahlen nach: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Übersicht, S.  69.  – Auf der Grundlage der ersten Volks- und Berufszählung des Statistischen Bundesamtes v. 13.9.1950 war die Zahl der Angehörigen der freien Berufe noch auf 300.000 geschätzt ­worden. 615 Für diese Gruppe galten die gleichen Vorschriften wie für die Arbeitnehmer. Es handelte sich vor allem um Personen, die von einer unselbständigen zu einer selbständigen Tätigkeit gewechselt waren und von ihrem Recht auf Weiterversicherung Gebrauch gemacht hatten. 616 FAZ, 21.2.1957, hier zit. nach: Guderjahn, S. 185. 617 Die Organisationen der einzelnen Berufe schlossen sich zwar zu einem »Bundesverband der freien Berufe« zusammen. Dieser machte sich jedoch den Standpunkt zu eigen, dass die einzelnen Gruppen über ihre Altersversorgung jeweils für sich entscheiden müssten. Vgl. Guderjahn, S. 183. 618 Vgl. exemplarisch den Verlauf der Beratungen über das Rechtsanwaltsversicherungsgesetz in der Kabinettssitzung v. 29.5.1963 (Kabinettsprotokolle, Bd. 16, S. 246–248). 619 Vgl. Leverkus u. Wieken, S. 183 (Tab. 74), S. 186 (Tab. 75). Danach befürworteten 71 Prozent der freiberuflich Tätigen eine Pflichtversicherung. 620 BT-Drs. I/62.

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Anstalt für alle freiberuflich Tätigen oder die Einbeziehung in die Angestelltenversicherung von den Vertretern der Berufsverbände abgelehnt wurde, die vor den Sozialpolitischen Ausschuss geladen worden waren, begnügte sich der Bundestag damit, der Bundesregierung zu empfehlen, »sich mit einer zweckentsprechenden Alters- und Hinterbliebenenversorgung der freien Berufe eingehend zu befassen«.621 Die Frage der Alterssicherung der freien Berufe blieb während der Verhandlungen über die Sozialreform zwar auf der Tagesordnung. Gesetz­ geberische Maßnahmen wurden jedoch nicht ergriffen. Als im August 1954 ein »Beirat für die Fragen des unselbständigen Mittelstandes« geschaffen wurde,622 der sich vor allem den Problemen und der Förderung der »geistigen Arbeiter« in der Bundesrepublik widmen sollte, wurden die freien Berufe zunächst nicht einbezogen.623 Erst der Kabinettsbeschluss vom 27. Januar 1956 bevollmächtigte den Beirat, auch die Lage der freien Berufe zu prüfen und Maßnahmen zur Verbesserung ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stellung vorzuschlagen.624 Zu Beginn der Dritten Legislaturperiode wurden sodann dem Bundesarbeitsministerium die Aufgaben des bisherigen »Bundesbeauftragten für Fragen der Angestellten und der freien Berufe« übertragen. Am 26. Februar 1958 erfolgte im Ministerium die Einrichtung einer Arbeitsgruppe »Sonderprobleme der Sozialordnung«, die sich fortan mit den »grundsätzlichen Problemen der Sozialordnung, insbesondere der Mittelschicht«, beschäftigen sollte. Der Schwerpunkt lag dabei auf Angestelltenpro­ blemen und Sonderfragen der unselbständigen Mittelschicht zum einen, auf Förderung der freien Berufe zum anderen.625 Wie Bundesarbeitsminister Blank am 13.  Februar 1958 vor den Bundestagsausschüssen für Arbeit, für Sozial­ politik und für Kriegsopfer- und Heimkehrerfragen berichtete, stand für die Vertreter der freien Berufe das Problem der Alterssicherung im Vordergrund.626 621 Vgl. Mündlicher Bericht des AfSP (BT-Drs. I/488); Sten. Ber., Bd. 2, S. 1362 ff. Vgl. dazu auch Guderjahn, S. 182. 622 In einer Vorlage, die v. 18.7.1954 datiert, hatte Adenauer die Bildung eines solchen Beirats vorgeschlagen. Er sollte unter der Leitung von Sonderminister Hermann Schäfer stehen und sich mit der »Unterbewertung der geistigen Arbeit« beschäftigen (BA, B 136/2659, Schriftwechsel mit Schäfer in B 136/2660). Die Vorlage des Bundeskanzlers wurde im Umlaufverfahren verabschiedet (B 136/2659; weitere Unterlagen in B 135/132 u. 134/4212, sog. »Schäfer-Akten«). Vgl. dazu auch die von der DAG herausgegebene Broschüre: Die Unterbewertung der geistigen Arbeit, Hamburg 1954. 623 Zu den Aufgaben und Zielen des Beirats vgl. die Broschüre »Der Bundesminister für besondere Aufgaben Dr. Hermann Schäfer« (o.O.o. J.) (BA, B 135/132). 624 Vgl. Kurzprotokoll über die Kabinettssitzung am 27.1.1956 (Kabinettsprotokolle, Bd.  9, S. 146 f.). 625 Vgl. den von Schelp, dem Leiter der Arbeitgruppe »Sonderprobleme der Sozialordnung«, erstatteten Bericht über Aufgaben und bisherigen Tätigkeiten der Arbeitsgruppe, der dem AfSP am 4.2.1960 vom BMA übersandt wurde (abgedruckt bei: Richter, Sozialreform, B III 3). 626 Vgl. Das sozialpolitische Programm des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (abgedruckt bei: Richter, Sozialreform, B III 2).

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Obwohl das Bundesarbeitsministerium den freien Berufen seine Unterstützung bei der Lösung dieses Problems zusagte,627 kam es auch in den sechziger Jahren aus den oben genannten Gründen in keinem Berufszweig zu einer gesetzlichen Regelung auf Bundesebene. Allerdings bestanden schon seit Mitte der fünfziger Jahre in fast allen Bundesländern landesgesetzlich geregelte Versorgungseinrichtungen für verschiedene Berufszweige.628 Die stärksten Bestrebungen, eine übergreifende, bundeseinheitliche Ver­ sorgung zu schaffen, entwickelte die Anwaltschaft. Die Bundesrechtsanwaltskammer und der Deutsche Anwaltsverein versuchten Anfang der fünfziger Jahre in verschiedenen Anläufen, Bundestag und Bundesregierung für ihren Entwurf eines »Gesetzes über eine Alters- und Hinterbliebenenversorgung für Deutsche Rechtsanwälte« einzunehmen.629 Jedoch blieb der Gesetzentwurf sowohl in der ersten als auch in der zweiten Legislaturperiode in den parlamentarischen Beratungen stecken; eine Regelung zusammen mit der Rentenreform blieb, entgegen der dringlichen Bitte der Rechtsanwälte, ebenfalls aus.630 Von einer großen Mehrheit ihrer Mitglieder unterstützt, setzten die Bundesrechtsanwaltskammer und der Deutsche Anwaltsverein indes auch nach der Rentenreform ihre Bemühungen um ein Altersversorgungsgesetz fort.631 Die Bundesregierung brachte schließlich in den Jahren 1961 und 1964 zwei Gesetzentwürfe für ein Rechtsanwaltsversicherungsgesetz ein.632 Diese wurden jedoch vom Bundestag erneut nicht verabschiedet, teils wegen der Kompliziertheit der Materie, teils weil inzwischen Pläne für die »Öffnung« der gesetzlichen Rentenversicherung für die Selbständigen Gestalt angenommen hatten und eine neue Sonderregelung für eine einzelne Gruppe vermieden werden sollte.633 627 Vgl. die Rede von StS Claussen, BMA, vor der Confédération Internationale des Tra­ vailleurs Intellectuels (CITI) am 12.10.1959 in Berlin (abgedruckt in: BABl. 10 (1959), S. 685–687). 628 Z. B. für Ärzte und Apotheker. Vgl. dazu ausführlich Guderjahn, S. 187 ff., 218 ff. 629 Der Gesetzentwurf wurde mit der Unterstützung von Abgeordneten verschiedener Parteien (SPD, BP u. Z) Ende 1952 als Initiativentwurf in den BT eingebracht (BT-Drs. I/3966). Vgl. auch zum Folgenden ausführlich Guderjahn, S. 183 ff. 630 Vgl. Entschließung der Bundesrechtsanwaltskammer zum Alters- und Hinterbliebenenvorsorgegesetz, in: Anwaltsblatt 7 (1957), S. 49. 631 Mitte 1957 war bei einer Fragebogenaktion auf rd. 80 Prozent der zurückgegebenen Fragebögen zur Schaffung einer berufsständischen Alters- und Hinterbliebenenversorgung positiv Stellung genommen worden. Diese Befragung ergab außerdem, dass nur etwa die Hälfte der Anwälte eine ausreichende Eigenvorsorge getroffen hatte. Vgl. Guderjahn, S. 212. Vgl. auch das Ergebnis der im Oktober 1959 durchgeführten Urabstimmung über eine gesetzliche Altersversorgung der Anwaltschaft, abgedruckt in: Anwaltsblatt 9 (1959), S. 263. Hier sprachen sich 74 Prozent der abgegebenen Stimmen für eine Pflichtversicherung aus. 632 Entwurf eines Gesetzes über die Alters- und Hinterbliebenenversicherung der Rechts­ anwälte v. 6.4.1961 (BT-Drs. III/2656) u. 3.6.1964 (BT-Drs. IV/2298). 633 Zur Konzeption und zum Scheitern der beiden Gesetzentwürfe vgl. ausführlich Guderjahn, S. 212 ff. Vgl. auch Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd. 4, S. 358 f.

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Bei der Diskussion über die Alterssicherung der freien Berufe in der Bundesrepublik zeigte sich insgesamt die große Anziehungskraft, welche die Rentenreform auf diejenigen ausübte, die noch außerhalb des gesetzlichen Rentenversicherungssystems standen. Bezeichnend war, dass die rechtsberatenden Berufe sich nicht mehr mit einer Sockelrente oder Grundversorgung zufrieden geben wollten, sondern »eine volle Alterssicherung« anstrebten.634 Zugleich forderten die Anwälte bei der Alterssicherung die Gleichstellung mit den Arbeitnehmern ein. Ihre Altersvorsorgung müsse »mit den gleichen Garantien und steuerlichen Vorteilen ausgestattet« werden, wie sie andere Berufe genössen.635 Bundesarbeitsminister Blank fasste diese Entwicklung am 16. Juli 1965 vor der Presse mit den folgenden Worten zusammen: Die soziale Rentenversicherung für die Arbeitnehmer hat sich glänzend bewährt. Daher erscheint sie jenem Teil der Bevölkerung, der nicht an ihr teilhat, mit Recht als erstrebenswert. Die Vorzüge der Rentenversicherung, vor allem die stetige Anpassung der Renten an die Entwicklung der Löhne und Gehälter, können nicht einem Teil der Bevölkerung vorenthalten werden. […] Die Furcht, im Alter nicht mit dem Lebensstandard der Allgemeinheit Schritt halten zu können, kann nur bekämpft werden, wenn die Selbständigen von der allgemeinen Sicherung nicht ausgeschlossen sind.636

Unter dem Motto »Gesichertes Alter für alle« schlug der Arbeitsminister daher eine begrenzte Versicherungspflicht für alle Selbständigen in der gesetzlichen Rentenversicherung vor. Mit diesem Vorschlag erreichte die Diskussion um die Alterssicherung der Selbständigen in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre eine neue Stufe: In verschiedenen Varianten wurde in den folgenden Jahren über die Möglichkeit einer Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige und freie Berufe diskutiert. Die SPD machte mit ihrem »Volksversicherungsplan« den Anfang. Der Plan enthielt bereits Elemente der späteren »zweiten Rentenreform« von 1972. Er sah vor, allen Selbständigen »nach ihrer freien Wahl« die Mitgliedschaft in der Rentenversicherung zu ermöglichen.637 Auch die SozialenquêteKommission638 sprach sich in ihrem im Juli 1966 vorgelegten Bericht dafür 634 Vgl. Rede des Bundesarbeitsministers auf der Tagung der Arbeitsgemeinschaft freier Berufe Baden-Württemberg am 25.4.1948 (abgedruckt in: BABl. 9 (1958), S. 403). 635 Vgl. Entschließung der Mitgliederversammlung des Deutschen Anwaltsvereins von 1960 (abgedruckt in: Anwaltsblatt 10 (1960), S. 154). 636 Abdruck der Presseerklärung bei: Richter, Sozialreform, B III 4. 637 Vgl. Die Volksversicherung. Beilage zum Vorwärts vom 5.5.1965 (auch abgedruckt bei: Richter, Sozialreform, G II 16). Vgl. dazu insb. Bartholomäi, Volksversicherungsplan, S. 161 ff.; Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd. 4, S. 362 ff. 638 Die Sozialenquête-Kommission war am 3.6.1964 einberufen worden, nachdem das Kabinett am 29.4.1964 die Grundsätze zur Durchführung einer Sozialenquête beschlossen hatte (Kabinettsprotokolle, Bd. 17, S. 254 f.). Die Kommission bestand aus sieben Vertretern der Wissenschaft und Rechtsprechung. Vgl. Durchführung der Sozialenquête, in: BABl. 15 (1964), S. 411. Der Bericht der Sozialenquête-Kommission »Soziale Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland« wurde am 22.7.1966 dem Bundeskanzler vorgelegt.

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aus, »sämtliche Bevölkerungskreise nach den Regeln der gültigen gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig zu machen«, zumal in der gesetz­ lichen Rentenversicherung Umverteilungselemente enthalten seien, die den bisher nicht Versicherten nicht zugute kämen, die sie aber über Steuern oder Preise mit zu finanzieren hätten.639 Im Oktober 1969 versprach schließlich der neue Bundeskanzler Brandt in seiner Regierungserklärung, die Pläne für eine Öffnung der gesetzlichen Rentenversicherung für »weitere Gesellschaftsgruppen« bald umzusetzen.640 Im Gegensatz zur Vorgängerregierung hielt die neue sozialliberale Regierung eine Öffnung der Rentenversicherung nicht nur für die verbliebenen rund 750.000 Selbständigen und Freien Berufe für notwendig, sondern auch für die sieben Millionen nicht erwerbstätigen Hausfrauen. Der Regierungsentwurf sah zu diesem Zweck die Wiedereinführung der freiwilligen Versicherung vor.641 Aus Rücksicht auf die »Besonderheiten dieser Gesellschaftsgruppen« sollte auf eine Versicherungspflicht aber verzichtet werden.642 Der Oppositionsentwurf sah dagegen eine Versicherungspflicht der Selbständigen auf Antrag vor.643 Von den Gewerkschaften wie auch vom VDR wurde eine Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige grundsätzlich abgelehnt. Zu Recht wurde bemängelt, dass eine solche Öffnung aufgrund der den Selbständigen eingeräumten Sonderrechte nie kostenneutral durchgeführt werden könnte und daher die pflichtversicherten Arbeitnehmer zusätzlich belasten würde.644 Im Verlauf der Beratungen fanden schließlich beide Möglichkeiten, der freiwillige Beitritt und die Pflichtmitgliedschaft, in den Gesetzentwurf der Regierung Eingang.645 Es wurde vorgesehen, dass künftig grundsätzlich alle Personen ab 16 Jahren die Möglichkeit zur freiwilligen Versicherung erhalten sollten, wobei Höhe und Anzahl der Beiträge weitgehend der Disposition der Bei­ tretenden selber zu überlassen seien. Um die Nachteile einer freiwilligen Versicherung auszuschließen – wie beispielsweise die Nicht-Anrechnung von Ersatz- und Ausfallzeiten –, sollte zusätzlich allen bisher nicht pflichtversicherten Selbständigen ein Anrecht auf Pflichtmitgliedschaft innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren nach Aufnahme der selbständigen Tätigkeit eingeräumt wer639 Vgl. Bogs u. a., Soziale Sicherung, S. 187 ff. 640 Sten. Ber., Bd. 71, S. 30. 641 Vgl. Regierungsentwurf eines Gesetzes zur weiteren Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetz) vom 8.12.1971 (BT-Drs. VI/2916). 642 Vgl. Rede des neuen Bundesarbeitsministers Arendt im BT am 16.12.1971 (abgedruckt in: BABl. 23 (1972), S. 1–5). Vgl. auch Arendt, Fortschrittlicher Ausbau; Ehrenberg. 643 CDU/CSU-Entwurf eines Gesetzes über die Öffnung der gesetzlichen Rentenversicherung für Selbständige vom 6.6.1971 (BT-Drs. VI/2153). 644 Vgl. Stellungnahme der Gewerkschaften und des VDR in der Sachverständigenanhörung im AfSP am 17.  u. 20.1.1972 (80. und 83. Sitzung, PA, VI/323 A, Bd.  2). Vgl. dazu auch ­Hockerts, Rentenreform 1972, S. 918; Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd. 5, S. 462 f. 645 Vgl. Schriftlicher Bericht des AfSP (zu BT-Drs. VI/3767); 2. u. 3. Beratung des Regierungsentwurfs im BT (Sten. Ber., Bd. 80, S. 11577 ff., 11619 ff., 11701 ff.); Schewe, Ursprung.

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den. Bereits länger selbständig Tätigen sollte ein außerordentliches Beitrittsrecht bis Ende 1974 gewährt werden. Um die Attraktivität eines Pflichtbeitritts noch zu steigern, war vorgesehen, gleichzeitig eine verkürzte Halbbelegung einzuführen. Der Gesetzgeber stellte darüber hinaus finanziell äußerst vorteilhafte Möglichkeiten zur Nachentrichtung von Beiträgen bis zurück ins Jahr 1956 in Aussicht.646 Mit diesen Beschlüssen zur Öffnung der Rentenversicherung, die 1972 im Rentenreformgesetz (RRG) verankert wurden, war sowohl für die freien Berufe als auch für die übrigen Selbständigengruppen die Frage der Alterssicherung sehr umfassend und zugleich vorteilhaft gelöst. Anders als die »normal« Versicherten – die über ihre festen Beiträge die günstigen Beitrittsbedingungen der selbständigen Berufe noch mit subventionierten –, hatten sie die Wahl zwischen verschiedenen Versicherungsmodellen. Entschieden sie sich für eine Pflichtversicherung, so waren ihnen die Errungenschaften des 1957er-Systems sicher und damit zukünftig Beschwerden über Benachteiligungen in der Alterssicherung obsolet. Wie sich herausstellen sollte, nahmen die Selbständigen diese Möglichkeit jedoch in weit geringerem Maß wahr als erwartet. Von den mehreren Hunderttausend Selbständigen, von denen angenom­men worden war, dass sie über keine ausreichende Altersversorgung verfügten, stellten bis zum Jahresende 1973 lediglich 23.650 einen Antrag auf Einbeziehung in die Pflichtversicherung. Bei Auslaufen der günstigen Nachentrichtungsmöglichkeiten Ende 1975 wurde mit 92.000 Pflichtversicherten auf Antrag ein Höchststand erreicht. Die Nachversicherungsofferte hatte dagegen den erhofften Erfolg. Bereits bis Ende 1973 waren 237.150 entsprechende Anträge von den Rentenversicherungsträgern zu genehmigen. Diese Zahl steigerte sich bis Ende 1975 auf rund 700.000.647 Über die Gründe für die geringe Nachfrage bei der Pflichtversicherung lässt sich nur spekulieren. Zu vermuten ist, dass der Eintritt in die gesetzliche Rentenversicherung für viele Selbständige eine größere, auch mentale Hürde darstellte als erwartet. Für die Selbständigen und Freiberufler war wohl zunächst wichtig gewesen, dass ihnen überhaupt die Möglichkeit einer gesetzlichen Alterssicherung offen stand. Ob von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wurde, war eine zweite Frage und hing sehr von der individuellen sozialen Lage ab. Da mit der Pflichtversicherung nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten, d. h. feste Beiträge, verbunden waren, scheuten viele, gerade kleine Selbständige vor dieser Bindung zurück. Insgesamt war es als Verdienst der neuen Regierungskoalition aus SPD und FDP zu werten, dass mit der Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige 646 Rentenreformgesetz v. 16.10.1972 (BGBl. I, S.  1965). Ausführliche Erläuterung der Vorschriften bei Rieger. Vgl. auch Überblick über die wesentlichen Merkmale des RRG bei Hermann, S. 119 ff. 647 Vgl. Herrmann, S.  121 f.; Bericht der Bundesregierung über Auswirkung des Rentenreformgesetzes v. 15.10.1972 (BT-Drs. VII/2046), S. 7 f., 16 (Tab. 5 u. 6); Aktualisierung dieses Berichts (BT-Drs. VII/4951), S. 16.

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gleichzeitig auch das für die nicht erwerbstätigen Frauen zentrale Recht auf Selbstversicherung wieder eingeführt wurde, das in der 1957er-Reform  – wider besseren Wissens – abgeschafft worden war. Damit war es nun auch (Haus-) Frauen möglich, eigene Rentenansprüche durch ein weitgehend geschlossenes Versicherungsleben zu erwerben.

7. Höhepunkt und Wende: Die Rentenreform 1972 Die sog. »zweite Rentenreform« von 1972 stellte den Kulminations- und zugleich vor­ läufigen Endpunkt der Entwicklung in der Rentengesetzgebung dar.648 Als letzte große Ausbaustufe stellte sie Lösungen für bisher immer wieder auf­geschobene Probleme bereit und ging auf weitere Wünsche und Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung ein. In mehrfacher Hinsicht spiegelte sich in der Rentenreform von 1972 die knapp zwanzigjährige Geschichte der Rentengesetzgebung in der Bundesrepublik wider. In ihr liefen die verschiedenen Strän­ge der Reformdiskussion seit 1957 zusammen. Die 1972er Reform dient daher im Folgenden als Projektionsfläche, um die Charakteristika der rentenpolitischen Entwicklung im Untersuchungszeitraum herausstellen und abschließend zu analysieren. 7.1 Die Rentenpolitik der Nachkriegsjahrzehnte im Spiegel der Rentenreform von 1972 Betrachtet man zunächst den Einfluss der externen Faktoren auf die Entwicklung der Rentengesetzgebung, lässt sich feststellen, dass eine der wichtigsten Triebfedern der »zweiten Rentenreform« das wirtschaftliche Wachstum und die 1971 sowie 1972 vorausgesagten Überschüsse bei der Entwicklung der Rentenfinanzen waren.649 Daraus ergaben sich finanzielle Verteilungsspielräume, die sowohl die SPD-geführte Regierung als auch die CDU-Opposition für Reform- bzw. Ausbaumaßnahmen in der Rentenversicherung nutzen wollte. Die Verteilung von Zuwachsraten enthob der Notwendigkeit, Besitzstände anzugreifen; ebenso entfiel eine genaue Kosten-Nutzen-Analyse bei der Leistungsverteilung, da auch die »relativen Verlierer« immer noch »absolut viel gewinnen« konnten.650 648 Vgl. Arendt, Zweite Rentenreform, S.  129. Vgl. dazu insgesamt auch Hockerts, Renten­ reform 1972; ders., Metamorphosen, S. 40 f. 649 Vgl. dazu Rentenanpassungsberichte von 1971 bzw. 1972, die die (seit 1969 gesetzlich vorgeschriebene) Prognose der Entwicklung der Rentenfinanzen für die kommenden 15 Jahre enthielten, und die Gutachten des Sozialbeirats (BT-Drs. VI/2040 bzw. VI/3254). Vgl. auch Hensen, Finanzielle Aspekte. 650 Hockerts, Rentenreform 1972, S. 919.

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Eine zweite Triebfeder der rentenpolitischen Expansion 1972 stellte der Parteienwettbewerb dar. Wie bei den vorangegangenen großen Reformvorhaben wurden die Debatten im Vorfeld von der CDU und der SPD dominiert. Sie standen dementsprechend in Konkurrenz um das einflussreichere Konzept, allerdings nun erstmals in vertauschten Rollen. Wie bereits bei den Vorbereitungen zur Rentenreform von 1957 zu beobachten war, unterschieden sich Regierungsund Oppositionsvorschläge nicht grundsätzlich, sondern in der Schwerpunktsetzung und qualitativen Ausgestaltung der Reform- und Ausbaumaßnahmen. Der wirkliche Prinzipienstreit war bereits in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren ausgetragen worden, als es um die Restauration des bestehenden Sozialversicherungssystems oder die Einführung einer neuen Einheitsversicherung gegangen war. Im Verlauf der Beratungen und mit dem Näherrücken des Wahltermins wurden die jeweiligen Konzepte durch Anleihen beim politischen Gegner erweitert und einander angeglichen.651 Wenn sich die Union 1972 zunächst besonders für die Rentner – durch Vorschläge zur Anhebung des Rentenniveaus und zur Verbesserung der Rentenformel – und die Selbständigen – Pflichtversicherung auf Antrag – einsetzte, entsprach das ihrem bisherigen Engagement in der Rentengesetzgebung. Dagegen konzentrierte sich die SPD erwartungsgemäß auf Maßnahmen für die Arbeitnehmer und setzte sich besonders für die Flexibilisierung der Altersgrenze ein. Jedoch hatte die Rentengesetzgebung bereits mehrfach gezeigt, dass beide Parteien auch außerhalb ihrer eigenen Klientel um neue Wählerstimmen warben und werben mussten; die SPD bei den »Mittelschichten«, worunter sie vor allem die Angestellten und die Selbständigen verstand, die CDU beim »unselbständigen Mittelstand«, d. h. bei den Arbeitnehmern. Dementsprechend bauten beide Parteien 1972 ihren Maßnahmenkatalog aus.652 Am Ende sah die Rentenreform Verbesserungen für alle relevanten Wählergruppen vor: für die Rentner durch die Anhebung und Absicherung des Rentenniveaus, für die Arbeitnehmer durch die Flexibilisierung der Altersgrenze und die Einführung der Rente nach Mindesteinkommen, für die Selbständigen durch die Öffnung der Rentenversicherung.653 Die Rentenreform von 1972 bestätigte das System der beitrags- und lohn­ bezogenen individuellen Rente. Bezeichnend für die Entwicklung der Rentenversicherungspolitik war, dass sich der Vorschlag der Regierungskoalition nicht durchsetzen konnte, einen zusätzlichen monatlichen Grundbetrag von 20 DM 651 Vgl. CDU/CSU-Entwurf eines Gesetzes über die Öffnung der gesetzlichen Rentenversicherung für Selbständige v. 6.5.1971 (BT-Drs. VI/2153) sowie Gesetzentwurf der CDU/CSU zur Verbesserung der Alterssicherung für Frauen und Kleinstrentner v. 21.9.1971 (BT-Drs. VI/2584); Regierungsentwurf eines Gesetzes zur weiteren Reform der gesetzlichen Rentenversicherung v. 8.12.1971 (BT-Drs. VI/2916). Vgl. dazu ausführlich Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd. 5, S. 446 ff.; Hockerts, Rentenreform 1972, S. 912 ff. 652 Vgl. ebd., S. 915 f., 921 f. 653 Zu den einzelnen Maßnahmen vgl. ausführlich Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd.  5, S. 451 ff. Vgl. auch Schenke, Rentenniveau; Niemeyer u. Schenke; Rieger.

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für jede Rente einzuführen. Dieser Vorschlag war als Reaktion auf die Forderungen der Opposition nach einem höheren Rentenniveau entstanden.654 Er widersprach jedoch der »Errungenschaft« von 1957, dass die Rente ein getreues Abbild der Lohn- und Arbeitsleistung darstellte. Die Erfolglosigkeit des SPD-Vorschlags kann zugleich auch als Ausdruck und Indiz der vielbeschworenen »Pfadabhängigkeit« des deutschen Rentenversicherungssystems verstanden werden. Seine Realisierung hätte zwar nicht das Verlassen des Pfades, sondern lediglich eine Abweichung bedeutet. Das allein genügte aber, um die Erfolgschancen des Vorschlags insgesamt zu verringern. Denn die Einführung eines Grundbetrages stellte die Rentenformel in Frage. Sie schwächte das Äquivalenzprinzip und damit auch den dahinterstehenden Selbsthilfe- und Versicherungsgedanken. Fragt man schließlich nach den Auswirkungen der Rentenreform von 1972, lässt sich feststellen, dass sie die bereits zuvor zu beobachtenden Effekte verstärkte. Die Renten wurden beträchtlich erhöht. Das im Reformpaket enthaltene 15. Rentenanpassungsgesetz sah eine Bestandsrentenerhöhung um 9,5 Prozent vor; diese sollte bereits zum 1. Juli 1972 wirksam werden und wurde damit um eine halbes Jahr vorgezogen.655 Weitere Maßnahmen zielten darauf, das Abfallen des Rentenniveaus gegenüber der Lohnentwicklung zu verhindern, das dadurch bedingt war, dass die Renten dem Lohnniveau in einem Abstand von drei bzw. vier Jahren folgten. Hier sollte zukünftig sichergestellt werden, dass nach 40 Versicherungsjahren eine Durchschnittsrente die Hälfte, mindestens aber 45  Prozent des aktuellen Durchschnittsverdienstes nicht unterschritt.656 Mit diesen Maßnahmen verstetigte sich der Prozess, der wiederholt als »Vermittelschichtung« der Rentner bezeichnet wurde. Betrachtet man die Anpassungssätze und Aufwendungen der jährlichen Rentenanpassungen seit 1957, waren die Renten bis 1973 insgesamt um gut 180 Prozent angehoben worden (kumulative Steigerung).657 Dem Rentenanpassungsbericht von 1974 zufolge betrug das durchschnittliche Altersruhegeld bei Vollendung des 65. Lebensjahres im Juli 1973 in der Arbeiterrentenversicherung 491,20 DM, in der Angestelltenversicherung 812,40 DM pro Monat.658 Der Rentenanpassungsbericht enthielt erstmals auch Angaben über die durchschnittliche Höhe der vorgezogenen Altersruhegelder aufgrund der neuen gesetz­lichen Bestimmungen zur flexiblen Altersgrenze. Infolge der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen – 35 anrechnungsfähige Versicherungsjahre, in denen mindestens eine Versicherungszeit von 180 Kalender­ 654 Die SPD hatte sich zunächst geweigert, auf die Forderungen der CDU nach einem höheren Rentenniveau einzugehen. Vgl. Hockerts, Rentenreform 1972, S. 921 f. 655 Vgl. Hermann, S. 121. 656 Dazu näher Schmähl, Sicherung bei Alter, S. 457 ff. Zum Zusammenhang zwischen Lohnentwicklung, Rentenanpassung und Rentenniveau vgl. auch Schenke, Rentenniveau, S. 162. 657 Vgl. Anpassungssätze und Aufwendungen der 15 Rentenanpassungen bei Geisen, S. 436. 658 Vgl. Rentenanpassungsbericht 1974 (BT-Drs. VII/1176), S. 24 f. (Tab. 10).

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monaten enthalten ist  – waren die vorgezogenen Altersruhegelder in beiden Versicherungszweigen höher als alle anderen Rentenarten. Das durchschnitt­ liche monatliche Altersruhegeld wegen Vollendung des 63. Lebensjahres betrug im Juli 1973 in der Arbeiterrentenversicherung 821,50 DM und in der Angestelltenversicherung sogar 1.091,80 DM.659 Eine Aufschlüsselung der Durchschnittsrenten nach der Zahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre zeigte deutlich, wie mit steigender Zahl anrechnungsfähiger Versicherungsjahre die Rentenhöhe positiv beeinflusst wurde.660 Renten an Versicherte, die in einem vollen Arbeitsleben regelmäßig Beiträge zur Rentenversicherung geleistet hatten, konnten danach ein angemessenes Altersruhegeld erwarten. Die durchschnittliche Rentenhöhe bei Altersruhegeldern wegen Vollendung des 65. Lebensjahres an Männer in der Rentnergruppe mit 35 bis unter 40 anrechnungsfähigen Versicherungsjahren belief sich auf 578,80 DM (Arbeiter) bzw. 921,20 DM (Angestellte) im Monat. Mit 45 bis unter 50 anrechnungsfähigen Versicherungsjahren betrug die durchschnittliche Rentenhöhe sogar in der Arbeiterrentenversicherung 806,50 und in der Angestelltenversicherung 1.118,20 DM monatlich.661 Bei den Frauen lag die durchschnittliche Anzahl der Versicherungsjahre nur etwa bei zwei Dritteln derjenigen der Männer. Dementsprechend war auch die Höhe der Altersruhegelder im Schnitt um ein Drittel (und bis zu 50 Prozent) niedriger als bei den Männern. Der Rentenanpassungsbericht von 1974 gab ferner Auskunft über die Schichtung der laufenden Renten nach Rentenarten. Die Aufstellungen machten deutlich, dass in der Arbeiterrentenversicherung über die Hälfte der Renten zwischen monatlich 450 und 850 DM lag. In der Angestelltenversicherung massierten sich die Renten dagegen zwischen 800 und 1.150 DM; knapp 40 Prozent der Renten lagen in dieser Zahlbetragsgruppe.662 Die durchschnittliche Nettolohn- und Gehaltssumme je beschäftigten Arbeitnehmer betrug zum gleichen Zeitpunkt (1974) 1.260 DM.663 In der Angestelltenversicherung erreichte damit ein beträchtlicher Teil der Rentner ein Einkommen von 63,5 bis 91,3 Prozent des aktuellen durchschnittlichen Nettoverdienstes. Ihnen war der Aufstieg in die Einkommensmittelschichten gelungen. Signifikant blieben trotz der allgemeinen Anhebung des Wohlstandniveaus aber die Unterschiede zwischen der Höhe der Arbeiter- und der Angestelltenrenten sowie zwischen Renten von Männern und Frauen. Die Ursachen für diese Unterschiede wurden in den vorangegangenen Kapiteln eingehend erläutert. Wie ebenfalls bereits ausgeführt wurde, bewirkte der Rentenanstieg eine Aufwertung des Rentnerdaseins insgesamt. In den siebziger Jahren näher659 Vgl. ebd. 660 Vgl. ebd., S. 28 ff. (Übersicht 12). 661 Ebd., S. 30. 662 Vgl. ebd., S. 31 ff. (Übersicht 16 u. 17). 663 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Stat. Taschenbuch, Tab. 1.14.

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ten sich die Lebensverhältnisse  – und damit auch der Lebensstil  – von Rentnern und Erwerbstätigen weiter an. Die Rentner begannen, die Wohlstandserfahrung breiter Schichten der arbeitenden Bevölkerung zu teilen. Das Ende des Arbeitslebens bedeutete materiell und kulturell keinen Bruch mehr. Vielmehr hatten die Rentner zunehmend am gesellschaftlichen und kulturell-konsumtiven Leben teil. Während Anfang der fünfziger Jahre noch die Angst vor dem Alter und der damit verbundenen sozialen Isolation vorherrschend gewesen war, ergab eine Repräsentativerhebung aus dem Jahre 1970, das die Mehrheit der 55–64-jährigen Versicherten dem Prozess des Alterns generell zuversichtlich entgegen blickte. Dieselbe Untersuchung ließ außerdem erkennen, dass 61 Prozent der Befragten der zu erwartenden Rente positiv gegenüber standen und glaubten, mit der Altersrente auszukommen.664 Das 1957 ausgegebene Ziel, dass mit den Renten-Neuregelungsgesetzen »nicht nur eine Verbesserung der Renten vollzogen« würde, »sondern eine Bewertung des Rentners in seiner soziologischen Schau, die einer grundsätzlichen Neuordnung in gesellschaftspolitischer Sicht entspricht«, war weitgehend verwirklicht.665 Durch die Einführung der Rente nach Mindesteinkommen verbesserte sich auch die Lage von bisher – durch geringe Einkommen in der Vergangenheit – benachteiligten Rentnern, sog. »Stiefkindern« der Rentenreform. Für Versicherte, die 25 anrechnungsfähige Versicherungsjahre (ohne Ausfall- und freiwillige Versicherungs­zeiten, jedoch einschließlich Ersatz- und Zurechnungszeiten) zurückgelegt und eine persönliche Rentenbemessungsgrundlage von weniger als 75 Prozent erreicht hatten, wurden bei der Rentenberechnung die für Pflichtbeiträge angesetzten Werteinheiten auf diesen Prozentsatz erhöht.666 Die materielle Tragweite dieser Bestimmung war enorm. Die Rente nach Mindesteinkommen führte 1973 zur Anhebung von 12  Prozent aller Renten. Das waren 1,25 Millionen Renten. Der Erhöhungsbetrag konnte mehr als 150 Prozent der bisherigen Rente ausmachen; im Durchschnitt lag er bei 83,16 DM im Monat.667 In vier von fünf Fällen kam die Regelung Frauen zugute. Im Monatsdurchschnitt ergab sich für die angehobenen Versichertenrenten von Frauen in der Arbeiterrenten- und Angestelltenversicherung ein Erhöhungsbetrag von rund 100 DM.668 Die durchaus beabsichtigte vorwiegend geschlechtsspezifische 664 Vgl. Schenke, Einführung, S. 22. 665 Der Generalsekretär für Sozialreform Jantz in der Sendereihe »Aus der Welt der Arbeit« im Westdeutschen Rundfunk am 3.8.1957 (abgedruckt in: Bulletin Nr. 143, 7.8.1957, S. 1349–1350). 666 Vgl. dazu näher Pappai, Rente nach Mindesteinkommen. Vgl. auch Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd. 5, S. 458 f. 667 Versichertenrenten, einschl. Witwenrenten, von Frauen und Männern in der Arbeiter­ renten- u. Angestelltenversicherung. Vgl. Pappai, Rente nach Mindesteinkommen, S. 148; Bericht der Bundesregierung über die Auswirkung des RRG (BT-Drs. VII/2046), S. 3, 11 f. (Tab. 1 u. 2). 668 Vgl. ebd., 3 f., 11 f. (Tab. 1 u. 2). – Zur weiteren Reformdiskussion über die soziale Sicherung für Frauen vgl. Hermann, S. 124 f.; außerdem Bogs, Zur Reform.

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Wirkung der Norm als Ausgleich für Lohndiskriminierung langjährig erwerbstätiger Frauen bestätigte sich damit eindrucksvoll. Die Rente nach Mindesteinkommen federte das Rentenversicherungssystem nach unten hin ab, bedeutete jedoch keinen Strukturbruch: Denn die Rente nach Mindesteinkommen war ausdrücklich keine Mindestrente.669 Von ihr waren 58 Prozent der weiblichen und auch 17,5 Prozent der männlichen Rentenempfänger nicht betroffen, da diese nicht die geforderten 25 Versicherungsjahre aufweisen konnten. Für den zeitlichen Verlauf der Durchschnittsrenten, der Rentenschichtungen und des Verhältnisses zwischen Männer- und Frauenrenten bedeutete das, dass im Jahr 1973 »allenfalls ein leichter Knick nach oben« ausgemacht werden konnte.670 Die geschlechtsspezifische Spaltung der Rentenversicherung war damit nicht aufgehoben. Wenn die Regierung im Vorfeld der Beratungen wiederholt geäußert hatte, das Rentenreformgesetz werde »allen Kreisen der Bevölkerung« Verbesserung bringen,671 traf die Behauptung auch dieses Mal nicht zu. Zwar wurde der Schutzbereich ausgedehnt und die Rentenformel flexibilisiert, die Logik des Systems hingegen beibehalten. Die maßgeblichen Profiteure waren damit weiterhin in der »Mitte« der Gesellschaft zu suchen: bei den pflichtversicherten männlichen, vollerwerbstätigen Arbeitern und Angestellten der mittleren und höheren Einkommensklassen sowie  – das war neu  – bei den Selbständigen, soweit sie von ihrem (Pflicht-) Versicherungsrecht Gebrauch machten. Mit der Rentenreform von 1972 hatte die rentenpolitische Entwicklung in der Bundesrepublik nicht nur ihren Höhepunkt, sondern auch ihren vorläufigen Endpunkt erreicht. Schon kurz nach Inkrafttreten der »zweiten Rentenreform« brach der seit beinahe zwei Jahrzehnten anhaltende Expansionstrend ab. Das hing maßgeblich mit dem Einbruch der Konjunktur zusammen, der 1974 einsetzte und sich spürbar auf die finanzielle Lage der Sozialsysteme auswirkte. Die konjunkturelle Krise traf die Rentenversicherung umso härter, als die kostspieligen Reformmaßnahmen von 1972 auf einer unsoliden Finanzierungsgrundlage standen. Die vorausberechneten Überschüsse waren lediglich fiktiv vorhanden gewesen. Ihre Basis war aus zwei sich gegenseitig verstärkenden finanzwirksamen Effekten errechnet worden: aus einer guten Konjunkturlage bei aktuell niedrigen Rentenanpassungen  – als Ergebnis der vorausgegangenen Rezession  – und den infolge der Krise 1967 getroffenen Sanierungsmaß­ 669 Rentenempfänger, die nur wegen kurzer Versicherungszeiten oder wegen der Entrichtung niedriger freiwilliger Beiträge eine geringe Rente erhielten, sollten durch die Rente nach Mindesteinkommen nicht begünstigt werden. Das war der ausdrückliche Wille der SPDgeführten Regierung. Vgl. Killat (SPD) in der 2. Beratung der RRG am 20.9.1972 im BT: »Es besteht auch nicht die Absicht, eine absolute Mindestrente einzuführen, sondern dieses Gesetz soll die Lohnungerechtigkeiten beseitigen […].« (Sten. Ber., Bd. 80, S. 11599). 670 Hentschel, Geschichte, S. 172 (Tab. 7). 671 Vgl. »Zehn Thesen zur Rentenreform« des Bundesarbeitsministers, abgedruckt in: BABl. 23 (1972), S. 173.

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nahmen.672 Bei einer solchen finanziellen Grundlage für eine Reform, die allein in den ersten fünf Jahren 46 Milliarden DM an Kosten verursachte, konnte ein neuerlicher Konjunktureinbruch nicht ohne Folgen bleiben.673 Während die sozialliberale Regierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt zunächst die Devise ausgab, die Rente werde nicht angetastet, wurde spätestens nach den Wahlen von 1976 klar, dass Einschnitte nicht zu vermeiden waren.674 Das 20.  Rentenanpassungsgesetz im Frühjahr 1977 griff erstmals Besitzstände an: Ein Hauptelement der Rentenreform von 1972, die Vorverlegung der Rentenanpassung wurde zurückgenommen, die für 1978 vorgesehene Rentenanpassung um sechs Monate auf Anfang 1979 verschoben.675 Im 21.  Rentenanpassungsgesetz folgte neben einer Beitragsanhebung als weitere Sanierungsmaßnahme die Abkopplung der Rentenanpassungen von der realen Lohnentwicklung für die darauffolgenden drei Jahre.676 Trotz dieser Eingriffe und Konsolidierungsmaßnahmen wurde der Kern der hier analysierten Ausbaumaßnahmen der Rentenversicherung im sog. »Austeritätsjahrzehnt«677 nicht angetastet. Die Rentenformel behielt ihre uneingeschränkte Gültigkeit; die Renten wurden weiterhin jährlich erhöht – wenn auch zunächst weniger als es der Regel entsprochen hätte  –, und auch die Rentenversicherung der Selbständigen blieb unangetastet. Das Rentenversicherungssystem wurde somit weder in nennenswertem Umfang umgebaut noch erfolgte ein tatsächlicher sozialer Rück- oder Abbau. Vielmehr blieb es bei den rentenpolitischen »Errungenschaften« von 1957 und – bis auf eine Ausnahme – auch von 1972. Die soziale Lage der Rentner verbesserte sich weiter; in den achtziger Jahren kam eine neue Generation von Rentnern hinzu, die auf ein erfolgreiches Erwerbsleben und vielfach lückenlose Beitragszeiten zurückblicken konnte und damit kaum Einbußen bei der Rentenberechnung zu befürchten hatte. Sie konnte den sozialen Status der Erwerbsphase mit in den Ruhestand nehmen, ohne dafür zusätzlichen Vorsorgeaufwand zu betreiben. Angesichts der demographischen Entwicklung und der insgesamt alternden Gesellschaft bildeten die »Rentner-Mittelschichten« einen wachsenden Teil der gesellschaftlichen Mitte. Sie entwickelten mit der Zeit einen eigenen Konsum- und Lebensstil, der sich unter anderem in Urlaubsreisen und einem besserem Wohnkom-

672 Vgl. Hermann, S. 126. 673 Vgl. ebd.; Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd. 5, S. 480 f. 674 Vgl. dazu Schmähl, Sicherung bei Alter, Bd.  6, S.  410 ff.; 415 f.; Hockerts, Rentenreform 1972, S. 930. 675 Vgl. dazu Regierungsentwurf eines 20. RAG (BT-Drs. VIII/165); Bericht des AfSP (BT-Drs. VIII/337); 20. RAG vom 27.06.1977 (BGBl. I, S. 1089). Vgl. auch Hermann, S.127 f. 676 Die Anpassungssätze betrugen für 1979 4,5 Prozent (statt 7,2 Prozent), für die folgenden Jahre jeweils 4 Prozent (statt 6,2 und 6 Prozent). Vgl. Regierungsentwurf eines 21. RAG (BT-Drs. VIII/1734); Bericht des AfSP (BT-Drs. VIII/1842); 21. RAG v. 25.07.1978 (BGBl. I, S. 1089). 677 Hockerts, Metamorphosen, S. 41.

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fort ausdrückte. Damit wurden sie auch für die kulturelle Selbstdefinition der Mitte wichtiger. Die hier beschriebene Entwicklung war auch für andere westeuropäische Wohlfahrtsstaaten, wie Schweden oder Frankreich, kennzeichnend. Ein großes Wohlstandsgefälle herrschte hingegen bis in die achtziger Jahre zwischen den westdeutschen und den ostdeuschen Rentner. Das soziale Sicherungssystem der DDR bot nur begrenzte Steigerungsmöglichkeiten für Renten. Im Gegensatz zur Bundesrepublik gehörten die Rentenbezieher in der DDR zu den Verlierern der Verteilungspolitik.678 7.2 Ergebnisse Wie lässt sich zusammenfassend auf die leitende Fragestellung nach den Wechselwirkungen von wohlfahrtsstaatlicher Politik und sozialstrukturellen Wandlungsprozessen antworten? Haben die mittleren Einkommens- und Berufsgruppen in besonderer Weise von den Reformen der Alterssicherung profitiert? Hat die Rentenpolitik der fünfziger bis siebziger Jahre zu einer Verbreiterung der Mittelschichten beigetragen? Folgende Ergebnisse sind auf der Grundlage der vorangegangenen Untersuchung herauszustellen: Erstens: Die Reformen der Rentenversicherung brachten vor allem den Arbeitnehmern in den mittleren Einkommensklassen Vorteile. Nicht die untere, wirtschaftlich schwächste Schicht stand nach dem Zweiten Weltkrieg im Mittelpunkt der Reformüberlegungen, sondern die Mittelschicht der Facharbeiter, Angestellten und Handwerksgesellen. Ihr Schicksal beschäftigte die Regierung; sie waren die »Adressaten« der Rentenpolitik. Durch die Rentenreform von 1957 wurden die Verteilungsergebnisse des Marktes auf die Sozialeinkommen übertragen, d. h. wer ein höheres Einkommen hatte, konnte auch mit einer auskömmlichen Rente rechnen. Dauer und Erfolg der Erwerbstätigkeit wirkten sich seit 1957 unmittelbar auf die Leistungshöhe aus. Hingegen wurde auf feste Rentenbestandteile, die eine umverteilende Wirkung besaßen und prinzipiell den unteren Lohn- und Gehaltsempfängern zugute gekommen wären, verzichtet. Rentenpolitik war insofern keine »Klassenpolitik«, keine »Politik für arme Leute« mehr. Leitfigur der Rentenreform des Jahres 1957 war der leistungswillige, männliche, vollerwerbstätige Arbeitnehmer, das ökonomische Leitbild die Bewertung der Berufsarbeit.679 Erst die Rentenreform von 1972 brachte durch die Möglichkeiten der freiwilligen Versicherung und die Mindestrenten­ regelung auch Verbesserungen für Frauen und nicht- oder teilerwerbstätige Mütter. Das Problem der geschlechtsbedingten Benachteiligung von Frauen in der Rentenversicherung war damit jedoch nicht behoben.

678 Vgl. Conrad, Alterssicherung, S. 114. 679 Vgl. Jantz, Erste Rentenanpassung, S. 161; ders., Jedem arbeitenden Menschen, S. 1349.

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Zweitens: Die Rentenreformen trugen insgesamt zur Expansion und zum Aufstieg der Mittelschichten in der Bundesrepublik bei. Infolge der neuen Bestimmungen zur Rentenberechnung und der Prinzipien von Dynamisierung und Statussicherung wurden die aufstrebenden (Fach-) Arbeiter und Angestellten im Alter in ihrer mittleren Position geschützt. Dieselbe sozialstrukturelle Schichtung, die sich im Arbeitsleben vollzogen hatte, setzte sich im Rentenalter fort. Wie die Einkommensanalysen ergeben haben, konnten sich die Rentner in den siebziger Jahren in zunehmendem Maß zu den Mittelschichten zählen. Der Abstand zwischen den Haushaltungen, die Rentenleistungen erhielten, und den übrigen Haushalten, die ohne Rente waren, bezeichnete keinen Klassen- oder Standesunterschied mehr. Die Rentenreform bewirkte somit langfristig die »Vermittelschichtung« eines Großteils der Rentner. Drittens: Mit der Rentenreform von 1957 wurden die Versicherungsleistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung vereinheitlicht und noch bestehende Benachteiligungen bei den Arbeitern beseitigt. Das war auch und vor allem das Resultat des Aufstiegswillens der Arbeiter und ihres Verlangens nach Gleichbehandlung. Jedoch gelang es den Angestellten, die Aufrechterhaltung »ihrer« Angestelltenversicherung durchzusetzen. In der Rentenformel wurden künftig die häufig überdurchschnittlichen Einkommen der Angestellten in der allgemeinen Bemessungsgrundlage mit den Einkommen der Arbeiter zusammengefasst und kamen damit auch den Arbeitern zugute. Gleichzeitig hatte die Rentenformel für die Arbeiter aber auch den entscheidenden Nachteil, dass sie im persönlichen Bemessungssatz die weiterhin bestehenden und früher noch ausgeprägteren Unterschiede zwischen Arbeiter- und Angestellteneinkommen zur Geltung brachte.680 Eine grundsätzliche Angleichung (»Nivellierung«) der Renten von Arbeitern und Angestellten fand somit nicht statt, vielmehr wurden die in der Marktsphäre herrschenden Ungleichheiten auf das Renteneinkommen übertragen und durch die jährliche schematische prozentuale Erhöhung perpetuiert. Die durchschnittliche Rente in der Arbeiterrentenversicherung lag stets niedriger als die in der Angestelltenversicherung. Allerdings war die Rentenhöhe durch die Beitragsbemessungsgrenze, die nicht nur die Beiträge, sondern auch die Leistungen der Altersrente kappte, insgesamt nach oben begrenzt. Das kam vor allem bei den hohen Angestelltengehältern zum Tragen und bewirkte indirekt einen »Nivellierungs­effekt«. Viertens: Die soziale Rentenversicherung wurde zwischen 1957 und 1972 nach oben hin ausgebaut und bezog immer weitere Einkommens- und Berufsgruppen in die Versicherungspflicht ein. Was unter Bismarck als bescheidene »Arbeiterversicherung« begonnen hatte, wirkte sich nach dem Zweiten Weltkrieg massiv auch auf die Lebenslage des »neuen« und des »alten Mittelstands«, d. h. der Angestellten und der Selbständigen, aus. Die Mitgliedschaft in der Rentenversicherung war kein Zeichen mehr für materielle Not und so­ziale Benachteiligung, sondern sie kennzeichnete den Normalfall. Die Rentenpolitik trug 680 Vgl. Hentschel, Geschichte, S. 167.

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damit dem Bedeutungsverlust traditioneller Sicherungsformen – bei den selbständigen Bauern oder auch den Handwerkern – Rechnung. Zugleich vollzog sie eine Anpassung an die veränderten Lebensbedingungen, den sozialstrukturellen Wandel der Bevölkerung und den Wandel der Arbeits- und Berufswelt. Im Zuge der Nachkriegsprosperität nahmen die sozialökonomischen, aber auch die sozialkulturellen Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten auf der einen und Selbständigen und Unselbständigen auf der anderen Seite ab – ohne jedoch vollständig an Bedeutung zu verlieren. Insgesamt war nach dem Zweiten Weltkrieg in allen Berufsgruppen das Bedürfnis nach staatlicher Sicherung gestiegen. Im Gegenzug änderten sich auch die Wertvorstellungen gegenüber Umfang und Inanspruchnahme von staatlichen Leistungen. Der »Ruf nach Staatshilfe«681 wurde auch von den Selbständigen zunehmend als legitim empfunden.

681 Leverkus u. Wieken, S. 184.

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II. Höhere Einkommen, höhere Leistungen? Der mittelschichtenorientierte Familienlastenausgleich

Im Vergleich zu anderen westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten, allen voran Frankreich, entwickelte sich die Familienpolitik in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg nur zögerlich. In den sozialpolitischen Debatten der späten vierziger und auch noch der fünfziger Jahren nahmen die Neuordnung der Sozialversicherung und die rechtliche Ordnung des Arbeitslebens einen größeren Raum ein als die Unterstützung und staatliche Förderung von Familien. In Frankreich hingegen war es umgekehrt: Dort stand die Sorge um die Familie im Zentrum des sozialpolitischen Interesses. Nach 1945 waren die Familienhilfen (»allociations familiales«) ein zentraler Bestandteil des französischen Sozialplans.1 Sie bildeten zusammen mit den familienbezogenen Leistungen der Sozialversicherungen ein differenziertes und lückenloses L ­ eistungssystem.2 Auch in der Bundesrepublik sprachen sich einflussreiche Sozialwissenschaftler Anfang der fünfziger Jahre für eine Schwerpunktverlagerung in der Sozialpolitik aus, die nicht mehr an die soziale Klasse, sondern an die Familien anknüpfen sollte.3 In Anbetracht der »Beziehung zwischen der Kinderzahl und der Armut«4 stand die Notwendigkeit familienorientierter sozialpolitischer Leistungen außer Frage. Dennoch kam es in der Nachkriegszeit zunächt zu keiner sozialpolitischen Umstrukturierung zugunsten von Familien. Dem stand zum einen die deutsche Tradition der Sozialversicherung und deren arbeitnehmerzentriertes Leitbild im Weg,5 zum anderen die Ideologisierung und Instrumentalisierung von Familienpolitik während der NS-Herrschaft. Zudem befand sich die Institution der Familie in Deutschland in einem historisch bedingten Spannungs- und Wechselverhältnis zum Sozialstaat. Lange galt es als unbestritten, dass die Familie selbst ihren Mitgliedern soziale Sicherheit biete. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts begann der Sozialstaat aber, bestimmte Aufgaben zu übernehmen, die zuvor im Bereich der Familie lagen, so beispielsweise die der Alterssicherung. Die Verantwortung der Familien ging zurück, zugleich konnte auf ihre Sicherungsfunktion jedoch nicht vollständig verzichtet werden.6 In der 1 Vgl. Laroque, De l’assurance, S. 623 f. 2 Vgl. Bremme, S. 189. 3 Vgl. Mackenroth, Reform der Sozialpolitik, S. 56 ff. 4 Elsner u. Proske, S. 109. 5 Vgl. Kuller, Familienpolitik, S. 7; Zacher, Grundlagen, S. 350. 6 Vgl. dazu auch Kuller, Familienpolitik, S. 6 f.

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ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte sich allmählich die Erkenntnis durch, dass die Familien selbst staatliche Förderung benötigten, um ihren sozial- und gesellschaftspolitischen Aufgaben und Pflichten nachzukommen. Die bundesrepublikanische Familienpolitik der Nachkriegsjahrzehnte konzentrierte sich zunächst vor allem auf die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen von Familien. Erklärtes Ziel war die Korrektur der marktwirtschaftlichen Einkommensverteilung durch familienpolitische Kriterien. Im Zentrum der Fördermaßnahmen stand der sog. »Familienlastenausgleich«, der sich aus Kindergeldzahlungen und kinderbedingten Steuervergünstigungen in Form von Kinderfreibeträgen zusammensetzte. Weitere Ansatzpunkte für eine wirtschaft­liche Förderung der Familie waren familienspezifische Leistungen im Rahmen der allgemeinen Wohnungsbau- und Eigentumsförderung. Mit den zusätzlich zum Kindergeld gewährten Ausbildungszulagen ab Mitte der sechziger Jahre erhielt die Familienpolitik zudem gewisse bildungspolitische Akzente. Ein weiterer Komplex der Familienpolitik betraf das Familienrecht, das in engem Zusammenhang mit der Frauen- und Geschlechterpolitik stand.7 Die nachfolgende Untersuchung erörtert Ursachen sowie Ziele und Wirkungen der wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen und Leistungen im Rahmen der Familienpolitik. Gefragt wird nach den Voraussetzungen und Grundlagen der familienpolitischen Debatten, nach den ideologischen Auffassungen der Akteure und dem Einfluss von Interessenverbänden. Es wird analysiert, inwiefern sich die soziale Lage der Familien durch den Familienlastenausgleich veränderte, welche Schichten oder sozialen Gruppen besonders von den monetären Leistungen profitierten und welche sozialstrukturellen Folgen sich daraus ergaben. Lässt sich zeigen, dass die Interessen der mittleren sozialen Schichten bei der Konzeption und Umsetzung familienpolitischer Maßnahmen und Reformen besonders berücksichtigt wurden und die Familien der Mittelschichten zu den »Profiteuren« der wohlfahrtsstaatlichen Förderung gehörten? Während die Familienpolitik noch bis vor wenigen Jahren als wenig erforschtes Gebiet der Sozialstaatsgeschichte gelten musste, haben mittlerweile die Arbeiten von Christiane Kuller und Dagmar Nelleßen-Strauch sowie die Darstellung zur Familienpolitik in der »Geschichte der deutschen Sozial­politik seit 1945« von Ursula Münch dieses Defizit wett gemacht.8 Die zahlreichen Quellen zur Kindergeldgesetzgebung sowie zu den ehe- und familienrecht­ lichen Entwicklungen der Jahre zwischen 1949 und 1975 sind in diesen Arbeiten weitgehend ausgewertet worden. Dabei wurde jedoch bisher nicht ausführlicher auf die Auswirkungen der familienpolitischen Leistungen auf die soziale Lage der Familien und insbesondere der Mittelschichtfamilien eingegangen. Die nachfolgende Untersuchung unternimmt es, die Frage nach dem Zustande-

7 Vgl. dazu insb. Moeller; Niehuss, Strukturgeschichte; Ruhl, Unterordnung. 8 Kuller, Familienpolitik; Nelleßen-Strauch, Kindergeld; Münch, Familienpolitik, Bd. 2 ff.

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kommen der Sozialgesetzgebung mit der Frage ihrer sozialstrukturellen Auswirkungen zu verbinden. Dabei wird die Wirkung der direkten und indirekten Transferleistungen im Bereich der Familienförderung auch anhand empirischer Daten untersucht.

1. Zwischen Sozial- und Bevölkerungspolitik: Kinder- und familienbezogene Leistungen 1891–1949 Anders als sich auf den ersten Blick vermuten lässt, waren familienpolitische Maßnahmen keineswegs eine Erfindung des 20. Jahrhunderts oder etwa der Zeit nach 1945. Schon die Antike kannte einkom­mens- und steuerpolitische Maßnahmen zugunsten von kinderreichen Familien. Zur Zeit des Kaisers ­Augustus waren Familien mit drei oder mehr Kindern steuerfrei gestellt; für die Deckung des Ausfalls in der Staatskasse wurden die Junggesellen herangezogen.9 Auch das Mittelalter kannte Steuern und Strafen für Unverheiratete.10 Darüber hinaus erhielten bedürftige Familien karitative Hilfen, die teils religiös, teils sozialund teils ordnungspolitisch motiviert waren. Im Rahmen der bis ins 18. Jahrhundert dominierenden Armenpolitik galten Kinder und Waisenkinder als besonders unterstützungswürdig. Jedoch waren Wohlfahrt und Fürsorge gerade im Bereich der Familien noch bis ins 20. Jahrhundert eng mit Maßnahmen sozialer Disziplinierung verbunden.11 Im 19. Jahrhundert wandelten sich Rolle und Funktionen der Familien und des Familienlebens. Die Entwicklung der modernen Industriegesellschaft seit der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts griff tief in die überkommenen Formen und Praktiken der Alltagsorganisation ein und stellte damit die familiäre Daseinsvorsorge in Frage. Viele Familien wurden ihrer ökonomischen und ökologischen Voraussetzungen beraubt. Die Krise der Familie und die Entwicklung der modernen Sozialpolitik standen insofern in einem engen Zusammenhang.12 Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war durch einen allmählichen Ausbau von familienpolitischen Leistungen und Maßnahmen gekennzeichnet. Während im Kaiserreich die finanziellen Belastungen von Familien mit Kindern erstmals steuerlich anerkannt wurden, wuchs in der Zeit der Weimarer Republik die Sorge um die soziale Lage und das Wohlergehen der Familien. In den dreißiger und frühen vierziger Jahren wurden sodann eine Reihe neuer Instrumente und Strategien der Familienförderung entwickelt und implementiert. Die ambitionierte und in Teilen sogar recht moderne Familienpolitik der National 9 Vgl. Buck, Beleuchtung, S. 178 f. 10 Vgl. ebd., S. 179 f. 11 Vgl. Pohl, S. 16 ff.; Gömmel, S. 100. 12 Vgl. Kaufmann, Staatliche Sozialpolitik, S. 14.

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sozialisten diente jedoch in erster Linie zur Durchsetzung und Verwirklichung der rassenideologischen Ziele des Regimes. Die nachfolgenden Kapitel zeigen zunächst die historischen Wurzeln und damit die Grundlagen und Bedingungen der Familienpolitik der fünfziger Jahre auf. 1.1 Kaiserreich: Mehr Kinder, weniger Steuern Obwohl im Deutschen Kaiserreich von einer Familienpolitik als Sozialpolitik noch keine Rede sein konnte, existierte dennoch eine Reihe von Maßnahmen, die familienpolitische Komponenten in sich trugen. Hierzu gehörten beispielsweise die Arbeiterschutzmaßnahmen zugunsten von Frauen und Kindern, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Preußen, aber auch in anderen Ländern eingeführt wurden.13 Auch die Errichtung der Sozialversicherung stellte indirekt eine familienpolitische Maßnahme dar. Indem sie im Falle von Krankheit, Unfall oder Invalidität des Ernährers unterstützend eingriff, trug sie den Veränderungen der Familienstrukturen im industriellen Zeitalter Rechnung. Eine wichtige Erweiterung stellte diesbezüglich die Einführung von Hinter­bliebenenrenten in der Reichsversicherungsordnung von 1911 dar.14 Seit den 1890er Jahren wurde – im Zuge der in den meisten deutschen Ländern einsetzenden Steuerreformen  – der Familienstand und die Belastung durch Kinder bei Einkommensteuer berücksichtigt. Das war ein bedeutender Schritt, der von einem neuen Problembewusstsein zeugte, denn in den Jahrzehnten zuvor war eine hohe Kinderzahl vor allem als Zeichen für eine erhöhte Leistungsfähigkeit gewertet worden. Nun setzte sich allmählich die Erkenntnis durch, dass Kinderreichtum zwar einen Vorteil für die Allgemeinheit bedeutete, für die Familien selbst jedoch eine größere finanzielle Belastung darstellte  – durch erhöhte Ausgaben z. B. für Kleidung, Erziehung und Ausbildung.15 Das öffentliche Interesse an der Lage kinderreicher Familien vergrößerte sich auch dadurch, dass seit Ende des 19. Jahrhunderts die Geburtenzahlen sanken und somit auch unter bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten Maßnahmen zugunsten von Familien mit Kindern dringlich erschienen.16

13 Vgl. dazu Machthan. 14 Vgl. dazu Hentschel, Geschichte, S. 26 f.; Prinz, Arbeiterbewegung, S. 437 f. 15 In einer Vorlage der Leipziger städtischen Körperschaften von 1914 hieß es: »Dass der Familienvater durch die vielerlei Ausgaben für die Kindererziehung, Kleidung, Schulgeld u. dgl. ganz ungemein erhöhte Ausgaben hat, und dass er dadurch gegenüber kinderlosen Ehegatten oder gar Unverheirateten sehr viel schlechter gestellt ist, bedarf keiner Ausführung«. Zit. nach: Buck, Beleuchtung, S. 198. 16 Vgl. dazu Ruhl, Unterordnung, S.  156 ff. Zur Bevölkerungsentwicklung im Kaiserreich vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 9–30; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1848–1914, S. 494 ff.

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In Preußen wurde die steuerliche Berücksichtigung von Familienlasten erstmalig im Rahmen der Miquelschen Steuerreform von 1891 eingeführt. Kernstück dieser Reform war die progressive Einkommensteuer. Sie beendete das »altertümliche Wirrwarr von Klassen- und Realsteuern«17 und öffnete »das Tor zu einer tendenziell ausgewogeneren Steuerlastenverteilung«.18 Das neue Einkommensteuergesetz setzte ein Existenzminimum von 900 Mark fest. Nach Berücksichtigung dieses Existenzminimums stieg der Steuersatz von 0,67 Prozent langsam bis auf 4 Prozent (für Einkommen über 100.000 Mark jährlich) an. Bei Einkommen unter 3.000 Mark im Jahr wurde für jedes Kind unter vierzehn Jahren ein Kinderfreibetrag von 50 Mark gewährt; ab drei Kindern ermäßigte sich die Einkommensteuer um eine Stufe.19 In den Steuergesetz-Novellen von 1906 und 1909 wurden die kinderbedingten Steuerermäßigungen weiter ausgebaut und verbessert und das Privileg auf höhere Einkommen (bis 6.500 bzw. 9.500 Mark jährlich) ausgedehnt.20 Ähnliche Regelungen gab es auch in den meisten anderen Bundesstaaten. Allerdings waren in Preußen die Steuervergünstigungen im Vergleich großzügig geregelt; sowohl die Einkommensgrenzen wie auch die Ermäßigungsbeträge lagen relativ hoch. Ferner konnten neben den Kindern auch andere unterhalts­ bedürftige Familienangehörige einbezogen werden.21 Aufgrund des sehr lückenhaften statistischen Materials lassen sich nur eingeschränkt Aussagen über die Wirkung der Steuerermäßigungen treffen. Anzeichen gab es für eine Entlastung vor allem der unteren sozialen Schichten. Das war jedoch weniger durch das »Kinderprivileg« bedingt, als vielmehr durch die Neuordnung des Steuerwesens an sich und die Einführung des steuerfreien Existenzminimums. Das alte System der Klassensteuer hatte die untersten Schichten deutlich benachteiligt. Sie waren im Vergleich am stärksten belastet worden und hatten insgesamt den größten Anteil am Steueraufkom-

17 Loth, S. 94. 18 Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1848–1914, S. 888. 19 Vgl. Preußisches Einkommensteuergesetz v. 24.6.1891 (PrGS., S. 175). Zum Gesetzesaufbau und der Bedeutung der einzelnen Vorschriften vgl. auch Kettele, S. 38 ff. 20 Vgl. Preußisches Einkommensteuergesetz in der Fassung v. 19.6.1906 (PrGS., S. 241) bzw. Preußisches Gesetz, betreffend die Abänderung des Einkommensteuergesetzes und des Ergänzungssteuergesetzes v. 26.5.1909 (PrGS, S.  349). Seit 1909 erfolgte die kinderbedingte Steuerermäßigung allein nach Stufen. Bei einem Einkommen von bis zu 6.500 Mark ermäßigten sich die Steuersätze um eine Stufe bei zwei Kindern, um zwei Stufen beim dritten und vierten Kind und um drei Stufen beim fünften und sechsten Kind. Bei Einkommen zwischen 6.500 und 9.500 Mark trat eine Ermäßigung um eine Stufe beim dritten Kind ein, beim vierten und fünften Kind kam eine weitere Stufenermäßigung hinzu. Vgl. dazu Buck, Beleuchtung, S.  192; Kettele, S.  55; Frerich u. Frey, Handbuch, Bd.  1, S. 158. 21 Zu den Ausgestaltungen der Einkommensteuergesetzgebung in den anderen Bundesstaaten vgl. ausführlich Buck, Beleuchtung, S. 192 ff.; überblicksartig bei Frerich u. Frey, Handbuch, Bd. 1, S. 159; Frerich, Sozialpolitik, S. 131.

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men geleistet.22 Dagegen führte die Gewährung eines steuerfreien Existenzminimums von 900 Mark jährlich in Preußen dazu, dass 1902 rund 64,5 Prozent (1908 ca. 52 Prozent) der Bevölkerung (Steuerpflichtige und deren Angehörige) keine Einkommensteuer zu zahlen brauchten.23 Für die Familien, die Einkommensteuer zahlten, waren Ausmaß und Wirkung der Kinderermäßigung höchst unterschiedlich. So konnten im Jahre 1913 in Sachsen 370.200 Steuerpflichtige mit einem Einkommen von bis zu 3.100 Mark im Jahr das Kinderprivileg in Anspruch nehmen, was nur knapp einem Fünftel der insgesamt 2,1 Millionen Steuerpflichtigen in dieser Einkommensklasse entsprach. Jedoch hatten von diesen 370.200 Personen wiederum nur gut die Hälfte (53 Prozent) tatsächlich Steuerersparnisse zu verzeichnen, da beim übrigen Teil der zahlenmäßige Abzug keinen Einfluss auf die Steuerklasse hatte. Die Ermäßigung selbst fiel im Durchschnitt sehr niedrig aus und betrug für die Mehrzahl der Betroffenen 11 Mark im Jahr (Unterschiedsbetrag von einer Steuerklasse zur anderen). Insgesamt belief sich der Steuerausfall in Sachsen infolge der Kinderfreibeträge nur auf 769.550 Mark bei einem jährlichen Gesamtsteuerertrag von über 50 Millionen Mark.24 Die Steuerermäßigungsbestimmungen wurden daher von den Zeitgenossen auch als »mangelhaft« und »ungenügend« wahrgenommen.25 In Preußen profitierten aufgrund der günstigeren Regelungen schon 1909 insgesamt erheblich mehr Familien von der Kinderermäßigung. So zahlten  – bei einer Gesamtzahl von 5,88 Millionen physischer Zensiten26 – von den Einkommensbeziehern, die bis 3.000 Mark im Jahr verdienten, aufgrund der Kinderermäßigung 1,5 Millionen eine ermäßigte Steuer; 324.000 wurden dadurch steuerfrei. Darüber hinaus erhielten 76.000 Personen mit einem Einkommen zwischen 3.000 und 6.500 Mark jährlich eine kinderbedingte Ermäßigung. Der durch die Kinderermäßigung verursachte jährliche Steuerausfall belief sich immerhin auf 10,7 Millionen Mark.27 Wie die Daten zeigen, traten für Familien der mittleren und unteren Einkommensbezieher zwar kinderbedingte steuerliche Entlastungen ein. Deren Höhe war aber davon abhängig, wie die Steuerermäßigung in den Einkommensteuergesetzen der Bundesstaaten geregelt war. Für kinderreiche Familien in

22 Vgl. Kettele, S.  18 (Tab. 2).  – Der preußische Gesetzgeber hatte erstmals 1873 ein steuerfreies Existenzminimum in Höhe von 140 Talern kodifiziert. Zuvor war die Steuerpflicht nur nach oben begrenzt gewesen, vgl. ebd., S. 17. 23 Zahlen nach Frerich u. Frey, Handbuch, Bd. 1, S. 160. 24 Vgl. Buck, Beleuchtung, S.  197 f., der seine Berechnungen auf die Daten des Statistischen Landesamtes stützt (Kgl. Stat. Landesamt, 60. Jg., 1914, 1. Hälfte, S. 41). Vgl. auch Frerich u. Frey, Handbuch, Bd. 1, S. 160. 25 Buck, Beleuchtung, S. 198. 26 Einzelsteuernde und solche Steuerzahler, die einem Haushalt vorstanden. 27 Das waren rd. 4,4  Prozent des Veranlagungssolls der steuerpflichtigen Bevölkerung, vgl. Frerich u. Frey, Handbuch, Bd. 1, S. 160 f.

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den unteren und mittleren Lohn- und Gehaltsklassen blieb die Situation vor allem dann problematisch, wenn sie trotz der Kinderfreibeträge in ihrer Steuer­ klasse verblieben und damit praktisch keine Steuerersparnis eintrat. Je höher die Kinderzahl, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sich Steuer­ ermäßigungen überhaupt bemerkbar machten. Wenn der Familienlastenausgleich im Ganzen auch unvollständig blieb, da die vorgesehenen Steuererleichterungen keinen wirklichen Ausgleich der Kinderkosten bewirken konnten, so wurde hier doch schon frühzeitig ein Instrument zur Förderung von Familien entwickelt und ausgebaut, das über die nächsten Jahrzehnte und bis weit in die Zeit der Bundesrepublik Bestand haben sollte – und das, obwohl die Ambivalenzen bereits zutage traten, die ein steuerlicher Ausgleich von Familienlasten in sich trug. Die moderne Einkommensteuergesetzgebung und die steuerliche Berücksichtigung von Kindern waren somit von Anfang an eng miteinander verknüpft. Freilich darf nicht über­sehen werden, dass die finanzielle Förderung von Familien im Kaiserreich in erster Linie bevölkerungs- und nicht sozialpolitisch motiviert war.28 Durch die Einführung von Einkommensgrenzen erhielt die Gesetzgebung aber auch eine deutliche sozialpolitische Komponente. Familien- und Bevölkerungspolitik gehörten nicht nur im deutschen Kaiserreich eng zusammen. Auch in Frankreich hatten familienpolitische Forderungen vor allem dann eine Chance auf Durchsetzung, wenn sie sich auch bevölkerungspolitisch begründen ließen.29 Um die Jahrhundertwende wurden – mit Verweis auf »natalistische« Interessen  – verschiedene Gesetzesvorschläge zur steuerlichen Entlastung kinderreicher Familien im französischen Parlament diskutiert. Im Juli 1914, kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, wurde die Einführung von Ehe- und Kinderfreibeträgen bei der Einkommenssteuer beschlossen.30 Bereits im Februar 1913 waren direkte öffentliche Unterstützungsmaßnahmen für bedürftige kinderreiche Familien eingeführt worden.31 Ebenfalls seit 1913 erhielten Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst ab dem dritten Kind eine allgemeine Kinderzulage. Diese zunächst auf die unteren Besoldungsgruppen beschränkte Maßnahme wurde drei Jahre später auf alle kinderreichen öffentlich Bediensteten ausgeweitet.32 28 In einer Denkschrift über wirtschaftliche Maßnahmen zugunsten kinderreicher Familien stellte das preußische Innenministerium 1915 den Grundsatz auf, dass der Verheiratete mit Kindern für den Staat wertvoller sei als der Unverheiratete und der kinderlos Verheiratete. Am 1.5.1917 beschloss das Preußische Abgeordnetenhaus die Bildung eines ständigen Ausschusses für Bevölkerungsfragen. Vgl. Schnabel, S. 7. Zur bevölkerungspolitischen Diskussion vgl. insb. auch Ruhl, Unterordnung, S. 157 f. 29 Vgl. Schultheis, S. 210 ff. 30 Verheiratete Steuerpflichtige konnten einen Pauschalbetrag von 2.000 Francs von ihrem zu versteuernden Einkommen abziehen. Dieser Betrag erhöhte sich für jeden weiteren abhängigen Haushaltsangehörigen um 1.000 Francs, bei Familien mit fünf und mehr Kindern um 1.500 Francs. Vgl. ebd., S. 193 f. 31 Vgl. ebd., S. 194. 32 Vgl. ebd., S. 198.

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Zu solchen direkten staatlichen Unterstützungsleistungen kam es diesseits des Rheins vor dem Ersten Weltkrieg nicht. Jedoch wurde wiederholt über den Ausbau der kinderbezogenen Leistungen nachgedacht. Neben Überlegungen zu einer Junggesellensteuer, die zu einer gerechteren Verteilung der Lasten zwischen Kinderreichen und Kinderlosen beitragen sollte,33 gab es auch verschiedene Pläne zur Einführung einer sog. »Kinderversicherung«. Dahinter stand die Idee, den Familienhaushalten direkte Beihilfen zu gewähren und diese durch ein Umlageverfahren zu finanzieren. Auch hier sollten die Unverheirateten und Kinder­losen für die zusätzlichen Leistungen für Familien aufkommen.34 Dass sich diese Vorschläge nicht durchsetzen konnten, war auf den großen finan­ ziellen und organisatorischen Aufwand zurückzuführen, die eine solche Umstellung des Steuerwesens bedeutet hätte. Darüber hinaus wurde befürchtet, dass die wohlhabenderen Schichten weitere steuerliche Belastungen nicht mittragen würden.35 Eine ganz andere Frage waren Familienzulagen, die nicht vom Staat, sondern von der privaten Wirtschaft geleistet wurden. Doch auch hier schritt die Entwicklung im Kaiserreich zunächst nur zögerlich voran. In Frankreich wurden bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts in großen Industrie-, Finanz- und Handelsbetrieben Familienzuschläge an kinderreiche Arbeitnehmer gezahlt.36 Die Idee des familiengerechten Arbeitslohns ging auf Frédéric Le Play, dem Begründer der französischen Familiensoziologie, zurück. Dieser hatte in seinen gesellschaftsutopischen Schriften die Unterscheidung zwischen Leistungs- und Soziallohn eingeführt: »l’une proportionelle aux efforts de l’ouvrier et l’autre proportionelle aux besoins de la famille«.37 In Deutschland fanden sog. »Familienlöhne« dagegen erst seit dem zweiten Jahrzehnt des 20.  Jahrhunderts Verbreitung.38 1.2 Weimarer Republik: Grundrecht ohne Folgen In der Weimarer Republik wurden die vor dem Ersten Weltkrieg eingeführten steuerlichen Maßnahmen zur Entlastung von Familien weitergeführt. Das Einkommensteuergesetz vom 29. März 1920 übertrug die Erhebung der Einkom33 Vgl. de Jonge. Vgl. auch Buck, Beleuchtung, S. 226 ff., 307 ff. 34 Vgl. Zeiler; Gegenüberstellung und Erläuterung verschiedener Vorschläge auch bei Buck, Beleuchtung, S. 280 ff. 35 Wie den Ausführungen des Zeitgenossen Buck zu entnehmen ist, fühlten sich »der Mittelstand« und die »wohlhabenden Klassen« schon jetzt durch Steuern übermäßig belastet, vgl. ders., Beleuchtung, S. 184 f. 36 Die Zuschläge dienten auch dazu, die Arbeiter an das Unternehmen zu binden, Arbeitsanreize zu setzen und damit eine optimale Ausnutzung der Arbeitskraft zu gewinnen. Sie waren somit Teil der paternalistischen Unternehmenspolitik. Vgl. Schultheis, S. 236 ff. 37 Zit. nach Bremme, S. 179. Vgl. auch Schultheis, S. 118 ff.; 227. 38 Vgl. Sachse, Siemens, S. 130; Bahle, S. 53 ff.; Stein, S. 15 ff.

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mensteuer auf das Reich und vereinheitlichte damit auch das Verfahren bei der Gewährung von Steuervorteilen.39 Als untere Grenze der Einkommensbesteuerung wurde ein jährliches Existenzminimum von 1.500 Mark festgelegt.40 Dieser steuerfreie Einkommensteil erhöhte sich um 500 Mark für jede zur Haushaltung des Steuerpflichtigen zählende Person.41 Damit waren praktisch alle Arbeiterfamilien mit zwei Kindern und die große Masse der kleinen Gewerbetreibenden steuerfrei.42 Der Steuertarif war progressiv gestaffelt und sollte einer Einkommensumverteilung dienen. Unter der zunehmenden Inflation wirkte sich die Steuerprogression aber gerade für die Inhaber kleiner Einkommen und Vermögen nachteilig aus.43 Mehrere Änderungsgesetze versuchten, die negativen und ungewollten Folgen der Inflation abzufangen.44 Sie blieben jedoch jeweils hinter der rasanten Abwärtsentwicklung des Geldwertes zurück. Für 1923 konnte sogar überhaupt keine Veranlagung mehr vorgenommen werden. Erst mit dem Einkommensteuergesetz vom 10.  August 1925 kehrte wieder Normalität ein.45 Das steuerfreie Existenzminimum wurde nun auf 1.100 RM im Jahr festgelegt. Dieses erhöhte sich durch die Kinderfreibeträge, die nach Kinderzahl gestaffelt wurden; sie reichten von 100 RM für das erste Kind bis zu 450 RM für das vierte und jedes folgende Kind.46 Für die Ehefrau wurde ebenfalls ein Freibetrag von 100 RM angerechnet. Bei einem jährlichen Einkommen von bis zu 10.000 RM blieben zusätzlich 600 RM steuerfrei. Statt der Festbeträge konnte auch ein fester Prozentsatz vom steuerpflichtigen Einkommen abgezogen werden, falls das zu einem besseren Ergebnis führte.47 Die steuerlichen Maßnahmen in der Weimarer Republik hatten insgesamt eine größere Wirksamkeit als im Kaiserreich, da die Freibeträge im Vergleich höher waren und die Steuerlast effektiv minderten. Benachteiligt waren jedoch vor allem die unteren Einkommen, wenn sie die Freibeträge nicht voll ausschöp39 RGBl I., S. 359. 40 Bei Frerich u. Frey, Handbuch, Bd. 1, S. 242, ist irrtümlicher Weise von einem Freibetrag von 500 Mark die Rede. 41 Bei Einkommen bis 10.000 Mark jährlich erhöhten sich die Freibeträge um 200 Mark für die zweite und jede weitere Person, sofern diese das 16. Lebensjahr nicht vollendet hatte. (§ 20 Abs. 4 EStG). 42 Vgl. Voegeli, S. 7. 43 Dem Betrag nach nahmen Einkommen und Vermögen durch die Inflation ständig zu und wurden entsprechend der Steuerprogression unentwegt stärker besteuert. In Kaufkraft gemessen nahm der Wert der Einkommen und Vermögen aber ab. Vgl. dazu auch Karsten, S. 69 ff.; Witt, S. 419 f. 44 Vgl. z. B. Gesetz über die Berücksichtigung der Geldentwertung in den Steuergesetzen v. 20.3.1923 (RGBl. I, S. 198). 45 RGBl. I, S. 189. 46 Irreführend hier die Ausführungen von Frerich u. Frey, Handbuch, Bd. 1, S. 242, deren Angaben nicht mit den Gesetzesbestimmungen des EStG von 1925 übereinstimmen. 47 Insgesamt waren 8 Prozent des über 600 RM hinausgehenden Einkommens, höchstens jedoch je 540 RM für die Ehefrau und jedes Kind, insgesamt aber nicht mehr als 8.000 RM abzugsfähig (§ 52 Abs. 1, Nr. 2 EStG).

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fen konnten. Darüber hinaus waren die Steuerentlastungen größenordnungsmäßig weiterhin weit davon entfernt, die Kosten auszugleichen, die durch das Vorhandensein von Kindern verursacht wurden. Obwohl in der Weimarer Reichsverfassung nicht nur der Schutz von Ehe und Familie verfassungsrechtlich verankert, sondern auch die »soziale Förderung der Familie« als »Aufgabe des Staates und der Gemeinden« festgeschrieben worden war,48 blieben die finanziellen Hilfeleistungen für Familien auf das Instrument der Steuerermäßigung beschränkt. Mit Ausnahme der Kinderzulagen für Reichsbeamte, die 1920 eingeführt und 1927 auf einen Einheitsbetrag von monatlich 20 RM festgesetzt wurden, gab es keine direkten staatlichen Transferleistungen.49 Dies wurde Ende der zwanziger Jahre von Bevölkerungswissenschaftlern sowie den Vertretern des Reichsbundes der Kinderreichen vermehrt kritisiert.50 Entsprechende Kindergeldpläne wurden jedoch erst in der NS-Zeit realisiert. Frankreich blieb somit in den zwanziger Jahren in der Vorreiterrolle. Hier wurden in der Zwischenkriegszeit nicht nur beachtliche Erfolge bei der steuerlichen Entlastung von kinderreichen Familien erzielt. Auch die direkten staatlichen Unterstützungsleistungen wurden augebaut, am effektivsten im öffentlichen Dienst.51 Dabei wurde aus der bewusst geburtenfördernde Zielsetzung der Maßnahmen kein Hehl gemacht, wovon das »Gesetz zur Ermutigung kinderreicher Familien« zeugte.52 Sowohl in Frankreich wie auch in Deutschland traten neben die finan­zielle Entlastung durch die Steuerfreibeträge weitere sozialpolitische Maßnahmen, die zumindest mittelbar eine Wirkung auf die Situation der Familien hatten. Dazu gehörten der Ausbau des Sozialversicherungswesens, die gesetzliche Einführung des Normalarbeitstages sowie in Deutschland die Einrichtung von Ministerien für soziale Fürsorge und Volksgesundheit.53 Ein weiterer wichtiger Bereich waren die sozialen Wohnungsbauprogramme der zwanziger Jahre.54 48 Vgl. Art. 119 WRV: »Die Ehe steht als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung. Sie beruht auf der Gleichberechtigung der Geschlechter. Reinerhaltung, Gesundung und soziale Förderung der Familie ist Aufgabe des Staates und der Gemeinden. Kinderreiche Familien haben Anspruch auf ausgleichende Fürsorge. Die Mutterschaft hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge des Staates«. 49 Vgl. Voegeli, S. 6 f.; Nelleßen-Strauch, Kindergeld, S. 26. 50 Vgl. Burgdörfer, Bevölkerungspolitische Lage, S. 166–220; ders., Geburtenrückgang. 51 Seit 1919 wurden für alle Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst nach der Kinderzahl gestaffelte Familienzulagen gewährt. Vgl. dazu Schultheis, S. 286 ff. 52 Dieses Gesetz besagte, dass allen Familien mit mindestens vier Kindern unter 14 Jahren unabhängig vom Einkommen eine jährliche Unterstützung von 90 Francs zustünde. Vgl. Schultheis, S. 287. 53 Vgl. Sieder, S. 215 f. 54 Vgl. dazu insb. Ruck, Öffentliche Wohnungsbaufinanzierung; ders., Wohnungsbau. Vgl. auch Schildt, Wohnungspolitik, S. 154 ff. Zur familienpolitisch motivierten Subventionierung des sozialen Wohnungsbaus in Frankreich in der Zwischenkriegszeit vgl. Schultheis, S. 291 f.; Mengin.

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Trotz dieser Anstrengungen blieb die Lage der Familien prekär. Die Folgen des Ersten Weltkriegs, aber auch die herrschende Arbeitslosigkeit und Inflation setzten die Familien, insbesondere in den lohnabhängigen Schichten, enormen wirtschaftlichen, aber auch psychischen und physischen Belastungen aus.55 Neben der schlechten Einkommenssituation wirkten auch Auflösungserscheinungen im Bereich der traditionellen Familienstrukturen und -formen bedrohlich auf die Institution der Familie.56 Die Krise von Ehe und Familie galt in der Weimarer Republik erstmals nicht mehr als »proletarisches«, sondern als schichtübergreifendes Problem.57 Die Krisenerscheinungen trugen dazu bei, dass in Deutschland Anfang der zwanziger Jahre in größerer Zahl in verschiedenen Branchen, darunter in der Metall- und Textilindustrie, überbetriebliche Familienausgleichskassen nach französischem Vorbild eingerichtet wurden. 1922 erhielten 40 Prozent aller tariflich erfassten Arbeitnehmer Familienzulagen.58 Deren Höhe war sehr unterschiedlich. Sie betrugen bei Siemens 1921 28,8 Prozent des reinen Stundenlohns; 1923 jedoch lagen sie nur noch bei 2 Prozent, da sie in noch geringerem Umfang an die Geldentwertung angepasst wurden als die Löhne.59 Schon in der Inflationszeit wurde ein Großteil der Ausgleichskassen wieder aufgelöst. Von den elf Ausgleichskassen, die 1922 bestanden hatten, waren 1924 nur noch drei übrig.60 Bis 1925 wurden alle Kassen aufgelöst und auch in der Phase der wirtschaftlichen Stabilisierung bis 1929 nicht mehr neu aufgebaut. Die einzige Ausnahme bildete die Zuschusskasse der Tarifgemeinschaft deutscher Apotheker. Diese überdauerte sowohl die NS-Zeit als auch den Zweiten Weltkrieg. Insgesamt erlebten die Familienausgleichskassen im Deutschen Reich damit nur eine kurze Blütezeit. Die »freiwilligen« Familienzulagen waren von den Arbeitgebern in erster Linie als Notstandsmaßnahme nach dem Krieg angesehen worden.61 In Frankreich dagegen blieben die Familienausgleichskassen ein fester Bestandteil der Familienpolitik. Ihre Zahl stieg zwischen 1920 und 1930 von 20 auf 230 an. Ihnen waren insgesamt 3.200 Unternehmen angeschlossen.62 55 Vgl. Sieder, S. 212 ff.; Metzler, S. 54 ff. 56 Vgl. dazu die Dokumente I 1a-j, in: Flemming, S. 12 ff. Vgl. auch Sachse, Betriebliche Sozialpolitik, S. 51–57. 57 Flemming, S. 7. 58 Die Beiträge wurden von den Unternehmen im Umlageverfahren aufgebracht. Die Beitragsberechnung erfolgte entweder nach der Zahl der Arbeitnehmer, nach der Zahl der geleisteten Arbeitstage oder – das war der häufigste Fall – nach der Höhe der in einem bestimmten Zeitraum gezahlten Lohnsumme. Vgl. Feig, S.  484 f. Vgl. auch David, S.  189; Bahle, S. 58 ff. 59 Vgl. Sachse, Siemens, S. 130. 60 Vgl. Feig, S. 487. 61 Vgl. Sachse, Siemens, S. 129. 62 Vgl. Bremme, S. 179; zur Verbreitung und Praxis der Familienkassen ausführlich Schultheis, S. 254 ff.

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1932 erließ das französische Parlament gesetzliche Regelungen zur Errichtung von Ausgleichskassen sowie eine Beitrittspflicht für Arbeitgeber.63 Es schuf damit einen einheitlichen Rechtsrahmen für die familienpolitischen Aktivitäten der französischen Unternehmerschaft und verschaffte den Arbeitnehmern einen gesetzlichen Anspruch auf die bisher freiwillig gewährten Leistungen. Die Unternehmen kamen ihrer Beitrittspflicht jedoch nur zögerlich nach. Noch 1936 erhielten etwa 20  Prozent der französischen Arbeitnehmer keine Fami­ lienzulagen. Zudem gab es eine große Differenz zwischen den Unterstützungssätzen, da der Gesetzgeber nur einen Minimalbetrag festgelegt hatte.64 Zur Ausdehnung der betrieblichen Familienzulagen in Frankreich hatte auch die Weltwirtschaftskrise beigetragen. In Deutschland hingegen kamen auf die Familien Anfang der dreißiger Jahre weitere Belastungen zu: die Kinderzulagen im öffentlichen Dienst wurden gekürzt, zu­gleich stiegen die Sozialabgaben und indirekten Steuern.65 Im Gegenzug wurden seit 1930 die direkten Steuern für Alleinstehende und kinderlose Haushalte erhöht, womit die Idee einer sog. »Junggesellensteuer« eine Teilrealisierung erfuhr. Diese Maßnahme stellte die Überleitung zur NS-Familienpolitik dar. 1.3 Nationalsozialismus: Von der Familien- zur Bevölkerungpolitik Die Nationalsozialisten räumten der Familienpolitik einen hohen Stellenwert ein, vereinnahmten sie aber zugleich für ihre Zwecke. Die Familienpolitik diente als Instrument zur Realisierung eines »gesunden Volkskörpers«.66 Die bevölkerungspolitisch motivierten Zielsetzungen, vor allem die Förderung von Geburtenzahlen, vermischten sich mit eugenisch rassistisch motivierten Regelungen. Die Nationalsozialisten wandten sich außerdem gegen eine Modernisierung des Frauen- und Familien­leitbildes und kritisierten in dieser Hinsicht die Frauen- und Familienpolitik der Weimarer Republik. Der nationalsozialistische Frauen- und Mutterkult, der mit großem propagandistischem Aufwand betrieben wurde, hatte vor allem das Ziel, Frauen auf das Mutterdasein zu verpflichten.67 In diesem Sinne stellte die Familie auch eine wichtige Komponente der Volksgemeinschafts-Ideologie dar.68 Die Familie sollte der Volksgemeinschaft dienen, indem sie möglichst viele Kinder hervorbrachte und aufzog. Wie die neuere Forschung betont, waren die Maßnahmen, die das NS-Regime zur Förderung der Familien ergriff, sehr heterogen, wenn nicht sogar widersprüch63 Vgl. dazu Schultheis, S. 316 ff. 64 Ebd., S. 322. 65 Vgl. dazu insb. auch Dok. II 2a-b, in: Flemming, S. 73–76. 66 Vgl. Sachße u. Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 51 ff. 67 Zum NS-Frauen- und Familienleitbild vgl. Thalmann; Schulz, Soziale Sicherung, S. 119 f.; Ruhl, Familienpolitik, S. 480 ff.; Mühlfeld u. Schönweiss, S. 17 ff.; Pine, S. 8 ff., 98 ff. 68 Vgl. dazu zuletzt Wildt, Volksgemeinschaft; Bajohr u. Wildt.

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lich. Insgesamt oszillierte die nationalsozialistische Familienpolitik »zwischen Überlegungen zu einer wohlfahrtsstaatlichen (Sozial-) Politik zugunsten ›wertvoller‹ Familien und Sozialisationsmilieus, dem gleichzeitigen Interesse an einer rassistisch selektiven Bevölkerungspolitik sowie arbeitsmarktpolitischen Erwägungen«.69 Indem sie mehreren Zielen verpflichtet war – in der Friedensanderen als in der Kriegsphase – war die Familienpolitik der Nationalsozialisten in ihren Wirkungen und Bedeutungen äußerst ambivalent.70 Als erste familienpolitisch relevante Maßnahme wurde 1934 eine Steuerreform veranlasst, bei der der Einkommensteuernachlass nach dem Familienstand und der Kinderzahl gestaffelt wurde. Die Steuerquote für Familien mit Kindern wurde spürbar gesenkt und gleichzeitig die Steuerbelastung für Ledige und kinderlose Ehepaare heraufgesetzt.71 Gemessen an den bestehenden Regelungen brachten die Neuregelungen für die Mehrheit der Familien jedoch keine wesentlichen Erleichterungen. Insgesamt honorierte das Steuersystem den Umstand, verheiratet zu sein, wesentlich mehr als das Aufziehen von Kindern.72 Für die Familien der unteren Einkommensschichten galt weiterhin, dass sie bereits steuerfrei waren bzw. häufig durch die Familienermäßigungen steuerfrei wurden. Die Absolutbeträge, die aus der Steuerersparnis resultierten, waren immer noch gering und fielen, gemessen an den faktischen Kosten für Kinder, kaum ins Gewicht. So blieben Ehepaare mit drei und mehr Kindern bei einem Einkommen von 195 bis 208 RM monatlich nahezu steuerfrei. Ein Arbeitnehmer mit zwei Kindern sparte in derselben Lohnklasse 4,68 RM gegenüber dem kinderlos Verheirateten und 14,30 RM gegenüber dem Ledigen.73 Lediglich die besser verdienenden Mittelschichten, insbesondere die höheren Angestellten und Beamte, konnten spürbare finanzielle Entlastungen realisieren. Ab einem Einkommen von etwa 550 RM im Monat ergaben sich Entlastungsbeträge in Höhe von mindestens 10 RM pro Kind.74 Je höher das Einkommen und je größer die Kinderzahl, desto deutlicher fielen auch die Steuererleichterungen aus.75 1935 wurde erstmals eine direkte finanzielle Förderung von kinderreichen Familien in Deutschland eingeführt, und zwar in Form einmaliger Kinder69 Voegeli, S. 2. 70 Die Brüche in der NS-Sozialpolitik hat besonders eingängig Timothy Mason aufgezeigt. Vgl. ders., Sozialpolitik im Dritten Reich. Vgl. auch Sachße u. Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 13. Dort werden zwei Phasen unterschieden: 1930–1938 (»autoritärer Wohlfahrtsstaat«) und 1938–1945 (»völkischer Wohlfahrtsstaat«). 71 EStG v. 16.10.1934 (RGBl. I, S. 1005). Eine vergleichbare steuerliche Sanktionierung Kinderloser hatten auch die französischen Einkommenssteuergesetze von 1920 und 1926 vorge­ sehen. Vgl. Schultheis, S. 289 f. 72 Das galt auch noch nach Einführung eines »Strafsteuersatzes« für Ehepaare, die fünf Jahre nach Eheschließung kinderlos geblieben waren. Diese Regelung betraf Ehepaare, deren Jahreseinkommen über 1.800 RM lag. Vgl. dazu Voegeli u. Willenbacher, S. 37 f. 73 Vgl. Lohnsteuertabelle des EStG v. 1934 (RGBl. I, S. 1027). 74 Vgl. ebd. 75 Vgl. dazu auch Voegeli u. Willenbacher, S. 38 f.; Schnabel, S. 12 f.

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beihilfen an besonders bedürftige Familien. Eine entsprechende Verordnung wurde am 15. September 1935 erlassen. Familien mit vier und mehr Kindern unter 16 Jahren hatten danach einen Anspruch auf eine einmalige Kinderbeihilfe in Höhe von bis zu 100 RM je Kind.76 Die Beihilfe wurde auf Antrag und in Form von Bedarfsdeckungsgutscheinen zum Erwerb von Möbeln und Hausrat gewährt, womit zugleich ein zusätzlicher Faktor für die Ankurbelung der Güterproduktion geschaffen wurde. Voraussetzung für den Erhalt der Kinderbeihilfe waren neben der Bedürftigkeit, dass die Eltern »Reichsbürger« im Sinne der Nürnberger Gesetze waren und über ein »einwandfreies Vorleben und guten Leumund« verfügten. Eine weitere Bedingung bestand in der »Erbgesundheit« von Eltern und Kindern.77 Von der Regelung der einmaligen Kinderbeihilfen profitierten insbesondere die sozial schwächeren Schichten, da erstens ein niedriges Einkommen zu den Voraussetzungen gehörte und zweitens gerade in den unteren Schichten der Bevölkerung entsprechend hohe Kinderzahlen vorhanden waren.78 Die Zahl der potentiell berechtigten Kinder war jedoch insgesamt gering, denn nur neun Prozent aller Familien mit Kindern hatten vier oder mehr minderjährige Kinder.79 Einen weiteren Ausbau der monetären Familienförderung brachte die Einführung laufender Kinderbeihilfen, die ab 1936 zusätzlich zu den einmaligen Hilfen für Familien mit fünf und mehr Kindern unter 16 Jahren gewährt wurden.80 Dabei war Voraussetzung, dass ein Elternteil sozialversicherungspflichtig beschäftigt war und das Monatseinkommen 185 RM nicht überstieg. Die Unterstützungsleistung betrug für das fünfte und jedes weitere Kind 10 RM monatlich. Der Kreis der Anspruchberechtigten wurde in den folgenden Jahren stetig erweitert. Seit 1937 erhielten auch Selbständige laufende Kinderbeihilfen,81

76 Verordnung über die Gewährung von Kinderbeihilfen an kinderreiche Familien v. 15.9.1935 (RGBl. I, S. 1160). 77 Vgl. Durchführungsbestimmungen zur Verordnung über die Gewährung von Kinderbeihilfen an kinderreiche Familien v. 26.9.1935 (RGBl. I, S. 1206). Vgl. dazu auch Voegeli u. Willenbacher, S. 31; Mühlfeld u. Schönweiss, S. 199. 78 Vgl. Voegeli u. Willenbacher, S.  22, 32.  – Zum Verhältnis von Einkommen und Kinderzahl im 20.  Jahrhundert vgl. auch Schwarz, Einkommen S.  301 ff.; Niehuss, Die Familie, S. 220 ff. 79 Vgl. Voegeli u. Willenbacher, S. 32; Ruhl, Familienpolitik, S. 484. 80 Vgl. Verordnung zur Änderung der Verordnung über die Gewährung von Kinderbeihilfen an kinderreiche Familien v. 24.3.1936 und die dazugehörige 3. Durchführungsbestimmung v. 24.3.1936 (RGBl. I, S. 252). Zum Folgenden vgl. auch Voegeli u. Willenbacher, S. 33 f. 81 Vgl. 6.  Durchführungsbestimmung v. 31.8.1937 (RGBl. I, S.  989). Laufende Kinderbeihilfen konnten danach Selbständige erhalten, deren gesamte Jahreseinkünfte 2.100 und deren Vermögen 50.000 RM nicht überstieg. Für Lohnempfänger wurde die Verdienstgrenze auf 200 RM monatlich heraufgesetzt. Beamte, Soldaten und Beschäftigte im öffentlichen Dienst waren, soweit sie Kinderzuschläge zum Lohn bezogen, vom Bezug der Kinderbeihilfen ausgeschlossen.

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1938 wurde die Einkommensgrenze generell auf 8.000 RM jährlich festgelegt. Zugleich erhielten Familien abhängig Beschäftigter ab dem dritten Kind »erweiterte« Kinderbeihilfen. Diese betrugen je Kind ebenfalls monatlich 10 RM.82 Mit der Kinderbeihilfeverordnung vom 9. Dezember 1940 wurden die laufenden Beihilfen schließlich für alle Familien auf das dritte Kind ausgedehnt und die Einkommensbegrenzung völlig aufgehoben. Bezugsberechtigt waren nun alle »uneingeschränkt einkommensteuerpflichtigen« Haushalte.83 Die Regelungen zu laufenden Kinderbeihilfen kamen zunächst – analog zu den einmaligen Kinderbeihilfen – vor allem einkommensschwachen Familien zugute. Allerdings erfüllten anfangs nur vier Prozent aller Familien überhaupt die Voraussetzungen bezüglich der Kinderzahl und des Alters der Kinder. Mit Einbeziehung der Selbständigen und nach Ausweitung der Einkommensgrenzen auf jährlich 8.000 RM konnten ab 1938 etwa neun Prozent der Familien laufende Kinderbeihilfen beantragen. Die Ausdehnung der Beihilfen auf Familien mit mindestens drei Kindern ließ die Zahl der Begünstigten weiter auf etwa zwanzig Prozent ansteigen.84 Die Abschaffung der Einkommensgrenze 1941 hatte zur Folge, dass auch die wohlhabenden Familien von den Kinderbeihilfen profitierten. Die Kumulation mit den Steuerermäßigungen führte hier zu finanziellen Unterstützungsleistungen, die sich den faktischen Kosten je Kind zumindest annäherten. Bei den Familien der unteren Einkommensgruppen stellte die monatliche Kinderbeihilfe in Höhe von 10 RM im Verhältnis zwar eine bedeutende Summe dar, sie allein reichte aber zur Bedarfsdeckung nicht aus. Am besten waren indes Soldaten sowie Beamte und Angestellte des Reiches, der Länder und Gemeinden gestellt. Sie erhielten ab 1938 für jedes Kind Gehaltszuschläge, die von 10 RM für das erste bis 30 RM für das vierte und jedes weitere Kind reichten.85 Neben den Steuerermäßigungen und den neu eingeführten Kinderbeihilfen beinhaltete die staatliche Förderung von Familien in der NS-Zeit noch eine Reihe weiterer Maßnahmen. Zu erwähnen sind die Hilfsmaßnahmen für (werdende) Mütter durch das 1934 gegründete Hilfswerk »Mutter und Kinder« der

82 Vgl. 7. Durchführungsbestimmung v. 13.3.1938 (RGBl. I, S. 241). Die betroffenen Familien erhielten ab dem fünften Kind doppelte Beihilfen. 1941 wurden die erweiterten Kinderbeihilfen gegen Entschädigung wieder abgeschafft. Vgl. Runderlass des Reichsministers für Finanzen v. 8.2.1941 (RStBl., S. 105). 83 Vgl. Kinderbeihilfe-Verordnung v. 9.12.1940 (RGBl. I, S. 1571). Ab 1941 wurde auch für die Bewilligung der laufenden Kinderbeihilfen eine »erbbiologische Überprüfung« der Kinder und ihrer Eltern vorausgesetzt. Vgl. Runderlass des Reichsministers für Finanzen v. 3.3.1941 (RStBl., S. 313). Vgl. dazu ausführlich Voegeli u. Willenbacher, S. 34 f. 84 Zahlen ebd.; Ruhl, Familienpolitik, S. 484. – Die Mittel zur Finanzierung stammten, wie bei den Einmalzahlungen, aus dem Fond »Sondervermögen des Reiches für Ehestandsdarlehen und Kinderbeihilfen« sowie aus der Arbeitslosenversicherung, über die nach Rückgang der Arbeitslosigkeit frei verfügt werden konnte. 85 Vgl. Änderung des Besoldungsgesetzes v. 27.9.1938 (RBGl. I, S. 1210).

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Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV)86 sowie die Verbesserung des Mutterschutzes durch das NS-Mutterschutzgesetz von 1942.87 Bereits im Juni 1933 war eine neuartige, eher ungewöhnliche Regelung, das sog. »Ehestandsdarlehen«, eingeführt worden. Diese Darlehensregelung war ursprünglich als arbeitsmarktpolitische Maßnahme gedacht und daher im »Gesetz zur Verringerung der Arbeitslosigkeit« verankert worden.88 Unter der Voraussetzung, dass die Ehefrau ihren Beruf aufgab, sollte Jungvermählten ein zinsloses Darlehen bis zu einem Höchstbetrag von 1.000 RM gewährt werden. Im Durchschnitt wurden Beträge von 500 bis 600 DM bewilligt, was dem vier- bis fünffachen Monatslohn eines Industriearbeiters entsprach.89 Die Auszahlung der Darlehen erfolgte jedoch nicht in bar, sondern in Form von Bedarfsdeckungsgutscheinen, die zum Kauf von Möbeln und Hausgeräten berechtigten. Finanziert wurde die Maßnahme durch eine Abgabe der ledigen einkommensteuerpflichtigen Personen – die sog. »Ehestandshilfe«. Die Tilgung erfolgte in monatlichen Teilbeträgen von einem Prozent. Bei Geburt eines Kindes ermäßigte sich die Restschuld jeweils um ein Viertel des ursprünglichen Darlehensbetrages. Die Gewährung der Ehestandsdarlehen wurde an eugenisch rassistische Bedingungen geknüpft. So durften die Darlehen nicht gewährt werden, wenn einer der beiden Ehegatten an vererblichen geistigen bzw. körperlichen Krankheiten litt.90 Angesichts der sich abzeichnenden Arbeitskräfteknappheit im Rüstungsboom wurde 1937 die Bedingung, dass die Ehefrau ihre Erwerbstätigkeit aufgeben musste, wieder aufgehoben.91 Das bevölkerungspolitische Element der Maßnahme – frühe Heirat und viele Kinder – trat damit gegenüber dem arbeitsmarktpolitischen Ziel in den Vordergrund. Letztlich wurde jedoch keines der beiden Ziele erreicht.92 86 Die Hilfsmaßnahmen der NSV wandten sich allerdings nur an »rassisch einwandfreie« Mütter. Sie reichten von der Gewährung von Sachspenden und freiwilliger Arbeitsleistung für werdende Mütter bis zu Erholungsmaßnahmen und Hilfe bei der Arbeitssuche. Vgl. Ruhl, Familienpolitik, S. 484; Mühlfeld u. Schönweiss, S. 201; Pine, S. 23 ff. Ausführlich dazu Vorländer, S. 62 ff.; Sachße u. Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 110 ff. 87 Die Reform von 1942 (RGBl. I, S. 321) weitete den Mutterschutz, der zuvor nur für das Gewerbe gegolten hatte, auf weitere – nichtjüdische deutsche – Bevölkerungsgruppen aus, verbesserte den Kündigungsschutz und verdoppelte das Wochengeld auf die Höhe des vollen Lohns. Das NS-Mutterschutzgesetz galt lange als modern. Vgl. Schulz, Soziale Sicherung, S. 125 f. Vgl. dazu auch Sachse, Siemens, S. 47–53; dies., Mutterschutzgesetz. 88 Gesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit v. 1.6.1933 (RGBl. I, S. 323). Vgl. dazu auch Voegeli u. Willenbacher, S. 17 ff.; Mühlfeld u. Schönweiss, S. 203 ff.; Schulz, Soziale Sicherung, S. 135 f. 89 Schulz, Soziale Sicherung, S. 135. 90 Vgl. Durchführungsverordnung über die Gewährung von Ehestandsdarlehen v. 20.6.1933 (RGBl. I, S. 377). 91 Vgl. Drittes Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Förderung der Eheschließung v. 3.11.1937 (RGBl. I, S. 1158). 92 Vgl. Voegeli u. Willenbacher, S. 19 f.; Schulz, Soziale Sicherung, S. 124 ff.

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Die NS-Familienpolitik war insgesamt von einer horizontalen Umverteilung von den Ledigen bzw. kinderlos Verheirateten zu den Familien geprägt. Die Mehrheit der Maßnahmen wurde durch die zusätzlichen, meist steuer­ lichen Belastungen kinderloser bzw. kinderarmer Haushalte (bis zwei Kinder) finanziert. Demgegenüber spielte die vertikale Umverteilung zwischen den sozialen Schichten in der NS-Finanz- und Steuerpolitik so gut wie keine Rolle.93 Obwohl bekannt war, dass sich gerade die indirekte Besteuerung besonders familienfeindlich auswirkte, ging der NS-Staat mehr noch als die Weimarer Republik dazu über, das Steueraufkommen durch die Erhöhung der indirekten Steuern zu steigern. Trotz verschiedener Ausbaumaßnahmen blieb der NS-Staat somit letztlich hinter seinen propagandistischen Zielen zurück: Der Kinderreichtum blieb aus. Zwar nahm die Zahl der Eheschließungen und der Geburten in den dreißiger Jahren zu.94 Der langfristige und säkuläre demographische Trend einer sinkenden Kinderzahl pro Ehe wurde jedoch nicht aufgehalten. Geboren wurden vor allem erste und zweite Kinder.95 Auch von einer radikalen Umorientierung in der Konzeption der Familienförderung konnte keine Rede sein – gerade in der Steuerpolitik kamen die bereits bekannten Effekte zum Tragen. Der »familienpolitische Sparhaushalt«96 stand im Gegensatz zur angeblich zentralen Stellung der Familienpolitik im »Dritten Reich«. Dennoch erhöhten die Nationalsozialisten im Vergleich zur Weimarer Republik den Anteil der Familienleistungen am Sozialbudget und schufen mit der Kombination aus Kindergeld und Steuerentlastung ein vergleichsweise modernes Instrument der Familienförderung. Die nationalsozialistische (monetäre)  Familienpolitik war jedoch keineswegs Vorreiter in Europa. Unterschiedliche Systeme von Familienzulagen, die einen Ausgleich der Familienlasten vorsahen, gab es in den dreißiger Jahren neben Frankreich auch in Belgien, Italien, Spanien und Ungarn97 – dort waren sie allerdings frei von rassistischen Diskriminierungen und eugenischen Kontrollen. Die Entwicklung in Frankreich erreichte mit dem unmittelbar vor Kriegsausbruch verabschiedeten »Code de la Famille« (1939) einen vorläufigen Höhepunkt. Dieses europa- und weltweit beispiellose Gesetzgebungswerk kodifizierte die existierenden familienpolitischen Einrichtungen und Praktiken und baute sie weiter aus.98 Künftig wurden den Familienvorständen aller Berufs93 Vgl. dazu Soder, insb. S. 90 f. 94 Vgl. Ruhl, Familienpolitik, S. 486 f.; Knodel, S. 5. 95 Vgl. Niehuss, Die Familie, S. 218 f. Zur Diskussion der pronatalistischen Effekte der Ehestandsdarlehen vgl. auch Mühlfeld u. Schönweiss, S. 215 ff. 96 Mühlhaus u. Schönweiss, S. 203. 97 Ergebnis der vom internationalen Arbeitsamt 1940 veranlassten Umfrage über die staatliche Gesetzgebung bezüglich Familienzulagen, vgl. David, S. 188. Nach einer erneuten Umfrage von 1947 waren es 21 europäische Länder, 30 weltweit. Zu den Unterschieden bei der Organisation der Familien- und Kinderbeihilfeprogramme sowie den unterschiedlichen Zielsetzungen vgl. ebd.; Bahle, S. 74 ff.; Gauthier, S. 45 ff. 98 Vgl. dazu ausführlich Schultheis, S. 337 ff.; Leclerc, S. 569 ff.

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gruppen, ob Arbeitnehmer in Industrie, Beamte, Landwirte oder Freiberufler, Familienbeihilfen gewährt. Familien ohne Erwerbseinkommen erhielten aus einer neu eingerichteten »Familienfürsorge« Unterstützung. Die Beihilfen waren nach Kinderzahl gestaffelt. Zusätzlich wurde eine Prämie für die erste Geburt und ein sog. »Müttergehalt« (»allocation de la mère au foyer«) eingeführt.99 Die Struktur der verbandlichen Familienausgleichkassen (»Caisses de compen­ sation«) blieb erhalten, so dass die Arbeitgeber weiterhin die Hauptlast der Finan­zierung trugen. Das durch den »Code de la Famille« begründete System von Familienhilfen und -leistungen hatte auch während des Krieges Bestand und wurde 1945 mit nur wenigen organisatorischen Veränderungen in das System der »Sécurité Sociale« integriert.100 1.4 Besatzungszeit: Versuch eines Neuanfangs Die Kontinuität und Stabilität der französischen Familienpolitik nach 1945 stand im Kontrast zum familienpolitischen Vakuum, das sich während der Besatzungszeit in Deutschland ausbreitete. Der Alliierten-Kontrollrat griff in die bestehende Praxis der Familienförderung ein und beseitigte eine Reihe von staatlichen Vergünstigungsmaßnahmen für Familien, darunter das Ehestandsdarlehen und die direkten Kinderbeihilfen.101 Damit sollte ein Bruch mit der menschenverachtenden NS-Bevölkerungs- und Rassenpolitik markiert werden.102 Daneben spielte – ähnlich wie bei der Aufhebung und Kürzung anderer sozialer Leistungen – die prekäre Finanzlage eine nicht unerhebliche Rolle. Insgesamt war das Verhalten der Alliierten aber ein Indiz dafür, wie sehr die NSZeit die familienpolitischen Debatten im Nachkriegsdeutschland belastete.103 Im Unterschied zu den direkten Transferleistungen erlaubte es die WestAlliierten-Gesetz­gebung weiterhin, die Kinderzahl bei der Lohn- und Einkommensteuer zu berücksichtigen. Jedoch wurden auch diese steuerrechtlichen Vergünstigungen von der bevölkerungspolitisch motivierten Komponente bereinigt. So entfiel die Steuerklasse II, die bis dahin für die Verheirateten gegolten hatte, die nach fünfjähriger Dauer ihrer Ehe kinderlos geblieben waren. Der 99 Das Müttergehalt wurde 1941 durch die Einzellohnzulage (»allocation de salaire unique«) abgelöst. Es sollte den Verlust eines möglichen Erwerbseinkommens der Mütter ausgleichen. Vgl. dazu Schultheis, S. 346 f. 100 Vgl. dazu Bremme, S. 185 ff. 101 Das in der Literatur mehrfach erwähnte Verbot der Kinderbeihilfen (beispielsweise Beckendorff, S. 21) geht aus den Dokumenten des Kontrollrats nicht direkt hervor, sondern lässt sich nur indirekt aus den alliierten Weisungen an die deutschen Finanzämter belegen. Vgl. Münch, Familienpolitik, Bd. 2, S. 646; Nelleßen-Strauch, Kindergeld, S. 28. Lediglich für die Länder Baden und Bayern sind entsprechende Verfügungen vom Juli 1945 nachweisbar (BA, B 153/733). 102 Vgl. Beckendorff, S. 21; Münch, Familienpolitik, Bd. 2, S. 652. 103 Vgl. Münch, Familienpolitik, Bd. 2, S. 652; Ruhl, Unterordnung, S. 162 f.

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Ehebonus der vormals Steuerklasse III, jetzt II, wurde damit halbiert.104 Die Kinderfreibeträge setzten die Alliierten insgesamt niedrig an. Gewährt wurden 1946 zunächst jährlich 400 Mark, ab 1948 sodann 600 DM pro Kind; für die Ehefrau galt der gleiche Freibetrag.105 Nach einer statistischen Auswertung der Volkszählung in der Bizone aus dem Jahre 1946 durch den Frankfurter Verwaltungsrat lag das Einkommen der Hälfte der Bevölkerung jedoch unter der steuerpflichtigen Grenze.106 Damit konnten diese Familien die Steuerfreibeträge nicht nutzen.107 Die Kinderzuschläge zu verschiedenen Sozialleistungen sowie die Kinderzulagen für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst blieben weitgehend erhalten; soweit vorhanden, konnten auch Zulagen privater Arbeitgeber weiter gewährt werden. In den Jahren 1947/48 gab es von Seiten westdeutscher Behörden Bemühungen, die direkten Kinderbeihilfen wieder einzuführen. Entsprechende Anträge wurden aber von den Verwaltungseinrichtungen der Besatzungsmächte nicht unterstützt.108 Einzelne Dokumente belegen indes, dass auch innerhalb des Zentralamtes für Arbeit in der Britischen Zone über weitere Maßnahmen zum Ausgleich von Familienlasten nachgedacht wurde.109 Dabei wurde sowohl die »Einführung eines staatlichen Systems des Familien-Lastenausgleichs« er­ wogen als auch die Einrichtung von berufsständisch-organisierten Familienausgleichskassen. Letztere hätten gegebenenfalls, wie in Frankreich, von den staatlichen Stellen durch die Schaffung geeigneter Rechtsgrundlagen unterstützt werden sollen. Jedoch wurden diese Überlegungen nicht in die Tat umgesetzt. Wirkliche Fortschritte in der Familienpolitik konnten schließlich erst erzielt werden, nachdem sowohl die wirtschaftlichen Grundlagen – durch die Währungsreform – sowie die politisch-rechtlichen Grundlagen – nach der Konstituierung der Bundesrepublik – gewährleistet waren.

104 Vgl. Schnabel, S. 15. 105 Vgl. Oeter, Familienpolitik, S. 105 f. 106 Vgl. van Heukelum, S. 213. 107 Da die allgemeine Besteuerung von zehn Prozent, bei der sie vor dem Krieg gelegen hatte, auf vierzig Prozent erhöht wurde, stieg die steuerliche Belastung derjenigen Familien, ­deren Einkommen über der Steuergrenze lagen, beträchtlich an. Vgl. Münch, Familien­ politik, Bd. 2, S. 657. 108 Vgl. Antrag des Kreisamts Vechta auf Wiedereinführung von Kinderbeihilfen v. 8.9.1947 und die Antwort des Präsidenten des Zentralamtes für Arbeit v. 10.4.1948 (BA, B 153/733). Vgl. auch zum Folgenden Münch, Familienpolitik, Bd.  2, S.  662 f.; Ruhl, Unterordnung, S. 163. 109 Interne Schreiben des Zentralamtes für Arbeit in der Britischen Zone von Hauptabteilung IV an Hauptabteilung III v. 30.7.1948 bzw. von Hauptabteilung III an Hauptabteilung IV v. 5.8.1948 (BA, B 153/733) (= Geschichte der Sozialpolitik, Dok. 3/1).

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2. Die soziale Lage der Familien im Nachkriegsdeutschland Wie schon 1918 hatten auch 1945 die Familien besonders unter den Kriegsfolgen zu leiden. Das galt nicht nur für Deutschland als Ganzes, sondern auch für alle anderen von Krieg und Zerstörung betroffenen Länder Europas. Zum Kampf ums Überleben, gegen Hunger, Kälte und Krankheit, traten die Zerstörung von Wohnraum und Infrastruktureinrichtungen sowie die Ungewissheit über die soziale und politische Zukunft. Viele Familien hatten Angehörige verloren; andere waren durch Flucht und Vertreibung auseinandergerissen worden. Zahllose Ehemänner und Familienväter befanden sich noch in Kriegsgefangenschaft oder galten als vermisst. Die nachfolgenden Kapitel erörtern die Veränderungen der Familienstrukturen und -verhält­nisse in der Nachkriegszeit. Sie zeigen die Bedingungen und Herausforderungen der Familienpolitik der fünfziger Jahre in der Bundesrepublik auf. Dabei stellt sich nicht nur die Frage nach den Möglichkeiten, sondern auch nach den Grenzen politischer Einflussnahme auf den Ebenen der Demographie, der sozialen Beziehungen und den sozialökonomischen Verhältnisse. 2.1 Familienleben zwischen Wandel und Stabilisierung nach dem Krieg Die soziale Situation der Familien im Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit ist häufig unter Verwendung von Gegensatzpaaren beschrieben worden: Kontinuität und Wandel, Zerrüttung und Bewährung, Desorganisation und Stabilität.110 Diese Gegenüberstellungen bringen den vielschichtigen, zum Teil auch widersprüchlichen Charakter der Entwicklung in der Nachkriegszeit zum Ausdruck. Die Diagnose des Sowohl-als-auch hat ihre Wurzeln in den soziologischen Untersuchungen der Nachkriegsjahre, die die Situation der Familien zum Teil sehr unterschiedlich beurteilten. So kam Hilde Thurnwald auf der Grundlage einer Untersuchung von 1948 über 498 Berliner Familien zu dem Schluss, dass »Erschütterungen aller Grade das gegenwärtige Familienleben in allen Schichten der Bevölkerung mehr oder weniger gefährden«.111 Andere Autoren dagegen, allen voran Helmut Schelsky, sahen gerade in der Institution der Familie einen »Stabilitätsrest in unserer Gesellschaftskrise«.112 110 Vgl. Niehuss, Kontinuität; Willenbacher, Zerrüttung; Wirth. 111 Thurnwald, S. 211. 112 Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie, S. 13. – Ähnlich wie Schelsky argumentierte auch Wurzbacher, der mit dem gleichen Untersuchungsmaterial arbeitete wie Schelsky. Vgl. Wurzbacher, S.  215. Hingegen äußerte Baumert auf der Grundlage seiner Untersuchung Zweifel daran, dass die Stärkung der Familie mehr als ein zeitbedingtes Phänomen darstellte. Vgl. Baumert, S. 187.

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Für eine Stabilisierung sprach, dass es den Familien weitgehend gelang, die Folgen des völligen Zusammenbruchs der staatlichen und wirtschaft­lichen Ordnung für den Einzelnen abzufangen. Familiäre Selbsthilfe ersetzte die ausgefallenen öffentlichen Sicher­heits-, Vorsorge- und Versorgungsleistungen. Nach Ansicht des Familiensoziologen Schelsky gewannen die Familien damit Funktionen zurück, die sie im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung bereits endgültig verloren zu haben schienen.113 Gleichzeitig gab es aber auch deut­ liche Anzeichen für eine Desorganisation und Destabilisierung der fami­liären Verhältnisse. Vor allem die große Zahl an »unvollständigen« Familien und der hohe Anteil an vaterlos aufwachsenden Kindern wirkten beunruhigend. In München war 1946 jede vierte Familie eine sog. »Restfamilie«.114 Nur schwer zu übersehen waren auch die tiefen Risse in den innerfamiliären Beziehungen und die Entfremdungen zwischen den Familienmitgliedern, d. h. sowohl zwischen den Ehepartnern als auch zwischen Eltern, zumeist den Vätern, und ihren Kindern.115 Die Statistiken wiesen eine hohe Scheidungsquote auf, die mit 18,7 Scheidungen auf 10.000 Einwohner 1948 ihren Höhepunkt erreichte; 1939 hatte die Quote noch bei 8,9, 1946 bei 11,2 gelegen.116 Hinzu kam eine kurzfristig deutliche Zunahme von nichtehelichen Geburten.117 Wie die neueren Forschungen herausgestellt haben, muss bei der Beurteilung der Lage der westdeutschen Familien die Zeit vor und nach der Währungs­ reform unterschieden werden.118 In der ersten Phase der extremen Notsituation bis zur Währungsreform überwogen Desorganisations- und Auflösungserschei­ nungen. Die zentralen Versorgungsfunktionen, die in dieser Zeit an die Familie zurückfielen, konnten unter den schwierigen äußeren Umständen und den inneren, emotionalen Belastungen kaum bewältigt werden. Nach der Währungsreform und mit der Verbesserung der wirtschaftlichen Gesamtlage stabilisierten sich jedoch die familiären Beziehungen und es trat eine »Normalisierung« der Entwicklung ein. Es zeigte sich nun, dass die Institution der Familie nur kurzfristig geschwächt worden und insgesamt kein Verfall der sozialen Normen eingetreten war. So stieg beispielsweise der Anteil der Verheirateten an der Bevölkerung seit 1947 wieder an, da zahlreiche Eheschließungen, die im Krieg un-

113 Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie, S. 13. Vgl. auch Wirth, S. 210 f.; Kuller, Familienpolitik, S. 43. 114 Vgl. Niehuss, Strukturgeschichte, S.  40 f. Dazu auch Willenbacher, Zerrüttung, S.  601 f.; Baumert, S. 47 f. 115 Zur »Heimkehrerproblematik« vgl. Niehuss, Strukturgeschichte, S.  106 ff. Vgl. auch die Schilderungen von Thurnwald, S. 191, 197 f. 116 Vgl. Kuller, Familienpolitik, S. 47, 49 f.; Niehuss, Kontinuität S. 322 f. Vgl. auch Baumert, S. 31 ff. 117 Eine Umfrage des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge ermittelte für das Jahr 1951 in Westdeutschland allein 93.000 uneheliche Besatzungskinder. Vgl. Niehuss, Kontinuität, S. 318 f. 118 Vgl. Kuller, Familienpolitik, S. 43; Niehuss, Kontinuität, S. 317.

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terblieben waren, nun nachgeholt wurden (»Heiratsboom«).119 Die Quote der unehelichen Geburten verringerte sich deutlich und auch die Anzahl der Scheidungen ging erneut zurück.120 Gleichzeitig setzten sich in den Familien die traditionellen Rollenbeziehungen allmählich wieder durch.121 Wie vor allem Gerhard Baumert in seiner Darmstädter Familienstudie herausstellte, hatten die Kriegsereignisse die »Intensität« der Entwicklung der Familie beeinflusst, nicht jedoch ihre grundsätzliche Richtung.122 2.2 »Heimchen am Herd«? Berufstätigkeit von (Ehe-)Frauen und Müttern Während sich Eheschließungs-, Ehescheidungs- und Geburtenraten Ende der vierziger Jahre in der Bundesrepublik wieder auf dem Vorkriegsniveau einpendelten und sich die innerfamiliären Beziehungen – zumindest nach außen hin – wieder zu stabilisieren begannen, blieb die Berufstätigkeit von Frauen ein Thema, das die Gemüter erregte. Die Umbruchzeit nach dem Krieg, in der auf die verstärkte Nachfrage nach weiblichen Arbeitskräften Entlassungen gefolgt waren, hatte die Frauen insgesamt nicht vom Arbeitsmarkt verdrängt. Die Zahl der arbeitsuchenden Frauen nahm vor allem nach der Währungsreform wieder zu. Zwischen Juni 1948 und Dezember 1950 erhöhte sich die Zahl der Lohn- und Gehaltsempfänger bei den Frauen um 519.000, bei den Männern dagegen nur um 184.000.123 Die Zahl der Erwerbspersonen betrug 1950 21,7 Millionen, von denen zwei Drittel Männer und ein Drittel Frauen waren.124 Auch die Erwerbstätigkeit von Ehefrauen und Müttern nahm seit 1950 wieder zu. Betrachtet man den Zeitraum zwischen 1950 und 1962, so kamen in diesen zwölf Jahren 1,9 Millionen Ehefrauen als Erwerbstätige hinzu. Von dieser Zunahme war nur die eine Hälfte auf den Bevölkerungszuwachs zurückzuführen, die andere auf die höhere Erwerbsbeteiligung verheirateter Frauen. Unter ihnen stellten die Mütter den größten Anteil. Die Zunahme betrug bei ihnen 74  Prozent, bei den verheirateten Frauen ohne Kinder dagegen 57  Prozent.125 Analysiert man die Situation aus der Perspektive der Kinder, so wuchsen 1957 von den 11,2 Millionen Kindern unter 18 Jahren aus den vollständigen Familien Westdeutschlands 7,9 Millionen (70,5  Prozent) bei nichterwerbstätigen Müt119 Vgl. Horstmann, Hauptergebnisse, S. 48. Vgl. dazu auch Kuller, Familienpolitik, S. 46 f. 120 Vgl. Die gerichtlichen Ehelösungen im Jahre 1950, in: Wirtschaft u. Statistik 4 (1952), S. 161–163. 121 Vgl. Münch, Familienpolitik, Bd. 2, S. 651 f.; Kuller, Familienpolitik, S. 43. Vgl. dazu auch die Ergebnisse von Baumert, S.  119 ff.; Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie, S. 192 ff. 122 Baumert, S. 186 f. 123 Vgl. Niehuss, Kontinuität S. 324. Vgl. auch Ruhl, Unterordnung, S. 98 ff. 124 Vgl. Horstmann, Hauptergebnisse, S. 49. 125 Vgl. Pfeil, Die Frau, S. 145.

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tern auf; 2,0 Millionen (18 Prozent) wuchsen bei selbständigen oder mithelfenden Müttern und 1,3 Millionen bei außerhäuslich erwerbstätigen Müttern auf. Mütter von Kindern unter 6 Jahren waren dabei häufiger erwerbstätig als Mütter von Kindern zwischen 6 und 18 Jahren.126 Obwohl offenbar immer weniger Frauen die Eheschließung als plausiblen Grund dafür ansahen, ihre Erwerbstätigkeit aufzugeben, blieb das traditionelle »Ernährer-Hausfrau/Zuverdienerin-Modell« für die familienpolitische Restaurationsphase der fünfziger Jahre in der Bundesrepublik konstitutiv.127 Aber nicht nur Männer befürworteten das traditionelle Familienmodell.128 Auch viele erwerbstätige Frauen, insbesondere in den unteren sozialen Schichten, äußerten den Wunsch, ihre Arbeit aufgeben und sich nur noch dem Hausfrauendasein widmen zu wollen.129 Als häufiger Beweggrund wurde das Pflicht­ gefühl gegenüber der Familie genannt. Weiter gaben die Frauen an, an der häuslichen Tätigkeit ebensoviel oder mehr Freude zu haben, als an der beruflichen.130 Diese Selbstaussagen spiegeln wider, wie verinnerlicht die Rollenzuschreibungen waren. Gleichzeitig muss jedoch auch berücksichtigt werden, dass Frauen, wenn sie nur schlecht ausgebildet waren, zumeist nur geringwertige Arbeiten ausübten. Erst mit steigender Qualifikation spielten für die Berufstätigkeit auch persönlichkeitsorientierte Motive eine Rolle.131 Nicht zuletzt war die Erwerbstätigkeit für die Ehefrau und Mutter auch immer eine Zusatzbelastung, ein »zweiter Beruf«. Öffentliche Hilfen und Unterstützungen bei der Kinder­ betreuung, vor allem Kindergartenplätze, standen nur in geringem Ausmaß zur Verfügung.132 Mit steigender Kinderzahl nahm daher die außerhäusliche Erwerbstätigkeit von Müttern rapide ab.133 Die Öffentlichkeit – bestehend aus einer Allianz ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte, darunter Kirchenvertreter, Mediziner und Soziologen – brachte der Berufstätigkeit von Ehefrauen und Müttern insgesamt wenig Verständnis entgegen. Nicht nur sahen sich die berufstätigen Frauen dem Vorwurf ausgesetzt, sie würden den Männern den Arbeitsplatz wegnehmen oder ihre 126 Vgl. ebd., S. 148. 127 Vgl. Kuller, Familienpolitik, S. 65. 128 Am konservativsten waren in dieser Hinsicht die Arbeiter, von denen 35 Prozent die Erwerbstätigkeit ihrer Ehefrauen ausdrücklich missbilligten, 32 Prozent nur widerwillig duldeten. Dagegen zeigten Ehemänner aus höheren Bildungsschichten eine positivere Einstellung. Vgl. Pfeil, Die Frau, S. 156. 129 90  Prozent der in einer Berliner Erhebung befragten Arbeiterinnen und 80  Prozent der Angestellten hätten ihre Arbeit sofort aufgegeben, wenn sie gekonnt hätten, dagegen nur ein Drittel der Lehrerinnen und nur ein Elftel der Frauen in freien Berufen. Vgl. Pfeil, Berufstätigkeit. Vgl. dazu auch Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie, S. 311. 130 Vgl. Pfeil, Berufstätigkeit, S. 214 (Tab. 24). 131 Vgl. Pfeil, Die Frau, S. 152 f. 132 Vgl. ebd., S. 161. Dazu ausführlicher auch Kuller, Familienpolitik, S. 68 f. (Tab. 4); Niehuss, Kontinuität, S. 327 f. 133 Vgl. Horstmann, Die Frau, S. 327; Die Erwerbstätigkeit von Frauen nach der Struktur ihrer Familien, in: Wirtschaft u. Statistik 12 (1960), S. 41.

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häuslichen und mütterlichen Pflichten verletzen. Auch wurde behauptet, dass außerhäusliche Arbeit ihrer körperlichen und seelischen Beschaffenheit nicht entspräche.134 Gesellschaftlich respektiert war lediglich, wenn eine alleinstehende oder verwitwete Frau, die Angehörige oder Kinder zu versorgen hatte, einer beruflichen Tätigkeit nachging.135 Die Erwerbstätigkeit von Müttern aus den unteren Gesellschaftsschichten wurde ebenfalls toleriert, wenn deren Mitarbeit für den Lebensunterhalt unerlässlich war. Eine weitere anerkannte Variante der Frauenerwerbsarbeit war die Mitarbeit von Frauen im eigenen landwirtschaftlichen oder gewerblichen Betrieb.136 Mit steigendem Einkommen bzw. steigender sozialer Stellung des Ehe­mannes nahm die Berufstätigkeit der Frauen in abhängiger, außerhäuslicher Stellung insgesamt ab.137 So waren etwa 4 Prozent der Ehefrauen von Beamten im einfachen und mittleren Dienst abhängig erwerbstätig. Diese Erwerbsquote sank auf 1,8 Prozent für Ehefrauen von Beamten im höheren Dienst. Dagegen war fast jede zehnte Ehefrau eines einfachen Angestellten bzw. eines Arbeiters (außerhalb der Landwirtschaft) außerhäuslich erwerbstätig.138 Die häufigere Erwerbstätigkeit von Ehefrauen in den unteren, wirtschaftlich schwächeren Schichten hatte, so ist zu vermuten, vor allem finanzielle Gründe. Im Gegensatz zur Bundesrepublik war die Berufstätigkeit von Frauen und Müttern in der DDR ausdrücklich erwünscht. Dem staatlichen Leitbild entsprechend sollte die Frau zugleich Mutter, erwerbstätig und gesellschaftlich engagiert sein.139 Die Propagierung der Frauenerwerbstätigkeit hatte zum einen ideologische Gründe: die Selbstverwirklichung durch Arbeit war ein marxistischer Grundsatz. Zum anderen half sie den herrschenden Arbeitskräftemangel zu reduzieren. Grundlage und Voraussetzung für die Einbeziehung der Frauen in die Erwerbsarbeit und die angestrebte Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern war das »Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau« von 1950.140 Es sah Maßnahmen zur Verbesserungen der Stellung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt und den Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen vor. Die Entwicklung in der DDR verlief damit Anfang der fünfziger Jahre konträr zur Bundesrepublik. Auch einige westeuropäische Wohlfahrtsstaaten wiesen Frauen und Müttern nicht automatisch die Rolle der Hausfrau zu. Allen voran die skandinavischen 134 Vgl. dazu Kuller, Familienpolitik, S. 68 f. 135 Die öffentliche Meinung war sogar so entschieden gegen die Erwerbstätigkeit von Müttern, dass bei einer Umfrage 1955 59 Prozent der Befragten ein Gesetz befürwortet hätten, das Müttern mit Kindern unter zehn Jahren die Berufsarbeit verbieten sollte. Vgl. Pfeil, Berufstätigkeit, S. 35 f. Vgl. dazu auch Ruhl, Unterordnung, S. 116 ff. 136 Vgl. Pfeil, Berufstätigkeit, S. 15; Horstmann, Die Frau, S. 326. 137 Vgl. Die erwerbstätigen Ehefrauen nach der sozialen Stellung ihrer Männer, in: Wirtschaft u. Statistik 8 (1956), S. 459 f. 138 Vgl. Niehuss, Strukturgeschichte, S. 229. Vgl. auch Baumert, S. 69. 139 Vgl. auch zum Folgenden Schulz, Soziale Sicherung, S. 123 f. 140 DDR-Gesetzblatt, S. 1037. Vgl. Schulz, Soziale Sicherung, S. 127.

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Ländern sorgten durch familienpolitische Maßnahmen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. In Frankreich hatten Frauen die Option, als Mütter erwerbstätig zu sein oder sich – zumindest eine zeitlang – aus dem Erwerbsleben zurückzuziehen. Für beide Optionen waren entsprechende Geld- und Dienstleistungen vorgesehen.141 Die Vorstellung, Erwerbstätigkeit und Mutterdasein ließen sich nicht vereinbaren, war vor allem eine westdeutsche Besonderheit. 2.3 Kinderzahl und soziale Stellung Im Hinblick auf die nachfolgenden Untersuchungen ist die Frage von Bedeutung, ob und inwiefern die Kriegs- und Nachkriegswirren Auswirkungen auf die durchschnittliche Größe der Familien hatten. Gab es in Bezug auf die Kinderzahlen Veränderungen zur Vorkriegszeit? Wie entwickelte sich die Familiengröße in der Stabilisierungszeit der fünfziger Jahre? Anders als zu vermuten wäre, wurde die Entwicklung der durchschnitt­ lichen Familiengröße weder durch die NS-Zeit noch durch den Zweiten Weltkrieg maßgeblich beeinflusst. Der seit Anfang des 20. Jahrhunderts zu beobachtende Abwärtstrend blieb vielmehr bestehen. Hatten um die Jahrhundertwende noch über die Hälfte aller Familien im Deutschen Reich vier oder mehr Kinder gehabt, so lag die durchschnittliche Kinderzahl pro Familie in den 1920er Jahren bei knapp über zwei. In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre und während der Zeit des Zweiten Weltkriegs gingen die Kinderzahlen weiter zurück. Nach dem Krieg und in den fünfziger Jahren war die Zweikinderfamilie der am weitesten verbreitete Familientyp.142 Unterschiede gab es jedoch zwischen Stadt und Land; die Familien auf dem Land waren im Durchschnitt größer als in der Stadt. Vor allem in den Großstädten zeichnete sich nach dem Krieg ein Trend zur Einkindfamilie ab.143 Neben der Ortsgröße gehörte das Heiratsalter der Frauen, die Konfessions­ zugehörigkeit und die soziale Stellung der Familie, d. h. Bildungsstand, Beruf und Einkommen der Eltern, zu den sozialstrukturellen Variablen, die Einfluss auf das generative Verhalten und damit auf die Familiengröße hatten.144 Wie aus den Erhebungen von Merith Niehuss hervorgeht, waren vor allem der Beruf des Ehemannes und sein Einkommen ausschlaggebend für die Zahl der Kinder in einer Familie.145 141 Bemerkenswert ist, dass der französische Geburtenanstieg nach 1940 auch von erwerbs­ tätigen Frauen, und hier inbesondere von Arbeiterinnen, mitgetragen wurde. Vgl. Schultheis, S. 392. Vgl. auch Lessenich u. Ostner, Dynamik; Kuller, Soziale Sicherung. 142 Vgl. Niehuss, Strukturgeschichte, S. 352. 143 Vgl. ebd., S. 358; Schwarz, Kinderzahlen, S. 72 f. Vgl. auch die Ergebnisse der Untersuchung des Instituts zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten Frankfurt a. M. bei Achinger, Reicht der Lohn, S. 23 ff., 61. 144 Vgl. Schwarz, Kinderzahlen, S. 72 ff. 145 Vgl. Niehuss, Strukturgeschichte, S. 360.

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Traditionell die höchste Kinderzahl wiesen die Familien selbständiger Landwirte auf. Das war auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch so.146 Jeweils mehr als ein Viertel der Landwirte der Eheschließungskohorten 1945/49, 1950/54 und 1955/59 hatte vier und mehr Kinder und war somit nach zeitgenössischen Einteilungen als »kinderreich« anzusehen.147 Demgegenüber stellten die übrigen Selbständigen im produzierenden Gewerbe sowie in Handel und Verkehr in Bezug auf die Familiengröße eine heterogene Gruppe dar. Bei ihnen überwog die Zweikinderfamilie, tendenziell neigten sie eher zur Ein-Kind als zur MehrKinder-Familie. Dabei gab es deutliche Unterschiede im Stadt-Land-Vergleich. Die Kinderzahl lag bei den Selbständigen auf dem Land im Schnitt höher als in der Stadt.148 Auch die Arbeiter als größte Berufsgruppe wiesen in den fünfziger Jahren insgesamt niedrige Kinderzahlen auf; diese lagen noch unter dem Durchschnitt der Selbständigen. Lediglich die Arbeiter der Land- und Forstwirtschaft hatten größere Familien. Bei den industriellen und insbesondere den städtischen (Fach-) Arbeiterschichten dominierte hingegen die Ein- bzw. Zweikinder­ familie.149 Einen Sonderfall bildete die Gruppe der ungelernten Arbeiter. Während einerseits ein verhältnismäßig hoher Prozentsatz (17,3  Prozent) kinderlos war, hatten gleichzeitig gut 15 Prozent drei Kinder und über 16 Prozent vier und mehr Kinder.150 Im Vergleich zu anderen Berufsgruppen, auch zu den gelernten bzw. Facharbeitern, gab es somit bei den Ungelernten einen großen Anteil an Ehepaaren, die sich wegen ihres geringen Einkommens keine Kinder leisten wollten. Zugleich hatte aber ein Drittel der ungelernten Arbeiter drei und mehr Kindern, was dafür spricht, dass innerhalb dieses Drittels nur in geringem Maße Geburtenkontrolle betrieben wurde. In diesen Familien war das Armutsrisiko besonders groß. Am niedrigsten waren die Kinderzahlen in den Familien von einfachen Angestellten. Die Einkindfamilie war in den Eheschließungskohorten 1945/49 und 1950/54 eindeutig am häufigsten vertreten.151 Änderungstendenzen deuteten sich erst Ende der fünfziger Jahre an, als plötzlich die Zweikinderfamilie zum beliebtesten Familientyp wurde. Damit reagierten die kleinen Angestellten weit heftiger als andere Berufsgruppen auf den wirtschaftlichen Aufwärtstrend. Sehr ausgeprägt war die Beziehung zwischen Einkommenshöhe und Kinderzahl bei den Beamten.152 Die Beamten hatten in der höchsten Einkommens146 Vgl. Schwarz, Kinderzahlen, S. 74; entsprechend auch die Ergebnisse der Volks- und Berufszählung 1950, in: Wirtschaft u. Statistik 8 (1956), S. 459, sowie die Ergebnisse des Mikrozensus vom Oktober 1957, in: Wirtschaft u. Statistik 12 (1960), S. 41. 147 Vgl. Niehuss, Strukturgeschichte, S. 361. 148 Vgl. ebd., S. 362 f. Vgl. auch Baumert, S. 40 f. 149 Vgl. Schwarz, Kinderzahlen, S. 74. 150 Vgl. Niehuss, Strukturgeschichte, S. 364; Baumert, S. 41 f. 151 Vgl. Niehuss, Strukturgeschichte, S. 367 f.; Schwarz, Kinderzahlen, S. 75. 152 Vgl. Niehuss, Strukturgeschichte, S. 366; Schwarz, Kinderzahlen, S. 76. Vgl. auch Baumert, S. 41.

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gruppe (1.200 DM Monatseinkommen und mehr) in der Regel mehr als zwei Kinder; in der niedrigsten Einkommensgruppe (600 DM und weniger) lag die durchschnittliche Kinderzahl dagegen bei 1,5. Insgesamt standen die Beamten damit an der Spitze aller nicht landwirtschaftlichen Berufsgruppen. Aus der Betrachtung der Kinderzahlen ergibt sich, dass die Zweikinderfamilie im Verlauf der Eheschließungskohorten der fünfziger Jahre in allen sozialen Schichten beträchtlich an Bedeutung gewann. Diese Zunahme von Familien mit zwei Kindern war dabei – anders als noch in der ersten Jahrhunderthälfte – nicht mehr von einer Abnahme der größeren Familien begleitet, sondern, im Gegenteil, von einer Abnahme der kleineren Familien, d. h. der kinderlosen bzw. Einzelkind-Familien vor allem bei den Beamten- und Angestelltenfamilien.153 Das wiederum legt den Schluss nahe, dass die Familien  – nach einer Phase der Geburtenbeschränkung in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit – auf die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation in den fünfziger Jahren reagierten.154 Im Vergleich zur Situation vor 1945 hatte sich damit eine grundlegende Änderung vollzogen: Während noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der höchste Prozentsatz von großen Familien generell in den untersten und obersten sozialen Schichten zu finden war – bedingt durch die mangelnde Geburtenkontrolle in den Unterschichten und nachlassendem wirtschaftlichen Druck in den Oberschichten – und weniger in der Mitte der Gesellschaft, begann sich nun die zwischen den einzelnen sozialen Gruppen deutlich differenzierte Fruchtbarkeit zu nivellieren. Zugleich entwickelten sich die Kinderzahlen deutlich proportional zum Einkommen: In allen Berufsgruppen hatten die ärmeren Familien weniger, die wohlhabenderen Familien tendenziell mehr Kinder.155 Allerdings gab es auch hier Abweichungen, wie die Differenzierung von gelernten und ungelernten Arbeitern zeigt. Auf keinen Fall dürfen die Beobachtungen der Beziehung zwischen Kinderzahl und Einkommen monokausal betrachtet werden; der »urbane« oder »katholische« Effekt konnte den Einkommenseffekt durchaus überlagern und verdrängen. Dennoch ist diese wirtschaftliche Korrelation von besonderer Bedeutung, denn sie entsprach der zeitgenössischen Einschätzung über die Entwicklung von Geburtenund Kinderzahlen.156 Sie bildeten zugleich einen der Ausgangspunkte für den überwiegend materiell ausgerichteten Ansatz der Familienpolitik in der frühen Bundesrepublik. 153 Vgl. Niehuss, Strukturgeschichte, S. 367 f.; Schwarz, Kinderzahlen, S. 77. 154 So auch Niehuss, Strukturgeschichte, S. 368. Zum Folgenden vgl. auch Kuller, Familien­ politik, S. 58. 155 So insbesondere die Ergebnisse des Mikrozensus 1962, vgl. Schwarz, Kinderzahlen, S. 76. Vgl. auch Schmucker, Einfluss, S. 234. 156 So erklärte beispielsweise Edo Osterloh, StS im Bundesfamilienministerium, im Oktober 1954: »Die moderne Familie wünscht nicht mehr Kinder, als sie nach ihrem jeweiligen Lebens­standard auch einigermaßen standesgemäß aufziehen kann. In den verschiedenen Bevölkerungsschichten steht die Kinderzahl heute in direkter Beziehung zum Einkommen«. Zit. nach: Kuller, Familienpolitik, S. 58.

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Interessant ist an dieser Stelle ein Blick auf die Entwicklung der franzö­sischen Geburtenrate, die nach Jahrzehnten der Stagnation seit 1945 einen bedeutenden Anstieg verzeichnete. Mit 20,7 Lebendgeburten pro tausend Einwohner lag Frankreich 1950 deutlich vor der Bundesrepublik (16,5).157 Zeitgenössische Beobachter rechneten diesen Anstieg der verbesserten familienpolitischen Gesetzgebung seit 1939 zu. Bezeichnender Weise wurde der Geburtenzuwachs durch einen überproportionellen Anstieg der Zweit- und Drittgeburten ge­ tragen. Gerade für diese hatte der »Code de la Famille« besonders hohe Kompensationsleistungen vorgesehen.158 Dennoch scheint ein unmittelbarer Zusammenhang, zumal innerhalb dieses kurzen Zeitraums, fraglich. Eine größere Bedeutung hatten höchstwahrscheinlich auch in Frankreich sozialökonomische und sozial­kulturelle Faktoren. Die französische Politik jedoch war von der Wirksamkeit der im »Code« institutionalisierten familienpolitischen Maßnahmen überzeugt. Der Umfang der Unterstützungen für Familien wurde nach der Libération nochmals erhöht. Auch in der Bundesrepublik dürfte dieser augenscheinliche Erfolg der französischen Familienpolitik nicht unbemerkt geblieben sein.159 2.4 »Kind als Kostenfaktor«:160 Familieneinkommen und Lebenshaltung Nach den eingehenden Analysen der Familienstrukturen in der Nachkriegs­zeit ist im Folgenden nach den sozialökonomischen Verhältnissen der Familien zu fragen: Wie weit reichte das Einkommen des »Ernährers« und wie wirkte sich das Vorhandensein von Kindern auf den Lebensstandard, auf die soziale Stellung der Familie aus? Allgemein lässt sich feststellen, dass die Kosten für den Unterhalt und die Erziehung von Kindern seit dem Übergang von der Agrar- in die Industrie­ gesellschaft und mit der Auflösung der Familie als »Konsumtions- und Produktionsgemeinschaft« erheblich gestiegen waren.161 Der technische Wandel und die Änderung der Arbeitsverhältnisse hatten auch einen Wandel der familiären Strukturen und insbesondere des Familienhaushaltes bewirkt. Im Vergleich zu früher wurden die Kinder immer seltener im eigenen Familienbetrieb als Arbeitskräfte eingesetzt. Der Leistung des Haushaltes stand keine Gegenleistung der Kinder mehr gegenüber. Die schnell vorwärts schreitende technische und wirtschaftliche Entwicklung stellte darüber hinaus höhere Anforderungen an den berufstätigen Menschen und machte eine längere und gründlichere 157 Vgl. Bremme, S. 192; Schultheis, S. 389 f. 158 Schultheis, S. 391. 159 Vgl. Niehuss, Family Policy, S. 302. 160 Schmucker, Das Kind als Kostenfaktor. 161 Vgl. dazu auch Stein, S. 38 ff.

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Schul- und Berufsausbildung erforderlich. Der Eintritt der Kinder ins Erwerbsleben verzögerte sich.162 Mit den steigenden Realeinkommen stiegen auch das Anspruchniveau und die Konsumnorm der Familien. Dementsprechend waren die Ausgaben für die Kindererziehung ebenfalls höher. Wie bereits erörtert wurde, war in der Nachkriegszeit die Ehefrau in Familien unterer sozialer Schichten häufiger erwerbstätig als in Familien höherer Schichten. Der Druck materieller Not machte die Mitarbeit der Ehefrau notwendig. War die Einkommenssituation der Ehemannes etwas besser, so diente der Hinzuverdienst der Ehefrau dazu, den Lebensstandard zu verbessern bzw. die Verluste aus der Kriegszeit wieder auszugleichen. Engpässe gab es häufig zu Beginn der Ehe beim Aufbau eines eigenen Hausstandes sowie zum Zeitpunkt der Berufsausbildung der Kinder.163 Während bei den Beamten und den Beschäftigten im öffentlichen Dienst die Einkommen mit dem Alter anstiegen, erreichten die Arbeiter in den meisten Berufen die höchsten Durchschnittsverdienste im Alter von etwa 40. Jahren. Somit waren die Arbeiterverdienste häufig schon wieder im Absinken begriffen, wenn die Belastung der Berufsausbildung der Kinder auf die Familien zukam.164 Besonders schwierig war die finanzielle Situation für alleinstehende oder geschiedene Frauen und junge Witwen mit Kindern, d. h. für sog. »unvollständige Familien«. Die staatlichen Zuwendungen an Kriegswitwen und -waisen wurden erst 1950 im Bundesversorgungsgesetz einheitlich geregelt; angesichts der großen Zahl Anspruchsberechtigter und der dürftigen Finanzlage des Bundes fielen die Leistungen aber gering aus.165 Da die Mehrzahl der Witwen und alleinerziehenden Mütter auf außerhäusliche Erwerbstätigkeit angewiesen war, traf sie das Problem der Ende der vierziger Jahre aufkommenden Arbeitslosigkeit und die Verdrängung der Frauen vom Arbeitsmarkt durch die aus dem Krieg zurückgekehrten Männer in besonderer Weise. Eine gewisse Verbesserung der wirtschaftlichen Lage trat in den Haushalten ein, in denen weitere Angehörige lebten, die entweder ein Einkommen (z. B. ältere Kinder) oder eine Rente (Großeltern) bezogen.166 Die finanziellen Probleme nahmen mit steigender Kinderzahl zu. Das galt nicht nur für die »Rest«-, sondern auch für die sog. »Vollfamilien«. Waren statt zwei Kinder drei, vier oder fünf Kinder vorhanden, so reichte ein Einkommen 162 Vgl. auch die Darstellung über den »Wandel der soziologischen Situation der Familie« in der Denkschrift »Der Familienlastenausgleich« des Bundesministers für Familien von 1955 (BA, B 136/6134). 163 Vgl. Pfeil, Berufstätigkeit, S. 19 f.; Niehuss, Kontinuität, S. 324. 164 Zur gegenläufigen Entwicklung der Einkommens- und der Kostenkurve für Kinder während des Familienzyklus vgl. ausführlicher Schmucker, Das Kind, S. 195 ff.; dies. u. a., Die ökonomische Lage, S. 29 ff. 165 Vgl. Willenbacher, Zerrüttung, S. 602; Niehuss, Kontinuität, S. 320 f. Vgl. auch Trompeter, S. 193. 166 Zur Haushaltslage verwitweter oder geschiedener Frauen vgl. auch Horstmann, Die Frau, S. 328; Schmucker, Studie, S. 38 ff.

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alleine kaum aus; die Frau wurde aber häufig durch die Kinder an der Aufnahme einer außerhäuslichen Tätigkeit gehindert. In diesem Fall war das Armutsrisiko in den unteren sozialen Schichten, d. h. vor allem bei den un- und angelernten Arbeitern sowie den einfachen Angestellten, besonders groß. Etwas einfacher war die Situation bei den Selbständigen in der Landwirtschaft. Hier ließen sich die Familienpflichten der Frauen und die Tätigkeit als »mithelfende Familienangehörige« besser verbinden, was sich auch in allgemein höheren Kinderzahlen widerspiegelte.167 Anders als es Schlagworte wie »Wirtschaftswunder« oder »Konsumgesellschaft« suggerieren, waren die Einnahmen und Ausgaben von Vier-PersonenArbeitnehmer­haus­halten bis weit in die fünfziger Jahre eher bescheiden.168 Zwischen 1950 und 1960 verdoppelten sich zwar die Einnahmen dieser Haushalte, zugleich nahmen aber auch die Kosten für die Lebenshaltung in ähnlichem Umfang zu. Der »starre« Bedarf, der nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes Nahrungsmittel, Wohnung, Heizung und Beleuchtung umfasste, machte 1950 noch 62,3 Prozent der gesamten Ausgaben aus. Erst 1957 gaben die Haushalte mit 50,2 Prozent mehr für den »elastischen« als für den »starren« Bedarf aus.169 Wenn das Ende der fünfziger Jahre den Übergang zu einer Phase des großzügigeren Konsums und Wohlstands markierte, so galt das nur eingeschränkt für Familien mit drei und mehr Kindern. Selbst wenn man berücksichtigt, dass durch rationellere Haushaltsführung mit wachsender Kinderzahl gewisse Kostensenkungen erzielt werden konnten,170 blieb der »starre« Bedarf bei kinderreichen Familien als größter Ausgabeposten bestehen.171 Gerhard Baumert ist es in seiner Darmstädter Studie über die »Deutschen Familien nach dem Kriege« gelungen, besonders eingängig zu zeigen, dass die Familiengröße einen ebenso entscheidenden Faktor für den Lebensstandard einer Familie darstellte wie das Einkommen. Wie aus seinen Aufstellungen hervorgeht, verschoben sich die üblichen Differenzierungen zwischen Einkommen und sozialer Stellung erheblich, wenn die Größe der Familie mit berücksichtigt wurde.172 167 Vgl. S. 202. 168 Vgl. Wildt, Privater Konsum, S. 276 ff.; vgl. auch ders., Ende der Bescheidenheit. 169 Wildt, Privater Konsum, S.  280. Vgl. auch: Der Verbrauch in Arbeitnehmerhaushalten 1960, in: Wirtschaft u. Statistik 13 (1961), S. 259–265. 170 Den statistischen Unterlagen aus den Erhebungen von Wirtschaftsrechnungen zufolge wurden in 5-Personen-Haushalten in der Altersgruppe von 6–10 Jahren für das dritte Kind nur mehr rd. 73 Prozent der für das erste Kind verzeichneten Aufwendungen gemacht. Vgl. Schmucker, Das Kind, S. 301. Vgl. dazu auch die Denkschrift des Familienministers »Der Familienlastenausgleich« (BA, B 136/6134), S. 9. 171 Nach den Ergebnissen der Einkommens- und Verbrauchsstatistik 1962/63 lag bei den Ehepaaren mit zwei Kindern der Anteil der Ausgaben an Nahrungs- und Genussmitteln in der Einkommensschicht unter 600 DM bei 50,3 Prozent, in der Einkommensschicht zwischen 600 und 800 DM bei 47,1 Prozent. Vgl. Bericht der Bundesregierung über die Lage der Familien (BT-Drs. V/2532), S. 134 (Tab. 92). 172 Vgl. Baumert, S. 77 ff.

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Neben der Familiengröße und der Einkommenshöhe beeinflusste auch das Alter der Kinder die wirtschaftliche Situation der Familien. Wie die Berechnungen von Helga Schmucker173 über die Verbrauchsausgaben von Haushalten aus den fünfziger Jahren verdeutlichen, nahmen mit steigendem Alter auch die Ausgaben für ein Kind rasch zu. Mit 16 Jahren ergab sich annähernd eine Verdoppelung der Kosten, die für ein Kleinkind im Alter von 1–6 Jahren anfielen.174 Die realen Ausgaben für Ernährung, Bekleidung und Freizeit, aber auch für Schul- und Berufsausbildung, variierten dabei je nach Einkommenslage der Eltern. So gaben die Eltern in der höchsten Einkommensklasse (Monatsnettoeinkommen von 425 DM und mehr) 144 DM monatlich für ihr 14 bis 19 Jahre altes Kind aus, die Familien der untersten Einkommensstufe (Monatsnettoeinkommen bis unter 300 DM) dagegen nur 84 DM, mehr als 40 Prozent weniger.175 Es zeigte sich außerdem, dass Angestellten- und Beamtenfamilien sowie Familien von Selbständigen in den nichtlandwirtschaftlichen Bereichen einen unverhältnismäßig hohen Anteil an den in einer längeren Ausbildung stehenden Jugendlichen stellten.176 Fragt man schließlich danach, welches zusätzliche Einkommen ein Ehepaar benötigte, um nach der Geburt eines Kindes ihr Lebensniveau beizubehalten, so ergaben eine Reihe von Untersuchungen der fünfziger Jahre, dass hierfür eine Erhöhung des bisherigen Einkommens um durchschnittlich 22 bis 28 Prozent erforderlich sei.177 Da sich die Einkommen bei den meisten Arbeitnehmern und Selbständigen bei der Geburt eines Kindes aber nicht erhöhten, führte das zwangsläufig zur Schlechterstellung von Familien mit Kindern gegenüber Kinderlosen. Dieses Ungleichverhältnis wurde dadurch noch verstärkt, dass sich die Lasten für Unterhalt und Erziehung von Kindern äußerst ungleichmäßig auf die Haushalte der Gesamtbevölkerung verteilten. Nur etwa ein Drittel der Haushalte trugen Mitte der fünfziger Jahre die Lasten für mehr als die Hälfte der Kinder unter 18 Jahren und damit für alle zweiten und weiteren Kinder.178 Stellte man darüber hinaus in Rechnung, dass quer durch alle Einkommensschichten und sozialen Gruppen das Lebensniveau aber gerade durch den Lebens- und Konsumstil der Haushalte ohne Kinder oder mit nur einem Kind geprägt wurde, so trat die Benachteiligung der Familien klar hervor. Nach Schätzungen von Schmucker lebten 1955 in Bayern rund 12 Prozent

173 Schmucker war in den fünfziger Jahren als Referentin für volkswirtschaftliche Gesamtrechnung im Bayerischen Statistischen Landesamt tätig und seit 1959 Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat beim BMFa. 174 In der untersten Einkommensgruppen betrugen die Verbrauchskosten für ein Kind im Alter von 1–6 Jahren 40 DM, für ein Kind im Alter von 14–19 Jahren dagegen 84 DM. Vgl. Schmucker, Das Kind, S. 301. 175 Vgl. ebd. 176 Vgl. ebd., S. 280, 299. 177 Vgl. ebd. S. 282. 178 Schmucker u. a., Die ökonomische Lage, S. 13, 16.

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der Familien und etwa 20  Prozent der Kinder in der sog. »Bedrängniszone«, d. h. der je Kopf verfügbare Einkommensbetrag – 1955 waren das 800 DM im Jahr – reichte nicht mehr für eine als angemessen empfundene Lebenshaltung aus. Von den Vier-Kinder-Familien lebten mehr als die Hälfte in der »Bedrängniszone«; bei den Familien mit fünf oder sechs Kindern lag dieser Anteil sogar bei über 70 Prozent.179 Im Ergebnis zeigten alle in den fünfziger Jahren aufgestellten Berechnungen und Analysen, dass sich im Falle des Vorhandenseins von Kindern die üb­ lichen Korrelationen zwischen Einkommen und sozialer Stellung ganz erheblich verschoben. Kinder trugen allgemein zur Senkung des Lebensstandards bei. Allerdings konnten Familien in den höheren Einkommens- und Berufsklassen insgesamt mehr für ihre Kinder aufwenden, ohne dass dies einen entsprechend größeren Anteil des Einkommens beanspruchte; der Kostenanstieg blieb hinter der Einkommensdifferenz zurück. Das Armutsrisiko war mithin bei einer sechsköpfigen Arbeiterfamilie ungleich größer als beispielsweise bei einer sechsköpfigen Beamtenfamilie, auch wenn letztere für die Erziehung ihrer Kinder mehr ausgab. Die beschriebenen Wechselbeziehungen und unterschiedlichen Wirkmechanismen spielten eine entscheidende Rolle bei der Frage, wie der soziale Ausgleich der Familienlasten in der Bundesrepublik angelegt werden sollte: War das Ziel, generell die Kinderreichen mit den Kinderlosen gleichzustellen oder sollte vor allem armen Familien geholfen werden? Stand der sechsköpfigen Beamtenfamilie die gleiche Unterstützungsleistung zu wie der sechsköpfigen Arbeiter­ familie oder eine höhere oder geringere? Im Kern ging es darum zu entscheiden, ob allen Familien mit gleicher Kinderzahl ein gleich hoher Familienlastenausgleich gewährt werden sollte oder ob der Ausgleich der Familienlasten abhängig vom Einkommen der Eltern und damit »schichtintern« erfolgen sollte. Weitere Entscheidungen betrafen den Personenkreis, der durch den Familienlasten­ ausgleich erfasst werden sollte, die Höhe der Ausgleichzahlungen sowie eine mög­liche Staffelung nach Anzahl und Alter der Kinder. Hierbei, wie auch beim Problem der Finanzierung und der Organisation der familiären Hilfe­ leistungen, gingen die Meinungen der Parteien auseinander. In Frankreich waren diese Fragen zum überwiegenden Teil schon vor dem Zweiten Weltkrieg entschieden worden. Die Familienbeihilfen (»allocations familiales«) wurden seit 1939 allen Familien von Erwerbstätigen unabhängig von der Höhe des Einkommens gewährt und waren nach Kinderzahl gestaffelt. Sie setzten jedoch erst ab dem zweiten Kind ein. Familien mit drei und mehr Kindern erhielten zusätzliche Förderleistungen. Die von den Arbeitgebern finanzierten Zulagen dienten als Instrument des Einkommensausgleichs für Familien. Zu den »allocations familiales« kamen weitere Leistungen (z. B. Geburtsbeihilfen und Mutterschaftsgeld) hinzu. Etwas Besonderes war die Lohn179 Vgl. Schmucker, Das Kind, S. 287 f.; dies., Einfluss, S. 255.

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zulage für die nichtberufstätige Ehefrau bei Paaren mit zwei oder mehr Kindern (»allocation de salaire unique«). Sie sollte die Entscheidung für Kinder erleichtern und einen möglichen Lohnausfall abfangen. Alle Familienleistungen wurden in der Nachkriegszeit zunächst einkommensunabhängig gewährt. Erst seit den siebziger Jahren wurden für bestimmte Leistungen  – darunter auch die Einzellohnzulage  – Einkommenshöchstgrenzen (»plafonds«) festgelegt, so dass diese Fördermaßnahmen besonders den einkommensschwachen Schichten zugute kamen. Dagegen garantierte das steuerpolitische Instrumentarium in Form des 1946 eingeführten Familiensplittings (»quotient familial«) einen horizontalen Lastenausgleich zwischen Steuerpflichtigen der gleichen Einkommensgruppe mit unterschiedlicher Kinderzahl.180 Das Familiensplitting ersetzte die »familiale Kompensationssteuer« für kinderlose Steuerpflichtige von 1939 und wirkte sich umso mehr aus, je höher das Einkommen und damit je höher die Steuerlast war.181 Auch in anderen europäischen Vergleichsländern wie Großbritannien und Schweden standen universelle Kindergeldleistungen im Vordergrund. Großbritannien, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts keine direkte Familien­ unterstützung kannte, sah nach dem Zweiten Weltkrieg die Gewährung von Familienbeihilfen als notwendig an. Im Rahmen des Beveridge-Planes wurden 1946 staatliche Zahlungen (»family allowances«) an alle Familien ab dem zweiten Kind eingeführt.182 Schweden setzte nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls auf allgemeine und direkte Kindergeldzahlungen. Dabei wurden alle Familien mit Kindern unter 16 Jahren erfasst. Die Einkommenssteuerermäßigungen für Kinder wurden dagegen 1948 abgeschafft.183

3. Der Wert der Familie: Familienpolitische Leitbilder und Konzepte Obwohl Union und SPD zu Beginn der fünfziger Jahre im Bundestag immer wieder ihre grundsätzliche Übereinstimmung in der Kindergeldfrage betonten,184 verhinderten die Meinungsverschiedenheiten, die hinsichtlich der Ausgestaltung des Familienlastenausgleichs bestanden, eine Einigung. Anders als bei der Rentengesetzgebung, bei der CDU und SPD überwiegend die Reformgesetze gemeinsam verabschiedeten, verweigerte die SPD allen von der Regierungs­ 180 Vgl. dazu ausführlich Schultheis, S. 349 f. 181 Vgl. ebd., S. 370. Zusätzliche Kinderfreibeträge gab es in Frankreich nicht. 182 Die Kindergeldzahlungen erreichten 1951 nur rund ein Drittel der Kinder unter achtzehn Jahre, vgl. Bahle, S. 119 ff. (Tab. 31). Vgl. auch Bremme, S. 60 ff. 183 Vgl. Bahle, S. 119 ff. (Tab. 35, 40), S. 136. 184 Vgl. z. B. Winkelheide (CDU) am 28.4.1950 im BT (Sten. Ber., Bd. 3, S. 2201); Richter (SPD) am 13.9.1951 im BT (Sten. Ber., Bd. 9, S. 6571 f.).

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koalition in der zweiten Wahlperiode vorgelegten Kindergeldgesetzen ihre Zustimmung. Woraus erklären sich die Divergenzen der Parteien in der Frage des sozialen Ausgleichs der Familienlasten? Durch welche sozialpolitischen Ordnungsvorstellungen und Interessen ließen sich Union185 und SPD jeweils leiten? Die nachfolgenden Analysen knüpfen an bestehende Untersuchungen über die Kindergeldgesetzgebung an.186 Sie erweitern und vertiefen deren Erkenntnisperspektive, indem sie vor allem nach der sozialpolitischen Bedeutung und den sozialstrukturellen Auswirkungen der Kindergeldkonzepte fragen: Inwiefern waren die familienpolitischen Maßnahmen auf bestimmte soziale Gruppen zugeschnitten? Wem kamen sie besonders zugute? Inwieweit lässt sich von einer schichtorientierten Familienpolitik sprechen? 3.1 Schutz vor sozialer Deklassierung: Der Familienlastenausgleich der Unionsparteien Die Familienpolitik hatte ihren festen Platz in den Gründungsaufrufen ebenso wie in den frühen Programmentwürfen der CDU. So hieß es in den Frankfurter Leitsätzen von 1945: »Ein Volk ist soviel wert, wie in ihm die Familie wert ist. Das muss der Staat wissen und danach muss er handeln«.187 Ähnlich konstatierten auch die Düsseldorfer Leitsätze von 1949: »Die wichtigste staats- und gesellschaftserhaltende Gemeinschaft ist die Familie. Ihre Rechte und Pflichten sind zu vertiefen und gesetzlich zu schützen. Die geistigen und materiellen Voraussetzungen für ihren natürlichen Bestand und die Erfüllung ihrer Aufgaben sind herzustellen und zu sichern«.188 Auch auf den Parteitagen der CDU waren der Bestand der Familie und ihre Bedeutung für Staat und Gesellschaft ein wichtiges Thema. Neben den zahlreichen Äußerungen, die die Familie als unersetzbares Sozialgebilde hervorhoben,189 wurden auf dem zweiten Parteitag der CDU 1951 in Karlsruhe auch Maßnahmen zur wirtschaftlichen Unterstützung von Familien gefordert, darunter Kinderbeihilfen und Familienausgleichskassen, eine Steuerreform unter besonderer Berücksichtigung kinderreicher Familien sowie eine Verstärkung des Eigenheimbaus. Die Forderung nach Schutz und Förderung der Familien zog sich wie ein roter Faden durch die Parteitagsbeschlüsse der fünfziger 185 Die Unionsparteien werden hier aufgrund ihrer weitgehend identischen familienpolitischen Positionen erneut als Einheit behandelt. 186 Vgl. insb. Kuller, Familienpolitik; Nelleßen-Strauch, Kindergeld. 187 Frankfurter Leitsätze v. Sept. 1945 (= Flechtheim, Bd. 2, Dok. 96, S. 36–45, hier: S. 39). 188 Düsseldorfer Leitsätze v. 15.7.1949 (= Flechtheim, Bd. 2, Dok. 101, S. 58–76, hier: S. 71). Allein das Ahlener Programm von 1947, in dem Wirtschaftsordnung, Wirtschaftspolitik und Arbeitsbeziehungen im Vordergrund standen, ging nicht auf die Familie ein. 189 Vgl. z. B. Höffner, Der Mensch in der sozialen Ordnung (Vortrag auf dem 5. Parteitag der CDU 1954 in Köln, Parteitagsprotokoll, S. 119): »In völlig selbstverständlicher Weise gibt die Familie dem Kinde die Möglichkeit des Existierens, des Wachsens, des Reifens«.

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und auch noch der sechziger Jahre.190 Dahinter stand die Sorge um den Wertund Funktionsverlust der Familie durch den Krieg und infolge von Modernisierungs- und Individualisierungsprozessen.191 Der Familien- und Frauenpolitik der Unionsparteien lag ein christlich-transzendentales Familienleitbild zugrunde, das sich an der katholischen Soziallehre orientierte.192 Die Familie wurde in diesem Sinne als eine vorstaatliche Institution mit gottgegebener innerer Ordnung angesehen.193 Sie bildete die »Grundlage der sozialen Lebensordnung«.194 Die Förderung der Familie galt nicht nur als wirtschaftliche Notwendigkeit, sondern als »kultureller Auftrag«.195 Die Union, so Luise Rehling auf dem ersten Parteitag der CDU 1950 in Goslar, sei »aus christlicher Verantwortung« dazu verpflichtet, die »äußeren Voraus­ setzungen« für eine erneute »Festigung der Familien« zu schaffen.196 Der von Adenauer 1953 ins Kabinett berufene erste Familienminister FranzJosef Wuermeling (CSU), selbst Vater von fünf Kindern, war als besonderer Verfechter eines christlich-konservativen Familien- und Frauenleitbildes bekannt.197 Charakteristisch waren seine Kritik an der Überbetonung des Materiellen und dem Verlust christlicher Werte sowie seine Warnungen vor einer »Zersetzung der Familien« durch die Erwerbstätigkeit von Müttern.198 Nach Auffassung Wuermelings waren Bestand und Zusammenhalt der Familie das oberste Ziel, demgegenüber die Frau und Mutter ihre Interessen zurückzustellen habe.199 Das Wirken in der Familie sei »auch für die Allgemeinheit von viel höherem Wert« als der »wirtschaftliche Nutzen etwa der Fabrik- oder 190 Im Hamburger Parteiprogramm wurde die »Sicherung der Rechte der Familie« sogar noch vor der Sozialversicherung und der Altersversorgung als eine der ersten Maßnahmen zur »Sicherung des sozialen Friedens« genannt. Hamburger Programm v. 22.4.1953 (= Flechtheim, Bd. 2, Dok. 104, S. 94–105, hier: S. 100). 191 Vgl. Denkschrift des Bundesfamilienministeriums »Der Familienlastenausgleich« von 1955 (BA, B 136/6134), S.  3 f.; Denkschrift des Bundesfamilienministeriums über »Die Gründe unseres Geburtenrückgangs« von 1957 (in Auszügen abgedruckt bei: Ruhl, Frauen, S. 130–134). 192 Vgl. dazu Walter, Familienleitbild, S. 13 ff. 193 Vgl. von Nell-Breuning, Katholische Soziallehre, S.  17 f. Vgl. dazu auch Rölli-Alkemper, S. 71 ff., 520 ff. 194 Vgl. Kölner Leitsätze (zweite Fassung 1945) (= Flechtheim, Bd. 2, Dok. 95, S. 34–36, hier: S. 34). 195 Vgl. Rehling, Der kulturelle Auftrag der CDU im Blick auf die Familie. Vortrag auf dem Ersten Parteitag der CDU v. 20.–22.10.1950 in Goslar (Parteitagsprotokoll, S. 65–68). 196 Ebd., S. 67. 197 Vgl. Walter, Familienleitbild, S. 15 f. – Wuermeling hatte schon vor seiner Ernennung zum Bundesfamilienminister mit einer fraktionsübergreifenden »Kampfgruppe für das Kind« im Bundestag und in der Öffentlichkeit auf sich aufmerksam gemacht. Er war zudem stellvertretender Leiter des »Fides Romana«, einer papsttreuen Laienvereinigung katholischer deutscher Männer. Vgl. Kuller, Familienpolitik, S. 86; Ruhl, Unterordnung, S. 152. 198 Vgl. Wuermeling, Die Mutter, S. 2175; ders., Grundlage der Gesellschaft, S. 1851; ders., Familienpolitik ist Staatspolitik, S. 1534. 199 Wuermeling, Keine Bevölkerungspolitik, S. 1967; ders., Die Mutter, S. 2175.

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Büroarbeit der Mutter«. Erklärtes Ziel seiner Familienpolitik war es daher auch, »der Mutter den Verzicht auf familienfremde Berufstätigkeit möglichst zu erleichtern«;200 die Familienunterstützungen sollten »den Familien die Mutter zurückgeben«.201 Als überzeugter Katholik stand Wuermeling der katholischen Kirche und dem katholischen Familienverband (FDK) sehr nahe. In beiden sah er eine wichtige Stütze seiner Politik; umgekehrt stellte er sich bereitwillig in den Dienst ihrer Forderungen und Interessen.202 Zur Formulierung eines neuen, offeneren Frauen- und Familienleitbildes innerhalb der Union kam es erst Ende der sechziger Jahre. Bundesfamilien­ ministerin Aenne Brauksiepe, die erste Frau in diesem Amt (1968–1969), leitete die Öffnung des Leitbildes ein.203 In einem Artikel über die »Grundsatz­fragen künftiger Familienpolitik« kritisierte sie das Festhalten an überkommenen, durch die gesellschaftliche Entwicklung überholten Leitvorstellungen, das eine Ideologisierung der Familienpolitik bewirke.204 Anders als ihre Vorgänger stellte Brauksiepe nicht die spezifischen Leistungen von Familien und deren für die Gesellschaft erbrachten Opfer in den Vordergrund, sondern rückte die Interessen der einzelnen Familienmitglieder stärker in den Mittelpunkt. Erstmals las und hörte man in dieser Phase auch innerhalb der Unionsparteien den häufig wiederholten Satz, dass die Familienpolitik mehr »vom Kind her« gedacht werden müsse.205 Die Einrichtung eines »Bundesministeriums für Familienfragen« in der zweiten Wahlperiode war sowohl von der Opposition als auch in der Öffentlichkeit kritisiert worden.206 Adenauer sah darin jedoch ein Mittel, um die Bedeutung der Familienpolitik zu betonen und den familienpolitischen Forderungen seiner Partei Nachdruck zu verleihen. Darüber hinaus war das Familienministerium auch ein Zugeständnis Adenauers an die katholische Kirche, die den Kanzler im Wahlkampf für den zweiten Bundestag erheblich unterstützt hatte.207 Offiziell begründete Adenauer in seiner Regierungserklärung 1953 die Einrichtung eines

200 Ebd. 201 Winkelheide (CDU) am 13.9.1951 im BT (Sten. Ber., Bd. 9, S. 6571). 202 Vgl. Rölli-Alkemper, S. 473 ff. 203 Vgl. Kuller, Familienpolitik, S. 17 f.; Münch, Familienpolitik, Bd. 5, S. 640 f. – Dabei rückte Brauksiepe gleichzeitig von ihrem eigenen ebenfalls eher konservativen Frauenleitbild ab, das sie noch 1961 in ihrer Rede auf dem Parteitag der CDU in Köln gezeichnet hatte (Parteitagsprotokoll, S. 208–219). 204 Brauksiepe, Grundsatzfragen, S. 345. Vgl. dazu auch: Familienpolitik auf neuen Wegen?, in: SF 17 (1968), S. 108. 205 Brauksiepe, Grundsatzfragen, S. 347. Vgl. auch Wingen, Umrisse, S. 210, 215. 206 Vgl. Ollenhauer (SPD) am 28.10.1953 im BT (Sten. Ber., Bd. 18, S. 45). Vgl. auch: Der Irrtum eines Familienministers, in: FAZ, 8.6.1954; Wozu ein Familienministerium?, in: Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung, 28.10.1953. – In Frankreich war bereits 1940, im Nachgang zum »Code de la Famille« ein Familienministerium eingerichtet worden. 207 Nach Kuller war das der ausschlaggebende Grund für die Einrichtung des Familienministeriums, vgl. dies., Familienpolitik, S. 85 f.

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»Bundesministeriums für Familienfragen« (BMFa) indes mit dem Hinweis auf die bevölkerungspolitische Entwicklung.208 Die Ausstattung des neuen Ressorts war in personeller und sachlicher Hinsicht äußerst bescheiden. Das BMFa verfügte über keine formalen Kompetenzen, sondern konnte nur »koreferierend und koordinierend« an der Bundesgesetzgebung mitwirken.209 Selbst für die Vorbereitung der Kindergeldgesetze hatte das BMFa nur Mitwirkungsrechte. Erst im Januar 1966 ging die Federführung für das Kindergeld offiziell vom Arbeits- auf das Familienministerium über. Zu dieser Zeit wurde es jedoch bereits von Wuemelings Nachfolger Bruno Heck, dem ehemaligen Bundesgeschäftsführer der CDU, geführt.210 Familienminister Wuermeling konzentrierte sich vor allem auf zwei Instrumente der Familienpolitik: die rechtliche Situation  – Familienrechtsreform 1957, Scheidungsrechtsreform 1961 – und die Verbesserung der Einkommensverhältnisse von Familien.211 Er war ein großer Anhänger und Befürworter des Konzepts eines sog. »schichtinternen« Familienlastenausgleichs. Danach sollte der soziale Einkommensausgleich zwischen kinderlosen und kinderreichen Familien innerhalb derselben Einkommensschicht erfolgen. »Es soll im großen und ganzen«, so hieß es in der Denkschrift des Familienministers von 1955, »innerhalb jeder Schicht ein Teil der Last von der schwächeren auf die starke Schulter übernommen werden«.212 Einen Familienlastenausgleich »lediglich nach Fürsorgeprinzipien zu Gunsten der niedrigsten Einkommensschichten« lehnte der Familienminister dagegen ab.213 Familienpolitik, so die Argumentation, sei »kein soziales Problem im Sinne von Hilfsbedürftigkeit«.214 In zahlreichen Reden brachte Wuermeling seine besondere Sorge um die »Familien des Mittelstands« zum Ausdruck.215 Immer wieder betonte er, dass gerade für die »mittleren und höheren Einkommensschichten« Kinderbeihilfen notwendig seien: »Es kann doch gerade auch in den kulturell so wichtigen Mittelschichten und im gehobenen Mittelstand nicht bei der sozialen Bestrafung der Familien verbleiben, die zum Großziehen mehrerer Kinder bereit sind«.216 208 In einer vielzitierten Passage seiner Regierungserklärung (Sten. Ber., Bd.  18, S.  18) beschwor der Kanzler die drohende »Überalterung des deutschen Volkes«, der durch ge­ burtenfördernde Maßnahmen, durch die »Stärkung des Willens zum Kind«, Einhalt geboten werden müsse. Adenauer erklärte, die Zahl der Personen, die im Erwerbsleben stehe, nehme ab und die »Sozialproduktion« drohe dadurch aus dem Lot zu geraten. 209 Osterloh, Arbeit, S. 923 f. 210 Bruno Heck war von 1962 bis 1968 Bundesfamilienminister. 211 Vgl. Hilfe für die Familie. Ein Programm des Bundesministers für Familienfragen, in: Bulletin Nr. 144, 5.8.1954, S. 1289–1291. Vgl. dazu auch Ruf, Verordnete Unterordnung, S. 153 ff. 212 Denkschrift »Der Familienlastenausgleich« (BA, B 136/6134), S. 18. 213 Vgl. Denkschrift »Die wirtschaftliche Situation der Familien« (1959) (BA, B 136/6135), S. 26. 214 Wuermeling, Grundlage der Gesellschaft, S. 1853. 215 Vgl. z. B. Bulletin Nr. 223, 21.11.1953, S. 1853; Bulletin Nr. 6, 10.1.1957, S. 59 f. 216 Wuermeling, Familienpolitik oder staatliche Kinderfürsorge, S.  11 f. Vgl. auch ders., Grundfragen, S. 1907 f.

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Die Position des Familienministers war für die Konzeption des Familien­ lastenausgleichs der Unionsparteien konstitutiv. Es sollte verhindert werden, dass das Großziehen von Kindern »einen sozialen Absturz« zur Folge hätte.217 Dem Familienvater mit vier Kindern, so hieß es, müsse die Möglichkeit gegeben werden, sozial Anschluss an seinen kinderlosen Berufskollegen zu halten.218 Da das Existenzminimum eines Kindes nach den Berechnungen des BMFa in verschiedenen Einkommensschichten unterschiedlich war, sollte der Familien­ lastenausgleich mit dem Einkommen steigen.219 Aus diesem Grund befürwortete die CDU/CSU eine duale Struktur des Familienlastenausgleichs, d. h. die Zahlung von Kindergeld unter Beibehaltung der Kinderfreibeträge im Steuerrecht. Die bestehenden Steuervergünstigungen ermöglichten aus Unionssicht erst den Ausgleich der höheren Kinder- und Erziehungskosten bei den Mittelund Besserverdienern.220 Im November 1949 kam aus der Mitte der Fraktion die erste Initiative für einen Familienlastenausgleich.221 Die Unionsabgeordneten forderten die Bundesregierung auf, »recht bald einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch den im Rahmen der Sozialversicherung eine Familien-Ausgleichskasse errichtet« werde. Der Ausgleich sollte vor allem den Sozialversicherten, d. h. den erwerbstätigen Arbeitnehmern, zugute kommen. Er sollte, ähnlich dem französischen Modell, auf berufsständischer Basis durch eine Familienausgleichskasse durchgeführt werden. Der Vorschlag der Unionsabgeordneten war an die Forderungen der von katholischen Verbandsvertretern getragenen »Vereinigung für christliche Sozialpraxis in Arbeit und Wirtschaft« angelehnt.222 Im April 1950 beauftragte der Bundeskanzler das Bundesarbeitsministerium, einen dem An-

217 Denkschrift »Der Familienlastenausgleich« (BA, B 136/6134), S. 18. Vgl. dazu auch Osterloh, Besserer Familienlastenausgleich, S. 38 f. 218 Vgl. das »Ärzte«- bzw. »Facharbeiterbeispiel« in der Denkschrift »Der Familienlastenausgleich« (BA, B 136/6134), S. 14. 219 Vgl. Berechnungen zum soziokulturellen Existenzminimum in verschiedenen Einkommensschichten, ebd., S. 10 f. 220 Vgl. Denkschrift »Probleme der Kinderbeihilfen« des BMA (abgedruckt in: BABl. 3 (1952), S. 209–218, hier: S. 213): »Durch den Fortfall dieser Vergünstigungen träte eine noch weitergehende Nivellierung der Einkommen ein, als sie durch die augenblicklich infolge der Zeitverhältnisse gebotene Besteuerung besteht. […] Es wird darauf hingewiesen, dass ein höheres Einkommen eine größere Verpflichtung gegenüber Kind und Allgemeinheit in sich schließt und […] das Kind den Beziehern höherer Einkommen erheblich mehr kostet.« Vgl. auch Sitzung der CDU/CSU-Fraktion v. 3.7.1956 zur Frage der Erhöhung des Steuerfreibetrags für das zweite Kind (Sitzungsprotokolle 1953–57, Bd. 2, S. 1151 ff.). 221 Antrag der Abg. Gockeln, Even, Winkelheide, Heix und Fraktion betr. Vorlage eines Gesetzentwurfs über die Errichtung einer Familien-Ausgleichskasse (BT-Drs. I/163). 222 Die Vereinigung hatte sich auf ihrer Ersten Sozialkonferenz 1948 in München für die Förderung von Familienausgleichskassen als »soziale Selbsthilfeeinrichtung der Wirtschaft« ausgesprochen Vgl. Katholische Soziale Woche, Familienzulagen, S. 2. Vgl. auch Rölli-Allkemper, S. 492.

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trag entsprechenden Gesetzentwurf zu vorzubereiten.223 Als Ende des Jahres immer noch kein Entwurf vorlag, wurde die CDU/CSU-Fraktion erneut aktiv. Anfang 1951 legte sie einen eigenen, vollständigen Gesetzentwurf zur Errichtung von Familienausgleichkassen vor.224 Danach sollten die Kassen als Körperschaft des öffentlichen Rechts gelten und organisatorisch den UnfallBerufs­genos­senschaften angeschlossen sein. Da an der Beschränkung auf Familien sozialversicherungspflichtiger Arbeitnehmer Kritik geübt worden war, wurde der Kreis der Anspruchsberechtigten auf Selbständige erweitert.225 Personen, die bereits anderweitig – beispielsweise im öffentlichen Dienst oder über die Sozialleistungen  – Kinderzulagen aus öffentlichen Kassen erhielten, wurden nicht in die Regelung einbezogen. Der Unionsentwurf legte außerdem fest, dass die Kinderbeihilfe erst für jedes dritte und folgende Kind zu gewähren sei. Bernhard Winkelheide begründete diese Position im Bundestag zum einen damit, dass es nicht Sinn des Gesetzes sei, »der Familie jede Sorge für die Kinder abzunehmen«, sondern »eine bescheidene Grundlage für die Familie mit mehr als zwei Kindern zu schaffen«.226 Zum anderen wies er darauf hin, dass die ersten und zweiten Kinder »zum großen Teil noch durch Steuergruppe III« erfasst würden. »Würde man das erste und zweite Kind einbeziehen, würde der Lebensstandard der kinderreichen Familien sich sowieso nicht heben«.227 Mit ihrer Konzeption der Familienausgleichskassen brachten sich die Unions­ parteien in verschiedener Hinsicht in einen Zwiespalt. Vor allem die vorgesehene Finanzierung der Kinderbeihilfen durch brancheninterne Arbeitgeber­umlagen war problematisch, da sie die unionsnahen mittelständischen Unternehmen, die häufig in lohnintensiven Branchen angesiedelt waren, besonders hart treffen würde. 228 Kritik wurde auch an dem zu großen Verwaltungsaufwand geübt, den die organisatorische Durchführung bei den Berufsgenossenschaften erfordere. Hierfür seien, so hieß es aus Fachkreisen, die Finanzämter besser geeignet.229 Die CDU-Familienpoli­tiker rechtfertigten ihren Vorschlag mit dem 223 Vgl. Ruhl, Unterordnung, S. 167; Kuller, Familienpolitik, S. 163; Münch, Familienpolitik, Bd. 3, S. 620 f. 224 Antrag der CDU-Fraktion v. 4.7.1951: Entwurf eines Gesetzes über die Einrichtung von Familienausgleichskassen (BT-Drs. I/2427). 225 Es wurde bemängelt, dass die Beschränkung eines Ausgleichs der Familienlasten auf den Kreis der Sozialversicherten ein Unrecht gegenüber den um ihre Existenz besonders schwer ringenden nicht versicherten Familien der Selbständigen darstelle. Vgl. z. B. Oeter, Familienpolitik, S. 194. 226 Sten. Ber., Bd. 9, S. 6570. 227 Sten. Ber., Bd. 9, S. 6571. 228 Vgl. dazu Scheybani, S. 486 ff. Vgl. auch Horn (CDU) auf der Bundestagung der Sozialausschüsse der CDA 1953 in Köln (CDA, Von der Sozialpolitik, S. 26). 229 Vgl. Oeter, Familienpolitik, S. 206. Vgl. auch Richter (SPD) bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfs am 13.9.1951 im BT (Sten. Ber., Bd. 9, S. 6573). – Die Finanzamtslösung wurde in der Folge immer wieder sowohl von SPD und Gewerkschaften, als auch von der FDP sowie von unterschiedlichen Sachverständigen gefordert. Vgl. dazu Müller, Neuer Start, S. 86. Vgl. auch Nelleßen-Strauch, Kindergeld, S. 207, 263 f.

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Hinweis auf den Grundsatz der Subsidiarität. Dieser verlange, dass die benötigten Mittel für eine Kinderbeihilfe nicht durch den Staat aufgebracht und verwaltet würden, sondern durch die Berufsstände und ihre Selbstverwaltungskörperschaften. Durch das System der Familienausgleichskassen trage die Wirtschaft »eine Gesamtschuld an [den] Familien ab«.230 Die CDU/CSU versprach sich von der berufsständischen Lösung außerdem eine erzieherische Wirkung, da so leichter als bei staatlichen Leistungen erkennbar sei, »dass alles Geld, das ausgegeben wird, erarbeitet werden muss«.231 Das generell niedrige Niveau der von der Union vorgeschlagenen Kindergeldregelung – der Gesetzentwurf von 1951 sah einen Betrag zwischen 15 und 30 DM ab dem dritten Kind vor – war auf das ordnungspolitische Ziel zurückzuführen, einen Abstand zwischen Sozialleistungen und Lohn zu halten.232 Insgesamt richtete die Union ihren Kindergeldgesetzentwurf am Leitbild der klassischen Sozialversicherung aus. Darauf wies neben den Ordnungsvorstellungen und dem Selbstverwaltungsprinzip auch die Bindung des Leistungsbezugs an die Erwerbstätigkeit hin. Mit der Aufrechterhaltung und dem angekündigten Ausbau der kinder­ bedingten Vergünstigungen im Steuerrecht sandten die Unionsparteien ein klares Signal an die mittleren und höheren Einkommensschichten. Die Union setzte darauf, dass für diese Kreise letztlich die Kinderfreibeträge eine größere Bedeutung hätten, als Kindergeldzahlungen vom ersten Kind an.233 Einen deutlichen »Mittelschichteneffekt« besaß auch die von den Christdemokraten befürwortete Regelung, die Kindergeldzahlungen über das 18. Lebensjahr hinaus auszudehnen, wenn sich das Kind weiterhin in der Schul- oder Berufsausbildung befand. Das Kindergeld sollte in diesem Fall bis zum Alter von 25 Jahren ausgezahlt werden. Da in den fünfziger Jahren in der Regel vor allem Kinder aus den bessergestellten und »bildungsnahen« Familien der Angestellten und Beamten eine höhere (Aus-) Bildung genossen, besaß diese, auf den ersten Blick neutrale Bestimmung durchaus eine schichtspezifische Wirkung.234 230 Winkelheide (CDU) bei der 1. Beratung des CDU-Entwurfs (BT-Drs. I/2427) am 13.9.1951 im BT (Sten. Ber., Bd. 9, S. 6570 f.). 231 Winkelheide (CDU) am 13.9.1951 im BT (Sten. Ber., Bd. 9, S. 6571). 232 Vgl. dazu Denkschrift des BMA »Probleme der Kinderbeihilfen«, in: BABl. 3 (1952), S. 212. 233 So auch die Denkschrift »Probleme der Kinderbeihilfen«, in: BABl. 3 (1952), S. 213: »Der Fortfall der Steuerermäßigung würde […] für Familien mit einem oder zwei Kindern erhebliche Einkommenseinbußen bringen, die für das Gros der Einkommensempfänger bei Gewährung von nur mäßigen Kinderbeihilfen nicht einmal ausgeglichen werden«. 234 Mit 5 Prozent lag der Anteil der Arbeiterkinder unter den Studierenden im Jahr 1959/60 nur wenig über den Prozentsätzen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, die zwischen 2 und 4  Prozent schwankten. Vgl. Geißler, Sozialstruktur, S.  283. Vgl. dazu auch ­Kaelble, So­ziale Mobilität, 129 ff.; Mooser, Arbeiterleben, S.  104 ff.  – Der Erste Familienbericht der Bundesregierung v. 25.1.1968 stellte mit Blick auf die Familienstatistik von 1961 fest (BT-Drs. V/2532, S. 104): »In den Beamtenfamilien ist der Anteil der Kinder, die über die allgemeine Vollzeitschulpflicht hinaus noch Schulen besuchen, am höchsten – und damit auch der Aufwand für die Berufsausbildung der Kinder […], in den Arbeiterfamilien ist deren Anteil am niedrigsten«.

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3.2 Kindergeld für alle Familien: Die Forderungen der SPD Die Sozialdemokraten maßen der Institution der »Familie« eine ähnlich große Bedeutung bei wie die Unionsparteien. Die Wertschätzung der Familie wurde in unterschiedlicher Form immer wieder betont und programmatisch verankert. Schon das »Seesener Programm« von 1948, das erste Sozialprogramm der Sozial­ demokratischen Partei nach dem Krieg, enthielt die Forderung nach »Schutz und Förderung« von Mutter und Kind.235 Der »Grundlagenplan« der SPD vom 14. September 1952, der die Richtlinien für die sozialpolitische Arbeit der SPDFraktion im Bundestag vorgab, widmete sich ebenfalls dem Thema »Familie«.236 Er hob die Bedeutung der Familienförderung als wichtiger Bestandteil der sozialen Sicherung hervor und stellte die Zahlung von »allgemeinen und gleichmäßigen Kinderbeihilfen« in Aussicht. Der SPD-Parteivor­sitzende Erich Ollenhauer bezeichnete schließlich im Oktober 1953 bei der Aussprache über die Regierungserklärung des Bundeskanzlers im Bundestag die Familie als »wesentliches« und »entscheidendes Element unseres Gemeinschaftslebens«.237 Auch die außerhäusliche Erwerbsarbeit von Frauen und Müttern und ihre soziale Stellung wurden in den programmatischen Schriften thematisiert. Im Gegensatz zu den Unionsparteien, die die Berufstätigkeit von Müttern durch ein ausreichendes Kindergeld möglichst entbehrlich machen wollten, war die Position der SPD differenzierter. So verband das Aktionsprogramm von 1954 die Forderung nach staatlichen Kinderbeihilfen mit dem Hinweis, dass »keine Mutter vorschulpflichtiger oder schulpflichtiger Kinder […] aus wirtschaft­licher Not gezwungen sein [dürfe], einem Erwerb nachzugehen«.238 Dieser Passus fand im Wortlaut auch Eingang in die Wahlprogramme von 1953 und 1957 sowie in das Godesberger Programm von 1959.239 Nach Ansicht führender Sozialdemokratinnen sollte den Frauen grundsätzlich das Recht garantiert werden, »Hausfrau und Mutter [zu] sein«, was »nicht nur eine natürliche Aufgabe der Frau, sondern auch gesellschaftlich von großer Bedeutung« sei.240 Eine ähnliche Ar235 Vgl. Entwurf eines Sozialprogramms der Sozialdemokratischen Partei (»Seesener Programm«), abgedruckt im Anhang zum Protokoll der Verhandlungen des SPD-Parteitags v. 11.–14.9.1948 in Düsseldorf, S. 216. 236 Vgl. Grundlagen des sozialen Gesamtplanes der SPD (abgedruckt bei: Richter, Sozial­ reform, G II 1). 237 Vgl. Sten. Ber., Bd. 18, S. 45. 238 Aktionsprogramm von 1952 mit den Erweiterungen vom Berliner Parteitag 1954, Abschnitt »Frau und Familie« (= Flechtheim, Bd. 3, Dok. 177, S. 93–123, hier: S. 120). 239 Vgl. Flechtheim, Bd. 3, Dok. 178, S. 133 (Das Wahlprogramm 1953); Dok. 183, S. 150 (Wahlprogramm 1957); Dok. 187, S. 220 f. (Godesberger Programm). 240 Herta Gotthelf auf dem SPD-Parteitag v. 20.–24.7.1954 in Berlin (Parteitagsprotokoll, S. 235). – Auch Clara Döhring hob 1955 im BT hervor, »dass ein ganz erheblicher Teil der in Berufsarbeit stehenden Mütter lieber heute als morgen die Arbeit aufgeben möchte, wenn nur die wirtschaftliche Lage ihrer Familie etwas besser und leichter wäre«. Es sei wesentlich, ob die Hausfrau und Mutter ihrer eigentlichen Tätigkeit nachgehen könne oder ob sie gezwungen sei, einer Berufsarbeit nachzugehen (Sten. Ber., Bd. 27, S. 6379).

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gumentation lag auch der in Frankreich üblichen Einzellohnzulage (»allo­cation de salaire unique«) zugrunde, die dann gewährt wurde, wenn die Frau sich entschied, zu Hause für die Kinder zu sorgen. Im »Sozialplan für Deutschland« stellte die SPD 1956 fest, die Erwerbstätigkeit der Frau lasse sich »nicht mehr rückgängig machen«. Solange die Kinder noch im Säuglingsalter seien, erscheine es im Interesse der Kinder notwendig, dass die Mütter ihre Erwerbsarbeit vorübergehend ganz aufgeben und im Hause bleiben könnten.241 Die SPD unterstützte damit das Ideal weiblicher Erwerbstätigkeit nicht vorbehaltlos. Sie sprach Frauen zwar grundsätzlich das Recht auf einen Arbeitsplatz und den Zugang zu allen Berufen zu, die »ihren Fähigkeiten und Neigungen« entsprächen.242 Zugleich respektierte sie jedoch die traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung.243 Als Mittel zur Anerkennung der Hausfrauen- und Müttertätigkeit empfahl die SPD, das Kindergeld den Müttern direkt auszuzahlen und nicht als Aufschlag auf den Verdienst des Mannes zu gewähren.244 Mit der Anerkennung und Würdigung der ideellen Werte der Familie und der Mutterschaft bekannten sich die Sozialdemokraten zu den vorherrschenden bürgerlichen Moral- und Wertvorstellungen. Obwohl viele Ehen und Familien durch die Folgen des Krieges zerstört oder auseinandergerissen worden waren, war das traditionelle Familienbild – Berufstätigkeit des Mannes, Hausfrauenund Mutterdasein der Frau  – in der Bevölkerung tief verwurzelt und wurde schicht- und berufsgruppenübergreifend bejaht.245 In den Richtlinien sozial­ demokratischer Familienpolitik von 1961 griff die SPD zudem den Gedanken der Eigenverantwortung auf. In Anlehnung an die Position der Christdemokraten wurde betont, dass »der Familie nicht alle Aufwendungen für die Kinder« abgenommen werden sollten.246 Damit bekannte sich die SPD im Grundsatz zu einer subsidiären Ordnung zwischen Staat und Familie. Gleichzeitig rüstete sie sich gegen den Vorwurf, sie ziele mit ihrer Kindergeldkonzeption auf eine »Verstaatlichung« oder »Kollektivierung« der Familie.247 Dieser Vorwurf des politischen Gegners zielte darauf, das familienpolitische Konzept der SPD mit der 241 Vgl. Sozialplan für Deutschland (abgedruckt bei: Richter, Sozialreform, G II 4, hier: S. 56). 242 Vgl. Aktionsprogramm von 1952 mit den Erweiterungen vom Berliner Parteitag 1954, Abschnitt »Frau und Familie« (= Flechtheim, Bd. 3, Dok. 177, S. 120). 243 Vgl. SPD-Wahlprogramm von 1953 (= Flechtheim, Bd. 3, Dok. 178, S. 133 f.). Dort hieß es auch wörtlich: »Wir wissen, dass für die Mehrzahl der Frauen die schönste Aufgabe und Erfüllung ihres Lebens die Mutterschaft ist […]«. Vgl. auch: Das Aktionsprogramm und die Frauen, in: Gleichheit 20 (1957), S. 293–294. 244 Vgl. Moeller, S. 186 f., 208 f. Zur Haltung bürgerlicher Feministinnen, die diese Position unterstützten, vgl. Hinze, Berliner Frauen zum Familienlastenausgleich, in: Der Arbeitgeber 4 (1952), S. 493–494. 245 Vgl. dazu Wingen, Konzeption, S. 29 ff.; Walter, Familienleitbild, S. 13 ff. 246 »Richtlinien für eine sozialdemokratische Familienpolitik« (abgedruckt bei: Richter, So­ zialreform, G II 10). 247 So die Vorwürfe von Winkelheide (CDU) am 1.4.1954 im BT (Sten. Ber., Bd. 19, S. 717 f.). Vgl. auch Katholische Soziale Woche, Familienzulagen, S. 4.

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in der DDR praktizierten Familienpolitik gleichzusetzen. Wie bereits erörtert, war in der DDR die Erwerbstätigkeit von Frauen und Müttern ausdrücklich erwünscht. Im Gegenzug kam der Staat weitgehend für die Betreuung und Erziehung der Kinder auf. Die Unionsparteien sahen in dieser Einmischung des Staates in die Kindererziehung einen Angriff auf die Institution der Familie. Im Unterschied zu den Unionsparteien waren die Sozialdemokraten trotz ihres Bekenntnisses zur traditionellen Mutter-Vater-Kind-Familie offener und pragmatischer im Umgang mit anderen Formen des familiären Zusammen­ lebens. Beispielsweise setzte sich die SPD für die Rechte alleinerziehender Mütter und unehelicher Kinder ein. Bei der Kindergeldgesetzgebung forderte sie wiederholt differenzierte Hilfsangebote für die unterschiedlichen familiären Situationen. Die SPD verwies darauf, dass eine Ausrichtung der Familienpolitik auf die »Normalfamilie«, die vom Verdienst des männlichen Hauptverdieners lebe, der sozialen Wirklichkeit im Nachkriegsdeutschland nicht gerecht werde; Haushaltungen mit einem weiblichen Vorstand seien weit verbreitet und keineswegs eine lediglich kurzfristige Erscheinung.248 Insgesamt war das sozialdemokratische Konzept eines Familienlastenausgleichs daher allgemeiner und umfassender angelegt und zielte auf die Erfassung aller Familien und Personen, die Kinder zu betreuen hatten.249 Der erste Gesetzentwurf der SPD-Fraktion zur Gewährung von Kinderbeihilfen vom März 1950250 knüpfte an die Vorschläge des Bremer Senators für Arbeit und Wohlfahrt Gerhard van Heukelum (SPD) an.251 Van Heukelum hatte sich als einer der ersten Politiker 1949 für die wirtschaftliche Unterstützung von Familien mit Kindern eingesetzt: »Alles drängt zum Familienlohn, der sich an der Betriebsstätte nicht bilden kann. […] So muss das Problem des Familienlohnes außerbetrieblich gelöst werden. Es geht nur über die staatliche Kinderbeihilfe!« Van Heukelum hatte darauf hingewiesen, dass die Richtsätze der Fürsorge für Familien mit Kindern vielerorts höher seien, »als die vergleichbaren Löhne, insbesondere die der ungelernten Arbeiter, aber auch der Facharbeiter mit relativ niedrigen Lohnsätzen, und nicht zuletzt der niedrigst eingestuften Angestellten«.252 Der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion sah vor, ein aus Bundesmitteln finanziertes Kindergeld in Höhe von monatlich 20  DM zu gewähren, das vom ersten Kind an allen Familien bzw. unterhaltspflichtigen Personen gezahlt werden sollte. Der Anspruch auf Kindergeld sollte generell bis zum vollen-

248 Vgl. Schröder (SPD) am 1.4.1954 im BT (Sten. Ber., Bd. 17, S. 735). 249 Vgl. Richter (SPD) am 28.4.1950 im BT (Sten. Ber., Bd. 3, S. 2198). Vgl. auch Strobel. 250 Entwurf eines Gesetzes über die Gewährung von Kinderbeihilfen v. 27.3.1950 (BT-Drs. I/774); 1. Beratung im BT am 26.4.1950 (Sten. Ber., Bd. 3, S. 2196 ff.). 251 Vgl. van Heukelum u. a., Warum staatliche Kinderbeihilfen (PA, I/1053 B); ders., Staatliche Kinderbeihilfen, S. 214. 252 Ebd., S.  213. Van Heukelum referierte seine Vorschläge zum Thema »Kinderbeihilfen« erstmals am 23. u. 24.2.1949 vor dem Sozialausschuss des Deutschen Städtetages in Karlsruhe.

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deten 15. Lebensjahr bestehen, für alle in Berufs- und Schulausbildung befind­ lichen Kinder darüber hinaus bis zum vollendeten 18. Lebensjahr. Die Gewährung allgemeiner Familienbeihilfen war mit der Forderung nach Abschaffung aller steuerlichen Vergünstigungen für Kinder sowie aller Kinderzuschläge im öffentlichen Dienst und bei den Sozialleistungen verbunden. Bei der ersten Beratung des SPD-Entwurfs am 28.  April 1950 im Bundestag demonstrierte Willi Richter, einer der wichtigsten Protagonisten der Kindergeld-Debatte,253 mit Hilfe verschiedener Rechenbeispiele die sozial ungerechte Wirkung der Steuererleichterungen, die allein hohe Einkommen wirksam entlaste. Für das »Gros der deutschen Arbeitnehmerschaft, ob Arbeiter oder An­ gestellte«, betrage die Steuerermäßigung lediglich 6,40  DM pro Monat. Eine derartige Regelung schaffe weder einen sozialen Augleich noch fördere sie so­ ziale Gerechtigkeit. Am allerwenigsten trage sie aber »zur wirtschaftlichen Stärkung der Familien der Arbeiter, Angestellten und Beamten sowie der kleinen Landwirte, Handwerker, Gewerbetreibenden« bei.254 Richter machte deutlich, dass die SPD auf der Seite aller »Schaffenden« stünde, ganz gleich, ob sie abhängig oder selbständig tätig seien. Ebenso sollten auch alle Sozialleistungs- und Fürsorgeempfänger berücksichtigt werden, wenn sie Kinder zu betreuen hätten. Zur Frage der Finanzierung führte Richter an, dass die Aufwendungen für die Kinderbeihilfe durch die Abschaffung der Steuerprivilegien und die Einsparungen bei den Kinderzuschlägen der Sozialversicherung und des öffentlichen Dienstes weitgehend gedeckt werden könnten.255 Nur mit dem System der allgemeinen und direkten Kinderbeihilfen, so stellte Richter klar, könne die Lage aller Familien wirksam und dauerhaft verbessert werden. Der Gesetzentwurf von 1950 stellte insgesamt ein Modell für alle folgenden gesetzlichen Initiativen der SPD bis zur Familienlastenausgleichsreform von 1974/75 dar. In ihren zahlreichen Änderungsanträgen zu den Kindergeldgesetzen der Regierung in den ersten drei Legislaturperioden stellte die SPD immer wieder die gleichen Forderungen auf: Auszahlung von Kindergeld mindestens ab dem zweiten Kind, gleichberechtigte Einbeziehung aller Unterhaltspflichtigen in den Kreis der Kindergeldempfänger, Finanzierung des Kindergeldes aus öffentlichen Mitteln sowie Abschaffung der steuerlichen Freibeträge für Kinder.256 Bei ihrem umfassenden Kindergeldkonzept argumentierte die SPD vor allem damit, dass der Ausgleich der Familienlasten eine Verpflichtung der Allgemeinheit sei. Kindergeld würdige die Erziehungsleistung der Eltern und trage 253 Richter hatte nicht nur den SPD-Gesetzentwurf über die Kinderbeihilfen maßgeblich erarbeitet, sondern leitete auch als Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Sozialpolitik sowie des Bundestags-Unterausschusses »Kinderbeihilfen« die kontroversen Diskussionen über die Ausgestaltung der ersten Kindergeldgesetze. 254 Sten. Ber., Bd. 3, S. 2198 f. 255 Vgl. Sten. Ber., Bd. 3, S. 2200 f. 256 Vgl. beispielhaft die Beratung der Ausschussvorlage zur Ergänzung des Kindergeldgesetzes (BT-Drs. II/1884) am 15.12.1955 im BT (Sten. Ber., Bd. 27, S. 6412 ff.).

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zum Wohl des Kindes bei.257 Anders als die Unionsparteien gingen die Sozialdemokraten bei der Konzeption des Familienlastenausgleichs von Anfang an von der sozialen Lage des Kindes und nicht vom Lebensstandard der Eltern aus. Die sozialdemokratische Forderung, zweite Kinder in die Kindergeldzahlungen einzubeziehen, bedeutete gegenüber dem Unionskonzept eine erhebliche Ausweitung des Empfängerkreises von Kindergeld.258 Wie bereits dargestellt, war die Zweikinder-Familie in den fünfziger Jahren der am weitesten verbreitete Familientyp. Gerade in den mittleren Berufsgruppen, bei den Angestellten, aber zunehmend auch bei den Selbständigen im produzierenden Gewerbe, waren zwei Kinder die Regel. Die Forderung der SPD dürfte daher bei diesen Familien auf fruchtbaren Boden gefallen sein. In den parlamentarischen Beratungen wiesen die Sozialdemokraten immer wieder auf die Enttäuschung bei einem Großteil der Familien hin, die durch die Beschränkung der Kindergeldzahlungen auf Mehrkinderfamilien verursacht würde.259 Auch das Bestreben der SPD, alle Berufsgruppen in den Kreis der Beihilfeberechtigten einzubeziehen und nicht nach beruflichem Status zu unterscheiden, beruhte neben sachlichen Argumenten auf wahltaktischen Überlegungen. Die Sozialdemokraten betonten, dass die Kindergeldregelung keine Härten für die selbständigen Handwerker und kleinen, lohnintensiven Gewerbetriebe mit sich bringen dürfe.260 Der SPD-Vorschlag, die Kindergeldzahlungen weitgehend aus der Staatskasse zu finanzieren, stimmte grundsätzlich mit den Wünschen und Vorstellungen der Spitzenverbände von Handwerk, Einzelhandel und Bauernschaft überein, die eine zusätzliche Beitragsbelastung der Betriebe ablehnten. Die Kindergeldfrage diente somit der SPD auch dazu, ihre »Handwerkerfreundlichkeit« unter Beweis zu stellen. Bezeichnend war in diesem Zusammenhang auch der Verzicht auf eine Einkommens­grenze beim Kindergeldbezug. Die SPD ersparte sich damit nicht nur eine Diskussion darüber, wo diese Grenze anzusetzen sei,261 sondern sie schloss auch niemanden von den familienbedingten Leistungen aus. Wenn den unteren Einkommens­gruppen durch den einheit­lichen Kindergeldbetrag ein relativer Vorteil erwuchs, so konnte der Ver257 Vgl. Schellenberg (SPD) am 1.4.1954 im BT (Sten. Ber., Bd. 19, S. 717). Vgl. auch Eilers u. Schanzenbach, S. 232 ff. 258 Schellenberg (SPD) rechnete im BT vor, dass bei einer Regelung erst vom dritten Kind an – wie von CDU/CSU geplant – von 13 Millionen Kindern etwa 11 Millionen ohne Kinderbeihilfen bleiben müssten (Sten. Ber., Bd. 19, S. 719); Döhring (SPD) fragte im Verlauf derselben Debatte, ob es sich überhaupt lohne, ein Gesetz nur für rund 14 Prozent aller Kinder zu machen (Sten. Ber., Bd. 19, S. 724). 259 Vgl. Richter (SPD) am 14.10.1954 im BT (Sten. Ber., Bd. 21, S. 2332). 260 Vgl. Döhring (SPD) am 1.4.1954 im BT (Sten. Ber., Bd. 19, S. 724). Vgl. auch Eilers u. Schanzenbach, S. 235. 261 In der SPD-Fraktionssitzung vom 11.1.1950 war noch die Forderung erhoben worden, eine Einkommenshöchstgrenze für den Bezug von Kinderbeihilfen einzuführen. Richter lehnte eine solche jedoch ab. Vgl. Richter (SPD) am 14.10.1954 im BT (Sten. Ber., Bd. 21, 2331 f.).

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zicht auf eine Einkommensgrenze als Zugeständnis an die besserverdienenden Schichten verstanden werden.262 Unter Verweis auf die frühen Analysen zur Wirksamkeit des Familien­ lastenausgleichs wird in der Forschung zur Familienpolitik immer wieder die Position vertreten, dass die Sozialdemokraten vor allem ein »schichtennivellierendes« Konzept verfolgt hätten.263 Im Unterschied dazu sei die Union für einen »schichtorientierten« oder »schichtspezifischen« Familienlastenausgleich eingetreten, da es ihr nicht darum gegangen sei, einen Umverteilungseffekt zwischen den Einkommensschichten zu erzielen.264 Bei genauer Betrachtung erscheint die Klassifizierung des SPD-Kon­zepts als »schichtennivellierend« jedoch fragwürdig. Zwar war der sozialdemokratische Familienlastenausgleich insofern »blind« gegenüber der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht, als alle Familien ein gleich hohes Kindergeld bekommen sollten. Eine ausgeprägte umverteilende Komponente enthielt indessen auch das SPD-Konzept nicht. Weder sollten die unteren, wirtschaftlich schwachen Schichten einen höheren Kindergeldbetrag erhalten, noch war die Zahlung des Kindergeldes auf untere Einkommensgruppen begrenzt.265 Ein einkommensnivellierender oder umverteilender Effekt ergab sich auch nicht ohne Weiteres aus der sozialdemokratischen Forderung nach Beseitigung der Kinderfreibeträge. Zwar konnte der Wegfall sämtlicher Steuervergünstigungen verhindern, dass die gut gestellten Schichten auch noch in den Genuss der mit steigendem Einkommen ebenfalls wachsenden Steuerermäßigungen kamen. Die einkommensschwächeren Schichten wurden durch diese Maßnahme jedoch nur sehr mittelbar begünstigt. Treffender ist daher die Bezeichnung des SPD-Konzepts als »schichtübergreifend«. Die Vorschläge der SPD ähnelten am meisten der Kindergeldpolitik in Schweden. Dort war nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls auf Steuervergünstigungen verzichtet worden und der Ausgleich der Familienlasten allein über direkte Transferzahlungen geregelt worden. Übereinstimmungen mit der französischen Familienpolitik gab es dagegen kaum. Die »allocations familiales« wiesen sowohl in Bezug auf die Finanzierung, als auch hinsichtlich der Organisation und des Empfängerkreises vor allem Ähnlichkeiten mit dem Kindergeldkonzept der Unionsparteien auf.

262 So auch Niehuss, Strukturgeschichte, S. 204. 263 Vgl. Münch, Familienpolitik, Bd. 3, S. 609; Ruhl, Unterordnung, S. 169; Nelleßen-Strauch, Kindergeld, S.  134; Niehuss, Strukturgeschichte, S.  204.  – Die Autoren berufen sich zumeist unhinterfragt auf die Aussagen von Bünger, S. 15. 264 So Münch, Familienpolitik, Bd. 3, S. 609. 265 Lediglich die staatliche Finanzierung durch Steuergelder hatte indirekt noch einen Umverteilungseffekt, da die mittleren und höheren Einkommensschichten mehr direkte ­Steuern zahlten.

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3.3 Staatliches Kindergeld oder Soziallohn? Bedeutung und Einflussnahme der Verbände Es gehört zu den Ironien der Kindergeldgesetzgebung, dass sich die von der CDU favorisierte berufsständische Lösung durchsetzen konnte, obwohl sich anfangs nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch die Wirtschaftsverbände dagegen aussprachen. In einer Besprechung mit den Vertretern des Bundesarbeitsministeriums im Mai 1950 vertrat die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände die Ansicht, dass die Durchführung der Kinderbeihilfezahlungen besser staatlichen Stellen überlassen bleiben solle. Dabei sei sicherzustellen, dass auch die sozial am schwächsten gestellten Bevölkerungsgruppen in den Empfängerkreis einbezogen würden. Eine »ganz oder teilweise Aufbringung der Mittel durch die Wirtschaft« sei abzulehnen. Nicht die Privatwirtschaft, sondern der Staat solle die Kosten des Familienlastenausgleichs tragen.266 Die BDA vertrat damit im Kern die gleiche Position wie die Gewerkschaften, und das letztlich aus ganz ähnlichem Interesse. Beide wollten vermeiden, dass sich durch die Regelung der Familienhilfen Rückwirkungen auf die Lohn­politik ergaben. In einem Artikel der Zeitschrift »Der Arbeitgeber« von 1950 hieß es: »Man darf dabei auch nicht übersehen, dass je höher die fixe Belastung der Wirtschaft mit Ausgaben zugunsten der Kinderbeihilfen wird, um so mehr der Raum für die eigentliche Lohnpolitik zusammenschrumpft«.267 Genau das befürchteten auch die Gewerkschaften. Sowohl aus Sicht der Bundesvereinigung wie auch der Gewerkschaften musste eine weitere Belastung der Betriebe durch Sozialabgaben verhindert werden. Die wirtschaftliche und soziale Benachteiligung von Familien wurde als gesamtgesellschaftliches Problem betrachtet, für das eine übergreifende Lösung gefunden werden musste und das nicht der Fürsorge der Arbeitgeber überlassen werden durfte.268 Anders als Frankreich verfügte die Bundesrepublik über keine Familienlohntradition. Zwar wurden auch in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg die Familienleistungen aus den betrieblichen Familienunterstützungskassen herausgelöst; dennoch blieben die französischen Arbeitgeber die eigentlichen Träger der »Politique Familiale«, denn die familienbezogenen »öffentlichen« Leistungen wurden weiterhin primär aus den von ihnen an die Familien­ kassen entrichteten Beiträge finanziert.269 Die französischen Gewerkschaften hatten die Vermischung von Familien- und Lohnpolitik seit den zwanziger Jah266 Vermerk zur Besprechung am 10.5.1950 (BA, B 153/733). Vgl. auch Stellungnahme der BDA zu den BT-Drs. I/774 v. 27.3.1950 und I/740 v. 22.3.1950, erstattet in der 48. Sitzung des AfSP am 14.9.1950 (PA, I/1053 A). 267 Um den Familienlastenausgleich, in: Der Arbeitgeber 2 (1950), Nr. 11/12, S. 11. 268 Vgl. Osterkamp, Familienausgleichskassen. 269 Vgl. Schultheis, S. 364. Bremme sieht hingegen in der Neustrukturierung nach dem Zweiten Weltkrieg einen »völligen Bruch mit der Vergangenheit« (dies., S. 190).

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ren scharf kritisiert.270 Mit der Neuorganisation nach 1945 wurde eine wichtige gewerkschaftliche Forderung erfüllt. Für die Arbeitnehmer behielten die Familien­leistungen auch in der Phase der Nachkriegsprosperität angesichts eines im europäischen Vergleich niedrigen Einkommensniveaus eine wichtige Lohn­ergänzungsfunktion.271 In der Bundesrepublik wandte sich die unternehmerische Wirtschaft Anfang der fünfziger Jahre überraschend vom Prinzip der staatlichen Kinder­beihilfen ab. Über die Gründe geben die Quellen nur wenig Aufschluss. Als erstes gab der Bund Katholischer Unternehmer (BKU) seine Zustimmung zu den von der Regierung geplanten Familienausgleichskassen. Die Herbeiführung eines gewissen Einkommensausgleichs zwischen kinderreichen und kinderarmen Familien, so hieß es in einer Erklärung vom 14. Juli 1951, sei nicht in erster Linie als eine Aufgabe des Staates zu betrachten. Wie das Beispiel vieler anderer Länder der westlichen Welt zeige – gemeint war insbesondere Frankreich –, könne diese Aufgabe vollständig von den Selbstverwaltungskörperschaften der Wirtschaft übernommen werden. Mit Hilfe der Familienausgleichskassen könne das wirtschaftliche Prinzip des Leistungslohns in »hervorragender Weise« mit dem ethischen Prinzip des Soziallohns verbunden werden.272 Der Gedanke, den Ausgleich der Familienlasten in Selbstverantwortung und Selbstverwaltung der Sozialpartner durchzuführen und damit den Gefahren einer strengen staatlichen Reglementierung zu entgehen, gewann schließlich auch innerhalb der Bundesvereinigung mehr und mehr Anhänger.273 Da Beihilfezahlungen erst ab dem dritten Kind vorgesehen waren, schienen sich die Kosten in einem überschaubaren Rahmen zu halten, insbesondere wenn die Arbeitgeberbeiträge, wie von der CDU in Aussicht gestellt, von der Steuer absetzbar sein würden.274 Hinzu kam, dass die Arbeitgeber einer Finanzierung staatlicher Kinderbeihilfen durch die Beseitigung der Steuerklasse III, wie die SPD es vorschlug, auf gar keinen Fall zustimmen wollten. Eine solche Regelung bedeutete ihrer Ansicht nach eine »Nivellierung« zulasten aller Arbeitnehmer mit mittleren und höheren Einkommen und damit zulasten all derjenigen, »die sich als qualifizierte Kräfte über den Durchschnitt« heraushoben. Denn für diese Gruppen würden die neuen Kinderbeihilfen nicht ausreichen, die fortgefallenen 270 Vgl. Schultheis, S. 267 ff. 271 Vgl. ebd., S. 384. 272 Erklärung der BKU zur Frage der Kinderzulagen in der gewerblichen Wirtschaft (BA, B 153/734) (= Geschichte der Sozialpolitik, Dok. 3/65). Vgl. auch Herder-Korrespondenz 6 (1951/52), S. 92. – Die Aufbringung der FAK-Beiträge durch die Arbeitgeber stand aber unter der Bedingung, dass damit die Pflicht zur sozialen Rücksichtnahme bei der Preisgestaltung aufgehoben würde. 273 Vgl. Tiede (BDA) in der Sachverständigenanhörung im AfSP am 12.9.1952 (Anlage zum Kurzprotokoll der 148. Sitzung). 274 Schätzungen zufolge war bei Beitragsleistungen in Höhe von gut 300 Mio. DM von einem Steuerausfall von rund 200 Mio. DM auszugehen. Vgl. Auerbach, Überlegungspause, S. 192 f.

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Vergünstigungen der Steuerklasse III auszugleichen. Der Wegfall der Kinder­ freibeträge, so die Warnung, könnte und müsste das »Ende jedes Leistungs­ strebens« bedeuten.275 Die Mehrheit der in der BDA organisierten Unternehmerverbände erklärte sich Mitte 1953 mit den Gesetzesplänen der CDU einverstanden.276 Damit ergab sich eine Spaltung zwischen der Haltung der unternehmerischen Wirtschaft (Industrie) und des gewerblichen Mittelstands (Handwerk, Einzelhandel und Landwirtschaft).277 Die Mittelstandsvertreter drängten zwar darauf, die Selbständigen bei der Gewährung von Kinderbeihilfen zu berücksichtigen. Gleichzeitig wehrten sie sich aber dagegen, dass die Inhaber kleiner und mittelständischer Betriebe die Beiträge für das Kindergeld selbst aufbringen sollten. Eine staatliche Finanzierung erschien ihnen insgesamt als die beste Lösung.278 Auch die Gewerkschaften blieben ein Verfechter des staatlichen Kindergeldes. Sowohl die Angestelltengewerkschaft wie auch der Gewerkschaftsbund lehnten die Einrichtung von Familienausgleichskassen ab. Weiter wandten sie sich gegen die Beschränkung des kindergeldberechtigten Personenkreises auf Berufstätige. Nach einer Entschließung des DGB-Bundesvorstandes zu den Grundsätzen einer gesetzlichen Kindergeldregelung vom 17.  Mai 1954 sollten »sämtliche Personen« empfangsberechtigt sein; weder die berufliche Tätigkeit noch die Höhe des Einkommens, hieß es, könnten Merkmale für die Gewährung einer Kinderbeihilfe sein.279 Auch die DAG forderte in ihrer Stellungnahme zum CDU-Entwurf Ende Juni 1954 staatliche Kinderbeihilfen für alle Familien.280 Während sich die DAG jedoch explizit für die Beibehaltung der

275 Vgl. Wann endlich Familienlastenausgleich, in: Der Arbeitgeber 3 (1951), Nr. 22, S. 14; Zur Frage staatlicher Kinderbeihilfen, in: Der Arbeitgeber 3 (1951), Nr. 12, S. 10. 276 Vgl. Schreiben der Vereinigung der Arbeitgeberverbände in Bayern an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages v. 29.5.1953 (= Geschichte der Sozialpolitik, Dok. 3/109); Pressedienst der deutschen Arbeitgeberverbände v. 29.6.1953: Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zur Bildung von Familienausgleichskassen (PA, I/1053 B). Auch die Arbeitsgemeinschaft selbständiger Unternehmer (ASU) sprach sich in ihrer Stellungnahme v. 1.7.1953 für den Unionsentwurf aus (PA, I/1053 B). Vgl. dazu auch Scheybani, S. 487. 277 Vgl. auch die an die Mitglieder des Unterausschusses »Kinderbeihilfen« des Sozialpolitischen Ausschusses übermittelte Stellungnahme der BDA v. 6.6.1953 (PA, I/1053 B). 278 Der Hauptausschuss für Sozialpolitik im ZDH hatte sich sowohl im Frühjahr als auch im Herbst 1952 mehrheitlich für eine steuerpolitische Lösung des Familienlastenausgleichs ausgesprochen. Vgl. Scheybani, S. 487. – Vgl. auch die Stellungnahme von Coers (ZDH) in der Sachverständigenanhörung im AfSP am 12.9.1952 (Anlage zum Kurzprotokoll der 148. Sitzung); Coers, Endlösung, S. 230 279 Der DGB sandte seine »Grundsätze« am 1.6.1954 an die Mitglieder des AfSP (PA II/67 A). 280 Stellungnahme der DAG v. 25.6.1954, übermittelt an die Bundestagsfraktionen und die Mitglieder des AfSP (PA, II/67 A). Vgl. auch die Stellungnahme, die die DAG am 17.4.1950 dem Bundesarbeitsminister übermittelt hatte (PA, I/1953 B).

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Steuerklasse III und der damit verbundenen Vergünstigungen aussprach,281 folgte der DGB der Forderung der SPD nach Abschaffung der Steuerklasse III.282 Einwände erhoben DGB und DAG auch gegen die geplante Durchführung bei den Berufsgenossenschaften. Besonders bedenklich erschien die Auszahlung der Kinderbeihilfen durch die Arbeitgeber. Hierdurch könne es »zu Misshelligkeiten unter den Arbeitnehmern, zu Störungen des Betriebsfriedens und zu einer Beeinträchtigung der Arbeitsleistungen« kommen.283 Die Gewerkschaften plädierten stattdessen dafür, die Verwaltung und Auszahlung des Kindergeldes entweder einer eigenen Bundesanstalt oder den Finanzämtern zu übertragen.284 Schließlich sahen die Beschlüsse der Gewerkschaften vor, das Kindergeld bereits ab dem zweiten (DGB) bzw. ab dem ersten Kind (DAG) zu gewähren. Für die Ablehnung des berufsständischen Prinzips und die Befürwortung staatlicher, steuerfinanzierter Leistungen waren im Falle des DGB, so ist zu vermuten, auch »ideologische« Gesichtspunkte ausschlaggebend. Anfang der fünfziger Jahre war die Frage nach der künftigen Organisation und Finanzierung der Sozialversicherungsleistungen noch nicht endgültig entschieden. Zwar waren die DGB-Gewerkschaften keine Anhänger einer einheitlichen Grundversorgung (mehr), doch schwebte die Idee eines einheitlichen, mehr auf staatliche Versorgungs- als auf Versicherungsleistungen ausgelegten Systems weiter im Raum. Die DGB-Gewerkschaften waren daher darauf bedacht, nicht noch weitere soziale Leistungen – in diesem Fall ein beitragsfinanziertes Kindergeld – in das berufsständische System einzufügen. Da den Arbeitgebern schon jetzt die Beiträge zu den Sozialversicherungen als Argument dienten, um Lohnerwartungen zu dämpfen, versprachen sich die Gewerkschaften von weiteren Lasten für die Wirtschaft keine Vorteile. Für die DAG greift ein solches »ideologisches« Motiv freilich nicht, da die DAG von Anfang an eine Befürworterin des traditionellen berufsständischen Sozialversicherungssystems war. Hier muss vielmehr die Vermengung von Familien- und Soziallohn und damit die Untergrabung des Leistungsprinzips bei der Entlohnung als ausschlaggebendes Element für die Ablehnung des Unionskonzepts gesehen werden. Generelle Unterstützung für das Unionskonzept kam von den Familienverbänden. Die Anfang der fünfziger Jahre gegründeten Familienverbände – der »Deutsche Familienverband« (DFV), der »Familienbund der Deutschen Katholiken« (FDK), die »Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familien­fragen« (EAF) und der »Bund der Kinderreichen Deutschlands« (BKD)  – sahen ihre 281 Stellungnahme der DAG, erstattet in der 48. Sitzung des AfSP am 14.9.1950 (PA, I/1053 A, Anlage zum Kurzprotokoll). 282 Vgl. Bührig in der Sitzung des DGB-Bundesvorstands am 10.9.1951 (= Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 11, Dok. 29, S. 226). 283 Richter auf dem Bundeskongress des DGB im Oktober 1954 in Köln (Protokollband, S. 300). 284 Vgl. ebd.; dazu auch Kuller, Familienpoliltik, S. 190 f.

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Hauptaufgabe darin, die Bedürfnisse, Wünsche und Anliegen der Familien gegenüber Regierung, Parteien und Öffentlichkeit zur Geltung zu bringen.285 Sie verstanden sich als »legitime Sprecher« der Familien und zugleich als Partner und Vermittler von staatlicher Familienpolitik.286 Zusammen mit der katholischen Kirche plädierten sie für die Zahlung von Kinderbeihilfen durch die Wirtschaft sowie für die Errichtung von Familienausgleichskassen. Insbesondere die kirchennahen Familienverbände fürchteten, eine staatliche Kinder­ geldregelung könne zu sehr eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Familien bedeuten.287 Da sich die Familienverbände vor allem auch als Interessenvertreter der kinderreichen Familien verstanden, stimmten sie der Begünstigung von Mehrkinderfamilien zu. Allerdings setzten sie sich zusammen mit dem Bundesfamilienminister ab 1955 vehement für den weiteren Ausbau der Kindergeldzahlung und die Einführung des Zweitkindergeldes ein.288 Das Prinzip des »schichtinternen Familienlastenausgleichs« wurde von den Familienverbänden insgesamt nicht hinterfragt. Es ist zu vermuten, dass die Familienverbände ihre Mitglieder vor allem aus bürgerlichen und damit sozial besser gestellten Familien rekrutierten, die in ihrer Mehrzahl von der dualen Struktur des Familienlastenausgleichs profitierten. Eine eigene Arbeiterfamilienorganisation gab es in der Bundesrepublik nicht.289 Forderungen nach sozialer Umverteilung oder gezielter Förderung sozial schwacher Familien artikulierten sich innerhalb der Familienverbände daher nicht. Für die Familienverbände und die katholische Kirche verlief die soziale Spaltung weniger zwischen »armen« und »reichen« Familien, als vielmehr zwischen Familien ohne Kinder und mit Kindern. 3.4 Kinderreiche vs. Kinderlose? Der Familienlastenausgleich als Gegenstand wissenschaftlicher Expertise Wie bei der Entscheidung zur Rentenreform 1957 auch, spielten die von der Regierung zu Rate gezogenen wissenschaftlichen Experten im Vorfeld eine wichtige Rolle. Familiensoziologen, Bevölkerungs- und Wirtschaftswissenschaft285 Bei der Gründung der Familienverbände dienten die Familienbewegungen im Ausland, insbesondere in Frankreich und Belgien, als Vorbilder; vgl. Ludwig. Zur Entstehung und Programmatik der Familienverbände vgl. ausführlich auch Kuller, Familienpolitik, S. 125 ff.; Ruhl, Unterordnung, S. 138 ff. 286 Vgl. Wingen, Ziele, S. 195 f. 287 Vgl. dazu auch Rölli-Alkemper, S. 532 f. 288 Die in der Denkschrift des BMFa von 1955 niedergelegten Forderungen und deren Begründungen stießen bei den Familienverbänden auf »ungeteilte Zustimmung«. Vgl. Schreiben der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Familienorganisationen an den Bundeskanzler v. 30.11.1955 (BA. 136/6134). 289 Vgl. dazu Bericht über den Weltfamilienkongress 1954 in Stuttgart, in: Der Arbeitgeber 6 (1954), S. 721.

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ler drängten beim Familienlastenausgleich auf eine »schichtinterne« Regelung. Sie argumentierten, dass sich in einer Gesellschaft wie der Bundesrepublik, »die ebenso wenig proletarisch wie bürgerlich« sei, eine auf bestimmte Schichten ausgerichtete Sozialpolitik überlebt habe. Nicht die »Klasse«, sondern die Familie müsse zum neuen Ausgangspunkt und Maßstab für sozialpolitische Maßnahmen gewählt werden und zwar »quer« durch alle Klassen und Schichten.290 Gerhard Mackenroth bezeichnete in seinem Vortrag über die »Reform der Sozialpolitik« den »Familienlastenausgleich« als die »sozialpolitische Großaufgabe des 20. Jahrhunderts«, mit dessen Hilfe es gelingen müsse, eine »ganz große Einkommensumschichtung« zu vollziehen. Dabei müsse die Umschichtung nicht »zwischen Einkommens- und Sozialschichten, sondern innerhalb jeder Schicht zwischen den Familien« erfolgen.291 Einer der bedeutendsten und sachkundigsten Sozial- und Familienforscher der fünfziger Jahre war der Hamburger Soziologieprofessor Helmut Schelsky. Seine Analysen über das Schicksal und die Rolle der Familien in der Nachkriegszeit prägten das Frauen- und Familienbild in der frühen Bundesrepublik.292 Schelsky argumentierte, dass die Familie zum Agenten der Aufstiegsmobilität geworden sei und für das berufliche Aufstiegsstreben ihrer Mitglieder oft große Opfer bringe. Diese stünden in keinem Verhältnis zu ihrer wirtschaftlichen Lage. Die Gesellschaft müsse daher jede Anstrengung unternehmen, die Familie zu stützen und zu erhalten.293 Eine Sozialpolitik, die die Familien mehr als bisher zur allgemeinen sozial-moralischen Leitidee ihrer Maßnahmen mache, so die Schlussfolgerung Schelskys, könne die aus der Not der Kriegs- und Nachkriegsereignisse geborene gesellschaftliche Entwicklung »durchaus ins Förderliche wenden«.294 Schelsky, dessen Thesen in der Öffentlichkeit breit rezipiert wurden, war auch Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Familienfragen295 und in dieser Funktion ab

290 Mackenroth, Reform der Sozialpolitik, S. 57. 291 Ebd., S. 58 f. 292 Vgl. Schelsky, Aufgaben; ders., Gleichberechtigung. Schelskys Studie, »Wandlungen der deutschen Familie« war vermutlich die einflussreichste Familienanalyse der Zeit. Zum Frauen- und Familienleitbild Schelskys vgl. auch Moeller, S. 189 ff. 293 Schelsky, Einfluss auf die Grundanschauungen, S.  287. In den fünfziger Jahren führte Schelsky diese Thematik weiter. Seine Untersuchungen zur Familie der Nachkriegszeit bildeten den Ausgangspunkt für seine These der Herausbildung einer »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«, die heftige Diskussionen auslöste. Vgl. Schelsky, Bedeutung des Schichtungsbegriffs. Zur Kritik an Schelsky vgl. insb. Dahrendorf, Gesellschaft, S. 137 ff.; Mooser, Abschied; Braun, Schelskys Konzept. 294 Schelsky, Einfluss auf die Grundanschauungen, S. 288. 295 Der »wissenschaftliche Familienbeirat« wurde 1954 vom Familienminister als zwölfköpfiges Beratungsgremium eingerichtet. Er war in der ersten Phase bis 1959 zu etwa gleichen Teilen aus Vertretern der Wissenschaft, der sozialen Praxis und der Familienverbände zusammengesetzt. 1959 erfolgte eine Umgestaltung mit dem Ziel, den Wissenschaftlern ein größeres Gewicht zu verleihen. Vgl. Beirat für Familienfragen, in: Politisch-soziale

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Mitte der fünfziger Jahre an den Überlegungen zur Reform des Familienlastenausgleichs beteiligt. Ein weiterer Protagonist in der Kindergelddebatte war der Publizist und Schriftleiter des Ärztlichen Zeitschrift Ferdinand Oeter, dessen Arbeiten sowohl vom zuständigen Bundestagsausschuss als auch vom Familienminister regelmäßig zitiert wurden und der seit 1959 Mitglied des Beirats beim Bundesfamilienministerium war. Oeters Empfehlungen für einen Familienlastenausgleich knüpften an die Überlegung an, dass Familien sehr viel mehr für die Gesellschaft und die Volkswirtschaft leisteten als Kinderlose. In der unterschiedlichen Belastung »mit den Kosten der Reproduktion der menschlichen Arbeitskraft durch Aufzucht von Kindern« sah Oeter daher den wesentlichen Faktor sozialer Ungerechtigkeit und die Hauptursache der »modernen ›sozialen‹ Frage«.296 Die Gesamtgesellschaft sei »Nutznießer einer Leistung der Familie«, für die unter den besonderen Umständen der modernen Wirtschaftsstrukturen kein natürlicher Ausgleich mehr gewährt werde.297 Die unausweichliche Folge hiervon sei die Entstehung einer sozialen Kluft zwischen Familien gleichen Einkommens und unterschiedlicher Kinderzahl. Die Familie mit größerer Kinderzahl müsse zwangsläufig absinken, »weil der soziale Lebensstandard von der Kleinstfamilie im Endeffekt vom familienlosen Individuum diktiert« würde.298 Für Oeter gab es auf die Frage, wie diese soziale Diskrepanz beseitigt werden konnte, »nur eine Antwort: Ausgleich der Familienlasten durch Belastung derjenigen, die weniger Kinder haben, als für ihre Alterssicherung notwendig ist, und Entlastung derjenigen, deren überdurchschnittliche Kinderzahl erst die Voraussetzungen für die Erhaltung der sozialen Leistungen schafft«.299 Dieser Ausgleich zwischen Kinderlosen und Kinderreichen sollte nach Ansicht Oeters schichtspezifisch erfolgen, da die soziale Diskrepanz in gehobenen Bevölkerungsschichten prinzipiell die gleiche sei wie in den Kreisen der Niedrigverdienenden. Sogar seien die gehobenen Einkommen durch die familienfeindliche Steuerstufung letztlich noch mehr belastet als die unteren.300 Solche Maßnahmen zur Sanktionierung von Kinderlosigkeit, die in der Bundesrepublik schnell unangenehme Erinnerungen an die Zeit der NS-Diktatur aufkommen ließen, waren in Frankreich in unterschiedliche Form bereits in der Zwischenkriegszeit praktiziert worden. Beispielsweise galt nach dem Steuer­

Korrespondenz 3 (1954), Nr. 22, S. 22 f.; Beirat beim Bundesminister für Familienfragen, in: Bulletin Nr. 204 v. 28.10.1954, S. 1815. Dazu ausführlich auch Kuller, Familienpolitik, S. 97 ff. 296 Oeter, Familiengerechte Sozialpolitik, S.  289. Vgl. auch zum Folgenden Stellungnahme ­Oeters in der Sachverständigenanhörung im AfSP am 19.9.1952 (Protokoll der 149. Sitzung). 297 Oeter, Organischer Ausgleich, S. 273. 298 Ebd. 299 Oeter, Aufgabe und Voraussetzung, S. 210. 300 Vgl. dazu die entsprechenden Beispiele bei Oeter, Probleme der Familienlasten, S. 292 f.

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gesetz von 1920 für Familien mit einem Kind eine »normale« Besteuerung. Bei mehr Kinder trat eine steuerliche Entlastung ein (»détaxe«), bei Kinderlosigkeit eine Steuererhöhung (»surtaxe«).301 Die im »Code de la famille« 1939 festgeschriebene Kompensationssteuer hingegen erhöhte die Steuern für Alleinstehende und Ehepaare ohne Kinder je nach Einkommen um bis zu 20 Prozent. Die eindeutig pronatalistische Zielsetzung dieser Maßnahmen fügte sich in die als Bevölkerungspolitik betriebene französische Familienpolitik und beruhte auf einem breiten politischen und gesellschaftlichen Konsens.302 Ein ausgesprochen komplexes Verfahren zur Aufteilung der Familienlasten zwischen Kinderarmen und Kinderreichen in der Bundesrepublik entwickelte Mitte der fünfziger Jahre Wilfried Schreiber, der Autor des sog. »Schreiber­ plans«.303 Schreiber war der Auffassung, dass die Institutionen der Altersrente und des Kindergeldes notwendigerweise zusammengehörten und als Einheit gesehen werden müssten. Notwendig sei daher ein »Solidarvertrag« nicht nur zwischen der Erwerbstätigen- und Rentnergeneration, sondern auch zwischen der Erwerbstätigen- und Kindergeneration. Im zweiten Teil  seiner Ausarbeitung »Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft«  – der erste Teil enthielt seine Ideen für eine »dynamische Altersrente« – plädierte Schreiber für die Einführung einer sog. »Kindheits- und Jugendrente«.304 Die Eltern sollten aus einer Kindergeldkasse Kredite erhalten, die später von den erwachsenen Kindern zurückzuzahlen waren. Dabei hing die Höhe des Rückzahlungsbetrags von der Zahl der eigenen Kinder ab. Als »normal« galt der Erstattungsfaktor für den arbeitstätigen Ehemann mit zwei Kindern. Dieser sollte quotal gemessen nur dasselbe zurückzahlen, was er in seiner Kindheit und Jugend empfangen hatte. Eltern mit nur einem oder gar keinem Kind und »erst recht die Unverheirateten« sollten eine größere Summe, Eltern mit mehr als zwei Kindern eine geringere Summe zurückzahlen. Bei sechs und mehr Kindern sollten die Schulden erlassen werden.305 Auch Schreiber war ein Befürworter des »schichtinternen« Familienlastenausgleichs. Sein Plan sah vor, die »Kindheitsrente« als einen festen Prozentanteil des Arbeitseinkommens des Ernährens zu gewähren. Das bedeutete, dass Familien mit einem höheren Einkommen auch einen höheren absoluten Darlehensbetrag erhielten. Dagegen sollte sich der Rückzahlbetrag nicht nach der Höhe des Darlehens, sondern nach einem bestimmten Prozentsatz des späteren

301 Vgl. Schultheis, S. 289 f. 302 Vgl. ebd., S. 349 f. 303 Vgl. S. 86 f. 304 Vgl. Schreiber, Existenzsicherheit, S.  31 ff. (in Auszügen abgedruckt bei: Richter, Sozial­ reform, H VI 1) (= Geschichte der Sozialpolitik, Dok. 3/166). Vgl. auch den von Schreiber im Auftrag des BMFa erstattete Forschungsbericht: Die sozioökonomische Funktion des Familienlasten-Ausgleichs in der freiheitlichen Gesellschaftsordnung. 305 Vgl. ebd.; ders., Kindergeld, S. 36 ff. – Zur Kritik am Schreibers Plänen vgl. vor allem Auerbach, Übereinstimmung.

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Arbeitsverdienstes des Kindes bemessen.306 Schreiber setzte damit die Kinder­ kosten in Relation zum Einkommen.307 Die Wissenschaftler und Sozialforscher lieferten insgesamt Schlüsselelemente für das Familienlastenausgleichskonzept der Union und nahmen damit die gleiche Rolle ein wie bei der Rentendebatte. Es handelte sich zum Teil um dieselben wissenschaftlichen Berater, die das Problem der Renten und des Kindergeldes im Kontext der allgemeinen Reform der Sozialpolitik behandelten. Ähnlich wie bei der Rentenreform 1957 hatten ihre Arbeiten bei der Vorbereitung der Gesetzentwürfe und bei den parlamen­tarischen Beratungen eine unterstützende, ja legitimierende Funktion.308 Die Regierung schreckte jedoch davor zurück, Alleinstehende und Kinderlosen durch Abgaben an der Aufbringung der Mittel zu beteiligten, wie von Oeter und Schreiber vorgeschlagen. Ein solcher Weg schien durch die NS-Vergangenheit diskreditiert. Zudem wurde befürchtet, eine Politik der Bestrafung Kinderloser könne in der Bevölkerung nicht mehrheitsfähig sein und sich bei bevorstehenden Wahlen negativ auswirken. Mit der Absage an einen Pronatalismus zog die bundesrepublikanische Familienpolitik nicht nur eine Grenzlinie zum NS-Staat, sondern auch zur Fami­ lienpolitik in der DDR. Dort wurden z. B. durch den Ehekredit309 und die besondere Berücksichtigung von jungen Familien bei der Zuteilung von Wohnraum bewusst pronatalistische Anreize gesetzt. Vor allem auch durch den Ausbau von Leistungen für erwerbstätige Frauen gelang es dem Regime, im Laufe der sechziger und siebziger Jahre die »Mütterrate« zu erhöhen.310

306 Eine solche Regelung bedeutete, wie Auerbach in seiner Kritik der Schreiberschen Denkschrift vorrechnete, dass für das Kind des 1-DM-Stundenlöhners monatlich 20  DM gezahlt würden, für das Kind des 700-DM-Angestellten hingegen 70  DM. Wenn beide Kinder später, trotz solch unterschiedlicher Ausgangshilfen, den gleichen Arbeitsverdienst hätten, so sollten sie bei gleichem Familienstand 30 Jahre lang den gleichen Beitrag zur Kinderkasse zahlen, »obwohl für das Arbeiterkind insgesamt 4800 DM, für das Angestelltenkind aber 16.800 DM gezahlt worden waren«. Auerbach, Übereinstimmung, S. 359. 307 Vgl. dazu auch Schreiber, Kindergeld S. 36: »Sinnvoll wäre ein ›schichtspezifischer‹ Familienlasten-Ausgleich, der die Höhe des Kindergeldes in feste Relation zu dem tatsächlich dem Kind gewidmeten Aufwand setzt«. 308 Vgl. auch Achinger, Begründung zu dem Referentenentwurf eines Gesetzes über die Gewährung von Kinderbeihilfen v. 26.4.1951 (BA, B 153/733) (= Geschichte der Sozialpolitik, Dok. 3/55); ders., Kinderbeihilfen als Teil; ders., Kinderbeihilfen volkswirtschaftlich. Hans Achinger war Professor für Sozialpolitik an der Universität Frankfurt und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats beim Bundesarbeitsministerium. 309 Die DDR gewährte bei der Eheschließung einen zinslosen Kredit, den man – wie beim NSEhestandsdarlehen – »abkindern« konnte. 310 Vgl. Schulz, Soziale Sicherung, S. 139 f., 144.

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4. Vom schichtinternen zum schichtübergreifenden Familienlastenausgleich: Die Kindergeldgesetzgebung 1954–1975 Während in den meisten (west-)europäischen Wohlfahrtsstaaten bereits Ende der vierziger Jahre – in der DDR bereits 1950 – Gesetze zum Schutz und zur Förderung von Familien erlassen worden waren, kam die Arbeit am ersten Kindergeldgesetz in Ausschüssen des Deutschen Bundestages in der ersten Legislaturperiode nur schleppend voran. Neben der SPD leistete auch der Koa­ litionspartner DP Widerstand gegen die im Unionsentwurf vorgesehenen Regelungen.311 Im November 1951 stellte der Ausschuss für Sozialpolitik seine Beratungen sogar ganz ein.312 Erst im Herbst 1952 wurde mit einer umfang­ reichen Sachverständigen-Anhörung die Frage der Kinderbeihilfen wieder aufgegriffen.313 Ein Kindergeldgesetz kam jedoch nicht mehr zustande. 4.1 Umstrittenes Gesetz: Die Kindergeldregelung von 1954 Die Unionsparteien gingen aus den Bundestagswahlen im Herbst 1953 als Sieger hervor und errangen die absolute Mehrheit der Mandate. Der »sozialpolitische Misserfolg der ersten Adenauer-Regierung«314 in Bezug auf die Kindergeldgesetzgebung hatte der CDU/CSU somit nicht geschadet. In seiner Regierungserklärung gestand der Bundeskanzler die bisherigen Versäumnisse im Bereich der Familienpolitik ein und versprach, das »schon in Angriff genommene, bisher aber offengebliebene Problem, in welcher Weise den Familien durch Gewährung von Kinderbeihilfen ein gewisser Ausgleich für die besonderen finanziellen Lasten zu gewähren« sei, »möglichst bald« einer Lösung zuzuführen. Er hob weiter hervor, dass es sich dabei nicht um eine Frage handele, »die lediglich die in der gewerblichen Wirtschaft tätigen Menschen« betreffe; sie erstrecke sich vielmehr auch »auf den Bereich der freien Berufe, der Beamten, Angestellten und der landwirtschaftlichen Bevölkerung«.315 Ende 1953 wurden im Arbeitskreis Arbeit und Soziales der CDU/CSU-Fraktion die Arbeiten am Kindergeldgesetz fortgesetzt. Am 11. März 1954 legte die Union ihren neuen Gesetzentwurf über die »Gewährung von Kindergeld und die Errichtung von Familienausgleichskassen« vor.316 Dieser hielt an der Errich311 Vgl. Kuller, Familienpolitik, S. 167. 312 In der 111. Sitzung des AfSP v. 8.11.1951 wurde über den CDU-Entwurf vorläufig letzt­ malig beraten. Vgl. ausführlich Nelleßen-Strauch, Kindergeld, S. 111 ff., 126. 313 Vgl. Protokolle der 148., 149. u. 151. Sitzung des AfSP v. 12.9., 19.9. u. 3.10.1952 (nicht in der Gesetzesdokumentation PA, I/1053 A enthalten). 314 Hockerts, Adenauer, S. 472. 315 Sten. Ber., Bd. 18, S. 18. 316 BT-Drs. II/319. Die SPD-Fraktion hatte einen Tag zuvor, am 10.3.1954, einen neuen Gesetzentwurf über die Gewährung von Kinderbeihilfen eingebracht (BT-Drs. II/318).

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tung von Familienausgleichskassen bei den Berufsgenossenschaften fest und sah Kinderbeihilfen ab dem dritten Kind in Höhe von monatlich 25 DM vor. Noch am selben Tag stellte außerdem der Finanzminister in seiner Parlamentserklärung über die Grundzüge einer »Großen Steuerreform« eine weitere steuerliche Entlastung für Familien mit Kindern in Aussicht.317 Geplant war eine Erhöhung der jährlichen Freibeträge für das erste und zweite Kind von 600 auf 720 DM, für das dritte und alle weiteren Kinder von 840 auf 1.440 DM. Familien mit drei und mehr Kindern sollten künftig bei einem Jahreseinkommen von unter 5.600 DM steuerfrei sein.318 Wenngleich die Beratungen über das Kindergeld dieses Mal verhältnismäßig zügig voranschritten,319 so konnte das nicht über die Meinungsverschieden­ heiten hinwegtäuschen, die innerhalb der Regierungskoalition, vor allem aber auch innerhalb der Unionsfraktion über die endgültige Regelung bestanden. Gerungen wurde insbesondere um die Frage, ob der selbständige Mittelstand in das System der Familienausgleichskassen einbezogen werden sollte und wenn ja, zu welchen Bedingungen.320 Die Mittelstandsvertreter der Unionsfraktion setzten sich entsprechend der Wünsche von Handwerk und Landwirtschaft dafür ein, die Selbständigen bei der Gewährung von Kinderbeihilfen zu berücksichtigen.321 Sie forderten jedoch, die finanzielle Belastung so gering wie möglich zu halten. Ihrer Argumentation zufolge befanden sich die Selbständigen häufig wirtschaftlich in keiner günstigeren Lage als die Arbeitnehmer; der »Einmannbetrieb« dürfe daher durch die vorgesehene Kindergeldregelung insgesamt nicht schlechter gestellt werden als der »Facharbeiter«.322 Einer der Protagonisten der Debatte, Kurt Schmücker, schlug in der Fraktionssitzung am 6.  Oktober 1954 vor, zur Eindämmung der Belastung der Selbständigen eine Höchstgrenze der Beiträge von einem Prozent der Einkommen festzusetzen. Eine solche Regelung, so Schmücker, werde es dem Mittelstand erleichtern zuzustimmen.323 317 Sten. Ber., Bd. 18, S. 639. 318 Das Gesetz zur Neuordnung von Steuern v. 16.12.1954 (BGBl. I, S. 373) erhöhte die Frei­ beträge für das erste und das zweite Kind, wie vorgesehen, von 600 DM auf 720. Die Freibeträge für das dritte und jedes weitere Kind wurden dagegen sogar auf 1.680 DM an­gehoben. 319 Der AfSP nahm seine Beratungen am 24.5.1954 auf und schloss sie nach 8 Sitzungen am 9.7.1954 ab (PA, II/67 A). 320 Vgl. Fraktionssitzungen am 23.6., 24.6. u. 13.7.1954 (Sitzungsprotokolle der CDU/CSUFraktion 1953–57, Bd. 1, S. 182–196, 226–240). 321 Z. B. Brand, Stücklen, Friese, Günther und Schmücker in den Fraktionssitzungen vom 23.6., 24.6. u. 13.7.1954 (Sitzungsprotokolle der CDU/CSU-Fraktion 1953–57, Bd. 1, S. 182– 196, 226–240). 322 Vgl. Schmücker in der Fraktionssitzung am 20.9.1954 (Sitzungsprotokolle 1953–57, Bd. 1, S. 344): »Überall bemühe man sich, gerade den Einmannbetrieb wenigstens nicht schlechter zu stellen als den Facharbeiter. Hier aber belaste man ihn. Gerade an der Nahtstelle zwischen Selbständigen und Unselbständigen dürfe man den Schritt nicht zu groß und zu schwer machen«. 323 Sitzungsprotokolle der CDU/CSU-Fraktion 1953–57, Bd. 1, S. 393 f.

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In der Dritten Lesung des Kindergeldgesetzes trug Schmücker sein An­liegen erneut vor. Er griff dabei das populäre Beispiel des gutverdienenden General­ direktors auf, für den Beiträge zur Familienausgleichskasse vom Arbeitgeber gezahlt würden, während der Selbständige mit geringem Einkommen seine Beiträge selbst entrichten müsse. Schmücker betonte weiter, dass er es für sinnvoll hielte, wenn das Kindergeld insgesamt auf »normale Einkommen« begrenzt bliebe.324 Die Forderung nach einer allgemeinen Einkommenshöchstgrenze war jedoch innerhalb von Regierung und Unionsfraktion nicht durchsetzbar. Wie der Bundesfamilienminister in der Dritten Beratung des Kindergeldgesetzes im Bundestag hervorhob, lehnte es die Bundesregierung »mit aller Entschiedenheit« ab, ihre »Familienpolitik zu einer Politik des Mitleids mit den ›armen Leuten mit vielen Kindern‹ stempeln zu lassen«. Ein derartiger Versuch sei ein Angriff auf die familienpolitische Grundkonzeption der Regierung. Diese diene dazu, »gerade auch im Mittelstand einer sozialen Deklassierung der Familien mit mehreren Kindern entgegenzuwirken«.325 Obwohl die Vertreter des gewerblichen Mittelstands und der Landwirtschaft bis zuletzt an ihren Bedenken hinsichtlich der finanziellen und organisato­ rischen Bestimmungen des Gesetzes festhielten,326 rückte die Fraktion ins­ gesamt nicht mehr von ihren ursprünglichen Plänen zur Einbeziehung der Selbständigen ab. Sie entschied sich für die Auslegung, dass es der besondere »Wert« des Gesetzes sei, wenn »Arbeitnehmer und Mittelstand als eine Einheit« betrachtet und behandelt würden.327 Darüber hinaus sollten weitere Verzögerungen unbedingt verhindert und das Gesetz möglichst zügig verabschiedet werden. »Breite Schichten der Wähler«, so hieß es, warteten seit Monaten darauf, dass auf sozialpolitischem Gebiet endlich etwas geschehe.328 Nach langem Hin und Her wurde schließlich im Gesetz entsprechend der Vorstellungen des Handwerks und des Einzelhandels eine Einkommensfreigrenze verankert, nach der Selbständige, die keine Mitarbeiter beschäftigten und deren Einkommen 4.800 DM im Jahr nicht überstieg, beitragsfrei sein sollten.329 324 Vgl. Sten. Ber., Bd. 21, S. 2335 f. 325 Sten. Ber., Bd. 21, S. 1327 f. 326 Zur Haltung des Deutschen Bauernverbandes vgl. insb. auch CDU/CSU-Fraktions­sitzung v. 14.10.1954 (Sitzungsprotokolle 1953–57, Bd.  1, S.  414 f.). In seine Stellungnahme v. 23.6.1954 lehnte auch der Bundesverband der Freien Berufe das vorgeschlagene System der FAK ab. Vgl. Müller, Kaufkraftverlagerung, S. 172. 327 Vgl. Horn in der CDU/CSU-Fraktionssitzung am 20.9.1954 (Sitzungsprotokolle 1953–57, Bd. 1, S. 333). 328 Even in der CDU/CSU-Fraktionssitzung am 20.9.1954 (Sitzungsprotokolle 1953–57, Bd. 1, S. 333 f.). Die Herausnahme der Selbständigen aus dem Gesetzentwurf hätte zu einer er­ neuten Überweisung an den AfSP geführt und eine Verabschiedung beträchtlich verzögert. 329 Vgl. Beschluss in der CDU/CSU-Fraktionssitzung am 22.9.1954 (Sitzungsprotokolle 1953– 57, Bd. 1, S. 357); Änderungsantrag der CDU/CSU-Fraktion, Umdruck 169 v. 12.10.1954 und Nachtrag zum Änderungsantrag v. 14.10.1954 (Sten. Ber., Bd. 21, S. 2376 ff.). Vgl. dazu näher auch Scheybani, S. 488 f. – Eine ähnliche Regelung galt seit 1939 auch für die Selbständigen in Frankreich.

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Die Landwirte sollten nur ein Drittel der für die Beihilfezahlungen notwendigen Mittel selbst aufbringen, der Rest würde von den Familienausgleichskassen übernommen. Bei den Beratungen im Sozialpolitischen Ausschuss und im Plenum des Bundestages lehnte die CDU/CSU-Fraktion so gut wie alle Änderungsanträge der übrigen Parteien ab.330 Am 14. Oktober 1954 wurde das Gesetz schließlich mit einer knappen Mehrheit von 215 zu 202 Stimmen bei einer Stimmenthaltung vom Parlament verabschiedet.331 Sowohl die Opposition wie auch die Koa­ litionspartner stimmten gegen das Gesetz. Ernst Schellenberg (SPD) bezeichnete es in seinem Abschlussplädoyer als das »schlechteste Kindergeldgesetz Europas«.332 Die Kritik an der Kompliziertheit und »Undurchführbarkeit« des Gesetzes333 und der kompromisslosen Haltung der Unionsparteien wurde von weiten Teilen der Öffentlichkeit geteilt.334 Zwar waren die Einrichtung von Familienkassen und die Gewährung des Kindergeldes durch die Arbeitgeber dem französischen Modell nachempfunden. Der Leistungsumfang war jedoch erheblich geringer als in Frankreich und stand insofern in keinem Verhältnis zum Verwaltungsaufwand. Am 15. November 1954, beinahe auf den Tag genau fünf Jahre nach dem ersten Antrag der CDU-Abgeordneten auf Vorlage eines Regierungsentwurfs, wurde das Gesetz im Bundesgesetzblatt verkündet.335 Die erste Auszahlung des Kindergeldes erfolgte zum 1. Januar 1955. 4.2 Änderung und Ergänzung der Kindergeldgesetzgebung (1955–1959) Die nur kurze Zeit nach der Verabschiedung notwendigen Anpassungen und Ergänzungen in der Kindergeldgesetzgebung schienen dem Urteil Schellenbergs Recht zu geben. Wenige sozialpolitische Gesetze, so schreibt Volker Hentschel in seiner »Geschichte der deutschen Sozialpolitik«, hätten schneller ihre 330 Vgl. beispielhaft Kurzprotokolle der 15. u. 16. Sitzung des AfSP v. 6. u. 9.7.1954 (PA, II/67 A).  – Im BT lehnte die Unionsfraktion mit den Stimmen der Koalitionspartner den SPD-Antrag auf Ausdehnung des Personenkreises ab; gemeinsam mit SPD und BHE wurde im Gegenzug der Antrag von FDP und DP auf Herausnahme der Selbständigen abgelehnt. 331 Sten. Ber., Bd. 21, S. 2354. 332 Sten. Ber., Bd. 21, S. 2352. 333 Vgl. Atzenroth (FDP) bei der Dritten Lesung (Sten. Ber., Bd. 21, S. 2338); ebenso Elbrächter (DP) (Sten. Ber., Bd. 21, S. 2354). Schmücker ließ sich daraufhin zu dem in der Folgezeit noch häufig zitierten Ausspruch hinreißen (Sten. Ber., Bd. 21, S. 2342): »Wir lassen uns auch nicht durch größeren Fachverstand von unserer politischen Richtung abbringen«. 334 Vgl. Die Einheit des Parlaments, in: SF 3 (1954), S. 233–234; Art.: Der Streit im Bonner Kabinett geht weiter, in: FAZ, 16.10.1954.  – Auch der Kanzler brachte im Nachhinein sein Unbehagen darüber zum Ausdruck, dass die CDU-Fraktion beim Kindergeld von ihrem Mehrheitsrecht Gebrauch gemacht hatte: »[…] dabei waren wir selber der Auffassung, dass wir eine große Dumm­heit machten.« Adenauer in der Sitzung des CDU-Bundesvorstands am 10.3.1956 (Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1953–57, S. 843). 335 BGBl. I, S. 333.

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praktische Unzulänglichkeit und Revisionsbedürftigkeit bewiesen als das Kindergeldgesetz von 1954. Daher sei die weitere Geschichte des Kindergeldes der »stückweisen, zwei Jahrzehnte währenden Durchsetzung des ursprünglichen SPD-Entwurfs« gleich gekommen.336 Noch im Dezember 1954 wurde das sog. Kindergeldanpassungsgesetz (KGAG) vom Bundestag verabschiedet.337 Es glich die Sozialleistungen für Kinder, etwa im Bereich der Rentengesetzgebung oder des Bundesversorgungsgesetzes, an die Höhe des gesetzlichen Kindergeldes an. Während sich bei den Arbeitnehmern das Familieneinkommen durch die Kindergeldzahlungen jedoch netto um monatlich 25 DM erhöhte, fiel das zusätzlich verfügbare Haushaltseinkommen bei den Sozialleistungsempfängern deutlich niedriger aus, da das Kindergeld mit den sonstigen Sozialleistungen verrechnet wurde.338 Für Fürsorgeempfänger ergaben sich gar keine Verbesserungen; sie waren von vornherein aus dem Anpassungsgesetz herausgenommen worden. Damit blieben die Kindergeldzahlungen in erster Linie eine Maßnahme für kinderreiche erwerbstätige Familienvorstände und waren dementsprechend nur selektiv wirksam. Die erneut nur knappe Mehrheit bei der Verabschiedung spiegelte das Unbehagen wider, welches die Kindergeldregelung für die sozial Schwachen bei den Mitgliedern der anderen Fraktionen hervorrief.339 Mit dem Kindergeldergänzungsgesetz vom 23. Dezember 1955340 wurde die frühe Kindergeldgesetzgebung zu einem vorläufigen Abschluss gebracht. Es bezog sich auf die Familien mit drei und mehr Kindern, die bei den beiden vorangegangenen Gesetzen nicht berücksichtigt worden waren.341 Es handelte sich dabei erstens um Familienvorstände, die bei einem anderen Träger der gesetzlichen Unfallversicherungen als einer Berufsgenossenschaft versichert waren, wie beispielsweise Beschäftigte in Privathaushalten; zweitens um Nichterwerbstätigen, sofern sie nicht aufgrund von Sozialleistungen entsprechende Kinderzuschläge erhielten.342 Die Kosten wurden den Familienausgleichskassen vom 336 Hentschel, Geschichte, S. 203. 337 BGBl. I, S. 17. 338 Vgl. die von Schellenberg (SPD) genannten Beispiele (Sten. Ber., Bd. 22, S. 2917). Die SPDFraktion beantragte daher, das Kindergeld neben den Kinderzuschlägen zu gewähren, wobei die Lasten von den einschlägigen FAK getragen werden sollten (Sten. Ber., Bd. 22, S. 2835 f., 2880 f.). Zur Kritik am Anpassungsgesetz vgl. auch Müller, Kindertragödie. 339 Das Kindergeldanpassungsgesetz wurde vom Bundestag am 8.12.1954 mit 204 gegen 197 Stimmen bei 4 Enthaltungen angenommen (Sten. Ber., Bd. 22, S. 2935). Die Unionsfraktion hatte erneut alle entgegenstehenden Anträge abgelehnt. Vgl. auch Müller, Sind Kinder­ gelder Sozialleistungen. 340 BGBl. I, S. 841. Vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drs. II/1539) v. 26.6.1955. 341 Nach Schätzungen des Abg. Meyer (SPD) belief sich ihre Zahl auf 250.000 bis 300.000 (Sten. Ber., Bd. 22, S. 2957). 342 Vgl. Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Kindergeldgesetzes (BT-Drs. II/1539) S. 10 f. Die in der 2. u. 3. Beratung von der SPD beantragte Ausdehnung der Kindergeldberechtigung auf die Bezieher von Waisenrenten wurde vom Plenum des Bundestages abgelehnt. Vgl. dazu auch kritisch: Kindergeldgesetz Nr.  3, in: SF 4 (1955), S. 127–128; Das Kindergeldergänzungsgesetz, in: SF 5 (1956), S. 21–22; Stahl.

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Bund ersetzt, da für die Leistungen naturgemäß keine Arbeitgeberbeiträge eingezogen werden konnten. Wie die Sozialdemokraten zu Recht registrierten, war hiermit ein erstes Einfallstor für die Aushöhlung des Kassensystems geschaffen worden.343 Auf der Grundlage von Kindergeldgesetz, Kindergeldanpassungsgesetz und Kindergeldergänzungsgesetz gab es dem Statistischen Bundesamt zufolge etwa 1,27 Millionen anspruchsberechtige Kinder. Bis Ende März 1955 waren über 1,1  Millionen Kindergeldanträge gestellt worden. Damit waren die vom Kindergeldgesetz berücksichtigten Kinder fast hundertprozentig erfasst.344 Dass die Unionsfraktion dennoch in der Fraktionssitzung am 13.  Dezember 1955 eine Entschließung verabschiedete, die eine Revision des gesamten organisatorischen Aufbaus der Familienausgleichskassen im kommenden Jahr in Aussicht stellte,345 machte indessen deutlich, dass die erste Phase der Kindergeldgesetzgebung zu keiner wirklich befriedigenden Lösung geführt hatte. Noch vor Ende der zweiten Wahlperiode wurde ein weiteres Kindergeldgesetz verabschiedet. Entgegen der zuvor geweckten Erwartungen brachte das »Gesetz zur Änderung und Ergänzung von Vorschriften der Kindergeld­gesetze« vom 27. Juli 1957346 jedoch keine grundlegende Reform, sondern enthielt nur kleinere Korrekturen  – darunter die Erhöhung des (Dritt-) Kindergeldes von 25 auf 30  DM im Monat.347 Zu der von mehreren Seiten geforderten Verein­ fachung der Kindergeldgesetzgebung kam es nicht. Auch das zweite Kindergeld­ änderungsgesetz vom 16. März 1959348 brachte außer der Erhöhung des Kinder­ geldes für dritte Kinder von 30 auf 40  DM im Monat und der Erhöhung der Einkommensfreigrenzen für beitragspflichtige Selbständige und Landwirte keine wesentlichen konzeptionellen Veränderungen. Der politische Willens­ bildungsprozess im Vorfeld war geprägt vom Widerstand der Mittelstands­ vertreter der Unionsfraktion, der Wirtschaft weitere finanzielle Belastungen im Zuge von Leistungsverbesserungen beim Kindergeld aufzubürden.349 Immer deutlicher erwies sich die Frage der Finanzierung als Hemmnis für die weitere Entwicklung der Kindergeldgesetzgebung.

343 SPD-Pressemitteilung v. 10.12.1955, hier zit. nach: Kuller, Familienpolitik, S. 171. 344 Vgl. Lauterbach, S. 137. 345 Vgl. CDU/CSU-Fraktionssitzungen am 12.12.u. 13.12.1955 (Sitzungsprotokolle der ­1953–57, Bd. 2, S. 913, 918 ff.). Die Entschließung wurde am 14.12.1955 in den BT eingebracht (Umdruck 501, Sten. Ber., Bd. 27, S. 6429). 346 BGBl. I, S. 1061. 347 Vgl. dazu ausführlich Nelleßen-Strauch, Kindergeld, S. 180 ff. 348 BGBl. I, S. 153. 349 Schmücker, als Vertreter des Mittelstandes, erklärte, dass jede Beitragserhöhung untragbar sei, die über eine Gesamtbelastung von einem Prozent der Lohnsumme hinausgehe (Sitzung des Arbeitskreises IV der CDU/CSU-Fraktion am 30.9.1958, hier zit. nach: Nelleßen-Strauch, Kindergeld, S.  206). Vgl. auch die CDU-Bundesvorstandssitzung am 27.11.1958 (Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1957–61, S. 341–347).

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4.3 Zweitkindergeld und grundlegende Neuordnung (1961–1964) Die Arbeiten an den beiden Kindergeldänderungsgesetzen 1957 und 1959 wurden begleitet von der Diskussion um die Einführung eines Zweitkindergeldes, das nicht nur von der Opposition, sondern massiv auch vom Bundesfamilienminister und den Familienverbänden gefordert wurde. Das Bundesfamilienministerium hatte 1955 – ohne Absprache im Kabinett – eine Denkschrift veröffentlicht, in der die Ausweitung des Kindergeldes auf alle Zweitkinder als wichtiger Schritt zur Verbesserung der sozialen Lage der Familien herausgestellt wurde. Der Versuch Wuermelings, in enger Abstimmung mit den Familienverbänden das Zweitkindergeld durchzusetzen, misslang jedoch.350 Das Arbeitssowie das Wirtschaftsministerium lehnten eine Erweiterung des Kindergeldes ab.351 In der aktuellen Lage, so der Bundeswirtschaftsminister, gebe es keinen finanziellen Spielraum für Mehrleistungen im Bereich des Kindergeldes. Es sei außerdem nicht erstrebenswert, »den an sich gesunden Gedanken eines gesetzlich angeordneten Ausgleichs der Familienlasten über den Kreis der kinderreichen Familien […] hinaus wirksam werden zu lassen«. Vielmehr müsse die Einkommensbildung für die »Erwerbstätigen mit Normalfamilie« den marktwirtschaftlichen Regeln überlassen werden. Einer Aufforderung des Bundeskanzlers folgend,352 legte der Bundesfamilienminister im Juni 1959 dem Kabinett eine zweite Denkschrift mit dem Titel »Die wirtschaftliche Situation der Familien« vor.353 Diese Denkschrift stellte fest, dass etwa ein Viertel aller Arbeitnehmerfamilien mit zwei Kindern, ein Drittel aller Arbeitnehmerfamilien mit drei Kindern und zwei Drittel aller Arbeitnehmerfamilien mit vier Kindern auf dem Niveau von Fürsorgeempfängern lebten.354 Trotz gestiegener Individualeinkommen und familienpolitischer Fort350 Vgl. Schreiben des Familienbundes der Deutschen Katholiken an den Bundeskanzler v. 21.6.1957; Resolution der Arbeitsgemeinschaft deutscher Familienorganisationen v. 15.6.1957 (BA, B 136/6165). Auch ein Empfang im Bundeskanzleramt im April 1957 blieb letztlich ohne Erfolg. Vgl. dazu auch Nelleßen-Strauch, Kindergeld, S. 190 f. 351 Vgl. Schreiben des Bundesministers für Wirtschaft an den Bundesminister für Familienfragen v. 20.1.1956 (BA, B 136/6134, Abschrift); Schreiben des Bundesministers für Arbeit an den Bundesminister für Familienfragen v. 12.5.1956 (BA, B 136/6134, Abschrift). Vgl. dazu ausführlich Nelleßen-Strauch, Kindergeld, S. 188 ff. 352 Vgl. Vermerk des Ref. 7 des BK v. 2.2.1959 (enthält einen Auszug aus dem Kurzprotokoll über eine Besprechung des Bundeskanzlers mit den Vertretern der Familienverbände und den Bundesministern Wuermeling und Blank am 27.1.1959); Ergebnisprotokoll über eine Besprechung zwischen dem Vorsitzenden der Unionsfraktion Krone und dem Bundesfamilienminister v. 22.1.1959 (BA, B 136/6135). 353 Die wirtschaftliche Situation der Familien in der Bundesrepublik. Denkschrift des Familienministeriums, Bonn 1959 (BA, B 136/6135). Im Unterschied zur Denkschrift von 1955 war die Denkschrift von 1959 »Nur für den Dienstgebrauch« bestimmt. Sie gelangte aber durch »Indiskretionen« in die Tagespresse. Vgl. Vermerk des Ref. 7 des BK für den Bundeskanzler v. 24.7.1959 (BA, B 136/6135). 354 Denkschrift »Die wirtschaftliche Situation der Familien« (BA, B 136/6135), S. 17.

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schritte auf dem Gebiet der Einkommensteuer sei die wirtschaftliche Lage von Familien mit Kindern erheblich schlechter als die von Alleinstehenden oder kinderlosen Ehepaaren. Vor allem »die große Mitte, nämlich die Schicht der Masseneinkommen bis etwa 800,-- DM monatlich, in der sich die ganz überwiegende Mehrzahl aller Arbeitnehmer und Selbständigen« befinde, sei zurückgeblieben. Bei den Mehrkinderfamilien dieses Bereichs müsse »in einer hohen Zahl von Fällen und bis in die mittleren Einkommensschichten hinein mit unmittelbarer Existenznot gerechnet werden«.355 Die Denkschrift schlussfolgerte, dass ein »wirksamer, systematischer Familienlastenausgleich« gesucht werden müsse.356 Wie schon die erste, sorgte auch die zweite Denkschrift innerhalb der Regierung für Aufregung.357 Hauptkritikpunkte waren die angeblich pauschalisierten Berechnungsmethoden und die in der Denkschrift vorgenommene vergleichsweise Gegenüberstellung von Arbeitseinkommen und Fürsorgeleistung. Die Ressorts wiesen darauf hin, dass in der Fürsorge das Individualprinzip gelte, in der Beurteilung der wirtschaftlichen Lage der Familien aber das Familieneinkommen zugrunde gelegt werden müsse. Der Vergleich sei damit unsachlich. Darüber hinaus lasse der Begriff »Fürsorge« insgesamt »kein Wohlbehagen im Volk aufkommen« und ziehe die gesamten Bemühungen im Bereich der Familienpolitik ins Negative.358 Trotz anhaltender Unstimmigkeiten bemühten sich die beteiligten Ministerien in den darauffolgenden Wochen und Monaten aber um eine gemeinsame Linie.359 Arbeitsminister Blank und Familienminister Wuermeling waren sich nun einig, dass das Zweitkindergeld kommen müsse. Am 19. Oktober 1960 gelangte das Zweitkindergeld schließlich auf die Tagesordnung der Kabinetts­ sitzung.360 Einen Tag später verständigten sich Arbeits-, Finanz- und Familien­ 355 Ebd., S. 15 f. 356 Ebd., S. 26, 28. 357 Die Aufregung wurde vor allem dadurch verstärkt, dass die Ergebnisse der eigentlich nicht für Veröffentlichungszwecke gedachten Denkschrift in Form einer eigenständigen wissenschaftlichen Studie führender Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats beim BMFa doch publiziert wurden. Die Studie wurde veröffentlicht als: Schmucker u. a., Die ökonomische Lage. 358 Vgl. Vermerk des Ref. 7 des BK v. 15.1.1960 betr. Denkschrift über die wirtschaftliche Lage der Familien in der Bundesrepublik, hier: Ressortbesprechung am 14.1.1960 im BMFa (BA, B 136/6135). Zur Kritik an der Denkschrift im Einzelnen vgl. Finanzminister Etzel an Familienminister Wuermeling v. 6.8.1959 betr. Kritik an der Denkschrift des BMFa über die wirtschaftliche Lage der Familien (BA, B 136/6135, Abschrift) und Wirtschaftsminister Erhard an Familienminister Wuermeling v. 6.1.1960 betr. Stellungnahme zur Denkschrift des BMFa über die wirtschaftliche Lage der Familien (BA, B 136/6135, Durchschrift). Vgl. dazu auch Kuller, Familienpolitik, S. 179 ff.; Nelleßen-Strauch, Kindergeld, S. 218. 359 Vermerk des BMF über die Ministerrunde am 19.1.1960 (BA, B 136/6143). Vgl. auch das Kabinettsprotokoll v. 20.1.1960 (Kabinettsprotokolle, Bd. 13, S. 81 f.). Zum Folgenden auch Kuller, Familienpolitik, S. 181. 360 Vgl. Kurzprotokoll der 125. Kabinettssitzung (Kabinettsprotokolle, Bd. 13, S. 357).

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minister darauf, das zweite Kind in die Kindergeldregelung einzubeziehen, wenn das Einkommen der Familien eine bestimmte Grenze nicht überschritt.361 Zur Finanzierung wurde vereinbart, dass die Arbeitgeber nur mit bis zu einem Prozent der Lohnsumme belastet werden sollten. Für die restliche Summe sollte der Staat aufkommen. Die Auszahlung des Zweitkindergeldes erfolgte nicht über die Familienausgleichskassen, sondern durch eine neue, an die Arbeitsverwaltung angegliederte Organisationsform, die sog. »Kindergeldkasse«.362 Trotz Bedenken stimmten SPD und FDP dem Gesetzentwurf der Regierung am 29.  Juni 1961 im Bundestag zu.363 Rückwirkend ab April erhielten nunmehr alle Familien mit zwei oder mehr Kindern, deren Monatseinkommen 600 DM nicht überstieg,364 für das zweite Kind monatlich 25 DM an Kindergeld. Der Regierung war es damit gelungen, unmittelbar vor Ende der Legislaturperiode eine beträchtliche Leistungsverbesserung im Kindergeldrecht zu verabschieden.365 Das Kindergeldkassengesetz (KGKG) war in finanzieller wie organisato­ rischer Hinsicht für die weitere Entwicklung des Kindergeldrechts bedeutendsam. Indem nun der Staat die Mittel für das Zweitkindergeld zur Verfügung stellte, übernahm er die Aufgabe, die entsprechend der ursprünglichen Konzeption und den ideologischen Grundsätzen der Unionsparteien der Wirtschaft als solidarisches Anliegen zugewiesen worden war. Das KGKG brachte die Kindergeldgesetzgebung damit dem Grundkonzept der Sozialdemokraten einen großen Schritt näher. Es war das erste von insgesamt sechs Kindergeldgesetzen, dass mit den Stimmen der Opposition verabschiedet wurde. Dennoch übte die SPD zusammen mit den Gewerkschaften und den Familienverbänden an der vorgesehenen Einkommensgrenze Kritik. Eine solche sei sozial- und familien-

361 Als Einkommensgrenze wurde der Betrag von 550  DM monatlich vereinbart. Das entsprach der Einkommensgrenze, unter der das Einkommen steuerfrei war. Vgl. Vermerk des BMF vom 21.10.1960 über die Ministerbesprechung am 20.10.1960 (BA, B 126/51577, weitere Unterlagen in: B 136/6134). Vgl. auch Kuller, Familienpolitik, S. 183. 362 BT-Drs. III/2648. Die Familienausgleichskassen blieben jedoch bestehen und waren weiterhin für Kindergeldleistungen an dritte und weitere Kinder verantwortlich. 363 Gesetz über die Gewährung von Kindergeld für zweite Kinder und die Errichtung einer Kindergeldkasse v. 18.7.1961 (BGBl. I, S.  1001). Zum Verlauf der 2.  u. 3.  Beratung am 29.6.1961 im BT vgl. Sten. Ber., Bd. 49, S. 9584–9607. 364 In der Ausschusssitzung am 14.6.1961 hatte die CDU/CSU die Erhöhung der in § 1 vorgesehene Einkommensgrenze von 6.600  DM auf 7.200  DM jährlich beantragt. Begründet wurde dies mit den Auswirkungen des Steueränderungsgesetzes von 1961, wonach der Freibetrag für das erste Kind von 900 auf 1.200 DM gestiegen sei und sich der Freibetrag für das zweite Kind erst ab einem höheren Einkommen auswirke. Vgl. Nelleßen-Strauch, Kindergeld, S. 239 f. 365 Der Vorwurf, es handle sich um ein Wahlgeschenk, ließ daher auch nicht lange auf sich waren. Vgl. Art.: Ein Wahlbonbon für Kinder, in: Handelsblatt, 9.12.1960; Der Bundestag im Endspurt. Kindergeld für das zweite Kind gebilligt, in: SZ, 30.6.1961; Anfang September gibt es Geld für zweite Kinder, in: FAZ, 30.6.1961.

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politisch ungerechtfertigt und komme den Bedürftigkeitsprüfungen in der so­ zialen Fürsorge bedenklich nahe.366 Die beschlossenen Änderungen bei der Finanzierung stellten über kurz oder lang das gesamte Organisationssystem der Kindergeldregelung in Frage. Der Bundeskanzler kündigte dementsprechend in seiner Regierungserklärung im November 1961 einen »Gesetzentwurf zur Vereinheitlichung des Kindergeld­ rechts« an, der die Aufbringung der für die Zahlung von Kindergeld insgesamt erforderlichen Mittel neu regeln sollte.367 Alles deutete darauf hin, dass die vorgesehene Vereinheitlichung auf eine Übernahme der gesamten Kindergeld­ finanzierung durch den Staat hinauslaufen würde. Das bestätigte sich, als die CDU/CSU-Fraktion Anfang 1962 die Einsetzung einer Sozialreformkommission bekannt gab, die den Auftrag erhielt, sich sowohl der Frage des Kindergeldes als auch der Krankenversicherungsreform und der Lohnfortzahlung zu widmen.368 Die Kommission formulierte schon in ihrer ersten Besprechung die Grundgedanken des späteren sog. »Sozialpakets«.369 Danach sollte der Bund die Finanzierung des Kindergeldes übernehmen und damit der Wirtschaft finanzielle Spielräume für die beiden anderen sozialpolitischen Maßnahmen verschaffen.370 Den Gedanken, das Kindergeld gerade mit diesen beiden anderen sozialpolitischen Projekten zu einem Paket zusammenzuschnüren, war inhaltlich kaum begründbar. Die Übernahme der Kindergeldzahlungen durch den Bundeshaushalt schien aber zu diesem Zeitpunkt allen Beteiligten entgegenzukommen. Das Kindergeld bildete eine Art »Verschiebemasse« für die beiden anderen Reformprojekte.371 366 Vgl. DGB-Stellungnahme zum Gesetzentwurf v. 7.4.1961; DAG-Stellungnahme zum Gesetzentwurf v. 4.5.1961 (PA, III/363 B). Vgl. auch Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Familienorganisationen v. 27.4.1961 (PA, III/363 B); Stellungnahme des BDK v. 25.4.1960 u. 17.4.1961 (PA, III/363 B); Schreiben des DFV an den Bundeskanzler v. 13.11.1960 (BA, 136/6135). 367 Sten. Ber., Bd. 50, S. 29. 368 Der Beschluss des CDU/CSU-Fraktionsvorstands wurde in der Fraktionssitzung am 30.1.1962 bekannt gegeben (Sitzungsprotokolle der CDU/CSU-Fraktion 1961–66, Bd.  1, S. 180). 369 Vgl. dazu Kuller, Familienpolitik, S.  187 f.; Nelleßen-Strauch, Kindergeld, S.  249 f.  – Das »Sozialpaket« wurde auf dem 11. Bundesparteitag der CDU in Dortmund im Juni 1962 offiziell beschlossen. 370 Vgl. Arbeitsminister Blank anlässlich der 1. Beratung des »Sozialpakets« am 23.1.1963 im BT (Sten. Ber., Bd. 52, S. 2420): »[…] Es ist kein Geschenk an die Wirtschaft, sondern diese Beitragsentlastung soll der Wirtschaft die Übernahme der Kosten für die geplante Lohnfortzahlung erleichtern«. Vgl. dazu auch: Für und wider das Sozialpaket im Bundestag, in: Soz. Sich. 12 (1963), S. 39 f., 43; Auerbach, Sozialpaket. 371 Kuller, Familienpolitik, S.  189. Der SPD-Sozialexperte Auerbauch sprach in diesem Zusammenhang von der »Strategie des ›sauren Apfels‹«: Nur wenn die Unternehmer in den »sauren Apfel« der Krankenkassenreform und der Lohnfortzahlung beißen würden, könnten sie die finanziellen Vorteile der Kindergeldreform in Anspruch nehmen. Auerbach, Sozialpaket, S. 3. Vgl. auch Holler.

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Der Regierungsentwurf für ein Bundeskindergeldgesetz (BKGG) lag schließlich am 7.  Dezember 1962 vor.372 Vorgesehen war, das Kindergeld nun ausschließlich aus allgemeinen Steuermitteln zu finanzieren und organisatorisch bei der Bundesanstalt für Arbeit anzusiedeln. Darüber hinaus sollte das neue Gesetz einer Vereinheit­lichung des zersplitterten Kindergeldrechts dienen. Im Juni 1962 waren auf parteiinternen und öffentlichen Druck zusätzlich Leistungsverbesserungen in den Gesetzentwurf aufgenommen worden.373 Während die vorgesehene Finanzierung aus Bundesmitteln weder in den Ausschüssen des Bundestages noch im Plenum kontrovers diskutiert wurde, gab es hinsichtlich der geplanten Leistungsverbesserungen noch Meinungsverschiedenheiten. So wollte die Unionsfraktion die Kindergelderhöhungen insbesondere den kinderreichen Familien zugute kommen lassen.374 Sie setzte daher im federführenden Ausschuss für Arbeit einen Antrag durch, nach dem das Kindergeld für dritte Kinder auf 50 DM, für vierte Kinder auf 60 DM und für fünfte und weitere Kinder auf 70 DM im Monat erhöht werden sollte. Im Gegenzug sollten beim Kindergeld für zweite Kinder keine Erhöhungen eintreten und auch die Einkommensgrenze generell bei 7.200 DM im Jahr belassen werden.375 Die Ausschussbeschlüsse gingen ohne weitere Änderungen in das am 7. März 1964 im Bundestag verabschiedete Gesetz ein.376 Obwohl sich gezeigt hatte, dass zahlreiche Zweitkinder aufgrund von Lohnerhöhungen mit der Zeit aus der Kindergeldgesetzgebung herausgefallen waren, konnte sich die Regierungs­ koalition nicht dazu durchringen, die Einkommensgrenze für das Zweitkindergeld anzuheben. Das mag umso mehr überraschen, als die Auswirkungen dieser Regelung einer familienpolitischen Grund­überzeugung der Unionsparteien widersprach: Eine Einkommensgrenze, die »mitten durch die breiten Masseneinkommen« verlief, musste als »wesensfremdes Element« des Familienlastenausgleichs gelten.377 Doch fiel der Vorrang der Zweikinderfamilien den Leistungsverbesserungen für Mehrkinderfamilien zum Opfer, die neben der CDU/ CSU-Fraktion auch der Familienminister und die Familienverbänden forderten. Für beides, so hieß es im Schriftlichen Bericht des Ausschusses für Ar372 BT-Drs. IV/818. 373 Vgl. Entschließung des Landesparteitags der CDU Rheinland-Pfalz am 13.5.1962 in Karlsruhe; Entschließung des Bundesparteitag der CDU 1962 in Dortmund (Parteitagsprotokoll, S.  288). Darüber hinaus drängten die Sozialausschüsse auf einen weiteren Ausbau der Kindergeldleistungen. Vgl. Entschließungen der 9. u. 10. Bundestagung der Sozialausschüsse der CDA 1961 und 1963 (abgedruckt bei: Richter, Sozialreform, H IV 8 u. 9). 374 Vgl. Pitz-Savelsberg in der CDU/CSU-Fraktionssitzung v. 3.10.1962 (Sitzungsprotokolle 1961–66, Bd. 1, S. 364). Auch der Bundesfamilienminister drängte auf Leistungsverbesserungen für kinderreiche Familien. Vgl. dazu Nelleßen-Strauch, Kindergeld, S. 254, 257 f. 375 Vgl. Kurzprotokoll der 50. Sitzung des AfA v. 12.6.1963 (PA, IV/183 A, Bd. 1). 376 Das BKGG trat am 1.7.1964 in Kraft (BGBl. I, S. 265). – Da die Beratungen über die beiden anderen Gesetze des Sozialpakets noch nicht abgeschlossen waren, verständigten sich FDP- und CDU/CSU-Fraktion darauf, das Sozialpaket aufzuschnüren und zunächst nur das BKGG zu verabschieden. 377 Vgl. Münch, Familienpolitik, Bd. 4, S. 578.

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beit, seien keine Deckungsmittel vorhanden. Die Bemühungen der SPD um eine Aufhebung oder zumindest eine Anhebung der Einkommensgrenze beim Zweitkindergeld wurden von den Koalitionsparteien in den Abschlussberatungen abgelehnt.378 Die Klage der Familienverbände, dass der Familienlastenausgleich für die Familien mit zwei Kindern rückläufig sei,379 war jedoch nur die halbe Wahrheit. Denn tatsächlich kamen immer mehr Familien aufgrund steigender Erwerbseinkommen in den Bereich der steuerlichen Progressionszone. Dadurch verloren sie zwar den Anspruch auf das Zweitkindergeld. Gleichzeitig gewannen sie aber Freibeträge hinzu, deren Wirkung in der Regel größer war als die des Kindergeldes.380 Wenn die Einführung des Zweitkindergeldes durch das KGKG von 1961 eine Wende in der Entwicklung des Familienlastenausgleichs einleitete, so wurde diese durch das BKGG von 1964 bestätigt. »Fast lautlos« hatte sich eine grundlegende Neuordnung auf dem Gebiet der Finanzierung und Organisation des Kindergeldes durchgesetzt.381 Da mit wenigen Ausnahmen nun »alle Bewohner der Bundesrepublik« auf der Leistungsseite in Kindergeldregelung einbezogen seien, so die regierungsamtliche Erklärung, sollten »auch die Mittel für die Kindergeldzahlung von der Allgemeinheit aufgebracht werden«.382 Sowohl die Gewerkschaften als auch die Arbeitgeberverbände begrüßten diese Entscheidung, mit der die Kindergeldzahlungen endgültig aus dem Bereich der Lohnpolitik herausgelöst wurden. Demgegenüber standen die Familienverbände der Übertragung der gesamten Kindergeldzahlungen auf den Bundeshaushalt skeptisch gegenüber. Das alte System, so hieß es, habe sich bewährt und werde auch in anderen europäischen Staaten – gemeint war vor allem Frankreich – praktiziert; eine Übernahme durch den Staatshaushalt werde den finanzpolitischen Spielraum nicht vergrößern, vielmehr würden dadurch »die längst fälligen Leistungsverbesserungen auf Jahre hinaus blockiert«.383 Die Familienverbände drangen mit ihrer Kritik jedoch nicht durch. Mit dem 378 Zum Verlauf der 2. u. 3. Beratung vgl. Sten. Ber., Bd. 54, S. 5426–5434 bzw. S. 5586–5595. 379 Vgl. Erklärung der Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Familienorganisationen v. 26.6. 1963 (BA, B 13/6166). 380 Kuller, Familienpolitik, S. 195; Willeke u. Onken, S. 80, 85 f. Vgl. dazu ausführlich S. 248 ff. 381 Nelleßen-Strauch, Kindergeld, S. 269. – Mit dem Inkrafttreten des BKGG wurden das Kindergeldgesetz von 1954, das Kindergeldanpassungsgesetz und das Kindergeldänderungsgesetz von 1955 sowie das Kindergeldkassengesetz von 1961 aufgehoben. 382 Andres, S.  277.  – Kein Kindergeld erhielten weiterhin die Angehörigen des öffentlichen Dienstes und Empfänger von Sozialleistungen, die aufgrund anderer Vorschriften Kinderzuschläge erhielten. 383 Vgl. Entschließung des Zentralen Familienrates des FDK auf seiner Tagung v. 18.–20.5.1962 in Würzburg (abgedruckt in: Stimme der Familie 9 (1962), S. 33); Entschließung des Vorstandes des DFV (abgedruckt in: Informationsdienst der EAF 1 (1962), Nr. 1–2, S. 3); Protestnote des BKD (abgedruckt in: Informationsdienst der EAF 1 (1962), Nr. 1–2, S. 3). Lediglich die EAF nahm in ihrer Resolution nicht auf die Finanzierungsfrage Bezug, vgl. Entschließung der EAF, (abgedruckt in: Informationsdienst der EAF 1 (1962), Nr.  1–2, S. 3). Vgl. dazu auch Kuller, Familienpolitik, S. 191 f.

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BKGG näherte sich die Kindergeldregelung weiter dem ursprünglichen Konzept der SPD an. Das Bundeskindergeld wurde insgesamt an 2,1 Millionen Familien ausgezahlt.384 Es erreichte 1965 rund 31  Prozent aller Kinder unter 18 Jahren. Das war im Vergleich zu Frankreich oder auch zu Schweden eine geringe Quote. Dort profitierten gut 73 bzw. 87 Prozent der Kinder von den Kindergeldleistungen.385 Die geringe Reichweite des bundesrepublikanischen Kindergeldes erklärt sich daraus, dass erste Kinder beim Kindergeld gar nicht berücksichtigt wurden und zweite Kinder nur dann, wenn das Einkommen über der Berechtigungsgrenze lag. 4.4 Die Verwirklichung des sozialdemokratischen Kindergeldkonzepts Auch nach der Verabschiedung des BKGG verblieb die Familienpolitik im Zentrum der sozialpolitischen Reformen. Das Bundeskabinett beschloss im April 1964 die Durchführung einer Sozialenquête, die das gesamte Sozialrecht und seine wirtschaftlichen und soziologischen Auswirkungen untersuchen sollte.386 An erster Stelle der vom Bundesarbeitsministerium erstellten Themenliste stand der Familienlastenausgleich.387 Die Sozialenquête-Kommission unterbreitete der Bundesregierung ihre Reformvorschläge im Juni 1966.388 Diese zielten im Wesentlichen auf eine Vereinheitlichung des Familienlastenausgleichs. Nach den Empfehlungen der Kommission sollte der Dualismus von direkten Kindergeldzahlungen und indirekten steuerlichen Transfers beseitigt und durch eine Lösung ausschließlich über die Einkommensteuer ersetzt werden. Vorgeschlagen wurde, künftig von der Steuerschuld der Familie einen Festbetrag abzuziehen, der ebenso hoch war wie die bisherige durchschnittliche Summe aus Kindergeld und kinderbedingten Steuerermäßigungen. Der Ausgleichsbetrag sollte erst im Nach­hinein von der Steuerschuld abgezogen werden, um zu verhindern, dass seine Wirkung von der progressiven Steuerstaffelung abhing. Einkommensbeziehern, die keine oder nur eine niedrige Einkommensteuer zahlten, sollte der Differenzbetrag im Sinne einer »Negativsteuer« direkt ausgezahlt werden.389 Der Familien384 Alber, Sozialstaat, S. 140 f. (Tab. 11); Kuller, Familienpolitik, S. 194. 385 Vgl. Bahle, S. 125 ff. (Tab. 33, 35 u. 44). 386 Vgl. Kabinettssitzung v. 29.4.1964 (Kabinettsprotokolle, Bd. 17, S. 254 f.). Die Kommission, bestehend aus sieben Vertretern der Wissenschaft und Rechtsprechung, trat am 3.6.1964 zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammen, vgl. BABl. 15 (1964), S. 411. 387 Grundsätze zur Durchführung der Sozialenquête, abgedruckt in: BABl. 15 (1964), S. 390 f. 388 Bericht der Sozialenquête v. 3.10.1966 (BT-Drs. V/961). Gedruckte Fassung: Bogs u. a., Soziale Sicherung, S. 303–337 (in Auszügen auch abgedruckt bei: Richter, Sozialreform, M III 1). 389 Vgl. Bogs u. a., Soziale Sicherung, S. 317–323. Vgl. auch den Vorschlag des Wissenschaft­ lichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen: Gutachten zur Reform der direkten Steuern.

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lastenausgleich wäre auf diese Weise einkommensneutral, d. h. für alle Familien gleich hoch gewesen. Mit dem Vorliegen des Berichts der Sozialenquête-Kommission erschien es unausweichlich, dass sich die  – nunmehr  – Große Koalition (1966–1969) mit der Vereinheitlichung des Familienlastenausgleichs auseinandersetzte. Im familienpolitischen Forderungskatalog der SPD nahm eine einheitliche Regelung ohnehin einen festen Platz ein;390 aber auch die Unionsparteien signalisierten in der fünften Wahlperiode deutlich ihre Bereitschaft, einer Vereinheitlichung des Familienlastenausgleichs im Sinne einer umfassenden steuerlichen Lösung zuzustimmen. Das »Berliner Programm« der CDU vom November 1968 konstatierte, dass »das Nebeneinander von Kindergeld und sehr unterschiedlich wirkenden Steuerermäßigungen für Kinder« reformbedürftig sei. Weiter hieß es dort wörtlich: »Die Ausgleichsleistungen für Kinder müssen in allen Einkommensschichten gleich hoch sein«.391 Die CDU gab damit ihre alten Prinzipien  – Beschränkung der Kindergeldzahlungen auf kinderreiche Familien sowie Bindung der Höhe des Gesamtausgleichs an die Einkommen der Eltern – auf. Allein die DAG hielt Ende der sechziger Jahre noch an einem dualen Familienlastenausgleichssystem fest. In ihrem »Dringlichkeitsprogramm für den 6. Deutschen Bundestag« mit dem Titel »Politik für die Angestellten« forderte sie, dass die Maßnahmen des Familienlastenausgleichs »durch die Steuer­ gesetzgebung und das Kindergeld« zu erfolgen hätten.392 Die DAG stellte sich damit gegen den DGB, der für eine Abschaffung der steuerlichen Freibeträge plä­dierte.393 Offensichtlich gab es hier eine Bruchlinie innerhalb der Arbeitnehmerschaft zwischen den Einkommensgruppen, die von den Freibeträgen profitierten (vor allem besser verdienende Angestellte) und denen, für die eine reine Kindergeldregelung vorteilhaft war (vor allem Arbeiter). Im Dezember 1967 wurde auf Initiative des Familienministeriums ein »Kabinettsausschuss für die Reform des Familienlastenausgleichs« unter Vorsitz von Bundeskanzler Kiesinger eingerichtet. Wegen der rezessionsbedingten klammen 390 Vgl. Erklärung »Gesellschaftspolitik von heute« vor der Parlamentarischen Arbeitskonferenz der SPD am 24.2.1967 (abgedruckt bei: Richter, Sozialreform, G II 20): »Der Familienlastenausgleich muss neu geordnet werden. […] In den Verhandlungen über die Regierungsbildung ging es auch um eine Neugestaltung des Familienlastenausgleichs. Unsere Auffassung wurde akzeptiert. Jetzt hat der Bundesfinanzminister im Bundestag erklärt, die Bundesregierung wolle versuchen, Kindergeld und Kinderfreibeträge im Steuerrecht zusammenzufassen. Wir werden darauf dringen, dass es bald zu einem sinnvollen Gesamtsystem, zu einem gerechteren Familienlastenausgleich kommt«. 391 »Berliner Programm«, beschlossen auf dem 16. Bundesparteitag der CDU v. 4.–7.11.1968 in Berlin, Abschnitt: Soziale Sicherung (abgedruckt bei: Richter, Sozialreform, G I 19). 392 »Politik für die Angestellten«. DAG-Dringlichkeitsprogramm für den 6. Deutschen Bundestag v. 27.10.1969 (abgedruckt bei: Richter, Sozialreform, H II 10). 393 Vgl. Entschließungen des Bundeskongresses des DGB vom Mai 1966 (abgedruckt bei: Richter, Sozialreform, H I 1 t).

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Finanzlage war jedoch ein Scheitern vorprogrammiert.394 Erwartungs­gemäß kam der Ausschuss im Frühjahr 1968 zu dem Ergebnis, dass eine einheitliche Lösung in der laufenden Legislaturperiode bis 1969 nicht mehr zu erreichen sei.395 Das Ausscheiden der Unionsparteien aus der Regierung nach der Bundestagswahl von 1969 war, wie Christiane Kuller hervorhebt, insgesamt nicht mit einem »tiefe[n] Einschnitt in der Konzeption des Familienlastenausgleichs« verbunden.396 Die von der Großen Koalition angestoßene Familienlastenausgleichsreform wurde von der sozialliberalen Koalition weiter vorangetrieben und schließlich Ende 1974 verwirklicht. Dabei kam es jedoch nicht zu der von der Union bevorzugten steuerlichen Lösung. Vielmehr beschloss die SPD-geführte Bundesregierung, die Steuerfreibeträge ganz abzuschaffen und den Familienlastenausgleich künftig nur noch mit Hilfe des Kindergeldes zu regeln. Mit der kombinierten Einkommensteuer- und Familienlastenausgleichsreform, die am 1. Januar 1975 in Kraft trat,397 wurde das Kindergeld auf das erste Kind ausgedehnt und erheblich erhöht. Es betrug künftig 50 DM für das erste Kind, 70 DM für das zweite und 120 DM für das dritte und jedes weitere Kind im Monat. Auf einen für alle Kinder einheitlichen Kindergeldbetrag, wie ursprünglich in den Plänen des Familienministeriums vorgesehen,398 war in einem Kabinettsbeschluss vom 21.  Oktober 1971 verzichtet worden.399 Dazu hatten vor allem auch die Proteste der Familienorganisationen beigetragen.400 Für die meisten Familien traten durch die Umstrukturierung des Familienlastenausgleichs Leistungsverbesserungen ein. Die negativen Effekte der Aufhebung der Kinderfreibeträge wurden durch den Ausbau der Kindergeldregelungen überkompensiert. Der Saldo war jedoch umso größer, je geringer die Einkommen waren, denn der Wegfall der Steuerentlastungen schlug umso 394 Im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung bis 1971, die der Bundestag am 6.7.1967 verabschiedet hatte, waren auch bei den familienpolitischen Leistungen Kürzungen angeordnet worden. So war unter anderem auf die bereits im August 1966 grundsätzlich beschlossene Erhöhung des Kindergeldes verzichtet und auch die erst 1965 eingeführte »Ausbildungszulage« wieder gestrichen worden. Vgl. Finanzplanung des Bundes 1967–1971 v. 7.7.1967 (BT-Drs. V/2065). Vgl. auch Kuller, Familienpolitik, S. 201; Münch, Familienpolitik, Bd. 5, S. 656 f. Zur »Ausbildungszulage« vgl. insb. Wingen, Konzession, S. 53 ff. 395 Vgl. Kuller, Familienpolitik, S. 202 f. 396 Kuller, Familienpolitik, S. 206. 397 Die politischen Turbulenzen des Herbstes 1972 hatten eine schnelle Verabschiedung der Familienlastenausgleichs-Reform verhindert, so dass die ersehnte Neuregelung erst in der 7. Legislaturperiode verabschiedet werden konnte. Die Novelle des bestehenden Kindergeldgesetzes wurde im Rahmen des Einkommensteuerreformgesetzes (BGBl. I, S. 1769) als Artikelgesetz verabschiedet. Zum Verlauf der parlamentarischen Beratungen und zu den Auseinandersetzungen zwischen Bundestag und Bundesrat vgl. Kuller, Familienpolitik, S. 214 f. 398 Vgl. Beschluss der Bundesregierung über »Eckwerte und Grundsätze für die Steuer­ reform« v. 11.6.1971 (BA, B 136/6140). 399 Beschluss der Bundesregierung zur Steuerreform v. 28./29.10.1971 (BA, B 136/6140). 400 Vgl. Gespräche mit den großen Fraktionen. Familienorganisationen sprachen mit CDU/ CSU- und SPD-Fraktion, in: Die Stimme der Familie 18 (1971), Nr. 7, S. 51 f.

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mehr zu Buche, je höher die Einkommen und damit je wirksamer bislang der Progressionseffekt gewesen war.401 Die Zahl der Kindergeldempfänger erhöhte sich durch die Reform von 2 auf 7,3 Millionen Kinder. Während 1970 nur etwa ein Viertel aller Familien mit Kindern unter 18 Jahren Kindergeld erhalten hatte, waren es 1975 knapp 84 Prozent.402 Die Familienlastenausgleichsreform von 1974/75 bildete den Abschluss einer bewegten und durchaus widersprüchlichen Zeit der Kindergeldgesetzgebung. Die vorangegangenen zwei Jahrzehnte waren von dem Bemühen der Unionsparteien gekennzeichnet gewesen, angesichts der allseitigen und berechtigten Forderungen nach angemessenen Unterstützungsleistungen für Familien und unter dem Druck finanzpolitischer Sachzwänge einen Familienlastenausgleich zu konzipieren, der vor allem mit ihren gesellschaftspolitischen Wert- und Ordnungsvorstellungen im Einklang stand. Dazu gehörten die spürbare Entlastung kinderreicher Familien und das Prinzip des »schichtorientierten Ausgleichs«. Das Ziel war gewesen, Familien mit Kindern, insbesondere auch in den mittleren und höheren Einkommensgruppen, vor der »sozialen Deklassierung« zu bewahren. Die Unionsparteien setzten sich dementsprechend vehement für den Erhalt und Ausbau der Vergünstigungen im Steuerrecht ein, die in besonderer Weise den schichtinternen Augleich zwischen Kinderreichen und Kinderlosen der mittleren und höheren Einkommensgruppen garantierten. Bis 1962 wurden dieser Zielsetzung entsprechend die Kinderfreibeträge beträchtlich erhöht; anfangs vor allem für das dritte und alle weiteren Kinder, ab 1957 dann auch für das erste und zweite Kind. Treibende Kraft hierbei war Bundesfamilienminister Franz-Josef Wuermeling. Beim Kindergeld indessen, das lange Zeit als Problem der Lohngerechtigkeit betrachtet wurde,403 entpuppte sich das anfängliche Beharren auf der berufsständischen Lösung als Sackgasse. Das in Frankreich so erfolgreich praktizierte Modell der Familienausgleichkassen konnte sich in der Bundesrepublik auf Dauer nicht durchsetzen. Dazu trug vor allem die Weigerung der Arbeitgeber bei, die Kosten für die notwendige Ausweitung des Kindergeldes zu übernehmen. Der Zwiespalt, in den die Familienausgleichskassenregelung die CDU/ CSU gegenüber den unionsnahen mittelständischen Unternehmen im Verlauf der fünfziger Jahre brachte, ließ sich schließlich nicht mehr anders auflösen als durch eine Abkehr vom »Familienlohnkonzept« und eine Hinwendung zu staatlich finanzierten Kindergeldzahlungen.404 Diese familienpolitische Wende er401 Vgl. dazu ausführlich S. 248 ff. 402 Ohne Kindergeldempfänger im öffentlichen Dienst. Vgl. Alber, Sozialstaat, S. 140 f. 403 Vgl. Kuller, Familienpolitik, S. 166, 219 f. 404 Vgl. Andres, S. 277: »Die Probleme des neuen Zweiges der Sozialen Sicherheit […] mit den Methoden der klassischen Sozialversicherung zu lösen, hat sich jedoch als schwieriger erwiesen, als zunächst angenommen«. Vgl. auch: Die Kindergeldtragödie, in: SF 9 (1960), S. 266: »Um einer Ideologie von ›berufsständischer Solidarität‹ willen ist eine ganz klare Aufgabe äußerst kompliziert und, wie jetzt wohl von niemandem mehr bezweifelt werden kann, falsch gelöst worden«.

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leichterte es Regierung und Fraktion zugleich, an der anfangs getroffenen Entscheidung festzuhalten, sowohl Selbständige als auch Unselbständige in die Kindergeldgesetzgebung einzubeziehen. Die Neuregelung und Neuorganisation der Kindergeldgewährung, wie sie mit dem BKGG zum 1. Juli 1964 in Kraft trat, schuf die Basis, auf der auch in den nachfolgenden Jahren Familienpolitik betrieben wurde.

5. Aufbau, Struktur und Wirkung des Familienlastenausgleichs Zu Beginn der Untersuchung über die Familienpolitik wurde die soziale Situation der Familien in der Nachkriegszeit ausführlich erörtert. Im Mittelpunkt standen dabei die wirtschaftlichen Grundlagen des Familienhaushalts sowie die Korrelationen zwischen Einkommen, Familiengröße und sozialer Stellung. Im Folgenden wird gefragt, wie sich die Leistungen des Familienlastenausgleichs auf die Einkommenslage der Familien auswirkten. Inwiefern verbesserte sich die Lage der Familien durch die familienpolitischen Maßnahmen im Vergleich zur Lage ohne Familienlastenausgleich? Entsprachen die Leistungen den jeweiligen Bedürfnissen der Familien? Welche finanziellen Vorteile oder Nachteile ergaben sich für Familien unterschiedlicher sozialer Schichten durch die Verschränkung von Kindergeldzahlungen und Steuerermäßigungen? Hält die These von den Mittelschichtfamilien als besondere »Profiteure« der Familienlastenausgleichsregelung einer empirischen Analyse stand? Die nachfolgenden Kapitel untersuchen Aufbau, Struktur und Wirkung von Kinderfreibetrags- und Kindergeldregelung sowie das Zusammenwirken beider Komponenten. Neben den Kinderfreibeträgen und dem Kindergeld wirkte sich auch das sog. »Ehegattensplitting« seit 1958 auf die Einkommenslage der Familien aus. Eine besondere Regelung des familiären Ausgleichs galt bis 1974/75 für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes. Ihr Zulagensystem wird daher gesondert erörtert. 5.1 Höhere Einkommen, höhere Leistungen? Die kinderbedingten Freibeträge im Steuerrecht Bis zur Einkommensteuerreform von 1974/75 stand der wirtschaftliche Familien­ lastenausgleich für die Arbeitnehmer und Selbständigen in der freien Wirtschaft in der Bundesrepublik auf zwei ungleichen Säulen: den steuerlichen Freibeträgen für Kinder und dem Kindergeld. Beide entfalteten je nach Einkommenslage und Familiengröße unterschiedliche Wirkungen, jedoch hatte der steuerliche Ausgleich im Untersuchungszeitraum eine größere finanzielle Bedeutung. Seine Summe war mit rund 6,4 Milliarden DM mehr als doppelt so 248 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370278 — ISBN E-Book: 9783647370279

hoch wie die des Kindergeldes.405 Bereits an unterschiedlicher Stelle wurde auf die »sozial ungerechte Wirkung« der steuerlichen Kinderfreibeträge hingewiesen, doch welche Bedeutung hatten sie tatsächlich für die Familien der unteren, mittleren und oberen Einkommensschichten? Was waren die Vor- bzw. Nachteile eines steuerlichen Lastenausgleichs? Die nachfolgenden Untersuchungen stützen sich insbesondere auf die Ergebnisse der empirischen Analyse von Franz-Ulrich Willeke und Ralph Onken über die Auswirkungen »monetärer Familienpolitik« in der Bundesrepublik von 1954 bis 1986. Das von Willeke/Onken erstellte empirische Material gibt wichtige Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage nach den Gewinnern und Verlierern der »dualen« Familienlastenausgleichsregelung. Die Steuerfreibeträge für Kinder bestanden in der Zeit von 1945 bis 1974 in der Bundesrepublik ununterbrochen. Im Gegensatz zum 1954 eingeführten Kindergeld konnten sie schon ab dem ersten Kind in Anspruch genommen werden. Sie richteten sich generell an alle Familien mit unterhaltspflichtigen Kindern, vorausgesetzt, ein Elternteil war erwerbstätig und zahlte Lohn- bzw. Einkommensteuer. Die Familienermäßigung wurde so berechnet, dass je Kind ein bestimmter Betrag vom (Brutto-) Einkommen abgezogen wurde. Erst nach Abzug des sog. »Kinderfreibetrages« wurde der Lohn bzw. das Einkommen entsprechend dem geltenden Satz besteuert. Der Steuertarif war nach der Höhe des Einkommens gestaffelt. Ab einer bestimmten Einkommenshöhe, in der sog. »Progressionszone«, stieg er überproportional zum Einkommen an.406 Maßgebend für das Geltendmachen von Einkommensteuerfreibeträgen war nicht nur die Zahl der Kinder in einer Familie, sondern vor allem auch die Höhe und Entwicklung des Einkommens. Die Bemessung der Kinderfreibeträge änderte sich in den fünfziger Jahren mehrmals. Zum einen wurden die Freibeträge beträchtlich erhöht, zum anderen eine Differenzierung nach der Zahl der zu versorgenden Kinder vorgenommen. Während das Einkommensteuergesetz von 1948 die Kinderfreibeträge einheitlich auf 600 DM im Jahr festgelegt hatte, stiegen sie seit 1953 ab dem dritten Kind an. Mit 840 DM lag 1953 der Freibetrag für das dritte und jedes weitere Kind um rund 40 Prozent höher als der Freibetrag für das erste und zweite Kind, der weiterhin 600 DM betrug.407 Ab 1957 wurde auch für das zweite Kind ein höherer Ausgleich vorgesehen als für das erste. Zusammen mit der generellen Anhebung der Kinderfreibeträge ergab sich damit folgende Staffelung: 405 Vgl. Kuller, Familienpolitik, S. 216. – In Frankreich war es genau umgekehrt: Dort hatten die direkten Leistungen stets einen höheren Anteil als die durch das Familiensplitting bewirkten Steuervergünstigungen. In den fünfziger Jahren wandte Frankreich mit einem Anteil von 4 bis 5 Prozent des BIP mehr als alle anderen westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten für die direkten Familienleistungen auf. Vgl. Bahle, S. 132. 406 Vgl. dazu insb. Oeter, Familienpolitik, S. 105 ff. 407 Gesetz zur Änderung steuerlicher Vorschriften und zur Sicherung der Haushaltsführung v. 24.6.1953 (sog. »Kleine Steuerreform«, BGBl. I, S. 413). Vgl. dazu auch: Die »Kleine Steuer­reform«, in: Bulletin Nr. 105, 9.6.1953, S. 896–900.

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720 DM Freibetrag für das erste, 1.440 für das zweite und 1.680 für das dritte Kind. Insgesamt wurden die Steuerfreibeträge zwischen 1948 und 1962 fünfmal angehoben. Seit 1962 betrugen sie für das erste Kind 1.200 DM, für das zweite 1.680 DM und für das dritte und alle weiteren Kinder sogar 1.800 DM.408 Von 1962 bis zur großen Reform 1974/75 blieben die Kinderfreibeträge sodann unverändert. Zu den Freibeträgen für Kinder kamen die Steuergrundfreibeträge für den Steuerpflichtigen sowie für die Ehefrau hinzu, die bis 1957 etwa je 200 DM höher lagen als die Freibeträge für das erste Kind.409 Ab 1958 betrugen die Grundfreibeträge für Zusammenveranlagte je 1.680 DM, was der Höhe des Freibetrages für das zweite Kind entsprach.410 Die Freibeträge konnten bewirken, dass für Familien mit Kindern eine völlige Befreiung von der Lohn- bzw. Einkommensteuer eintrat. Das war der Fall, wenn das Einkommen durch die Absetzung der Freibeträge unter die Einkommensteuergrenze gedrückt wurde. So war beispielsweise eine Familie mit einem Kind und einem monatlichen Einkommen von bis zu 261 DM 1953 steuerfrei. Für eine Familie mit zwei Kindern lag das steuerfreie Einkommen bei 311 DM, für eine Familie mit drei Kindern bei 382 DM. Bei vier Kindern musste die Familie bis zu einem Monatseinkommen von 453  DM keine Steuern zahlen.411 Durch die beschriebenen Freibetragserhöhungen verschoben sich die Einkommensgrenzen im Verlauf der fünfziger Jahre erheblich nach oben. Seit 1962 begann für eine Familie mit einem Kind die Steuerpflicht bei einem Einkommen von über 530  DM im Monat und für eine Familie mit zwei Kindern bei über 670 DM. Eine Familie mit drei Kindern war dagegen bis zu einer Einkommenshöhe von 820  DM steuerfrei, eine Vier-Kinder-Familie bis zu einer Einkommenshöhe von 1.120 DM.412 Wenn die Lohn- bzw. Einkommensfreiheit zunächst grundsätzlich als etwas Positives erscheint, so bedeuteten diese Zahlen auch, dass beispielsweise für eine Zweikinderfamilie mit einem Bruttomonatseinkommen in Höhe von 530 DM für das zweite Kind durch den Kinderfreibetrag keine wirksame Hilfe mehr erzielt werden konnte, da die Steuerfreiheit schon für einen Haushalt mit einem Kind eintrat. Bei einer Familie mit drei Kindern traten erst bei einem Bruttoeinkommen von über 670 DM zusätzliche Steuereffekte durch den Freibetrag für das dritte Kind ein.

408 Einkommensteuergesetz in seiner Fassung vom 15.8.1961 (BGBl. I, S. 1253). 409 Sie betrugen 1953 800  DM und wurden 1954, im Zuge der »Großen Steuerreform« v. 16.12.1954 (BGBl. I, S. 373), auf 900 DM erhöht. 1957 wurde allen steuerlich Zusammenveranlagten zusätzlich ein Sonderfreibetrag von 600  DM eingeräumt. Vgl. Willeke u. ­Onken, S. 412. 410 Vgl. ebd., S. 77. 411 Vgl. Ergebnisse der bisherigen Familienpolitik. Rechenschaftsbericht des Bundesministeriums für Familien, in: Bulletin Nr. 154, 22.8.1957, S. 1442; Die »Kleine Steuerreform«, in: Bulletin Nr. 105, 9.6.1953, S. 899. 412 Vgl. Bogs u. a., Soziale Sicherung, S. 316 (Tab. 27).

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Wie die Aufstellungen von Willeke/Onken zeigen, lag der Verdienst in den unteren Arbeiter- und Angestelltenschichten413 in den fünfziger Jahren so niedrig, dass diese auch ohne Kinderfreibeträge keine Steuern mehr zahlen mussten; sie erhielten daher weder für eines noch für zwei Kinder einen Ausgleich. Mit dem allgemeinen Anstieg der Einkommen im Verlauf der fünfziger Jahre wuchsen dann jedoch auch die Berufsgruppen mit niedrigem Einkommen zunehmend in den steuerpflichtigen Bereich hinein und profitierten damit von den Kinderfreibeträgen. Diese Entwicklung wurde Ende der fünfziger Jahre durch die bedeutende Erhöhung der Grundfreibeträge und die gleichzeitige Erhöhung der Kinderfreibeträge vorerst wieder gestoppt. Große Gruppen von Einkommensbeziehern fielen erneut aus dem steuerlichen Familienlastenausgleich heraus.414 Ende der fünfziger Jahre lagen insgesamt etwa 70 Prozent aller Familien mit zwei Kindern im einkommensteuerfreien Bereich. Bei den Dreikinderfamilien waren es 82 Prozent und bei den Familien mit vier oder mehr Kindern sogar 91 Prozent.415 Das bedeutete, dass eine beträchtliche Anzahl von Familien wegen zu geringer Einkommen durch das »steuerliche Raster« fiel.416 Im Verlauf der sechziger Jahre erreichten sodann aufgrund steigender Einkommen erneut immer mehr Erwerbstätige einen Steuerbereich, in dem sie Kinderfreibeträge anmelden konnten. Zunehmend bestand nun auch für Familien mit geringerem Einkommen die Möglichkeit, für mehrere Kinder einen steuerlichen Ausgleich zu beantragen. Das war bisher nur in den höheren Berufs- und Einkommensgruppen möglich gewesen.417 413 Um die wirtschaftliche Lage einer Familie repräsentativ zu erfassen, definierten Willeke u. Onken in ihrer empirischen Analyse die Familien über den Einkommensbezieher in der Familie, den sie einer einzelnen Berufsgruppe zuordneten. Ausgewählt wurden sechs Berufsgruppen der gewerb­lichen Wirtschaft und sechs des öffentlichen Dienstes, die als Repräsentanten von Einkommensklassen fungierten. Im Bereich der gewerblichen Wirtschaft wurden für die Arbeiter die statistischen Angaben zu den Bruttoeinkommen der Facharbeiter, der Angelernten Arbeiter und der Hilfsarbeiter verwendet. Bei den Angestellten der gewerblichen Wirtschaft wurden der Technische Angestellte (Leistungsgruppe II), der Technische Angestellte (Leistungsgruppe III) und der Kaufmännische Angestellte (Leistungsgruppe V) ausgewählt. Damit erfassten Willek u. Onken ein breites Einkommensspektrum: Der Kaufmännische Angestellte V lag mit seinem durchschnittlichen Bruttoeinkommen noch unter dem des Hilfsarbeiters und begrenzte das Einkommensspektrum nach unten. Das durchschnittliche Bruttoeinkommen des Technischen Angestellten III lag merklich über dem des Facharbeiters; am höchsten lag schließlich das Bruttoeinkommen des Technischen Angestellten II. Willeke u. Onken ordneten in ihrer Untersuchung den Kaufmännischen Angestellten V und den Hilfsarbeiter der unteren Einkommensschicht zu; Angelernte Arbeiter und Facharbeiter bildeten die mittlere und die Technischen Angestellten III und II die obere Einkommensschicht. Vgl. Willeke u. Onken, S. 31 ff. Zur Beschreibung der einzelnen Berufs- und Leistungsgruppen vgl. auch Statistisches Bundesamt, Stat. Jahrbuch 1986, S. 465. 414 Vgl. Willeke u. Onken, S. 70, 77 f., 84. 415 Vgl. Gebauer, S. 53; Kuller, Familienpolitik, S. 160; Niehuss, Strukturgeschichte, S. 192. 416 Kuller, Familienpolitik, S. 160. 417 Vgl. Willeke u. Onken, S. 86, 125.

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Wie die Beispiele zeigen, trat der eigentliche »Steuerentlastungseffekt« durch die Kinderfreibeträge erst oberhalb der Steuerfreigrenzen – bei »hinreichender« Steuerbelastung – ein.418 Wirft man einen Blick auf die effektiv bewirkten Steuerermäßigungen verschiedener Einkommensgruppen durch die Kinderfreibeträge, ergab sich nach dem Einkommensteuergesetz von 1961 folgendes Bild:419 Für diejenigen Arbeitnehmerfamilien, die mit ihren Haushaltseinkommen in der sog. »ersten Proportionalzone« des Steuertarifs lagen420 und die demgemäß mit einem festen Steuersatz von 19 Prozent besteuert wurden, betrug die Steuer­ermäßigung für das erste Kind 19 DM, für das zweite 26,60 DM und für das dritte und jedes weitere Kind 28,50 DM im Monat.421 Eine Drei-Kinder-Familie mit einem Bruttomonatseinkommen von mindestens 820 DM – das war die Mindestsumme, um alle Freibeträge ausschöpfen zu können  – erhielt damit eine steuerliche Ermäßigung in Höhe von 74,10 DM.422 Hohe Einkommen, die in die sog. »Progressionszone« des Steuertarifs fielen und die progressiv besteuert wurden, konnten insgesamt höhere Steuerentlastungen realisieren.423 Je höher das Einkommen lag, desto größer war der Betrag der absoluten Steuerersparnis. Bei einem Bruttoeinkommen von beispielsweise über 4.000 DM monatlich trat eine Steuerermäßigung von 46,40 DM für das erste, 64,50 für das zweite und 68,40 DM für das dritte Kind ein.424 Je nach Einkommen und Steuertarif variierte die monatliche Steuerersparnis zwischen 19 DM für erste Kinder in der ersten Proportionalzone und rund 80 DM für dritte und weitere Kinder in der Spitze der Progressionszone sowie der zweiten Proportionalzone. Diese wurde jedoch nur von einigen wenigen Großverdienern erreicht.425 Die der Höhe nach einheitlichen Freibeträge hatten demzufolge unterschiedliche Auswirkungen. Ganz allgemein galt, dass sich mit steigendem Einkommen auch der Betrag erhöhte, den der Steuerzahler an Steuern sparte: So konnten, erstens, bei höheren Einkommen mehr Kinderfreibeträge angemeldet werden; zweitens war die Wirkung der Freibeträge aufgrund der steuer­ lichen Progression bei Besserverdienern größer.426 Da sie nicht als fester Betrag von der Steuerschuld, sondern vor der Steuer abgezogen wurden, minderten die 418 Vgl. ebd., S. 84. 419 BGBl. I, S. 1253. Der Einkommensteuertarif wurde während des Untersuchungszeitraums mehrmals geändert. Ausgehend von den hohen Tarifsätzen der Alliiertengesetzgebung während der Besatzungszeit wurden die Steuersätze im Verlauf der fünfziger Jahre wiederholt gesenkt. Vgl. dazu auch Pehl, Bundessteuergesetzgebung. 420 Die erste Proportionalzone begann für Familien mit einem Kind bei einem Bruttomonatseinkommen von 530 DM, für Familien mit zwei Kindern bei einem Bruttoeinkommen von 670 DM und für Familien mit drei Kindern bei einem Bruttoeinkommen von 820 DM im Monat. Vgl. Bünger, S. 59 f. 421 Vgl. ebd., S. 59. Vgl. analog: Erster Familienbericht (BT-Drs. V/2432), S. 111. 422 Vgl. dazu auch Bogs u. a., Soziale Sicherung, S. 318 (Tab. 28). 423 Der Progressionsbeginn lag seit 1958 bei 16.020 DM zu versteuerndem Jahreseinkommen. 424 Vgl. Erster Familienbericht (BT-Drs. V/2532), S. 111. 425 Vgl. Bünger, S. 60. 426 Vgl. Kuller, Familienpolitik, S. 159.

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Freibeträge die Höhe des zu versteuernden Einkommens und damit auch die steuerliche Progression. Ein besonderer Effekt trat dann ein, wenn das Einkommen durch die Kinderfreibeträge unter die untere Grenze der Progressionszone gedrückt wurde. Die Familien der unteren Lohn- und Berufsgruppen hatten von den Kinderfreibeträgen demgegenüber nur einen eingeschränkten finanziellen Nutzen. Ihre Einkommen lagen entweder in einem Steuerbereich, in dem sich der gleiche Freibetrag weniger bezahlt machte oder sie zahlten ohnehin nur wenig oder keine Lohn- bzw. Einkommensteuer. Dazu ein Beispiel: 1960 betrug der durchschnittliche Bruttowochenverdienst eines männlichen Industriearbeiters 132 DM.427 Der daraus resultierende monatliche Bruttolohn von rund 530 DM erlaubte es der Familie, höchstens einen Kinderfreibetrag geltend zu machen. Folglich verlor der steuerliche Teil des Familienlastenausgleichs mit sinkendem Einkommen zunehmend den Bezug zur Kinderzahl in der Familie. Insgesamt zahlte in den fünfziger und sechziger Jahren nur eine geringe Anzahl von Spitzenverdienern überhaupt so viel Einkommensteuer, dass sie ihre Steuerschuld um viele Kinderfreibeträge mindern konnte. Zugespitzt bedeutete das: Je mehr Kinder eine Familie hatte und je geringer das Einkommen war, desto bedeutungsloser war der Effekt des steuerlichen Familienlastenausgleich.428 Unter diesen Umständen war eine Erhöhung der Freibeträge nicht unbedingt für alle Familien von Vorteil. Vielmehr wirkte sie sich ambivalent aus: Für höhere Einkommen, welche die Freibeträge ausschöpfen konnten, bedeutete sie eine Verbesserung, für niedrigere Einkommen, welche die Freibeträge immer weniger in Anspruch nehmen konnten, verringerte sich der steuerliche Familienlastenausgleich und lief gegen Null. In der steuerfreien Zone, d. h. bei den Niedrigverdienern, bestand gar kein Unterschied mehr zwischen Alleinstehenden und Familien.429 Eine solche Entwicklung ergab sich beispielsweise, als 1958 sowohl die Kinderfreibeträge als auch die Grundfreibeträge angehoben wurden. Wie die Analyse von Willeke/Onken zeigt, erhöhten sich bei den mittleren und höheren Einkommen in der Berufsgruppe der Technischen Angestellten (Leistungsgruppe II und III)430 die absoluten Beträge des Familienlastenausgleichs. Bei einer Facharbeiter-Familie mit zwei Kindern dagegen wirkten sich die Freibetragserhöhungen schon nicht mehr aus. Der Verdienst des Facharbeiters lag insgesamt zu niedrig, um mehr als einen Kinderfreibetrag geltend zu machen. Für die unteren Berufsgruppen, wie z. B. Hilfsarbeiter oder kaufmännische Angestellte, war die Situation noch ungünstiger. Da hier bereits die Ehepaare ohne Kinder keine Einkommensteuer mehr zahlten – aufgrund der allgemeinen steuersenkenden Erhöhung des Grundfreibetrages –, war die Wirkung des steuerlichen Familienlastenausgleichs gleich Null. Erst als die Ein427 Vgl. Erster Familienbericht (BT-Drs. V/2532), S. 90. 428 Kuller, Familienpolitik, S. 159. 429 Ebd., S. 217 f. 430 Vgl. S. 251, Anm. 413.

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kommen in den unteren Einkommensschichten ab Anfang der sechziger Jahre stiegen, verbesserte sich die Position dieser Familien. Nun mussten auch die Ehepaare ohne Kinder wieder Einkommensteuer zahlen, so dass für die Ehepaare mit Kindern von Neuem eine aus den Kindfreibeträgen resultierende Steuerentlastung eintreten konnte.431 Äußerst ungünstig wirkte sich das System der kinderbedingten Steuerentlastungen auch für alleinstehende Frauen mit Kindern aus, da diese in der gewerblichen Wirtschaft erheblich niedrigere Löhne bezogen als ihre männ­ lichen Kollegen.432 Die Folge der generell schlechteren Entlohnung war, dass für die alleinstehenden erwerbstätigen Frauen mit Kindern diejenigen (negativen) Eigenschaften des steuerlichen Familienlastenausgleichs besonders hervortraten, die für die unteren Einkommens­k lassen typisch waren. Von der Facharbeiterin »abwärts« konnten die rechtlich zustehenden kinderbedingten Freibeträge kaum mehr ausgeschöpft und damit auch kaum noch steuerentlastend wirksam werden. In den fünfziger Jahren war der Familienlastenausgleich für eine alleinstehende Frau mit zwei Kindern kaum höher als für eine alleinstehende Frau mit drei Kindern. Die Kinderfreibeträge für das dritte und vierte Kind blieben vollständig wirkungslos.433 Angesichts dieser Befunde stellt sich die Frage, warum der steuerliche Familienlastenausgleich in dieser Form nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt einbzw. weitergeführt wurde. Neben der von den Unionsparteien wiederholt angeführten Begründung des notwendigen Lastenausgleichs zwischen Kinderlosen und Kinderreichen innerhalb derselben Einkommensschicht gab es vor allem zwei steuersystema­tische Argumente, die für die Kinderfreibeträge sprachen: Erstens stellten diese das wirtschaftliche Existenzminimum der Kinder steuerfrei. Zum Zweiten stimmte ihre progressive Wirkung mit der progressiven Belastung des Steuerzahlers überein.434 Folgte man dem Leitprinzip der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit, mussten Familien mit höheren Einkommen, die infolge der Progression mehr Steuern zahlten, bei gleichbleibender Belastung durch die Kosten für Kinder eine höhere Ermäßigung erhalten.435 Ausgehend von der sozialen Lage der Familien dagegen war es unverständlich und widersprüchlich, dass Besserverdiener einen höheren Ausgleich erhielten als Geringverdiener. Dieser Widerspruch existierte auch in den meisten anderen westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten, wo nach dem Zweiten Weltkrieg direkte Kindergeldzahlungen mit einem System von kinderbedingten Steuervergünstigungen 431 Vgl. Willeke u. Onken, S. 70, 78; Kuller, Familienpolitik, S. 175 f. 432 Schon der durchschnittliche Bruttomonatslohn der Facharbeiterin lag unter dem des Hilfsarbeiters. Vgl. Willeke u. Onken, S. 89, 100 f. Zur Unterbewertung weiblicher Angestelltenarbeit vgl. auch Löhr, S. 595 f. 433 Vgl. Willeke u. Onken, S. 102 ff. 434 Vgl. Kuller, Familienpolitik, S. 159; Münch, Familienpolitik in der Bundesrepublik, S. 76 f. 435 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Finanzen, Alterssicherung, S. 64 f. Vgl. auch Schmölders, S. 145 ff.

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kombiniert wurden. Allein Schweden verzichtete schon 1948 auf ein steuer­ politisches Instrumentarium und setzte nur auf direkte Transfers. Mit Beginn der siebziger Jahre folgten immer mehr Staaten dem schwedischen Beispiel: So wurden die steuerlichen Vergünstigungen für Kinder in Dänemark 1970, in den Niederlanden und Österreich 1978 und in Großbritannien 1979 abgeschafft.436 Die Familienlastenausgleichsreform von 1974/75 in der Bundesrepublik lag damit im europäischen Trend. In Frankreich galt seit 1946 das Familiensplitting. Nach diesem System wurde bei der Berechnung der Steuerlast die Familiengröße in Rechnung gestellt. Je Elternteil wurde eine, je Kind eine halbe Einheit angerechnet und das zu versteuernde Einkommen durch die jeweiligen Einheiten geteilt. Die Wirkung dieses Familiensplittings war ähnlich wie die der Freibeträge für Kinder: Die hohen Einkommensgruppen genossen bei gleichen Familienlasten über­ proportionale Steuervorteile.437 5.2 Der »Splittingeffekt«: Zusätzliche Steuergeschenke für hohe Einkommen und Kinderlose 1958 wurde in der Bundesrepublik zusätzlich zu den allgemeinen steuerlichen Freibeträgen das sog. »Ehegattensplitting« eingführt. Anders als das französische Familiensplitting begünstigte es nicht die kinderreichen Familien, sondern auch und in erster Linie die kinderlose Ehe. Es erschien damit unter verteilungs- wie unter familienpolitischen Gesichtspunkten besonders fragwürdig. Ursprünglich waren in der Bundesrepublik die Einkommen der Ehegatten zusammen veranlagt worden, d. h. beide Einkommen wurden addiert und dann auf die Gesamtsumme die Einkommensteuer erhoben. Wegen des progressiven Steuertarifs hatten die Ehegatten dadurch für ihr gemeinsam veranlagtes Einkommen mehr Steuern bezahlt, als sie als Alleinstehende hätten zahlen müssen. Im Januar 1957 entschied daher das Bundesverfassungsgericht, dass die Einkommensteuerregelung eine »benachteiligende Ausnahmevorschrift gegen Verheiratete« sei und damit zu Lasten der Ehe gegen die Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz verstoße.438 Statt der gemeinsamen Veran­lagung von Ehepartnern empfahl das Verfassungsgericht die Einführung eines sog. »Ehegattensplittings«. Im Juli 1958 trat das nach amerikanischem Vorbild konstruierte Splitting in Kraft.439

436 Vgl. Bahle, S. 136 f. 437 Vgl. Schultheis, S. 373 f. (Tab. 12). 438 Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts v. 17.1.1957 (BVerfGE Bd. 6, S. 55 ff.). 439 Gesetz zur Änderung steuerlicher Vorschriften auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und Ertrag und des Verfahrensrechts v. 18.7.1958 (BGBl. I, S. 473). Das Gesetz trat rückwirkend zum 1.1.1958 in Kraft.

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Bei diesem bis heute angewandten Verfahren wird das Einkommen der Ehegatten zunächst addiert und die Summe anschließend halbiert. Für die Höhe des halben Gemeinschaftseinkommens wird die normale Einkommensteuer für Ledige berechnet und der Steuerbetrag sodann verdoppelt. Dadurch zahlt zwar der schlechterverdienende Ehepartner mehr Steuern als vor der Heirat, der besserverdienende jedoch weniger. Der so berechnete Einkommensteuerbetrag liegt in der Regel niedriger als die Steuerabgaben vor der Eheschließung, da aufgrund der steuerlichen Progression die Einsparungen beim höheren Einkommen größer sind als die zusätzlichen Steuern für das jeweils niedrigere Einkommen.440 Als zwangsläufige Folge dieses Splittings ergeben sich in der Progressionszone des Steuertarifs mit steigendem Einkommen steigende Steuerentlastungen, die bei sehr hohem Einkommen ein Vielfaches der Entlastung im Bereich der unteren Proportionalzone ausmachen können. Diese Entlastungswirkungen, die denen eines Freibetrags gleichen, wurden schon von den zeitgenössischen Beobachtern heftig kritisiert und als sozialpolitisch ungerechtfertigt herausgestellt.441 Die »gravierendsten Bedenken« wurden aber unter familienpolitischen Gesichtspunkten geäußert. So wurde darauf hingewiesen, dass das Splitting »unangemessen und gänzlich unnötigerweise die kinderlos verheirateten Bezieher hoher und höchster Einkommen« begünstige.442 In der Tat wirkte sich das Splitting im progressiven Steuerbereich wesentlich stärker aus als die Steuerermäßigungen für Kinder. Bei einem jährlichen Einkommen von 40.000 DM war die Ehefrau »soviel wert« wie sechs Kinder.443 Demgegenüber blieb bei niedrigen Einkommen die durch die Kinderfreibeträge bewirkte Steuerersparnis entscheidend.444 Genau betrachtet, brachte das Splitting die größten steuerlichen Vorteile, wenn es im Haushalt nur ein einziges, möglichst hohes (männliches) Einkommen gab. Dementsprechend kritisierten auch die deutschen Frauenverbände in einer Eingabe an die Bundesregierung, dass die »Nutznießer des Splittings« »lediglich die wohlhabenden Ehemänner der Frauen ohne eigenes Einkommen« seien, »und zwar besonders bei kinderloser Ehe«.445 Auch der Deutsche Familienverband fragte, »ob die für diese Steuerreform eingesetzten Mittel, die sogenannte Manövriermasse, entsprechend der Gerechtigkeit« eingesetzt worden seien und kam zu dem Schluss, dass das Splitting »zu einer entscheidenden Begünstigung nicht der ihrer besonders bedürftigen Mütter mit Kindern, sondern der kinderlosen Ehefrau als Hausfrau« führe. Die Kritiker des Splitting440 Kuller, Familienpolitik, S.  174. Vgl. dazu auch Erster Familienbericht (BT-Drs. V/2532), S. 111 ff. 441 Vgl. Pehl, Steuergeschenke, S. 153; Wingen, Förderung, S. 76 f. Vgl. auch die Einwände der SPD-Opposition im BT (Sten. Ber., Bd. 41, S. 1788 ff., 1821). 442 Pehl, Steuergeschenke, S. 153. 443 Ebd., S. 154. 444 Vgl. Erster Familienbericht (BT-Drs. V/2532), S. 114 f. (Tab. 79). 445 Eingabe verschiedener Frauenverbände an die Bundesregierung vom April 1958, hier zit. nach: Pehl, Steuergeschenke, S. 154. Folgende Zitate ebd.

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verfahrens hätten es lieber gesehen, wenn die vorhandenen Gelder für die Einführung eines Kindergeldes ab dem ersten Kind verwendet worden wären. Das Bundesfamilienministerium seinerseits verteidigte dagegen den familienfördernden Aspekt des Ehegattensplittings: Durch das Splitting werde die Tätigkeit der Hausfrau und Mutter steuerrechtlich anerkannt. Das betreffe vor allem Familien mit Kindern, in denen die Frau nicht erwerbstätig sein könne, aber auch kinderlose Ehepaare mit erwachsenen Kindern. Insofern sei das Splitting auch eine Steuervergünstigung für Familien in einer späteren Familien­phase.446 Dennoch konnte dadurch weder der Vorwurf entkräftet werden, dass die Vergünstigung eben auch kinderlosen Paaren zugute kam, noch gab es letztlich eine Rechtfertigung dafür, dass der »Splittingeffekt« hohe Familieneinkommen in so unverhältnismäßigem Maße begünstigte.447 Insgesamt hatte im Jahr 1961 die Steuerentlastung durch das Splittingverfahren mit rund 5,8 Milliarden DM ein erheblich größeres Gewicht als die Entlastung durch die Kinderfreibeträge mit annähernd 2,9 Milliarden DM. Auch wenn man nur die Gruppe der verheirateten Steuerpflichtigen mit Kindern betrachtete, zeigte sich, dass die Steuerentlastung durch das Splittingverfahren mit 3,6 Milliarden insgesamt höher lag, als die Entlastung durch Kinderfreibeträge mit 2,8 Milliarden DM.448 5.3 Direkter Transfer: Determinanten und Wirkungen des Kindergeldes Die Entwicklung des Kindergeldes verlief im Vergleich zum steuerlichen Teil des Familienlastenausgleichs in der Bundesrepublik wesentlich kontrollierter und linearer. Das Kindergeld war in seinen Auswirkungen leichter kalkulierbar, da es einheitlich, als direkte Einkommenszuweisung an die Familien ausgezahlt wurde. Von den jeweiligen Kindergelderhöhungen profitierten alle Kindergeldempfänger, unabhängig von ihrem Einkommen. Allerdings hatten längst nicht alle Familien mit Kindern einen Anspruch auf Kindergeld. Den Regelungen des ersten Kindergeldgesetzes entsprechend erhielten nur Familien mit drei und mehr Kindern ein monatliches Kindergeld in Höhe von 25 DM. Im ersten Jahr wurden daher insgesamt nur an rund 1,44 Millionen Kinder in rund einer Million Familien Kindergeld gezahlt; die Zahlungen erreichten lediglich etwa 8 Prozent aller Kinder in der Bundesrepublik.449 446 Schreiben von Heinz Simon, BMFa, an BKD, DFV, EAF und FDK v. 31.8.1958, hier zit. nach: Kuller, Familienpolitik, S. 175. Vgl. auch Begründung des Gesetzentwurfs zum Ehegattensplitting v. 7.3.1958 (BT-Drs. III/260). 447 Es hätte nahegelegen, diese letzte Auswirkung des Ehegattensplittings durch eine Begrenzung des Splittingvorteils zu mildern. Das hätte bedeutet, dass im Falle der Zusammenveranlagung der Unterschied zwischen der Besteuerung der Ehegatten und der Besteuerung eines Ledigen auf einen bestimmten Höchstbetrag hätte begrenzt werden müssen. Vgl. entsprechend die Erläuterung im Ersten Familienbericht (BT-Drs. V/2532), S. 112. 448 Erster Familienbericht (BT-Drs. V/2532), S. 118 (Tab. 83). 449 Vgl. Alber, Sozialstaat, S. 250.

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Für die Mehrkinderfamilien, die anspruchsberechtigt waren, stellte die Einführung des Kindergeldes dennoch einen bedeutenden Schritt dar; ihre wirtschaftliche Situation verbesserte sich spürbar.450 Der Effekt war umso größer, je niedriger die verfügbaren Einkommen der jeweiligen Familien waren, da das Kindergeld ab dem dritten Kind einkommensunabhängig gewährt wurde. Allerdings bewirkte die gleichzeitige Erhöhung der Kinderfreibeträge im Zuge der »Großen Steuerreform« von 1954,451 die nur in den oberen Einkommensklassen sofort in vollem Umfang in zusätzliche Steuerentlastungen umgemünzt werden konnte, dass sich die relative Position der unteren Einkommensklassen kaum verbesserte. Erst mit weiteren Kindergelderhöhungen und allmählicher Ausschöpfung der Kinderfreibeträge infolge steigender Einkommen gelang es den Familien mit niedrigem Einkommen gegen Ende der fünfziger Jahre, gegenüber den höheren Einkommensklassen tatsächlich »aufzuholen«.452 An diesem Beispiel zeigt sich bereits deutlich, welche Folgen das Zusammenspiel von Kindergeld und kinderbedingten Steuerfreibeträgen haben konnte: Die von der Einführung oder Erhöhung des Kindergeldes ausgehende Wirkung konnte »durch entgegengesetzte Effekte einer schlechteren Ausnutzung von Kinderfrei­ beträgen überlagert oder zufälligerweise durch gleichgerichtete Effekte einer besseren Ausnutzung von Kinderfreibeträgen verstärkt werden«.453 Mit der Einführung des Zweitkindergeldes 1961 vergrößerte sich zwar der Kreis der anspruchsberechtigten Familien. Jedoch wirkte sich die für das Zweitkindergeld geltende Einkommensbegrenzung mit der Zeit zunehmend restriktiv aus. Wie die Analysen von Willeke/Onken zeigen, fielen im Laufe der sechziger Jahre immer mehr Berufsgruppen aus der Zweitkindergeldregelung heraus. So erhielt beispielsweise der Facharbeiter das Zweitkindergeld nur 1961. Im nächsten Jahr überstieg sein Verdienst bereits die Einkommensgrenze von 7.200  DM jährlich. Der angelernte Arbeiter bezog das Zweitkindergeld hingegen zwei Jahre lang, bis 1963 auch sein Lohneinkommen die Einkommensgrenze überstieg.454 Zwei Jahre nach der Einführung des Zweitkindergeldes erhielt schließlich nur noch jede dritte Familie für das zweite Kind Kindergeld. Die Zahl der Anspruchsberechtigten ging von 1961 bis 1963 von 1,6 Millionen um fast ein Viertel auf 1,25 Millionen zurück.455 Allerdings konnten die Arbeiterfamilien, die über der Einkommensgrenze lagen, stattdessen Freibeträge geltend machen. 450 Vgl. Erster Familienbericht (BT-Drs. V/2532), S. 90. Tab. 60a u. 60b (Arbeiter- und Angestelltenhaushalte nach Nettoeinkommen des Haushaltsvorstandes und Familiengröße im Jahr 1960) lassen eine deutliche Einkommensverschiebung in den Haushalten der offenen Flügelgruppe (drei und mehr Kinder) gegenüber den vorstehenden Familiengrößen erkennen. 451 Gesetz zur Neuordnung von Steuern v. 16.12.1954 (BGBl. I, S. 373). 452 Vgl. Willeke u.Onken, S. 84. 453 Ebd., S. 85. 454 Ebd., S. 80. 455 Vgl. Holler, S. 198.

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Im Gegensatz zur Einkommensentwicklung der oberen (Fach-) Arbeiterschichten lagen die Einkommen der einfachen Arbeiter und Angestellten noch längere Zeit unterhalb der geltenden Einkommensgrenze, so dass ihnen der Anspruch auf das Zweitkindergeld zunächst erhalten blieb. Schließlich aber konnte selbst die 1965 erfolgende, allerdings mäßige Heraufsetzung der Einkommensgrenze für das Zweitkindergeld (von 7.200 auf 7.800  DM jährlich) nicht verhindern, dass auch in den untersten Berufsgruppen Ende der sechziger Jahre kein Recht mehr auf die Zahlung von Zweitkindergeld bestand: 1965 verlor der Hilfsarbeiter, 1969 der kaufmännische Angestellte seinen Kindergeldanspruch.456 Erst 1970 setzten mit der weiteren Anhebung der Einkommensgrenze für das Zweitkindergeld (von 7.800 auf 13.200 DM jährlich) die Kindergeldzahlungen für die einfachen Angestellten und alle Arbeiter bis zum Facharbeiter wieder ein.457 Mit dem Bundeskindergeld von 1964 wurde die Höhe des Kindgeldes erstmals ab dem zweiten Kind gestaffelt. Das brachte eine weitere Verbesserung für die Mehrkinderfamilien, die aufgrund der Einkommensentwicklung nun nach und nach auch die Kinderfreibeträge besser ausschöpfen konnten.458 Durch die Familienlastenausgleichsreform von 1974/75 gewann das Kindergeld sodann erstmalig gegenüber den Kinderfreibeträgen die Oberhand. Der Kindergeldetat stieg von gut 3 Milliarden (1974) auf knapp 14,6 Milliarden DM (1976) und damit auf das Fünffache an.459 Nun erhielten auch alle Erstkinder Kindergeld, wodurch sich der Empfängerkreis erneut ausweitete. Hatten 1970 nur knapp ein Viertel aller Familien mit Kindern unter 18 Jahren Kindergeld erhalten, stieg der Anteil 1975 auf 84 Prozent.460 Die durch die Reform bewirkte Umstrukturierung des Familienlastenausgleichs bedeutete generell für alle Familien, unabhängig von Größe und Einkommen, Verbesserungen.461 Jedoch schlug der Wegfall der Steuerentlastungen aufgrund gestrichener Kinderfreibeträge umso mehr zu Buche, je höher die Einkommen und damit je wirksamer bislang der Progressionseffekt gewesen war. Der positive Effekt war somit bei den niedrigen Einkommen am größten. Erstmals kam es zu einer eindeutigen Begünstigung der unteren Einkommensschichten. Wenngleich sich Kindergeld und kinderbedingte Steuerfreibeträge in Aufbau und Wirkung deutlich unterschieden, bildeten sie dennoch zwei komplementäre Teile eines Systems. Das Kindergeld ergänzte die indirekten Leistungen, die aus den kinderbedingten Entlastungen bei der Lohn- und Einkommensteuer resultierten, durch direkte Zahlungen und glich entstandene Defizite und Fehlentwicklungen zumindest teilweise aus. Besonders deutlich trat diese Funk456 Vgl. Willeke u. Onken, S. 80 f. 457 Vgl. ebd.; vgl. dazu auch Erster Familienbericht (BT-Drs. V/2532), S. 126 (Tab. 88). 458 Willeke u. Onken, S. 86. 459 Vgl. Kuller, Familienpolitik, S. 216. 460 Ohne Kindergeldempfänger im öffentlichen Dienst. Vgl. Alber, Sozialstaat, S.  140 f. (Tab. 11). 461 Vgl. Willeke u. Onken, S. 76.

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tion des Kindergeldes bei der Umsetzung des Zweitkindergeldes hervor. Dessen Einkommensgrenze entsprach 1961 der Einkommensgrenze, bis zu der das Einkommen einer Zweikinderfamilie steuerfrei war. Das Zweitkindergeld befand sich somit »an der Schnittstelle zwischen den beiden Elementen des Familienlastenausgleichs und war an beide gebunden«.462 Auch das Drittkindergeld konnte als Komplementärleistung zu den Steuerfreibeträgen verstanden werden. Es entfaltete nämlich vor allem für diejenigen kinderreichen Familien eine besondere Wirkung, die aufgrund geringerer Einkommen die Steuerfreibeträge für so viele Kinder nicht ausschöpfen konnten. Wenn in Bezug auf den steuerlichen Teil des Familienlastenausgleichs festgestellt wurde, dass der steuerliche Effekt umso geringer war, je weniger eine Familie verdiente und je mehr Kinder sie hatte, galt für das Kindergeld genau das Umgekehrte: Je weniger eine Familie verdiente und je mehr Kinder sie hatte, desto größer war der »Kindergeldeffekt«. Da aber das Drittkindergeld einkommensunabhängig gewährt wurde, profitierten auch die Besserverdiener davon. Für sie waren beide Teile des Familienlastenausgleichs voll wirksam. Besonders war die Lage der Familien mit einem Kind. Für sie ergab sich bis zur Einführung des Erstkindergeldes 1975 ein Familienlastenausgleich nur in Form der kinderbedingten Steuerentlastungen.463 Lag das Einkommen zu niedrig und konnten keine Freibeträge geltend gemacht werden, erhielt die Einkindfamilie gar keine lastenausgleichenden Leistungen. Diese Regelung war deswegen sozial ungerecht, weil das wirtschaftliche Opfer einer Familie mit einem Kind und einem niedrigen Einkommen im Verhältnis größer sein konnte, als das einer gut situierten Familie mit mehreren Kindern. Um ein Beispiel zu nennen: Anfang der sechziger Jahre hatte eine Familie mit drei Kindern und einem Haushaltsnettoeinkommen von 1.120 DM im Monat einen Anspruch auf insgesamt 75 DM Kindergeld und weitere 91,20 DM Steuerermäßigung. Damit wurden ihr rund 43  Prozent ihrer nach Ermittlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge auf etwa 390  DM zu veranschlagenden Kinderkosten erstattet. Eine Familie mit einem Kind und einem monatlichen Nettoeinkommen von 400 DM erhielt dagegen keinerlei Ausgleichszahlungen, obwohl für sie zweifellos die bei etwa 88 DM liegenden Kosten für ein Kind eine große finanzielle Belastung bedeuteten.464 Ohne Anspruch auf Kindergeld kam für die Ein- und Zweikinderfamilien die Einkommensabhängigkeit der Steuerfreibeträge besonders deutlich zum Tragen. Wie die Kinderfreibeträge auch, erreichte das Kindergeld aufgrund seiner marktnahen Konstruktion anfangs nur die Familien, in denen mindestens ein Mitglied voll erwerbstätig war. Während bei den Kinderfreibeträgen jedoch über die Steuerpflichtigkeit noch ein innerer Zusammenhang zwischen Er462 Kuller, Familienpolitik, S. 185. 463 Zur Einwicklung des Familienlastenausgleichs für Familien mit einem Kind vgl. Willeke u. Onken, S. 69 ff. 464 Beispiel nach Bünger, S. 62 f. Vgl. auch Schmucker, Das Kind, S. 279.

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werbstätigkeit und Anspruchsberechtigung gegeben war, bestand beim Kindergeld ein solcher Zusammenhang nicht. Die Anbindung an den Arbeitsmarkt war daher problematisch. Durch das Kindergeldergänzungsgesetz von 1955 wurde diese Konstellation zwar gelockert; allerdings blieben z. B. Sozialhilfeempfänger weiterhin von den Kindergeldzahlungen ausgeschlossen.465 Erst durch die Reform von 1974/75 waren ausnahmslos alle Familien mit Kindern kindergeldberechtigt. 5.4 Wer profitiert? Die Einkommensverteilung nach dem Familienlastenausgleich Die Maßnahmen des Familienlastenausgleichs führten im Großen und Ganzen in allen Einkommensschichten zu einer Verbesserung der Einkommenslage der Familien: Die meisten Familien standen nach dem Familienlastenausgleich wirtschaftlich besser da als vorher. Eine Ausnahme bildeten die Familien mit einem oder zwei Kindern. Wenn deren Einkommen in Bezug auf den Grundfreibetrag so niedrig lag, dass eine kinderbedingte Steuerentlastung nicht zustande kam – wie dies in den späten fünfziger Jahren der Fall war –, blieb der Familienlastenausgleich für sie wirkungslos, da sie keinen Anspruch auf Kindergeldzahlungen hatten.466 Da der Familienlastenausgleich seit Beginn der sechziger Jahre durchgängig nach Zahl der Kinder differenziert war, wurde in erster Linie den »kinderreichen Familien« geholfen. Nach den Berechnungen von Willeke/Onken war der durch den Familienlastenausgleich bewirkte Zuwachs an verfügbarem Einkommen innerhalb der einzelnen Einkommens- und Berufsgruppen generell umso ausgeprägter, je größer die Zahl der Kinder in einer Familie war.467 Das galt für die unteren Einkommensschichten jedoch nur insoweit, wie sie durch die Einkommensentwicklung im Laufe der sechziger Jahre in die Lage versetzt wurden, die Freibeträge auch für mehrere Kinder voll auszuschöpfen. Wie die empirischen Daten belegen, gab es im Untersuchungszeitraum mehrere Phasen der »Ungleichverteilung«, in denen die hier betrachteten oberen Berufs- und Einkommensgruppen einen höheren Familienlastenausgleich erzielen konnten als die unteren.468 Das war beispielsweise im Jahre 1958 der Fall, als die Familien der mittleren und höheren Angestellten (Technische Angestellte III und II) mit zwei Kindern die Kinderfreibeträge steuerlich ganz ausschöpften, während die Zweikinderfamilien in den unteren Arbeiterschichten noch An465 Durch das Kindergeldanpassungsgesetz von 1955 wurden bei den Sozialleistungsempfängern lediglich die Kindergeldzuschläge, z. B. in der Rentenversicherung, an die Höhe des Kindergeldes angeglichen. 466 Vgl. Willeke u. Onken, S. 125. 467 Vgl. ebd., S. 127 (Tab. 3.1). Vgl. auch Bogs u. a., Soziale Sicherung, S. 318 f. (Tab. 28 u. 29). 468 Vgl. Willeke u. Onken, S. 214 ff.

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fang der sechziger Jahre die Freibeträge nicht vollem Umfange geltend machen konnten.469 Erst mit der Einführung des einkommensgebundenen Zweitkindergeldes 1961 verschob sich die Verteilung des Familienlastenausgleichs wieder und verbesserte die Lage der unteren Einkommensschichten. Als weiteres Beispiel lässt sich die Ungleichverteilung zuungunsten der EinKind-Arbeiterfamilien in den Jahren von 1954 bis 1957 anführen. Zu diesem Zeitpunkt lag das zu versteuernde Einkommen der gleich strukturierten Angestelltenfamilie bereits in der Progressionszone, wodurch diese eine absolut höhere Steuerentlastung realisieren konnte als die Angehörigen aller anderen Einkommensklassen.470 Ähnliches galt für die Drei- und Vier-Kinder Familien Ende der sechziger Jahre. Auch hier begann in den oberen Berufs- und Einkommensgruppen der Progressionseffekt zu wirken, so dass sich eine relative Besserstellung gegenüber allen anderen Gruppen ergab.471 Umgekehrt gab es – innerhalb der von Willeke/Onken ausgewählten Berufsgruppen – aber auch kurze Phasen der Ungleichverteilung zugunsten von Familien mit geringeren Einkommen, so beispielsweise bei der Einführung des Zweitkindergeldes 1961. Zu diesem Zeitpunkt verbesserte sich kurzzeitig die relative Position der Zweikinderfamilien in den Arbeiter- und unteren Angestelltenschichten, da die höheren Berufsgruppen keinen Anspruch auf das Zweitkindergeld hatten und darüber hinaus für sie keine einkommensabhängigen Differenzierungen des steuerlichen Familienlasten­ausgleichs – etwa infolge progressiver Besteuerung – vorlagen.472 Wenn hier von »Verbesserung der Einkommenslage« die Rede ist, muss darauf hingewiesen werden, dass die Familienleistungen in keinem Fall die Aufwendungen für die Betreuung und Erziehung von Kindern deckten, sondern stets ein Spannungsverhältnis zwischen Familieneinkommen und (Mindest-) Kinderkosten bestehen blieb.473 Insgesamt zeigte sich aber in allen Einkommensschichten, dass das Spannungsverhältnis umso geringer war, je größer die Zahl der Kinder in einer Familie war. Mit steigender Kinderzahl wurde damit eine größere Deckung der Mindestkinderkosten erreicht. Differenziert nach Einkommensschichten  – und bei gleicher Kinderzahl  – ergab sich hingegen, dass der Anteil der durch die Familienleistungen nicht gedeckten Kinderkosten bei niedrigen Einkommen am größten war.474 Das erklärt sich daraus, dass der Mindestlebensunterhalt eines Kindes in allen Einkommensschichten gleich hoch war, die Kinderfreibeträge aber, wie analysiert, in den unteren Berufs- und Einkommensgruppen nicht oder nur zum Teil ausgeschöpft werden konnten. Wie die von Willeke/Onken durchgeführten Analysen außerdem erkennen lassen, sank trotz Familienlastenausgleich in allen Einkommensgruppen das 469 Vgl. ebd., S. 226, 229 f. 470 Vgl. ebd., S. 215. 471 Vgl. ebd., S. 232 f. 472 Vgl. ebd., S. 223, 226. 473 Vgl. Erster Familienbericht (BT-Drs. V/2532), S.  126 (Tab. 87); Bünger, S.  62 (Tab. 3); ­Willeke u. Onken, S. 350 (Tab. 6.10). 474 Vgl. Willeke u. Onken, S. 350 (Tab. 6.10).

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Wohlstandsniveau mit der Kinderzahl ab. Bereits bei Familien mit drei Kindern betrug es nur noch die Hälfte des Wohlstandsniveaus eines kinderlosen Ehepaares.475 Das (absolute) Wohlstandsniveau wurde somit bei gegebener Kinderzahl durch alle Einkommensschichten hindurch primär durch die Höhe des Erwerbseinkommens und »entschieden sekundär« durch die Höhe des Fami­ lienlastenausgleichs bestimmt.476 Insgesamt bestätigt die empirische Wirkungsanalyse die Vermutung, dass die Familien von Einkommensbeziehern der mittleren und höheren Berufsund Einkommens­gruppen beim Familienlastenausgleich in der Regel besser abschnitten als Familien von Beziehern niedriger Einkommen. Wo hier genau die Grenze verlief, ist schwer zu bestimmen, da der Familienlastenausgleich je nach Kinderzahl und Stand der Kindergeldgesetzgebung variierte. Die Berechnungen von Willeke/Onken legen nahe, dass die Familien der oberen Arbeiterschichten, insbesondere die Facharbeiter, zumeist schon zu den »Gewinnern« des Familienlastenausgleichs zählten.477 Auf der Gewinnerseite standen außerdem uneingeschränkt die Familien von Angehörigen mittlerer und höherer Angestelltenberufe (hier repräsentiert durch die Technischen Angestellten III und II). Die »Verlierer« waren demgegenüber Familien von Hilfsarbeitern und einfachen Kaufmännischen Angestellten, deren Einkommen für die Ausschöpfung von Kinderfreibeträgen häufig zu niedrig waren. Die Einkommensteuerreform von 1974/75 kehrte in dieser Hinsicht die Verhältnisse um. Die Einführung des Erstkindergeldes, die Erhöhung der übrigen Kindergelder und die Abschaffung der Kinderfreibeträge bauten die Ungleichverteilung des Familienlastenausgleichs ab und sorgten langfristig für eine relative Besserstellung der unteren Einkommensschichten. Wirft man einen vergleichenden Blick auf die Entwicklung in Frankreich, lassen sich sowohl Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede bei der Wirkung und Effizienz des Familienlastenausgleichs ausmachen. Die Kombination von indirekten und direkten familienpolitischer Transferleistungen in Form von geringen steuerlichen Belastungen (Familiensplitting) und dem im Vergleich beachtlichen Kindergeld führte in Frankreich dazu, dass der Lebensstandard von Familien in Frankreich nur geringfügig schlechter war als der von kinderlosen Paaren. Das Einkommen französischer Arbeitnehmer wurde durch familien­politische Zuwendungen erheblich aufgebessert. Während ein kinderloser Arbeitnehmer in Frankreich deutlich schlechter dastand als sein deutscher Kollege, verbesserte sich seine Einkommensposition spürbar, sobald er Familienlasten zu tragen hatte. Das galt für alle sozialen Schichten.478 Da die direkten Familienleistungen bis in die siebziger Jahre einkommensunabhängig 475 Vgl. ebd., S. 308 (Tab. 6.2); Niehuss, Strukturgeschichte, S. 211 (Tab. 26). 476 Willeke u. Onken, S. 337. 477 Facharbeiter und Angelernte Arbeiter stellen bei Willeke u. Onken die Repräsentanten der sog. mittleren Einkommensklasse dar (vgl. S. 251, Anm. 413). 478 Vgl. Niehuss, Family Policy, S. 310 f.; Schultheis, S. 384 f.

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gewährt wurden, war der vertikale Umverteilungseffekt gering. Der französische Familienlastenausgleich bewirkte in erster Linie eine Einkommensangleichung zwischen den Familien und den Kinderlosen innerhalb derselben sozialen Schicht. Zwar nahm die ökonomische Bedeutung der für alle Schichten gleich hohen Leistungen mit sinkendem Einkommen zu. Doch sorgte wiederum das Familiensplitting für eine Bevorteilung der höheren Einkommensgruppen. Erst seit den siebziger Jahren konzentrierte sich die französische Familienpolitik stärker auf die Förderung einkommensschwacher Familien. So wurden z. B. mit dem »complément familial« zusätzliche Familienzulagen für Familien mit geringem Einkommen eingeführt und zugleich bestehende Maßnahmen, wie die Einzellohnzulage, an Einkommenshöchstgrenzen gebunden.479 Ebenso wie der Familienlastenausgleich in der Bundesrepublik galt die Familienförderung in Frankreich in erster Linie den kinderreichen Familien. Bei drei und mehr Kindern stiegen die Unterstützungsleistungen überproportional an. EinKind-Familien dagegen gingen bei den »allocations familiales« leer aus. Sie waren die vorrangigen Verlierer der französischen Familienpolitik. Aufgrund der unterschiedlichen Architektur der Transfersysteme ist ein direkter Vergleich der Familienleistungen in der Bundesrepublik und in Frankreich nur schwer möglich. Insgesamt waren die französischen Leistungen umfassender und gleicher verteilt und stellten insbesondere für die Familien der unteren und mittleren Berufsgruppen eine bedeutende Ergänzung des Haushaltseinkommens dar. 5.5 Kinderzuschlag statt Kindergeld: Der Familienlastenausgleich im öffentlichen Dienst Anders als in Frankreich und in vielen anderen europäischen Ländern waren die Beschäftigten im öffentlichen Dienst in der Bundesrepublik nicht in die allgemeine Kindergeldregelung einbezogen. Für sie galt bis 1974/75 ein besonderes Ausgleichssystem, das sich in charakteristischer Weise vom Familienlastenausgleich in der gewerblichen Wirtschaft unterschied. Der Ausgleich der Familienlasten setzte sich für die im öffentlichen Dienst Beschäftigten mit Kindern vor allem aus drei Maßnahmen zusammen: den Steuerentlastungen aufgrund der Kinderfreibeträge, dem Kinderzuschlag und dem kinderbedingten Zuschlag zum Ortszuschlag (»kinderbedingter Ortszu­ schlag«).480 Die Einkommenszuschläge wurden aus dem Prinzip der Besoldung begründet, das ursprünglich nur für Beamte galt.481 Der Staat verpflichtete sich, 479 Vgl. Bahle, S. 132 f.; Schultheis, S. 369, 372 ff. 480 Der Ortszuschlag erhöhte sich außerdem bei Heirat. Er war je nach Tarif- bzw. Ortsklasse unterschiedlich hoch. Vgl. Bogs u. a., Soziale Sicherung, S. 303 ff.; Willeke u. Onken, S. 413 f. 481 Vgl. Bogs u. a., Soziale Sicherung, S. 303.

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den Beamten auf Lebenszeit eine angemessene – früher »standesgemäße« – Lebensführung zu garantieren. Damit sollten Gewinnstreben und Leistungslohndenken ausgeschaltet werden und die Beamten bei der Ausübung der ihnen übertragenen hoheitlichen Aufgaben frei und unabhängig sein. Die Zahlung von Einkommenszuschlägen bedeutete die Anerkennung von Familienpflichten und stellte den Vater unterhaltsberechtigter Kinder auf dieselbe Stufe wie den ledigen Beamten. Anders als das Kindergeld bestand der Anspruch auf Kinderzuschlag je Kind unabhängig von der Zahl der Kinder in der Familie; er war in allen Einkommensklassen gleich hoch, wurde aber nach dem Alter der Kinder gestaffelt. Zwischen 1949 und 1974 wurde der Kinderzuschlag insgesamt viermal angehoben. Während er 1953 für Kinder bis 6 Jahre 25 DM, für Kinder bis 14 Jahre 30 DM und für alle Kinder ab 14 Jahren 35 DM im Monat betrug, hatte er sich bis 1964 auf 40 DM, 45 DM und 50 DM für die verschiedenen Altersgruppen erhöht. Ab Oktober 1964 wurde sodann ein für alle Kinder gleich hoher Kinderzuschlag von monatlich 50 DM pro Kind gezahlt.482 Damit lagen die Beträge der Kinderzuschläge während des gesamten Untersuchungszeitraums deutlich über den gezahlten Kindergeldbeträgen. Allerdings waren die Kinderzuschläge ebenso wie die kinderbedingten Ortszuschläge im öffentlichen Dienst steuerpflichtig. Da sie als Bestandteile der Dienstbezüge bzw. des Arbeitsentgelts angesehen wurden, unterlagen sie, ebenso wie der Rest des Bruttoeinkommens, der Einkommensteuerpflicht. Der kinderbedingte Ortszuschlag, der sich von 1954 bis Anfang 1957 noch »Wohngeldzuschuss« nannte, wurde zunächst nur Familien mit drei oder mehr Kindern eingeräumt. Das änderte sich für die Beamten zum 1. Januar 1956 und für die Angestellten im öffentlichen Dienst zum 1. April 1957: Ab diesem Zeitpunkt staffelte sich der Ortszuschlag nach der Zahl der Kinder in einer Familie und setzte bereits beim ersten Kind ein. Die kinderbedingten Ortszuschläge wurden beinahe in jährlichem Abstand erhöht. Sie betrugen Ende der fünfziger Jahre etwa 12 DM monatlich für das erste und 18 DM für das zweite bis vierte Kind; bis Mitte der sechziger Jahre stiegen sie sodann auf 24  DM für das erste und 31 DM für das zweite bis vierte Kind.483 Anders als die Kinder­ zuschläge, die durch das Kindergeld ersetzt wurden, blieben die kinderbedingten Ortszuschläge den öffentlich Beschäftigten auch nach der Reform von 1974/75 erhalten.484 Insgesamt bot der Familienlastenausgleich allen Familien im Bereich des öffent­lichen Dienstes schon Anfang der fünfziger Jahre eine gute Basis. Während die Familien im Bereich der gewerblichen Wirtschaft noch auf die Ein482 Willeke u. Onken, S. 412. 483 Die kinderbedingten Ortszuschläge differierten ab 1957 kaum noch zwischen den einzelnen Tarif- und Ortsklassen. Vgl. dazu: Ebd., S. 413 f. 484 Ab 1.1.1975 betrugen sie für das erste Kind 77 DM, für das zweite 74 DM, für das dritte 34 DM und das vierte Kind 65 DM im Monat. Vgl. ebd, S. 414.

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führung des Kindergeldes warteten, existierte hier bereits ein dem Kindergeld gleichzusetzender, wenn auch zu versteuernder Kinderzuschlag, der auch an die Familien mit einem Kind gezahlt wurde. Die mehrfachen Erhöhungen der Kinderzuschläge und der kinderbedingten Ortszuschläge bedeuteten eine stetige Anpassung der Leistungen an das gestiegene Niveau der Lebenshaltungskosten.485 Während das in der gewerblichen Wirtschaft gewährte Kindergeld und die auf den Kinderfreibeträgen basierenden Steuerentlastungen isoliert betrachtet werden konnten, handelte es sich im öffentlichen Dienst um ein »interdependentes System«.486 Da die Kinderzulagen steuerpflichtiges Einkommen darstellten, musste zur Berechnung der effektiven Nettoleistungen aus dem Familienlastenausgleich die Einkommensteuer abgezogen werden. Kinderzulagen und Kinderfreibeträge entfalteten damit eine gegensätzliche Wirkung. Während die Zulagen das steuerpflichtige Einkommen erhöhten, wurde es durch die Freibeträge insgesamt gesenkt. Zwei Effekte trafen aufeinander: Im Falle der Kinderzulagen sank bei steigendem Einkommen die Nettoleistung  – als Konsequenz der Versteuerung; bei den Kinderfreibeträgen hingegen stieg die Leistung mit steigendem Einkommen  – als Konsequenz der Absetzbarkeit der Freibeträge. Der Gesamteffekt war folgender: In den Einkommensbereichen unterhalb der Steuerfreigrenze, in dem die Kinderfreibeträge nicht ausgeschöpft werden konnten, wirkte sich nur der Kinderzuschlag aus. Nach Überschreiten der Steuerfreigrenze begannen neben dem Kinderzuschlag auch die Freibeträge zu wirken, jedoch kam es auch hier zunächst noch nicht zur Steuerpflichtigkeit der Kinderzuschläge, da die Freibeträge das Einkommen wiederum unter die Steuerfreigrenze drückten. In diesem mittleren Einkommensbereich, in dem für den Kinderzuschlag die Steuerpflicht noch nicht einsetzte, war der Nettoeffekt am größten. Mit noch weiter wachsendem Einkommen ging die Gesamtleistung wieder leicht zurück, da nun ein sinkender Kinderzuschlag und eine konstante Steuerersparnis zusammentrafen. Ab einer bestimmten Einkommenshöhe überdeckte der positive Steuereffekt der Kinderfreibeträge sodann den negativen Versteuerungseffekt der Kindzuschläge, so dass ein zweiter Höhepunkt der kombinierten Leistungen erreicht wurde.487 Im Ergebnis war die Differenz zwischen maximaler und minimaler Leistung aus dem Familienlastenausgleich im öffentlichen Dienst geringer als in der Wirtschaft.488 Da die Kinderzuschläge zum steuerpflichtigen Einkommen dazu gerechnet wurden, wurde mit steigendem Einkommen ein immer größerer Teil  der Kinderzuschläge weggesteuert. Die beim Familienlastenausgleich im Bereich der Wirtschaft zu beobachtenden deutlichen Effekte einer Ungleichverteilung zuungunsten der unteren Einkommensgruppen waren im öffent­ 485 Vgl. ebd., S. 111 ff. 486 Vgl. Zeppernick, S. 176. 487 Vgl. ebd. 488 Vgl. ebd., S. 179 (Schaubild 4).

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lichen Dienst, wie die Berechnungen von Willeke/Onken belegen, nicht so ausgeprägt.489 Die »Absicherung nach unten«, d. h. für Familien mit niedrigem Einkommen, war durch die unbedingte Zahlung von Kinder- und Ortszuschlägen beim Familienlastenausgleich im öffentlichen Dienst besser geregelt. Ein weiterer Vorteil war, dass Einkindfamilien in jedem Fall familienbezogene Leistungen erhielten, auch wenn sie keine Steuerfreibeträge geltend machen konnten. Eine besonders günstige Entwicklung ergab sich für die Ein- bzw. Zweikinderfamilien im öffentlichen Dienst in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre. In dieser Zeit verbesserten sich die Leistungen des Familienlastenausgleichs in dreifacher Weise: durch die Einführung kinderbedingter Ortszuschläge auch für die Familien mit ein oder zwei Kindern, durch die Anhebung der Kinderzuschläge sowie durch die allgemeine Erhöhung der Kinderfreibeträge für erste und zweite Kinder. Während sich für die Familien der Industriearbeiter die Leistungen aus dem Familienlastenausgleich Ende der fünfziger Jahre sogar relativ verschlechterten, da sie die erhöhten Freibeträge nicht ausschöpfen konnten, verzeichneten die Familien von Angestellten im öffentlichen Dienst in allen Einkommensklassen490 1957/58 eine deutliche Anhebung des Niveaus des Familienlastenausgleichs.491 Nach den Analysen von Willeke/Onken war das sich nach Familien­ lastenausgleich ergebende Wohlstandsniveau der Angehörigen des öffentlichen Dienstes höher als das der Arbeitnehmer in der Wirtschaft. Es zeigte sich zwar im langfristigen Vergleich der Jahre 1954 und 1961 eine relativ geringere Zunahme der durch den Familienlastenausgleich bewirkten Wohlstandseffekte. Das war aber nicht Ausdruck für niedrigere Leistungen, sondern erklärt sich vor allem durch das hohe Leistungsniveau für die Bediensteten des öffentlichen Dienstes im Ausgangsjahr.492 Dagegen genügte aber auch das System im öffentlichen Dienst nicht dem Postulat, die Leistungen aus dem Familienlastenausgleich an den durch Kinder entstehenden Belastungen zu orientieren. Vielmehr ergaben sich zum Teil willkürliche Funktionsverläufe, die sich aus Steuertarifen und gegenläufigen Progressionstarifen ableiteten.493 Im Ergebnis lässt sich feststellen, dass sich die für den öffentlichen Dienst geltenden Sonderregelungen beim Familienlastenausgleich für die Mehrheit 489 Vgl. Willeke u. Onken, S. 259, 262 ff. 490 Willeke u. Onken verwendeten für den Bereich des öffentlichen Dienstes die gleiche Berufsgruppeneinteilung wie für den Bereich der Wirtschaft. Nach Maßgabe der tarifvertraglich oder beamtenrechtlich gewährten Bruttoeinkommen wurden für die untere Einkommensschicht die Besoldungsgruppe A 1 der Beamten und die Besoldungsgruppe BAT X der Angestellten, für die mittlere Einkommensschicht die Besoldungsgruppen A 9 der Beamten und BAT Va der Angestellten und schließlich für die obere Einkommensschicht die Besoldungsgruppen A 16 der Beamten und BAT I der Angestellten ausgewählt. Vgl. Willeke u. Onken, S. 34. 491 Vgl. ebd., S. 72 ff., 112 ff. 492 Vgl. ebd., S. 320, 465, 468; Niehuss, Strukturgeschichte, S. 212 ( Tab. 27). 493 Vgl. Zeppernick, S. 177.

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der Beschäftigten vorteilhaft auswirkten. Die »Privilegierung« bestand erstens darin, dass das Niveau des Familienlastenausgleichs insgesamt höher war. Zweitens waren die Leistungsdifferenzen zwischen den Familien in den unterschiedlichen Einkommensgruppen, aber auch mit unterschiedlicher Kinderzahl nicht so ausgeprägt. Das beruhte drittens darauf, dass die Einkommenszuschläge und die auf den Kinderfreibeträgen beruhenden Steuerentlastungen ein geschlosseneres System bildeten als die Kombination mit dem Kindergeld. Die großzügigere Gewährung der Einkommenszuschläge ab dem ersten Kind – mit der Konsequenz, dass auch in den Einkindfamilien der unteren Berufs- und Einkommensgruppen der Familienlastenausgleich wirksam wurde  – und die Steuer­pflichtigkeit der Zuschläge verhinderten übermäßige Disparitäten. Trotzdem galt grundsätzlich auch für den Bereich des öffentlichen Dienstes, dass im Untersuchungszeitraum die Leistungen umso geringer waren, je ärmer eine Familie war und je mehr Kinder sie hatte. Das änderte sich im Zuge der Familienlastenausgleichsreform von 1974/75, die die Familienlastenausgleichssysteme im öffentlichen Dienst und im Bereich der Wirtschaft einander anglich. Für die Angehörigen des öffentlichen Dienstes wurden die bis dahin gezahlten zu versteuernden Kinderzuschläge durch ein steuerfreies Kindergeld ersetzt. Eine Familie mit zwei Kindern verlor damit einen jährlichen Kinderzuschlag von 1.200 DM (brutto), erhielt dafür nun aber ein erhöhtes jährliches Kindergeld von 1.440 DM (netto). Der »Gewinn« lag damit – durch den Steuereffekt – bei etwas mehr als 240 DM. Dieses »zusätzliche Kindergeld« in Verbindung mit einer Erhöhung des kinderbedingten Ortszuschlags um etwa 486 DM im Jahr überwog bei niedrigeren Einkommen den Wegfall der Steuerentlastung infolge der Aufhebung der Kinderfreibeträge, so dass insgesamt eine Verbesserung der Einkommenslage eintrat. In den oberen Einkommensklassen hingegen sanken die Leistungen gegenüber dem »alten« Familienlastenausgleich; der Verlust der bisherigen Progressionsvorteile war hier dominant.494 5.6 Ergebnisse Was lässt sich abschließend auf die eingangs gestellte Frage nach den Mittelschichtfamilien als besonderen »Profiteure« des Familienlastenausgleichs antworten? War die »monetäre« Familienpolitik im Untersuchungszeitraum »mittelschichtorientiert«? Aus der vorangeganenen Untersuchung lassen sich folgende Ergebnisse ableiten: Erstens: Die Einkommenseffekte des auf Kinderfreibeträgen und Kindergeld bzw. Kinderzuschlägen beruhenden Familienlastenausgleichs variierten je nach Einkommen, Kinderzahl und Stand der Gesetzgebung. Dabei schnitten die Fa494 Vgl. Willeke u. Onken, S. 117, 112 ff.

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milien mittlerer Berufs- und Einkommensgruppen von den Facharbeitern bis zu den höheren Angestellten vergleichsweise gut ab, da sie häufig neben den direkten Transferleistungen auch die Kinderfreibeträge zumindest für ein oder zwei Kinder in Anspruch nehmen konnten. Für Familien von Beziehern niedriger Einkommen, wie zum Beispiel Hilfsarbeiter oder einfache Angestellte in der Wirtschaft oder im öffentlichen Dienst, die keine Freibeträge geltend machen konnten und daher nur Kindergeldzahlungen bzw. Kinderzulagen erhielten, war der finanzielle Vorteil erheblich geringer. Jedoch bewirkte die allgemeine Einkommensentwicklung, dass mit der Zeit immer mehr Familien einen Einkommensbereich erreichten, bei dem beide Teile des Familienlastenausgleichs wirksam wurden. Zweitens: Die Leistungen aus dem Familienlastenausgleich verbesserten das relative Einkommens- und Wohlstandsniveau von Familien mit Kindern; die meisten Familien standen nach dem Familienlastenausgleich besser da als vorher. Auch wenn der finanzielle Zuschuss die Kinderkosten insgesamt nicht ausglich, stellte er für die Familien der mittleren Einkommens- und Berufsgruppen  – insofern er auch Steuerentlastungen umfasste  – einen nicht unbedeutenden Teil  des Gesamteinkommens dar. Tendenziell war der Nutzen der kinderbedingten Transferleistungen in der Einkommensmitte sogar am größten. Zwar stiegen die Leistungen aus dem steuerlichen Teil  des Familienlastenausgleichs mit weiter steigendem Einkommen an. Da sie sich aber weniger erhöhten als das Einkommen, nahmen sie, in Prozent des Einkommens betrachtet, ab. Sie verloren damit für die wirtschaftliche Situation der Familie an Bedeutung. Drittens: Für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst waren die Auswirkungen »ihres« Familienlastenausgleichs grundsätzlich günstiger und weniger disparat. Durch die gegenläufige Wirkung von Kinderzulagen und Kinderfreibeträgen bei der Steuer und die Auszahlung von einkommensunabhängigen Zuschlägen ab dem ersten Kind ergaben sich nicht die gleichen »Härten« wie für Familien unterer Berufsgruppen im Bereich der gewerblichen Wirtschaft. Unterstellt man, dass die Beamten- und Angestelltentätigkeiten im öffent­ lichen Dienst typische »Mittelschichtberufe« waren,495 bedeutet die Aufrechterhaltung der für den öffentlichen Dienst geltenden Sonderregelungen in den fünfziger und sechziger Jahren eine besondere Berücksichtigung von Mittelschichtinteressen. Viertens: Die Auswirkungen des Familienlastenausgleichs entsprachen den von Regierung und CDU/CSU angestrebten Zielen. Eingelöst wurde sowohl die Maßgabe, nach der vor allem Mehrkinderfamilien geholfen werden sollte, als auch die Idee des »schichtinternen« Familienlastenausgleichs. Wie die empirischen Untersuchungen belegen, vergrößerte sich mit der Zahl der Kinder in der Familie grundsätzlich auch der durch den Familienlastenausgleich be495 Vgl. dazu auch S. 322 ff.

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wirkte Einkommenszuwachs. Darüber hinaus wies der Familienlastenausgleich eine Differenzierung nach der Höhe des Einkommens auf. Wie gezeigt, erzielte der Besserverdiener durch die Ausschöpfung der Freibeträge und die dadurch bewirkte Minderung der Steuerprogression in der Regel einen höheren Familienlastenausgleich als der Geringverdiener. Innerhalb derselben Einkommensschicht wurde der Ausgleich der Familienlasten dadurch erreicht, dass der Familienvater im Vergleich zu seinem kinderlosen Kollegen weniger Steuern zahlte und seine relative wirtschaftliche Position damit verbessern konnte.

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III. Mittelschichtgerechtes Wohnen: Die staatliche Wohnungs- und Eigentumsförderung

Die Wohnungspolitik entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem wichtigen Bestandteil des bundesdeutschen Sozialstaats.1 In seiner Studie über die »Wohnungsversorgung im Wohlfahrtsstaat« stellte Wolfgang Glatzer 1980 fest: »Es gibt wohl kaum ein zweites wirtschaftliches Gut, auf dessen Bereitstellung und Verteilung durch ähnlich vielfältige gesetzliche Bestimmungen Einfluss genommen wird, wie die Wohnung.«2 Viele wohnungspolitische Konzepte und Instrumente der Nachkriegs­ jahrzehnte stammten bereits aus der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts. Industrialisierung und Urbanisierung, dazu die zunehmende Vergroßstädterung hatten seit der Jahrhundertwende Forderungen nach staatlichen Eingriffen in die Wohnungsversorgung laut werden lassen. Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich die Wohnungspolitik europaweit von einer Nothilfe der Arbeiter zur gesellschaftlichen Strukturpolitik für immer weitere Bevölkerungsgruppen.3 Eine nachhaltige quantitative und qualitative Verbesserung der allgemeinen Wohnungsversorgung wurde in den meisten westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten jedoch erst seit den sechziger und siebziger Jahren erreicht. Dieser Wandel war nicht nur das Ergebnis intensiver Wohnungsbauprogramme der Nachkriegszeit, sondern verdankte sich auch der zunehmenden Wohlstandsentwicklung und dem wachsenden Reichstum der westlichen Industriestaaten. In der Bundesrepublik war die Wohnungspolitik eng mit der Eigentums­ politik verbunden. Die breite Streuung von Wohneigentum galt als eines der wichtigsten Ziele der Wohnungsbaugesetze der fünfziger Jahre. Das sog. Eigenoder Familienheim wurde als die erstrebte Form der Eigentumsbildung angesehen.4 Die bundesrepublikanische Wohnungspolitik besaß darüber hinaus eine bedeutende familienpolitische Komponente. Durch familienbezogene Vergünstigungen bzw. die Staffelung der Leistungen nach der Familiengröße wurden die Belange von Familien besonders berücksichtigt. 1 Unter Wohnungspolitik werden im allgemeinen Maßnahmen der Wirtschafts- und Sozialpolitik verstanden, mittels derer staatliche Träger und Organe versuchen, die Produktion und Verteilung von Wohnraum zu beeinflussen und eine verbesserte Wohnungsversorgung der Bevölkerung zu erreichen. Vgl. Münch, Familienpolitik BRD, S. 99; Schulz, Perspektiven, S. 15. 2 Glatzer, Wohnungsversorgung, S. 4. 3 Vgl. Schulz, Perspektiven, S. 14 ff., 41. 4 Vgl. beispielhaft: Lücke, Familienheime.

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Im Folgenden werden die staatlichen Förderinstrumente der Wohnungsund Eigentumspolitik näher untersucht und insbesondere nach den Wirkungen für bestimmte soziale Schichten gefragt. Für wen war die staatliche Förderung bestimmt und wer nahm sie in Anspruch? Erhielten die Mittelschichtfamilien neben den Leistungen aus dem Familienlastenausgleich auch staatliche Gelder, um sich ihrem Lebensstandard entsprechend mit Wohnraum zu versorgen? Waren die mittleren Einkommens- und Berufsgruppen möglicherweise sogar die eifrigsten Bauherren staatlich geförderter Eigenheime? Was bedeutete unter den Bedingungen akuten Wohnungsnotstands nach dem Krieg überhaupt das Wohnen im »sozialen Wohnungsbau«? Infolge der Zerstörungen durch den Krieg war die Wohnsituation in der unmittelbaren Nachkriegszeit und noch bis weit in die fünfziger Jahre hinein in ganz Deutschland äußerst prekär. Es stand weder genügend Wohnraum zur Verfügung noch entsprachen die vorhandenen Wohnungen den notwendigen Mindeststandards. Die bundesrepublikanische Wohnungsbaupolitik schaffte mit den Wohnungsbaugesetzen der fünfziger Jahre effektive Instrumente zur Errichtung neuer Wohnungen. Auf der Grundlage bestimmter, nicht unstrittiger Wert- und Ordnungsvorstellungen wurden genaue Regeln für den staatlich geförderten sozialen Wohnungsbau erlassen. Dabei war nicht ausgeschlossen, dass auch sozial bessergestellte Familien die staatliche Förderung in Anspruch nahmen und Nutzen aus ihr zogen. Die nachfolgenden Analysen überprüfen, inwiefern sich die bisherigen Ergebnisse hinsichtlich des Verhältnisses von wohlfahrtsstaatlicher Politik und Mittelschichtenförderung auch auf den Bereich der Wohnungs- und Eigentumspolitik übertragen lassen. Dazu werden im ersten Kapitel Leitbilder und Determinanten, im zweiten Kapitel konkrete Instrumente der Wohnungsbauund Eigentumsförderung der Nachkriegszeit erörtert. Das dritte Kapitel ana­ lysiert die Ergebnisse und Wirkungen der Fördermaßnahmen vor dem Hintergrund schichtspezifischer Ungleichheiten bei der Wohnungsversorgung und den Wohnbedingungen. Obwohl die Forschung zur Geschichte des Wohnens in der Bundesrepublik seit den neunziger Jahren an Intensität deutlich zugenommen hat,5 ist die Frage nach den Profiteuren der staatlichen Wohnungsbauförderung der Nachkriegsjahrzehnte selten explizit gestellt worden.

5 Die bisherigen Arbeiten haben sich vor allem dem Wohnungsbau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewidmet sowie den Strukturbedingungen des städtischen Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg. Darüber hinaus ist die auch Sozialgeschichte des Wohnens stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Vgl. Forschungsüberblick bei Müller, Jahrhundert; Schulz, Wohnungspolitik im Sozialstaat; ders., Wiederaufbau; von Saldern.

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1. Wohnen in der Nachkriegszeit: Leitbilder, Determinanten und Erfahrungen Am Ende des Zweiten Weltkriegs war die Wohnungssituation in Deutschland katastrophal. Durch die weitgehende Einstellung ziviler Neubautätigkeit seit 1940 hatte sich das schon vor dem Krieg vorhandene Wohnungsdefizit erheblich vergrößert. Der Bombenkrieg hatte die Zahl bewohnbarer Wohnungen auf dem Gebiet der späteren Bundesrepublik um etwa 20 Prozent, auf dem Gebiet der späteren DDR um gut 15 Prozent reduziert.6 Hinzu trat das Problem von Flüchtlingen und Vertriebenen, die ebenfalls mit Wohnraum versorgt werden mussten. Der Gesamtbedarf an Wohnraum belief sich 1950 allein in Westdeutschland auf etwa 5,9 Millionen Wohnungen.7 Neben die Notwendigkeit, möglichst schnell viel und billigen Wohnraum zu schaffen, trat in der Bundesrepubik schon früh die Sorge um eine  – der Größe und Ausstattung nach – angemessene Wohnungsversorgung für Familien. Während in der DDR erst Anfang der siebziger Jahre entsprechende Vorgaben für die Wohnungsgrößen aufgestellt wurden,8 beherrschte das Leitbild der »familiengerechten Wohnung« bzw. des »familiengerechten Heims« die wohnungspolitische Diskussion in der Bundesrepublik bereits Anfang der fünfziger Jahre.9 Im Gutachten des Wohnungswirtschaftlichen Beirats von 1952 hieß es dazu: Familiengerecht ist eine Wohnung dann, wenn sie nach ihrer Größe und Lage, nach Ausmaß und Zuschnitt der Räume wie auch nach der gesamten Ausstattung den Anforderungen entspricht, die erfüllt sein müssen, um einer Familie ein Heim zu bieten, das eine gesunde Entwicklung der Familie und eine Entfaltung des Familienlebens gewährleistet. Dazu gehört auch, dass die Belastung für die Familie tragbar ist und tragbar gemacht wird oder tragbar bleibt.10

Obwohl die Wohnungsnot nach dem Krieg alle Bevölkerungsgruppen betraf, waren Familien mit Kindern auf dem eingeschränkten westdeutschen Wohnungsmarkt besonders benachteiligt. Ihnen standen zur Wohnungsfinanzierung insgesamt weniger Haushaltsmittel zur Verfügung als Alleinstehenden, zugleich waren sie aber auf größere und damit teurere Wohnungen angewiesen. 6 Schildt, Wohnungspolitik, S. 167, 179. 7 Vgl. Grunddaten des Wohnungsbaus in der Bundesrepublik, in: Bulletin Nr, 147, 6.8.1953, S. 1244; Alber, Sozialstaat, S. 209. 8 Der Beschluss der SED-Führung von 1973 sah vor, in zwei Jahrzehnten bis zu 3,5 Millionen Wohnungen zu bauen und jeder Familie eine »eigene, familiengerechte Wohnung in funk­ tionsfähigem Zustand« zu garantieren. Jedem volljährigen Familienmitglied sollte ein eigenes Zimmer zur Verfügung stehen. Vgl. Schild, Wohnungspolitik, S. 185. 9 Vgl. Wohnungswirtschaftlicher Beirat, Zur Frage; Ehlen; von Nell-Breuning, Familien­ gerechte Wohnung; Sommer; Jensen. 10 Wohnungswirtschaftlicher Beirat, Zur Frage, S. 72.

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Während der Wohnungswirtschaftliche Beirat 1952 noch eine Wohnung von drei Räumen einschließlich Küche als ausreichend für eine dreiköpfige Familie ansah, legte das Zweite Wohnungsbaugesetz von 1956 fest, dass die Wohnfläche als angemessen anzusehen sei, »die es ermöglicht, dass auf jede Person, die zum Haushalt gehört […] ein Wohnraum ausreichender Größe entfällt«.11 Dieser Standard wurde als erwünschte Belegungsdichte für öffentlich geförderte Wohnungen festgelegt.12 Er wurde jedoch erst Ende der sechziger Jahre erreicht.13 Die Wohnungen waren jedoch nicht nur gemessen an der Anzahl der Wohnräume, sondern auch gemessen an der Wohnfläche häufig zu klein. Anfang der fünfziger Jahre mussten vierköpfige Familien im Durchschnitt mit einer 45  Quadratmeter großen Wohnung auskommen.14 Zwar wurde im Zweiten Wohnungsbaugesetz die »benötigte Wohnfläche« für eine vierköpfige Familie auf 60 Quadratmeter festgelegt,15 jedoch konnten sich viele Familien eine Wohnung in dieser Größe wiederum nicht leisten. Trotz der Begrenzung der Miete für Wohnungen des sozialen Wohnungsbaus durch die sog. Richtsatzmiete auf 1,10 DM pro Quadratmeter (1950) waren Familien mit geringerem Einkommen häufig gezwungen, die ihnen durch die Wohnungsämter angebotenen größeren Wohnungen aus Kostengründen abzulehnen. Wie der Wohnungsexperte Karl Sommer errechnete, musste eine Familie mit zwei Kindern 1954 ein Monatseinkommen von etwa 480 DM, eine Familie mit vier Kindern ein Monatseinkommen von etwa 600 DM erreichen, damit die Mietbelastung für eine entsprechend große Wohnung innerhalb der als tragbar angesehenen Grenze von 15  Prozent der Einkünfte ver­blieb.16 Diese genannten Einkommen entsprachen jedoch keineswegs dem durchschnittlichen Familieneinkommen. Nach einer vom Statistischen Bundesamt durchgeführten Untersuchung lagen Ende des Jahres 1953 nur 9,2 Prozent aller männlichen Arbeiter mit ihrem monatlichen (Brutto-) Einkommen über 450  DM (ohne Lehrlinge und Anlernlinge), 11 II. WoBauG, § 39 Abs. 3 (BGBl. I, S. 535). 12 Der Standard »ein Wohnraum je Person« ist insofern unpräzise, als er nicht definiert, welche Räume einzubeziehen sind. Die Gesetzesinterpretation sah vor, Küchen mit weniger als 12 qm Fläche nicht als Wohnraum anzurechnen. Vgl. Fischer-Dieskau u. a., S. 509. Vgl. dazu auch Glatzer, S. 41 ff. 13 Alber, Sozialstaat, S. 212; Statistisches Bundesamt, Wohnungsstatistik, S. 77 f. Vgl. auch Erster Familienbericht (BT-Drs. V/2532), S. 146. Danach hatte noch im Herbst 1965 von den Ehepaaren mit drei Kindern jedes fünfte Ehepaar nur bis zu 3 Räumen (einschl. Küche) zur Verfügung. Mehr als 5 Prozent der Ehepaare mit drei und mehr Kindern waren sogar in ein oder zwei Räumen untergebracht. 14 Vgl. Schildt, Wohnungspolitik, S.  168; Niehuss, Strukturgeschichte, S.  132.  – Klagen von Sozialhygienikern, der soziale Wohnungsbau sei bevölkerungspolitisch schädlich, weil er durch seinen Wohnungsgrößen und -grundrisse die »Schrumpffamilie« mit nur zwei Kindern fördere, hatten hier ihren Ausgangspunkt; sie waren ein Beispiel für das Überdauern bevölkerungsbiologischen Denkens in der Nachkriegszeit, vgl. z. B. Harmsen. 15 Vgl. Glatzer, S. 47 (Tab. 2). 16 Vgl. Sommer, S. 106 f. Vgl. dazu auch das Ergebnis der 1 %-Wohnungserhebung von 1960: Euler, Wohnverhältnisse kinderreicher Familien, S. 31 f.

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58,2 Prozent dagegen verdienten weniger als 380 DM.17 Zwar wurde die Haushaltssituation durch den Mitverdienst der Ehefrau in manchen Haushalten aufgebessert, doch entfiel häufig dieses zusätzliche Einkommen nach der Geburt des ersten Kindes wieder. Damit ergab sich gerade dann eine Minderung der Familieneinkünfte, wenn mehr finanzielle Mittel für eine größere Wohnung benötigt wurden.18 Die Wohnungspolitiker versuchten, dieses Dilemma seit 1956 mit der Gewährung von individuellen Mietbeihilfen aufzulösen.19 Insgesamt war deren Wirkung aber gering. Das Gros der Wohngeldempfänger bestand seit Ende der fünfziger Jahre aus alten Menschen und Nichterwerbstätigen.20 Anders als die Bundesrepublik, setzte die DDR zur Lösung der Wohungsprobleme vor allem auf staatliche Wohnraumbewirtschaftung und Begrenzung der Mieten, auch über die unmittelbare Nachkriegszeit hinaus. Die geringen Aufwendungen für die Mieten, die sich bis zuletzt auf lediglich auf drei Prozent der Nettoeinkommen der privaten Haushalte beliefen, wurden in der DDR immer wieder als Errungenschaft angepriesen. Die Situation auf dem Wohnungsmarkt blieb jedoch aufgrund geringer Neubautätigkeiten und fehlender Investitionen in den Wohnungsbestand in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten un­befriedigend.21 Im europäischen Vergleich galt Schweden nach dem Zweiten Weltkrieg als Musterland der staatlichen Wohnungsbaupolitik.22 Staatliche Wohnungsbaugesellschaften, Genossenschaften und privatwirtschaftliche Unternehmen erhielten vom Staat Fördermittel in Höhe von 85 bis zu 100 Prozent der Baukosten.23 Zwischen 1964 und 1974 wuchs der Wohnungsbestand jährlich um etwa drei Prozent an. Die serielle Fertigung der Wohnungsbauten verband sich in charakteristischer Weise mit einem hohen internationalen Wohnstandard in Hinblick auf die Wohnfläche und Ausstattung.24 Ganz anders war die Lage dagegen in Großbritannien. Obwohl schon während des Krieges eine rege Woh17 Sommer, S. 107. 18 Vgl. ebd., S. 108 f. 19 Erstmalig waren Mietbeihilfen im Bundesmietengesetz 1955 (BGBl. I, S.  458) verankert worden. Sie waren jedoch auf einkommensschwache Mieter von Altbauwohnungen beschränkt worden. Im Zweiten Wohnungsbaugesetz wurde der Berechtigtenkreis sodann auf einkommensschwächere Mieter von Sozialwohnungen ausgedehnt (§ 73 i. V. m. § 46 Abs. 1 II.WoBauG). 20 Der Bezug von Wohngeld richtete sich zwar nach dem Einkommen, der Höhe der Miete bzw. der Mietbelastung sowie nach der Zahl der Familienmitglieder. Zugleich legte das Gesetz aber bestimmte Obergrenzen fest, die wiederum von der Haushaltsgröße, dem Alter und der Ausstattung der Wohnung abhängig waren. Vor allem die Berechnungsmethode für die noch erlaubten Wohnflächen wirkte sich zu Lasten von Mehrpersonenhaushalten aus. Vgl. dazu insb. Münch, Familienpolitik BRD, S. 112 ff.; Wagner-Kyora, Wohnungspolitik, Bd. 4, S. 769 ff. 21 Vgl. Schildt, Wohnungspolitik S. 179 ff. 22 Vgl. dazu ausführlich Strömberg. 23 Vgl. ebd., S. 310 ff. 24 Ebd., S. 315.

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nungsbaudiskussion geführt worden war, kam der Wohnungs- und Wiederaufbau nach dem Krieg nur schleppend in Gang. 1947 war weniger als die Hälfte der für die ersten zwei Jahre nach Kriegsende geplanten Wohnungen durch die örtlichen Behörden fertig gestellt worden. Fehlende finanzielle Ressourcen sowie mangelnde Planung und Koordination sorgten für ein weitgehendes Scheitern der britischen Wohnungsbaupolitik der Nachriegszeit.25 Auch Frankreich hatte große Schwierigkeiten, die extreme Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg zu bewältigen. Erst mit dem »Plan Courant« von 1953 gelang es der französischen Regierung, die Zahl der Neubauten bedeutend zu erhöhen. Dabei setzt sie – ähnlich wie die Bundesrepublik – auf ein vielfältiges Förder­instrumentarium zur Belebung der Bauwirtschaft. Neben dem Bau von Sozialwohnungen wurde auch die private Bautätigkeit durch Subventionen und Kredite unterstützt.26 Die Zahl der Neubauwohnungen blieb dennoch weit hinter der der Bundesrepublik zurück. Zwischen 1950 und 1960 wurden in Frankreich je 10.000 Einwohner weniger als halb so viele Wohnungen errichtet wie in der Bundesrepublik.27 Wenngleich der Mietwohnungsbau nach dem Krieg europaweit das vorrangige Mittel darstellte, um der Wohnungsnot Herr zu werden, so war die Mietwohnung in der Wahrnehmung der bundesdeutschen Zeitgenossen insgesamt doch die »schlechteste« Lösung, um »familiengerechtes« Wohnen zu verwirklichen. Vielmehr galt das eigene Haus mit Garten, oder auch die sog. »Klein­ siedlung«,28 in den fünfziger Jahren als die erstrebenswerte Wohnform.29 Die Vorstellung vom Eigenheim mit Garten übte auf alle sozialen Schichten nach Kriegsende eine große Anziehungskraft aus.30 Das ist vor dem Hintergrund der katastrophalen Wohnungs- und Ernährungssituation in der unmittelbaren Nachkriegszeit kaum verwunderlich. Angesichts von Wohnungsnot und Hunger sowie Geldwertverfall hatte das Eigenheim zahlreiche Vorzüge. Da die Flächenbombardements der letzten Kriegsjahre vor allem die großen Städte und damit die städtischen Mehrfamilienhäuser getroffen hatten, waren die Eigen­ 25 Vgl. dazu ausführlich Bullock. 26 Vgl. Heugas-Darraspen. 27 Vgl. Schulz, Perspektiven, S. 13. 28 Als »Kleinsiedlung« wurde eine »Siedlerstelle« bezeichnet, »die aus einem Wohngebäude mit angemessenem Wirtschaftsteil und angemessener Landzulage« bestand, und die geeignet war, »dem Kleinsiedler durch Selbstversorgung aus vorwiegend gartenbaumäßiger Nutzung des Landes und Kleintierhaltung eine fühlbare Ergänzung seines sonstigen Einkommens zu bieten«. Vgl. Schwender, S. 493. Dort auch zur Abgrenzung der Begriffe »Eigenheim«, »Kaufeigenheim«, »Familienheim«. Der durch das II. WoBauG eingeführte Begriff des »Familienheims« galt als Oberbegriff. 29 Vgl. dazu insb. Ehlen, S. 34 ff. 30 In Meinungsumfragen bekannte sich stets ein großer Teil der Befragten zum Traum vom »Häuschen mit Garten«. Je nachdem, ob nach dem Wunsch allgemein gefragt oder die Realisierungschancen berücksichtigt wurden, wünschten sich etwa drei Viertel bzw. ein Drittel der Befragten ein Eigenheim. Vgl. Schulz, Wohnungspolitik und soziale Sicherheit, S. 488. Dazu auch Schmidtchen, S. 242 f.; Glatzer, Wohnungsversorgung S. 158 ff.; Schwender, S. 503.

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heime, die vornehmlich auf dem Land oder an der Peripherie der Städte lagen, nur in geringerem Ausmaß zerstört worden. Der Garten half darüber hinaus, die Versorgungsschwierigkeiten zu überbrücken. Schließlich wurde der Immobilienbesitz bei der Währungsreform weniger in Mitleidenschaft gezogen als das Kapitalvermögen.31 Im allgemeinen Bewusstsein der Bevölkerung war das Eigen- bzw. Familienheim der »Inbegriff sozialer Sicherheit«.32 Ihm wurde ein Wert zugeschrieben, der über den Wohnwert im engeren Sinne hinausging.33 Allerdings konnten sich längst nicht alle Schichten ihren Traum vom »Häuschen mit Garten« erfüllen. Die wirkungsvollste Realisierung von familiengerechtem Wohnen war zugleich die kostspieligste. Die überwiegende Zahl der Arbeiter- und Angestelltenfamilien wohnte in Deutschland von der Zeit der Hochindustrialisierung bis in die frühen fünfziger Jahre stets zur Miete. Der Anteil der Hauseigentümer lag, nach den Schätzungen von Günther Schulz, seit Anfang des 20. Jahrhunderts bei etwa 6 bis 7 Prozent.34 In der Bundesrepublik hatten 1950 nur 6,2 Prozent der Arbeiter- und 7,1 Prozent der Angestelltenhaushalte Wohnungseigentum.35 Dabei gab es große Unterschiede, insbesondere zwischen Stadt und Land. In den großen Städten waren wenige Arbeiter Hauseigentümer, auf dem Lande hingegen oft erstaunlich viele.36 Die politischen Parteien trugen der Hochkonjunktur des Eigenheimgedankens Rechnung.37 In den Jahren 1924 bis 1930 und von 1936 bis 1940 hatte noch außer Frage gestanden, dass der Staat ausschließlich Mietwohnungen förderte: den Reformwohnungsbau in der Hauszinssteuerära der Weimarer Republik und den »Volkswohnungsbau« des Nationalsozialismus.38 Diese einseitige Fest­ legung endete nach dem Krieg. Schon 1945 formulierte die CDU in den »Kölner Leitsätzen«: »Das Eigenheim wird gefördert«.39 1946 forderte der »Hamburger Entwurf« eines Wohnungsprogramms der SPD: »An Stelle des Miet- und Mehrfamilienhauses ist in den Bauprogrammen das Ein- und Wenigfamilienhaus künftig zu bevorzugen. Hierbei verdienen das Eigenheim und das Stockwerks-

31 Vgl. Schulz, Eigenheimpolitik, S. 410 ff. 32 Schulz, Wohnungspolitik und soziale Sicherung, S. 486. Vgl. auch Glatzer, S. 158; Schwender, S. 499 ff. 33 Dies galt im Übrigen nicht nur für das durch den Krieg zerstörte Westdeutschland. Auch in Frankreich besaß das »maison individuelle« in der Nachkriegszeit schichtübergreifend eine große Anziehungskraft. Vgl. Durif u. Berniard, S. 15. 34 Vgl. Schulz, Wohnungspolitik und soziale Sicherung, S. 487. 35 Vgl. Osterland u. a., S. 170. Vgl. auch Mooser, Arbeiterleben, S. 83. 36 Schulz, Wohnungspolitik und soziale Sicherung, S.  87. Vgl. auch Schwender, S. 494 f. 37 Vgl. auch zum Folgenden Schulz, Eigenheimpolitik, S. 412. 38 Vgl. dazu Ruck, Öffentliche Wohnungsbaufinanzierung; ders., Wohnungsbau; Harlander, Heimstätte; ders. u. Fehl, Hitlers sozialer Wohnungsbau. Eine Ausnahme bildete schon im Kaiserreich die Stadt Ulm, Hier wurde statt des Mietshauses der Bau von Arbeitereigenheimen gefördert. Vgl. dazu Rueß. 39 Entwurf v. Juni 1945 sowie 2. Fassung v. Sept. 1945 (Flechtheim, Bd. 2, Dok. 95, S. 30–36, hier: S. 33, 36).

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eigentum besondere Förderung«.40 Alle Parteien nutzten in ihren frühen Wahlkämpfen somit die Anziehungskraft des Eigenheims. Als die Bautätigkeit nach der Konsolidierung der Währung jedoch Ende der vierziger Jahre wieder einsetzte, konnte angesichts des bestehenden Wohnungsdefizits von rund 5,9 Millionen Wohnungen auf Maßnahmen des Massenmietwohnungsbaus nicht verzichtet werden.

2. Die Wohnungsbaugesetzgebung der fünfziger Jahre In den fünfziger Jahren erließ die CDU-geführte Bundesregierung zwei Wohnungsbaugesetze, die jeweils unterschiedliche Zielrichtungen hatten. Während das Erste Wohnungsbaugesetz vom April 1950 darauf abzielte, möglichst viele Wohnungen in möglichst kurzer Zeit zu errichten, wurde im Zweiten Wohnungsbaugesetz vom Juni 1956 unter anderem festgelegt, in »ausreichendem Maße« Wohnungen zu fördern, »die die Entfaltung eines gesunden Fami­ lienlebens, namentlich für kinderreiche Familien«, gewährleisteten.41 Zugleich wurde mit dem Zweiten Wohnungsbaugesetz dem Gedanken der Eigentums­ bildung der Familie Rechnung getragen. 2.1. Sozialer Wohnungsbau schichtübergreifend: Das Erste Wohnungsbaugesetz 1950 Die Beratungen zum Ersten Wohnungsbaugesetz schritten in der ersten Legislaturperiode des Bundestages vergleichsweise zügig voran. Angesichts der Dimension der Wohnungsnot waren sich alle Parteien einig, dass möglichst schnell ein Rahmengesetz für ein umfassendes, sozialpolitisch akzentuiertes Wohnungsbauförderungsprogramm beschlossen werden musste.42 Allerdings vertraten SPD und CDU/CSU hinsichtlich der Schwerpunktsetzung unterschiedliche Positionen. So wollte die Union Sozialwohnungen auch als freistehende Einfamilienhäuser oder als Reihenhäuser bauen.43 Die Sozialdemo-

40 SPD, Wohnungsprogramm (Hamburger Entwurf) (AdSD, Bestand Schumacher, J 76 = Geschichte der Sozialpolitik, Dok. 2/42).  – Zu den wohnungspolitischen Programmen und dem Beginn der wohnungspolitischen Diskussion in den Parteien vgl. ausführlich Schulz, Wiederaufbau, S. 69 ff. 41 § 1 Abs. 2 II WoBauG (BGBl. I, S. 525). 42 In seiner ersten Regierungserklärung hatte Adenauer den Wohnungsbau als eine der dringlichsten und größten Aufgaben herausgestellt (Sten. Ber., Bd. 1, S. 23). 43 In den Düsseldorfer Leitsätzen der CDU v. 15.7.1949 hieß es, der wirtschaftlichen Form des Kleinhauses – Einfamilienhaus und Kleinsiedlung – sei überall dort der Vorzug zu geben, wo nicht aus städtebaulichen Gründen mehrgeschossige Mietwohnungen gefördert werden

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kraten lehnten demgegenüber den Eigenheimbau zwar nicht grundsätzlich ab. Sie wollten die öffentlichen Mittel aber dennoch vorrangig dem Mietwohnungsbau mit Hilfe der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft zukommen lassen.44 Die politischen Auseinandersetzungen wurden von einer kontroversen Verbändepolitik begleitet. Erwartungsgemäß arbeitete die SPD besonders eng mit den Gemeinnützigen zusammen und fand darüber hinaus Unterstützung beim Deutschen Gewerkschaftsbund und beim Mieterbund.45 Die Unionsparteien pflegten dagegen besonderen Kontakt zu den wichtigsten Wirtschaftsverbänden, zum Deutschen Siedlerbund sowie zum einflussreichen katholischen Siedlerverband.46 Das Erste Wohnungsbaugesetz von 1950 erklärte schließlich weder den Eigenheimbau noch den gemeinnützigen Mietwohnungsbau zum verbindlichen Modell. Stattdessen wurden beide Optionen gleichwertig berücksichtigt und strittige Punkte ausgeklammert.47 Das neue Wohnungsbaugesetz sollte das Wohnungsangebot möglichst rasch erhöhen. Innerhalb von sechs Jahren sollten für die »breiten Schichten des Volkes« 1,8 Millionen Sozialwohnungen geschaffen werden.48 Die öffentlichen Subventionen orientierten sich dabei fast ausschließlich an Kriterien, denen das Bauobjekt genügen musste (sog. »Objektförderung«). Der Bau einer Wohnung wurde gefördert, wenn die Wohnfläche bestimmte Grenzen und der Mietpreis die »Richtsatzmiete« von höchstens 1,10 DM pro Quadratmeter im Monat nicht überschritt.49 Anforderungen an die Empfänger öffentlicher Mittel stellte das Gesetz dagegen nicht. Die im Ersten Wohnungsbaugesetz entwickelten Richtlinien des öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbaus waren die Antwort darauf, dass das Problem der Wohnungsnot nach dem Krieg nicht als schichtspezifisch, sondern als schichtübergreifend definiert wurde. Die Neubauwohnungen im sozialen Wohnungsbau waren daher nicht vorrangig für Einkommensschwache, sondern für Wohnungssuchende aller Schichten bestimmt. Zum Kreis der berechtigten Mieter zählten daher auch Haushalte von Facharbeitern, Angestellten und Beamten. Ausgeschlossen waren lediglich diejenigen, deren Einkommen die müssten (Flechtheim, Bd. 2, Dok. 101, S. 58–76, hier: S. 75). Vgl. auch § 12 des Regierungs­ entwurfs zum Ersten Wohnungsbaugesetz v. 22.2.1950 (BT-Drs. I/567). – Zur Entstehung des Regierungsentwurfs ausführlich Schulz, Wiederaufbau, S. 217 ff. 44 Vgl. den Gesetzentwurf der SPD-Fraktion v. 20.12.1949 (BT-Drs. I/352). Vgl. auch Schulz, Wiederaufbau, S. 212 ff. 45 Umfassend dokumentiert ist die Lobbyarbeit des Gesamtverbandes Gemeinnütziger Wohnungsunternehmen in den frühen fünfziger Jahren in: BA, B 134/3690. 46 Zum Einfluss der Interessenverbände vgl. insb. Schulz, Wiederaufbau, S. 206 ff.; WagnerKyora, Wohnungspolitik, Bd. 3, S. 843 f. 47 Erstes Wohnungsbaugesetz v. 24.4.1950 (BGBl. I, S. 83). Für eine ausführliche Darstellung der politischen Auseinandersetzung vgl. Schulz, Wiederaufbau, S. 211 ff. 48 § 1 Abs. 1 I. WoBauG (BGBl. I, S. 83). 49 Die Wohnfläche der öffentlich geförderten Wohnungen sollte mindestens 32 qm und höchsten 65 qm betragen (§ 17 Abs. 1 I. WoBauG). Zu den Zweckbindungen des sozialen Wohnungsbaus vgl. insb. Krummacher, S. 445 ff.

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Jahresarbeitsverdienstgrenze der Angestelltenversicherung überstieg.50 Untersuchungen zur Sozialstruktur der Mieterschaft ergaben Mitte der fünfziger Jahre, dass diese – ähnlich wie in den neuen Siedlungen der zwanziger Jahre51 – etwas oberhalb des Bevölkerungsdurchschnitts lag. Da zudem nur beim Einzug die Berechtigung zum Wohnen in der Sozialwohnung geprüft wurde, ergab sich im Verlauf der Jahre und mit dem allgemeinen Anstieg der Einkommen eine immer höhere »Fehlbelegungsquote«. Seit Anfang der sechziger Jahre waren etwa 25 bis 30 Prozent aller Sozialwohnungen mit Mietern belegt, deren Einkommen die zulässige Grenze überschritt.52 Eine weitere Begünstigung des wohlhabenderen Teils der Bevölkerung ergab sich aus der Organisation der Bauherrschaft, der Form der Finanzierung sowie durch die Belegungsrichtlinien.53 Bund, Länder und Gemeinden bauten in der Regel nicht in eigener Regie, sondern bedienten sich privater oder gemeinnütziger Unternehmer. Diesen stand bei der Vergabe der Sozialwohnungen das Recht zu, aus einer Vorschlagsliste der Wohnungsbehörde einen Bewerber auszuwählen. Dabei spielte die Solvenz des künftigen Mieters naturgemäß eine entscheidende Rolle. Daneben konnten die Wohnungsunternehmen – je nach eigenem Kapitaleinsatz – einen Teil der Sozialwohnungen aber auch selbst ver­geben. In diesem Fall war es ihnen erlaubt, Personen auszuwählen, die bereit und in der Lage waren, einen »Baukostenzuschuss« in bestimmter Höhe einzubringen. Etwa ein Fünftel aller und ein Drittel der städtischen Wohnungen wurden durch solche Baukostenzuschüsse mitsubventioniert. Diese Einbeziehung privater Spareinlagen in die öffentliche Förderung trug zwar zur Dynamik des sozialen Wohnungsbaus bei; sie schränkte aber zugleich den bezugsberechtigten Personenkreis erheblich zuungunsten einkommensschwacher Schichten ein.54 In Frankreich, das selbst auf eine lange Tradition des Sozialen Wohnungsbaus zurückblicken konnte – das erste Gesetz, das Bauherren Steuervergünstigungen gewährte, ging auf das Jahr 1894 zurück55 –, war der Bau von Sozial­wohnungen (HLM: »habitation à loyer modéré«) nach dem Krieg ähnlich organisiert wie in der Bundesrepublik. Er wurde staatlich subventioniert und unterlag im Gegenzug Reglementierungen hinsichtlich Größe, Ausstattung und Mietpreis. Erst 1954 wurden für den Bezug der Sozialwohnungen Einkommenshöchst­ grenzen – angepasst an die Größe der Familie – festgelegt.56 50 Die Festsetzung dieser im Verhältnis großzügigen Grenze ging auf den Vorschlag der SPD zurück. Vgl. § 11 des SPD-Gesetzentwurfs v. 20.12.1949 (BT-Drs. I/352). Vgl. Schulz, Wiederaufbau, S. 214. 51 Auch der Bauboom der 1920er Jahre hatte zuerst eher mittelständische und besser verdienende Schichten von Facharbeiterhaushalten begünstigt, welche die relativ hohen Mieten in den neuen Siedlungen aufbringen konnten. Vgl. Schildt, Wohnungspolitik, S. 157. 52 Vgl. Schildt, Wohnungspolitik, S. 172 f.; Alber, Sozialstaat, S. 214 f.; Krummacher, S. 449 ff. 53 Vgl. Schildt, Wohnungspolitik, S. 173. Dort auch zum Folgenden. 54 Vgl. dazu auch Brecht, S. 509ff; Wagner-Kyora, Wohnungspolitik, Bd. 3, S. 852, 861 f. 55 Vgl. Mengin, S. 344. 56 Vgl. Heugas-Darraspen, S. 8.

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Obwohl das Hauptziel des Ersten Wohnungsbaugesetzes in der Bundes­ republik der öffentlich geförderte soziale Wohnungsbau war, schloss das Gesetz andere Finanzierungsformen nicht aus. Wie Bundeskanzler Adenauer schon in seiner ersten Regierungserklärung betont hatte, wollte der Staat zwar den Wohnungsbau »energisch fördern«. Zugleich sollten aber auch geeignete Maßnahmen getroffen werden, um »das Privatkapital für den Bau von Wohnungen wieder zu interessieren«, da ansonsten »eine Lösung des Wohnungsproblems unmöglich« sei.57 Der Wohnungsmarkt wurde daher in drei Segmente aufgeteilt: in den öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbau, den steuerbegünstigten und den freifinanzierten Wohnungsbau.58 Nur das erste Segment genoss die Subventionierung über öffentliche zinslose und zinsverbilligte langfristige Darlehen. In den beiden anderen Kategorien konnte der Bauherr lediglich Steuer­ vergünstigungen (Grundsteuer- und Grunderwerbsteuervergünstigungen sowie Gebührenbefreiungen) bzw. allgemeine Steuervorteile (Bausparförderung, degressive Gebäudeabschreibung) in Anspruch nehmen. Dafür unterlagen diese Segmente des Wohnungsmarktes aber nicht der Wohnraumbewirtschaftung, so dass der Bauherr über die Mieter und im freifinanzierten Wohnungsbau auch über die Miethöhe frei entscheiden konnte.59 Der Wohnungsbau, der 1949 nur zögernd angelaufen war, machte dank des Wohnungsbaugesetzes ab 1950 kräftige Fortschritte. Insgesamt wurden 1950 255.000 Sozialwohnungen fertig gestellt, 1951 waren es 295.500 und 1952 317.000. Damit erreichte der soziale Wohnungsbau 1952 eine Quote von mehr als zwei Dritteln aller Neubauwohnungen in der Bundesrepublik und entlastete spürbar den Wohnungsmarkt.60 Auch wenn das Gesetz hinsichtlich der Eigentumsform neutral war, gab es angesichts der knappen Finanzmittel zunächst ein klares Übergewicht der Mietwohnung im Geschossbau.61 Im Dezember 1950 57 Sten. Ber., Bd. 1, S. 23. Diese Forderung trug Adenauer in seiner zweiten Regierungserklärung erneut vor, vgl. Sten. Ber., Bd. 18, S. 14. 58 Eine ähnliche Aufteilung ergab sich in der DDR, wo zwischen »volkseigenem«, genossenschaftlichem und privatem Wohnungsbau unterschieden wurde. Der »volkeigene« Wohnungsbau in der DDR wurde dabei vollständig aus der Staatskasse finanziert. Vgl. Schildt, Wohnungspolitik, S. 181 f. 59 Beim steuerbegünstigten Wohnungsbau konnte der Bauherr statt der Richtsatz- die Kostenmiete erheben. Vgl. Schulz, Wiederaufbau, S. 239 f.; Münch, Familienpolitik BRD, S. 106 f.; Schildt, Wohnungspolitik, S. 170. 60 Vgl. Schulz, Wiederaufbau, S. 351 (Tab. 4). Insgesamt wurden auf der Grundlage des I. WoBauG 1950 360.000 Wohnungen, 1951 430.000 und 1952 440.000 Wohnungen gebaut. Das Programmziel des I. WoBauG – 300.000 Wohnungen pro Jahr – wurde damit erfüllt. Vgl. Vier Jahre Arbeit für den Wohnungsbau, in: Bulletin Nr.  179, 19.9.1953, S.  1493. Im Gegensatz dazu betrug der Wohnungszugang in der DDR von 1951 bis 1955 lediglich etwa 209.000 Wohnungen; ein Drittel davon waren Um- oder Ausbaumaßnahmen. Vgl. Schildt, Wohnungspolitik, S. 181. 61 Gerade in sozialdemokratisch regierten Bundesländern, wie z. B. Hessen, war eine andere Verwendung der staatlichen Gelder nach den geltenden Förderrichtlinien kaum möglich, aber auch das von der CDU geführte Nordrhein-Westfalen förderte in erster Linie den Mietwohnungsbau. Vgl. Schildt, Wohnungspolitik, S. 171. Vgl. dazu auch Lücke, Gesetz, S. 7.

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führte die CDU/CSU-Fraktion daher einen Beschluss des Bundestages herbei, nach dem die Bundesregierung bei der Verteilung der Fördermittel sicherstellen sollte, dass die Länder den Bau von Eigenheimen, Kleinsiedlungen und von Wohnungen für kinderreiche Familien angemessen berücksichtigten.62 Trotz der Widerstände der SPD und des unter der Führung der FDP stehenden Wohnungsbauministeriums gelang es den Unionsparteien in den folgenden Monaten, dem Eigenheimbau Schritt für Schritt einen Vorrang vor der allgemeinen Wohnungsbauförderung zu verschaffen. Bereits das Bergarbeiterwohnungsbaugesetz vom Oktober 1951 gab der Förderung des Baus von Eigenheimen den Vorzug vor der Förderung der Bautätigkeit von Wohnungsunternehmen.63 1952 wurde mit dem Wohnungsbauprämiengesetz ein Instrument eingeführt, dass die Bildung von privatem Bausparkapital fördern sollte.64 Das Gesetz gewährte jedem, der in einer bestimmten Form für den Wohnungsbau sparte, eine staatliche Prämie. Diese war nach Kinderzahl gestaffelt und konnte bis zu 400 DM im Jahr betragen. Sie begünstigte alle Bausparer unabhängig von Einkommen und Vermögen. Ziel des Wohnungsbauprämiengesetzes wie auch des 1959 folgenden Sparprämiengesetzes65 war es, die Spartätigkeit in der Bevölkerung und insbesondere bei den Beziehern kleinerer und mittlerer Einkommen anzuregen, um diesen so den Erwerb von Wohnungseigentum, im Idealfall eines Familienheims, zu erleichtern. Nach einer Erhebung aus dem Jahre 1964 hatten 56 Prozent der beschäftigten Arbeitnehmer eine oder mehrere der geltenden Sparförderungsbestimmungen genutzt. Weitere 14 Prozent hatten von dieser Möglichkeit zwar bisher noch keinen Gebrauch gemacht, bekundeten aber ernsthaftes Interesse, in den nächsten Jahren einen Prämienvertrag abzuschließen oder etwas Ähnliches zu unternehmen.66 Das Prämiensparen galt als Form der Selbsthilfe und war daher in den Augen der Regierungskoalition ein besonders wertvolles Steuerungsinstrument.67 Wie Günther Schulz hervorhebt, lagen der Eigenheimpolitik der CDU/CSU insgesamt deutliche »Verbürgerlichungsbestrebungen« zugrunde.68 Durch geeignete gesetzliche Maßnahmen 62 Vgl. Bundestagsdebatte v. 15.12.1950 (Sten. Ber., Bd. 5, S. 4072 ff.) anlässlich der Großen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion v. 13.12.1950 (BT-Drs. I/1705). Eine dem Beschluss des Bundestages entsprechende Auflage erteilte der Wohnungsbauminister den Ländern in den Richtlinien für den Einsatz der Bundesmittel für den Sozialen Wohnungsbau v. 20.2.1951. 63 Bergarbeiterwohnungsbaugesetz v. 23.10.1951 (BGBl. I, S. 865). 64 Gesetz über die Gewährung von Prämien für Wohnbausparer (Wohnungsbau-Prämiengesetz) v. 17.3.1952 (BGBl. I, S. 139). 65 Gesetz über die Gewährung von Prämien für Sparleistungen (Spar-Prämiengesetz) v. 5.5.1959 (BGBl. I, S. 241). Das Gesetz sah die Gewährung einer 20-prozentigen Prämie für Sparleistungen vor, die für fünf Jahre festgelegt wurden und nicht bereits nach dem Wohnungsbauprämiengesetz begünstigt wurden. Die Prämie war auch hier nach Familienstand und Kinderzahl gestaffelt. 66 Vgl. Noelle-Neumann u. Schmidtchen, Eigentumsbildung. 67 Vgl. Preusker. Preusker war von 1953 bis 1957 Bundesminister für Wohnungsbau. 68 Schulz, Wohnungspolitik und soziale Sicherung, S. 490.

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sollte bei den nicht-bürgerlichen Schichten der Eigentumswille geweckt und deren wirtschaftliche Eigenständigkeit gefördert werden.69 Die Novelle des Ersten Wohnungsbaugesetzes vom August 1953 räumte schließlich dem Eigenheimbau bei der öffentlichen Subventionierung von Sozialwohnungen Vorrang ein.70 Weiter gelang es der Union, den sog. »gehobenen sozialen Wohnungsbau« neu in das Gesetz einzuführen. Der »gehobene soziale Wohnungsbau« war für diejenigen Mieter bestimmt, deren Einkommen über der Angestelltenversicherungsgrenze lag und die in der Lage waren, eine höhere Mietbelastung, die sog. Kostenmiete, zu tragen.71 Neu war auch die Anrechnung eines Zusatzbetrages für jedes zum Haushalt zählende Familienmitglied in Höhe von 840  DM bei der Berechnung der Einkommensgrenzen. Damit lagen nun die Obergrenzen für das Haushalts­einkommen eines Vierpersonenhaushaltes im »normalen« sozialen Wohnungsbau bei 611  DM, im »gehobenen« sozialen Wohnungsbau bei 960 DM im Monat. Für die zweite Kategorie kamen mithin Einkommensgruppen in Frage, die etwa das Doppelte des durchschnittlichen Brutto-Monatseinkommens verdienten.72 Beide Maßnahmen, die Ausdifferenzierung der Wohnungsbauförderung nach Wohnform und nach Einkommenshöhe der Mieter, waren dazu angetan, die Vorteile der mittleren gegenüber den unteren Einkommensgruppen auf dem Wohnungsmarkt weiter zu vergrößern. Der große Durchbruch bei der Durchsetzung der besonderen Eigenheim­ förderung gelang der Union schließlich mit dem Zweiten Wohnungsbau­gesetz von 1956, das auch den programmatischen Untertitel »Wohnungsbau- und Familien­heimgesetz« trug.

69 In Frankreich wurde seit 1952 ebenfalls ein Bausparmodell nach bundesrepublikanischem Vorbild entworfen. Erst nachdem jedoch auch hier Mitte der sechziger Jahre zusätzlich eine Sparprämie eingeführt wurde, traf es auf eine nennenswerte Nachfrage. Vgl. Heugas-­ Darraspen, S. 47. 70 Erstes Wohnungsbaugesetz in der Fassung v. 25.8.1953 (BGBl. I, S. 1047), hier: § 19 Abs. 2. Der Versuch der Bundesregierung, diesen Vorrang quotal (»mindestens zur Hälfte«) festzulegen, scheiterte an föderalistischen Vorbehalten der Länder sowie an der Ablehnung der SPD. Vgl. dazu Schulz, Wiederaufbau, S. 281 ff.; Wagner-Kyora, Wohnungsbaupolitik, Bd. 3, S. 854 ff. 71 Damit trat neben den herkömmlichen Wohnungsbau A für Haushalte bis zu 6.000 DM Jahreseinkommen (= Versicherungspflichtgrenze) unter Geltung der Richtsatzmiete ein Wohnungsbau B für Haushalte mit bis zu 9.000 DM Jahreseinkommen unter Geltung der Kostenmiete (§ 38 Abs. 1 I. WoBauG n. F.). 72 Vgl. Wagner-Kyora, Wohnungspolitik, Bd. 3, S. 855.

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2.2 Primat des Eigenheims: Das Wohnungsbau- und Familienheimgesetz 1956 Schon im November 1952 hatte die CDU/CSU-Fraktion erstmals einen Entwurf für ein »Gesetz zur Schaffung von Familienheimen« vorgelegt.73 Da der Gesetzentwurf in der ersten Legislaturperiode nicht abschließend beraten werden konnte, wurde er kurzerhand im Zweiten Bundestag wieder eingebracht.74 Kernpunkt des Vorschlages war eine verbindliche Eigenheimquote, welche die Länder zu vorab festgelegten Bauleistungen verpflichten sollte. Die öffentlichen Darlehen für den Familienheimbau sollten nach Wohnfläche und Familiengröße gestaffelt, eigene Arbeits- und Sachleistungen auf die erforderliche Eigenleistung angerechnet werden. Die SPD lehnte diesen Vorschlag ab und formulierte einen Gegenentwurf.75 Dieser räumte dem Wohnungsbau für die Bevölkerungskreise mit niedrigem Einkommen Priorität ein, in der Praxis also dem Mietwohnungsbau. Jährlich sollte die Errichtung von 300.000 Wohnungen für Bezieher von Einkommen bis zu 4.800 DM im Jahr öffentlich gefördert werden; ferner sollten 100.000 Wohnungen für mittlere Einkommensbezieher (4.800 bis 9.000  DM Jahreseinkommen) teilgefördert werden. Nach monatelangen heftigen Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition, aber auch zwischen Unionsfraktion und Wohnungsbauministerium,76 wurde das Zweite Wohnungsbaugesetz schließlich im Juni 1956 verabschiedet.77 Die CDU setzte die Eigenheimpriorität durch, die SPD dagegen Vorränge für Einkommensschwächere. Der FDP gelang es außerdem, die Degression der Haushaltsmittel auf 210 Millionen bis 1963 sowie die Kostenmiete unterzubringen.78 Das Zweite Wohnungsbaugesetz räumte der öffentlichen Förderung des Familienheimbaus nun endgültig Vorrang vor jeder anderen Wohnungsförderung ein, wobei auf die Einführung einer festen Eigenheimquote wegen des

73 BT-Drs. I/3869 v. 20.11.1952. Vgl. dazu auch Lücke, Gesetz. 74 BT-Drs. II/5 v. 5.10.1953. 75 BT-Drs. II/722 v. 13.7.1954. Vgl. Schulz, Wiederaufbau, S. 294 ff. 76 Der sog. »Preusker-Entwurf« des Wohnungsbauministeriums wollte Familienheimbewerbern, die eine Eigenleistung von mindestens 30  Prozent der Gesamtherstellungskosten nachwiesen, generell einen Rechtsanspruch auf ein öffentliches Darlehen geben. Er zielte darauf, privates Kapital für den Wohnungsbau zu mobilisieren, was zu einem Privileg der einkommensstarken Bevölkerungsschichten geführt hätte. Er konnte sich nicht durchsetzen. Vgl. dazu ausführlich Schulz, Wiederaufbau, S. 291 ff. 77 Zweites Wohnungsbaugesetz (Wohnungsbau- und Familienheimgesetz) v. 27.6.1956 (BGBl. I, S. 523). Das II. WoBauG hob das I. WoBauG nicht auf; dieses galt für diejenigen Wohnungen weiter, die unter seiner Wirkung entstanden waren. 78 Dennoch lehnte die SPD den Gesetzentwurf bei der abschließenden 3.  Beratung am 4.5.1956 im BT ab. Der wohnungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Jacobi, begründete das damit, dass der Entwurf im Wesentlichen die gehobenen Einkommensschichten »zum Nachteil des dringlichsten sozialen Wohnungsbaus« begünstige (Sten. Ber., Bd.  29, S. 7579 f.).

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Wider­standes der Länder verzichtet werden musste.79 Ferner erhielt der Bau von Eigentumswohnungen Vorrang vor dem Mietwohnungsbau. Die öffentlichen Mittel sollten künftig nach einer Prioritätenskala vergeben werden. An ihrer Spitze stand die Errichtung von Familienheimen für die unteren Einkommensschichten. Erst wenn diesen Anträgen entsprochen worden war, sollten weitere Mittel freigegeben werden für den Bau von Familienheimen solcher Bauherren, die eine Eigenleistung zwischen 10 und 30 Prozent einbrachten. Der zweiten Kategorie gleichgestellt war der Bau von Wohnungen für Einkommensschwache, die bisher noch nicht ausreichend mit Wohnraum versorgt waren. Die Anforderungen an die Eigenleistung verringerten sich insgesamt, je niedriger die »Kopfquote« war.80 Bei einer Kopfquote von 1.500 DM benötigte eine Familie lediglich 10 Prozent der Bausumme an Eigenkapital, bei 1.800 DM dagegen bereits 15 Prozent und bei mehr als 2.500 DM 30 Prozent. Die Berücksichtigung der Familiengröße galt ausdrücklich als Maßnahme der Familienförderung.81 Noch eine Reihe weiterer Einzelbestimmungen begünstigten den Bau von Eigen- bzw. Familienheimen. So waren erstens die Durchschnittssätze für öffentliche Baudarlehen um mindestens 10 Prozent höher als beim Bau vergleichbarer Mietwohnungen. Zweitens erhielten Bauherren von öffentlich geförderten Familienheimen, die mehr als zwei Kinder hatten, ein zinsloses öffentliches Familienzusatzdarlehen, das als Eigenkapital galt.82 Drittens wurden Eigentümer von Familienheimen auch bei der Zinspolitik und im Falle vorzeitiger Rückzahlung öffentlicher Mittel begünstigt.83 Für Familienheime waren schließlich, viertens, größere Wohnflächen vorgesehen als für andere Wohnungen. Einer weiteren Vorschrift zufolge sollten Mietwohnungen »nach Möglichkeit in Einoder Zweifamilienhäusern geschaffen und so gebaut werden, dass eine spätere Überlassung als Eigenheim möglich ist«.84 Das Gesetz stellte damit einen Höhepunkt der Bemühungen dar, Eigenheim-, Eigentums- und Familienförderung zu verbinden.85 Neben der Förderung des Familienheims bildete die Wohnungsversorgung der unteren Einkommensschichten den zweiten Schwerpunkt des Gesetzes. 79 Die Länder unterlagen stattdessen künftig einer Berichterstattungspflicht, wonach die Länder ihre Förderergebnisse dem Bundeswohnungsbauminister zu melden hatten. Zum Konflikt mit den Länderregierungen vgl. Wagner-Kyora, Wohnungspolitik, Bd. 3, S. 859 f. 80 Die Kopfquote wurde errechnet, indem das Jahreseinkommen des Bauherrn und der zur Familie rechnenden Angehörigen durch die Zahl der Familienmitglieder geteilt wurde (§ 35 Abs. 2 II. WoBauG). 81 Vgl. Wohnungsbau unter dem Gesichtspunkt der Familienförderung, in: Bulletin Nr. 238, 18.12.1954, S. 2208. 82 Das Familienzusatzdarlehen betrug für das dritte und jedes weitere Kind 1.500 DM, die Tilgung durfte höchstens 2 Prozent betragen (§ 45 II WoBauG). 83 Die SPD versuchte vergeblich, diese Vergünstigungen auch auf den Mietwohnungsbau auszudehnen. Vgl. Ausschussbericht (zu BT-Drs. II/722), S. 11. 84 § 63 II. WoBauG. 85 Zu den Förderungsvorrängen für das Familienheim vgl. insgesamt auch Schulz, Eigenheimpolitik, S. 424 f.; ders., Wiederaufbau, S. 301 ff.

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Diese Priorität wurde vor allem von der SPD durchgesetzt.86 Zwar galt für Wohnungssuchende im Sozialen Wohnungsbau weiterhin die Angestelltenversicherungsgrenze, zuzüglich Familien- und anderer Zuschläge.87 Bevölkerungsgruppen mit besonders geringem Einkommen erhielten jedoch nun Vorrang bei der Wohnungsversorgung. Dazu zählten Alleinstehende mit einem Einkommen von bis zu 200  DM monatlich; zweiköpfige Familien mit einem Einkommen von bis zu 300 DM monatlich, zuzüglich 100 DM für jeden weiteren zur Familie zählenden Angehörigen. Kinderreiche Familien waren grundsätzlich den Wohnungssuchenden mit geringem Einkommen gleichgestellt, somit auch dann, wenn ihr Einkommen die genannten Grenzen überstieg.88 Der Vorrang der Wohnungssuchenden mit geringem Einkommen galt auch, wie oben beschrieben, für die Bewilligung öffentlicher Mittel zum Bau von Familienheimen. Darüber hinaus kamen den Einkommensschwachen auch die Vorschriften über die Eigenleistung (»Kopfquote«) für den Bau von Familienheimen zugute. Ein dritter Komplex des Gesetzes betraf die Mieten und Belastungen für öffentlich geförderte Wohnungen. Dabei ergaben sich wesentliche Neuerungen durch die Auflockerung der Mietpreisbindung. So wurde festgelegt, dass für öffentlich geförderte Neubauten, die ab 1957 genehmigt wurden, künftig statt der »Richtsatzmiete« die sog. »Kostenmiete« gelten sollte.89 Eine Familie mit niedrigem Einkommen, die eine öffentlich geförderte Neubauwohnung bezog und deren Mietbelastung über einem bestimmten Prozentsatz lag, sollte künftig Mietbeihilfen erhalten.90 Parallel dazu waren Lastenbeihilfen für einkommensschwächere Besitzer von öffentlich geförderten Eigenheimbauten vorgesehen. Insgesamt blieb die Wirkung der Mietbeihilfen gering. Das resultierte  – neben der nicht bedürfnisgerechten Ausgestaltung des Beihilfenrechts  – unter anderem auch daraus, dass die potentiell Beihilfeberechtigten davor zurückschreckten, finanzielle Hilfen zu beantragen, da diese als Fürsorgemaßnahmen diskreditiert waren. Viele Familien vermieden es daher von vornherein, die vergleichsweise hohen Sozialmieten auf sich zu nehmen.91 Dank der gesonderten Förderung konnten in den ersten beiden Jahren nach Inkrafttreten des Zweiten Wohnungsbaugesetzes einige Erfolge beim Familien­ 86 Vgl. Ausschussbericht (zu BT-Drs. II/2270); Schulz, Wiederaufbau, S. 310. 87 Die Zuschläge betrugen 840 DM für jedes Familienmitglied, das der Wohnungssuchende unterhielt, ferner weitere 360 DM ab dem dritten Kind (§ 25 II. WoBauG). 88 Vgl. § 27 II. WoBauG. 89 Unter der Kosten- oder auch Durchschnittsmiete wurde diejenige Miete verstanden, die zur Deckung der laufenden Aufwendungen erforderlich war (§ 72 Abs. 1 II. WoBauG). Die Grundlage für die Berechnung der rechtlich zulässigen Kostenmiete schuf die Zweite Berechnungsverordnung vom 17.10.1957. Ergänzend regelte die Neubaumietenverordnung, die ebenfalls vom 17.10.1957 datiert, die Einzelheiten der Mietpreisbildung (BGBl. I, S. 1719). 90 Als tragbare Belastung galten bei einer Kopfquote bis 600 DM 10 Prozent des Jahreseinkommens, bei einer Kopfquote von 1.200 bis 1.500 DM 18 Prozent des Jahreseinkommens (§ 73 Abs. 2 II. WoBauG). Zu den Auseinandersetzungen um die Auflockerung der Neubaumieten vgl. Schulz, Wiederaufbau, S. 304 ff. 91 Vgl. Wagner-Kyora, Wohnungspolitik, Bd. 4, S. 769 f.; Münch, Familienpolitik BRD, S. 116.

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heimbau für kinderreiche Familien und Familien mit geringem Einkommen verzeichnet werden. So wurden nach Schätzungen des Bundeswohnungsbauministeriums in den Baujahrgängen 1957/58 insgesamt 60.000 Familienheime für Einkommensschwächere und ihnen Gleichgestellte – wozu kinderreiche Familien zählten – gefördert. Daneben wurden über 75 Millionen DM Familienzusatzdarlehen gewährt, mit denen der Bau von schätzungsweise 34.000 Familienheimen für diese Familien unterstützt wurde.92 Im Ganzen war 1957/58 gut die Hälfte der im Bundesgebiet geförderten Familienheime für Leistungsschwache und Gleichgestellte bestimmt.93 Es erscheint widersprüchlich, dass eine Verteilungspolitik zu Gunsten der einkommensschwächeren und kinderreichen Familien aufgrund der ineinander verschachtelten sozial-, eigentums- und familienpolitischen Regelungen gerade im Bereich des Eigenheimbaus durchgesetzt werden konnte, einem Segment, in welchem die Baukosten nicht nur teurer, sondern auch der Eigenkapitalanteil der privaten Bauherren besonders hoch war. Jedoch wurden durch die staatlichen Subventionen die Finanzierungsbeiträge der künftigen Eigentümer je nach Einkommenslage so weit gesenkt, dass sich das Potential der Eigenheim-Bauherren wesentlich vergrößerte. Dennoch ergaben sich für die Familien, die sich finanziell am unteren Rand des Förderprogramms bewegten, für lange Zeit beträchtliche Zins- und Tilgungsforderungen, was dazu führte, dass die meisten Subventionen längerfristig doch auf die Haushalte der mittleren und höheren Einkommensschichten entfielen.94 Insgesamt konnten die im Zweiten Wohnungsbaugesetz verankerten Fördermaßnahmen die wohn­ liche Versorgung der »Leistungsschwachen« und »Kinderreichen« zwar verbessern; gleichwohl blieb für diese Gruppen die Situation auf dem Wohnungsmarkt schwieriger als für alle anderen Bevölkerungskreise.95 Die Wirkung der Eigenheimbauförderung spiegelte sich nicht nur in einer positiven Bilanz für kinderreiche und einkommensschwache Familien wider. Sie zeigte sich auch in den allgemein anwachsenden Eigenheimzahlen und einer steigenden Eigenheim- sowie Eigentümerquote. Hatten 1950 lediglich 24 Prozent der Haushalte ein Eigenheim oder eine Eigentumswohnung, so stieg dieser Anteil 1957 auf 28,8 Prozent an; 1960 waren es schon 32,3 Prozent.96 Der Anteil der neuerrichteten Hauptwohnungen97 in Eigenheimen an allen Wohnungen 92 Zahlen nach Fey, Sozialer Wohnungsbau, S. 615 f. 93 Vgl. Fey, Familienheimbau, S. 473, 476. Dieser Anteil ging in Bayern mit mehr als Dreiviertel und Niedersachsen mit rund Zweidrittel wesentlich über die Quote im Bundesgebiet hinaus. In den beiden Stadtstaaten Hamburg und Bremen spielte der Familienheimbau für Leistungsschwache mit einem Anteil von 5 bis unter 10 Prozent 1957 dagegen nur eine untergeordnete Rolle. Vgl. ebd. 94 Vgl. Niehuss, Strukturgeschichte, S. 143; Schulz, Wohnungspolitik und soziale Sicherung, S. 495. 95 So auch Fey, Sozialer Wohnungsbau, S. 617. 96 Vgl. Glatzer, S. 113 (Tab. 12); Schulz, Wiederaufbau, S. 343. 97 Wohnung des Eigentümers ohne Einliegerwohnungen.

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in Wohngebäuden stieg von etwa 25 Prozent in den Jahren 1952/53 auf knapp 30 Prozent in den Jahren 1956/57 und weiter auf 33,5 Prozent im Jahr 1960.98 Allerdings lag der Anteil der in Eigenheimen neuerrichteten Hauptwohnungen im steuerbegünstigten und freifinanzierten Wohnungsbau stets höher als im öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbau. Die Versorgung »breiter Schichten des Volkes« mit Familienheimen vollzog sich damit zu einem beachtlichen Teil auch außerhalb des Sozialwohnungsbaus.99 Die Zahl der in den unterschiedlichen Segmenten des Wohnungsbaus errichteten Eigenheime unterschied sich von Bundesland zu Bundesland; zusätzlich gab es Unterschiede zwischen der Bautätigkeit in den Landgemeinden und Kleinstädten auf der einen und den Großstädten auf der anderen Seite. Allein aufgrund der räumlichen Beengung konnte der Familienheimbau in Großstädten und industriellen Ballungsgebieten nicht das gleiche Gewicht haben, wie in den ländlichen Gemeinden mit agrarisch geprägter Wirtschaftsstruktur.100 Weiter war der Hausbau gerade für die unteren Einkommensgruppen erheblich leichter in ländlichen Regionen zu realisieren. Dazu trugen neben den niedrigeren Grundstückspreisen und den geringeren Baukosten nicht zuletzt auch die größeren Möglichkeiten der Selbst- und Nachbarschaftshilfe bei. Obwohl im Sozialen Wohnungsbau seit 1957 mehr Eigenheime errichtet wurden als zuvor, gelang es nicht, das Eigenheim zur Norm des Sozialen Wohnungsbaus zu machen, wie es die Unionsparteien mit dem Zweiten Wohnungsbaugesetz angestrebt hatten. An den neu errichteten Sozialwohnungen hatten Wohnungen in Eigenheimen 1954 bis 1956 einen jährlichen Anteil zwischen 34,2 und 34,9 Prozent. 1957 waren es 35,5 Prozent und in den drei nachfolgenden Jahren 37,2, 36,5 und 37,6 Prozent.101 Der Anteil von Sozialwohnungen in Eigenheimen an allen Sozialwohnungen nahm also im Schnitt dieser Jahre nur gering zu, die erhoffte »Eigenheimwelle« blieb aus.102 Trotz oder vielleicht auch gerade wegen des nur mittelmäßigen Erfolgs der fünfziger Jahre blieb die Eigenheimförderung auf der politischen Agenda und fand erneut Eingang in die Novelle des Zweiten Wohnungsbaugesetzes von 1965. Die Gesetzesnovelle war eine Reaktion auf eine Initiative der SPD, die nach mehrjähriger Vorbereitungsphase Ende Januar 1964 einen Entwurf für ein Drittes Wohnungsbaugesetz vorgelegt hatte.103 Darin war vorgesehen, die Wohnungspolitik völlig neu zu ordnen und dem Staat ein erheblich größeres 98 Zahlen nach Fey, Entwicklungstendenzen, S. 55; Schulz, Eigenheimpolitik, S. 426. 99 Vgl. Fey, Entwicklungstendenzen, S.  56 (Übersicht 2); ders., Familienheimbau, S.  478; Schulz, Eigenheimpolitik, S. 426. 100 Vgl. Erster Familienbericht (BT-Drs. V/2532), S.  149. Dazu auch Fey, Familienheimbau, S. 474; Glatzer, S. 132, 250 (Tab. A 24). 101 Zahlen nach Fey, Entwicklungstendenzen, S. 55; Schulz, Wiederaufbau, S. 312. 102 Eine solche »Eigenheimwelle« war von Paul Lücke im ersten Interview nach seiner Ernennung zum Bundesminister für Wohnungsbau vorausgesagt worden, vgl. Der Bürger im eigenen Haus, in: Bulletin Nr. 204, 31.10.1957, S. 1878. 103 Entwurf eines Dritten Wohnungsbaugesetzes v. 21.1.1964 (BT-Drs. IV/1850).

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Gewicht bei der Wohnungsversorgung zukommen zu lassen. Damit liefen die Vorschläge der Opposition den Vorstellungen der Regierungskoalition zuwider, die über kurz oder lang eine Reduzierung der Staatseingriffe im Wohnungsbau anstrebte. Das Ergebnis der politischen Auseinandersetzungen war erneut ein Kompromiss, wenngleich die Endfassung des Wohnungsbauänderungsgesetzes von 1965 deutlich die Handschrift von Bundeswohnungsbauminister Paul L ­ ücke trug.104 Das »Gesetz zur verstärkten Eigentumsbildung im Wohnungsbau und zur Sicherung der Zweckbestimmung von Sozialwohnungen«105 hielt an der vermehrten Eigenheimförderung fest. Es forcierte den Eigentümerwohnungsbau, schränkte dabei aber die besondere Zielgruppenförderung auf kinderreiche Familien ein. Die gesonderte Förderung und Bevorzugung einkommensschwächerer Schichten, die gegen Ende der fünfziger Jahre auch zu einer beträchtlichen Eigenheim-Bautätigkeit dieser Kreise geführt hatte, wurde dagegen abgeschafft. Alles in allem kamen nun die mittleren Einkommensgruppen bei der Eigentumsförderung wieder vermehrt zum Zuge. Das resultierte nicht nur aus dem Wegfall der Sonderförderung, sondern auch aus neuen Vergünstigungen. So wurden Bauherren, deren Einkommen bis zu einem Drittel über den Einkommensgrenzen im sozialen Wohnungsbau lagen, sog. Annuitätszuschüsse106 eingeräumt. Die Beträge für Familienzusatzdarlehen wurden angehoben und künftig bereits ab dem zweiten Kind gewährt, was ebenfalls zur Verbesserung der Ausgangslage von Mittelschichtfamilien beitrug. Die Einkommensgrenzen für Wohnungssuchende im sozialen Wohnungsbau hingegen erhöhten sich, mit Ausnahme des Familienzuschlags, nicht.107 Infolge der fortschreitenden Einkommensentwicklung verkleinerte sich mit der Zeit der Kreis der Anspruchsberechtigten. Das Problem der »Fehlbelegung« der in den fünfziger Jahren unter anderen Einkommensvoraussetzungen vergebenen Sozialwohnungen wurde indessen weiter ignoriert.108 Damit genossen Mieter, die seit langem in ihrer So104 Zum Gesetzgebungsprozess und den Konflikten zwischen Regierung und Opposition vgl. ausführlich Wagner-Kyora, Wohnungspolitik, Bd. 4, S. 772 ff. 105 BGBl. I, S. 945 (= Zweites Wohnungsbaugesetz in der Fassung v. 28.8.1965). 106 Subventionen des Zinsbetrags für Darlehen des Kapitalmarktes. 107 Durch das Gesetz zur Änderung des Ersten und Zweiten Wohnungsbaugesetzes v. 26.9.1957 (BGBl. I, S.  1363) war schon 1957 die Bindung an die Versicherungspflichtgrenze durch feste Einkommensgrenzen ersetzt worden. Die Einkommensgrenze, die seitdem nicht mehr angepasst wurde, betrug monatlich 750 DM. Die Familienzuschläge wurden indessen mehrfach erhöht: 1957 von 70 auf 100 DM, 1961 von 100 auf 150 DM und im Wohnungsbauänderungsgesetz von 1965 schließlich von 150 auf 200 DM im Monat. 108 Das Missverhältnis zwischen den Einkommenssteigerungen und den Mietvergünstigungen war besonders groß bei den Mietern, die zwischen 1950 und 1956 ihre Sozialwohnung bezogen hatten, da diese Baujahrgänge noch den niedrigen Richtsatzmieten unterlagen. Vgl. Wohnungsbauamtsleiter der Stadt Köln Pohl an den Bundesminister für Wohnungsbau am 14.4.1964: Aktenvermerk zur Fehlbelegung von Wohnungen im sozia­len Wohnungsbau (BA, B 134/23534) (= Geschichte der Sozialpolitik, Dok. 4/145). Vgl. auch ­Wagner-Kyora, Wohnungspolitik, Bd. 4, S. 779 f.

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zialwohnungen wohnten, faktisch eine dauerhafte Sicherung ihres sozialen Besitzstandes. Insgesamt verschob sich mit dem Wohnungsbauänderungsgesetz das Gewicht im Miet- und Eigentümerwohnungsbau spürbar in Richtung einer nach Einkommen differenzierten Bauförderung: Während durch den Mietwohnungsbau die unteren Einkommensschichten versorgt wurden, blieb der Eigentümerwohnungsbau mehr und mehr den mittleren und höheren Einkommensgruppen vorbehalten.109 Wenn die Regierung bei der Neufassung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes Mitte der sechziger Jahre davon ausging, dass das Ziel der »Beseitigung der echten Wohnungsnot«, erreicht sei,110 so entsprach dies nur teilweise der Realität. Zwar waren die kriegsfolgebedingten Notzustände bei der Wohnungsversorgung beseitigt, jedoch ergaben sich durch die Veränderung der Haushaltsstrukturen und den Wandel der Wohnbedürfnisse auf der einen, durch Preissteigerungen und den Rückgang kostengünstiger Altbauwohnungen auf der anderen Seite seit Ende der sechziger Jahre neue Verteilungsprobleme und Versorgungsmängel.111 Auf eine staatliche Wohnungsbaupolitik konnte somit auch in den folgenden Jahren nicht verzichtet werden.112 Ein vergleichender Blick auf die Wohnsitutaion in der DDR und in der Bundesrepublik in den Untersuchungsjahrzehnten lässt an der Überlegenheit der bundesrepublikanischen Wohnungs(bau)politik keinen Zweifel. Während sich in der Bundesrepublik bereits Ende der fünziger Jahre die Wohnungsversorgung erheblich verbessert hatte, gelang es der DDR trotz immer neuer Anläufe nicht, ihre sozialpolitischen Versprechen im Bereich der Wohnungspolitik einzulösen. 1974 waren in der DDR lediglich 15 Prozent des Wohnungsbestandes nach 1949 errichtetet worden; in der Bundesrepublik dagegen lag der Anteil der Neubauwohnungen bei etwa 50 Prozent.113 Die Zuteilung von Wohnraum folgte in der DDR zwar offiziell sozialen Kriterien, wie z. B. der Berücksichtigung von kinderreichen Familien. In der Praxis diente die Wohnungsvergabe aber häufig als Mittel zur Belohnung für die Funktionseliten des Regimes.114

109 So auch Wagner-Kyora, Wohnungspolitik, Bd. 4, S. 792; ähnlich auch Schildt, Wohnungspolitik, S. 175; Krummacher, S. 458. 110 Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur verstärkten Eigentumsbildung im Wohnungsbau und zur Sicherung der Zweckbestimmung von Sozialwohnungen (BT-Drs. IV/2891), S. 21. 111 Vgl. Schildt, Wohnungspolitik, S. 177 f.; Alber, Sozialstaat, S. 210, 218. 112 Vgl. dazu insb. Harlander u. Kuhn, Wohnungspolitik, Bd. 5, S. 859–886. 113 Vgl. Schildt, Wohnungspolitik, S. 185. 114 Vgl. ebd., S. 180.

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3. Ein Haus mit Garten: Traum oder Wirklichkeit? Erfolge und Versäumnisse der Wohnungs- und Eigentumsförderung Auch wenn die Wohnungspolitik in der frühen Bundesrepublik der fünfziger bis siebziger Jahre allgemein als »Erfolgsgeschichte« gelten kann,115 muss an dieser Stelle noch einmal genauer nach den sozial- und gesellschaftspolitischen Auswirkungen der Wohnungsbau- und Eigentumsförderung gefragt werden. Es gehört zu den besonderen Verdiensten der Sozialpolitik der Nachkriegszeit, dass die Wohnungsversorgung schon im ersten Nachkriegsjahrzehnt erheblich verbessert werden konnte. Die Zahl der jährlich fertiggestellten Wohnungen stieg seit 1950 rasch an. Von 1954 bis 1964 wurden pro Jahr knapp 600.000 Wohnungen gebaut.116 Die bedeutende Subventionierung durch den Einsatz öffentlicher Mittel war ein wichtiger Motor, um die Bautätigkeit anzukurbeln. In den fünfziger Jahren betrug der Anteil der im sozialen Wohnungsbau errichteten Wohnungen über zwei Drittel. Dieser Anteil ging in den folgenden Jahren Schritt für Schritt zurück und betrug Mitte der sechziger Jahre nur noch etwa ein Drittel, in den siebziger Jahren sodann nur noch etwa ein Viertel bis ein Fünftel der jährlichen Fertigstellungen.117 Auch hinsichtlich der Wohnungsgrößen und des Wohnstandards ver­besserte sich die Situation schrittweise. Die neu errichteten Sozialwohnungen wurden mit der Zeit größer. Die durchschnittliche Quadratmeterzahl stieg von 53,3 Quadratmeter im Jahre 1953 auf 77,0 Quadratmeter im Jahre 1965. Hatten 1955 54 Prozent der fertig gestellten Wohnungen vier und mehr Räume, so waren es 1959 schon 68 Prozent und 1965 75 Prozent. Zunehmend waren die Wohnungen auch mit Zentralheizung sowie Bad oder Dusche ausgestattet.118 Insgesamt war der Wohnstandard in der Bundesrepublik nicht nur im Vergleich zur DDR erheblich höher,119 sondern auch im Vergleich zu anderen westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten wie Großbritannien und Frankreich: Dort waren die Wohnungen im Schnitt erheblich älter und schlechter ausgestattet. 115 Schildt, Wohnungspolitik, S. 188; Alber, Sozialstaat, S. 210. 116 Vgl. Fey, Tendenzen und Merkmale, S. 188. 117 Alber, Sozialstaat, S. 209; Wagner-Kyora, Wohnungspolitik, Bd. 4, S. 787. Vgl. auch: Vier Jahre für den Wohnungsbau, in: Bulletin Nr. 179, 19.9.1953, S. 1493; Die Wohnbauleistung und ihre Finanzierung, in: Bulletin Nr. 71, 16.4.1955, S. 585–588. 118 1965 verfügten nahezu alle Wohnungen über ein Badezimmer, Zentralheizung hatten immerhin gut 54 Prozent. Vgl. Fey, Tendenzen und Merkmale, S. 196; Schulz, Wohnungspolitik und soziale Sicherung, S. 503 f. Zur weiteren Entwicklung in den siebziger Jahren vgl. Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1973 bzw. 1978, in: Wirtschaft u. Statistik 26 (1974), S. 695–699 bzw. Wirtschaft u. Statistik 31 (1979), S. 531–538. – In der DDR verfügten 1971 lediglich 41,8  Prozent der Wohnungen über ein WC, 38,7  Prozent über ein Bad. Vgl. Schildt, Wohnungspolitik, S. 185. 119 In der DDR stieg die Durchschnittsgröße der Wohnungen Mitte der fünfziger Jahre auf ca. 66 Quadratmeter an. Auf Beschluss des Ministerrats wurde sie jedoch 1962 wieder auf auf 50 Quadratmeter reduziert. Vgl. Schildt, Wohnungspolitik, S. 184 f.

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Die allgemeine Wohnungsnot der Nachkriegszeit hatte insgesamt zu einer gewissen Nivellierung der Wohnverhältnisse und des Wohnstils in der Bundesrepublik geführt.120 Auch viele der ehemals Wohlhabenden hatten sich nach dem Krieg ihren Hausstand neu aufbauen müssen, da ihr Hab und Gut vollständig zerstört worden war. Die Segregation der Schichten, d. h. die wohnräum­ liche Trennung in verschiedenen Stadtvierteln oder entlang von Straßenzügen, wie sie vor dem Krieg bestanden hatte, war in vielen Wohngegenden aufgehoben worden. Das Wohnen im Geschossbau des sozialen Wohnungsbaus wurde für alle (städtischen) Schichten zur Normalität. Zugleich machten traditionelle proletarische Wohnmilieus modernen Neubausiedlungen Platz. Trotz dieser Anzeichen für eine Angleichung der Wohnverhältnisse und -bedin­gun­gen, ist die relative, durch den Krieg bedingte Vereinheitlichung nicht zu überschätzen. Schon recht bald machten sich wieder soziale Ungleichheiten bei der Wohnungsversorgung bemerkbar. Die Trennungslinie verlief dabei vor allem zwischen denjenigen, die rasch zu relativem Wohlstand gelangten und denjenigen, denen der Aufstieg nicht oder nicht so schnell gelang und die in den Not- und Elendsquartieren wohnen blieben. Die Maßnahmen der Wohnungspolitik sorgten zwar zusammen mit der allgemeinen Anhebung des Wohlstandsniveaus für fortschreitende Verbesserungen im Wohnungswesen, gleichzeitig generierten sie jedoch auch neue Unterschiede. Wie sich aus Ergebnissen verschiedener Untersuchungen und Erhebungen aus den sechziger Jahren ablesen lässt,121 bestand am Ende des zweiten Nachkriegsjahrzehnts ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Höhe des Haushaltseinkommens und dem Niveau der Wohnungsversorgung bzw. den Wohnverhältnissen. Je höher das Haushaltseinkommen war, desto besser war in der Regel auch die Wohnungsausstattung, desto größer war die Wohnfläche und desto geringer war bei Mietwohnungen die prozentuale Mietbelastung; darüber hinaus war mit steigendem Einkommen auch immer häufiger Wohnungseigentum vorhanden.122 Ähnliche Unterschiede, wenn auch nicht ganz so ausgeprägt, ergaben sich bei der Betrachtung der Wohnbedingungen nach der sozialen Stellung des Haushaltsvorstandes. Arbeiterhaushalte hatten am häufigsten eine unzureichende Wohnfläche; zudem waren ihre Wohnungen schlechter ausgestattet (ohne Bad u. Zentralheizung). Selbständigen-, Beamten- und Angestelltenhaushalte verfügten demgegenüber sowohl über eine größere Wohnfläche als auch über eine bessere Ausstattung. Den höchsten Wohnstandard genossen die Selbständigenhaushalte; diese waren zugleich am häufigsten Eigentümer ihrer Wohnung.123 120 Vgl. Niehuss, Strukturgeschichte, S. 144 f., 162. 121 Z. B. Erster Familienbericht 1968; 1 %-Wohnungserhebung 1960 sowie 1 % Wohnungsstichprobe 1965; Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1969, 1973 sowie 1978. Die folgenden Angaben beziehen sich vor allem auf die Auswertungen und Berechnungen von Glatzer, S. 120 ff. 122 Glatzer, S. 122 f. 123 Vgl. ebd., S. 126 (Tab. 15), S. 250 (Tab A 24).

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Die Eigentümerquote nahm zwischen dem Ende der fünfziger und dem Beginn der siebziger Jahre in allen Berufsgruppen zu. Während die Arbeiterhaushalte 1957 zu 23 Prozent, 1965 zu 27 und 1972 zu 38 Prozent über Wohneigentum verfügten, pendelte der Anteil bei den Selbständigen zwischen 65 und 69 Prozent.124 Die Angestellten und Beamten hatten demgegenüber 1957 nur zu 18, 1965 zu 22 und 1972 zu 29 Prozent Wohnungseigentum.125 Insgesamt wurde der Abstand zwischen den Haushalten unselbständiger und selbständiger Berufstätiger mit der Zeit kleiner: Während 1960 Selbständigenhaushalte 2,6 mal so häufig eine Wohnung besaßen wie Arbeiterhaushalte, waren dies 1972 nur noch 1,8 mal so viele. Dagegen blieb der Abstand zwischen Arbeitern und Angestellten bzw. Beamten gleich; Arbeiter hatten im Schnitt 1,2 mal häufiger Eigentümerwohnungen als Angestellte und Beamte.126 Zurecht hat Wolfgang Glatzer darauf hingewiesen, dass es bei der Erklärung des Anteils der Wohnungseigentümerhaushalte in den einzelnen sozialrechtlichen Stellungen zu beachten gelte, »dass sich die Häufigkeit von Wohnungseigentum bei einer bestimmten ›Schicht‹ nicht nur aus der Bautätigkeit ergibt, sondern auch davon abhängt, mit welcher Tendenz Wohnungseigentümerhaushalte ihre sozialrechtliche Stellung wechseln. Insbesondere der Rückgang der Selbständigenzahl durch den Wechsel in Arbeiter- und Angestelltenpositionen dürfte zu einer gleichmäßigeren Verbreitung des Wohnungseigentums beigetragen haben«.127 Dennoch ist die hohe Eigentumsquote bei den Arbeiterhaushalten ein erstaunlicher Befund, der darauf hindeutet, dass die gesellschaftliche Inferiorität der Arbeiterschaft bei der Wohnungsversorgung in der Nachkriegszeit nachließ.128 Ein zweites zentrales Kriterium für die unterschiedliche Wohnungsversorgung und die Wohnbedingungen stellte, neben den Einkommensverhältnissen, die Haushalts- bzw. Familiengröße dar.129 Je größer der Haushalt oder die Familie war, desto seltener traten in der Regel unzureichende Wohnungsausstattungen und hohe Mietbelastungen auf. Zugleich nahm jedoch der Wohn­ flächenmangel zu – woraus sich auch die niedrigeren Mietkosten erklären. Wie bereits dargestellt, war die Wohnfläche der Bereich, bei dem in größeren Familien Einschränkungen erfolgten, um die Belastung des Familienbudgets durch Mietausgaben niedrig zu halten. Was die Frage des Wohnungseigentums betraf, so verfügten Familien, je größer sie waren, erstaunlicherweise umso häufiger über eine eigene Wohnung.130 Das galt generell für alle Einkommens- und 124 Selbständige (Gewerbetreibende, Freie Berufe ohne Landwirte). Bei den Landwirten lag die Eigentümerquote nahezu bei 100 Prozent. 125 Vgl. Glatzer, S. 248 (Tab. A 23); Osterland u. a., S. 172. Vgl. auch Schulz, Wohnungspolitik und soziale Sicherung, S. 496 f. 126 Vgl. Glatzer, S. 113 (Tab. 12). 127 Ebd., S. 114. 128 So auch Schulz, Wohnungspolitik und soziale Sicherung, S. 506. 129 Vgl. Glatzer, S. 127 f., 249 (Tab. A 23). 130 Vgl. ebd., S. 128 f., 249 (Tab. A 23); Erster Familienbericht (BT-Drs. V/2532), S. 147; Transfer-Enquête-Kommission, Transfersystem, S. 68. Vgl. auch Schulz, Eigenheimpolitik S. 428.

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Berufsgruppen. Selbst bei Arbeitnehmerhaushalten mit einem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen von unter 600  DM (1962/63) veränderten sich die Anteilswerte mit der Haushaltsgröße. Während der Anteil der Wohnungseigentümer in der genannten Einkommensgruppe bei den Zwei-Personen-Haushalten lediglich 28 Prozent betrug, erreichte er bei den Haushalten mit fünf und mehr Personen 43 Prozent.131 Dieser hohe Anteil der Wohnungseigentümer bei den kinderreichen Familien war zum großen Teil auf die hohe Eigentümerquote bei den kinderreichen Selbständigenhaushalten zurückzuführen. So waren nach den Angaben des Ersten Familienberichts von 1968 76 Prozent der Selbständigenhaushalte mit drei Kindern und 84 Prozent der Selbständigenhaushalte mit vier und mehr Kindern Eigentümer ihrer Wohnung. Bei den Beamten- und Angestelltenhaushalten waren es dagegen nur 34 bzw. 43 Prozent und bei den Arbeiterhaushalten nur 36 bzw. 38 Prozent.132 Insgesamt ist zu vermuten, dass der Anreiz sowie auch die Notwendigkeit zum Hausbau bei Familien mit Kindern größer war, da erstens höhere Mietkosten eingespart und zweitens ein größerer Wohnkomfort erreicht werden konnte.133 Trotz aller Anstrengungen gelang es in der Bundesrepublik nie, das Ein­ familienhaus zum Regeltyp zu machen. Jedoch lag Westdeutschland in im europäischen Vergleich in den sechziger Jahren etwa gleich auf mit Frankreich, hinter Großbritannien, aber vor Schweden und der DDR.134 Wie die von Günther Schulz für den Zeitraum 1953 bis 1960 zusammengestellten Daten zeigen, stellten die Arbeiter in der Bundesrepublik insgesamt die weitaus größte Bauherrengruppe der privaten Haushalte dar.135 Sie bauten jedoch weniger, als ihrem Bevölkerungsanteil entsprochen hätte; hier lagen wiederum die Selbständigen an der Spitze. Wie die anderen Privathaushalte auch, errichteten die Arbeiter mehr Eigenheime außerhalb des sozialen Wohnungsbaus, vornehmlich im Bereich des steuerbegünstigten Wohnungsbaus. Lediglich 27 Prozent aller Eigenheime im sozialen Wohnungsbau wurden zwischen 1953 und 1960 von Arbeiterhaushalten erbaut. Der größte Bauherr waren hier die Gemeinnützigen Wohnungs131 Erster Familienbericht (BT-Drs. V/2532), S. 147. Bei diesen Sachverhalten wurden die sich mit der Gemeindegröße verändernden Wohnverhältnisse nicht berücksichtigt. 132 Erster Familienbericht (BT-Drs. V/2532), S. 146. Vgl. auch Euler, Wohnverhältnisse kinderreicher Familien, S. 30 f. 133 Mieter, insbesondere Untermieter, waren sowohl bei der Wohnfläche als auch bei der Wohnungsausstattung häufiger unzureichend versorgt als Wohnungseigentümer. Vgl. Glatzer, S.  130 f., 250 (Tab. A 23). Nach der 1 %-Wohnungserhebung 1960 lebten noch knapp 5 Prozent der kinderreichen Familien zur Untermiete; betroffen waren vor allem Arbeiterhaushalte mit geringem Einkommen. Vgl. Euler, Wohnverhältnisse kinderreicher Familien, S. 31. 134 Vgl. Durif u. Berniard, S. 3 (Tab. 1). Danach betrug der Anteil an Einfamilienhäusern am gesamten Wohnungsbestand in der Bundesrepublik und in Frankreich um die 40 Prozent, in Großbritannien knapp 88 Prozent, in Schweden knapp 35 Prozent und in der DDR gut etwa 28 Prozent. 135 Schulz, Wohnungspolitik und soziale Sicherung, S. 496 (Tab. 2).

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unternehmen mit 35,8  Prozent. Die Beamten und Angestellten bauten nur 14 Prozent, die Selbständigen nur 9,7 Prozent der Eigenheime im sozialen Wohnungsbau. Im übrigen Wohnungsbau wurden im gleichen Zeitraum von den Arbeitern 31,4  Prozent, von den Beamten und Angestellten 16,4  Prozent und von den Selbständigen 27,6 Prozent der Eigenheime errichtet.136 Unterschiede zwischen den sozialen Gruppen gab es auch bei der Verteilung des Wohneigentums nach Gemeindegrößen. Das Wohneigentum von Arbeitern lag überwiegend in Gemeinden unter 20.000 Einwohnern (1968 zu 80 Prozent) und nur in Ausnahmefällen in der Großstadt. Daraus ist zu schließen, dass ein großer Teil  dieser Arbeiter aus der Landwirtschaft stammte. Demgegenüber hatten die Angestellten ihr Wohneigentum auch häufiger in der Großstadt. So lag 1968 knapp ein Viertel der Angestellten-Eigentümerwohnungen in Städten über 100.000 Einwohner (12,6 Prozent in Städten über 500.000 Einwohner).137 Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Verteilungsstruktur des Eigentums an Immobilien auf der Grundlage des Einheitswertes,138 so überrascht es nicht festzustellen, dass das Haus- und Grundeigentum der Arbeiterhaushalte vor allem bei den niedrigeren Einheitswerten konzentriert war (1969: 81 Prozent unter 10.000 DM). Dagegen war der Haus- und Grundbesitz der Angestellten- und Beamtenhaushalte wie auch der Selbständigenhaushalte weit seltener im unteren Bereich der Einheitswerte konzentriert (1969: 66 bzw. 51  Prozent unter 10.000 DM).139 Beamte, Angestellte und Selbständige waren auch deshalb gegenüber den Arbeitern im Vorteil, da es ihnen gelang, sich im Vergleich mehr öffentliche Subventionen zu sichern, als es ihrem Bevölkerungsanteil entsprach. Das galt insbesondere auch für den sozialen Wohnungsbau. Wie erörtert, sorgte die politische Entscheidung, den Kreis der Mieter mit Hilfe der Pflichtgrenze der Angestelltenversicherung zu ziehen, dafür, dass auch Angestellte, Beamte und Selbständige zu Nutznießern der staatlichen Subventionen wurden. 1965 wohnten in den öffentlich geförderten Mietwohnungen 38 Prozent Arbeiter, 32 Prozent Angestellte und Beamte, 30  Prozent Selbständige und Nichterwerbstätige.140 Berücksichtigt man den Anteil dieser Gruppen an den Erwerbstätigen, so waren das stets weniger Arbeiter und mehr Selbständige.141 Weiter nahmen Arbeiter die Leistungen des Wohnungsbauprämiengesetzes von 1952 ebenso wie die des Sparprämiengesetzes von 1959 in geringerem Maße in Anspruch als die übrigen Berufsgruppen. Nach der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe von 1969 136 Ebd.; vgl. auch Fey, Entwicklungstendenzen, 60 f. 137 Vgl. Osterland u. a., S. 171. Mooser, Arbeiterleben, S. 48 ff. 138 Der Einheitswert bezeichnet den Wert, der bei der Erhebung der Grundsteuer als Besteuerungsgrundlage dient. 139 Vgl. Euler, Ausgewählte Vermögensbestände, S.  611. Vgl. auch Schulz, Wohnungspolitik und soziale Sicherung, S. 497. 140 Vgl. Osterland u. a., S. 173. 141 Mitte der sechziger Jahre waren noch knapp die Hälfte der Erwerbstätigen Arbeiter, jedoch lediglich etwa 12 Prozent Selbständige. Vgl. Geißler, Sozialstruktur, S. 167.

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beteiligten sich am Bausparen lediglich 19,6  Prozent der Arbeiter, dafür aber 33,4 Prozent der Angestellten, 43,8 Prozent der Beamten und 45,3 Prozent der Selbständigen.142 Insbesondere wenn man die sonstige Aktivität der Arbeiter im Bereich des Wohnungsbaus betrachtet, lässt sich dieser Befund nicht allein durch die Einkommensunterschiede erklären. Zu vermuten ist, dass auf Seiten der Arbeiter auch eine geringere Kenntnis der Sparformen und eine geringere Sparmotivation »aufgrund der historischen Erfahrung prinzipieller Existenz­ unsicherheit« eine Rolle spielten.143 In Frankreich wirkte sich die wohnungsbauliche Förderung in Form von Subventionen und Krediten in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten ähnlich aus wie in der Bundesrepublik. Ein Beispiel bildet die sog. »aide à la p ­ ierre«, eine allgemeine Finanzierungshilfe für die Durchführung von Bauvorhaben, durch die die private Bautätigkeit angekurbelt werden sollte. Aufgrund ihres allgemeinen Charakters kam sie auch und gerade wohlhabenden Bauherren zugute.144 Insgesamt nahm die Eigentümerquote auch in Frankreich seit den fünfziger Jahren zu; der Abstand zwischen den Haushalten von Selbständigen und Arbeitnehmern hinsichtlich des Wohnungseigentums verringerte sich. Bis zur Mitte der sechziger Jahre konnten vor allem die höheren und mittleren Angestellten (»cadres«) ihren Anteil am Wohnungseigentum erhöhen, daneben aber auch die einfachen Beschäftigten (»employés«) und qualifizierte Arbeiter. Letztere erwarben ihren Häuser vor allem in den kleinen Städten, am Stadtrand oder auf dem Land. Mit steigendem Einkommen erhöhte sich vor allem der Wert des Eigentums. Auch in Bezug auf die Familiengröße ergab sich einen ähnliche Relation wie in der Bundesrepublik: Mit steigender Familiengröße erhöhte sich vor allem bei den Mittelklassen die Eigentümerquote.145 Aufgrund der vielfältigen, in ihren Auswirkungen nicht immer eindeutigen Befunde ist die Frage nach der Verteilungswirkung der wohnungs- und eigentumspolitischen Maßnahmen in der Bundesrepublik insgesamt nur schwer zu beantworten. Zwei im Auftrag des Bundesbauministeriums erstellte Untersuchungen aus dem Jahr 1980 kamen zu dem Ergebnis, dass die Haushalte mit höherem Einkommen insgesamt sowohl im sozialen Mietwohnungsbau als auch bei der Wohneigentumsförderung überproportional begünstigt würden.146 Bei der Eigentumsförderung sei »eine steigende Mittelschichtorientierung« festzu142 Insgesamt beteiligten sich 22,8 Prozent der Haushalte am Bausparen. Vgl. Euler, Nutzung, S. 61. Für die fünfziger Jahre vgl. die Ergebnisse von Föhl, S. 61 ff. Vgl. dazu auch Schulz, Wohnungspolitik und soziale Sicherung, S. 495. – Auch von den Möglichkeiten des Zweiten Vermögensbildungsgesetzes machten Arbeiter weniger Gebrauch als Beamte oder Angestellte. Vgl. Euler, Nutzung, S. 62; ders., Formen, S. 316. 143 Schulz, Wohnungspolitik und soziale Sicherung, S. 495. 144 Vgl. Heugas-Darraspen, S. 18, 46 f. 145 Vgl. dazu ausführlich Bourdieu u. de Saint Martin. 146 Ulbrich, S. 16; Arras u. a., S. 92. Die Untersuchungen basierten auf Daten aus den siebziger Jahren.

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stellen.147 Der Bericht der Transfer-Enquete-Kommission betonte 1981 dem­ gegenüber, dass die Ergebnisse der empirischen Studien in hohem Maße von der Verwendung verschiedener Statistiken und Verteilungshypothesen abhängig seien, so dass wohnungspolitische Schlussfolgerungen aus ihnen nicht eindeutig zu ziehen seien. Dennoch kamen auch die Verfasser dieses Berichts zu dem Ergebnis, dass die besserverdienenden Schichten der Selbständigen einerseits und der Beamten und Angestellten andererseits in beträchtlichem Ausmaß Empfänger von Transferleistungen seien.148 Ähnliches lässt sich auch aus den hier durchgeführten Analysen ableiten. Folgende zwei Beobachtungen müssen an dieser Stelle noch einmal hervorgehoben werden: Erstens: Die Wohnungspolitik der Nachkriegsjahrzehnte in der Bundesrepublik zeichnete sich dadurch aus, dass sie nicht als wohlfahrtsstaatliche Politik im engeren Sinne konzipiert war. Da nach dem Krieg die allgemeine Wohnungsnot die für die erste Hälfte des 20.  Jahrhunderts charakteristische »Arbeiterwohnfrage« überdeckte,149 wurden zunächst keine Maßnahmen zur spezifischen Förderung bestimmter Berufsgruppen oder sozialer Schichten ergriffen. Axel Schildt hat für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg von einer »Aufspaltung der Wohnungspolitik« der Bundesrepublik in eine »Sozialpolitik für sozial Schwache« und eine »Vermögens- und Familienpolitik für den Mittelstand« gesprochen.150 Dieser Betrachtungsweise kann auf der Basis der hier getätigten Analyse zugestimmt werden. Trotz der Bemühungen um eine Förderung einkommensschwacher Schichten im Zweiten Wohnungsbaugesetz erreichten die staatlichen Finanzierungshilfen beim Eigenheimbau, ebenso wie die Maßnahmen zur Sparförderung und Vermögensbildung, vor allem die Mittelschicht. Bei der Arbeiterschaft war die Bilanz gespalten. Die rege Bautätigkeit schien das Aufgehen der Arbeiter in die Arbeitnehmerschaft widerzuspiegeln. Zu­gleich zeigte sich aber auch, dass die Arbeiterschichten im Vergleich zu den Angestellten und Beamten weitaus seltener die bereitstehenden Instrumente der Sparförderung in Anspruch nahmen und darüber hinaus insgesamt in kleineren und schlechter ausgestatteten Wohnungen lebten. Damit blieben ein Teil der strukturellen Schwächen der Wohnsituation von Arbeitern bestehen.151 Zweitens: Wohnungs- und Eigentumspolitik waren im Nachkriegswestdeutschland immer zugleich auch Familienpolitik. Die Überzeugung, dass die Wohn- und Eigentumsverhältnisse »von erheblicher Bedeutung für das gesamte Leben und den inneren Zusammenhalt der Familien« seien152, führte dazu, dass 147 Arras u. a., S. 92. 148 Vgl. Transfer-Enquête-Kommission, Transfersystem, S. 67. 149 Vgl. dazu Schulz, Wohnungspolitik und soziale Sicherung, S.  483 ff.; Mooser, Arbeiter­ leben, S. 141 ff. 150 Schildt, Wohnungspolitik, S. 175. Ähnlich Arras u. a., S. 92. 151 Vgl. Schulz, Wohnungspolitik und soziale Sicherung, S. 504 f. 152 Vgl. Wingen, Förderung, S. 77; ders., Ziele, S. 126. Vgl. auch Lücke in einem Vortrag anlässlich einer öffentlichen Kundgebung des Deutschen Volksheimstättenwerkes (abgedruckt in: ders., Gesetz, S. 5 ff., hier insb. S. 26).

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die Familien spätestens seit 1952 in den Mittelpunkt der Wohnungsbau- und Eigenheimförderung rückten. Dennoch blieb, dem Ersten Familienbericht von 1968 zufolge, die Wohnungsversorgung bei einem »beachtlichen Teil der kinderreichen Familien« unbefriedigend.153 Kinderreiche waren auch noch Ende der sechziger Jahre beim Wohnraum häufig unterversorgt.154 Der soziale Mietwohnungsbau war nur bedingt geeignet, familienpolitische Ziele zu realisieren. Für Familien setzten sich bei der Wohnungssuche im öffentlich geförderten Wohnungssektor vielfach die gleichen Schwierigkeiten fort wie im freifinanzierten. Besser waren diejenigen gestellt, denen es gelang, Wohnungseigentum zu erwerben; die zusätzlichen Vergünstigungen für kinderreiche Familien im Zweiten Wohnungsbaugesetz wirkten sich hierbei positiv aus. Insgesamt aber blieb die Versorgung der kinderreichen Familien mit »familiengerechtem« Wohnraum bis in die achtziger Jahre ein Problem und das umso mehr, je weniger der Familie an Einkommen zur Verfügung stand.155

153 Erster Familienbericht (BT-Drs. V/2532), S. 145. 154 Vgl. Glatzer, S. 202. 155 Vgl. Münch, Familienpolitik BRD, S. 102; Glatzer, S. 202; Alber, Sozialstaat, S. 218.

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IV. Mittelschichten des Wohlfahrtsstaats: Beschäftigungsfelder und beruflicher Aufstieg

Im Mittelpunkt der bisherigen Untersuchung über das Verhältnis von Wohlfahrtsstaat und Mittelschichten in der Bundesrepublik der fünfziger bis siebziger Jahre standen die Gewährung und der Ausbau sozialer Leistungen. Wie die vorstehenden Analysen gezeigt haben, profitierten die Mittelschichten nach dem Zweiten Weltkrieg umfassend von den Leistungen und Fördermaßnahmen des Wohlfahrtsstaats in der Renten- wie auch in der Familien- und Wohnungspolitik. Die sozialen Transfers trugen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und damit der Lebensverhältnisse der mittleren Schichten bei; insofern können die Mittelschichten auch als »Profiteure« der wohlfahrtsstaatlichen Expansion bezeichnet werden. Im Folgenden soll ein weiterer grundsätzlicher Aspekt der Wechselwirkung von Wohl­fahrtsstaat und Mittelschichten aufgezeigt und erörtert werden: der Aufstieg der Mittelschichten durch die Expansion wohlfahrtsstaatlicher Beschäftigung und die »Verberuflichung« sozialer Arbeit. Mit dem Auf- und Ausbau der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich nicht nur ein neues, erweitertes soziales Leistungs- und Sicherungssystem, sondern es entstanden auch neue »Sozialstaatsberufe«. Administrative, pädagogische und therapeutische Dienstleistungen weiteten die beruflichen Tätigkeitsfelder für die Angehörigen akademischer wie nichtakademischer Mittelschichten erheblich aus. Sowohl im Bereich der sozialen und öffentlichen Verwaltung wie auch bei den kollektiven Einrichtungen im Fürsorge-, Gesundheits- und Bildungssektor boten sich neue Karriere- und Aufstiegsperspektiven. Obwohl die »Daseinsvorsorger«, »Infrastrukturgewährleister« und »Wohlfahrtsverwalter« seit dem Kaiserreich aus der Geschichte der deutschen Sozialpolitik nicht mehr wegzudenken sind, haben die »wohlfahrtsstaatlichen Beschäftigungseffekte«1 in der sozialgeschichtlichen und wohlfahrtsstaat­lichen Forschung bisher wenig Beachtung gefunden. Zwar geben die Untersuchungen und Analysen zur Expansion des Wohlfahrts­staats in der Bundesrepublik vereinzelt Hinweise auf die wachsende Zahl der »sozialstaatlich Beschäftigten« und die Zunahme von Sozialstaats- und Verwaltungs-»Ex­perten«.2 Auch ist die Bedeutung der Selbstverwaltungsbürokratie der Sozialversicherung als 1 Hockerts, Metamorphosen, S. 35. 2 So bei Leisering, Kontinuitätssemantiken, S. 101 f.; Fischer, S. 97; Raphael, Experten, S. 231 f.; de Swaan, S. 249; Hockerts, Metamorphosen, S. 35.

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Aufstiegskanal für die Mitglieder der »Arbeiterklasse« hervorgehoben worden.3 Eine systematische Untersuchung dieser Aspekte der Geschichte des Wohlfahrtsstaats steht jedoch noch aus. Weder die Expansion von sozialen Verwaltungsberufen und ihre arbeitsmarktpolitische Bedeutung, noch die Wechselwirkungen mit der Veränderung der Sozialstruktur und der Entstehung neuer »staatsgebundener« Mittelschichten sind bisher von der sozialhistorischen Forschung in den Blick genommen und umfassend analysiert worden.4 Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere europäische Wohlfahrtsstaaten, in denen sich die sozialpolitischen Institutionen ebenfalls zu personalintensiven Großbürokratien entwickelten. Eine systematische Erörterung der »wohlfahrtsstaatlichen Beschäftigungs­ effekte« und ihrer Auswirkungen für die Mittelschichten kann auch im Rahmen dieser Studie nicht geleistet werden. Die folgende Problemskizze will jedoch die zentralen Fragen und Probleme des Forschungsthemas diskutieren sowie verschiedene Untersuchungsfelder aufzeigen und erörtern. Insgesamt wird damit der vorliegenden Untersuchung über den Zusammenhang von wohlfahrtsstaatlicher Expansion mit der Entwicklung der Mittelschichten eine weitere Dimension hinzugefügt. So kann man argumentieren, dass die Mittelschichten gleich doppelt von der wohlfahrtsstaatlichen Expansion profitierten: nicht nur als »Klienten«, sondern auch als »Beschäftigte« und »Leistungserbringer« des Wohlfahrtsstaats. Nimmt man den deutschen Sozialstaat in seiner Funktion als Arbeit­geber und als berufliche und soziale Aufstiegsleiter in den Blick, so ist besonders die Phase vom Anfang der 1920er Jahre bis zu den siebziger Jahren von Interesse, ein Zeitabschnitt, der in Deutschland von mehreren politischen Brüchen und Systemwechseln gekennzeichnet war. Jedoch überdauerten die »Beschäftigungseffekte« diese Zäsuren. Der Auf- und Ausbau der sozialen Verwaltung und wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen setzte sich beim Übergang von einem zum anderen politischen System fort, allerdings unter jeweils veränderten Vorzeichen. Vor allem in den dreißiger Jahren wurde der wohlfahrtsstaatliche Beschäftigungssektor den ideologischen Leitlinien der NS-Politik unterworfen. Mit dem Ausbau staatlicher Einrichtungen und Institutionen und der steigenden Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen entwickelten sich auch die Wohlfahrtsverbände und freien Träger im Bereich der Jugend-, Familienund Sozialfürsorge zu zentralisierten Großverbänden. Auch hier kam es zu einer Zunahme und Ausdifferenzierung der Tätigkeitsfelder und beruflichen Profile.5 3 Insb. Tennstedt, Selbstverwaltung; ders., Vom Proleten; ders., Sozialgeschichte. Vgl. darüber hinaus auch Alber, Sozialstaat, S. 137 f.; Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 133. 4 Neu hierzu, allerdings aus soziologischer Perspektive: Vogel. In Ansätzen auch bereits bei de Swaan, S. 246 ff. 5 Vgl. Buck, Entwicklung, insb. S. 161 ff. Zur Entwicklung in der NS-Zeit vgl. Hammerschmidt, Wohlfahrtsverbände im NS-Staat.

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Die Ausdehnung wohlfahrtsstaatlicher Beschäftigung nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte insgesamt in zwei Schüben: Der erste reichte vom Ende der vierziger bis zum Anfang der fünfziger Jahre, der zweite von der Mitte der sechziger bis Anfang der siebziger Jahre. In dieser Zeit wurde der Vollzug der Sozialpolitik endgültig in die Hände von »sozialen Berufsarbeitern« gelegt.6 Erst Mitte der siebziger Jahre wurde aufgrund wachsender Defizite in den öffentlichen Haushalten über Einschnitte in das soziale Netz und Ausgabenkürzungen im Sozialwesen diskutiert, was mittelbar auch die im Wohlfahrtsstaat Beschäftigten betreffen konnte. Dennoch waren die späten sechziger und die siebziger Jahre noch einmal eine Hochphase des Ausbaus wohlfahrtsstaatlicher Beschäftigung.7 Dabei verdankte sich diese zweite Aufbauphase dem anhaltenden Wirtschaftswachstum seit dem Ende der fünfziger Jahre sowie einem grundlegenden Paradigmenwechsel in der »Politik des Sozialen« in der Regierungszeit der sozialliberalen Koalition. In den folgenden Kapiteln werden vier zentrale Problemfelder des Themas erörtert. Sie befinden sich jeweils an Schnittstellen klassischer Untersuchungsbereiche der wohlfahrtsstaatlichen und sozialhistorischen Forschung. Im Rahmen des ersten Kapitels wird der Prozess der »Verberuflichung« sozialer Arbeit analysiert. Dieser setzte schon im Kaiserreich ein und erreichte seinen Höhepunkt in den fünfziger bis siebziger Jahren der Bundesrepublik. Das zweite Kapitel widmet sich den Tendenzen zunehmender »Professionalisierung« im Bereich der sozialen Beschäftigung. Die Herausbildung von Wohlfahrtsstaats»Experten« war Voraussetzung und Folge der Expansion des Sozialwesens. Der dritte Abschnitt untersucht die Auswirkungen der »wohlfahrtsstaatlichen Beschäftigungseffekte« auf die Arbeiterklasse. Es stellt sich die Frage, inwiefern der Ausbau der Sozialverwaltung den beruflichen Aufstieg und die »Vermittelschichtung« der Arbeiter vorangetrieben hat. Das vierte und letzte Kapitel erörtert schließlich die Rolle des öffentlichen Dienstes als Aufstiegsmotor und Gesellschaftsgestalter. Zu fragen ist hier, welchen besonderen Einfluss die Expansion des öffentlichen Dienstes auf die Ausbildung der Sozialstruktur in der Bundesrepublik der fünfziger bis siebziger Jahre hatte.

1. Soziale Arbeit als Beruf Wenngleich die wohlfahrtsstaatliche Beschäftigung in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg an Bedeutung gewann, so lässt sich schon für die Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik die Verbreitung von sozialer Arbeit und sozialer Verwaltung als Beruf beobachten. Die Jahrzehnte zwischen der Jahrhundertwende und der Weltwirtschaftskrise bildeten die Entstehungs6 Achinger, Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik, S. 87. 7 Vgl. van Laak, S. 368; Raphael, Experten, S. 243; de Swaan, S. 246, 250.

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phase der modernen deutschen Sozialverwaltung. In dieser Zeit entstanden die Kernstrukturen des öffentlichen Gesundheits- und Sozialwesens. Die restriktive »liberalistische« Armenpolitik wandelte sich zu einer umfassenderen Wohlfahrtspolitik. An die Stelle von privater, ehrenamtlicher Tätigkeit und nachbarschaftlicher Hilfe trat zunehmend die soziale Berufsarbeit. Im Kaiserreich wie auch in der Weimarer Republik waren die Kommunen die wichtigsten Träger der »Verberuflichung«8 des Sozialwesens. Insbesondere im Bereich der kommunalen Fürsorge bildete sich neben der traditionellen Ordnungsverwaltung das Profil einer neuartigen öffentlichen Leistungsverwaltung deutlich heraus. Zur herkömmlichen wirtschaftlichen Armenfürsorge traten die Gesundheits-, Jugend-, Wohnungs- und Arbeitslosenfürsorge hinzu, in denen es um persönliche Beratung, Betreuung und Kontrolle der Hilfsbedürftigen ging.9 Die Verankerung des Sozialstaatsprinzips in der Weimarer Verfassung und der daraus ableitbare Rechtsanspruch auf soziale Hilfe trieb den Prozess der Verrechtlichung und Institutionalisierung sozialer Leistungen weiter voran,10 wodurch auch die Zahl der im und durch den Wohlfahrtsstaat beschäftigten Personen zunahm. Die berufliche soziale Arbeit war in diesem Sinne sowohl Voraussetzung als auch Folge des Ausbaus der kommunalen Sozialverwaltung. So konnten die gewandelten und erweiterten Aufgaben kommunaler Wohlfahrtspflege ohne eine entsprechende Anzahl geschulter, beruflich tätiger Fachkräfte nicht durchgeführt werden; umgekehrt schuf die Expansion der Sozialbürokratie erst die Grundlage für die Ausweitung beruflicher Sozialarbeit.11 Nach der Volks- und Berufszählung von 1925 gab es im Wirtschaftszweig »Wohlfahrtspflege und soziale Fürsorge« insgesamt 22.547 Angehörige des Berufes »Sozialbeamte, Kindergärtnerinnen«, wovon 641 männlich und 21.906 weiblich waren. Bis 1933 nahm die Zahl der beruflichen Sozialarbeiter weiter auf 24.129 zu; von diesen waren 1.830 männlich und 22.299 weiblich.12 Wenngleich die ehrenamtliche Wohlfahrtshilfe in bestimmten Bereichen bestehen blieb, beispielsweise in der Armen- und Waisenpflege, so wurde der gewichtigere Teil der innerhalb der Fürsorgeverwaltung anfallenden Arbeit ab Mitte der 1920er Jahre von hauptberuflichen Kräften geleistet. Mit der »Verberuflichung« und Verselbständigung der zuvor ehrenamtlich oder familiär erbrachten Arbeit gingen charakteristische Veränderungen in der Beziehung zwischen Leistungserbringern und Leistungsempfängern einher. Zwischen beiden Gruppen bestand kein persönliches Verhältnis mehr. 8 Als »Verberuflichung« wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung der Prozess der Ablösung bzw. der Substitution von sekundärer Arbeit (z. B. häusliche Eigenarbeit) durch primäre Arbeit (Erwerbsarbeit in Erwerbsorganisationen) bezeichnet. Vgl. Bohle u. Grunow, S. 152. 9 Vgl. Sachße, Frühformen, S. 21 ff. Vgl. dazu auch Kühn, Jugendamt,. 10 Vgl. Peukert, S. 351; Ritter, Sozialstaat, S. 114 ff.; Sachße u. Tennstedt, Fürsorge, S. 77 f. 11 Sachße u. Tennstedt, Fürsorge, S. 202. 12 Zahlen nach Sachße u. Tennstedt, Fürsorge, S. 202. Zum Personalbestand der Jugendämter im Deutschen Reich 1928 vgl. Landwehr, S. 115.

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Die Hilfestellungen bauten nicht mehr auf Zugehörigkeiten und Bindungen auf, sondern wurden zur routinierten, mehr oder weniger spezialisierten Berufsleistung. Statt des Gebotes der Solidarität, wie unter Familienangehörigen, Freunden oder Nachbarn, galt die Norm der Gleichbehandlung und der prinzipiellen Austauschbarkeit aller Beteiligten.13 Neben der öffentlichen kommunalen Verwaltung entwickelten sich auch die freien Wohlfahrtsverbände in den 1920er Jahren zu bedeutsamen Trägern sozialer beruflicher Arbeit. Dabei waren die konfessionellen Verbände, der Zentralausschuss für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche (gegründet 1849) und der Deutsche Caritasverband (gegründet 1897), führend. 1919 gründete sich der Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt (AWO) neu; Ende 1924 konstituierte sich der »Fünfte Wohlfahrtsverband«, der seit November 1932 unter »Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband« firmierte.14 Die freien Verbände verfügten über eine Fülle von sozialen Einrichtungen und beschäftigten neben ehrenamtlichen Helfern auch zunehmend hauptamtliches Personal.15 Bis zur Festlegung der Subsidiaritätsbestimmungen in der Weimarer Fürsorgegesetzgebung, die später in die Fürsorgegesetze der Bundesrepublik übernommen wurden,16 stand die freie Wohlfahrtspflege gegenüber der öffentlichen Sozialverwaltung vor allen in einem Konkurrenz- und Spannungsverhältnis.17 Mitte der 1920er Jahre erreichte der Prozess der »Verberuflichung« einen vorläufigen Abschluss. Mit der öffentlichen Anerkennung des Sozialarbeiter­ berufs, der Gründung von Berufsverbänden18 und schließlich der Verab­ schiedung großer Rechtsetzungswerke, wie dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) von 1922, der »Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht« und den »Reichsgrundsätzen über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge« von 1924, waren die institutionellen Rahmenbedingungen geschaffen worden, die die weitere Entwicklung dieses neuen sozialen Dienstleistungs­ berufs nachhaltig beeinflussten.19

13 Vgl. Biermann, S. 293 f. 14 Vgl. dazu ausführlich Hammerschmidt, Wohlfahrtsverbände im NS-Staat, S.  92 ff.; Buck, Entwicklung, S. 161 ff. 15 Vgl. Zahlenangaben bei Hammerschmidt, Wohlfahrtsverbände in der Nachkriegszeit, S. 441 ff. 16 In § 5 der »Reichsversicherungsordnung über die Fürsorgepflicht« (RFV) v. 13.2.1924 war geregelt worden, dass die staatlichen Fürsorgeträger keine eigenen Einrichtungen schaffen sollten, »soweit geeignete Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege ausreichend vorhanden sind«. Dieser Passus wurde 1961 ins BSHG und JWG übernommen. Vgl. dazu auch Hammerschmidt, Wohlfahrtsverbände im NS-Staat, S. 78 ff.; Buck, Entwicklung, S. 166 ff. 17 Ebd., S. 171. 18 Nachdem sich bereits 1902 die Berufsarbeiter der Inneren Mission zu einem Verband zusammengeschlossen hatten, entstanden im Jahre 1916 der Verband Katholischer Deutscher Sozialbeamtinnen und der Deutsche Verband der Sozialbeamtinnen. Die letztgenannten Verbände schlossen sich 1918 zur Arbeitsgemeinschaft der Berufsverbände der Wohlfahrtspflegerinnen zusammen. Vgl. Bohle u. Grunow, S. 157. 19 Vgl. Olk, S. 98 f.; Grunow, Soziale Infrastruktur, Bd. 2, S. 840 f.

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Wie aus den genannten Zahlen hervorgeht, fanden insbesondere Frauen im Bereich des Fürsorgewesens neue Berufschancen. Die Sozialarbeit im sog. pflegerischen »Außendienst« war eine Frauendomäne, wenngleich es im Verlauf der 1920er Jahre vielfältige Bemühungen gab, die Sozialberufe auch für Männer zu öffnen.20 Alice Salomon, eine der herausragenden Persönlichkeiten bei der Begründung der beruflichen sozialen Arbeit, betonte, dass die Frau Fähigkeiten besitze, die sie zur Ausübung sozialer Hilfstätigkeit nicht nur ebenso tüchtig, sondern auch geeigneter machten als den Mann.21 Dagegen waren andere Bereiche innerhalb des Wohlfahrtssektors überwiegend in Männerhand: Sowohl das höhere Verwaltungspersonal (sog. administrativer »Innendienst«) als auch das ärztliche Personal war in der Regel männlich.22 Damit setzten sich im gesamten Berufsfeld sozialer Dienstleistungen typisch geschlechtsspezifische Hierarchien durch. Die leitenden Positionen blieben den Männern vorbehalten, die ausführenden Tätigkeiten den Frauen. Dafür sorgte nicht zuletzt das faktische Männermonopol in den für die öffentliche Wohlfahrt einschlägigen akademischen Studiengänge Jura, Staatswissenschaften, Nationalökonomie oder Medizin.23 Über die soziale Herkunft der Fürsorgerinnen in der Weimarer Republik ist bisher wenig bekannt. Von der bürgerlichen Frauenbewegung des Kaiserreichs war die soziale Arbeit ursprünglich als Strategie weiblicher Emanzipation konzipiert worden. Sie sollte zugleich die Frau emanzipieren und die »sozialen Schäden« einer industriell-patriarchalischen Gesellschaft heilen.24 Dieser kons­ titutive Zusammenhang von Emanzipation und Hilfe war auf einen ganz spezifischen homogenen sozialen Träger zugeschnitten: die bürgerlichen, gebildeten Frauen der gehobenen, städtischen Mittelschichten des Kaiserreichs.25 Diese verloren jedoch in Krieg und Inflation an Bedeutung und hörten auf, als eigenständige soziale Schicht zu existieren; »mit ihrem Ende zerfiel auch die Basis jener feministischen Strategie«.26 Im vorliegenden Kontext stellt sich die Frage, wer in die Positionen der bürgerlichen Frauen einrückte bzw. ob es bereits in der Zeit der Weimarer Republik auf diesem Berufsfeld zu einer sozialen Durchmischung kam. Erhielten mit der Ausweitung der beruflichen Beschäftigung im Sozialwesen auch Frauen nicht-bürgerlicher Schichten Zugang zu den neuen sozialpflegerischen Berufen? Ging mit der Etablierung neuer sozialer Berufe die Entstehung eines »neuen« weiblichen Mittelstands einher? Hier stehen gesicherte empirische Erkenntnisse noch aus. Zu vermuten ist, dass die berufliche

20 Dahinter stand vor allem die Überzeugung, dass bestimmte Fürsorgeaufgaben, z. B. im Gebiet der Jugendfürsorge, bei Wohlfahrtspflegern besser aufgehoben waren als bei Wohlfahrtspflegerinnen. Vgl. dazu ausführlich Kühn, Ausbildung, S. 32 ff. 21 Vgl. Salomon, Frau; dies., Frauenbildung. 22 Vgl. dazu auch Landwehr, S. 113. 23 Vgl. Raphael, Experten, S. 234 f.; Sachße u. Tennstedt, Fürsorge, S. 210. 24 Sachße u. Tennstedt, Fürsorge, S. 210. 25 Vgl. dazu insb. Sachße, Mütterlichkeit; Schröder. 26 Sachße u. Tennstedt, Fürsorge, S. 210.

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Sozialarbeit in der Weimarer Republik zunächst in der Hand bürgerlicher bzw. gehobener sozialer Schichten verblieb. Das war allein schon dadurch bedingt, dass die Ausbildung vergleichsweise kostspielig war und in einem ungünstigen Verhältnis zum Gehalt der Fürsorgerinnen stand.27 In den dreißiger Jahren wurde das gesamte Sozialwesen entsprechend den Kerngedanken der nationalsozialistischen Ideologie umgestaltet.28 Die natio­ nalsozialistische Wohlfahrtspflege orientierte sich vor allem am Wohl der »Volks­gemeinschaft«. Demgegenüber traten die sozialen Bedürfnisse des Einzelnen in den Hintergrund. Die neue »rassenhygienische« Ausrichtung der Wohlfahrtspflege und die sich daraus entwickelnde Verschiebung der Aufgaben der Gesundheitsämter veränderten die Gewichtung innerhalb der Fürsorge entscheidend: Die Gesundheitsfürsorge gewann erheblich an Bedeutung, die Jugend- und Wirtschaftsfürsorge wurde dagegen zurückgedrängt. Zum wichtigsten Ausführungsorgan der NS-Wohlfahrts­politik wurde die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV), zu deren Einrichtungen auch das Winterhilfswerk sowie das Hilfswerk Mutter und Kind zählten.29 Mit der NSV, einer in der Partei verankerten Wohlfahrtsorganisation, gewann die »freie« Wohlfahrtspflege gegenüber der öffentlichen Fürsorge erheblich an Bedeutung. Hatte die NSV 1934 noch rund 5.700 berufliche Mitarbeiter und 317.800 Helfer, so waren es 1940 etwa 86.500 Angestellte und 1.075.300 Helfer; 1941 lag die Zahl der Mitarbeiter sogar bei 122.300.30 Neben der NSV konnten auch die konfessionellen Wohlfahrtsverbände, Innere Mission und Caritasverband, ihre Arbeit fortsetzen. Deren Tätigkeit war aufgrund ihres enormen Umfangs nicht ohne weiteres durch eine NS-Organisation ersetzbar.31 Zudem mied die NSDAP-Führung den offenen Konflikt mit den beiden christlichen Großkirchen, die einen bedeutenden gesellschaftlichen Machtfaktor darstellten. Auch das Deutsche Rote Kreuz wurde zum Ausbau des Heeressanitätsdienstes benötigt; dagegen wurde die sozialdemokratische Arbeiterwohlfahrt ebenso wie die kommunistische Rote Hilfe zerschlagen.32 Die Nationalsozialisten propagierten außerdem die Aufwertung des Ehrenamtes. Jedoch waren ehrenamtliche Kräfte für die »Volkspflege«, wie es statt »Wohlfahrtspflege« nun hieß, schwer zu finden, da ein Teil des bisherigen ehrenamtlichen Personals aus politischen oder »rassischen« Gründen ihres Amtes ent27 Vgl. André, S. 97 f. 28 Vgl. dazu insb. Sachße u. Tennstedt, Wohlfahrtsstaat; Hansen; Kramer. 29 Vgl. Vorländer, S.  20 ff.; Hansen, S.  7 ff.; Sachße u. Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S.  110 ff.; ­Kramer, S. 184 ff. 30 Sachße u. Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 117; Hammerschmidt, Wohlfahrtsverbände im NSStaat, S. 592. 31 Die Innere Mission beschäftigte 1930 gut 56.700 Personen; bis Ende der 1930er Jahre hatte sich diese Zahl auf ca. 70.000 erhöht; der Caritasverband steigerte die Zahl seiner Beschäftigten dagegen von gut 82.000 (1930) auf 120.000 (1938). Vgl. Hammerschmidt, Wohlfahrtsverbände im NS-Staat, S. 575, 585. 32 Vgl. dazu ausführlich ebd., S. 208 ff.

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hoben und ein anderer Teil  von den parteilichen Organisationen absorbiert worden war. Insgesamt erhöhte sich der Anteil der ehrenamtlich tätigen Kräfte kaum; jedoch wurde der seit der Jahrhundertwende zu beobachtende Trend des Bedeutungsverlusts des Ehrenamtes innerhalb der Fürsorgetätigkeit in der NSZeit vorerst gestoppt. Die unmittelbare Nachkriegszeit bedeutete für den Bereich der Sozialverwaltung und der sozialen Arbeit weniger eine Zeit des Neu- als eine Zeit des Wiederanfangs. Die öffentliche Fürsorge- und Sozialverwaltung knüpfte an die in der Weimarer Republik etablierten Strukturen an und entwickelte sie nur zögerlich weiter.33 Ähnlich wie bei den Sozialversicherungen wurde auch im Bereich der Fürsorge auf die gesetzlichen Regelungen der 1920er Jahre zurückgegriffen. Im Wesentlichen blieben die 1924 erlassenen »Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge« sowie die »Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht« bestehen. Im Hinblick auf das Jugendamt hatte das RJWG von 1922 weiterhin Bestand.34 Die Sozialverwaltung leistete insgesamt wichtige Dienste bei der Bewältigung und Linderung der Not der Nachkriegszeit. Insbesondere die kommunalen Fürsorge- und Wohlfahrtsämter spielten eine bedeutsame Rolle. In ihnen waren in den fünfziger Jahren weite Zweige der Kriegsfolgenhilfe eingegliedert. Darüber hinaus entwickelte sich das Fürsorgeamt – für das sich seit Anfang der fünfziger Jahre zunehmend die Bezeichnung »Sozialamt« durchsetzte35  – zur öffentlichen Anlaufstelle für alle Personengruppen, die nach Kriegsende mittellos in die Bundesrepublik kamen und sich eine neue Existenz aufbauen mussten.36 In dieser Lage mangelte es den kommunalen Ämtern sowohl an finanziellen Mitteln als auch an Personal. Da es einerseits einen Personalabbau und andererseits eine weitgehende personelle Durchdringung der Ämter durch das Personal der NSV gegeben hatte, fehlten ausgebildete Fachkräfte oder waren entlassen worden. Teilweise wurde dies durch Aus- und Fortbildung von eingestellten Hilfskräften, teilweise durch Wiedereinstellung weniger »belasteter« Personen ausgeglichen.37 Neben der Kommunalverwaltung übernahmen die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände bei der Milderung von Notlagen der Bevölkerung nach Kriegsende wichtige Aufgaben. Da die Kirchen bei den Alliierten – trotz ihrer ununterbrochenen Tätigkeit auch während der Zeit der NS-Herrschaft – als politisch unbelastet galten, konnten Caritas und Innere Mission ihre Arbeit im So33 Sieht man von problembezogenen zeitweiligen Ergänzungen ab – Amt für Soforthilfe, Ernährungsamt, Flüchtlingsamt – so wurde die lokale Fürsorgeinfrastruktur weitgehend gemäß dem Stand von vor 1933 wieder etabliert. Vgl. Grunow, Soziale Infrastruktur, Bd. 3, S. 809. 34 Vgl. Amthor, S. 416; Grunow, Soziale Infrastruktur, Bd. 2, S. 845 ff.; Dyckerhoff, S. 229 ff. 35 Kühn, Jugendamt, S. 61. 36 Vgl. Kühn, Jugendamt, S. 59 f.; André, S. 107 f.; Grunow, Soziale Infrastruktur, Bd. 2, S. 846. 37 Grunow, Soziale Infrastruktur, Bd. 2, S. 847, 852.

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zialbereich direkt nach Kriegsende wieder aufnehmen.38 Daneben formierten sich auch die »weltlichen« Träger  – Arbeiterwohlfahrt (AWO), Deutscher Paritä­tischer Wohlfahrtsverband (DPWV) und Deutsches Rotes Kreuz (DRK) – neu.39 Die kommunalen und staatlichen Stellen bezogen die Wohlfahrtsverbände in ihre Planungen ein. Es entwickelte sich eine Art Arbeitsteilung: Die Wohlfahrtsverbände waren für die Nöte des Einzelnen zuständig, die öffent­ liche Wohlfahrtspflege für die Massennotstände.40 Mit dem Entstehen der Kriegsfolgegesetzgebung verloren die Fürsorgeämter in den fünfziger Jahren allmählich die Allzuständigkeit für materielle Notlagen. Zugleich differenzierten sich die sozialen Dienstleistungen auf kommunaler Ebene aus. Dabei war die Entwicklung von den Bedürfnissen der Bevölkerung einerseits und der Bereitstellung von Personal mit entsprechenden fachlichen und sozialarbeiterischen Kompetenzen andererseits abhängig. Große Aufmerksamkeit wurde seit Kriegsende der Arbeit und Ausgestaltung der Jugendämter gewidmet. Die Lage von Kindern und Jugendlichen galt als besonders prekär. Etwa 1,6 Millionen Kinder und Jugendliche wuchsen als Halb- oder Vollwaisen auf. Vielen fehlte die grundlegende schulische Ausbildung; mehr als 510.000 waren berufs- und heimatlos. Sowohl Inhalt als auch Form kommunaler Jugendpolitik wurden daher schrittweise ausgeweitet und reformiert.41 Der Aufgabenbereich der reinen Fürsorge reduzierte sich dagegen in dem Maße, wie das traditionelle Sozialversicherungssystem einschließlich der Arbeitslosenversicherung wiederhergestellt und ausgebaut wurde. Darüber hinaus wurden Anfang der fünfziger Jahre weitere Versorgungs- und soziale Leistungsgesetze in Kraft gesetzt (Bundesversorgungsgesetz, Lastenausgleichsgesetz), die alle dem erklärten Ziel dienten, die Anzahl derer, die auf Leistungen der Fürsorge an­ gewiesen waren, möglichst zu reduzieren.42 38 Vgl. Grunow, Soziale Infrastruktur, Bd.  2, S.  848. Wie allerdings die Untersuchung von Hammerschmidt zeigt, waren die konfessionellen Wohlfahrtsverbände keineswegs »unbelastet«, sondern konzeptionell wie praktisch integraler Bestandteil des Gefüges der Wohlfahrtspflege des NS-Staates« gewesen. Vgl. Hammerschmidt, Wohlfahrtsverbände im NSStaat, S. 562. 39 Die nicht-konfessionellen Wohlfahrtsverbände mussten allerdings um ihre Akzeptanz bei den Alliierten kämpfen. AWO und DRK wurden erst 1947 wieder zugelassen; der DPWV formierte sich erst 1950 wieder neu. Vgl. dazu ausführlich Hammerschmidt, Wohlfahrtsverbände in der Nachkriegszeit, S. 18 ff.– Zur Programmatik, Organisation und Geschichte der einzelnen Verbände vgl. auch Bauer, S. 117 ff. 40 Vgl. Grunow, Soziale Infrastruktur, Bd. 2, S. 849. 41 Ende 1950 wurde der erste Bundesjugendplan verabschiedet, der 17,5 Millionen DM zur Förderung der beruflichen Eingliederung arbeitsloser Jugendlicher zwischen 14 und 25 Jahren, der politischen Bildung und der internationalen Jugendbegegnung vorsah. Vgl. Nootbaar, S. 265 f.; Grunow, Soziale Infrastruktur, Bd. 3, S. 821 f., 830 f. 42 Nootbaar, S. 298. Während die öffentlichen Sozialleistungen von 1949 bis 1956 von 9,8 Milliarden auf 25,4 Milliarden DM stiegen, blieb die öffentliche Fürsorge mit 1,2 bzw. 1,3 Mil­ liarden DM fast konstant. Die Anzahl der unterstützten Personen pro 1.000 Einwohner ging von 27,5 (1950) auf 19,5 (1954) und 18 (1958) zurück. Vgl. Grunow, Soziale Infrastruktur, Bd. 3, S. 820 f.

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Aus verschiedenen statistischen Quellen lassen sich für die fünfziger Jahre einige Daten generieren, die einen Eindruck von der Größe und Bedeutung des wohlfahrtsstaatlichen Beschäftigungssektors im ersten Nachkriegsjahrzehnt vermitteln. Trotz Klagen über die »fehlende planmäßige Gestaltung der fürsorgerischen Tätigkeit«43 und trotz der Kennzeichnung sozialer Berufe als »Mangelberufe«,44 zeigte sich, dass die Zahl der Erwerbstätigen in der Sozialverwaltung sowie in den Fürsorgeberufen im Verlauf der fünfziger Jahre zunahm. Nach den Angaben der Wirtschaftsstatistik waren 1951 in der Wirtschaftsabteilung »Öffentlicher Dienst und Dienstleistungen im öffentlichen Interesse«, Unterabteilung »Volkspflege und Fürsorge«, etwa 67.600 Personen (Arbeiter, Angestellte und Beamte) beschäftigt. Diese Zahl erhöhte sich bis 1955 auf gut 91.500 Beschäftigte. Ende der fünfziger Jahre waren bereits 116.450 Menschen in diesem Bereich tätig.45 Folgt man der Systematik der Berufsstatistik, so ist ebenfalls ein deutlicher Anstieg erkennbar: Die Zahl der Berufsangehörigen in den sog. »sozialpflegerischen Berufen«, zu denen die Fürsorgerinnen bzw. Wohlfahrtspflegerinnen im Außendienst sowie auch Kinder- und Familienpflegerinnen und Erzieherinnen zählten,46 nahm in den fünfziger Jahren um etwa 43 Prozent zu. Während sie nach der Volks- und Berufszählung von 1950 noch bei rund 67.000 lag, wurden 1961 etwa 96.000 Angehörige der sozialpflegerischen Berufe gezählt.47 Auch für die fünfziger Jahre kann die Entwicklung auf dem Gebiet der sozialen Arbeit nur hinreichend beschrieben werden, wenn die freie Wohlfahrtspflege einbezogen wird. So waren einem Bericht des Nachrichtendienstes des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (NDV) von 1954 zufolge allein bei der Caritas 127.000, bei der Inneren Mission 110.000 Personen beschäftigt, die vor allem in der Krankenpflege und in komplementären Diensten tätig waren. Hinzu kamen noch die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, die sich bei der Caritas Mitte der fünfziger Jahre auf 650.000 beliefen.48 Der Anteil der freien Wohlfahrtspflege am Gesamtbestand der sozialen Einrichtungen und Dienste betrug oft mehr als 50 Prozent.49 Während die Arbeit der konfessionellen Träger in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch durch das berufliche 43 Vgl. Die Fürsorgerin, in: NDV 30 (1950), S. 55–57 (= Geschichte der Sozialpolitik, Dok. 3/19). 44 Vgl. Erklärung der »Vereinigung der Berufsverbände der Sozialarbeiterinnen u. Sozialarbeiter, in: Der Sozialarbeiter 7 (1957), Nr. 9–12, S. 14, hier zit. nach: André, S. 116. 45 Statistisches Bundesamt, Stat. Jahrbuch. Beschäftigte nach Wirtschaftszweigen. 46 Vgl. Berufskennziffer 86 der Berufsstatistik (Statistisches Bundesamt, Fachserie 1, Reihe 4.1.2). 47 Vgl. auch Rauschenbach, S. 49; Rauschenbach u. Schilling, S. 246 f.; Kaiser, S. 24. 48 Vgl. Die gegenwärtige Lage der freien Wohlfahrtsverbände in Deutschland, in: NDV 35 (1954), S. 270–272 (= Geschichte der Sozialpolitik, Dok. 3/127). Vgl. auch Grunow, Soziale Infrastruktur, Bd. 3, S. 826, 833. 49 1954 lagen etwa 60  Prozent der Kindergärten, 85  Prozent der Jugendwohnheime und 40 Prozent aller Betten in Krankenanstalten in der Hand der freien Träger. Vgl. Grunow, Soziale Infrastruktur, Bd. 3, S. 833.

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Wirken von katholischen »Ordensschwestern« und evangelischen »Diakonissen« geprägt war, wandelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg durch rapide sinkende Nachwuchszahlen die Mitarbeiterstruktur dieser Wohlfahrtsverbände. Diakonisches Werk50 und Caritas sahen sich gezwungen, übernommene Aufgaben in der sozialen Arbeit zunehmend weltlichem Personal zu übertragen. Beide Verbände beklagten Ende der fünfziger Jahre einen Mangel an qualifizierten hauptberuflichen Fachkräften.51 Anfang der sechziger Jahre wurden schließlich die überkommenen fürsorgerechtlichen Strukturen und Regelungen aus der Weimarer Zeit reformiert. Die wichtigste gesetzliche Neuerung war das »Bundessozialhilfegesetz« (BSHG) von 1961.52 Dieses sah – dem expansiven Trend in der Sozialpolitik entsprechend – eine weitere Ausdifferenzierung und Individualisierung der sozialen Hilfeleistungen vor und war insgesamt durch ein großzügiges Leistungsrecht geprägt. Ebenfalls 1961 erfolgte die Novellierung des seit 1924 geltenden »Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes«, das nunmehr als »Jugendwohlfahrtsgesetz« (JWG) die rechtliche Grundlage für den gesamten Bereich der Jugendhilfe bildete. Mit den Reformgesetzen verband sich ein neues Verständnis von Fürsorge, das sich auch in den Begrifflichkeiten niederschlug: Aus »Fürsorge« wurde »Sozialhilfe«, aus »Jugendfürsorge« wurde »Jugendhilfe«. Dieser begriffliche Wandel spiegelte sowohl die gewandelten Lebensverhältnisse wie auch die gewandelten gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen in der Bundesrepublik wider.53 Der alte Begriff der »Fürsorge«, der noch auf der Vorstellung einer Klassengesellschaft beruhte, in der die oberen Klassen für die unteren »Fürsorge trugen«, erschien nicht mehr zeitgemäß und wurde daher durch das Wort »Hilfe« ersetzt, das keine Anklänge mehr an die paternalistische Wohlfahrt der vergangenen Jahrzehnte enthielt. Der größere Teil der Leistungen nach dem BSHG von 1961 bildete außerdem nicht die »laufende Hilfe zum Lebensunterhalt«, sondern die »Hilfe in besonderen Lebenslagen«, die eine individuelle, an die Besonderheit der Lebenssituation angepasste Unterstützungsleistung darstellte.54 Die sechziger Jahre, und noch deutlicher die siebziger Jahre, waren für alle wohlfahrtsstaatlichen Berufe durch ein beispielloses quantitatives und qualitatives Wachstum gekennzeichnet. Die anhaltende wirtschaftliche Prosperität erlaubte die Bereitstellung von ausreichenden Ressourcen, um die zahlreichen sozialstaatlichen Einrichtungen weiter auszubauen und zugleich finan­ziell 50 Das »Diakonische Werk« ging 1957 aus dem Zusammenschluss von »Innerer Mission« und »Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland« hervor. Vgl. dazu Wischnath, insb. S. 320 ff.; Hammerschmidt, Wohlfahrtsverbände in der Nachkriegszeit, S. 219 ff. 51 Vgl. Amthor, S. 416 f.; Hammerschmidt, Wohlfahrtsverbände in der Nachkriegszeit, S. 296 f., 307 f. 52 BGBl. I, S. 815. Vgl. dazu ausführlich Grunow, Soziale Infrastruktur, Bd. 4, S. 733 ff.; außerdem Nootbaar, S. 292 ff.; André, S. 122 ff. 53 Vgl. den von Schelsky geprägten Begriff der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«: ders., Bedeutung des Schichtungsbegriffs, S. 331 f. 54 Vgl. André, S. 123 ff.

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wie auch personell besser auszustatten. Es wurde ein breites öffentliches Netz an sozialen Diensten implementiert, das weit über die unmittelbaren Aufgaben der traditionellen Fürsorge und der sozialpolitischen Aufgabe einer materiellen Versorgung hinausging. Zu den Angeboten und sozialen Dienstleistungen gehörten unter anderem der Ausbau von Tageseinrichtungen für Kinder, die Ausweitung der Jugendarbeit sowie die Zunahme von Beratungsstellen und therapeutischen Diensten. Der Schwerpunkt der sozialen Arbeit verlagerte sich insgesamt von den für die Nachkriegszeit charakteristischen finanziellen Hilfestellungen auf den sozialpädagogischen und medizinisch-psychologischen Bereich.55 Nach der Wirtschaftsstatistik stieg die Zahl der in der »Volkspflege und Fürsorge«-Verwaltung beschäftigten Personen Anfang der sechziger Jahre auf rund 143.000 (1963) an. Ein noch größerer Zuwachs war bei den sozialpflegerischen Berufen in den sechziger und siebziger Jahren zu verzeichnen. Hier zeigt sich auf der Grundlage der Daten der Volks- und Berufszählungen und des Mikrozensus folgender Verlauf: Wurden 1961 noch rund 96.000 Erwerbstätige in diesem Bereich gezählt,56 so waren es 1970 bereits 151.000 und 1976 227.000 Erwerbstätige. Die Wachstumsdynamik ging danach jedoch keineswegs zurück; 1980 lag das Personalvolumen bei 293.000, 1985 sogar bei 361.000. Bis in die neunziger Jahre verzeichneten die sozialpflegerischen Berufe einen kon­ tinuierlichen Anstieg der Erwerbstätigenzahlen und entwickelten sich damit unabhängig von den Krisenerscheinungen in den einzelnen Zweigen des Sozialversicherungssystems zu einem bedeutenden Sektor öffentlicher Beschäftigung.57 Das quantitativ größte Arbeitsfeld für soziale Berufe stellte die Kinderund Jugendhilfe dar.58 Insgesamt war für die Sozial- bzw. Erziehungsberufe gerade das Wachstum seit 1970 bezeichnend. Vom Personalvolumen des Jahres 1997 aus gerechnet (alte Bundesländer: 816.000) kamen mehr als 80 Prozent der Stellen erst nach 1970 hinzu.59 Diese zeitliche Zäsur um 1970 in der Beschleunigung und im Umfang des Ausbaus der Sozialberufe lässt sich auf den beschriebenen sozialkulturellen Paradigmenwechsel in der »Politik des Sozialen« zurückführen. Mit ihm 55 Vgl. Amthor, S. 417; Rauschenbach, S. 28 f. 56 Ohne Unterscheidung von Voll- und Teilzeitarbeit. 57 Entgegen der Vermutung, dass es sich hierbei vor allem um einen verdeckten Teilzeiteffekt (»Stellenteilungseffekt«) handeln könnte, zeigt die Umrechnung auf Vollzeitfälle, dass sich auch das Stellenvolumen seit Anfang der siebziger Jahre deutlich erhöht hat. Bis zum Ende der siebziger Jahre lag der Anteil der Teilzeitbeschäftigten in den Sozialen Berufen unter 10 Prozent. Seither ist der Anteil jedoch kontinuierlich gestiegen. Vgl. auch Rauschenbach u. Schilling, S. 211, 251; Cloos u. Züchner, S. 708. 58 Von 1974 bis 1998 verdoppelte sich die Zahl der in der Kinder- und Jugendhilfe Beschäftigten. Waren 1974 hier noch 223.000 Personen tätig, so waren es 1998 bereits 442.000. Vgl. Rauschenbach u. Schilling, S. 208 ff.; Cloos u. Züchner, S. 713 ff. Dort auch weitere Zahlen­ angaben. 59 Vgl. Rauschenbach, S. 45. Vgl. auch Rauschenbach u. Schilling, S. 246 f.

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ging der Ausbau von Ausbildungsgängen für Sozialberufe sowie eine Ausdifferenzierung der pädagogischen und sozialen Dienste einher. Darüber hinaus beeinflussten die seit den siebziger Jahren an Bedeutung gewinnenden sozialen Bewegungen die gängigen Praktiken der kommunalen wie der verbandlichen sozialen Arbeit. Von ihnen gingen neue Impulse und Initiativen wie die Jugendzentrumsbewegung, Stadtteilprojekte, die Frauenhausbewegung und die Tagesmüttermodelle aus.60 Insgesamt wurde die soziale Arbeit im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts immer mehr dafür in Anspruch genommen, die Folgen gesellschaftlicher Entwicklungen bei verschiedenen Problemgruppen und im Falle des Versagens der traditionellen Sicherungssysteme kompen­satorisch zu bearbeiten (Ausbildungskrise, erschwerte Übergänge in den Erwerbsbereich). Sie nahm seit den achtziger Jahren den Charakter einer »sozialen Infrastruktur der Lebensbewältigung« an.61 Dieser Trend spiegelte sich auch in den Beschäftigtenzahlen bei den freien Trägern wider. Hatten die Wohlfahrtsverbände 1970 knapp 382.000 Mitarbei­ ter,62 so stieg ihre Zahl innerhalb der darauffolgenden zehn Jahre auf knapp 593.000 (1981) an. Anfang der neunziger Jahre waren insgesamt gut 751.000 Personen in der freien Wohlfahrtspflege beschäftigt.63 Vor allem die kirchlichen Verbände verzeichneten einen deutlichen Zuwachs an Personal. Die Caritas erreichte 1970 bereits ein Beschäftigungsvolumen von rund 192.500 Mitarbeitern. Das war gegenüber 1950 (106.000) beinahe eine Verdopplung. Bis 1980 erhöhte sich die Zahl der Mitarbeiter weiter auf knapp 284.000. Das Diakonische Werk kam bis 1970 auf 125.000 Beschäftigte; diese Zahl stieg bis 1980 weiter auf 210.500 an.64 Auch für die Zeit der Bundesrepublik stehen über die soziale Herkunft der hauptberuflichen sozialen Verwalter und Helfer gesicherte Ergebnisse und Erkenntnisse noch aus. Wie eine Untersuchung aus dem Jahr 1971 ergab, entstammte ein Teil  der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter weiterhin den oberen Mittelschichten.65 So kam etwa ein Viertel aus Familien, in denen der Vater leitender Beamter, leitender Angestellter und in freien Berufen tätig war; 39  Prozent waren Söhne oder Töchter von mittleren und einfachen Beamten 60 Vgl. Hering u. Münchmeier, S. 114 f. 61 Ebd., S. 115. 62 Vollzeit und Teilzeit; Caritasverband, Diakonie, Arbeiterwohlfahrt, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, Deutsches Rotes Kreuz und Zentralwohlfahrtsstelle der Juden ­zusammen. 63 Vgl. Bundesarbeitgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V., Gesamtstatistik der Freien Wohlfahrtspflege 1970–2004. 64 In der Zeit von 1980 bis 2000 konnten beide Verbände ihre Beschäftigtenzahlen sodann noch einmal knapp verdoppeln auf 485.000 (Caritas) bzw. 400.500 (Diakonie), womit sie zu Deutschlands größten nicht-staatlichen Arbeitgebern avancierten. Jeder der beiden konfessionellen Verbände lag damit deutlich vor den Beschäftigtenzahlen großer Konzerne wie Siemens, Daimler-Chrysler oder Volkswagen. Vgl. Rauschenbach u. Schilling, S. 262 f. Vgl. dazu auch Enste, S. 64 ff.; Frerk, S. 22 ff. 65 Vgl. Lingesleben, S. 32 f.; Kreutz, S. 24 ff.

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und Angestellten. Der Anteil derjenigen, die aus Arbeiterfamilien stammten, lag danach bei 14  Prozent. Vor allem bei den Sozialarbeiterinnen herrschten der Herkunft nach die oberen Berufskreise vor. Von den Sozialarbeitern kamen dagegen 25 Prozent der Berufsanfänger aus der Arbeiterschicht und hier vornehmlich aus den Kreisen der relativ gut gestellten Facharbeiterschaft; nur 14 Prozent kamen aus Familien gehobener Berufskreise.66 Daneben fanden auch die Söhne und Töchter des selbständigen Mittelstands nach dem Krieg in den wohlfahrtsstaatlichen Verwaltungsberufen neue Perspektiven. Der erwähnten Untersuchung zufolge entstammten etwa 22  Prozent der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter einem Selbständigenhaushalt.67 Es zeigt sich somit, dass die Sozialstaatsberufe in der Bundesrepublik der sozialen Herkunft nach insgesamt »Mittelschichtberufe« waren. Allerdings boten sie auch den Kindern aufstrebender Arbeiter neue berufliche Perspektiven. Als Berufe der mittleren und gehobenen Berufsebene sicherten sie den Verbleib in bzw. den Zugang zu den Mittelschichten. Da Frauen das Berufsfeld der Sozialarbeit weiterhin dominierten, hatte die Ausweitung der beruflichen Sozialarbeit vor allem einen »Vermittelschichtungseffekt« bei den erwerbstätigen Frauen zur Folge. Insgesamt bildeten die in der Sozialverwaltung und in den sozialen Berufen Beschäftigten keineswegs eine homogene Berufsgruppe. Vielmehr gingen, wie die folgenden Analysen zeigen werden, mit der »Verberuflichung« zugleich auch die »Professionalisierung« und damit eine Ausdifferenzierung des wohlfahrtsstaatlichen Beschäftigungssektors einher.

2. Die »Professionalisierung« der sozialen Arbeit Der Aspekt der »Professionalisierung« vertieft die Betrachtung der beruflichen Entwicklungen der sozialen Arbeit. Unter »Professionalisierung« ist nicht lediglich die Konsolidierung beliebiger Tätigkeiten zu einem Beruf zu verstehen, sondern eine besondere Form beruflicher Weiterentwicklung, die vor allem an einer verstärkten »Verfachlichung« und theoretischen Systematisierung der Wissensgrundlagen des beruflichen Handelns erkennbar wird.68 Historisch gesehen geht damit die »Verberuflichung« eines Feldes gesellschaftlicher Arbeit der »Professionalisierung« voraus. Professionalität kann als Attribut eines Berufes oder aber auch als Charakteristikum von Mitgliedern einer Berufsgruppe betrachtet werden. Professionalisierung bezeichnet dann zum einen den Prozess, in dem ein Beruf sich zunehmend auf für Laien nicht zugängliches systematisches Expertenwissen stützt; zum anderen die individuellen Veränderungen in der Ausübung eines Berufes  – im Sinne der fachlichen Anhebung 66 Vgl. Lingesleben, S. 33; Kreutz, S. 26. 67 Vgl. Lingesleben, S. 33. Vgl. auch de Swaan, S. 255. 68 Biermann, S. 296.

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der eigenen Tätigkeit.69 Sowohl in der kollektiven wie auch der individuellen Version steht im Zentrum des Professionalisierungsbegriffs die Verwissenschaftlichung des Berufes oder der Berufstätigkeit bzw. die Entwicklung von Fachlichkeit. Wie die vorangegangene Untersuchung gezeigt hat, war die berufliche Sozialarbeit eine Folge vor allem des Ausbaus der kommunalen Sozialbürokratie. Mit der Ausdifferenzierung der öffentlichen Ämter und wohlfahrtsstaat­ lichen Einrichtungen in der Weimarer Zeit nahm rasch auch die Nachfrage nach Fachlichkeit, d. h. nach spezifischen Kenntnissen und Fertigkeiten zu. Die gesetzliche Normierung und Standardisierung von Ansprüchen auf Versorgung und Fürsorge und die Entwicklung organisierter Sozialsysteme, die auf die Erbringung von Hilfe spezialisiert waren, erhöhten den Bedarf an wissenschaft­ licher Beratung und professioneller Betreuung.70 Sowohl in der expandierenden Verwaltung wie auch in den praktischen Pflege- und Erziehungsberufen wurden Personen nachgefragt, die als »Kenner« von Rechtsfragen und Sachproblemen oder als Spezialisten für »verlässliche Sozialdaten« die Lösungswege für bestimmte soziale Probleme sowie für soziale Umverteilungsfragen aufzeigen und mitgestalten konnten.71 Als Folge dieser Entwicklung gewann in allen Bereichen des Fürsorgesektors die Berufsausbildung an Bedeutung. Nachdem schon im Kaiserreich die ersten Ausbildungseinrichtungen entstanden waren, die eine fachliche Schulung für die soziale Arbeit vermittelten  – sog. »Soziale Frauenschulen«72  –, etablierten sich in der Weimarer Republik feste Ausbildungsgänge im Bereich der Wohlfahrtspflege.73 In den ersten zwei Jahren nach dem Ersten Weltkrieg – 1919 und 1920 – wurden zusammen schon rund 1.100 weibliche Fachkräfte an achtzehn voll ausgebauten sozialen Frauenschulen ausgebildet. Sie erhielten die neue Berufsbezeichnung »Wohlfahrtspflegerinnen«. 860, d. h. knapp 80  Prozent von ihnen, erhielten sofort eine Anstellung.74 In dem Maße, wie die Wohlfahrts­ pflegerinnen in den öffentlichen Sozialbürokratien zum Einsatz kamen, wuchs auch das Interesse des Staates an einer öffentlichen Regelung der Ausbildung 69 Ebd., S. 297 f. – In Abgrenzung zu den »klassischen« Professionen wie Arzt oder Rechtsanwalt, die sich auf der Basis komplexen beruflichen Wissens und besonderer berufsethischer Standards der Bearbeitung individueller und gesellschaftlich bedeutender Probleme widmen und die sich durch eine besondere Autonomie, beträchtliches Einkommen und hohes Sozialprestige auszeichnen, wurde der Sozialarbeit häufig lediglich der Status der »NochNicht-Profession« (Semi-Profession) zugebilligt. Vgl. ebd., S.  306 ff.; Bohle u. Grunow, S. 151 f., 160 ff. 70 Bohle u. Grunow, S. 153 f. 71 Raphael, Experten, S. 231. 72 Die Trägerschaft der ersten sozialen Frauenschulen war sehr unterschiedlich. Neben weltlichen, sozialpolitischen Vereinigungen und Kommunen entstanden vor allem konfessionelle Träger. Zwischen 1905 und 1913 wurden insgesamt 14 soziale Frauenschulen gegründet. Vgl. Sachße u. Tennstedt, Fürsorge, S. 44; André, S. 31 f. 73 Vgl. dazu im Einzelnen Amthor, S. 308 ff. 74 Vgl. Kühn, Exkurs, S. 283.

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zu diesem Beruf. Es wurden daher staatliche Ausbildungs- und Prüfungsordnungen erlassen, die die Fachlichkeit der Ausbildung garantieren sollten.75 In Preußen hatten 1925 knapp 50  Prozent der beruflich tätigen Fürsorgerinnen eine abgeschlossene Fachausbildung.76 Die öffentliche Sozialverwaltung bot den Wohlfahrtspflegerinnen ein geregeltes Einkommen, garantierte ihnen eine Klientel und stattete sie mit administrativer Autorität aus. Im Gegenzug setzten die sozial geschulten Fachkräfte ihre spezifische Kompetenz im Auftrag der Sozialbürokratie ein.77 Die neuen Kräfte verdrängten allerdings nicht die alten Machtgruppen aus den klassischen Ressorts der Staatsverwaltung, sondern nahmen primär in neu entstehenden wohlfahrtsstaatlichen Behörden auf Reichs-, Landes- und Kommunalebene Tätigkeits- und Aufstiegsmöglichkeiten wahr.78 In den dreißiger Jahren gestalteten die Nationalsozialisten das gesamte Sozial- und Ausbildungswesen um und verpflichteten es auf ihre rassenhygienischen Leitprinzipien. Es kam zu einer Enttheoretisierung der fachlichen Ausbildung zum Fürsorgeberuf, die zugleich mit einer deutlichen Ideologisierung verbunden war. Nicht-nationalsozialis­tische Führungsfiguren im Ausbildungswesen, wie Alice Salomon, wurden aus ihren Ämtern gedrängt. Dem Konzept der Fürsorgerin als einer Sozialanalytikerin mit ausgeprägter Persönlichkeit, wie es die bürgerliche Frauenbewegung entworfen hatte, wurde nun das Bild der Fürsorgerin als einer ausführenden Fachkraft mit praxisnahen, vorwiegend gesundheitsfürsorgerischen Kenntnissen gegenüber gestellt. Für die sozialen Berufskräfte hatte der Verzicht auf eine umfangreiche theoretische Schulung, die Zerschlagung ihrer Berufsverbände und die gleichzeitige Aufwertung des ehrenamtlichen Elementes in der sozialen Arbeit eine planmäßige Verringerung des Professionalitätsniveaus zur Folge (»Deprofessionalisierung«).79 Der Wiederaufbau der Schulen für Sozialarbeit und Sozialpädagogik nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnete weitgehend eine Rückkehr zu dem in der Weimarer Zeit etablierten sozialen Ausbildungssystem. Um nicht an den Fächerkanon der NS-Zeit anzuknüpfen, wurde auf die Preußische Prüfungs­ ordnung von 1920 zurückgegriffen. Der Mangel an Fachkräften in den expandierenden sozialen Berufsfeldern führte jedoch dazu, dass die Bestimmungen zur fachlichen Ausbildung aufgeweicht und der Quereinstieg begünstigt wurde.80 Erst 1959 kam es zu gemeinsamen Beschlüssen der Ausbildungsstätten für eine Neuordnung der Ausbildung. Kern der Änderungen waren die Ver75 Die erste Prüfungsordnung wurde 1920 in Preußen erlassen. Sie hatte Signalwirkung: In rascher Folge erließen zwischen 1921 und 1926 Hamburg, Baden, Sachsen, Bremen, Württemberg, Thüringen und Bayern entsprechende Ausbildungsordnungen. Vgl. André, S.  50 ff.; Sachße u. Tennstedt, Fürsorge, S. 207 f. 76 Sachße u. Tennstedt, Fürsorge, S. 204. 77 Olk, S. 99. 78 Amthor, S. 298. 79 Vgl. André, S. 92 ff.; Sachße u. Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 187 ff. 80 Hering u. Münchmeier, S. 104.

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längerung der Ausbildung, einschließlich Praktika, auf drei Jahre und die Aufwertung der Schulen zu Höheren Fachschulen für Sozialarbeit bzw. Sozial­ pädagogik mit den entsprechenden Zugangsvoraussetzungen. Die Aufnahme von verwaltungspraktischen Unterrichtsinhalten in die Ausbildung sollte den Absolventen den Eintritt in den gehobenen Verwaltungsdienst mit entsprechender Besoldung erleichtern.81 Diese Neuordnung hatte jedoch nicht lange Bestand. Mit der Verabschiedung des Bundessozialhilfegesetzes 1961 kam es zu einer quantitativen und qualitativen Ausweitung der sozialen Netze, welche den Einsatz einer großen Zahl von qualifizierten Fachkräften notwendig machte. Eine weitergehende Aufwertung und Verwissenschaftlichung der Profession sollte es ermöglichen, den neu formulierten Ansprüchen gerecht zu werden und genügend Attraktivität für den Berufsstand zu garantieren. 1971 wurden schließlich die Höheren Fachschulen in Fachhochschulen umgewandelt und Sozialberufe auch als Studiengänge an den Universitäten etabliert.82 Insgesamt nahm seit den siebziger Jahren der Anteil akademisch Ausgebildeter stetig zu. Wurden im Mikrozensus von 1976 etwa 30.000 Hoch- und Fachhochschulabsolventen in sozialpflegerischen Berufen gezählt, so stieg die Zahl nach dem Mikrozensus 1978 bereits auf 44.000 an. Das entsprach einer jähr­ lichen Steigerungsrate von durchschnittlich 23  Prozent. Zwischen 1976 und 1978 stieg der Akademisierungsgrad (= Anteil der Fachhochschul- und Hochschulabsolventen an allen Erwerbstätigen) in allen sozialpflegerischen Berufen von 13,5 auf 16,5 Prozent.83 Ein wichtiges Resultat der schrittweisen Akademisierung der Ausbildung war der Statuszuwachs der Praktikerinnen und Praktiker in ihren Ämtern. Sie waren jetzt nicht mehr die im Außendienst tätigen »Handlanger« von den im Innendienst angesiedelten Verwaltungsbeamten, sondern wurden im Zuge der Verschmelzung der beiden Bereiche mit den für ihre fachlichen Belange entsprechenden Entscheidungsbefugnisse ausgestattet. Die spezialisierte, auf die Sammlung von Informationen beschränkte Außendiensttätigkeit, über deren Konsequenzen fachfremde Verwaltungsbeamten entschieden, wurde den steigenden Anforderungen an die soziale Arbeit nicht mehr gerecht. Die Gleichstellung der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter mit den Verwaltungsfachkräften begann sich in den sechziger und siebziger Jahren allmählich durchzusetzen.84 Dennoch gelang es auch den akademisch ausgebildeten Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagoginnen nur zögerlich, im sozialen Feld auch die Führungspositio81 Vgl. Nootbaar, S. 297. Vgl. auch André, S. 129 ff. 82 Vgl. Hering u. Münchmeier, S. 104 f. 83 Kaiser, S. 30 f. Vgl. auch Rauschenbach u. Schilling, S. 256 ff. – Gliedert man den Akademisierungsgrad nach seinen geschlechtsspezifischen Anteilen auf, so ist ein einseitiger Beitrag der Männer oder der Frauen bei der Akademisierung der sozialpflegerischen Berufe insgesamt nicht zu diagnostizieren. Die beachtenswerte Akademisierung in diesen Berufen wurde gleichermaßen von Männern und Frauen getragen. Vgl. Kaiser, S. 31 f. 84 Vgl. Hering u. Münchmeier, S. 105; Nootbaar, S. 295; Kühn, Exkurs, S. 288.

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nen zu übernehmen. Diese waren häufig nach wie vor von juristischen, psychologischen oder betriebswirtschaftlich ausgebildeten Fachkräften besetzt.85 Die Kehrseite der zunehmenden »Professionalisierung« und »Verfachlichung« im Bereich der sozialen Arbeit war der damit einhergehende Trend zur Bürokratisierung. In allen Zweigen des Sozialwesens setzten sich nach dem Zweiten Weltkrieg immer mehr bürokratische Handlungsmechanismen und -zwänge durch; Schematisierung, Generalisierung und Versachlichung waren die Folge. Nicht selten gerieten die zuständigen Sachbearbeiter bzw. Sozialarbeiterinnen dabei in einen Rollenkonflikt zwischen den widersprüchlichen Interessen und Erwartungen der Sozialbehörde auf der einen – Erfüllung der Weisungen sparsamster Einsatz öffentlicher Mittel, restriktive Prüfung von Ansprüchen – und dem Wunsch des Leistungsempfängers nach sofortiger und umfassender individueller Hilfe auf der anderen Seite.86 Schon seit der Weimarer Republik wurde die Sozialverwaltung als etwas »Anonymes, Allmächtiges, Unbegreifbares« empfunden; ihrem Formularwesen und ihren Bearbeitungsrichtlinien stand der Einzelne oft ähnlich gedemütigt gegenüber wie zuvor den wohltätigen Obrigkeiten. Sie wurde daher – auch noch in den Nachkriegsjahrzehnten – wenn möglich gemieden und nur dann aufgesucht, wenn alle anderen Hilfsmöglichkeiten ausgeschöpft waren.87 Mit Umfang und Bedeutung der ihnen übertragenen Aufgaben wuchs insgesamt auch die Macht des wohlfahrtsstaatlichen Personals an.88 Indem sie für den Ausbau der wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen und Behörden eintraten, sicherten die Sachverständigen und »Expertinnen für soziale Probleme« zugleich ihre eigenen beruflichen Karrieren und Perspektiven. Schon Eduard Heimann verwies in seiner »Sozialen Theorie des Kapitalismus« 1929 auf das Selbsterhaltungsstreben der »Mitglieder der staatlichen und der Selbstverwaltungsbürokratie, die den Versicherungsapparat ausmacht, und die, indem sie für die Anerkennung der Sozialversicherung wirbt, den Wert der eigenen Leistung und das Prestige der eigenen Stellung verteidigt«.89 Lässt sich daraus ableiten, dass sich die professionellen Helferinnen und Wohlfahrtsbürokraten im Laufe der Zeit zu einer mächtigen, aktiven Interessengruppe innerhalb des Wohlfahrtsstaats entwickelten, die seinen Ausbau nicht nur weiter voranzutreiben, sondern auch in ihrem Sinne zu beeinflussen suchte? Folgt man der Theorie Claus Offes, so lassen sich für das Wachstum des Dienstleistungssektors insgesamt vier soziologische Erklärungsansätze heranziehen: (1) der systematische Bedarf an Dienstleistungen aufgrund steigender gesellschaftlicher Komplexität; (2) die Überführung »überschüssiger« Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt in den tertiären Sektor der Dienstleistungsarbeit; 85 Vgl. Hering u. Münchmeier, S. 116 f. 86 Sog. »Doppeltes Mandat«, vgl. Biermann, S. 275. 87 Kühn, Organisationen, S. 313; Peukert, S. 351. Vgl. auch Bohle u. Grunow, S. 154. 88 Dazu auch Mayntz, S. 55. 89 Heimann, S. 247.

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(3) der Wandel der Ver­brauchsstrukturen und der steigende Bedarf privater Haushalte an Dienstleistungen; (4) die veränderten Präferenzen bei der Berufswahl, die durch organisationsstrukturelle Machtpotentiale zur Geltung gelangen.90 Während die erste und dritte Option eher von Veränderungen auf der Bedarfs- bzw. Nachfrageseite ausgehen, unterstellen die beiden anderen Erklärungsansätze eine »künstliche Nachfrage- und Bedarfsstimulation« durch die Dienstleistungsanbieter.91 Übertragen auf die Sozialverwaltung bzw. die sozialen Berufe und ihre Dienste würde das bedeuten, dass das wohlfahrtsstaatliche Personal seine Unverzichtbarkeit und seinen Bedarf selbst »öffentlich geschickt inszeniert[e]« und sich seine Arbeitsplätze auf diese Weise »gewissermaßen selbstreferentiell« schuf.92 Wenngleich diese These einer näheren Überprüfung bedarf, so machen die Erklärungsvorschläge Offes insgesamt deutlich, dass für die Wachstumsdynamik sozialer Dienstleistungsarbeit nicht nur der objektive Bedarf und die subjektiven Bedürfnissen, sondern zusätzlich auch die »An­ bieter-Interessen« ausschlaggebend waren.93 Insgesamt lässt sich feststellen, dass mit der institutionellen und personellen Ausweitung des Wohlfahrtsstaats mehrere »Professionalisierungsschübe« einhergingen, die nicht nur weitere neue Beschäftigungs- und Aufstiegsmöglichkeiten schufen, sondern auch zur Entstehung neuer mittlerer Berufsgruppen und sozialer Milieus beitrugen. Vor allem die sozialpflegerischen Berufe erfuhren seit den fünfziger Jahren eine allmähliche Aufwertung, was sich auch darin ausdrückte, dass sie zunehmend besser bezahlt wurden. Während der Fürsorgeberuf, wenngleich Erwerbsberuf, in der ersten Jahrhunderthälfte noch in der »Tradition idealistischer bürgerlicher Opferbereitschaft« gestanden hatte,94 wurde die Mehrzahl der Sozialarbeiterinnen im Angestelltenverhältnis in den fünfziger Jahren in die Tarifgruppe VIb eingeordnet, die als Eingangsgruppe für den gehobenen Dienst anerkannt war.95 Damit verbesserten sich sowohl ihre berufliche Stellung in der Hierarchie der Verwaltung wie auch ihr sozialer Status. Das nachfolgende Kapitel widmet dem Aspekt der beruflichen Mobilität im wohlfahrtsstaatlichen Beschäftigungssektor noch einmal besondere Aufmerksamkeit. Es erörtert die Veränderungen, die sich innerhalb der sozialen Ordnung durch das Hineinwachsen von Teilen der Arbeiterklasse in die wohlfahrtsstaatlichen Berufe vollzogen haben. Zwar ist über den beruflichen und sozialen Aufstieg der Arbeiterklasse schon viel geforscht worden,96 jedoch wurde die Frage nach der Verbindung zwischen der »Entproletarisierung« der Arbeiter und den Beschäftigungsmöglichkeiten und Mobilitätschancen des Wohlfahrts90 Vgl. Offe, S. 296 ff. 91 Vgl. Rauschenbach, S. 30 f. 92 Ebd. 93 Vgl. Offe, S. 318 f. 94 Vgl. André, S. 97 f. 95 Vgl. ebd., S. 118. Gukelberger. 96 Vgl. aus der zahlreichen Sekundärliteratur v. a. Mooser, Arbeiterleben; ders., Auflösung; Tenfelde; Goldthrope u. a., Der wohlhabende Arbeiter.

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staats bisher noch kaum systematisch gestellt. Vor allem für die Zeit der Bundesrepublik stehen sozialhistorische Forschungen, die diesen Zusammenhang umfassend untersuchen und dabei auch die sozialstrukturellen Veränderungen in der Mitte der Gesellschaft beleuchten, noch aus.

3. Beruflicher Aufstieg und »Vermittelschichtung« der Arbeiterklasse Die besondere Bedeutung des Auf- und Ausbaus des Wohlfahrtsstaats für die Arbeiter lag schon seit Ende des 19. Jahrhunderts darin, dass es ihnen, den eigent­ lichen Adressaten der Sozialleistungspolitik, durch die Regelungen zur Selbstverwaltung in der Sozialversicherung möglich wurde, in einflussreiche Positionen der wohlfahrtsstaatlichen Verwaltung einzurücken.97 Der über Partei- und Gewerkschaftsvertreter vermittelte Zugriff auf die Verwaltungspositionen beinhaltete zugleich Emanzipations- und Aufstiegsprozesse, die praktisch das Unfähigkeitsstigma widerlegten, mit dem die herrschenden Kreise die Arbeiterbewegung versehen hatten. Darüber hinaus bedeutete der Einstieg in den Verwaltungsdienst einen Angriff auf die konservative Staatsbürokratie und das »herrschende Karrieremuster, das mit einem akademisierten Bildungssystem oder zumindest Bewährung im Militärdienst verbunden war, das aber vielfach einer sach­ lichen Legitimation entbehrte«.98 Die »Herrschaft der Sozial­demokratie« vor allem in der Krankenversicherung wurde daher von gegne­rischen Stimmen auf politischer Ebene, aber auch vom bürgerlichen Ärztestand wiederholt beklagt.99 Wie Florian Tennstedt errechnet hat, verfügte die Arbeiterschaft vor dem Ersten Weltkrieg bei den Ortskrankenkassen über einen sozialdemokratischfreige­werk­schaftlich kontrollierten Pool von etwa 3.000 bis 5.000 Stellen.100 Das war zwar nicht überwältigend viel, bot aber doch eine recht reale Aufstiegschance außerhalb der eigentlichen Gewerkschafts- und Parteibürokratie. Im Weimarer Wohlfahrtsstaat vergrößerte sich die Zahl der der Arbeiterbewegung zugängigen Stellen. Eduard Heimann sprach schon 1929 von der »Aufstiegsmöglichkeit für Zehntausende von Menschen aus der Arbeiterschaft in die 97 Die Versicherten und ihre Arbeitgeber waren im Maße ihrer Beitragsanteile mit der Führung der Versicherungsgeschäfte betraut worden. In den Berufsgenossenschaften blieben die Arbeitgeber damit unter sich. Die Vorstände der Landesversicherungsanstalten waren wegen des Reichszuschuss zu einem Teil mit ernannten Staatsbeamten und zu weiteren gleichen Teilen mit gewählten, ehrenamtlichen Vertretern der Versicherten und der Arbeitgeber besetzt. Die Krankenkassen dagegen wurden ohne staatliche Mitwirkung von Wahlgremien verwaltet, in denen die Versichertenvertreter eine Zweidrittelmehrheit hatten. Vgl. Hentschel, Geschichte S. 16 f. Vgl. auch Tennstedt, Selbstverwaltung, S. 23–66. 98 Tennstedt, Vom Proleten, S. 443 f. Vgl. dazu auch Sturm, S. 255 ff. 99 Vgl. Tennstedt, Vom Proleten, S. 432 ff. 100 Ebd., S. 430 f. Vgl. auch ders., Sozialgeschichte, S. 233 f.

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Selbstverwaltungsbürokratie der Sozialversicherung«.101 Zugleich, so Heimann weiter, habe sich hier eine »breite Gelegenheit zur Ausbildung administrativer Talente und zur geschäftlichen Schulung« geboten.102 Der Wechsel von der Arbeitertätigkeit zu einer Beschäftigung als Angestellter oder Beamter in der sozialen Verwaltung war für die betreffenden Arbeiter nicht nur ein beruflicher, sondern zugleich auch ein sozialer Aufstieg. Die Angestelltentätigkeiten genossen ein höheres Ansehen, was mit der Sauberkeit der Arbeit und der gepflegteren Arbeitsumgebung zu tun hatte (»white collar-workers«) wie auch mit der Vorstellung von größerer Autonomie und Arbeitsplatzstabilität. Insgesamt unterschieden sich die Angestellten gar nicht so sehr durch ihre sozialökonomische Lage von der Arbeiterschaft, sondern vielmehr durch ihr soziales Bewusstsein, ihr Auftreten und durch die Art ihrer Lebensgestaltung. Sie orientierten sich bewusst am Vorbild des gehobenen bürgerlichen Lebensstils, bevorzugten kleinbürgerliche Wohnquartiere und folgten einem eigenen Freizeit- und Konsumverhalten. Entsprechend ihrer Selbständigkeitsvorstellung sahen sie sich als Mitglieder einer eigenständigen, berufs­gruppenübergreifenden Schicht (»neuer Mittelstand«), die sich von der Masse der Lohnempfänger absetzte.103 Das mit dem Angestelltendasein verbundene höhere soziale Prestige war daher mitbestimmend für das Interesse an den Angestelltenberufen. Inwiefern auch Arbeiterinnen über die Gewerkschaften der Aufstieg in Selbstverwaltungskörperschaften und damit in die Sozialverwaltung ermöglicht wurde, ist bisher noch nicht erforscht worden. Der enge Entstehungszusammenhang von weiblicher Sozialarbeit und bürgerlicher Frauenbewegung lässt jedoch vermuten, dass sich der berufliche Aufstieg durch den Wohlfahrtsstaat für die Arbeiterinnen schwieriger gestaltete. Sowohl die Gewerkschafts­ arbeit als auch die darüber vermittelten wohlfahrtsstaatlichen Berufe in der Sozialverwaltung blieben in der ersten Jahrhunderthälfte eine Männerdomäne. In der Zeit der NS-Diktatur änderten sich die Weichenstellungen. Mit der Zerschlagung der Gewerkschaften und der Entlassung von Sozialdemokraten aus ihren Ämtern auf der einen und der Abschaffung der Selbstverwaltungsstrukturen in der Sozialversicherung auf der anderen Seite wurde die bisherige Entwicklung in der Sozialverwaltung zunächst gestoppt.104 Zugleich boten sich jedoch andere Möglichkeiten des beruflichen Aufstiegs. So hatte die »Auf­blähung staatlicher und verbandlicher Bürokratien im ›Dritten Reich‹« zur Folge, dass auch Arbeitersöhne Positionen im Angestellten- und sogar Beamten­bereich erreichten, die sie zu einem gewissen Teil auch über den Zusammenbruch des NS-Regimes hinwegretten konnten.105 101 Heimann, S. 248. 102 Ebd. 103 Vgl. dazu auch Nolte, Ordnung, S. 114 f., 365 f.; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1914–1949, S. 303 f. 104 Vgl. dazu ausführlich Sachße u. Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 57 ff. 105 So Mooser, Arbeiterleben, S. 113.

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Die Ausdehnung des Wohlfahrtsstaats in den fünfziger bis siebziger Jahren brachte für die Arbeiter erneut eine signifikante Vermehrung der Chancen zum beruflichen Aufstieg. Der (Wieder-) Aufbau der öffentlichen Sozialverwaltung und wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen erfolgte, wie bereits erörtert, nach den Leitprinzipien und Organisationsstrukturen aus der Zeit vor 1933. Zentrale Bedeutung erlangten dabei diejenigen Fachleute und Verwaltungsexperten, die die Kontinuität der Weimarer Republik über die NS-Diktatur bis hin zur Bundes­ republik repräsentierten.106 Zu­gleich wurden in der wiedererrichteten Selbstverwaltung neue Stellen geschaffen, auf die die Arbeiterschaft vermittelt durch die Gewerkschaften mehr oder weniger direkten Zugriff hatte.107 Dabei wurde auch ein Teil der leitenden Stellen neu vergeben, denen nicht zuletzt im Hinblick auf Richtung und Ausmaß künftiger Reformpolitik erhebliches Gewicht beizumessen war. Insgesamt trug die Aufrechterhaltung des Bismarckschen Sozialversicherungssystems mit seinen unterschiedlichen Zweigen für Arbeiter und Angestellte in der Rentenversicherung und mit der traditionellen Zersplitterung des Krankenkassenwesens zu einem erhöhten Personalbedarf bei. Nach den Angaben der Wirtschaftsstatistik waren 1951 etwa 48.800 Personen in der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen beschäftigt. Diese Zahl stieg bis 1955 auf rund 55.600 an. Bereits 1957 betrug die Beschäftigtenzahl über 60.000.108 Dem Jahresbericht des Bundesarbeitsministeriums über die soziale Krankenversicherung von 1953 zufolge beschäftigten allein die Krankenkassen zur Durchführung der gesetzlichen Krankenversicherung und der ihnen außerdem übertragenen Aufgaben in der Verwaltung 34.000 Bedienstete.109 Auch in den sechziger und siebziger Jahren nahm das Personalvolumen bei den Sozialversicherungsträgern weiter zu. Nach der amtlichen Statistik waren dort 1963 rund 92.000 Personen tätig. Mit 174.400 beschäftigten Arbeitnehmern erreichte der personelle Ausbau in der Verwaltung der Sozialversicherung 1974 sodann seinen Höhepunkt. In den darauffolgenden Jahren gingen die Beschäftigtenzahlen wieder leicht zurück, verblieben jedoch mit einem Personalbestand von etwa 160.000 insgesamt auf einem hohen Niveau. Wie der Blick auf die Mobilitätsforschung zeigt, gelang in den fünfziger bis siebziger Jahren insbesondere den Söhnen von Facharbeitern und Meistern ein Einstieg in die mittleren Angestellten- und Beamtenpositionen.110 Hohe Mobilitätsbarrieren lagen für die Arbeitersöhne dagegen auch noch nach dem Zwei106 Vgl. Raphael, Experten, S. 242. 107 Vgl. Schulze; Fricke. – Das Selbstverwaltungsgesetz von 1951 legte für alle Wahlämter der Versicherungsbehörden das Paritätsprinzip fest. Zum »Kampf um die Selbstverwaltung« vgl. ausführlich Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 131 ff. 108 Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch. Beschäftigte nach Wirtschaftszweigen, Wirtschaftsabteilung »Öffentlicher Dienst u. Dienstleistungen im öffentlichen Interesse«, Unterabteilung »Sozialversicherung«. 109 Tradt, S. 872. 110 Vgl. Mooser, Arbeiterleben, S. 122 (Tab. 19); ders., Abschied, S. 172; Kaelble, Soziale Mobilität, S. 65 ff. Vgl. auch Janowitz, S. 13 f.

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ten Weltkrieg im Übergang zu den gehobenen und höheren Positionen der Angestellten und Beamten sowie zu allen Gruppen der Selbständigen und zu den freien Berufen. Insgesamt setzte sich damit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein schon im 19.  Jahrhundert zu beobachtendes Muster des inter­ generationellen Aufstiegs fort: ein stufenweiser Aufstieg innerhalb der Arbeiterschaft und von den höchsten Arbeiterpositionen ein Wechsel in nächstliegende Nicht-Arbeiterberufe.111 Zu diesen Nicht-Arbeiterberufen gehörte, so ist zu vermuten, neben den industriellen Büroberufen, auch die Beschäftigung im Sozialwesen und in der wachsenden Wohlfahrtsbürokratie. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwiefern die wohlfahrtsstaatlichen Beschäftigungseffekte den volkswirtschaftlichen Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft mit beeinflussten.112 Verließen die Arbeiter in der Industrie ihre Berufe um als Angestellte im Wohlfahrtsstaat tätig zu werden? Haben die Beschäftigungsmöglichkeiten im tertiären Bereich des Wohlfahrtsstaats die Beschäftigung im industriellen Sektor teilweise abgelöst oder verdrängt? Man kann hier erneut auf die von Offe angebotenen Erklärungsansätze für das Wachstum der Dienstleistungsarbeit zurückgreifen und sie auf den engeren Bereich der sozialen Verwaltungsdienstleistungen übertragen. Dann lässt sich entsprechend der zweiten und vierten Option argumentieren,113 dass ein Teil der (überschüssigen) Arbeitskräfte des sekundären Sektors – denen »der ›Rückweg‹ in den primären Sektor versperrt und der ›Ausweg‹ in den Status der wirtschaftlichen Selbständigkeit verlegt« war – in den tertiären Sektor der Verwaltungs- und sozialen Dienstleistungstätigkeit »überführt« wurde bzw. einen solchen Wechsel selbst aktiv herbeiführte.114 Wenngleich hierzu (noch) keine empirischen Befunde vorliegen, so lässt sich an dieser Stelle zumindest feststellen, dass sich die Chancen der Arbeiterschaft, ihren Arbeiterberuf aufzugeben und als Angestellte tätig zu werden, durch die Ausweitung von Verwaltungs- und Dienstleistungsberufen im sozialen Sektor erhöhten. Wie die Beschäftigtenzahlen zeigen, waren in bestimmten Bereichen des Wohlfahrtsstaats, wie dem Gesundheitswesen, Mitte der siebziger Jahre bereits mehr Personen beschäftigt als beispielsweise in der chemischen Industrie.115 Insgesamt spricht einiges für die Vermutung, dass der Ausbau tertiärer wohlfahrtsstaatlicher Beschäftigung und der Wandel der Erwerbsstruktur zwei zusammenhängende Prozesse waren. 111 Mooser, Arbeiterleben, S. 118. 112 Vgl. Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 302 ff. 113 Vgl. S. 316 f. 114 Offe, S. 305. 115 1974 waren nach der Wirtschaftsstatistik im Gesundheitswesen etwa 784.100 Arbeitnehmer beschäftigt, in der chemischen Industrie dagegen nur 651.200. Diese Zahlen entwickelten sich in der Folge immer weiter auseinander. 1980 arbeiteten im Gesundheitswesen schon rund 997.600, in der chemischen Industrie dagegen nur noch 616.700 Beschäftigte. Vgl. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch (Beschäftigte Arbeitnehmer nach Wirtschaftszweigen).

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Mit der beruflichen »Vermittelschichtung« der Arbeiter nach dem Zweiten Weltkrieg, so haben die Forschungen zur Arbeitergeschichte gezeigt, ging auch ein Wandel ihrer Lebensformen und Mentalitäten einher. Die Erscheinungsformen und Verhaltensweisen des proletarischen Milieus lösten sich allmählich auf. Es entstand eine neue »entproletarisierte« Arbeiterklasse, die sich sowohl von der Mittelschicht bürgerlicher Prägung als auch von der »alten Arbeiterklasse« unterschied. Die Veränderungen führten, wie Josef Mooser hervorgehoben hat, zwar nicht zu einer »Verbürgerlichung« der Arbeiterschaft, wohl aber nahm der »gesellschaftliche Bedeutungsgehalt der Klassenzugehörigkeit« ab.116 Die Arbeiter selbst betrachteten sich immer häufiger als Teil der »Mittelschicht«.117 Dieses »Streben zur Mitte«118 war eng mit den Erfahrungen des eigenen beruflichen und sozialen Fortkommens verbunden. Insgesamt lässt sich feststellen, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine Transformation der Arbeiterklasse vollzog, die mit der wohlfahrtsstaatlichen Expansion nicht nur zeitlich parallel verlief, sondern unmittelbar mit ihr in Beziehung stand: durch die Bereitstellung von Leistungen auf der einen und durch die Möglichkeit des beruflichen Aufstiegs auf der anderen Seite.

4. Der öffentliche Dienst als Aufstiegsmotor und Gesellschaftsgestalter Die Ausweitung der wohlfahrtsstaatlichen Beschäftigung seit Ende des 19. Jahrhunderts war eng verbunden mit einem Ausbau der öffentlichen Verwaltung und damit auch des öffentlichen Dienstes. Der größte Teil des wohlfahrtsstaat­ lichen Personals übte seine Tätigkeit stets als Beamter, Angestellter oder auch Arbeiter im öffentlichen Dienst aus. Die fünfziger bis siebziger Jahre stellten eine bedeutende Ausbauperiode des öffentlichen Dienstes dar.119 Die Organisation und Gestaltung der Erwerbsarbeit im öffentlichen Dienst prägten die Arbeitswelt der Nachkriegsjahrzehnte und hatten darüber hinaus Auswirkungen auf die Dynamik der Schichtenbildung und die Entwicklung sozialer Ungleichheit. Ralf Dahrendorf benutzte Mitte der sechziger Jahre den Begriff der »Dienstklassen« und bezeichnete damit »jenen Teil des neuen Mit116 Mooser, Arbeiterleben, S. 225; ders., Auflösung, S. 305; ders., Abschied, S. 186. Vgl. auch Goldthrope u. a., Der wohlhabende Arbeiter, S. 126 ff. Dazu auch Nolte, Ordnung. 117 Mooser, Arbeiterleben, S. 227. Vgl. auch Janowitz, S. 28 ff.; Daheim, S. 251 ff. 118 Nolte, Ordnung, S. 318. 119 Die historische Entwicklung des öffentlichen Dienstes, dessen Organisation und Aufgaben, Professionalisierung und Verrechtlichung beleuchten aus unterschiedlicher Perspektive die Arbeiten von Renate Mayntz zur »Soziologie der öffentlichen Verwaltung«, von Eckart Sturm zur »Entwicklung des öffentlichen Dienstes in Deutschland« oder von Josef Isensee zur staatsrechtlichen Begründung des öffentlichen Dienstes. Zur Geschichte der Verwaltung bzw. Bürokratie vgl. auch Fenske, Bürokratie; Wunder.

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telstands, der kraft beruflicher Stellung im eigentlichen Sinne bürokratisch tätig ist, also insbesondere nicht-tech­nische Beamte und Verwaltungsangestellte aller Ränge«.120 Das besondere Kennzeichen der Dienstklassen sei, so Dahrendorf, dass sie »einen zwar zuweilen bis zur Unkenntlichkeit geringen, aber darum nicht minder selbstbewusst zur Schau getragenen Anteil an der Ausübung von Herrschaft« hätten. Ihre bürokratische Aufsteigermentalität habe sich in der modernen deutschen Gesellschaft spürbar in alle anderen Schichten vermittelt.121 Im vorliegenden Kontext stellt sich die Frage, inwiefern die Expansion des öffentlichen Dienstes die Veränderungen in der sozialen Mitte der Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg beeinflusst und forciert hat. Auf der Basis der bisherigen Untersuchung lässt sich vermuten, dass gerade die unteren und mittleren Positionen im öffentlichen Dienst Aufstiegskanäle in die Mittelschichten darstellten. Zugleich hielt der gehobene und höhere Staatsdienst aber auch attrak­tive Stellen für die traditionell staatsnahen bildungsbürgerlichen Schichten, und damit für die gehobenen Mittelschichten, bereit. Lässt sich die Geschichte des öffentlichen Dienstes in der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts somit auch als Geschichte des Aufstiegs der Mittelschichten schreiben? Einiges deutet darauf hin, im öffentlichen Dienst insgesamt einen wichtigen Kristallisationspunkt der Sozial- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik zu sehen. Doch was ist überhaupt der öffentliche Dienst? Nach formellen, juristischen Kriterien ist der öffentliche Dienst die Beschäftigung im Dienste einer juristischen Person des öffentlichen Rechts.122 Grenzt man den Begriff des »öffentlichen Dienstes« nach funktionalen Kriterien ab, so lässt sich darunter die gesamte Tätigkeit im öffentlichen Interesse, für die Allgemeinheit, zur Erfüllung von Staatsaufgaben verstehen.123 Der öffentliche Dienst umfasst damit mehr als die reine staatliche Verwaltung oder »Bürokratie«; unterschieden werden kann zwischen dem unmittelbaren und mittelbaren Dienst. Zum unmittelbaren öffentlichen Dienst zählen vor allem die Beamte und Angestellten in der Staats-, Länder- und Kommunalverwaltung. Demgegenüber sind die Beschäftigten bei den Einrichtungen der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Unfallversicherung sowie in der Arbeitsverwaltung dem mittelbaren öffentlichen

120 Dahrendorf, Gesellschaft, S. 106. 121 Ebd., S. 106 ff. – Die klassische Definition der Dienstklassen findet sich in der Schrift »Die Wandlungen der modernen Gesellschaft« des österreichischen Sozialdemokraten Karl Renner von 1953. Die Dienstklassen seien, so Renner, keine Lohnarbeiter mehr, »sie erzeugen nicht, sondern disponieren über erzeugte Werte«. Zudem würden sie nicht mehr entlohnt, sondern besoldet. Renner, S. 211 ff. In den 1980er Jahren verwendete der britische Soziologe John Goldthrope den Begriff in erweiterter Form ebenfalls für sein Klassenmodell. Vgl. Goldthrope, Social Mobility. 122 D. h. des Bundes, eines Landes, einer Gemeinde sowie jeder sonstigen Körperschaft, Anstalt oder Stiftung öffentlichen Rechts. 123 Vgl. Jung, S. 27 f.

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Dienst zu­zuordnen.124 Weiter gehören alle diejenigen zum mittelbaren öffentlichen Dienst, die in den staatlich organisierten Teilen des Sorge-, Erziehungsund Gesundheitsbereichs tätig sind.125 Der öffentliche Dienst vereinigt somit Ausbildungs-, semiprofessionelle und akademische Berufe.126 Schon der Industrialisierungsprozess in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und mit ihm der Ausbau von Verkehrswegen, die sprunghafte Urbanisierung, daneben die Errichtung kommunaler Versorgungsbetriebe sowie Ausbau und Differenzierung des Bildungswesens zogen eine beträchtliche Ausweitung des öffentlichen Dienstes nach sich. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, im Übergang von der Ordnungs- zur Eingriffs- und Leistungsverwaltung, zählte der öffentliche Dienst bereits zwischen 1,05 (1895) und 1,62 (1907) Mil­ lionen Menschen.127 Das waren etwa 4,3 bzw. 5,1  Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung. Von der Weimarer Republik bis zur Bundesrepublik nahm die Beschäftigung im öffentlichen Dienst weiter zu. 1925 lag die Zahl der Angehörigen des öffentlichen Dienstes bereits bei etwa 2,86 Millionen und damit bei etwa 9 Prozent der Erwerbsbevölkerung.128 In den dreißiger Jahren überschritt die Beschäftigtenzahl, infolge des erheblichen Ausbaus der staatlichen und verbandlichen Bürokratie, die Drei-Millio­nen-Grenze.129 Obwohl die gravierenden Veränderungen des Gebiets- und Bevölkerungsstandes nach dem Zweiten Weltkrieg den Zeitvergleich von der Weimarer Republik bis zur Bundesrepublik erschweren, zeigen die verfügbaren Zahlen, dass sich  – von zeitlichen Schwankungen abgesehen – über die ganze Periode der Umfang der öffentlichen Verwaltung in Relation zur Bevölkerung vergrößerte.130 In den Nachkriegsjahrzehnten nahm die Zahl der Angehörigen des öffent­ lichen Dienstes von 2,1 Millionen im Jahre 1950 auf 3,0 Millionen im Jahre 1960 bis weiter auf 4,4 Millionen im Jahre 1980 zu. Waren 1950 bereits 10,8 Prozent der Erwerbstätigen im öffentlichen Dienst beschäftigt, so stieg die quantita124 Daneben gehören auch die Mitarbeiter unselbständiger Wirtschaftsunternehmen von Gebietskörperschaften sowie von Post und Bahn zum unmittelbaren öffentlichen Dienst. Vgl. Ellwein u. Zoll, Berufsbeamtentum, S. 100 f. 125 Vgl. ebd., S. 131 f. 126 Vgl. Vogel, S. 122; Mayntz, S. 135 ff. 127 Ohne Militär. Vgl. Mayntz, S. 50 (Tab. 3.1). Vgl. auch Cullity, S., 202 f.; Wunder, S. 72. – Die quantitativen Angaben zur Personalentwicklung im öffentlichen Dienst werden durch methodische und statistische Probleme, wie die Nichtvergleichbarkeit der statistischen Er­ hebungskategorien im Zeitverlauf, fehlende Regelmäßigkeit sowie Unklarheiten bei der Bestimmung des Begriffs »öffentlicher Dienst«, insgesamt erschwert. Aus diesem Grund finden sich auch in der Literatur, je nach Berechnungsbasis, unterschiedliche Angaben. Vgl. dazu auch Ellwein u. Zoll, Berufsbeamtentum, S. 96 ff. 128 Ohne Militär. Vgl. Mayntz, S. 50 (Tab. 3.1). 129 Vgl. Zahlen bei Cullity, S. 202. 130 Mayntz, S. 51. – Wie Sturm berechnet hat, kamen 1913 erst 10,6, 1930 sodann 14,9 und 1960 21,6 Verwaltungsbeamte und -angestellte auf jeweils 1.000 Einwohner. Vgl. Sturm, S. 9.

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tive Relevanz dieses Sektors in den folgenden Jahrzehnten weiter über 11,4 Prozent (1960) und 13,4 Prozent (1970) auf 16,8 Prozent (1980) an.131 Unmittelbar nach der deutschen Wiedervereinigung 1992 erreichte der öffentliche Dienst mit 6,7 Millionen Angehörigen (= 17,3 Prozent der Erwerbstätigen) seinen bisher größten Umfang.132 Der strukturelle Hintergrund des ausgeprägten personellen Wachstums von den fünfziger bis in die achtziger bzw. neunziger Jahre war der Funktionswandel bzw. die kontinuierliche Funktionserweiterung des Staates. Die öffentliche Verwaltung wurde für immer weitere Bereiche der Lebensgestaltung in die Pflicht genommen. Schwerpunkte des zusätzlichen Personaleinsatzes lagen insbesondere in den Bereichen Bildung und Wissenschaft sowie soziale Sicherung und soziale Infrastruktur.133 In dem Maße wie das Anspruchsdenken in der Bevölkerung gegenüber dem Staat wuchs, waren die Angehörigen der Administration immer weniger als »Verwalter« denn als »Dienstleister« tätig.134 Seit Mitte der neunziger Jahre ist die Beschäftigung im öffentlichen Sektor dagegen rückläufig.135 Privatisierung früher staatlicher Funktionen bzw. Unternehmen auf der einen, die Expansion der Dienstleistungsökonomie auf der anderen Seite sowie die Diskussion um den »schlanken Staat« haben den Wachstumstrend in den letzten Jahren umgekehrt. Dennoch ist an der quantitativen Bedeutung dieses Beschäftigungssektors weiterhin nicht zu zweifeln.136 Obwohl die Beamten seit dem 19.  Jahrhundert die quantitativ wichtigste, aber auch die sichtbarste Gruppe unter den öffentlich Beschäftigten waren, wurden von Anfang an auch Arbeiter mit Hilfe von Dienstverträgen in der öffentlichen Verwaltung beschäftigt. Die Angestellten tauchten dagegen erst nach der Jahrhundertwende in größerer Zahl auf. Sie sind somit die historisch jüngste Statusgruppe im deutschen öffentlichen Dienst. Seit den zwanziger Jahren ist ihr Anteil aber beständig gewachsen. Betrug der Anteil der Angestellten in der öffentlichen Verwaltung137 1927 noch 13,5  Prozent, so erreichte er 1950 sei-

131 Vgl. Vogel, S. 122; Geißler, Sozialstruktur, S. 175 (Abb. 8.3). Vgl. auch Fenske, Verwaltungskunst. 132 Vgl. Statistisches Bundesamt u. a., Datenreport 2008, S. 106, 111. 133 Mitte 2006 waren 21 Prozent der Beschäftigten im öffentlichen Dienst bei den allgemein bildenden und beruflichen Schulen, 8 Prozent im Bereich Hochschule und 15 Prozent im Bereich der sozialen Sicherheit tätig. Vgl. Geißler, Sozialstruktur, S. 174 f. Vgl. auch Statistisches Bundesamt u. a., Datenreport 2008, S. 107. 134 Vgl. Fenske, Verwaltungskunst. 135 2006 betrug die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst 4,6 Millionen. Vgl. Statistisches Bundesamt u. a., Datenreport 2008, S. 106 f. (Abb. 9). 136 Nach wie vor ist der öffentliche Dienst mit einem Anteil von etwa 12 Prozent der Beschäftigten der größte Arbeitgeber in der Bundesrepublik. Vgl. Statistisches Bundesamt u. a., Datenreport 2008, S. 106 f., 111. Vgl. auch Vogel, S. 123, der allerdings von einem Anteil von 15 Prozent an der Gesamtbeschäftigtenzahl ausgeht. 137 Unmittelbarer öffentlicher Dienst ohne Bahn und Post und unselbständige Wirtschaftsunternehmen.

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nen Höchststand mit 40,1 Prozent. Danach nahm der Angestelltenanteil wieder leicht ab und lag 1967 bei 36,9 Prozent. Gleichzeitig sank derjenige der Beamten von 66,7 Prozent (1927) auf 39,9 (1950) bzw. 42,4 Prozent (1967). Der Anteil der Arbeiter lag dagegen sowohl 1927 wie auch 1967 bei rund einem Fünftel und blieb damit nahezu konstant.138 Wenngleich sich die Stellung der Angestellten im öffentlichen Dienst von der der Beamten schon immer unterschied – durch fehlende Gewähr einer Beschäftigung auf Lebenszeit, Alterssicherung durch Rente statt durch Beamtenpension und Rekrutierung für bestimmte Dienstposten statt für Laufbahnen –, so war ihre berufliche Position seit jeher mit einer vergleichsweise großen Arbeitsplatzund Statussicherheit verbunden. Die Abstiegsrisiken bei der Beschäftigung im staatlichen Sektor waren stets gering, weiter kennzeichneten die Planbarkeit von Berufswegen und die Garantie eines bestimmten (mittleren) Niveaus der Lebensführung die Angestelltentätigkeit im öffentlichen Dienst.139 Im Kontext des hier skizzierten Untersuchungsfeldes über die »wohlfahrtsstaatlichen Beschäftigungseffekte stellt sich die Frage, welche Gruppen der Gesellschaft in besonderer Weise von der Expansion des öffentlichen Dienstes profitieren konnten. Welche Auswirkungen hatte die Entwicklung auf die Sozial­struktur? Lässt sich von einem universalen, die gesamte Gesellschaft erfassenden »Upgradingeffekt« sprechen140 oder dominierten selektive Effekte? Wie die empirischen Analysen der Soziologen Hans-Peter Blossfeld und Rolf Becker zeigen, lassen sich für die zweite Hälfte des 20.  Jahrhunderts spezifische Generationen-, Bildungs- und Geschlechtereffekte beobachten.141 So ergab die von Blossfeld und Becker Ende der achtziger Jahre durchgeführte Untersuchung über die Berufsverläufe aufeinanderfolgender Kohorten, dass der Anteil der Berufsanfänger, die nach dem Krieg im staatlichen Sektor Beschäftigung fanden, von 12,7 Prozent bei der Kohorte der zwischen 1929 und 1931 Geborenen auf 15 Prozent der Kohorte der zwischen 1939 und 1941 Geborenen stieg. Ein weiterer Anstieg auf 24,1 Prozent war für die Kohorte der zwischen 1949 und 1951 Geborenen zu verzeichnen.142 Daraus lässt sich schlussfolgern, dass besonders die Generation der um 1950 Geborenen von der Ausdehnung des öf138 Zahlen nach Jung, S. 49 f. Vgl. auch Ellwein u. Zoll, Berufsbeamtentum, S. 104; Geißler, Sozialstruktur, S. 174 f. – Nach 1945 hing die Tendenz, bevorzugt Angestellte in den öffentlichen Dienst aufzunehmen, einerseits mit der politischen Belastung mancher Beamter, andererseits aber mit politisch-ideologisch begründeten Versuchen zur Abschaffung des besonderen Beamtenstatus zusammen. Vgl. dazu auch Wunder, S. 149 ff.; Ellwein u. Zoll, Berufsbeamtentum, S. 214 ff. 139 Zu den unterschiedlichen Berufsverläufen im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft vgl. die empirischen Studien von Becker, Arbeitsmärkte; ders., Staatsexpansion. Zur internen Mobilität im öffentlichen Dienst vgl. Mayntz, S. 163 ff.; Luhmann u. Mayntz, S. 133 ff. 140 Vogel, S. 149. 141 Blossfeld u. Becker. Zum Folgenden auch Vogel, S. 149 ff. 142 Vogel, S. 239.

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fentlichen Dienstes profitieren konnte.143 Wie die Ergebnisse von Blossfeld und Becker weiter erkennen lassen, stieg der Beschäftigtenanteil von Berufsanfängern mit Volksschulabschluss zwischen den Kohorten nur gering an (4,3 Prozent). Da­gegen konnten die Absolventen mit mittlerer Reife einen Zuwachs von 9,1  Prozent verzeichnen. Die eigentlichen Profiteure staatlicher Beschäftigungsexpansion aber waren die Hochschulabsolventen, die mit 30,1 Prozent den größten Zuwachs beim Berufseinstieg in den öffentlichen Sektor erreichten.144 Der berufliche und statusbezogene Ertrag aus der Staatsexpansion war somit umso größer, je höher der Schulabschluss war. Arbeitgeber und Arbeitsort Staat wurden, wie Berthold Vogel hervorgehoben hat, seit Ende der sechziger Jahre zu einem »Sammelbecken der Akademikerbeschäftigung«.145 Hierbei ergibt sich auch eine Verknüpfung mit den Wirkungen der Bildungsexpansion seit den späten sechziger Jahren. So wurde »ein großer Teil des vom Bildungssystem erzeugten höheren Angebots« an qualifiziertem Arbeitskräftepotential »vom Staat selbst wieder konsumiert«.146 Insgesamt ist festzustellen, dass die schrittweise Ausdehnung der höheren Schulen und Hochschulen und die Expansion des öffentlichen Sektors eng miteinander verbunden waren.147 Diese Beobachtung gilt indes nicht nur für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Wie Bernd Wunder gezeigt hat, ermöglichte die Verbreiterung des Bildungswesens den »Söhnen der Mittelschichten« schon im 19. Jahrhundert die »Anstellung im Staatsdienst«.148 Doch verhieß die Beschäftigung beim Staat auch einen sozialen Aufstieg? Verließen alle diejenigen, die in der Expansionsphase der fünfziger bis siebziger Jahre in den öffentlichen Dienst einrückten, häufiger als andere ihr soziales und berufliches Herkunftsmilieu?149 Die durchgeführten Kohortenanalysen zur »intergenerationalen Mobilität« legen hier eine positive Antwort nahe.150 »Offensichtlich«, so schlussfolgert Berthold Vogel, »entwickelte sich der öffentliche Dienst über die Geburtskohorten 1929–1931, 1939–1941 und 1949–1951 143 Vgl. ebd., S. 149 f. 144 Blossfeld u. Becker, S. 240. 145 Vogel, S. 150. 146 Blossfeld u. Becker, S. 242. Vgl. auch Vogel, S. 150 f. 147 Dieser Zusammenhang ist insbesondere von Burkhart Lutz in seinen Analysen zur historischen Entwicklung von Arbeitsmärkten und Beschäftigungsformen betont worden. Vgl. Lutz, Interdependenz; ders., Traum. 148 Zumindest in Süddeutschland ermöglichte das Bildungssystem den Söhnen der Mittelschichten den Aufstieg in den höheren Staatsdienst. In Bayern ergab sich ein Aufstieg aus den Mittelschichten – nichtakademisch geprüfte Beamte, Gastwirte, Handwerker –, der zwischen 30 und 40 Prozent lag, wohingegen er im preußischen Westfalen bis 1900 nur 10 Prozent ausmachte. Dementsprechend stellten in Preußen die Oberschichten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts etwa 90 Prozent, in Bayern nur 60 Prozent der höheren Beamten. Darüber hinaus rekrutierten sich auch Theologen und Gymnasiallehrer aus den Mittelschichten und waren damit Aufstiegsberufe. Vgl. Wunder, S. 80 f. 149 Vgl. Vogel, S. 152. 150 Vgl. Becker, Intergenerationale Moblität, S. 615.

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hinweg zur sozialen und beruflichen Aufstiegsleiter für diejenigen, deren Herkunftsmilieu nicht im Bereich der Semiprofessionen oder der akademischen Berufe lag«.151 In besonderer Weise profitierten auch hier wieder Berufsanfänger. Deren Einstieg in den Sektor der öffentlichen Beschäftigung bildete zugleich den Auftakt zu einer beruflichen und sozialen Aufstiegskarriere.152 Und noch ein weiterer Befund muss in diesem Zusammenhang Erwähnung finden: Die Expansion staatlicher Beschäftigung war insgesamt auch eine Expansion zugunsten junger und gut ausgebildeter Frauen. Während Frauen im (unmittelbaren) öffentlichen Verwaltungsdienst, gemessen an der allgemeinen weiblichen Erwerbsquote, lange Zeit unterrepräsentiert waren, hat sich ihr Anteil seit 1950 bedeutend vergrößert. Er stieg von rund einem Fünftel der Vollbeschäftigten in der öffentlichen Verwaltung im Jahre 1950 auf ein Drittel im Jahre 1969. Bei den Beamten stieg der Frauenanteil am kräftigsten. In der Hauptsache waren und blieben die Frauen im öffentlichen Dienst aber Angestellte. Hier lag ihr Anteil 1969 bei über 50 Prozent.153 Insgesamt gelang es den Frauen, sich im Verlauf der fünfziger bis siebziger Jahre dauerhaft in den Arbeitsmärkten des öffentlichen Dienstes zu etablieren. Seit 1960 wuchs ihr Anteil vor allem auch im höheren und gehobenen Dienst.154 An den skizzierten Effekten lassen sich zwei zentrale Trends in der Entwicklung der öffentlichen Beschäftigung in der Hochphase der Wohlstands­ expansion der fünfziger bis siebziger Jahre aufzeigen:155 Erstens gewann der öffentliche Dienst als berufliche und soziale »Aufstiegsleiter« für Frauen und für Männer an Bedeutung. Zweitens wurde die Bindung zwischen dem System höherer Bildung und den leitenden Positionen im öffentlichen Dienst mit dem Zusammentreffen von Bildungs- und Staatsexpansion enger. Damit trug die Expansion des öffentlichen Sektors einerseits zur Auflösung bekannter Prinzipien sozialer Selektion bei, auf der anderen Seite vergrößerte sie jedoch bestimmte bestehende Unterschiede. Die »Dienstklassen« repräsentierten insofern beides: die Dynamik sozialer und beruflicher Aufstiege, wie auch die Stabilität sozialer Strukturen.156 Was das Verhältnis von öffentlichem Dienst und der Entwicklung der Mittelschichten nach dem Zweiten Weltkrieg betrifft, so lassen sich insgesamt drei Entwicklungen herausstellen: Die besondere Staatsnähe des Bildungsbürgertums blieb auch in der Zeit der Bundesrepublik erhalten. Zugleich ermöglichte aber der Ausbau des Bildungssystems auch den Söhnen und Töchtern der nichtakademischen Mittelschichten zunehmend den Aufstieg in den höheren Staats151 Vogel, S. 152. 152 Ebd. 153 Zahlen nach Ellwein u. Zoll, Entwicklung, S.  234 (Tab. 7); dies., Berufsbeamtentum, S. 120 f. (Tab. 18 u. 19); Vgl. auch Mayntz, S. 156. 154 Zu diesem Prozess der »Feminisierung« des öffentlichen Dienstes vgl. auch Vogel, S. 153 ff. 155 Vgl. ebd., S. 155 f. 156 Vgl. ebd., S. 129.

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dienst. Schließlich stellten die unteren und mittleren Positionen im öffentlichen Dienst Aufstiegskanäle in die Mittelschichten bereit. Selbst bei relativ geringer Qualifikation und verhältnismäßig niedrigem Verdienst sorgten die Unkündbarkeit der Stellung, garantiertes Einkommen und Altersversorgung für typische Sekuritätsmerkmale der mittleren Schichten. Viel spricht daher für die These, dass die Ausdehnung der öffentlichen Beschäftigung die »Vermittelschichtung« der Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg mit bedingt und vorangetrieben hat. Expansion des öffentlichen Dienstes und Expansion der Mittelschichten gingen Hand in Hand. Darüber hinaus bewirkte die »etatistische« und oft marktferne politische Kultur in der Bundesrepublik, dass die »StaatsMittel­schichten« nicht nur über ein zahlenmäßiges, sondern auch über ein kulturelles Gewicht verfügten. Diese Aspekte und Zusammenhänge gilt es durch weitere Forschungen zu ergänzen und zu vertiefen.

5. Zusammenfassung: Die Mittelschichten als »Dienstleistungserbringer« Die vorangegangenen Analysen haben unterschiedliche Aspekte beleuchtet, die auf die Bedeutung des Wohlfahrtsstaats als Beschäftigungsfeld und berufliche Aufstiegsleiter hinweisen. Der Aufstieg und die Expansion der Mittelschichten nach dem Zweiten Weltkrieg hingen, diese Vermutung hat sich durch die Analysen bestätigt, mit der »Verberuflichung« sozialer Arbeit und der Entstehung neuer Verwaltungstätigkeiten im Wohlfahrtsstaat eng zusammen. Die Kollektivierung wohlfahrtsstaatlicher Einrichtungen im Gesundheits-, Bildungs- und Versicherungswesen ließ neue Beschäftigungsfelder und damit Berufs- und Karriereperspektiven für breite Kreise der Bevölkerung entstehen. Ein wachsender Teil der Mittelschichten war seit den fünfziger Jahren als Verwalter, Betreuer oder Heiler sozialer Risiken und wohlfahrtsstaatlicher Ansprüche tätig. Dabei gelang auch einer wachsenden Zahl von Angehörigen der Arbeiterklasse der Aufstieg in die mittleren Sozial- und Verwaltungsberufe. Insgesamt entwickelten sich die sozialen und sozialpädagogischen Berufe ebenso wie die Angestelltentätigkeit in der öffentlichen Verwaltung zu attraktiven »Mittelschichtberufen«, mit denen sich zugleich ein bestimmtes soziales Prestige verband. Waren die sozialen Berufe bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts noch relativ gering entlohnt, so sorgten die zunehmende Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der Sozialarbeit in den sechziger und siebziger Jahren auch hier für eine Aufwertung. Der eigentliche »Boom« der sozialpflegerischen Berufe setzte allerdings erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts mit der Ausdifferenzierung pädagogischer und sozialpsychiatrischer Dienstleistungen ein. Neben den öffentlichen Einrichtungen entwickelte sich auch die freie Wohlfahrtspflege zu einem bedeutenden Träger von sozialer Berufsarbeit. Insbesondere die kirchlichen Wohlfahrtsverbände bauten ihren Personalbestand seit den 329 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370278 — ISBN E-Book: 9783647370279

fünfziger Jahren kontinuierlich weiter aus und übertrafen Ende der achtziger Jahre mit ihren Beschäftigtenzahlen führende Großbetriebe in der Industrie.157 Mit der Entwicklung der sozialen Berufsarbeit stand die Expansion des öffentlichen Dienstes in enger Verbindung. Die Mehrzahl der wohlfahrtsstaat­ lichen Beschäftigten übte ihre Tätigkeit als Beamter oder Angestellter im öffentlichen Dienst aus. Der öffentliche Dienst war in den Nachkriegsjahrzehnten in besonderer Weise ein Symbol für beruflichen Aufstieg, soziale Statusbildung und materielle Sicherheit. Die dortigen Berufs- und Karrierewege galten bildungswilligen und mobilitätsbereiten Frauen und Männern in den mittleren sozialen Schichten, aber auch den oberen Arbeiterschichten als erstrebenswert. Insgesamt bildeten die »Daseinsvorsorger«, »Infrastrukturgewährleister« und »Wohlfahrtsdienstleister« in der sozialen und öffentlichen Verwaltung ein zentrales »Mittelklassemilieu« aus,158 das zumeist auf geordneten Berufslauf­ bahnen, moderater, aber sicherer Entlohnung und der Garantie bestimmter Chancen der Lebensführung beruhte. Obwohl in der bestehenden wohlfahrtsstaatlichen und sozialhistorischen Forschung die Funktion des Wohlfahrtsstaats als Beschäftigungsfeld und berufliche Aufstiegsleiter durchaus erkannt worden ist und in Ansätzen beschrieben wurde, fehlt es nach wie vor an tiefergehenden und aussagekräftigen Untersuchungen. Aufgabe und Ziel einer zukünftigen Forschung muss es vor allem sein, die strukturellen Effekte noch genauer zu erfassen und empirisch zu analysieren. Inwiefern bildete der wohlfahrtsstaatliche Beschäftigungssektor einen wichtigen Kristallisationspunkt der gesellschaftlichen Gleichheits- bzw. Ungleichheitsordnung? Welche strukturellen Voraussetzungen hat der Wohlfahrtsstaat als Arbeitgeber für die Etablierung breiter Mittelschichten geschaffen? Welche Bedeutung hatte die wohlfahrtsstaatliche Beschäfti­gung für die Töchter und Söhne oberer, mittlerer und unterer sozialer Schichten? Besondere Aufmerksamkeit muss auch der Frage nach der Vereinheitlichung der mittleren sozialen Schichten gewidmet werden. Mit anderen Worten: Nahm im Rahmen der wohlfahrtsstaatlichen Beschäftigungsexpansion die Zahl der Sprossen auf der sozialen Stufenleiter ab oder zu? Die bisherigen Untersuchungen und Analysen legen den Schluss nahe, dass die Ausdehnung wohlfahrtsstaatlicher Beschäftigung eher mit einer Differenzierung sozialer und beruflicher Positionen einherging. Dennoch waren gleichzeitig auch tiefgreifende Prozesse sozialer Vereinheitlichung am Werk, wenn es den Angehörigen der (oberen) Arbeiterschichten gelang, in Angestelltenpositionen im Wohlfahrtsstaat vorzudringen. Die hier angesprochenen Wechselwirkungen zwischen wohlfahrtsstaat­licher Beschäftigung und Sozialstrukturentwicklung verdienen weitere Vertiefung. Dabei wäre auch ein vergleichender Blick auf die Entwicklung in anderen (west-) europäischen Wohlfahrtsstaaten aufschlussreich. Es lässt sich vermuten, dass sich die Verberuflichung und Professionalisierung der sozialen Arbeit 157 Zur Belegschaftsentwicklung z. B. bei Siemens seit 1945 vgl. Feldenkirchen, S. 361 f. 158 Vogel, S. 210.

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in ähnlicher Weise auch in anderen Ländern vollzog mit vergleichbaren Auswirkungen für die Mittelschichtenbildung. So hat beispielsweise in Frankreich allein der Bereich der »Politique Familiale« mit seinem vielfältigen Leistungsangebot zahlreiche Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen, darunter zehntausende von Arbeitsplätzen in der Kinderbetreuung und der Verwaltung der Familienkassen. Analog zur Bundesrepublik galt auch in Frankreich der öffentliche Dienst als Sprungbrett für den sozialen Aufstieg. Neben Gemeinsamkeiten wäre ein europäischer Vergleich aber auch geeignet, die Besonderheiten der deutschen Entwicklung aufzuzeigen, insbesondere die Verbindung zwischen Selbstverwaltung in der Sozialversicherung und Aufstieg der Arbeiterschaft. Wenn somit reichlich Forschungspotential vorhanden ist, lässt die vorangegangene Untersuchung für die Bundesrepublik bereits den Schluss zu, dass die Herausbildung umfangreicher und vielgestaltiger Mittelschichten nicht nur das Ergebnis wohlfahrtsstaatlicher Verteilungspolitik war, sondern erheblich auch durch den Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Beschäftigungsfelder und Tätigkeiten bedingt war. Mittelschichten waren in diesem Sinne nicht nur »Empfänger«, sondern auch »Erbringer« sozialer (Dienst-) Leistungen.

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Fazit: Kein Abschied vom Wohlfahrtsstaat der Mittelschichten?

Die fünfziger bis siebziger Jahre markieren in der Sozialgeschichte der Bundesrepublik eine außergewöhnliche Phase des Wachstums, des Wohlstands und des beschleunigten Wandels der Lebensbedingungen. In dieser Zeit, die häufig auch als »Boom« bezeichnet wird,1 vervielfachten sich die Realeinkommen, die Versorgung mit Bedarfs- und Haushaltsgütern verbesserte sich, der Wohnstandard stieg; in allen sozialen Schichten weiteten sich die konsumtiven Möglichkeiten beträchtlich aus. Das quantitative Verhältnis von »Oben«, »Mitte« und »Unten«, das sich vom Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts kaum gewandelt hatte, begann sich seit den fünfziger Jahren zu verschieben. Während zuvor eine sehr schmale Oberschicht einer Mittelschicht, die etwa ein Viertel, und einer Arbeiter- und Unterschicht, die ungefähr drei Viertel der Bevölkerung umfasste, gegenüber gestanden hatte,2 nahm nun der Anteil der Unterschichten ab. Immer mehr Menschen konnten sich, nicht nur subjektiv, zu den Mittelschichten zählen. Die ausgeprägten Unterschiede von »Klassenkulturen«, sofern sie auf einem spezifischen Lebensstil, auf Formen des Wohnens oder der materiellen Ausstattung des Haushalts beruht hatten, milderten sich ab. Wenngleich in den fünfziger Jahren von einer »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«, wie Helmut Schelsky sie vorausgesagt hatte, noch nicht die Rede sein konnte, gab es doch deutliche Anzeichen einer sozialen Vereinheitlichung und Entsegmentierung der Gesellschaft. Die »Abstände zwischen den einzelnen Stufen der gesellschaftlichen Hierarchie, besonders in ihrem mittleren Bereich«, verkürzten sich.3 Die »ehemals markante gesellschaftliche Außengrenze der Arbeiterschaft« wurde abgebaut; im Gegenzug vermehrten sich die unteren und mittleren Positionen im »neuen Mittelstand« der Angestellten und Beamten.4 Insgesamt formierten sich seit den fünfziger Jahren die Mittelschichten neu. Sie waren weniger nach unten und nach oben abgegrenzt. Zwar trat keine »Deklassierung« der bürgerlichen Gruppen ein, jedoch nahm die Konkurrenz quasi-ständischer Gruppen wie des Wirtschafts- und des Bildungsbürgertums, 1 Vgl. Kaelble, Boom. 2 Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1848–1914, S.  704–712; Geiger, Soziale Schichtung, S. 24, 72 f.; außerdem Nolte, Ordnung, S. 41, 220 f. 3 Mooser, Arbeiterleben, S. 126. 4 Ebd.

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des »alten« Mittelstands der Gewerbetreibenden und des »neuen« der Angestellten ab. Innerhalb der Wirtschaftssektoren und der sozialen Berufsgruppen verschoben sich ebenfalls die Gewichte. Der sekundäre und tertiäre Sektor dehnte sich zu Lasten des primären, landwirtschaftlichen Sektors aus. Der Anteil der Erwerbstätigen im industriellen Bereich stagnierte schließlich in den sechziger Jahren bei rund 48 Prozent und verzeichnete seit 1970 zuerst relativ, sodann aber auch absolut eine Abnahme. Der Dienstleistungssektor erlebte seit Anfang der fünfziger Jahre einen dramatischen Aufstieg und stellte ab Mitte der siebziger Jahre den größten Beschäftigtenanteil.5 Eine ähnliche Entwicklung ergab sich zwischen den unterschiedlichen Berufsgruppen. So wuchs der Anteil der Arbeiter zu Beginn der fünfziger Jahre noch einmal an, überschritt dann aber seinen Höhepunkt und ging seit dem Ende des Jahrzehnts zurück. Die Zahl der Selbständigen nahm seit den fünfziger Jahren kontinuierlich ab; hingegen war bei den Beamten und Angestellten eine stete hohe Zunahme zu verzeichnen.6 Seit Beginn der sechziger Jahre konnten die Arbeitnehmer ihren Anteil am Volkseinkommen insgesamt deutlich ausbauen. Allerdings musste sich eine immer größere Zahl abhängig Beschäftigter die steigende Lohnquote teilen. Der gesamte Zeitraum von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren war durch eine Steigerung der Durchschnittseinkommen und -löhne gekennzeichnet. Zwischen 1960 und 1968 erhöhten sich die Einkommen je Arbeitnehmer um 78 Prozent, je Selbständigen um 73 Prozent, so dass eine Annäherung der Zuwachsraten stattfand, wenn auch kein Abbau der absoluten Unterschiede.7 Das verweist deutlich auf den von Ulrich Beck beschriebenen Fahrstuhleffekt der sozialen Lagen: »[…] die ›Klassengesellschaft‹ wird insgesamt eine Etage höher gefahren. Es gibt – bei allen sich neu einpendelnden oder durchgehaltenen Ungleichheiten – ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum. In der Konsequenz werden subkulturelle Klassenidentitäten und -bindungen ausgedünnt oder aufgelöst«.8 Dieser in der sozialwissenschaftlichen und sozialhistorischen Forschung schon häufig beschriebene »Aufstieg der Mittelschichten« in der Bundesrepublik verlief zeitlich parallel mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaats. Die Ursachen und Wirkungen dieser beiden Prozesse hingen eng zusammen. Der Wohlfahrtsstaat gehörte zu den Kräften, welche die Mittelschichten im Nachkriegswestdeutschland der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre formten. Zugleich war die Ausgestaltung des Wohlfahrtsstaats eine Folge der sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen.

5 Vgl. Geißler, Sozialstruktur, S. 165. 6 Vgl. ebd., S. 167. 7 An der Einkommensrelation zwischen Abhängigen und Selbständigen von rund 1:3 des Jahres 1950 änderte sich in den sechziger Jahren wenig. Vgl. Abelshauser, Fünfziger Jahre, S. 52; ders., Wirtschaftsgeschichte, S. 342 f. Vgl. auch Lepsius, Sozialstruktur, S. 275. 8 Beck, Risikogesellschaft, S. 122.

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Noch in der Zeit der Weimarer Republik wurde der Ausbau des Wohlfahrtsstaats in erster Linie im Zusammenhang mit der »socialen Frage« diskutiert und war insofern kein Gegenstand von Mittelschichtpolitik. Das änderte sich nach dem Zweiten Weltkrieg. Anstelle der Unter- und Arbeiterschichten rückten die Mittelschichten als »breite Schichten des Volkes« in Westdeutschland in den Mittelpunkt wohlfahrtsstaatlicher Politik. Die prägenden Faktoren für den Wiederaufbau und die Expansion des Wohlfahrtsstaats nach 1945 bildeten die sozialen Verwerfungen der nationalsozialistischen Diktatur und der unmittelbaren Nachkriegszeit einerseits sowie der sich in den fünfziger Jahren aus­ breitende wirtschaftliche Wohlstand andererseits. Ein weiterer Faktor war die sozialpolitische Konkurrenzsituation mit der DDR. Die erste Etappe in der sozialstaatlichen Entwicklung der Bundesrepublik stellte das Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz des Frankfurter Wirtschaftsrates von 1948/49 dar. Dieses baute das alte Gefüge der Sozialversicherung wieder auf, nachdem ein Teil der wohlfahrtsstaatlichen Strukturen und Leistungen durch die Besatzungsmächte aufgelöst bzw. auf eine Notversorgung der Bevölkerung umgestellt worden war. Mit der »Restauration« der Bismarckschen Versicherungsstrukturen grenzten sich die Westzonen von den Reformen in der sowjetischen Einflusszone sowie vom Modell des britisch-skandinavischen »Welfare-States« ab. Die politischen Auseinandersetzungen über den Auf- und Ausbau des Wohlfahrtsstaats in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre waren eng mit den Nachkriegsverhältnissen und den vorherrschenden sozialen Wert- und Ordnungsvorstellungen verbunden. Während die SPD die Vereinheitlichung des Systems der sozialen Sicherung anstrebte, was die Stellung der unteren Schichten relativ verbessert hätte, betonten die bürgerlich-kon­­ser­vativen Parteien, dass die sozialen Leistungen nicht allein den Hilfsbedürftigen zugute kommen dürften: Da die alten gesellschaftlichen Schichtungen durch den Zweiten Weltkrieg vielfach entwertet worden seien, sei die allgemeine Not keine Armut im klassischen Sinne mehr, welche die Bedürftigen von den Wohlhabenden trenne. Auch »weite Schichten der Bevölkerung, die der Mittelklasse angehör[t]en« und die »hinter anderen Schichten zurückgeblieben« seien, bedürften der »Sorge des Staates«.9 In dieser Ansicht wurden die Unionsparteien durch führende Wissenschaftler wie Helmut Schelsky oder Gerhard Mackenroth bestärkt. Beide waren der Auffassung, dass sich in einer Gesellschaft wie der Bundesrepublik, »die ebenso wenig proletarisch wie bürgerlich« sei, eine schichtbezogene Sozialpolitik überlebt habe. Nicht die »Klasse«, sondern die »Familie«, so Mackenroth 1952, müsse zum Ausgangspunkt und Maßstab für sozialpolitische Maßnahmen gewählt werden und zwar »quer« durch alle Klassen und Schichten.10

9 Vgl. Regierungserklärung des Bundeskanzlers v. 20.9.1949 (Sten. Ber., Bd. 39, S. 17–26). 10 Vgl. Schelsky, Einfluss auf die Grundanschauungen, S. 287; Mackenroth, Reform der Sozialpolitik, S. 57.

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Die unterschiedlichen Positionen der Parteien schlugen sich in einer kontroversen Verbandspolitik nieder. Dabei unterstützten die Gewerkschaften des 1949 gegründeten Deutschen Gewerkschaftsbundes traditionell die sozialdemokratischen Reformvorschläge, während die Wirtschaftsverbände – und im Falle der Rentenpolitik auch die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft  – ein enges Verhältnis zur CDU pflegten. Die Spitzen von BDA und BDI verfügten zudem über einen guten Draht ins Kanzleramt. Obwohl die CDU zu Anfang der fünfziger Jahre beabsichtigte, das Sozialversicherungsrecht lediglich zu systematisieren und zu vereinfachen, konnte sie sich angesichts der schlechten sozialen Lage der Rentner nach dem Krieg einer Debatte über die Erhöhung der Altersrenten nicht entziehen. Nach mehreren Einzelgesetzen nahm die Regierung in der Mitte der zweiten Legislaturperiode eine umfassende Rentenreform in Angriff. Dabei achteten die Unionsparteien auf eine möglichst strenge Einhaltung des Versicherungsprinzips. Der im April 1956 von der Regierung vorgelegte »Grundentwurf« zur Reform der sozialen Rentenversicherung beseitigte die beitragsunabhängigen Rentenbestandteile und sorgte für eine strengere Äquivalenz von Beitragszahlungen und Rentenhöhe. Das stärkte grundsätzlich die Position der Besserverdienenden und dauerhaft Erwerbstätigen: Wer lange gearbeitet und gut verdient hatte, der sollte sich in Zukunft um seine Rente keine Sorgen machen müssen. »Kernstück« des Regierungsentwurfs war die »dynamische« Rente. Künftig sollten die Renten an die Lohn- und Gehaltsentwicklung bzw. an die Steigerung der Produktivität gebunden werden. Damit schaffte die Regierung die Voraussetzung für die Teilnahme der Rentner am wirtschaftlichen Wachstum und sicherte ihnen den Erhalt ihrer sozialen Position im Alter zu. Mit der Einführung der dynamischen Leistungsrente grenzte sich die Bundesregierung zugleich vom Einheitsrentensystem der DDR ab. Das Rentenreformgesetz wurde im Januar 1957 mit den Stimmen der SPD im Bundestag verabschiedet. Die Sozialdemokraten hatten sich zuvor von ihren umfassenden Sozialreformplänen abgewandt, da sie feststellen mussten, dass ihre Vorschläge zur Vereinheitlichung des sozialen Sicherungssystems in der Bevölkerung nicht mehrheitsfähig waren. Zu den Verlierern der Rentenreform zählten vor allem Frauen. Wie die Vergleichszahlen zeigten, vergrößerten sich nach der Rentenreform tendenziell die bestehenden Einkommensunterschiede zwischen männlichen und weiblichen Rentenempfängern, da sich die in der Regel kürzeren Beitragszeiten und die geringere Entlohnung von Frauen direkt auf die Rentenhöhe auswirkten. Verheerend war die Reform für die nichterwerbstätigen (Ehe-) Frauen und Mütter: Statt durch die Anerkennung von Ersatzzeiten oder durch Möglichkeiten der freiwilligen Versicherung den sozialen Schutz zu verbessern, gingen die Regierungsparteien 1957 den umgekehrten Weg. Sie beseitigten die freiwillige Versicherung und verwiesen die außerhalb des Arbeitsmarktes stehenden Frauen und Mütter auf ihre Absicherung durch den Ehepartner. Für Frauen, Geringverdiener und Erwerbstätige mit kurzen Beitragszeiten machte sich vor allem 336 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370278 — ISBN E-Book: 9783647370279

das Fehlen von Mindestrenten sowie der Wegfall der festen, beitragsunabhängigen Grundbeträge bemerkbar. Eine generelle Anpassung von Arbeiter- und Angestelltenrenten fand durch die Reform nicht statt. Die Rentenhöhe differierte in dem Maße, wie sich die Markteinkommen beider Berufsgruppen weiterhin unterschieden. Dennoch gelang es, die Altersarmut als das typische Lebensrisiko der Arbeiter weitgehend zu beseitigen. Die Rentenreform wurde von der Mehrheit der Westdeutschen mit »tiefer Befriedigung« aufgenommen.11 Der große Erfolg der CDU bei den Bundestagswahlen im Herbst 1957 zeigte, dass die Regierung mit ihrer Entscheidung richtig gelegen hatte, die gehobenen Arbeiter- und die Mittelschichten in ihr Rentenkonzept zu integrieren. Die »Mittelwähler« sahen in der Rentenreform und ihrem Prinzip der Lebensstandardsicherung die zeitgemäße Antwort auf die sozialökonomische und sozialkulturelle Entwicklung in den Wirtschaftswunderjahren. Diese waren geprägt von der Konzentration auf Arbeit, Leistung und Konsum und der Erwartung individueller Aufstiegschancen.12 Hatte zu Beginn der fünfziger Jahre noch der Ausspruch Theodor Geigers von den »proletarisierten Sozialrentnern« gegolten, wandelte sich mit der Rentenreform das Bild. Seit spätestens Ende der sechziger Jahre gehörten Rentner nicht mehr zwangsläufig der untersten Schicht, sondern in größerer Zahl auch den mittleren Einkommensschichten an. 1970 verfügten 39 Prozent der Rentnerhaushalte über ein monatliches Nettoeinkommen von 500 bis 1.000  DM und damit über ebensoviel wie 26,7 Prozent der Arbeiter- und 20,7 Prozent der Angestelltenhaushalte.13 35  Prozent der Rentenbezieher hatten 1969 ein Renteneinkommen aus der sozialen Renten- und Unfallversicherung von 300 bis 600 DM, weitere 12 Prozent bezogen eine Rente von 600 bis 800 DM. Die durchschnittliche Nettolohn- und -gehaltssumme je beschäftigtem Arbeitnehmer lag im gleichen Jahr bei monatlich 791 DM.14 Insgesamt hatte sich damit die wirtschaftliche Lage der Rentner erheblich verbessert. Der Abstand zwischen den Haushaltungen, die Rentenleistungen erhielten, und den übrigen Haushalten verringerte sich und bezeichnete keinen Klassenunterschied mehr. Wenngleich die Rentenreform von 1957 das herausragende sozialpolitische Ereignis der fünfziger Jahre war, stellte sie noch nicht den Endpunkt der rentenpolitischen Entwicklung im Nachkriegswestdeutschland dar. Vielmehr war sie der erste große Schritt, auf den weitere Reformen folgten. Noch im Herbst 1957 wurde im Bundestag das »Gesetz über die Altershilfe für Landwirte« verabschiedet. Anfang der sechziger Jahre erfolgte die grundlegende Reformierung der Handwerkerversorgung. Damit wurde die 1938 eingeleitete Entwicklung, die gesetzliche Rentenversicherung für selbständige Handwerker zu öffnen, 11 Vgl. S. 106, Anm. 349. 12 Vgl. Wolfrum, S. 144 ff.; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1949–1990, S. 76 ff. 13 Vgl. DIW, Einkommensschichtung, S. 306. 14 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Stat. Taschenbuch, Tab. 1.14.

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fortgesetzt und bestätigt. Durch die Abschaffung der sog. »Wahlfreiheit« waren die Handwerker künftig sogar noch enger an die Rentenversicherung gebunden. Der Zusammenschluss von Selbständigen und Unselbständigen in einer Versichertengemeinschaft bedeutete  – zumindest äußerlich  – einen Abbau der berufsständischen Unterschiede und Grenzen. Mit der Rentenreform von 1972 und den Beschlüssen zur Öffnung der Rentenversicherung auch für freie Berufe entwickelte sich die Mitgliedschaft in der Rentenversicherung allmählich zum »Normalfall«. Ende der achtziger Jahre erhielten 11,3 Millionen Personen Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Insgesamt bezogen 1989 in Westdeutschland 86 Prozent der Männer und Frauen über 65 Jahre eine staatliche Rente oder Pension.15 Die sog. »zweite Rentenreform« von 1972 stellte den Höhepunkt der Rentengesetzgebung in der Bundesrepublik dar. Sie sorgte mit der Einführung der Rente nach Mindesteinkommen und einer weiteren Erhöhung der durchschnittlichen Rentenleistungen für eine Verstetigung des Prozesses der »Vermittelschichtung« der Rentner. Obwohl die Transferleistungen im Rahmen der Familienpolitik andere Funktionen erfüllten als in der Alterssicherung, wirkten sie sich sozialstrukturell in ähnlicher Weise aus. Wie die Renten- war auch die Familienpolitik in der Bundesrepublik von Anfang an allgemeine Sozialpolitik des Wohlfahrtsstaats und keine »Klassenpolitik«. Anders jedoch als bei der Leistungsgestaltung in der Rentenversicherung, wo sich die Vorstellungen von Union und SPD seit Mitte der fünfziger Jahre weitgehend angeglichen hatten, herrschte beim Familienlastenausgleich bis weit in die sechziger Jahre keine Einigkeit. Die Unionsparteien favorisierten einen »dualen« Familienlastenausgleich bestehend aus steuerlichen Ermäßigungen aufgrund von Kinderfreibeträgen und direkten Kindergeld­ zahlungen an Familien mit drei und mehr Kindern. Die SPD forderte hingegen die Abschaffung der Steuerentlastungen und plädierte für eine umfassende Kindergeldregelung unter Einbeziehung aller Familien mit Kindern. Im Oktober 1954 setzten die Unionsparteien im Bundestag mit der Verabschiedung des ersten Kindergeldgesetzes ihre Pläne durch. Danach erhielten alle Familien ab dem dritten Kind ein Kindergeld von 25 DM im Monat. Die durch die Kinderfreibeträge bedingten Entlastungen bei der Einkommensteuer blieben von dieser Regelung unberührt. Sie bildeten weiterhin den quantitativ wichtigeren Teil des Familienlastenausgleichs. Aufgrund ihrer Wirkungsmechanismen verbesserten die Kinderfreibeträge vor allem die wirtschaftliche Situation von Familien in den mittleren und höheren Einkommens- und Berufsgruppen. Denn zum einen konnten Freibeträge für mehrere Kinder überhaupt nur geltend gemacht werden, wenn das Einkommen entsprechend hoch war. Zum anderen wirkte sich der gleiche Freibetrag aufgrund der steuerlichen Progression bei Besserverdienenden deutlicher aus. Das hieß mit anderen Worten: Der Effekt des steuerlichen Familienlastenausgleichs war tendenziell umso geringer, je weniger eine Familie verdiente und je 15 Statistisches Bundesamt, Ältere Menschen, S. 109, 106.

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mehr Kinder sie hatte. In der steuerfreien Zone der Geringverdiener bestand gar kein Unterschied zwischen Familien und Ehepaaren ohne Kinder. Im Gegensatz dazu profitierten vom Kindergeld grundsätzlich alle Kindergeldempfänger in gleicher Weise, da es als direkte Transferleistung und unabhängig vom Einkommen gezahlt wurde. Allerdings war der Kreis der anspruchsberechtigten Familien durch die Drittkinderregelung zunächst deutlich eingeschränkt. Mit dem Kindergeldkassengesetz von 1961 wurde das Kindergeld auf die Zweitkinder ausgedehnt, doch wirkte sich hier die geltende Einkommensbegrenzung restriktiv aus. Im Laufe der sechziger Jahre fielen immer mehr Berufsgruppen aus der Zweitkindergeldregelung heraus. Tendenziell war der Nutzen des dualen Familienlastenausgleichs in der Einkommensmitte am größten. Zwar stiegen die Leistungen aus dem steuerlichen Teil des Familienlastenausgleichs mit steigendem Einkommen weiter an. Da sie sich aber weniger erhöhten als das Einkommen, nahmen sie, in Prozent des Einkommens betrachtet, ab. Sie verloren damit für die wirtschaftliche Situation der Familie insgesamt an Bedeutung. Grundsätzlich waren nicht nur die Arbeitnehmer in die Familienlastenausgleichsregelung einbezogen, sondern auch die Selbständigen. Es kostete die Unionsparteien viel Zeit und Mühe, ein konsensfähiges, berufsgruppenübergreifendes Konzept zu erarbeiten. Vor allem die Finanzierung des Familienlastenausgleichs der Selbständigen bereitete Probleme und führte zu einer Reihe komplizierter Ausnahme- und Verfahrensregelungen. Eine gesonderte Regelung bestand für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Die hier gezahlten und zu versteuernden Einkommens- und Orts­ zuschläge wirkten sich im Zusammenspiel mit den kinderbedingten Steuer­ ermäßigungen gerade für die mittleren Gehaltsgruppen vorteilhaft aus. Ende der sechziger Jahre gewann das lange abgelehnte Kindergeldkonzept der SPD an Bedeutung, da die Notwendigkeit bestand, das duale System von Steuererleichterungen und Kindergeldzahlungen gerechter und einheitlicher zu gestalten. Obwohl bereits die Große Koalition erste Reformanstrengungen unternommen hatte, gelang eine grundlegende Neuordnung des Familienlastenausgleichs erst unter der sozialliberalen Koalition. Zum 1. Januar 1975 wurden die Kinderfreibeträge sowie die bisherigen Sonderregelungen für Beschäftigte im öffentlichen Dienst beseitigt. An ihre Stelle trat ein nach Anzahl der Kinder gestaffeltes Kindergeld, das auch die Erstkinder einbezog und unabhängig vom Einkommen der Familie gewährt wurde. Die Reform brachte vor allem für die unteren Einkommens- und Berufsgruppen Verbesserungen, da die negativen Effekte der Aufhebung der Kinderfreibeträge umso mehr zu Buche schlugen, je höher bisher das Einkommen und je wirksamer der Progressionseffekt gewesen war. Während der Familienlastenausgleich in den fünfziger Jahren noch eine »Randexistenz« unter den Sozialleistungen geführt hatte, nahm sein Gewicht im Verlauf der sechziger und siebziger Jahre zu. Mit der Einführung des all­ gemeinen Kindergeldes 1975 stellten Familien, die Kindergeld bezogen, die 339 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370278 — ISBN E-Book: 9783647370279

zweitgrößte Gruppe unter den Transferbeziehern dar.16 Auch im Sozialhaushalt nahmen die familienpolitischen Leistungen einen bedeutenden Posten ein. Sie lagen hinter den Ausgaben für Alter und Krankheit an dritter Stelle. Rechnet man alle Geld- und Sachleistungen zugunsten der Familie zusammen, dann umfassten die familienpolitischen Leistungen nach der Kindergeldreform von 1974/75 gut 91 Milliarden DM pro Jahr und machten damit rund 26 Prozent des Sozialbudgets aus.17 Mit der Familien- stand die Wohnungspolitik in einem engen Zusammenhang. Die wohnungspolitische Zieldiskussion wurde in den fünfziger Jahren vor allem von dem Leitbild der »familiengerechten Wohnung« bzw. des »familiengerechten Heims« beherrscht. Ähnlich wie die soziale Notlage der Rentner und die schwierige wirtschaftliche Situation der Familien wurde auch die Wohnungsnot nach dem Krieg nicht als schichtspezifisches Problem definiert. Die Neubauwohnungen im sozialen Wohnungsbau waren daher nicht vorrangig für Einkommensschwache, sondern auch für wohnungssuchende Facharbeiter, Angestellte und Beamte bestimmt. Spätestens mit dem Zweiten Wohnungsbaugesetz (»Wohnungsbau- und Familienheimgesetz«) von 1956 errang der Eigenheimbau bei der öffentlichen Förderung Vorrang vor allen anderen Wohnungsbauten. Damit wurde die Aufspaltung der Wohnungspolitik in eine »Sozialpolitik für sozial Schwache« und eine »Vermögens- und Familienpolitik für den Mittelstand« eingeleitet.18 Die Förderung des Wohnungseigentums durch die staatliche Begünstigung des Bausparens oder durch Steuervorteile bot den mittleren Berufs- und Einkommensgruppen die Möglichkeit, Vermögen aufzubauen und von Mietzahlungen entlastet zu werden. Wie entsprechende Daten zeigen, gelang es Beamten und Angestellten, sich anteilig mehr öffentliche Subventionen zu sichern als Arbeitern. Mit dem Auf- und Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Institutionen nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich nicht nur ein neues, nach oben hin erweitertes soziales Leistungs- und Sicherungssystem, sondern es entstanden gleichzeitig auch neue Beschäftigungsfelder für Frauen und Männer aus den mittleren so­zialen Schichten. Das galt insbesondere für den Bereich der sozialen und öffentlichen Verwaltung, aber auch für die kollektiven Einrichtungen im Gesundheits- oder Bildungssektor. In den Nachkriegsjahrzehnten wurde der Vollzug der Sozialpolitik in der Bundesrepublik endgültig in die Hände von sozialen Berufsarbeiterinnen und -arbeitern gelegt. Vor allem die sechziger und siebziger Jahre waren durch einen beispiellosen quantitativen und qualitativen Anstieg wohlfahrtsstaatlicher Beschäftigung gekennzeichnet. Die anhaltende wirtschaftliche Prosperität erlaubte die Bereitstellung von ausreichenden Ressourcen, um die Sozialverwaltung und die verschiedenen sozialstaatlichen Einrichtungen auszubauen und personell besser auszustatten. Es wurde ein breites öffentliches 16 Vgl. Alber, Sozialstaat, S. 142. 17 Einschließlich Kindergeldzahlungen im öffentlichen Dienst. Kuller, Familienpolitik, S. 216. 18 Schildt, Wohnungspolitik, S. 175.

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Netz an sozialen Diensten implementiert, das weit über die unmittelbaren Aufgaben der traditionellen Fürsorge und der materiellen Versorgung hinausging. Der Ausbau der sozialen Verwaltung vermehrte die beruflichen Aufstiegschancen der Arbeiterschaft. Vor allem den Söhnen von Facharbeitern gelang in den fünfziger bis siebziger Jahren ein Einstieg in die mittleren Angestellten- und Beamtenpositionen des öffentlichen Dienstes. Dieser war in den Nachkriegsjahrzehnten in besonderer Weise ein Symbol für beruflichen Aufstieg, soziale Statusbildung und materielle Sicherheit. Im Bereich der sozialen Berufe fanden besonders Frauen neue Berufsperspektiven. Die Frage nach dem Wechselverhältnis von Wohlfahrtsstaat und Mittelschichten in der Zeit der Nachkriegsprosperität ist zu Anfang der Untersuchung in zwei Richtungen gestellt worden: Gefragt wurde erstens nach den Hintergründen der wohlfahrtsstaatlichen Gesetzgebung sowie zweitens nach den Auswir­ kungen der wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen auf die soziale Lage und die Struktur der Mittelschichten. Im Ergebnis und im Hinblick auf die eingangs formulierten Thesen lässt sich bilanzieren, dass die Mittelschichten zu den »­Gewinnern« und »Nutznießern« des wohlfahrtsstaatlichen Auf- und Ausbaus nach dem Zweiten Weltkrieg gehörten. Wie die Untersuchung zentraler Bereiche der Renten-, Familien- und Wohnungsbaupolitik gezeigt hat, konnten die mittleren Einkommens- und Berufsgruppen, allen voran der »neue Mittelstand« der Angestellten, aber auch die oberen Arbeiterschichten und Teile der kleinen und mittleren Selbständigen von der Expansion der wohlfahrtsstaat­ lichen Leistungen profitieren. Das Prinzip der Lebensstandardsicherung in der Rentenversicherung, die duale Struktur des Familienlastenausgleichs ebenso wie die Wohnungs- und Eigentumsförderung der fünfziger bis siebziger Jahren sind Beispiele dafür, dass die Sozialpolitik die Interessen der »mittleren Schichten des Volkes« in besonderer Weise berücksichtigte. Auch der Blick auf die Verteilungswirkung der Gesamtheit der sozialpolitischen Transfers bestätigt diesen Befund. Die Vielzahl der Transfers zwischen Staat und privaten Haushalten und ihre Auswirkungen auf das verfügbare Einkommen wurde Ende der siebziger Jahre von der sog. Transfer-Enquête-Kommission untersucht.19 Mit Hilfe der Ergebnisse ihres Berichts gelingt es, den Verteilungseffekten der Sozialpolitik insgesamt auf die Spur zu kommen. Betrachtet man zunächst die negativen Transfers, d. h. die Seite der Steuern und Abgaben, lässt sich feststellen, dass für die breite Masse der privaten Haushalte Ende der siebziger Jahre nicht die direkten Steuern, sondern die Sozialbeiträge den größten Abzugsposten darstellten.20 Letztere unterschieden sich in Bezug 19 Die Einsetzung einer Transfer-Enquête-Kommission wurde in der Regierungserklärung vom 16.12.1976 angekündigt. Sie nahm im Juli 1977 ihre Arbeit auf. Vgl. Transfer-EnquêteKommission, Transfersystem, S. 10. 20 Bei den Haushalten von Angestellten machten sie – nimmt man Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge zusammen – 1978 im Durchschnitt fast 25 Prozent, bei den Arbeiterhaushalten sogar 29 Prozent des Bruttoerwerbs- und Vermögenseinkommens aus. Vgl. ebd., S. 42.

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auf die Verteilungswirkung wegen ihrer proportionalen Ausgestaltung erheblich von den direkten Steuern. Da die Beitragspflicht bereits bei den Beziehern geringer Einkommen voll einsetzte, war die einkommensmäßige Belastung hier vergleichsweise groß. Die Sozialbeiträge machten häufig ein Vielfaches der direkten Steuern aus; dadurch wurde die relative Entlastung bei der Einkommensteuer abgeschwächt. Bemerkenswert ist, dass die durchschnittliche Belastung mit Sozialabgaben bei den Haushalten von Arbeitern merklich höher war als bei den Haushalten von Angestellten. Dafür verantwortlich waren vor allem zwei Gestaltungsprinzipien, die in der vorangegangenen Untersuchung ausführlich erörtert wurden: Erstens waren Arbeiter generell sozialversicherungspflichtig; sie mussten Pflichtbeiträge bis zur Beitragsbemessungsgrenze zahlen. Angestellten hingegen stand es teilweise frei, in der Sozialversicherung zu bleiben oder ihre soziale Sicherung auf andere Weise zu betreiben. Zweitens überschritten Angestellte häufig die Beitragsbemessungsgrenze, womit der obere Teil des Einkommens sozialabgabenfrei blieb. Das war bei Arbeitern so gut wie nie der Fall. Bei den anderen sozialen Gruppen (Selbständige, Landwirte und Beamte) spielten Sozialbeiträge nur eine untergeordnete Rolle.21 Die positiven Transfers, d. h. die Einkommensübertragungen, hatten für die einzelnen sozialen Gruppen ebenfalls eine unterschiedliche Bedeutung. Sie stellten 1978 für mehr als acht Millionen Haushalte von Rentnern und Versorgungsempfängern des öffentlichen Dienstes die Existenzgrundlage dar. Darüber hinaus besserten die positiven Transfers aber auch spürbar die Situation eines Teils der rund 15 Millionen Haushalte von Erwerbstätigen auf. Insgesamt erhielten Rentnerhaushalte 1978 126 Milliarden DM an Transferleistungen; Arbeiterhaushalte empfingen 32,1 und Angestelltenhaushalte 19,7 Milliarden. Alles in allem war damit eine Nivellierungstendenz im Gefolge der Einkommensumverteilung durch direkte monetäre Transfers nicht zu übersehen. Das galt nicht nur für den Einkommenstransfer von Haushalten der Erwerbstätigen zu Haushalten der Nichterwerbstätigen, somit für den intergenerativen Einkommensausgleich. Die Nivellierung zeigte sich auch bei den Haushalten der Erwerbstätigen, wenngleich in unterschiedlichem Maße. Zum einen veränderte sich die relative Einkommensposition der sozialen Gruppen, gemessen am Vielfachen des Durchschnittseinkommens. So wurde die Spannweite zwischen dem Durchschnittseinkommen der Selbständigenhaushalte und dem der Arbeitnehmerhaushalte merklich geringer. Hierin kam vor allem die im Durchschnitt höhere Belastung der Selbständigenhaushalte mit direkten Steuern zum Ausdruck. Zum anderen veränderte sich die relative Einkommenskonzentration innerhalb der sozialen Gruppen: Der Anteil der untersten 20 Prozent der Haushalte am gesamten Einkommen nahm in allen sozialen Gruppen  – mit 21 Die Haushalte der Arbeiter leisteten 1978 ingesamt 35,6 Mrd.  DM an direkten Steuern und 85,3 Mrd DM an Sozialbeiträgen. Bei den Angestelltenhaushalten waren es 43,2 und 66,5  Mrd. DM an direkten Steuern bzw. Sozialabgaben, bei den Selbständigen 45,5 und 10,9 Mrd. DM. Vgl. ebd., S. 43.

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Ausnahme der Landwirte – zu, der Anteil der obersten 10 Prozent überall ab. Die Verteilung der Einkommen wurde gleichmäßiger.22 Dieses Phänomen ist in der vorliegenden Untersuchung wiederholt als sog. »Vermittelschichtungseffekt« beschrieben worden. Wie die Untersuchung der sozialpolitischen Leitbilder, Konzepte und Debatten gezeigt hat, war die Mittelschichtorientierung von den politischen Entscheidungsträgern intendiert. Das heißt, der Ausbau des Wohlfahrtsstaats in den Nachkriegsjahrzehnten richtete sich bewusst am Aufstieg der mittleren Berufsund Einkommensgruppen aus. Die Sozialpolitik der Nachkriegsjahrzehnte war keine »Klassenpolitik« für die unteren Schichten mehr; vielmehr bildeten die Mittelschichten den Bezugspunkt der Reformüberlegungen und -pläne der fünfziger, sechziger und auch noch der siebziger Jahre. Der Grund für die Berücksichtigung der sozialpolitischen Interessen der Mittelschichten lag zweifelsohne auch darin, dass ihre Konsumkraft und ihr Steuer- und Beitragsaufkommen die wirtschaftliche Grundlage für die staatliche Politik bildeten. Wenn die »beruffachlich qualifizierten Facharbeiter und Fachangestellten im privaten wie öffentlichen Sektor«, »Profiteure und vorwärtstreibende Kräfte staatlicher Expansion« waren, waren sie im Gegenzug auch die Garanten der wohlfahrtsstaatlichen Ordnung.23 Die beschriebenen Verteilungseffekte bewirkten eine Konsolidierung und Stärkung der gesellschaftlichen »Mitte«. Die gewährten Sozial- und Fördermaßnahmen erleichterten soziale Aufstiege und sicherten sie ab. Die ehemals markante sozialstrukturelle Grenze zwischen Arbeiterschaft und »Mittelstand«, aber auch zwischen Arbeitnehmern und Selbständigen wurde durchlässiger. Immer mehr Selbständige begriffen ihre soziale Lage als der der Arbeitnehmerschaft ähnlich und forderten die Einbeziehung in die staatlich organisierte soziale Sicherung. Der Ruf nach Staatshilfe wurde auch vom »alten Mittelstand« zunehmend als legitim empfunden. Der Mittelschichtorientierung des Wohlfahrtsstaats entsprach somit eine Wohlfahrtsstaatsorientierung der Mittelschichten. Diese Staatsorientierung stand den Prozessen der beginnenden »Liberalisierung« der Nachkriegsgesellschaft nicht im Wege.24 Vielmehr ermöglichte die Gewissheit sozialer Absicherung erst die Wahrnehmung von Partizipationsrechten und schaffte neue, auch kulturelle Freiräume. Dennoch hat – auch wenn die Abstände zwischen den Sprossen der sozialen Leiter in ihrem mittleren Bereich enger wurden – die wohlfahrtsstaatliche Expansion nach dem Zweiten Weltkrieg die sozialen Differenzierungen zwischen den Erwerbs- und Einkommensgruppen nicht vollständig aufgehoben. Vielmehr haben die vorangegangenen Untersuchungen ebenfalls deutlich gemacht, dass der Wohlfahrtsstaat stets auch sozial konservierend wirkte und den sozialen Status derer protegierte, die bereits relativ etabliert und gesichert 22 Transfer-Enquête-Kommission, Transfersystem, S. 45. 23 Vogel, S. 309. 24 Vgl. Herbert.

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waren. Dazu beigetragen hat vor allem die ausgeprägte Tendenz des deutschen Sozialstaats, die Verteilungsergebnisse des Arbeitsmarkts in das Sozialsystem zu übertragen. Insofern stützen die vorliegenden Ergebnisse die These HansUlrich Wehlers über die fortbestehende »deutsche Sozialhierarchie« und ihre »Klassendisparitäten«.25 Die vorangegangenen Untersuchungskapitel haben an unterschiedlicher Stelle vergleichend die Entwicklung in anderen westlichen Wohlfahrtsstaaten in den Blick genommen. Die Forschung unterscheidet bekanntlich drei Idealtypen der Sozialpolitik: Staatsbürgerversorgung, Sozialversicherung und Fürsorge; oder – in der Terminologie von Gøring Esping-Andersen – den sozialdemokratischen, den konservativen und den liberalen Wohlfahrtsstaat. Diese Typen treten in der Praxis nicht in Reinform auf, sondern in vielfältigen Mischformen. So ist der deutsche Sozialstaat nach der Finanzierung zu urteilen, zu knapp 60 Prozent ein Sozialversicherungsstaat. Doch wird dieser von anderen Prinzipien ergänzt; durch das Versorgungsprinzip z. B. im Falle des Kindergeldes und durch die Fürsorge in Gestalt der Sozialhilfe. Auch Staaten, deren Sozialpolitik in erster Linie an der Staatsbürgerversorgung ausgerichtet ist, haben andere Elemente integriert. Das gilt für Schweden, wo neben den Volksversicherungseinrichtungen die Zusatzrente und die nach dem Versicherungsprinzip organisierte und von den Gewerkschaften verwaltete Arbeitslosenversicherung existiert. Elemente der Fürsorge, die in allen Staaten zumindest in der frühen und mittleren Phase der Sozialpolitik eine bedeutende Rolle spielten, sind in einigen wirtschaftlich entwickelten Staaten von großer Bedeutung geblieben, so in den USA oder in Australien.26 Wie die international vergleichende Forschung zum Wohlfahrtsstaat zurecht immer wieder hervorhebt, darf die Ähnlichkeit der statistischen Daten, ins­besondere auf dem Niveau von Sozialleistungsquoten und ähnlichen hoch aggregierten Indikatoren für den Umfang sozialer Sicherung nicht darüber hinwegtäuschen, dass die westlichen Wohlfahrtsstaaten recht unterschiedliche Profile aufweisen. In diesen spiegeln sich die einschlägigen Erfahrungen der jeweiligen Politik- und Sozialgeschichte sowie die politischen Kräfteverhältnisse wider.27 Das bestätigen auch die Ergebnisse der vorliegenden Studie. Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu können, hat der angedeutete Vergleich gezeigt, dass die Bundesrepublik beim Verhältnis von Wohlfahrtsstaat und Mittelschichten die meisten Ähnlichkeiten mit Frankreich aufwies. Beide Länder gingen einen mittleren Weg zwischen einer sozialen Sicherung nach liberalem, marktorientierten Modell und einer egalitär-etatistischen Rundumversorgung

25 So auch Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1949–1990, S. 207 ff. 26 Vgl. ebd., Sozialpolitik, S. 217 ff. 27 Vgl. Lottes; Schmid, S. 82.

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aller Staatsbürger.28 Wie die Untersuchung gezeigt hat, erfolgte auch in Frankreich der wohlfahrtsstaatliche Ausbau unter besonderer Berücksichtigung der Interessen des »neuen«, aber auch des »alten Mittelstands«. Die Angleichung der Leistungen für alle Erwerbstätigen, die durch die Reform der »Sécurité Sociale« 1945 zunächst angestrebt worden war, scheiterte am Widerstand der mittleren Berufsgruppen. Stattdessen wurden die Einkommens- und Statusdifferenzen der sozialen Klassen in das System der sozialen Sicherung übertragen. Zugleich gab es aber auch entscheidende Unterschiede zwischen dem bundesrepublikanischen und dem französischen Wohlfahrtsstaat, wie insbesondere der Blick auf die Familienpolitik deutlich gemacht hat. Der soziale Schutz der Familien war in Frankreich umfassender geregelt und führte zu einer effek­ tiven Unterstützung aller Familien. Erst innerhalb dieses umfassenden Systems ließen sich z. B. beim Familiensplitting ähnliche »Mittelschichteffekte« beobachten wie in der Bundesrepublik. Diese erreichten aber nicht das gleiche Ausmaß. Vielmehr trug das Paket an familienpolitischen Leistungen in Frankreich insgesamt zu einer Annäherung der Nettoeinkommen der französischen Haushalte bei. Unterschiede zwischen der Bundesrepublik und Frankreich gab es auch bei der sozialen Sicherung von Frauen. Diese waren vor allem durch die unterschiedlich hohe Frauenerwerbsquote bedingt. Da in Frankreich Frauen und Mütter besser in den Arbeitsmarkt integriert waren, konnten sie in höherem Maße vom Sicherungsangebot des Wohlfahrtsstaats profitieren. Unter den hier untersuchten europäischen Wohlfahrtsstaaten entsprach die Bundesrepublik am weitestgehenden dem »strong male breadwinner-modell«.29 Die sozialen Sicherungsangebote kamen vielen Frauen nur mittelbar über ihren Ehepartner zugute. Die Mittelschichtorientierung der bundesdeutschen Sozialpolitik war insofern vor allem eine Orientierung auf die männliche Mittelschicht. Die Entwicklungen in Deutschland und Frankreich wurden jeweils auch durch Transfers in die eine und andere Richtung beeinflusst. Frankreich gewann insbesondere durch die Besatzungszeit und seinen Einfluss im Südwesten Bedeutung für die bundesdeutsche Sozialpolitik. Dieser Einfluss machte sich besonders bei den Plänen zur Einrichtung von Familienausgleichskassen bemerkbar. Ein umgekehrter Transfer fand vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts statt. So orientierte sich Frankreich beim Ausbau des sozialen Schutzes in der Zwischenkriegszeit am Vorbild der Bismarckschen Sozialversicherung. Das berufsgruppenorientierte Versicherungssystem bewies auch nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich Beharrungskraft. Im Gegensatz zum »konservativen« bundesrepublikanischen und französischen Wohlfahrtsstaat30 zeichnete sich sowohl die britische als auch die schwedische Sozialpolitik durch eine einheitliche Leistungsgewährung ohne beson28 Vgl. auch ebd., S. 137 ff. 29 Vgl. Kuller, Soziale Sicherung, S. 202 f.; Lessenich u. Ostner, S. 792. 30 Vgl. Esping-Andersen, S. 26 ff.

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dere Rücksicht auf berufsgruppenspezifische Statusunterschiede aus. Während Schweden  – als Prototyp des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaats  – durch das hohe Leistungsniveau und die weitgehend steuerliche Finanzierung der Leistungen tatsächlich eine egalisierende Wirkung erreichte, blieb das ­hybride, zwischen Kollektivismus und Liberalismus schwankende System in Groß­ britannien hinter diesem Anspruch zurück.31 Die mit dem Beveridgeplan eingeführte Sozialversicherung blieb eine Versicherung für die Arbeiter- und Unterschichten; die britische »Middle Class« sicherte sich durch Zusatz- und Privatversicherungen ab. Die schwedische Mittelschicht hingegen war in den Wohlfahrtsstaat integriert, aber  – im Vergleich zur deutschen oder französischen – weniger privilegiert. An die Stelle der Versicherung trat das Prinzip der Versorgung, was maßgeblich zur Reduzierung von Statusunterschieden beitrug. Das entsprach der weniger individualistischen als eher kollektivistischen Grundorientierung des schwedischen Wohlfahrtsstaats, dessen oberstes Gestaltungsprinzip seine Universalität war. Dementsprechend wurde in Schweden auch nicht nur die abhängig beschäftigte Erwerbsbevölkerung, sondern die gesamte Wohnbevölkerung in Bezug auf zentrale Risiken wie Alter oder Krankheit erfasst.32 Wenn die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg das als modern geltende britische oder skandinavische Modell der Staatsbürgerversicherung ablehnte, hatte das auch und vor allem mit der sich seit dem Ende der vierziger Jahre entwickelnden Systemkonkurrenz mit der SBZ bzw. der DDR zu tun. Das wohlfahrtsstaatliche System der DDR mit seiner einheitlicheren Leistungsstruktur und seinen »nivellierenden« Tendenzen entwickelte sich zum Gegenmodell für die Bundesrepublik. Die Systemkonkurrenz drückte sich besonders deutlich in der Rentenpolitik aus (»dynamische Rente« vs. »Einheitsrente«), aber auch bei der Familien- und Wohnungsbaupolitik wurden die Weichen jeweils (bewusst) unterschiedlich gestellt. Nicht zuletzt auch der »Mittelschichtdiskurs« und die »Mittelschichtorientierung« der bundesrepublikanischen Sozialpolitik sind in diesem Lichte zu sehen. Das enge Verhältnis zwischen wohlfahrtsstaatlicher Politik und Sozialstrukturentwicklung machen das dritte Viertel des 20. Jahrhunderts in der Bundesrepublik zu einer herausgehobenen Epoche in der über hundertjährigen Geschichte des deutschen Sozialstaats. Weder davor noch danach gab es eine so breit angelegte Förderpolitik zugunsten großer Gruppen in der Mitte der Gesellschaft. Allerdings gab es auch weder davor noch danach eine so günstige konjunkturelle Entwicklung, die der Politik so große Verteilungsspielräume einräumte. Ist die Ausrichtung des Wohlfahrtsstaats auf die Mittelschichten in der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik rückblickend als ein Erfolg zu werten? Betrachtet man die Folgen für die gesellschaftliche Entwicklung, den sozia31 Vgl. Schmid, S. 164 ff. 32 Vgl. ebd., S. 206 f.

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len Zusammenhalt und die Akzeptanz der demokratischen Ordnung in der Bundesrepublik, lässt sich diese Frage mit einem klaren »Ja« beantworten. Die wohlfahrtsstaatliche Politik der Nachkriegsjahrzehnte hat die Basis der »gesellschaftlichen Mitte« verbreitert und sie offener, durchlässiger und vielschichtiger gemacht. Indem die Mittelschichten »durch substanzielle sozialstaatliche Anteile ihrer Wohlfahrtsposition in den Sozialstaat integriert« wurden, hatten sie auch »ein Interesse an seinem Erhalt«.33 Gleichwohl stellte die Ausblendung der Randschichten und die Vernachlässigung der »unteren Stockwerke«34 des Sozialstaats eine strukturelle Schwäche dar, die sich mit dem Abflachen der Wohlstandskurve in den späten siebziger und den achtziger Jahren und dem Aussetzen des »Fahrstuhleffekts« immer mehr zu einer sozialpolitischen Herausforderung entwickelte. Das führt zu der abschließenden Frage nach der Wandlung des Wohlfahrtsstaats »nach dem Boom«. Welche Kontinuitäten oder Diskontinuitäten prägten die Sozialpolitik im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, und was lässt sich daraus für die künftige Entwicklung ableiten? In den siebziger Jahren, so konstatiert Hans Günter Hockerts, »endete die ›Blütezeit des Wohlfahrtsstaats‹.« Seither, so Hockerts weiter, mache sich eine epochale Trendwende bemerkbar. Die Expansionstendenz sei zwar nicht vollständig gebrochen, aber mehr und mehr von Umbau- und Rückbauprozessen überlagert worden.35 Der Kanzlerwechsel von Willy Brandt zu Helmut Schmidt wird in der Forschung allgemein als Zäsur gewertet. Bis dahin war der Ausbau des Sozialstaats durch das hohe Wachstum der Staatseinnahmen in der Endphase des Wirtschaftswunders beschleunigt worden. Mit der Rezession im Gefolge des ersten Ölpreisschocks und der nachfolgenden Periode reduzierten Wachstums verringerten sich die Einnahmen der Sozialversicherung, aber auch des Bundes und der Länder. Gleichzeitig vergrößerte sich die Nachfrage nach Sozialleistungen, bedingt durch steigende Arbeitslosigkeit, aber auch aufgrund der zunehmenden Alterung der Gesellschaft.36 Die Zahl der Transferleistungsempfänger – darunter vor allem Rentner, Kinder- und Wohngeldbezieher sowie Studenten – wuchs zwischen 1969 und 1982 von 14,4 auf 20 Prozent der Bevölkerung an. Das Sozialbudget erreichte 1981 den Höchststand von 30,7 Prozent des Bundeshaushalts.37 Einsparungen erwiesen sich in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre mithin als unvermeidbar. Unter Bundeskanzler Schmidt setzte eine Politik der Kostendämpfung ein, die in den ersten Jahren der Regierung Kohl noch verschärft wurde. Die Sparmaßnahmen waren überwiegend fiskalisch geprägt und ließen 33 Leisering, Grenzen, S. 873. 34 Ebd. 35 Hockerts, Vom Problemerzeuger, S. 16. 36 Vgl. Schmidt, Sozialpolitik, S.  91 ff.; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1949–1990, S.  265 f. Der Anteil der Rentner über 60 an der Bevölkerung stieg in den siebziger Jahren auf 15,6 ­Prozent. 37 Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1949–1990, S. 266.

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konzeptionelle Weichenstellungen vermissen. Gekürzt wurde hauptsächlich im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik sowie bei der Arbeitslosenunterstützung und der Ausbildungsförderung. Dagegen blieben Sozialleistungen, auf die die Versicherten einen Anspruch hatten, unangetastet.38 Damit beschritt die Sparpolitik den Weg des geringsten politischen Widerstandes – auch und gerade durch die Schonung der Mittelschichten – und einer größtmöglichen Entlastung des Bundeshaushalts. Insgesamt beschädigte die Sparpolitik »weder die Fundamente noch die einzelnen Stockwerke des Sozialstaats«.39 Von einem radikalen »Sozialabbau« konnte keine Rede sein. Nachdem die Kürzungs- und Konsolidierungspolitik 1983/84 ihren Höhepunkt erreicht hatte, folgten bis 1989 wieder expansive Schritte. Diese betrafen mit der Einführung eines Erziehungsgeldes und eines Erziehungsurlaubs für Väter und Mütter sowie mit der Anrechnung von Kindererziehungszeiten als rentenerhöhende Beitragszeiten in der Rentenversicherung vor allem den Bereich der Familienpolitik.40 Damit wurden Versäumnisse der vorangegangenen Jahrzehnte nachgeholt. Die Wiedervereinigung 1990 stellte einen dramatischen Einschnitt in die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung der Bundesrepublik dar. Jeglichen Konsolidierungsbestrebungen und langfristigen Reformplanungen wurde schlagartig ein Ende gesetzt. Verglichen mit dem Sozialsystem der DDR war der bundesdeutsche Sozialstaat gesund und effizient. Eine Zusammenführung beider Systeme schien ausgeschlossen, so dass nur der Weg der Übertragung des westdeutschen Sozialrechts auf die DDR bzw. die neuen Bundesländer verblieb. Ein großer Teil der Kosten und Folgekosten der deutschen Einheit wurde damit auf die Kassen der Sozialversicherung abgewälzt. Das hatte nicht nur steigende Beitragssätze zur Folge und verteuerte die Arbeitskosten, sondern führte auch zu einer überproportionalen Belastung der unteren und mittleren Schichten.41 Im Rückblick erscheint die wohlfahrtsstaatliche Politik der Ära Kohl – auch jenseits der Herausforderungen durch die Wiedervereinigung – als die wohl facettenreichste der Bundesrepublik. Sie ging keineswegs in einer Spar- oder Kürzungspolitik auf, sondern war durch Sozialstaatsumbau und Leistungskürzungen ebenso wie durch Abgabenerhöhungen und Sozialausbau gekennzeichnet. Der Sozialstaat durchlief nach 1982 eine Anzahl von Reformen, die zwischen christdemokratischer, sozialdemokratischer und mitunter liberaler Ausrichtung hin- und herschwankten.42 Wie Manfred G. Schmidt zu Recht hervorhebt, war »die richtungspolitische Vielgliedrigkeit der sozialstaatlichen Politik in der Ära Kohl« zu einem beträchtlichen Teil auch »pfadabhängig – hervorgeru38 Vgl. Schmidt, Sozialpolitik, S. 99 ff.; Hockerts, Vom Problemlöser, S. 27. 39 Schmidt, Sozialpolitik, S. 102. 40 Vgl. Schmidt, Sozialpolitik, S. 101 f.; ausführlich Wirsching, S. 340 ff. 41 So auch Hockerts, Vom Problemlöser, S. 27 f. Vgl. auch Schmidt, Sozialpolitik, S. 102 f. Zur »Krise des Sozialstaats« nach der Wiedervereinigung vgl. ausführlich Ritter, Der Preis. 42 Vgl. Schmidt, Sozialpolitik, S. 109.

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fen durch verankerte Problemlösungsroutinen und Organisationsprinzipien«.43 Jens A ­ lber hat darauf hingewiesen, dass sich die Einschnitte der achtziger und neunziger Jahre auch als ein »roll back« auf das Sozialstaatsniveau der späten sechziger Jahre interpretieren ließen, somit auf das Niveau vor den sozial­ liberalen Reformen mit der Rentenreform von 1972 oder der Lohnfortzahlung und dem Arbeitsförderungsgesetz von 1969. Das bedeute, so Alber, dass »die den Kern des deutschen Sozialstaats repräsentierende Sozialversicherung« noch immer ein Leistungsniveau aufweise, das »dem ›goldenen Zeitalter‹ der Wohlfahrtsstaatsentwicklung in der Nachkriegsprosperität« entspräche und erst nach der Mitte der sechziger Jahre erreicht worden sei.44 Demnach fand nur ein sehr moderater Leistungsrückbau statt, der nur die stärksten Ausschläge nach oben – wie die äußerst kostspielige und im Überbietungswettbewerb der Parteien entstandene Rentenreform von 1972 – korrigierte, ansonsten aber das in den Hochkonjunkturjahren ausgebaute Leistungsniveau hielt. Diese Feststellung ebnet den Weg für die, insbesondere von Hans-Ulrich Wehler vertretene These von der »Überforderung« des Sozialstaats. Sie besagt, dass die großen sozialpolitischen Reformen der fünfziger bis siebziger Jahre finanzpolitisch zu übergroßen Bürden geführt und der Bundesrepublik in­ zwischen »eine schwere Last« aufgelegt hätten. Nach einer Phase »schier grenzenloser Ausdehnung und der unübersehbaren Überforderung aller Ressourcen« komme es jetzt darauf an, den Sozialstaat »so intelligent umzubauen, dass er finanzierbar und damit in seinen essentiellen Dimensionen lebensfähig« bleibe.45 Auch Wehler geht davon aus, dass ein tatsächlicher Rückbau der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen seit der Zeit der großen Expansion nicht statt­ gefunden habe. Für eine solche Überforderung des Sozialstaats spricht viel. Zwar gilt die Bundesrepublik heute im europäischen Vergleich eher als »Vorreiter« bei der Konsolidierung ihrer sozialen Sicherungssysteme. Die in den letzten Jahren durchgeführten Reformen, z. B. in der Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik, haben jedoch die Sozialversicherungskassen und öffentlichen Haushalte nicht nachhaltig entlasten können. Vielmehr wurde an diesen Reformen deutlich, wie sehr sich die »Verteilungskonflikte über die Wohltaten des Sozialbudgets«46 verschärft und die Konfrontation zwischen Befürwortern und Gegnern grundlegender Reformen zugespitzt hat. Spürbar gestiegen sind auch die Spannungen zwischen den sozialpolitischen Zielen und anderen Richtlinien, darunter ehrgeizige Wirtschafts- und Beschäftigungsziele. Hinzu kommt wachsender Wettbewerbsdruck und sinkende Akzeptanz von hohen und womöglich weiter steigenden Steuern und Sozialabgaben in der Bevölkerung.

43 Ebd. Vgl. auch Wirsching, S. 335 ff. 44 Alber, Ära Kohl, S. 270. 45 Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1949–1990, S. 267. 46 Ebd.

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Angesichts des immer deutlicher spürbaren demografischen Wandels hat das Konfliktpotential zwischen den Generationen deutlich zugenommen. Junge Menschen nehmen sich verstärkt als eine »benachteiligte Sozialstaats­ generation«47 wahr; unter ihnen gewinnt eine distanzierte Haltung zum Sozialstaat an Boden. Gleichzeitig sind in der Generation der Eltern und Großeltern die Erwartungen an den Wohlfahrtsstaat ungebrochen hoch. Ein Anrechts­ bewusstsein auf die Abfederung von allgemeinen Lebensrisiken und von Konjunkturkrisen durch den Sozialstaat besteht nicht nur in den unteren sozialen Schichten.48 Auch für große Teile der Mittelschichten gehören »soziale Sicherheit« und »Statussicherung« weiterhin zu den Schlüsselwörtern. Dabei lässt sich eine zunehmende Unzufriedenheit mit dem wohlfahrtsstaatlichen System beobachten. Das Gefühl, immer mehr die Last steigender Beiträge zu tragen, aber nicht mehr (ausreichend) von den Leistungen des Wohlfahrtsstaats zu profitieren, hat in der »Mitte« zugenommen. Ob und wie sich in den kommenden Jahren  – angesichts einer enorm alternden Wählerschaft und einer zumeist auf eine Wahlperiode beschränkten (­sozial-) politischen Planung – große Reformen oder gar ein Umbau des Sozialstaats durchsetzen lassen, bleibt abzuwarten. Insgesamt deuten die in den vergangenen Jahren nochmals stark gestiegene Verschuldung des Bundeshaushalts und die demografischen Daten darauf hin, dass sich die erwerbstätige Bevölkerung und vor allem die Mittelschichten mittelfristig auf weiter steigende Beiträge bei gleichzeitiger Rückverlagerung von Risiken von der Gemeinschaft auf das Individuum einstellen müssen. Vor allem die jüngere Generation wird kaum mehr in den Genuss einer statuserhaltenden gesetzlichen Alterssicherung kommen. Es ist dieser Verlust von Plan­ barkeit und Sicherheit, der hinter den neuen Bedrohungs- und Angstgefühlen in der Mitte der Gesellschaft und insbesondere bei den Jüngeren am Beginn des 21. Jahrhunderts steht.

47 Hockerts, Vom Problemlöser, S. 29. 48 Vgl. Mooser, Arbeiterleben, S. 211 f.

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Abkürzungen Abg. Abgeordnete(r) AfA Ausschuss für Arbeit AfS Archiv für Sozialgeschichte AfSP Ausschuss für Sozialpolitik Anm. Anmerkung AnVNG Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz ArVNG Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz Art. Artikel ASU Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer AVG Angestelltenversicherungsgesetz AWO Arbeiterwohlfahrt BA Bundesarchiv BABl. Bundesarbeitsblatt BAGFW Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege BBauBl. Bundesbaublatt BDA Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände BDI Bundesverband der Deutschen Industrie BdL Bank deutscher Länder BfA Bundesversicherungsanstalt für Angestellte BGBl. Bundesgesetzblatt BHE Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten BK Bundeskanzleramt BKD Bund der Kinderreichen Deutschlands BKGG Bundeskindergeldgesetz BKU Bund Katholischer Unternehmer BMA Bundesministerium für Arbeit (und Sozialordnung) BMF Bundesministerium für Finanzen BMFa Bundesministerium für Familienfragen BMW Bundesministerium für Wirtschaft BSHG Bundessozialhilfegesetz BT Bundestag BT-Drs. Bundestagdrucksache Bulletin Bulletin des Presse- und Informationamtes der Bundesregierung BVerfGE Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen CDA Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft CDU Christlich Demokratische Union CSU Christliche-Soziale Union DAF Deutsche Arbeitsfront DAG Deutsche Angestelltengewerkschaft DAngVers. Die Angestelltenversicherung DFV Deutscher Familienverband

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DGB Deutscher Gewerkschaftsbund DHBl. Deutsches Handwerksblatt DIHT Deutscher Industrie- und Handelstag DIW Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung DP Deutsche Partei DPWV Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband DRK Deutsches Rotes Kreuz DRV Deutsche Rentenversicherung DVers.Z Deutsche Versicherungszeitschrift EAF Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familienfragen EStG Einkommensteuergesetz EStÄndG Einkommensteueränderungsgesetz EVS Einkommens- und Verbrauchsstichprobe FAK Familienausgleichskasse FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung FDK Familienbund der Deutschen Katholiken FDP Freie Demokratische Partei FVP Freie Volkspartei FH Frankfurter Hefte GAL Gesetz über die Altershilfe für Landwirte GB Gesamtdeutscher Block GG Geschichte und Gesellschaft GM Gewerkschaftliche Monatshefte GWU Geschichte in Wissenschaft und Unterricht HVG Handwerkerversorgungsgesetz HwVG Handwerkerversicherungsgesetz insb. insbesondere JMH Journal of Modern History JNS Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik JWG Jugendwohlfahrtsgesetz KGAG Kindergeldanpassungsgesetz KGEG Kindergeldergänzungsgesetz KGG Kindergeldgesetz KGKG Kindergeldkassengesetz KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie MdB Mitglied des Bundestages ND Neudruck NDV Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge N. F. Neue Folge NG Neue Gesellschaft NS Nationalsozialismus NSV Nationalsozialistische Volkswohlfahrt o. J. ohne Jahre o. O. ohne Ort PA Parlamentsarchiv PrGS Preußische Gesetzessammlung

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RABl. Reichsarbeitsblatt RAG Rentenanpassungsgesetz Ref. Referat RGBl. Reichsgesetzblatt RJWG Reichsjugendwohlfahrtsgesetz RMF Reichsministerium der Finanzen RMI Reichsministerium des Inneren RRG Rentenreformgesetz 1972 RVÄndG Rentenversicherungsänderungsgesetz RVO Reichsversicherungsordnung SF Sozialer Fortschritt SO Soziale Ordnung SoH Sonderheft Soz. Sich. Soziale Sicherheit SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SW Soziale Welt Sten. Ber. Stenographische Berichte Bundestag StS Staatssekretär SVAG Sozialversicherungsanpassungsgesetz SZ Süddeutsche Zeitung u. a. unter anderem VAB Versicherungsanstalt Berlin VDR Verband Deutscher Rentenversicherungsträger VuV Versicherungswissenschaft und Versicherungspraxis WoBauG Wohnungsbaugesetz WRV Weimarer Reichsverfassung WuW Wirtschaft und Wissen ZDH Zentralverband des Deutschen Handwerk ZfS Zeitschrift für Soziologie zit. zitiert ZNR Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte ZSR Zeitschrift für Sozialreform

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Quellen und Literatur

1. Ungedruckte Quellen Bundesarchiv Koblenz B 102 B 126 B 134 B 135 B 136 B 149 B 153

Bundesministerium für Wirtschaft Bundesministerium der Finanzen Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Bundesminister für besondere Aufgaben Kanzleramt Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung Bundesministerium für Familie und Jugend

Bundesarchiv Berlin R 41 Reichsarbeitsministerium R 43 II Reichskanzler Parlamentsarchiv Berlin Gesetzesdokumentationen I/1053

Entwurf eines Gesetzes über die Gewährung von Kinderbeihilfen (BTDrs. I/774) II/67 Gesetz über die Gewährung von Kindergeld und die Errichtung von Familienausgleichskassen v. 13.11.1954 II/201 Gesetz zur Ergänzung des Kindergeldgesetzes v. 23.12.1955 II/356 bis 357 Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter und zum Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Angestellten v. 23.2.1957 II/458 Gesetz über eine Altershilfe für Landwirte v. 27.7.1957 III/244 Gesetz über eine Rentenversicherung der Handwerker v. 8.9.1960 III/363 Gesetz über die Gewährung von Kindergeld für zweite Kinder und die Errichtung einer Kindergeldkasse v. 18.7.1961 IV/183 Bundeskindergeldgesetz v. 14.4.1964 IV/315 Gesetz zur Beseitigung von Härten in den gesetzlichen Rentenversi­ cherungen und zur Änderung sozialrechtlicher Vorschriften v. 9.6.1965 V/150 Gesetz zur Verwirklichung der mehrjährigen Finanzplanung des Bundes (Finanzänderungsgesetz) v. 21.12.1967 V/369 Gesetz zur Änderung von Vorschriften der gesetzlichen Rentenversi­ cherungen und über die 12. Anpassung der Renten aus den gesetzlichen Rentenversicherungen sowie über die Anpassung der Geldleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung (Drittes RentenversicherungsÄnderungsgesetz) v. 28.7.1969

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Ausschussprotokolle 1. Bundestag, (21.) Ausschuss für Sozialpolitik, Protokolle 71.–150. Sitzung, 1951–1952 1. Bundestag, (21.) Ausschuss für Sozialpolitik, Protokolle 151.–199. Sitzung, 1952–1953

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–, Protokoll des 5. Bundesparteitags der CDU, Köln, 28.–30. Mai 1954, Bonn [o. J.]. –, Protokoll des 6. Bundesparteitags der CDU, Stuttgart, 26.–29.4.1956, Bonn [o. J.]. –, Protokoll des 9. Bundesparteitags der CDU, Karlsruhe, 26.–29.4.1960, Bonn [o. J.]. –, Protokoll des 10. Bundesparteitags der CDU, Köln, 24.–27.4.1961, Bonn [o. J.]. –, Protokoll des 11. Bundesparteitags der CDU, Dortmund, 2.–5.6.1962, Bonn, [o. J.]. –, Protokoll des 13. Bundesparteitags der CDU, 28.–3.1.1965 in Düsseldorf, Bonn [o. J.]. –, Protokoll des 16. Bundesparteitags der CDU, 4.–7.11.1968 in Berlin, Bonn [o. J.]. –, Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1950–1953, bearb. v. Günter Buchstab (= Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 8), Stuttgart 1986. –, Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1953–1957, bearb. v. Günter Buchstab (= Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 16), Düsseldorf 1990. –, Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1957–1961, bearb. v. Günter Buchstab (= Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 24), Düsseldorf 1994. –, Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1961–1966, bearb. v. Günter Buchstab (= Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 32), Düsseldorf 1998. Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1949–1953, ­bearb. v. Helge Heidemeyer (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Vierte Reihe, Bd. 11/I), Düsseldorf 1998. Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1953–1957, bearb. v. Helge Heidemeyer, Erster Halbband: 1953–1955, Zweiter Halbband: ­1955–1957 (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Vierte Reihe, Bd. 11/II), Düsseldorf 2003. Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1957–1961, ­bearb. v. Reinhard Schiffers, Erster Halbband: 1957–1959, Zweiter Halbband: 1959–1961 (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Vierte Reihe, Bd. 11/III), Düsseldorf 2004. Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1961–1966, ­bearb. v. Corinna Franz, Erster Halbband: 1961–1963, Zweiter Halbband: 1963– 1965, Dritter Halbband: 1965–1966 (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Vierte Reihe, Bd. 11/IV), Düsseldorf 2004. Deutsche Angestellten-Gewerkschaft, Das Grundsatzprogramm der DAG. Beschlossen vom Hauptvorstand am 9. Mai 1953 in Hamburg, Hamburg 1953. –, Tagungsbericht des 5.  Gewerkschaftstages der Deutschen Angestellten in Hamburg, 14.–18. September 1954, [Hamburg 1954]. Deutscher Gewerkschaftsbund, Die Gewerkschaftsbewegung in der britischen Be­ satzungszone. Geschäftsbericht des Deutschen Gewerkschafts-Bundes (britische Besatzungszone) 1947–1949, Köln 1949. –, Protokoll des 3. Ordentlichen Bundeskongresses in Frankfurt a. M., 4.–9. Oktober 1954, Frankfurt a. M. [o. J.]. –, Protokoll des 4. Ordentlichen Bundeskongresses in Hamburg, 1.–6. Oktober 1956, [o.O. o. J.]. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Die Schichtung der Sozialeinkommen in der Bundesrepublik, DIW-Wochenbericht Nr. 41 v. 11.10.1957, S. 163–165. –, Einkommensschichtung sozialer Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland 1950 bis 1970, DIW-Wochenbericht Nr. 34 v. 23.8.1973, S. 299–310. –, Schrumpfende Mittelschicht – Anzeichen einer dauerhaften Polarisierung der verfügbaren Einkommen, DIW-Wochenbericht Nr. 10 v. 5.3.2008, S. 101–108.

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Personenregister Achinger, Hans  85 f., 231 Adenauer, Konrad  14, 42, 55, 61, 66, 72 f., 83, 85–87, 91, 101, 108, 106 f., 138, 157, 161, 211–214, 232, 235, 238, 241, 281 Arendt, Walter  164, 166 Aristoteles 11 Auerbach, Walter  93, 140 f., 231 Baumert, Gerhard  186, 198, 206 Beveridge, William  24 f., 41, 67–69, 209, 346 Bismarck, Otto von  24, 43–46, 53, 63, 73, 132, 174, 320, 335, 345 Blank, Theodor  25, 140, 156 f., 161–163, 239 f., 241 Bogs, Walter  66, 84 f., 244 Brandt, Willy  30, 164, 347 Brauksiepe, Aenne  212 Döhring, Clara  217, 221 Erhard, Ludwig  75, 138, 144, 238 f. Geiger, Theodor  12, 60 f., 133, 337 Heck, Bruno  66, 74, 213 Heimann, Eduard  316, 318 f. Heukelum, Gerhard van  219 f. Höffner, Joseph  85 f., 210 Horaz 11 Kiesinger, Kurt Georg  144 f., 245 f. Killat, Arthur  62, 158, 171 Kohl, Helmut  347 f. Ley, Robert  50 Lücke, Paul   271, 288 f., 297

Mackenroth, Gerhard  59, 82–84, 228, 335 Marbach, Fritz  19 Muthesius, Hans  85–87 Neundörfer, Ludwig  85–87 Oeter, Ferdinand  215, 229, 231 Ollenhauer, Erich  104 f., 212, 217 Rehling, Luise  211 Richter, Willi  105, 116, 209, 220 f., 226 Salomon, Alice  304, 314 Schäfer, Hermann  161 Schäffer, Fritz  75, 233 Schellenberg, Ernst  80, 91, 94, 99, 146, 220 f., 235 Schelsky, Helmut  12, 196 f., 228 f., 309, 333, 335 Schmidt, Helmut  31, 172, 347 f. Schmucker, Helga  207 f., 239 Schmücker, Kurt  233–235, 237 Schreiber, Wilfried  86 f., 230 f. Schumacher, Kurt  78 Stein, Lorenz von  24 Storch, Anton  87 f., 102, 106 f. Tillmanns, Robert  71, 73 f. Thurnwald, Hilde  196 Weber, Max  20 f., 23 f. Winkelheide, Bernhard  212, 215 f., 218 Wuermeling, Franz-Joseph  211–214, 238–240, 247

391 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370278 — ISBN E-Book: 9783647370279