Krise der Demokratie - Krise der Wissenschaften? [1 ed.] 9783205233008, 9783205232988


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Krise der Demokratie - Krise der Wissenschaften? [1 ed.]
 9783205233008, 9783205232988

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Wissenschaft Bildung Politik Herausgegeben von der Österreichischen Forschungsgemeinschaft

Band 22

Krise der Demokratie – Krise der Wissenschaften?

Wissenschaft Bildung Politik

Herausgegeben von der

Österreichischen Forschungsgemeinschaft Band 22

Krise der Demokratie – Krise der Wissenschaften?

Herausgegeben von

Reinhard Neck Christiane Spiel

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Gedruckt mit Unterstützung durch:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien, Kölblgasse 8 –10, A-1030 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Redaktion: Katharina Koch-Trappel, Wien Satz und Layout: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-23300-8

Inhalt Vorwort der Herausgeber  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Steckt die Demokratie in der Krise? Wolfgang Merkel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11 Zum Verhältnis des Populismus zur liberalen Demokratie Reinhard Heinisch / Carsten Wegscheider  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  43 Has Liberalism Failed? Jan Zielonka  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  55 The right to academic freedom: how can it be protected? Nico J. Schrijver  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  75 Die Wissenschaft in der Defensive – bleibt die Universität im Zentrum der freien Gesellschaft? Anton Pelinka  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  89 Meta-research: Evaluation and Improvement of Research Methods and Practices  John P. A. Ioannidis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  101 Alternative Wahrheiten: Die Konstruktion der Wirklichkeit aus der Perspektive der Quantenphysik Markus Aspelmeyer  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  119

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Chinas Aufstieg in der Wissenschaft: Kein reiner Zufall! Susanne Weigelin-­Schwiedrzik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  129 Autor/inn/enverzeichnis  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  161

Vorwort Der Wissenschaftstag 2018 der Österreichischen Forschungsgemeinschaft widmete sich dem Thema „Krise der Demokratie – Krise der Wissenschaften?“ Der Bindestrich im Titel des Programms signalisiert, dass es sich um eine mehrfach offene Frage handelt. Befindet sich die demokratische Staatsform in einer Krise und könnte das auch Folgen für die Wissenschaften haben? Sind die jewei­ligen Gefährdungen aufeinander beziehbar? Hängen kritische Zustände in den Wissenschaften von kritischen Zuständen der Demokratie ab, oder sind Wissenschaften und Demokratie unabhängig voneinander? Die aus den Vorträgen des Wissenschaftstags resultierenden Beiträge ­dieses Buchs setzen sich mit unterschiedlichen Lesarten des Generalthemas auseinander, dem sie sich teils von Seiten der Demokratie und teils von Seiten der Wissenschaften annähern. Seitdem das antike Griechenland die Idee und die Institution der Demokratie hervorgebracht hat, wird von der Krise der Demokratie gesprochen. ­Wolfgang Merkel zeigt in seinem Beitrag, mit welcher Vielfalt von Bedeutungen die Begriffe „Krise“ und „Demokratie“ behaftet sein können, und wie das Verhältnis der Staatsform Demokratie zu krisenhaften Entwicklungen der Gegenwart und mögliche Reaktionen auf Bedrohungen dieser Staatsform abgeschätzt werden können. Gerade weil die Demokratie eine Form des Regierens ist, die untrennbar mit Partizipation und Repräsentation verbunden ist, provoziert sie geradezu die Krise und hat sich trotz ihrer Krisenanfälligkeit nicht immer, aber oft als probates Mittel gegen die eigene Krise behauptet, was sich an konkreten Beispielen zeigen lässt. Der Populismus wird allenthalben als Krisensymptom der Demokratie betrachtet. Populismus und Demokratie sind jedoch laut Reinhard Heinisch und Carsten Wegscheider, der Autoren d ­ ieses Beitrags, zwei Seiten einer Medaille, auch wenn dies zurzeit selten ausgesprochen wird. Populismus ist Ausdruck der krisenhaften Entwicklung aller drei Grundelemente demokratischer Systeme, des Regierens, der Partizipation und der Repräsentation. Man kann sich fragen, ob der – von Populisten oft erhobene – Ruf nach einem Ausbau der Formen der direkten Demokratie darauf hindeutet, dass die Legitimität des parlamentarischen Regierungssystems ihre Überzeugungskraft verloren hat. Das nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa entstandene Parteiensystem

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Vorwort

gerät ins Wanken. Reinhard Heinisch und Carsten Wegscheider fragen, ob der Populismus ein Symptom der Krise in der Demokratie oder Teil der Heilung ist, und diskutieren, woher er kommt, was er ist und was ihn hervorgerufen hat. Sie kommen zu dem Schluss, dass die von Populisten ausgehende Bedrohung für die liberale Demokratie als eine Bedrohung für die Demokratie in jeder Form angesehen werden muss. In seinem viel zitierten Essay aus 1989 „The End of History”, argumentierte der US-amerikanische Politikwissenschafter Francis Fukuyama, dass der Sieg der westlichen liberalen Demokratie unwiderruflich und endgültig sei. Heute sind wir dagegen mit wachsender Kritik am Liberalismus als Denkweise und Politikkonzept konfrontiert. Jan Zielonka vertritt in seinem Beitrag die Position, dass Liberalismus, insbesondere in der Form des “Neoliberalismus”, nicht mehr die Ideale von Freiheit und Gleichheit herbeiführen kann. Verfassungsmäßig garantierte Grund- und Freiheitsrechte sind zunehmend bedroht, und sogar in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union finden autoritäre und nationalistische Gesellschaftskonzeptionen zunehmend Anhänger. Zielonka führt dies auf ein Versagen der liberalen Eliten zurück und plädiert für experimentelle Weiterentwicklungen der liberalen Demokratiekonzepte. Über gesetzliche und andere institutionelle Maßnahmen zur Sicherung der Freiheit des Wissenschaftssystems berichtet Nico Schrijver in seinem Beitrag zu ­diesem Buch. Er stellt die Inhalte des Begriffs der „akademischen Freiheit“ dar und bezieht sie auf grundlegende Menschenrechte. Detailliert werden die Sicherungsmechanismen auf nationaler, europäischer und globaler Ebene behandelt. Außer diesen staatlichen Vorkehrungen zur Freiheitssicherung sind auch besonders ­solche innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft von großer Bedeutung. Gefahren für die akademische Freiheit ergeben sich bei der Festlegung von Forschungsprogrammen und Forschungsfragen, bei der Durchführung der Forschungen und bei der Verwendung und Nutzung wissenschaftlicher Ergebnisse. In allen diesen Bereichen ist die sorgfältige und öffentliche Abwägung von Zielkonflikten z­ wischen den Erfordernissen akademischer Freiheit und gesellschaftlichen Ansprüchen erforderlich. Welche Konsequenzen ergeben sich aus den genannten Herausforderungen der liberalen Demokratie durch Populisten und andere Gegner der Offenen Gesellschaft heute für die Wissenschaft? Anton Pelinka führt in seinem Beitrag aus, dass in den letzten Jahren auch in demokratischen Gesellschaften Parteien und Politiker an die Macht gelangt sind, die sich den politischen Werten der Aufklärung, Liberalität und Toleranz nicht mehr verpflichtet fühlen. „Alternative Fakten“, dubiose Denksysteme, autoritäre Verhaltensweisen,

Vorwort

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Einschränkungen von Menschenrechten und von verfassungsmäßig gewährleisteten Grundfreiheiten werden zunehmend auch in bisher unstreitig liberalen Demokratien dazu verwendet, um politische Mitbewerber/innen, die als „Feinde“ behandelt werden, einzuschüchtern und zu diskreditieren. Wissenschafter/innen und Intellektuelle im Allgemeinen sind vorrangige Angriffsziele solcher „populistischen“ Politiker/innen. Ein prominentes Beispiel der jüngsten Vergangenheit ist das Bestreben der ungarischen Regierung, durch gezielte gesetzliche Maßnahmen die Central European University in Budapest aus dem Land zu vertreiben. Anton Pelinka, der selbst lange an dieser Universität tätig war, diskutiert die Mechanismen der illiberalen Politik und die Möglichkeiten und Grenzen von Widerstand dagegen. Eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Behauptung der Wissen­ schaften gegen die Anfechtungen durch autoritäre und populistische Ideologien ist die Sicherung ihrer Glaubwürdigkeit. Die Unsicherheit der Öffentlichkeit über die Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis und die Schwierigkeit, wissenschaftliche von pseudowissenschaftlichen Aussagen zu unterscheiden, verlangt, wie John P. A. Ioannidis in seinem Aufsatz ausführt, Mechanismen zur Qualitätssicherung. Dazu gehört insbesondere die Möglichkeit, wissenschaftliche Ergebnisse zu reproduzieren und damit nachvollziehbar zu machen. In der Vergangenheit sind allerdings selbst in hoch angesehenen wissenschaftlichen Zeitschriften fehlerhafte Beiträge erschienen, was auch durch das Peer-­Review-­Verfahren nicht verhindert werden konnte. John P. A. Ioannidis gibt einen Überblick über die Meta-­Forschung, die Wissenschaften von der wissenschaftlichen Forschung, und zeigt, mit ­welchen Problemen diese konfrontiert sind. Die große Zahl von wissenschaftlich tätigen Menschen in der Gegenwart ist eine der Herausforderungen für die Qualitätsprüfung wissenschaftlicher Ergebnisse, die durch den Einsatz neuer Technologien und Analysemethoden meta-­wissenschaftlicher Forschung bewältigt werden sollen. Anhand der Quantenphysik setzt sich Markus Aspelmeyer in seinem Beitrag mit der Frage auseinander, ob der Objektivitätsanspruch von Wissenschaft, und zwar auch der Naturwissenschaften, durch die Relativierung des eindeutigen Zusammenhangs ­zwischen Ursache und Wirkung, der das naturwissenschaftliche Denken ebenso wie viele Alltagsannahmen bestimmt, in Frage gestellt wird. Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse anerkannt und w ­ elche zurückgewiesen werden, ist vielfach Teil eines politischen Entscheidungsprozesses und nicht immer Ergebnis der Überprüfung des wissenschaftlichen Arguments. Man kann allgemein die Frage stellen, ob es eine Wirklichkeit gibt, auf deren Existenz wir uns verständigen können, oder ob die Perspektivität unser Denken

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Vorwort

inzwischen so stark beherrscht, dass es keinen Konsens mehr darüber geben kann, was die Wirklichkeit ist. Aspelmeyer zeigt, dass die Quantenphysik auf die Relativität der Existenz von Eigenschaften bezüglich des Beobachters und auf die Unmöglichkeit eines vollständigen Erklärungsanspruchs einer physikalischen Th ­ eorie als fundamentale Randbedingungen der Möglichkeiten, Natur zu beschreiben, verweist, woraus zwar Probleme für die Philosophie, aber nicht Rechtfertigungen für (politisch nutzbaren) Erkenntnisrelativismus folgen. Im abschließenden Beitrag stellt Susanne Weigelin-­Schwiedrzik die Entwicklung der Wissenschaften in der Volksrepublik China dar. Diese hat in den vergangenen drei Jahrzehnten eine atemberaubende Aufholjagd auf sich genommen und nicht nur – wie allseits bekannt – in der Wirtschaft über Jahrzehnte mit zweistelligen Wachstumsraten Verwunderung und Bewunderung hervorgerufen. Auch in der Wissenschaft ist die Volksrepublik China auf dem Weg zur Weltmacht. Sie zeigt, wie dieser Erfolg mit dem politischen System verbunden ist, wie er andererseits auch im Zusammenhang mit jahrhundertealten Traditionen zu sehen ist, was insbesondere zur Erklärung der unterschiedlichen Entwicklung von Technik und Naturwissenschaften einerseits und Geistes- und Kulturwissenschaften andererseits in China beiträgt. Der quantitativen Explosion wissenschaftlicher Publikationen steht bisher eine qualitativ noch keineswegs entsprechende Entwicklung einer Kultur der Innovation und Kreativität gegenüber, sodass China bis auf weiteres noch nicht zur Avantgarde der internationalen Wissenschaft vorstoßen oder gar den klassischen demokratischen Staaten als Modell des Umbaus zur Wissensgesellschaft dienen kann. Wir danken den Referentinnen und Referenten für ihre mündlichen und schriftlichen Beiträge und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Österreichischen Forschungsgemeinschaft für die engagierte und umsichtige Betreuung des Wissenschaftstags und des Buchprojekts.  

Reinhard Neck Christiane Spiel

Steckt die Demokratie in der Krise? Wolfgang Merkel

In der Politischen ­Theorie hat sich seit der griechischen Antike die Auffassung durchgesetzt, dass Demokratie ohne Krise nicht zu denken ist. Das gilt für die antiken Schriften von Platon, Aristoteles, Polybios 1 über Thomas Hobbes zu Beginn der Neuzeit bis hin zu Alexis de Tocqueville, Karl Marx und Max Weber.2 Die Rede von der Krise der Demokratie ist also so alt wie diese selbst. Besondere Fahrt hat die Krisendiskussion zu Beginn der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts aufgenommen. Sie wurde im linken wie im konservativen Lager mit Vehemenz und zum Teil strukturähnlichen Argumenten geführt. Claus Offes Buch Strukturprobleme des kapitalistischen Staates (1972), James O’Connors neomarxistische Th ­ eorie der Fiscal Crisis of the State (1973) und Jürgen Habermas‘ einflussreiche Schrift Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus (1973) bestimmten weit über die Dekade hinaus den Krisendiskurs über Demokratie.3 Das konservative Lager sekundierte: Der von Crozier, ­Huntington und Watanuki im Jahr 1975 veröffentliche Report an die Trilaterale Kommission zeichnete ebenfalls das düstere Bild einer überlasteten Demokratie.4 Die Krisendebatte verlor am optimistischen Ende des 20. Jahrhunderts an Überzeugungskraft, gewann aber sogleich nach der Jahrtausendwende in der neo-­schmittianischen Variante von Chantal Mouffe 5, der Debatte um die Postdemokratie 6, den neodemokratischen Postulaten 7, den p ­ oststrukturalistischen 8 1 Christian Meier, Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, München 2004. John Keane, The Life and Death of Democracy, New York 2009. 2 Vergleiche Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2008. 3 Claus Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates: Aufsätze zur Politischen Soziologie, Frankfurt am Main 1972; James O’Connor, The Fiscal Crisis of the State, New York 1973; Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt am Main 1973. 4 Michel J. Crozier, Samuel P. Huntington und Joji Watanuki, The Crisis of Democracy. Report on the Governability of Democracies to the Trilateral Commission, New York 1975. 5 Chantal Mouffe, The Democratic Paradox, London 2000. 6 Colin Crouch, Post-­Democracy, Cambridge 2004. 7 Klaus von Beyme, Von der Postdemokratie zur Neodemokratie. Wiesbaden 2013. 8 Giorgio Agamben, Alain Badiou, Daniel Bensaïd, Wendy Brown, Jean-­Luc Nancy, Jacques Rancière, Kristin Ross und Slavoj Žižek (Hg.), Demokratie? Eine Debatte, Frankfurt am Main 2009.

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oder popmarxistischen 9 Kritiken neues Momentum und globalen Widerhall. Thematisiert wurde nun die „überwältigende Vorherrschaft von Regierung und Ökonomie über eine sukzessive entleerte Volkssouveränität“ 10 oder die Gefährdung nationaler demokratischer Souveränität aufgrund der fortschreitenden Globalisierung 11. Genuin partizipative Organisationen und Institutionen wie Parteien und Parlamente verlören gegenüber Regierungen, Gerichten, Expertenkommissionen und internationalen Regimen an Legitimität. Auch die lebhafte Diskussion, die unter den Vertretern einer starken 12, partizipativen 13 oder deliberativen Demokratie 14 seit langem geführt wird, geht explizit oder implizit von einer partizipativen Krise der real existierenden repräsentativen Demokratie 15 aus. Die Aussage von Links bis Rechts, von Postmarxisten bis Neokonservativen in der politischen Th ­ eorie ist klar: Die Demokratie und vornehmlich ihre repräsentativen Institutionen befinden sich in einer Krise. Das Urteil gründet sich in seiner impliziten Logik häufig auf einen von zwei Referenzpunkten: normativ auf ein (meist nicht näher ausgewiesenes) demokratisches Ideal oder empirisch auf ein vermeintliches, in jedem Falle aber versunkenes goldenes Zeitalter der Demokratie. Wann ­dieses gewesen sein soll, bleibt meist unbestimmt oder wird von Partizipationstheoretikern gern in die späten sechziger oder frühen siebziger Jahre, von Postdemokraten wie Colin Crouch für Europa gar in die fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts verlegt.16 9 Slavoj Žižek, Das „unendliche“ Urteil der Demokratie. In: Demokratie? Eine Debatte, hrsg. Giorgio Agamben, Alain Badiou, Daniel Bensaïd, Wendy Brown, Jean-­Luc Nancy, Jacques Rancière, Kristin Ross und Slavoj Žižek, Frankfurt am Main 2009, 116 – 136. 10 Agamben et al. 2009, 11 (Fn. 8). 11 David Held, Democracy and the Global Order: From the Modern State to Cosmopolitan Governance, Cambridge 1995. 12 Benjamin R. Barber, Strong Democracy. Participatory Politics for a New Age, Berkeley 1984. 13 Mark E. Warren, Democracy and Association, Princeton 2001; Mark E. Warren, Citizen Participation and Democratic Deficits: Considerations from the Perspective of Democratic Theory. In: Activating the Citizen: Dilemmas of Participation in Europe and Canada, Hrsg. Joan DeBardeleben und Jon Pammett, New York 2009, 17 – 40. 14 James S. Fishkin, Democracy and Deliberation. New Directions for Democratic Reform, New Haven 1991; Jon Elster (Hg.), Deliberative Democracy, Cambridge 1998; John D ­ ryzek, Deliberative Democracy and Beyond, Oxford 2000; Robert E. Goodin, Innovating Democracy: Democratic Theory and Practice after the Deliberative Turn, Oxford 2008. 15 Michael Saward, The Representative Claim, Oxford 2010; Sonia Alonso, John Keane und Wolfgang Merkel (Hg.), The Future of Representative Democracy, Cambridge 2011. 16 Siehe Crouch, 2004 (Fn. 6). Ob mit dieser Einschätzung auch Frauen, Afroamerikaner, ethnische oder sexuelle Minderheiten einverstanden wären, ist mehr als fraglich.

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Die empirische Demokratieforschung ist in ihren Aussagen stets vorsichtiger gewesen. Zwar konzediert auch sie – und das ist der dritte Debattenstrang – partielle Herausforderungen und Probleme der Demokratie. So etwa Russell J. Dalton, der ein abnehmendes Vertrauen in politische Autoritäten oder unzufriedene Demokraten konstatiert 17, oder Susan Pharr und Robert Putnam, die von einer nachlassenden Leistungsfähigkeit demokratischer Insti­ tutionen sprechen 18. Allerdings diagnostizieren sie keineswegs eine Krise der Demokratie insgesamt. Pippa Norris verneint selbst eine Vertrauenskrise der Demokratie und spricht von „trendless fluctuations in system support“.19 Und wenn es doch ein, keineswegs existenzgefährdendes, demokratisches Defizit gebe, sei dies auf eine Kombination aus wachsenden Erwartungen kritischer gewordener Bürger, dem Einfluss negativer Medienberichterstattung und den vor allem deshalb wahrgenommenen Performanzschwächen demokratischer Regierungen zurückzuführen. Ist also die Krise der Demokratie eine Erfindung komplex denkender, aber empirieferner Theoretiker, die zudem meist einem überzogenen normativen Demokratieideal folgen? Oder aber verbleiben die empirischen Analysen zu sehr einer Partialdiagnostik verhaftet, die sich mit der Oberfläche von Umfrage­ daten und Wähleranalysen zufrieden gibt, ohne die tieferen Krisenphänomene zu erkennen, die sich gerade aus einer kumulierenden Interdependenz von singu­lären Krisenphänomenen ergeben? Die Frage nach einer Krise der Demokratie lässt sich weder allein mit empirieabstinenten Theorien noch mit theoriefernen empirischen Analysen lösen. Beide Stränge müssen miteinander verknüpft werden. Dabei kommt es besonders darauf an, von Anbeginn präzise zu klären, was unter den beiden zentralen Begriffen Demokratie und Krise zu verstehen ist. Beides unterbleibt in den meisten Untersuchungen. Dabei hängt die Antwort auf die Krisenfrage nicht zuletzt davon ab, ­welche Inhalte und Konturen den beiden Zentralbegriffen zugeschrieben werden.

17 Russell J. Dalton, Citizen Politics: Public Opinion and Political Parties in Advanced Industrial Democracies, Washington 2008. 18 Susan J. Pharr und Robert D. Putnam (Hg.), Disaffected Democracies? What’s Troubling the Trilateral Countries? Princeton 2000, 25 ff. 19 Pippa Norris, Critical Citizens. Global Support for Democratic Governance, Oxford 1999; Pippa Norris, Democratic Deficit: Critical Citizens Revisited, Cambridge 2011, hier 241.

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1 Demokratie: Ein umstrittenes Konzept Demokratie ist ein umstrittenes Konzept. Die Vielfalt der unterschiedlichen Demokratietheorien lässt sich kaum mehr überblicken.20 Für einen ­Überblick bieten sich unterschiedliche Ordnungsmuster an. Normative Demokratietheorien können historisch-­chronologisch, ideologisch, prozedural-­ institutionell oder über ihre Urheber 21 geordnet werden. Eine vereinfachte Systematik tut daher not. Im nie endenden Wettstreit um die Definitionshoheit über Begriff, Gehalt und Grenzen der Demokratie lassen sich drei Gruppen von Demokratietheorien unterscheiden: das minimalistische (elektorale), das mittlere (prozeduralistische) und das maximalistische (substanzialistische) Modell.

1.1 Das minimalistische Modell Minimalisten wie der einflussreiche Ökonom und Demokratietheoretiker Joseph A. Schumpeter (1883 – 1950) gehen davon aus, dass freie, g­ leiche und geheime Wahlen nicht nur der Kern der Demokratie, sondern diese selbst sind. Über Wahlen, so das marktanaloge Demokratiemodell Schumpeters, können die politischen Unternehmer – etwa Parteien – ihre programmatischen Produkte anbieten, die von den Wählern nachgefragt, geprüft, ausgewählt oder verworfen werden. Das Angebot mit der höchsten Nachfrage bekommt den Zuschlag und damit das Recht, auf Zeit die Präferenzen und Interessen der Wähler zu repräsentieren. In periodischen Abständen haben die Repräsentierten die Möglichkeit, die Repräsentanten für die zurückliegende Legislaturperiode zur Verantwortung zu ziehen und sie je nach Beurteilung wieder zu wählen oder abzuwählen. Der Wesenskern der Demokratie wird damit von den Minimalisten, die sich selbst gern als Realisten bezeichnen, 20 Vergleiche unter anderem Held, 1995 (Fn. 11); Manfred G. Schmidt, Wörterbuch der Politik, Stuttgart 2010; Oliver W. Lembcke, Claudia Ritzi und Gary S. Schaal (Hg.), Zeitgenössische Demokratietheorie, Bd. 1: Normative Demokratietheorien, Wiesbaden 2012; Gary S. Schaal, Matthias Lemke und Claudia Ritzi (Hg.), Die Ökonomisierung der Politik in Deutschland: Eine vergleichende Politikfeldanalyse, Wiesbaden 2014. 21 Natürlich gibt es auch Urheberinnen. Hier wie im gesamten Aufsatz benutzen wir aus stilistischen und sprachkonventionellen Gründen in der Regel die männliche Geschlechtsform. Dass stets beide Geschlechter gemeint sind, ist selbstverständlich, soll hier aber dennoch noch einmal betont werden.

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bewusst auf die „vertikale Verantwortlichkeit“ ­zwischen Regierten und Regierenden begrenzt.22 Schumpeters „realistische“ Demokratietheorie 23 ist der Klassiker des minimalistischen Demokratiemodells. Zivilgesellschaftliche Kontrollen gegenüber den Regierenden oder gar direktdemokratische Einmischungen des Volkes werden als unverträglich mit der rationalistisch-­realistischen Demokratietheorie angesehen 24. Für eine Krisenanalyse reifer Demokratien taugen die minimalistischen Konzepte nicht. An der wettbewerbsorientierten Auswahl der Regierenden allein lässt sich nicht oder nur sehr spät erkennen, ob sich eine Demokratie in der Krise befindet, oder gar, wo die Ursachen liegen; es sei denn, man bezieht in die Analyse von Wahlen auch die Organisation und Vitalität der Parteien mit ein, überprüft, ob diese Parteien in Parlament und Regierung substanziell die Interessen der Wähler repräsentieren, welches Vertrauen die Bürger in die Kerninstitutionen der Demokratie haben, wie der Rechtsstaat die zivilen und politischen Rechte der Wähler schützt und ob die gewählten Repräsentanten tatsächlich regieren und nicht Großunternehmen, Banken, Lobbys oder internationale Organisationen und Regime die Richtlinien der Politik bestimmen. Dies geht aber schon weit über Schumpeter hinaus.

1.2 Das mittlere Modell Die Vertreter des mittleren Demokratiekonzepts halten d ­ ieses Verständnis der Demokratie für dünn und unzureichend. Sie fügen dem unbestrittenen demokratischen Kernbereich der freien, allgemeinen, gleichen und fairen Wahlen die Sphären des Rechtsstaats und der horizontalen Gewaltenkontrolle hinzu.25 Darüber hinaus wollen sie die politische Partizipation der Bürger nicht nur auf Wahlen reduziert sehen. Denn erst die Einbettung freier Wahlen in garantierte Menschen-, Grund- und Bürgerrechte, die demokratisch legitimierte Genese gesamtgesellschaftlich verbindlicher Normen und die wechselseitige 22 Adam Przeworski, Capitalism, Democracy, Science. In: Passion, Craft and Method in Comparative Politics, Hrsg. Gerardo Munck L. und Richard Snyder, Baltimore 2007, 456 – 503, hier S. 475. 23 Joseph A. Schumpeter, Capitalism, Socialism, and Democracy, New York 1942. 24 Vergleiche auch Anthony Downs, An Economic Theory of Democracy, New York 1957. 25 Guillermo O’Donnell, Horizontal Accountability in New Democracies. In: Journal of Democracy 9 (1998), 112 – 126.

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Verschränkung und Kontrolle von Exekutive, Legislative und Judikative machen formal demokratische Wahlen auch wirklich demokratiewirksam.26 Mit Jürgen Habermas behaupten die Vertreter eines solchen vornehmlich auf Verfahren fokussierenden Modells der rechtsstaatlichen Demokratie eine intrinsische „Gleichursprünglichkeit“ 27 von zivilen Schutz- wie politischen Beteiligungsrechten. Der Rechtsstaat ist für sie nicht eine Randbedingung der Demokratie, sondern eines ihrer zentralen Elemente. Politische Partizipation soll sich nach ­diesem Verständnis nicht allein in der Stimmabgabe erschöpfen. Zusätzliche Beteiligungsmöglichkeiten wie Referenden, zivilgesellschaftliche Aktivitäten und öffentliche Diskurse sollen die Aggregation und Artikulation gesellschaftlicher Interessen nicht nur den politischen Parteien überlassen.28 Vielmehr soll eine vitale Zivilgesellschaft die partizipativen Potenziale der Demokratie beleben und diese vor der Besitznahme durch eine abgehobene politische Klasse ­schützen. Eine starke Zivilgesellschaft und deliberative Verfahren in kleineren Gruppen, in Gemeinden oder Wohnquartieren sollen zur weiteren Demokratisierung von politischen Entscheidungen beitragen.29 Diese wie auch direktdemokratische Volksabstimmungen sind, in welcher Intensität sie auch immer institutionalisiert werden, durchaus mit dem mittleren prozeduralen Demokratiemodell zu vereinbaren. Die Bandbreite seiner Vertreter reicht von liberalen Pluralisten wie Norberto Bobbio 30 bis zu den Befürwortern starker Partizipation wie Carol Pateman 31 und Benjamin Barber 32 oder den Theoretikern demokratischer Deliberation 33. Dem minimalistischen und dem mittleren Konzept der Demokratie gemeinsam ist die Beschränkung auf Normen, Prinzipien und Verfahren, die dem demokratischen Entscheidungsprozess zugrunde liegen. Maximalisten ist diese 26 David Beetham (Hg.), Defining and Measuring Democracy, London 1994, 30. 27 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt am Main 1992. 28 Barber, 1984 (Fn. 12); Fishkin, 1991 (Fn. 14); Dryzek, 2000 (Fn. 14); Warren, 2001 (Fn. 13). 29 Fishkin, 1991 (Fn. 14); Archon Fung und Erik Olin Wright, Deepening Democracy: Institutional Innovations in Empowered Participatory Governance, New York 2003. 30 Norberto Bobbio, Democraczia. In: Dizionario di Politica, Hrsg. Norberto Bobbio, Nicola Matteucci, Gianfranco Pasquino, Turin 1983, 287b-297b. 31 Carol Pateman, Participation and Democratic Theory, Cambridge 1970. 32 Barber, 1984 (Fn. 12). 33 Fishkin, 1991 (Fn. 14); Habermas, 1973 (Fn. 3); Dryzek, 2000 (Fn. 14); Warren, 2001 (Fn. 13); Claus Offe, Crisis and Innovation of Liberal Democracy: Can Deliberation Be Institutionalised? In: Czech Sociological Review 47 (2011), 447 – 473.

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prozedurale Beschränkung auf die Input-­Dimension und die partizipative Ausdehnung demokratischer Verfahren allerdings nicht genug.34 Für sie sind die substanziellen Ergebnisse politischer Entscheidungen genuiner Bestandteil für die Bewertung demokratischer Regime. Nicht zuletzt an ihnen müsse die Qualität der Demokratie gemessen werden.

1.3 Das maximalistische Modell Maximalisten beziehen also die Output-­Dimension als systemische Leistungsperformanz in ihre Demokratiedefinition mit ein. Darunter fassen sie Kollektivgüter wie die innere und äußere Sicherheit, ökonomische Wohlfahrt, sozialstaatliche Garantien und eine wie auch immer definierte Fairness in der Verteilung von Grundgütern, Einkommen, sozialer Sicherung und Lebenschancen. Hauptsächlich die Vermeidung extremer Ungleichheiten bei der Verteilung von Einkommen, Primärgütern und Lebenschancen steht im Mittelpunkt. Denn erst die soziale Demokratie sichere das politische Gleichheitsprinzip. Für eine ­solche Position standen der Sozialdemokrat Eduard Bernstein, der Weimarer Staatsrechtler Herrmann Heller 35, Thomas H. Marshall mit seiner Idee der „social citizenship“ 36 und stehen heute Thomas Meyer 37 und Stein Ringen 38. In der Demokratiediskussion Lateinamerikas war und ist soziale Gerechtigkeit stets ein zentraler Topos. In der nordamerikanischen Demokratietheorie wird ein solcher Maximalismus normativ wie analytisch traditionell als zu umfassend abgelehnt.39 Kritisch mag man hier einwenden, dass manche dieser Output-­Leistungen und Politikergebnisse nicht unbedingt demokratiespezifisch s­ eien. Sie könnten durchaus auch von Diktaturen erbracht werden: Man denke an das 34 Dabei können ihre partizipativen und deliberativen Forderungen durchaus hinter jenen von Barber, Fishkin oder Dryzek zurückbleiben. 35 Hermann Heller, Staatslehre, Leiden 1934. 36 Thomas H. Marshall, Citizenship and Social Class: And Other Essays, Cambridge 1950. 37 Thomas Meyer, ­Theorie der Sozialen Demokratie, Wiesbaden 2005. 38 Stein Ringen, What is Democracy For? On freedom and moral government, Princeton 2007. 39 Anders in der Politischen Philosophie der Gerechtigkeit, in der John Rawls (A Theory of Justice, Cambridge 1971), David Miller (Principles of Social Justice, Cambridge 2001) oder Amartya Sen (The Idea of Justice, Cambridge 2009) soziale Gerechtigkeit als einen zu insti­ tutionalisierenden Bestandteil der Demokratie stets mitdenken.

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Wirtschaftswachstum in China und Vietnam, die wirtschaftliche und soziale Wohlfahrt im Autoritarismus Singapurs oder die sozioökonomische Gleichheit in Kuba. Aus ­diesem Grund ist es nicht unproblematisch, die Output-­ Dimension direkt als definierendes Merkmal in das Konzept der Demokratie mit einzubeziehen. Dennoch entscheidet die sozioökonomische Leistungsperformanz in der Demokratie auch über deren Krisenanfälligkeit und Qualität. Kann sie zentrale Probleme nicht lösen, liefert sie nicht, was die Bürger erwarten, nimmt die Output-­Legitimität ab und die Systemstabilität gerät in Gefahr. Auch wenn man Fragen der sozioökonomischen Ungleichheit nicht in die Definition der Demokratie selbst mit aufnehmen mag, ist die reale Entwicklung der Demokratien, ihre Stabilität und Qualität nicht ohne diese ­zentrale Randbedingung zu verstehen.40 So kann wachsende sozioökonomische Ungleichheit als ein Frühwarnzeichen für eine aufziehende Krise der Demokratie betrachtet werden, weil sie zentrale Prinzipien der Demokratie wie die Chancengleichheit der Partizipation und Repräsentation zu beschädigen und den Legitimationsglauben der Bürger an die Demokratie zu erodieren droht. Fragt man nach der Krise der Demokratie, so ist die Antwort in hohem Maße vom gewählten Demokratiekonzept abhängig. Minimalistische Konzepte haben aufgrund ihrer geringen theoretisch-­institutionellen Ausdifferenzierung kein hinreichendes analytisches Sensorium, um Demokratiekrisen jenseits des Wahlvorgangs zu erkennen. Je minimalistischer das Demokratiekonzept, umso eher ist eine Verneinung der Krisenthese zu erwarten. Maximalistische Konzepte dagegen provozieren geradezu eine Krisenbestätigung, weil die normativen Standards derart hoch angesetzt sind, dass nur wenige Demokratien den ‚Sozialtest‘ bestehen. Beide Konzepte, das minimalistische und das maximalistische, taugen also aus unterschiedlichen Gründen nicht für eine empirische Krisenanalyse der Demokratie. Ich habe mich deshalb für ein Konzept mittlerer Reichweite entschieden. Als analytisch ergiebigstes Konzept sehe ich dabei jenes der „embedded democracy“ 41 an. Es verschweigt nicht seinen normativen Hintergrund, nämlich die „Gleichursprünglichkeit“ von zivilen und bürgerlichen 40 Die Ablehnung der Ausdehnung des Demokratiekonzepts in die Sphäre von (sozialen) Politikresultaten ist hier also keine normative, sondern eine analytische. 41 Wolfgang Merkel, Embedded and Defective Democracies. In: Special Issue of Democratization: Consolidated or Defective Democracy? Problems of Regime Change, Hrsg. Aurel Croissant und Wolfgang Merkel, 11(5), 2004, 33 – 58.

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Rechten – und betont deren Schutz durch die demokratischen Institutionen des Rechtsstaats und der Gewaltenkontrolle. Diese Teile werden in ihrer wechselseitigen funktionalen wie normativen Angewiesenheit zu einem Gesamtsystem in empirisch-­analytischer Absicht zusammengefügt. Ein solches Gesamtsystem bietet nicht nur ein in Teilregime ausdifferenziertes Konzept der Demokratie an, sondern erlaubt aufgrund der expliziten funktionalen Interdependenz auch eine Identifikation von Krisenverläufen durch die einzelnen Teilregime. Ansteckungsherde, Übertragungen, aber auch Krisen­ resistenzen einzelner Teilbereiche der Demokratie lassen sich so einsichtig verfolgen. Es können jedoch auch ungleichzeitige Entwicklungen entdeckt werden, das heißt positive Trends, die die Qualität der Demokratie stärken, wie auch negative Trends, die diese schwächen.

1.4 Embedded Democracy als ein Demokratiekonzept mittlerer Reichweite 42 Das Konzept der eingebetteten Demokratie folgt der Idee, dass stabile rechtsstaatliche Demokratien doppelt eingebettet sind: intern, indem die einzelnen Teilregime der Demokratie durch die jeweils funktionale Verschränkung ihren Bestand sichern; extern, indem die Teilregime der Demokratie durch Ringe ermöglichender Bedingungen der Demokratie eingebettet sind und so gegen externe wie interne Schocks und Destabilisierungstendenzen geschützt werden. Das Konzept folgt mit der Einbettungsidee einer systemischen Logik, das heißt, die einzelnen Teile sind interdependent. Krisenhafte Veränderungen in einem Teilregime können die anderen Teilregime infizieren.

42 Zum Konzept der embedded democracy, vgl. Wolfgang Merkel, Hans-­Jürgen Puhle, Aurel Croissant, Claudia Eicher und Peter Thiery, Defekte Demokratie, Bd. 1: ­Theorie, Opladen 2003 und Merkel, 2004 (Fn. 41).

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Abbildung 1: Das Konzept der eingebetteten Demokratie Quelle: Merkel (2010, S. 31, modifiziert).

1.4.1 Die Teilregime der eingebetteten Demokratie Fünf Teilregime konstituieren die eingebettete (rechtsstaatliche) Demokratie: ein demokratisches Wahlregime (A); das Regime politischer Partizipationsrechte (B); das Teilregime bürgerlicher Freiheitsrechte (C); die institutionelle Sicherung der Gewaltenkontrolle und horizontalen Verantwortlichkeit (D) sowie die Garantie, dass die effektive Regierungsgewalt (E) der demokratisch gewählten Repräsentanten de jure und de facto gesichert ist.

A. Wahlregime Ein demokratisches Wahlregime verlangt ein universelles aktives und passives Wahlrecht sowie freie und faire Wahlen. Das ist eine notwendige, aber längst nicht hinreichende Bedingung für demokratisches Regieren. Dem Wahlregime kommt in der repräsentativen Demokratie eine zentrale Position zu, weil ­Wahlen

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der sichtbarste Ausdruck von Volkssouveränität sind. Die Repräsentierten wählen ihre Repräsentanten auf Zeit. Über diesen repräsentativen Nexus können sich die Normadressaten auch als Normautoren begreifen.43 Damit stellt das Wahlregime aufgrund der offenen pluralistischen Konkurrenz um die zentralen Herrschaftspositionen auch die kardinale Differenz zur Diktatur dar. Im Wahlregime geht es um Partizipation und Repräsentation. Die wichtigsten Akteure in ­diesem Wahlregime sind neben den Bürgern politische Parteien, in geringerem Maße politische Einzelpersonen, die für höchste Staatsämter kandidieren. Gewählt werden vor allem Parlamente, in präsidentiellen Regierungssystemen auch das Regierungsoberhaupt. Es geht also um die Interaktion von Wählern, Parteien, politischen Eliten und Parlamenten.

B. Politische Partizipation Die den Wahlen voraus- und über sie hinausgehenden politischen Partizipationsrechte vervollständigen die vertikale Demokratiedimension. Konkret beinhalten sie die uneingeschränkte Geltung des Rechts auf Meinungs- und Redefreiheit sowie der Assoziations-, Demonstrations- und Petitionsrechte. Politische Partizipationsrechte konstituieren die Arena der Öffentlichkeit als eine eigenständige politische Handlungssphäre, in der sich organisatorische und kommunikative Macht entfaltet. In ihr bestimmen und unterfüttern kollektive Organisations-, Meinungs- und Willensbildungsprozesse die Konkurrenz um politische Herrschaftspositionen. Die wichtigsten organisierten Akteure in ­diesem Teilregime etablierter Demokratien sind erneut die politischen Parteien. Der Bereich geht aber über die Parteien hinaus und erfasst ebenso soziale (Protest-)Bewegungen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Interessenverbände, direktdemokratische Beteiligungsformen wie Referenden, (deliberative) Bürgerforen, institutionellen Zugang zu Planungen von großen Infrastrukturprojekten und Bürgerhaushalten. Ein pluralistisches Mediensystem ohne einseitige Konzentrationstendenzen ist hier die beste Garantie für die Entfaltung eines freien Meinungsaustauschs.

43 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre. Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaften, 23. Band, Berlin 1925.

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C. Bürgerliche Freiheitsrechte Demokratische Wahlen und politische Partizipation bedürfen der Ergänzung durch die bürgerlichen Freiheits- und Abwehrrechte. Als negative Freiheitsrechte gegen den Staat begrenzen die bürgerlichen Freiheitsrechte den staatlichen Herrschaftsanspruch und erweitern dadurch den individuell selbstbestimmbaren Freiheitsraum. Die individuellen Schutzrechte gewähren den rechtlichen Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum; sie ­schützen vor ungerechtfertigter Verhaftung, Folter, Überwachung, Datendurchleuchtung oder vor unerlaubter Einmischung ins Privatleben. Sie zähmen Expansions- und Kontrollgelüste des Staates. Neben d ­ iesem intrinsischen Wert erlaubt erst ihre volle Garantie die effektive Wahrnehmung der politischen Rechte. Bürgerliche Freiheitsrechte und politische Partizipationsrechte sind funktional nicht voneinander zu trennen. Sie sind normativ wie funktional gleichursprünglich. Wird eines geschwächt, reduziert es die Funktionsfähigkeit des anderen; wird es gestärkt, vitalisiert es die Wirksamkeit des anderen. Stärker als in den anderen vier Teilregimen sind die einzelnen Bürger die unmittelbaren Subjekte im Bereich der Bürgerrechte. Einzelpersonen brauchen aber Institutionen und Organisationen zur Sicherung ihrer Rechte und Forderungen. Gerichte und zivilgesellschaftliche Assoziationen im Bereich von Menschen- und Bürgerrechten sind die wichtigsten institutionellen und kollektiven Akteure in ­diesem Teilregime.

D. Gewaltenkontrolle und horizontale Verantwortlichkeit Das vierte Teilregime der rechtsstaatlichen Demokratie besteht aus den konsti­ tutionellen Regeln der horizontalen Gewaltenteilung. Regierungen werden nicht nur punktuell über Wahlen, sondern auch stetig über die sich wechselseitig begrenzenden konstitutionellen Gewalten kontrolliert. Der Unabhängigkeit der Justiz und speziell ihrer Richter kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Die zentrale Funktion der Gewaltenkontrolle besteht in der Herrschaftsbegrenzung und der permanenten Rückbindung an Verfassung und Recht. Vor allem in Krisen­zeiten, in denen die Exekutive häufig besondere Entscheidungsrechte beansprucht, ist eine funktionierende Gewaltenteilung von elementarer Bedeutung für den Fortbestand der Demokratie. Auch Medien fungieren hier in Form einer extrakonstitutionellen ‚Vierten Gewalt‘ als wichtige informelle Kontrollmacht.

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E. Effektive Regierungsgewalt Das fünfte Teilregime der effektiven Regierungsgewalt legt fest, dass nur diejenigen Personen, Organisationen und Institutionen berechtigt sind, gesamtgesellschaftlich verbindliche politische Entscheidungen zu treffen, die in freien Wahlen direkt oder mittels indirekter verfassungsrechtlich abgesicherter Nominierungen durch Verfassungsorgane wie das Parlament und die Regierung legitimiert wurden. Für die indirekte Nominierung muss ein enger Rahmen gelten. Regierungen und Parlamente müssen über relevante Ressourcen und Entscheidungsspielräume verfügen, um die Usurpation funktional äquivalenter Regierungsmacht durch extrakonstitutionelle Akteure zu verhindern. Supranationale Institutionen wie die Europäische Union (EU), internationale Organisationen wie die Welthandelsorganisation (WTO) oder die UNO können im begrenzten Maße in die nationalstaatliche Demokratie hineinregieren. Mit der Globalisierung und der Deregulierung der Finanzmärkte haben demokratisch wenig oder überhaupt nicht legitimierte Akteure wie der Internationale Währungsfonds (IWF ), die Europäische Zentralbank (EZB ) oder Großbanken und Hedgefonds zunehmend an Gewicht gewonnen.

1.4.2 Die interne und externe Einbettung Die beschriebenen Teilregime können ihre Wirkung zum Vorteil der Demokratie nur dann voll entfalten, wenn sie wechselseitig eingebettet sind. Demokra­tie wird damit nicht als Regime aus einem Guss begriffen, sondern als ein Gefüge von Teilregimen, die sich wechselseitig ergänzen, aber auch begrenzen. Jede Demokratie ist ebenfalls in eine Umwelt eingebettet. Diese umschließt die Demokratie, ermöglicht und stabilisiert bzw. behindert oder destabilisiert sie. Es geht hier um Möglichkeits- oder Unmöglichkeitsbedingungen. Sie verbessern oder verschlechtern die Qualität rechtsstaatlicher Demokratien. Die wichtigsten externen Einbettungsringe sind der sozioökonomische Kontext, Staatlichkeit, die Zivilgesellschaft und die internationale oder regionale Einbindung eines Landes in Organisationen, Bündnisse und Policy-­Regime vor allem in der Wirtschafts-, Sicherheits- und Umweltpolitik. Eine Beschädigung oder Unterentwicklung dieser äußeren Einbettung zieht häufig Defekte der Demokratie nach sich; in jedem Fall macht sie diese fragiler und verwundbarer. Eine besondere Bedeutung kommt hier dem sozioökonomischen Kontext zu. In Zeiten, in denen die kapitalistische

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Wirtschaft sich vieler sozialer und demokratischer Einbettungen entledigt und sich zunehmend zu einem „disembedded capitalism“ 44 entwickelt hat, wird zu prüfen sein, wie diese Variante des Kapitalismus als Herausforderung auf die embedded democracy wirkt.

2 Krise: ein wenig definiertes Konzept Für die Konzeptualisierung der Demokratie gibt es keinen Konsens, sondern verschiedene anspruchsvolle Denkmodelle. Diese einzelnen Konzepte lassen sich meist klar bestimmen. Gleiches lässt sich zum Begriff der Krise nicht sagen. Er wird geradezu inflationär in der Soziologie und Politikwissenschaft verwendet und dennoch nur selten definiert. Ungelöst ist insbesondere die Frage, wann eine Krise beginnt und wann sie endet. Grenzlinien z­ wischen dem Normalzustand und einer Krise werden nicht präzisiert; die Frage, ob Teilverschlechterungen der Demokratie (etwa in Bereichen der Partizipation) mit jenen Bereichen verrechnet werden dürfen, in denen Demokratiezugewinne zu verzeichnen sind (etwa Minderheitenrechte), wird nirgendwo diskutiert. Unklar bleibt auch die Vergleichsfolie, mit welcher eine deutliche negative Abweichung diagnostiziert werden kann: Ist es ein wie auch immer zu definierendes Idealbild der Demokratie? Ist es ein Durchschnittswert real existierender Demokratien, oder aber die Referenz an ein goldenes Zeitalter der Demokratie, der die Gegenwartsdiagnose gegenübergestellt wird? Ohne eine erklärte Referenz – ob ideal oder normal – wird der Begriff Krise logisch unsinnig. Krisis kommt aus dem Altgriechischen und bedeutete zunächst die Meinung, Beurteilung, aber auch die Entscheidung. „Der Begriff forderte harte Alternativen heraus: Recht oder Unrecht, Heil oder Verdammnis, Leben oder Tod. Der medizinische Sinn dominierte […] fast ungebrochen in die Neuzeit hinein“ 45. 44 Ich verwende den Begriff disembedded capitalism in Anlehnung an Karl Polanyi, The Great Transformation: The Political and Economic Origins of Our Time, Boston 2001[1944], 77. Er beschreibt, wie sich die Ökonomie des 19. Jahrhunderts aus ihrer Einbettung in Gesellschaft und soziale Beziehungen gelöst hat und nur noch ihren eigenen Gesetzen folgt. Dieser Prozess wiederholt sich in einer neuen Variante seit den späten 1970er Jahren, als sich der neoliberale Kapitalismus mit politischer Unterstützung zunehmend aus seiner staatlichen Einbettung ‚entfesselt‘. 45 Reinhart Koselleck, Krise. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-­sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Hrsg. Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Stuttgart 1972, 641 – 649, hier S. 617.

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Ab dem 17. Jahrhundert erfolgte seine metaphorische Ausdehnung in die Politik, die Psychologie, die Ökonomie und die Geschichte.46 Seitdem ist der Begriff in nahezu alle ökonomischen, sozialen, politischen und persönlichen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens eingewandert. Er begann zu schillern und wurde zum Schlagwort.47 „Die alte Kraft des Begriffs, unüberholbare, harte und nicht austauschbare Alternativen zu setzen, hat sich in der Ungewissheit beliebiger Alternativen verflüchtigt.“ 48 Kosellecks vor über 40 Jahren getroffene Aussage ist heute aktueller denn je. Vereinfacht lassen sich heute zwei Verwendungen des Krisenbegriffs unterscheiden: Krise I: Die akute Krise, die die Existenz bedroht und klares Handeln erfordert. Akute Krisen sind, wenn sie nicht von außen induziert werden, der Ausdruck langfristig akkumulierter Dysfunktionalitäten im Inneren des politischen Systems. Begleitet werden ­solche systemischen Störungen häufig durch das Anwachsen radikaler Oppositionsgruppen, die das System mit Gewalt heraus­fordern. Historische Beispiele solcher akuten Demokratiekrisen sind unter anderem die letzten drei Jahre der Weimarer Republik (1930 – 1933), die Jahre von 1920 bis 1922 in Italien, die Zweite Spanische Republik nach 1933, die letzten zwei Jahre vor dem Putsch der Obristen in Griechenland (1965 – 1967) und das Chile Allendes (1970 – 1973). Griechenland ist das einzige Land Westeuropas und der Welt der angelsächsischen Demokratien, in dem nach 1945 die akute Demokratiekrise zu einem Regimekollaps führte und kurzzeitig eine (Militär-)Diktatur hervorbrachte. Akute Krisen besitzen eine extreme Ambivalenz des Krisenausgangs: Sie können in einen Systemkollaps münden oder aber Strukturreformen hervorbringen, die eine Wiederherstellung des systemischen Gleichgewichts ermöglichen. Welchen Ausgang eine ­solche Krise nimmt, hängt, wie oben ausgeführt, in hohem Maße vom Handeln und von den Interaktionen unter den Eliten sowie ­zwischen den Eliten und der Bevölkerung ab. Krise II : Mit dem Verblassen des Neomarxismus ist der Zusammenhang von ökonomischer Krise und politischem Kollaps fast völlig verschwunden, zumindest was die reifen Demokratien der alten OECD-Welt betrifft. An ihre Stelle ist das Verständnis einer latenten Krise getreten. Latent heißt mindestens zweierlei: Zum einen bedeutet es, dass die Krise sich lange hinzieht und das Ende konzeptionell nicht mitgedacht wird. Gegenüber dem scharfen marxistischen 46 Ibid. 47 Ibid. 48 Ibid., S. 649.

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Krisenbegriff wird ­dieses Krisenverständnis allerdings theoretisch unschärfer. Zum anderen verbirgt sich darin inhaltlich die Annahme, dass die Krise zu einem Qualitätsverfall der Demokratie führt und deren Wesen von innen ausgehöhlt wird.49 Die formellen Institutionen bestehen zwar weiter, aber der Gedanke der demokratisch legitimierten und rechtsstaatlich eingehegten Volksherrschaft verblasst, und am Ende bleiben nur noch „Schwundstufen der Demokratie“ 50 übrig. Zwischen einer latenten und einer akuten Krise können Verbindungen existieren. So ist es für systemendogen induzierte Krisen kaum denkbar, dass eine akute Krise plötzlich auftritt, ohne dass zuvor ein latenter Krisenprozess auf sie hingeführt und sie wesentlich mit verursacht hat. Andererseits müssen latente Krisen keineswegs notwendigerweise in eine akute Krise führen. Für die reifen Demokratien, in denen ein Systemkollaps nicht zu erwarten ist, gilt es, den latenten Krisenbegriff zu schärfen. Soll er aus seiner Unbestimmtheit in die empirisch vergleichende Demokratieforschung sinnvoll eingebracht werden, muss er theoretisch weiterentwickelt werden. Für eine s­ olche Präzisierung müssen möglichst viele der folgenden Bedingungen erfüllt werden, um den Begriff analytisch ergiebig zu machen: • die Explizierung des Vergleichsmaßstabs, an dem die Gegenwartsdiagnose gemessen wird; • die Angabe der Ursachen, die eine Demokratiekrise auslösen; • die Diagnose der relevanten Krisensymptome; • Aussagen zu Krisenverläufen; • Kriterien für den Anfang und das Ende einer Krise.

3 Ursachen, Symptome und Verläufe von Krisen Herausforderungen der Demokratie sind von den Ursachen einer Krise der Demokratie zu unterscheiden. Zu Ursachen einer Demokratiekrise werden Herausforderungen erst dann, wenn sie von den Bürgern und der öffentlichen Meinung als wichtige Herausforderungen erkannt und thematisiert werden sowie mittels der vorhandenen Verfahren, Institutionen, Organisationen und Personen, die das demokratische Gesamtsystem bereitstellt, für Demos, E ­ liten und Öffentlichkeit nicht zufriedenstellend bearbeitet werden können. Bei 49 Crouch 2004 (Fn. 6), hier S. 22. 50 Claus Offe, Die Demokratisierung der Demokratie. Diagnosen und Reformvorschläge. Frankfurt am Main 2003, hier S. 138.

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Claus Offe und Jürgen Habermas waren dies die zyklisch auftretenden Krisen des Kapitalismus, die das „politisch-­administrative System“ nicht hinreichend bearbeiten konnte bzw. prinzipiell nicht krisenauflösend bearbeiten kann.51 Insofern wird die Krise des Kapitalismus als politische Herausforderung fast zwangsläufig auch zur Krise des Staates und seiner demokratischen Form. Während Habermas dies 40 Jahre s­ päter keineswegs mehr als einen unlösbaren Konflikt ansieht, greift Wolfgang Streeck die Grundfigur dieser Argumentation wieder auf. Er interpretiert die „Krisengeschichte des Spätkapitalismus seit den 1970er Jahren als die allmähliche Entfaltung der sehr alten und sehr fundamentalen Spannung ­zwischen Kapitalismus und Demokratie – als schrittweise Auflösung der nach dem Zweiten Weltkrieg ­zwischen beiden arrangierten Zwangsheirat“.52 Die Herausforderung der Demokratie liegt laut Streeck in der fortschreitenden Immunisierung der Wirtschaft gegenüber der „Massendemokratie“ 53. Sie entziehe den demokratisch gewählten Repräsentanten die wichtigsten Entscheidungsfelder und deklassiere die Demokratie zu einer „Fassadendemokratie“ 54. Ähnlich hatte schon zuvor Colin Crouch argumentiert.55 Nach ihm ist der demokratische Moment für die Demokratien Westeuropas und Nordamerikas längst vorbei. Globalisierung, Deregulierung und der Verlust an kollektiver Organisationsfähigkeit in der Gesellschaft haben die Demokratie von innen ausgehöhlt. Die formalen Verfahren und Institutionen der Demokratie bestehen fort, doch sie werden zusehends zu einem formalen Spiel, das seine demokratische Substanz verloren hat.56 Die spezifische Form des neoliberal globalisierten Kapitalismus treibe etablierte Demokratien in die Postdemokratie. Die Herausforderung der Demokratie kommt von außen, aus der Wirtschaft bzw. von der spezifischen Form des räumlich und sozial entbetteten Kapitalismus. Konservative sehen nicht den Kapitalismus, sondern den überlasteten Staat als die Ursache möglicher Demokratiekrisen an. Für sie ist es nicht die Ökonomie, die den demokratischen Staat überlastet, sondern die Überlastung wird von demokratischen Mechanismen selbst verschuldet. Der Report Crisis of Democracy: Report on the Governability of Democracy to the Trilateral 51 Offe, 1972 (Fn. 3). Habermas, 1973 (Fn. 3). 52 Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013, hier S 27. 53 Ibid. 54 Ibid., S. 241. 55 Crouch 2004 (Fn. 6). 56 Crouch 2004 (Fn. 6), hier S. 22.

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Commission von Crozier, Huntington und Watanuki beginnt dann auch mit der Frage: „Is political democracy, as it exists today, a viable form of government?“ 57 Die Antwort auf diese Frage lässt sich kondensiert in folgender Weise zusammenfassen: Infolge der raschen Zunahme der gesellschaftlichen Komplexität, der Proliferation unterschiedlichster privater Interessen, der Erosion traditioneller Werte und insbesondere der gestiegenen Ansprüche der Bürger verlieren die demokratischen Regierungen zunehmend die Fähigkeit, das Allgemeinwohl zu formulieren oder effektiv in Politik umzusetzen. Die demokratischen Regierungen werden überlastet und verlieren die Fähigkeit zu regieren. Diese Herausforderung kommt für die Konservative nicht wie für die Linken von außen (Kapitalismus), sondern ist vor allem endogen (Demokratie) induziert: Die fortschreitende politische Partizipation führt im Verbund mit der Zerfaserung gesellschaftlicher Interessen zu einer Anspruchsinflation seitens der Bürger, nicht zuletzt in Fragen ökonomischer und sozialer Wohlfahrt. Parteien werden in einen Überbietungswettlauf getrieben und Regierungen mit steigenden Erwartungen der Bürger konfrontiert, die sie nur unzureichend erfüllen können. Im schlimmsten Fall kann diese Überlastung zur Unregierbarkeit der Demokratie führen. Die Folge ist der Verlust des Bürgervertrauens in die politische Autorität. Aus den Krisentheorien lassen sich zahlreiche Herausforderungen der Demokratie formulieren, unter anderem diese: • die sozioökonomische Ungleichheit als Herausforderung des demokratischen Gleichheitsprinzips in Partizipation und Repräsentation; • den Niedergang von Volksparteien und die gesellschaftliche Entwurzelung etatisierter Parteien; • den deregulierten (Finanz-)Kapitalismus als Herausforderung des demokratischen Primats staatlicher Handlungsfähigkeit; • Globalisierung als Herausforderung nationalstaatlichen, demokratischen Regierens; Diese Herausforderungsbündel sind dem Kern der demokratischen Institutionen exogen (Ausnahme: Niedergang von (Volks-)Parteien). Sie wirken aber auf diese ein und verändern sie. Diese kausale Verbindung muss in jeder Krisenanalyse besonders in den Blick genommen werden. Die Transformation exogener Herausforderungen zu internen Strukturveränderungen in 57 Crozier et al., 1975 (Fn. 4), hier S. 2.

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der Partizipation, der Repräsentation und dem Regieren können zwei unterschiedliche Konsequenzen haben: Die erste, demokratietaugliche wäre eine produktive Bearbeitung der Herausforderungen durch eine Anpassung der alten Institutionen an die geänderten Umwelten oder ihre Ersetzung durch neue, angemessenere Institutionen. Herausforderungen würden zum Motor demokratischer Reformen. Eine zweite mögliche Konsequenz könnte aber auch sein, dass die Herausforderungen nicht produktiv bearbeitet werden können. Die demokratischen Verfahren und Institutionen würden dann in ihrer demokratischen Substanz beschädigt werden. Beispiele wären die gesellschaftlichen Entwurzelungen der Parteien 58, die zunehmende soziale Selektivität politischer Partizipation oder die zunehmende Dominanz der Exekutive gegenüber der Legislative. Abbildung 2 zeigt zum einen die genannten externen Herausforderungen und zum anderen Beispiele für potenzielle krisenhafte Gefährdungen der normativen Grundbestände in den einzelnen Teilregimen der Demokratie.

Abbildung 2: Externe und interne Herausforderungen der Demokratie

58 Peter Mair, Ruling the Void? The Hollowing of Western Democracy. In: New Left Review 42 (2006): 25 – 51.

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Für eine konkrete Krisenanalyse müssen folgende Fragen beantwortet werden: • Wo und wie übersetzen sich die externen Herausforderungen in krisenhafte Veränderungen der normativen und institutionellen Innenausstattung der Demokratie? • Welche Krisensymptome lassen sich in ­welchen Teilregimen der Demokratie beobachten? • In ­welchen Bereichen sind Krisenerscheinungen besonders ausgeprägt? • Gibt es kompensierende Entwicklungen in bestimmten Teilregimen der Demokratie, die sich nicht krisenhaft, sondern demokratiestärkend auswirken? • Wie lassen sich empirisch gehaltvolle Antworten auf die Krisenfrage geben?

4 Analysestrategien 59 Im Folgenden sollen drei Strategien für die empirische Krisenanalyse demokratischer Systeme vorgestellt werden: Die Einschätzung von Experten (objektiv), die Meinung des Demos (subjektiv) und konkrete Teilanalysen des demokratischen Systems. Keine der Strategien allein ist ohne Probleme, und jede hinterlässt blinde Flecken in der Analyse. Ihre Kombination kann aber eine erfolgversprechende Gesamtstrategie ergeben, die eine umsichtige Antwort auf die Frage nach einer Demokratiekrise geben lässt.

4.1 Strategie 1: Demokratieindizes (objektive Einschätzungen) Will man die Frage untersuchen, ob sich die Demokratie als Ganze in der Krise befindet, kann man jene Demokratieindizes befragen, die über Experteneinschätzungen (Freedom House, Polity) oder über objektive Indikatoren (Demokratiebarometer) die demokratische Qualität der politischen Regime zu erfassen versuchen. Sind die Qualitätsindizes über eine relevante Zeitperiode verfügbar und lassen sich bei hinreichender Differenzierung generalisierbare Abwärtstrends der Demokratie erkennen, kann von einer schleichenden Demokratiekrise gesprochen werden. 59 Hier werden aus Platzgründen nur die konzeptionellen Analysestrategien vorgestellt, nicht aber die konkreten Ergebnisse. Zu den konkreten Analyseergebnissen siehe: Wolfgang M ­ erkel, Sascha Kneip (Hg.) Democracy and Crisis. Challenges in Turbulent Times. Cham 2018.

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Freedom House und Polity zeigen für die 50 besten Demokratien in den vergangenen zehn Jahren praktisch keine Varianz. Sie sind also für die Überprüfung einer Krise der reifen Demokratien untauglich bzw. würden eine ­solche rundweg bestreiten. Das Demokratiebarometer (democracybarometer.org)60 hat einen Demokratieindex entwickelt (100 Indikatoren), der eine ausgesprochene Sensitivität gegenüber Varianzen der 30 besten Demokratien aufweist. Das Barometer bildet aggregierte Werte ab, die sich auf das ganze demokratische System beziehen. Die verwendeten Teilindizes ermöglichen aber auch Aussagen über die drei Kernprinzipien (Freiheit, Gleichheit, Machtkontrolle) oder die neun Kernfunktionen der Demokratie wie Partizipation, Transparenz, Repräsentation, Rechtsstaat, individuelle Freiheitsrechte, Öffentlichkeit, Wettbewerb, Gewalten­kontrolle und Regierungsfähigkeit. Mit dem Demokratiebarometer lassen sich somit Entwicklungstrends für ganze demokratische Systeme wie einzelne Teilbereiche seit 1990 aufzeigen. Es bleibt aber auch hier die Frage des Schwellenwerts: Ab wann kann man bei einer Qualitätsverschlechterung der Demokratie von einer Krise sprechen? Lässt sich ein solcher Krisen-­Schwellenwert generell bestimmen? Gilt er dann für alle reifen OECD-Demokratien gleichermaßen: für Griechenland wie für Dänemark oder für Deutschland wie für Italien? Können Schwellenwerte für einzelne Demokratien schlicht höher liegen als für andere, weil sie eine lange demokratische Tradition, einen stabilen Rechtsstaat oder eine leistungsstarke Volkswirtschaft besitzen? Diese Fragen blieben bisher unbeantwortet, dafür gibt es keine hinreichende theoretische Grundlage.

4.2 Strategie 2: Surveys (subjektive Einschätzungen) Nun kann man Expertenurteilen misstrauen und den Demos selbst befragen. Es ist letztinstanzlich der Demos, der über exit, voice und loyalty (Hirschman) anzeigt, ob sich die Demokratie in der Krise befindet. Eine Krise der Demokratie läge (erst) dann vor, wenn sie von der Mehrheit der Bevölkerung als Krise wahrgenommen wird. Dazu braucht man keine eigentliche Demokratietheorie, allenfalls theoretische Backups von plausiblen Fragen wie „Gibt es für Sie alternative vorziehbare politische Regime zur Demokratie?“, „Vertrauen Sie der 60 Marc Bühlmann, Wolfgang Merkel, Lisa Müller, Bernhard Weßels, The Democracy Barometer. A New Instrument to Measure the Quality of Democracy and Its Potential for Comparative Research. In: European Political Science 11: 519 – 536.

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Regierung, dem Parlament, den Parteien, den politischen Eliten, Gerichten, Zentralbanken etc.?“ (democracybarometer.org). Es geht hier um den Demokratieglauben der Bürger. Wieweit tragen aber s­olche Surveys? Beschreiben Sie nur die Oberfläche und können die Veränderungen von Institutionen und Verfahren unterhalb der erfragbaren Oberfläche nicht erfassen? Inwieweit können sie zunächst die internen Verschiebungen diagnostizieren, etwa, ob die Bürger ein zu- oder abnehmendes Vertrauen in die Kerninstitutionen der repräsentativen Demokratie („majoritäre Institutionen“) wie Parteien, Parlamente und Regierungen haben oder mehr „nicht-­majoritären Institutionen“ wie Polizei, Rechtsstaat, Justiz und Zentralbanken vertrauen, wie das zuweilen behauptet wird?61 Wenn dies der Fall sein sollte: Verschiebt sich damit die Legitimitätsachse innerhalb demokratischer Systeme so, dass dies als Krise der Demokratie betrachtet werden muss? Damit hören aber die Fragen an Surveydaten nicht auf. Was, wenn ‚objektive‘, von Demokratieexperten entwickelte Indikatoren einen positiven, Bevölkerungsumfragen jedoch einen negativen Trend anzeigen? Diese Fragen gilt es zu beantworten. Solch ein holistischer Blick kann aufschlussreich sein, aber er bleibt an der Oberfläche und erlaubt keine Kausalanalysen zum Entstehen, zur Fortentwicklung und zu den Konsequenzen von Krisensymptomen. Das ­müssen Partialanalysen leisten. Diese werden hier nur konzeptionell als Unter­ suchungsobjekt expliziert, nicht aber mit konkreten Analyseergebnissen unterlegt.

4.3 Strategie 3: Partialanalysen Eine Bescheidung mit Partialanalysen der zentralen Dimensionen bzw. der fünf Teilregime der Demokratie hat mindestens zwei Vorteile. Zum einen erlauben Partialanalysen, differenzierter in bestimmte Teilbereiche der Demokratie zu blicken. Damit können spezifische Ursachen, Symptome, Krisenverläufe oder auch Verbesserungen innerhalb eines Teilbereichs der Demokratie aufgespürt werden. Zum anderen gestattet eine resümierende Gesamtschau der einzelnen Teilanalysen dann wieder einen empirisch gestärkten Blick auf das Ganze. 61 Vergleiche Michael Zürn, André Nollkaemper und Randall Peerenboom (Hg.), Rule of Law Dynamics in an Era of International and Transnational Governance, Cambridge 2012; Michael Zürn und Matthias Ecker-­Ehrhardt (Hg.), Die Politisierung der Weltpolitik. Umkämpfte internationale Institutionen, Berlin 2013.

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Die Herausforderungen der Demokratie und ihre mögliche Transformation in Krise­nerscheinungen werden in folgenden drei Dimensionen: der Partizipation (Teilregime A und B), der Repräsentation (B) und des Regierens (C, D und E) untersucht. Die erkenntnisleitenden Fragen zu den drei Dimensionen lauten: Wer partizipiert, wer wird repräsentiert, wer regiert?

Partizipation Welchen Einfluss hat individuelles politisches Wissen auf die Qualität der Stimmabgabe der Wähler? Qualität heißt hier: Sind Wähler mit höherem politischen Wissen besser in der Lage, ihre eigenen politischen Präferenzen zu erkennen und dafür auch die richtige Partei zu finden, die diese Präferenzen repräsentiert und am ehesten in Politik umsetzt? Wäre dies der Fall und würde das geringere politische Wissen vor allem eine Folge mangelnder Bildung und der Zugehörigkeit zu einer niedrigeren sozialen Schicht sein, dann wäre die Demokratie zumindest an dieser Stelle nicht in der Lage, jene Voraussetzungen zu garantieren, die die Wirksamkeit des Demokratiegebots politischer Gleichheit in der politischen Partizipation gebietet. Die Demokratie hätte eine klassenspezifische Schieflage. Die sozioökonomische Ungleichheit drückt sich aber keineswegs nur in der überproportionalen Wahlenthaltung der unteren Schichten aus. Surveydaten für 47 Demokratien zeigen für die unteren Einkommens- und Bildungsschichten ein deutlich geringeres Wissen hinsichtlich der eigenen politischen Präferenzen und wie sich diese in den Programmen und der Politik der politischen Parteien widerspiegeln. Das steht im deutlichen Unterschied zu den höheren Bildungsschichten, die nicht nur häufiger wählen gehen, sondern sehr wohl wissen, ­welche Partei am ehesten ihre eigenen politischen Präferenzen vertritt. Mit jedem Wähler weniger und „mit jeder weniger gut informierten Wahlentscheidung reduziert sich die Wahrscheinlichkeit, dass Präferenzen so im Wahlergebnis ausgedrückt werden können, dass hieraus eine effektive Interessen­ repräsentation entstehen kann“ 62. Der Zusammenhang lässt sich aus vergleichender Perspektive so fassen: Je größer die sozioökonomischen Unterschiede und die damit verbundene 62 Bernhard Weßels, Politische Ungleichheit beim Wählen. In: Wolfgang Merkel (Hg.): Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von ­Theorie und Empirie, Wiesbaden 2015, 67 – 94.

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Ungleichheit der kognitiven Ressourcen unter den Bürgern, umso größer ist die politische Ungleichheit. Je größer die politische Ungleichheit, umso mehr wird das demokratische Grundprinzip der politischen Gleichheit beschädigt. Zumindest in dieser Hinsicht bieten die egalitäreren Gesellschaften Skandinaviens bessere Voraussetzungen für demokratische Wahlen als die ungleichen Gesellschaften des angelsächsischen Kapitalismus. Die formale Rechtsgleichheit gleicher Wahlberechtigung ist deshalb nur eine notwendige, aber längst keine hinreichende Bedingung, um demokratischen Wahlen auch ihre volle demokratische Bedeutung zu geben. Handlungstheoretisch ließe sich also durchaus argumentieren, dass eine der Voraussetzungen zur Demokratisierung der Demokratie sein muss, die sozioökonomischen Ungleichheiten und die Ungleichheiten der Bildungsressourcen so weit zu verringern, wie dies unter dem Gebot der Freiheit und dem Prinzip gesellschaftlich akzeptierter und meritokratisch legitimierter Ungleichheit vereinbar ist. Ceteris paribus gilt der Zusammenhang: je geringer die sozioökonomische Ungleichheit, umso höher die Qualität der Demokratie. Über eine s­olche ‚geschichtete‘ Partizipation hinaus zielt die Kritik am Zustand gegenwärtiger repräsentativer Demokratien häufig auf die politischen Parteien und ihr Programmangebot. Bieten sie, so der häufig geäußerte Zweifel, den unterschiedlichen Präferenzen in der Gesellschaft hinreichend klare programmatische Alternativen? Eine geläufige Antwort von Intellektuellen 63 bis in die Niederungen politischer Stammtische lautet: nein, die Alternativen s­eien nicht mehr erkennbar. Die Parteien s­eien sich in ihren ideologischen und programmatischen Positionen zum Verwechseln ähnlich geworden. Gleichgültig, was man wähle, man wähle immer das ­gleiche Programm. Auf der Grundlage von 2.103 Wahlprogrammen von 279 Parteien bei 371 Wahlen im Zeitraum von 1951 bis 2011 wurden vier besonders relevante Aspekte der repräsentativen Demokratie – die Differenzierung der programmatischen Positionen, deren Sichtbarkeit für die Bürger, die Klarheit programmatischer Aussagen sowie die ‚Heterogenität von Prioritäten‘, sprich, die Unterschiedlichkeit der Programmalternativen – empirisch untersucht.64 Diese 63 Chantal Mouffe: „Der Unterschied z­ wischen Mitte-­links und Mitte-­rechts ist wie die Auswahl z­ wischen Coca-­Cola und Pepsi-­Cola“ (taz 1. Februar 2014). www.taz.de/Politologin-­ ueber-­die-­Krise-­der-­Demokratie/!132080/. Zugegriffen: 2. Februar 2014. 64 Andrea Volkens und Nicolas Merz, Verschwinden die programmatischen Alternativen? Die Qualität von Wahlprogrammen in 21 OECD-Ländern seit 1950. In: Merkel, 2015 (Fn. 62), hier 95 – 126.

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programmatischen Qualitätsmerkmale wurden in drei Politikdimensionen geprüft: der sozioökonomischen, der soziokulturellen und der Zentrum-­ Peripherie-­Dimension. Der Befund erlaubt nur eine Teilentwarnung für die repräsentative Demokratie. Die Klarheit der Positionen und damit auch die Sichtbarkeit der parteipolitischen Standpunkte nehmen in der Untersuchungszeit zu. In soziokulturellen Fragen und im Konflikt z­ wischen Zentrum und Peripherie ist die Klarheit beständig, die Differenzierung vorhanden, und auch die Unterscheidbarkeit der Parteiprogramme nimmt nicht ab. Soweit die guten Nachrichten für die Parteiendemokratie. Sie werden aber in einer wichtigen Politikdimension konterkariert. In wirtschaftspolitischen und weitergehenden sozioökonomischen Fragen hat sich die pluralistische Bandbreite ­zwischen den Parteiprogrammen verringert. Wenn aber die Bürger sich nicht mehr ­zwischen unterschiedlichen wirtschafts- und sozialpolitischen Alternativen entscheiden können, wählen sie zwar, aber sie haben in einem der wichtigsten Politikfelder keine Wahl mehr. Wählen ist nicht die einzige Partizipationsform in repräsentativen Demokratien. Deshalb drängt sich die Frage auf, ob nicht unkonventionelle Formen der Partizipation jenseits des Wählens die gegenwärtigen Schwächen konventioneller politischer Partizipation ausgleichen können. Dabei geht es unter anderem um innovative Demokratiereformen wie Bürgerhaushalte, Bürgerräte, deliberative Foren, lokale und nationale Policy-­Konferenzen, aber auch Volksabstimmungen in ihren unterschiedlichen Varianten.65 Die vorliegenden Untersuchungen deuten jedoch an, dass für alle diese direkten Beteiligungsformen höhere kognitive Voraussetzungen und mehr politische Kenntnisse erforderlich sind als bei allgemeinen Wahlen. Je höher aber die kognitiven Voraussetzungen und die politischen Kenntnisse, umso höher ist die soziale Selektivität. Das Problem allgemeiner Wahlen in den meisten gegenwärtigen Demokratien, dass viele Wähler des unteren Drittels der sozialen Schichten nicht mehr an Wahlen teilnehmen, verschärft sich hier noch signifikant.

65 Wolfgang Merkel und Claudia Ritzi (Hg.) Die Legitimität direkter Demokratie. Wie demokratisch sind Volksabstimmungen? Wiesbaden 2017.

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Repräsentation Gleiche Beteiligungschancen sind in der Demokratie zweifellos schon ein Wert an sich. In der repräsentativen Demokratie kommt es aber vor allem darauf an, wie die unterschiedlichen Präferenzen und Interessen in der gesetzgebenden Institution, dem Parlament, vertreten und damit in reale Politik umgesetzt werden. Es erhärtet der Verdacht, dass die unteren Schichten, das sogenannte untere Drittel der Gesellschaft, schlechter repräsentiert sind als die höheren Schichten.66 Dabei geht es nicht primär um eine deskriptive Repräsentation, das heißt nicht darum, ob die unteren Schichten personell angemessen im Parlament vertreten sind. Das sind sie nicht und waren sie nie. Es geht vielmehr um die substanzielle Repräsentation, das heißt um die Frage, ob die Interessen, genauer, die Präferenzen der unteren Schichten systematisch schlechter vertreten sind als jene des oberen Drittels. Ist dies der Fall, wäre das eine eindeutige Verletzung des politischen Gleichheitsprinzips. Rückgang der Wahlbeteiligung, soziale Schieflage innerhalb der Wählerschaft, die verminderte Fähigkeit der bildungsfernen Wähler, ihren Präferenzen gemäß auszuwählen, und die verringerte Bandbreite wirtschafts- und sozialpolitischer Politikangebote der Parteien zeigen tatsächlich eine Verschlechterung konventioneller Partizipation und Repräsentation an. Die formale Gleichheit politischer Rechte setzt sich schlechter in eine tatsächliche Gleichheit der Beteiligung um. Die Verschiebungen sind eher schleichend als dramatisch. Wahlen übersetzen das politische Gleichheitsgebot in der Demokratie nicht perfekt und bisweilen auch nicht hinreichend. Dennoch sind demokratische Wahlen die egalitärste Partizipationsform, weil sie die wenigsten individuellen Ressourcen voraussetzen.67 In modernen Demokratien sind politische Parteien das Bindeglied ­zwischen Wählern, Parlamenten und Regierungen. Parteien stecken jedoch in der Krise, so lautet die kaum umstrittene Diagnose von Demokratie- und Parteienforschern. In den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten sei dies noch anders gewesen. Da hätten mitgliederstarke Parteien erfolgreich Wähler mobilisiert, große Klassen-, Massenparteien oder Volksparteien das ganze Spektrum der Bürgerinteressen abgedeckt, programmatische Alternativen geboten und stabile Regierungen 66 Pola Lehmann, Sven Regel und Sara Schlote, Inequality in Political Representation: Is the lower social stratum worse represented? In: Wolfgang Merkel und Sascha Kneip (Hg.) Democracy and Crisis. Challenges in Turbulent Times, Cham, 2018: 125 – 144. 67 Sascha Kneip und Wolfgang Merkel, Garantieren Wahlen demokratische Legitimität? In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 67 (38 – 39): 18 – 24.

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gebildet. Danach, genauer seit Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, ging es bergab. Parteibindungen hätten sich gelockert, Allerweltsparteien (catch-­ all-­parties) dominierten die politische Landschaft, und Parteikartelle verhinderten den effektiven Wettbewerb. Der Typus der Massenpartei, der eine große Mitgliedschaft mit hohen Wähleranteilen verbindet, ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts, der industriellen Moderne. Die meisten großen Parteien präsentieren sich heute dem Wähler in der Form von Programmparteien oder Volksparteien. Programmparteien weisen zwar nicht mehr die ­gleiche mitgliedschaftliche Verankerung in der Gesellschaft auf wie Massenparteien, sind aber programmatisch nicht so diffus aufgestellt wie Volksparteien (catch all-­parties). Volksparteien waren die tragenden Akteure in den Parteiensystemen der westlichen Demokratien. Sie hatte eine große Mitgliedschaft, erzielten durchgängig mehr als 25 Prozent der gesamten Wählerstimmen, deckten einen breiten programmatischen Bogen ab, um möglichst viele Wähler aus möglichst vielen Schichten, Gruppen und sozialmoralischen Milieus zu erreichen. Sie erfüllten unter anderem die Funktion, die Gesellschaften auf der politischen Ebene zu integrieren. Aber gerade dieser Parteityp befindet sich in einem unaufhaltsam scheinenden Niedergang. Das gilt für Mitte-­Rechts-­Volksparteien (Christdemo­ kraten, Konservative) wie Mitte-­Links-­Volksparteien (Sozialdemokraten). In Zeiten individualisierter und segmentierter Gesellschaften sind Volksparteien zu einem Auslaufmodell geworden. In der Folge haben sich die Parteiensysteme ausdifferenziert. Sie sind fragmentierter und die Wähler volatiler geworden. „Neue“ Parteien wie ökologische, linkssozialistische oder rechtspopulistische Parteien haben zudem auch eine neue Polarisierung erzeugt. Treibende Kraft sind dabei die Rechtspopulisten, die als semi-­loyale (Linz), wenn nicht gar Anti-­Systemparteien (Sartori) bezeichnet werden können. Die Veränderung des Parteiensystems hat die meisten Demokratien verwundbarer gemacht. Dies gilt schon für die konsolidierten Demokratien Westeuropas und a fortiori für die noch nicht hinreichend konsolidierten Demokratien Osteuropas. Polen und Ungarn sind davon besonders betroffen.

Regieren Partizipation und Repräsentation sind in der repräsentativen Demokratie (im Wesentlichen) kein Selbstzweck. Sie sollen vielmehr die prozedurale Chance eröffnen, dass die unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen in fairer Weise in praktische Politik umgesetzt werden; und zwar von den Personen

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und Insti­tutionen, die dafür ein demokratisches und konstitutionelles Mandat von den Bürgern bekommen haben. Die alte Frage „Who governs?“, die Robert Dahl schon 1961 stellte, hat fünfzig Jahre danach in Zeiten von Globalisierung, Europäisierung, Deregulierung und Privatisierung eine besondere Wendung genommen. Nun bezieht sich die Dahlsche Frage nicht mehr allein darauf, ob die wirtschaftlichen und kognitiven Ressourcen breiter Teile der Bevölkerung ausreichen, um die Regierung zu kontrollieren.68 Es geht vielmehr vor allem darum, ob nicht Finanzmärkte, Hedgefonds, Großbanken, globale Unternehmen, supranationale Policy-­Regime oder europäische Institutionen so mächtig geworden sind, dass wichtige Finanz-, Wirtschafts- und Beschäftigungspolitiken sich zunehmend dem Zugriff demokratisch gewählter Regierungen entziehen. Aber gerade in dieser Frage sind sich die meisten Krisentheoretiker einig: Globalisierung, Deregulierung und der Rückzug des Staates aus wichtigen Politikfeldern hat anderen, häufig nur wenig oder überhaupt nicht legitimierten Akteuren einen Entscheidungsspielraum auf die Lebensumstände und Lebenschancen der Bürger oder ganzer Gesellschaften eröffnet, der ihnen gemäß demokratischer Prinzipien nicht zusteht.69 Es stellt sich die grundsätzliche Frage, die die Krisentheoretiker der frühen 1970er Jahre schon bewegt hat: Sind Demokratie und Kapitalismus miteinander vereinbar? Widersprechen oder ergänzen einander die grundsätzlichen Prinzipien der wirtschaftlichen und politischen Ordnungsform? Durch die konzeptionelle Unterscheidung in varieties of democracies und varieties of capitalism lässt sich die Vereinbarkeitsfrage präziser stellen: Welche Form des Kapitalismus ist mit welcher Form der Demokratie vereinbar oder unvereinbar? Eine gewisse Spannung ­zwischen allen Formen des Kapitalismus und der embedded democracy ist aufgrund unterschiedlicher Funktionsweisen nicht aufzulösen. Allerdings gibt es Unterschiede. Der koordinierte Kapitalismus, politisch gezähmt und sekundiert von einem starken Sozialstaat, lässt sich am ehesten mit dem fundamentalen Gleichheitsprinzip der Demokratie noch am ehesten vereinbaren 70. Der deregulierte und globalisierte Finanzkapitalismus der Gegenwart stört das Gleichheitsprinzip und die Fähigkeit demokratischer Regierungen 68 Robert A. Dahl, Who governs? New Haven 1961, hier 3. 69 Siehe unter anderem Colin Crouch, Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus, Frankfurt 2011; Streeck, 2013 (Fn. 52); Wolfgang Merkel, Is capitalism compatible with democracy? In: Zeitschrift für vergleichende Politikwissenschaft 8 (2): 109 – 128. 70 Heiko Giebler und Wolfgang Merkel, Freedom and equality in democracies: Is there a trade-­off? In: International Political Science Review 37 (5): 594 – 605.

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auch effektiv zu regieren erheblich. Allerdings gilt historisch auch: Ohne ein kapitalistisches Wirtschaftssystem als Gegengewicht zu einem zu starken Staat hat es bisher auch noch keine Demokratie gegeben.

5 Schluss Was heißt das alles, wenn man die empirischen Untersuchungen zur Frage nach einer allgemeinen Krise der Demokratie zusammenfasst? Anders als in Bevölkerungsumfragen und Qualitätsindizes von Experten förderten fast alle Einzel­analysen Erosionserscheinungen in allen fünf Teilregimen der embedded democracy zutage. Dabei ist ein allgemeines Muster zu erkennen: Formale Rechte, Normen und Verfahren bleiben in der Regel intakt, aber die Chancen der Teilnahme und die tatsächliche Partizipation und Repräsentation haben sich verändert. Dies sind nicht trendless fluctuations, wie Norris noch argumentierte,71 sondern die Verschlechterungen fügen sich in der Summe zu einem Trend. Demokratiegewinne wie Fortschritte bei der Gleichberechtigung der Geschlechter und dem Abbau von Diskriminierungen gegenüber ethnischen und sexuellen Minderheiten haben zweifellos erhebliches Gewicht. Die kulturelle Sensibilität hat in reifen Demokratien zugenommen. Gleichzeitig aber ist die Indifferenz gegenüber gravierenden sozioökonomischen Ungleichheiten von Vermögen, Einkommen und Lebenschancen gewachsen. Die rasche Transformation in politische Ungleichheit beschädigte das demokratische Gleichheitsprinzip nicht unerheblich. Die benachteiligten Unterschichten organisieren ihre voice gegen diese Entwicklung kaum und wenig effektiv. Das unterscheidet das letzte Viertel evident vom Rest des 20. Jahrhunderts. Sozialdemokratische Parteien haben sich zum Teil von ihrer Kernklientel entfernt. Die neuen sozialen Bewegungen vertreten ökologische, kulturelle und kosmopolitische Interessen. Ihre Aktivisten kommen aus den Mittelschichten. Organisationen wie die Gewerkschaften haben dagegen an Einfluss verloren. Zudem vertreten sie mit den Facharbeitern und (unteren) Mittelschichten nicht mehr die Unterschichten. Diese werden nicht ausgegrenzt, sondern schlicht vergessen. Sie reagieren mit einem folgenlosen exit. Der Ausstieg aus der politischen Beteiligung geschah bisher geräuschlos. Das hat sich mit dem Aufkommen und Erstarken der rechtspopulistischen und zu einem geringeren Grad der linkspopulistischen Parteien geändert. Insbesondere die rechtspopulistischen Parteien 71 Norris, 2011 (Fn. 19).

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ziehen auch die bisher Enttäuschten und Unzufriedenen mit in die Wahlarena. Darunter sind besonders viele Angehörige der unteren Mittelschichten 72. Allerdings geschieht das viel stärker mit kulturell-­identitären, fremdenfeindlichen oder gar rassistischen Vorzeichen. Mittelfristig kann das ein Problem für die normativen Fundamente der Demokratie sein. Was in den Demokratien schwindet, ist Loyalität: nicht gegenüber der Idee der Demokratie, sondern gegenüber ihrem institutionellen Kern. Die aktive Unterstützung für die Institutionen der repräsentativen Demokratie hat nachgelassen. Die critical citizens 73 aus den Mittelschichten sind zwar kritisch, aber an sozioökonomischer und damit politischer Gleichheit wenig interessiert. Es geht vielmehr gegen Bahnhöfe, Stromtrassen, Olympia, Kernkraft und Steuererhöhungen. Abhilfe sollen Referenden, deliberative Bürgerforen, direkte Mitentscheidung bei Infrastrukturprojekten oder ‚die Zivilgesellschaft‘ bringen. Sie nützen aber vor allem den gut gebildeten Mittelschichten, die schon gut repräsentiert sind. Eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung für die Demokratie und das Prinzip Gleichheit lässt sich nicht erkennen. Vieles ist simulativ; es sind die Konturen einer meist sehr eigeninteressierten „simulativen Demokratie“ 74, die in der Protestkultur der Mittelschichten aufscheinen. Verdrängt wurde diese „gebildete Protestkultur“ im letzten Jahrzehnt zunehmend von dem Protest rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen. Ihr Protest richtet sich aber nicht auf eine gesündere Umwelt, Graswurzeldemokratie und Deliberation. Der Protest nährt sich vielmehr aus Sentiments, Vorurteilen und Intoleranz gegen das Fremde oder gar die Fremden. Die Eliten des korrup­ ten Systems und ihre „Systemparteien“, wie die gesamte liberale Textur der Demokratie, werden nunmehr angegriffen und unter Druck gesetzt. Rechtspopulismus und Illiberalismus erscheinen gegenwärtig als die größte ungelöste Herausforderung der liberalen eingebetteten Demokratie. Entwarnung kann auch nicht an der Globalisierungsfront gegeben werden. Macht und Entscheidungsarenen haben sich verlagert, weg vom Nationalstaat hin zu globalisierten Märkten und supranationalen Politikregimen. Erstere funktionieren nach individuellem Gewinnstreben, Letztere wurden bisher nur unzureichend demokratisiert. Dem „Regieren jenseits des 72 Wolfgang Merkel und Felix Scholl, Illiberalism, Populism and Democracy in East and West. In: Politologický Časopis (PČ) / Czech Journal of Political Science 1/2018: 28 – 44. 73 Norris, 1999 (Fn. 19); Norris, 2011 (Fn. 19). 74 Ingolfur Blühdorn, Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende. Frankfurt am Main 2013.

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Nationalstaates“ 75 folgte eben nicht automatisch dessen Demokratisierung. Das gilt auch für die Europäische Union. Kompetenzverschiebungen von der nationalstaatlichen auf die europäische Ebene mögen bisweilen durch eine höhere Problemlösungskompetenz legitimiert werden können, bezahlt wurden sie noch immer mit Demokratieverlusten.76 Das demokratische Defizit der EU  – seit Dekaden wortreich beklagt – ist trotz dieser Klagen nicht kleiner geworden. Das hat nicht zuletzt die Eurokrise und die tiefe fiskalpolitische Intervention der „Troika“ in die griechische Finanzpolitik gezeigt. Blühdorns Diagnose einer simulativen Demokratie beschreibt die demokratischen Fassaden der Europäischen Union denn auch viel treffender als den Zustand der Demokratie in den Nationalstaaten, auf die die Beschreibung eigentlich gemünzt war. Zu besichtigen ist dies nicht zuletzt an den Wahlen zum Europäischen Parlament und d ­ iesem selbst. Die Bürger wissen wenig von ihm, halten wenig von ihm, fühlen sich kaum repräsentiert und bleiben dann auch konsequent den Wahlen fern. Viele der wenigen Wähler wählen nicht ‚ihr‘ Europäisches Parlament, sondern verteilen Denkzettel an ihre nationalen Regierungen. Simulation anstelle von Partizipation, Repräsentation und Verantwortlichkeit. Das Europaparlament hat die Erwartungen als demokratischer Hoffnungsträger auch nach mehr als drei Jahrzehnten direkter Wahl nicht erfüllt. Die gestiegenen Kompetenzen wurden noch bei jeder Wahl mit geringerer Beteiligung beantwortet. So ist es eine Fehlinterpretation, die bremsende Wirkung des deutschen Bundesverfassungsgerichts in Fragen des Kompetenztransfers auf die europäische Ebene schlicht als ‚konservativ‘ zu brandmarken. Aus demokratietheoretischer Sicht ist sie eher progressiv, da sie die leichtfertige Preisgabe nationaler, demokratisch kontrollierter Kompetenzen an die weniger demokratische Europäische Union verlangsamt oder verhindert, zumal es dies explizit mit nichts anderem als dem demokratischen Argument tut. „Die“ Demokratie gibt es nur in der ­Theorie. Real existierende Demokratien weisen selbst im demokratisch fortgeschrittenen Bereich der OECD oder auch nur EU eine breite Varianz auf: Ungarn ist nicht Dänemark, Bulgarien nicht Finnland, Großbritannien nicht Frankreich und Italien nicht Deutschland. Da gibt es erhebliche Unterschiede in der Qualität der Demokratien, 75 Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates, Frankfurt am Main 1998. 76 Fritz W. Scharpf, Monetary Union, Fiscal Crisis and the Preemption of Democracy. MPIfG Discussion Paper 11/11. Max-­Planck-­Institut für Gesellschaftsforschung, Köln, Juli 2011; Streeck, 2013 (Fn. 52).

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der Akkumulation von ungelösten Herausforderungen, der demokratischen politischen Kultur und der Resilienz der demokratietragenden Institutionen und Organisationen. Die Rede von „der“ Krise der Demokratie ist also aus komparativer Sicht nicht rechtfertigbar, im besten Sinne summarisch unscharf. Sie unterschätzt zudem die Resilienz- und Innovationspotenziale der etablierten Demokratien. Die USA unter dem Populisten und Machtopportunisten Donald Trump werden ein Testfall dieser Resilienz werden. Doch Berlin ist nicht Weimar, 2008 war nicht 1929, die internationale Staatenwelt der 1930er Jahre nicht jene von 2018. Trotz all ihrer real existierenden Defizite sind die nationalstaatlichen Demokratien nach wie vor die schlechteste aller Regierungsformen, abgesehen von all jenen, die von Zeit zu Zeit immer wieder einmal ausprobiert wurden.77

77 Das Originalzitat lautet: “Many forms of Government have been tried, and will be tried in this world of sin and woe. No one pretends that democracy is perfect or all-­wise. Indeed it has been said that democracy is the worst form of Government except for all those other forms that have been tried from time to time” (Winston S. Churchill: House of Commons, 11. November 1947).

Zum Verhältnis des Populismus zur liberalen Demokratie Reinhard Heinisch / Carsten Wegscheider

1 Einleitung Die jüngsten Erfolge populistischer Kräfte in Europa gehen oftmals einher mit einem Verfall der politischen S­ itten und einer Verrohung des politischen Diskurses, und die soziale und politische Polarisierung bedroht zunehmend den Zusammenhalt demokratischer Gesellschaften. Politische Gegner werden als Feinde und Verräter des Volkes abgestempelt, die es zu vernichten gilt, da sie dem vermeintlich ‚wahren Volkswillen‘ widersprechen. Ein früher Vertreter ­dieses Trends und ehemaliger Vorsitzender der FPÖ, Jörg Haider, sprach von „roten und schwarzen Filzläusen, die mit Blausäure bekämpft werden sollten“ (Lackner et al. 1994). Donald Trump rief im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf dazu auf, seine demokratische Gegenkandidatin Hillary Clinton einzusperren. In unserem Nachbarland Ungarn geht die Hetze gegen Regierungskritiker sogar von den höchsten Stellen des Staates aus. Das Jahr 2019 wird in die Geschichte als jenes eingehen, in dem Ungarn als erstes und einziges Land der Europäischen Union von der renommierten Organisation Freedom House, die weltweit Freiheitsrechte dokumentiert, als nur teilweise frei (‚partly free‘) eingestuft wird. Die Änderung ­dieses Status wird wie folgt begründet: „Hungary’s status declined from Free to Partly Free due to sustained attacks on the country’s democratic institutions by Prime Minister Viktor Orbán’s Fidesz party, which has used its parliamentary supermajority to impose restrictions on or assert control over the opposition, the media, religious groups, academia, NGOs, the courts, asylum seekers, and the private sector since 2010” (Freedom House 2019).

Die ungarische Regierung unter Viktor Orbán geht für mitteleuropäische Verhältnisse mit beispielloser Härte nicht nur gegen Nichtregierungsorganisationen, Medien und wissenschaftliche Einrichtungen vor, sondern bedient sich gezielt antisemitischer und fremdenfeindlicher Vorurteile, um die Bevölkerung in ihrem eigenen Sinne zu beeinflussen. Unter der zunehmenden Hegemonie der Fidesz-­Partei ist der ungarische Staat nicht mehr länger eine im Grunde neutrale Einrichtung jenseits der Parteien, sondern längst ein Instrument der

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Regierungspartei. Dies zeigt sich in etwa an den Schulbüchern, die nun die Parteiideologie vertreten, sowie in der Entscheidung des Regierungschefs, ein ganzes ideologisch unliebsames Universitätsfach, die Gender-­Studies, einfach abzuschaffen (Oppenheim 2018). Die Macht der Regierung gründet sich in drei sukzessiven ‚Verfassungsreformen‘, die es der Partei Orbáns mit knapp 45 Prozent der Wählerschaft ermöglichen, beinahe 67 Prozent der Sitze im Parlament zu erhalten. Auch in Polen kam es nach der Machtübernahme der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zu Verfassungsänderungen und in der Folge zu einem Konflikt mit dem dortigen Verfassungsgerichtshof, den die Regierung mit parteikonformen Richtern zu besetzen gedachte. Ähnliches lässt sich von Venezuela und Bolivien berichten. Auch dort versuchten populistische Machthaber, ihre politische Vorherrschaft durch Verfassungsänderungen zu prolongieren. Doch die Versuche, konstitutionelle Schranken und rechtliche Vorgaben auszuhebeln, sind nicht nur Kennzeichen junger oder unreifer Demokratien, sondern generell dort manifest, wo Populisten Machtpositionen einnehmen. Angriffe auf die Rechtsstaatlichkeit kennen wir etwa auch von Italiens Innenminister Salvini oder selbst von seinem österreichischen Pendant, Herbert Kickl, der Teile der in der Verfassung verankerten Menschenrechtskonvention aussetzen möchte. Auch Jörg Haider ist hier hinzuzuzählen, zumal sich der Kärntner Landeshauptmann weigerte, ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs zu den zweisprachigen Kärntner Ortstafeln umzusetzen, und dessen Präsidenten persönlich beschimpfte. Trotz dieser verbalen Entgleisungen und Angriffe auf demokratische Institutionen ist der Populismus im Gegensatz zu autoritären Bestrebungen des Extremismus per se nicht anti-­demokratisch. Populisten rufen an sich weder zur Gewalt auf noch boykottieren sie demokratische Entscheidungsprozesse. Ganz im Gegenteil, oft fordern sie den Ausbau der direkten Demokratie, da das Volk quasi immer Recht habe und ihre Entscheidungen nicht von demokratischen Institutionen, den Gerichten oder den Medien hinter­fragt oder gar beschränkt werden sollten.

2 Der Populismusbegriff Drei unterschiedliche Populismuskonzeptionen sollten nicht verwechselt werden: der Populismus als Stil (Jagers und Walgrave 2007; Moffit und Tormey 2014), der etwa den Habitus und das Sprachverhalten des Stammtisches bezeichnet; der Populismus als Mobilisierungsstrategie oder strategischer Diskurs (Laclau

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2005; Weyland 2001), unter dem man stark emotionale Appelle, bewusste Überzeichnungen, Tabubrüche und grobe Vereinfachungen versteht, um auf schrille Weise auf sich oder seine Ziele aufmerksam zu machen; sowie der Populismus als eine Art Ideologie oder Ideensystem (Mudde 2004; Mudde und Rovira ­Kaltwasser 2017, Heinisch und Mazzoleni 2017). Letzteres definiert sich einerseits durch die ständige Bezugnahme auf einen abstrakten und homogenen Volksbegriff. In der Regel wird von einem wahren und rechtschaffenen Volk ohne Klassenunterschiede und Interessensgegensätze gesprochen. Als Beispiel sei hier an ein früheres Wahlplakat der FPÖ mit der Aufschrift ‚Dem Volk sein Recht‘ erinnert. Dieser abstrakten und unscharfen Konzeption vom Volk sind auch die typischen im Populismus verwendeten Begriffe wie ‚anständige Österreicher‘, ‚echte Kärntner‘ (wer sind die unechten?) oder ‚Heartland Americans‘ geschuldet. Zweitens bezieht sich der ideologische Populismus auf eine dem Volk schadenwollende Elite oder volksfremde Gruppe. Auch diese Kollektive sind unscharf definiert und können nach Belieben geändert werden. Die Elite kann etablierte Politiker und Parteien (‚Altparteien‘), Bürokraten (‚Apparatschiks‘), Brüssel (‚Eurokraten‘), Sozialpartner (‚Privilegien-­Ritter‘) Unternehmer (‚Konzernbosse‘), Bankiers (‚Spekulanten‘), Journalisten (‚Lügenpresse‘), Experten und dergleichen umfassen. Zu den Volksfeinden zählen je nachdem auch Außenseitergruppen wie Minderheiten, Immigranten, Muslime oder Juden, oder wer sonst als außerhalb der Volksgemeinschaft stehend wahrgenommen wird. Die Eliten und Außenseitergruppen werden oft in Kombination als Feindbilder dargestellt, wie etwa die bedrohliche Darstellung von Muslimen auf Wahlplakaten rechtspopulistischer Parteien, die von den Eliten ‚importiert‘ werden. Um das Volk vor der vermeintlichen Ausbeutung durch Eliten und Volksfeinde zu ­schützen, vertreten Populisten Maßnahmen, die glaubhaft einen radikalen Wandel und die Durchsetzung des allgemeinen Volkswillens versprechen sollen. Der Antagonismus z­ wischen einem homogenen, seiner Souveränität und Würde beraubten Volk auf der einen Seite und der üblen Elite auf der anderen ist somit das zentrale Wesensmerkmal des Populismus rechter, aber auch linker Prägung. Der grundsätzliche Glaube an einen Gegensatz z­ wischen dem guten Volk und der üblen und korrupten Elite (Heinisch und Mazzoleni 2017; Mudde 2004) ist somit wohl das zentrale Charakteristikum des modernen Populismus. Mit ­diesem Zugang ist der Populismus zunächst anti-­politisch und anti-­ pluralistisch, weil das Volk als geschlossene Einheit mit einer einheitlichen Meinung dargestellt wird. All diejenigen, die eine andere Position vertreten, sind erklärte Gegner des Volkes, denen keine politische Legitimität zugestanden wird. Politische Kompromisse gelten als Verrat und politische Gegner werden

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als Feinde deklariert, was wiederum die typische Kooperation über Parteigrenzen hinweg praktisch unmöglich macht und zu dauerhaften Koalitionen moderater Kräfte führt, weil die Zusammenarbeit mit den Radikalen schwieriger ist. Eine daraus resultierende Folge ist die zunehmende Wahl z­ wischen gefühltem Stillstand und radikalem Systemwechsel – ein Zustand, der sich in Österreich vor der Nationalratswahl 2017 und mittlerweile auch seit einigen Jahren in Deutschland beobachten lässt. Da ­dieses ideologische Konstrukt des Antagonismus ­zwischen Volk und Elite im Kern ein sehr einfaches ist und über kein eigenes Wertesystem oder Lösungen verfügt, muss der Populismus sich mit anderen Ideologien, sogenannten Wirtsideologien, verbinden. In Kombination mit linken oder rechten Ideologien können Populisten die vermeintlichen Ursachen der gesellschaftlichen Probleme erklären, um dann entsprechende Lösungen anzubieten. Der Linkspopulismus sieht in der kapitalistischen Elite und einem einheitlichen globalen Ausbeutungssystem seine Feindbilder und die Ursachen gesellschaftlicher Probleme. Im Gegensatz zur klassischen Linken predigt er jedoch nicht die Klassenrevolution oder einen neuen Internationalismus, sondern eher nationale Sonderwege und eine Rückbesinnung auf vielfach idealisierte Ursprünge der eigenen Gesellschaft. Ablesbar sind diese Beschwörungen etwa an der Politik Simon Bolivars, Hugo Chavez oder den romantisierten Darstellungen des präkolumbianischen Boliviens von Evo Morales. Für Europa stellt jedoch gegenwärtig der Rechtspopulismus die größere Herausforderung dar. Wie alle radikalen Rechten stellt sich auch der Rechtspopulismus gegen die Tradition der Aufklärung mit den Prinzipien des Liberalismus, Universalismus und Humanismus und vertritt den Glauben an eine Hierarchie der Menschen aufgrund biologischer, rassischer oder kultureller Unterschiede. Diesem Denken liegt eine Vorstellung über die unterschied­liche Wertigkeit von Menschen zugrunde. Im Gegensatz zur alten Rechten, die ihre vermeintliche intellektuelle, kulturelle und politische Überlegenheit über Kolonialismus und Ansprüche auf Lebensraum rechtfertigte, betont die neue Rechte eine ethno-­pluralistische Sichtweise und damit die kulturelle Autonomie und Selbstbestimmtheit der Völker (Rydgren 2018). Damit bedient sich auch der Rechtspopulismus fremdenfeindlicher und kulturrelativistischer Ideen, um ein idealisiertes Gesellschaftsbild zu entwerfen, in dem die ethnisch und kulturell unverfälschte Bevölkerung harmonisch zusammenlebt. Bei einer Verbindung des Populismus mit nationalistischen, nativistischen, rassistischen oder ethnokratischen Vorstellungen entsteht somit der Rechtspopulismus oder bei radikalen sozialen Umverteilungsforderungen gegenüber

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Eliten im Namen ‚des Volkes‘ der Linkspopulismus. Der Populismus bietet dabei stets das Versprechen einer radikalen Veränderung. Daher muss auch betont werden, dass sich aus dem Verhältnis ­zwischen Populismus und Demokratie für letztere unterschiedliche Bedrohungen ergeben. Dabei gibt es ­solche, die einer populistischen Logik entspringen, und ­solche, die der linken oder rechten Ideologie geschuldet sind. Selbst wenn man ­dieses Verhältnis auf den Populismusbegriff reduziert, bieten sich immer noch mindestens drei Möglichkeiten, wie der Populismus der Demokratie schaden kann: Erstens durch den Stil, was sich in einer Verrohung der politischen Kultur und Umgangsformen samt Radikalisierung niederschlägt; zweitens durch strategische und diskursive Vorgehensweisen, die den politischen Gegner dämonisieren und die politische Kompromissfähigkeit reduzieren; und drittens, wie bereits erwähnt, durch eine sukzessive Ausschaltung der verfassungsgemäßen Schranken der Volkssouveränität und institutionellen Kontrollen der politischen Machthaber. Ungeachtet der ideologischen Gemeinsamkeiten des Rechts- bzw. Linkspopulismus mit der extremen Rechten und Linken bedarf es auch hier einer Abgrenzung. So ist beispielsweise der Rechtspopulismus Teil des sehr breiten Spektrums der zeitgenössischen radikalen Rechten, zu dem auch rechtsex­ treme Gruppierungen wie die Identitäre Bewegung, Hooligans gegen S­ alafisten (HoGeSa), Reichsbürger und Neonazis gezählt werden. Im Gegensatz zu diesen extremistischen Gruppierungen sind Populisten, wie bereits erwähnt, in der Regel nicht gewaltbereit und auch nicht per se anti-­demokratisch. Deshalb ist auch nicht das Verhältnis des Populismus zur Demokratie an sich, sondern zur liberalen Form der Demokratie als problematisch anzusehen. Die Frage, die hier aufgeworfen und noch diskutiert wird, ist jedoch, ob es eine stabile Demokratie überhaupt ohne liberale Dimension geben kann.

3 Der Erfolg der Populisten und die Konsequenzen für die Demokratie Die Tatsache, dass wir uns mit möglichen Bedrohungen des Populismus linker oder rechter Ausprägungen für die Demokratie auseinandersetzen, ist in erster Linie dem großen Erfolg in den letzten Jahren geschuldet. War er einst ein Randphänomen, das sich auf politische Systeme geprägt von spezifischen Problemen wie öffentliche Korruption und überbordender Parteienherrschaft beschränkte, haben sich populistische Parteien und Politiker längst in Staaten durchgesetzt, die für ihre Transparenz und Effizienz bekannt sind, wie etwa

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die skandinavischen Länder oder die Schweiz. Auch alte Demokratien wie die USA oder Großbritannien sind nicht immun gegenüber populistischen Phänomenen, wie die Wahl von Donald Trump oder der Brexit belegen. Überhaupt fällt auf, dass populistische Politik überall erfolgreich ist, unabhängig von institutionellen Voraussetzungen oder politischen Regeln wie dem Wahlsystem oder der historischen Entwicklung, wenn man West-, Nord- und Südeuropa sowie Mittel- und Osteuropa vergleicht. Während es früher oftmals nur eine anti-­systemische Partei oder Protestbewegung in einem Staat gab, so entstehen heute dergleichen mehrere. In Italien sind die beiden größten Parteien, die Fünf-­ Sterne-­Bewegung und die Lega Nord, populistisch und haben jeweils unterschiedliche ideologische Orientierungen. In Spanien gibt es derzeit parallel zur linkspopulistischen Partei Podemos die rechtspopulistische Vox. Der Erfolg der Rechts- und Linkspopulisten beruht auf einer sich allenthalben manifestierenden Legitimationskrise der repräsentativen Demokratie. Große Teile der Bevölkerung haben den Eindruck oder werden davon überzeugt, dass ihre Anliegen von der Politik nicht mehr entsprechend vertreten werden. Daraus entsteht ein starker Wunsch nach Veränderung, wobei sich die Populisten sehr gekonnt als Veränderer präsentieren, die mit dem bisherigen Status quo brechen wollen. Den Erfolgen rechtspopulistischer Parteien gehen oft Fälle öffentlicher Korruption oder das Empfinden eines Kontrollverlustes angesichts schwindender Grenzen und unsichtbarer globaler Marktmechanismen voraus. Rechtspopulisten haben auf dem politischen Marktplatz gewichtige Vorteile gegenüber der Konkurrenz. Im Gegensatz zu den etablierten Parteien können sie sich als Veränderer präsentieren und Forderungen stellen, die in ihrer Radikalität weit darüber hinausgehen, was innerhalb der Konventionen der bestehenden Politik möglich ist. Der Tabubruch und ihr unkonventioneller Politikstil sichert den Populisten auch eine maximale mediale Aufmerksamkeit. Gleichzeitig sind gerade populistische Parteien von einem autoritären Führungsstil gekennzeichnet, der einerseits die Aufmerksamkeit auf die Parteiführung lenkt und anderseits verhindert, dass aus der eigenen Partei Querschüsse kommen. Mainstream Politiker/innen sind hier im Gegensatz viel stärker der Kritik der eigenen Partei ausgesetzt. Dennoch sind populistische Parteien nicht per se rechts- oder linksextrem. Dies ermöglicht es ihnen auch, Wähler anzusprechen, die nie eine extremistische Partei wählen würden. Populisten sind in der Regel politisch flexibel, ambivalent und opportu­ nistisch, und Popularität ist damit häufig wichtiger als programmatische Prinzipien. Dadurch gelingt es populistischen Parteien und Politikern, breite

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Wählergruppen von ganz radikal bis weit ins bürgerliche Lager und ins Arbeitermilieu anzusprechen. Sie vereinen damit all jene, die unzufrieden sind, indem sie jedem etwas versprechen, und bieten ein Bündnis für diejenigen, die sich politisch heimatlos fühlen. Für jemanden, der sich einen radikalen Wandel wünscht, sind Veränderungen wichtiger als die Folgen, die sich daraus ergeben. Die programmatische Widersprüchlichkeit von Populisten verdeutlicht sich auch in der Doppelmoral, mit der einige ­Themen behandelt werden; mal werden die links-­grünen Feminist/inn/en beschuldigt, Frauen unnatürliche Werte einzureden und einen Genderwahn zu verfolgen, dann wiederum sind es der Islam und Muslime, die unsere emanzipierten Frauen und freiheitliche Gesellschaftsordnung bedrohen. Diese flexible und dünne Programmatik ist zugleich Schwachpunkt und Stärke der Populisten. Einerseits geraten Populisten oft in Bedrängnis, wenn sie nach konkreten Vorschlägen z. B. zur Digitalisierung oder Rentenreform befragt werden, und versuchen stattdessen, den Diskurs auf ihre Kernthemen wie Migration, Islam und die Ausbeutung des kleinen Bürgers zu lenken. Andererseits ermöglicht diese elastische Positionierung den Populisten, möglichst breite Wählergruppen anzusprechen und für Wahlen zu mobilisieren, was durch die Bereitschaft zu unkonventionellen Politikformen und Politikern neuen Typs zusätzlich verstärkt wird. Dies sind einige der entscheidenden Erfolgsfaktoren dieser Parteien. Dennoch führen die hierbei auftretenden programmatischen Widersprüche oft zu Problemen, vor allem wenn Populisten in Regierungsverantwortung kommen und diese Versprechungen umsetzen müssen, womit wir wieder bei den möglichen Gefahren sind, die populistische Parteien für die Demokratie darstellen.

4 Zum Verhältnis des Populismus zur liberalen Demokratie Vor allem in der Frühphase des neuen Populismus war die Ansicht weitverbreitet, dass der Populismus eine Art Korrektiv des demokratischen Systems sei, um verkrustete Strukturen aufzubrechen und einen zutiefst unzulänglichen Status Quo zu verändern. Im Zusammenhang mit der aufkommenden Diskussion um Parteienkartelle und Post-­Demokratie ist es verständlich, dass der Populismus als Protestphänomen und Systemreinigung begriffen wurde. Auch die Populismusforschung bietet Belege dafür, dass Populisten in der Oppositionsrolle durchaus in der Lage sind, marginalisierte Wählergruppen anzusprechen oder politisch desillusionierte Bevölkerungsgruppen zu mobilisieren (Huber & Schimpf 2016).

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Dennoch kann die These vom Populismus als Korrektiv demokratischer Fehlentwicklungen nicht wirklich aufrechterhalten werden, vor allem nicht unter Bedingungen, in denen Populisten die Regierung dominieren. Infolge­ dessen gerät die liberale Demokratie unter großen Druck. Generell gibt es zwei Möglichkeiten, wie liberale Demokratien in illiberale Formen wechseln können: Das geschieht einerseits von unten, durch illiberale Strömungen, bei denen durch Abstimmungen die mobilisierte Mehrheitsmeinung zum alleinigen Gradmesser der Politik wird, und zwar ungeachtet verfassungsmäßiger Beschränkungen. Populisten fordern daher vielfach einen radikalen Wandel von der repräsentativen hin zur direkten Demokratie, womit die stille Hoffnung verknüpft ist, Rechtsstaat und Medien in den Griff zu bekommen. Der Populismus stellt sich dabei vor allem gegen demokratische Kontrollmechanismen und -institutionen, wie Journalisten und unabhängige Medien, Verfassungsgerichte und eine unabhängige Justiz sowie NGOs und internationale Organisationen. Die zweite Form ist die autoritäre Demokratie von oben. Hierbei erfolgt die Zurückdrängung des Rechtsstaates und der freiheitlichen Grundordnung von oben, wobei staatliches Handeln an die (vermeintliche) Volksmeinung gebunden ist, die jedoch von der politischen Führung durch gezielte Kampagnen gesteuert wird. Der Prozess beginnt mit der systematischen Diskreditierung der freien Medien und Zivilgesellschaft. In weiterer Folge kommt es zu einer Aufweichung der Gewaltenteilung, wobei durch politische Interventionen oder Verfassungsänderungen die Unabhängigkeit der Justiz kompromittiert wird. Mit der Zeit wird die autoritäre Demokratie zunehmend exekutivlastig. Der Staat wird ein Agent im parteipolitischen und gesellschaftspolitischen Wettbewerb, indem er etwa gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen oder Personen Stimmung macht. In dieser Situation ist der Staat nicht mehr neutral, sondern folgt der parteipolitischen Agenda der Führung. So bilden etwa Schulbücher in Ungarn die ideologische Ausrichtung der herrschenden Regierungspartei ab. Ebenfalls ist die Kampagne Viktor Orbáns und der Fidesz Partei gegen George Soros längst nicht mehr die politische Aktion einer Partei, sondern ein Angriff des ungarischen Staates auf bestimmte Personengruppen. Das Primat der Exekutive vor anderen politischen Institutionen dient der gewählten politischen Führung, die Macht sukzessive auszubauen. Mangels fehlender politischer Freiräume oder unabhängiger Medien haben es Oppositionskräfte schwer, sich zu organisieren oder sich entsprechend Gehör zu verschaffen. Aus der populistischen Freund-­Feind-­Logik einer Partei wird somit die für-­uns-­gegen-­uns Logik eines Staates und seiner Ressourcen. Das Operieren mit Verschwörungstheorien und Kampagnen gegen Innen- und Außenfeinde

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sowie die Infragestellung von Fakten und die offene Lüge als normaler Teil des politischen Diskurses sind weitere Manifestationen dieser Form eines populistisch dominierten Staates. Die Radikalisierung des politischen Klimas und die Verschiebung des gesellschaftlichen Konsenses sind eine weitere Folge dieser Politik. Staatliche Einrichtungen, die sich sonst einer gewissen Unabhängigkeit erfreuen, etwa Justiz, Rechnungshof, die Zentralbank oder Universitäten und andere wissenschaftliche Einrichtungen, werden systematisch geschwächt und destabilisiert. Die Spaltung der Gesellschaft wird bewusst in Kauf genommen, um auf diese Weise die Mehrheit der Bevölkerung in Zugzwang zu bringen, sich ­zwischen zwei Lagern zu entscheiden. Auf der einen Seite die Regierung, die viele Vorteile anzubieten vermag, und auf der anderen die Reste der Opposition und Zivilgesellschaft, die permanent im Verdacht stehen, mit den Feinden des Staates zusammenzuarbeiten. Ungarn ist jener Staat der EU, in dem ­dieses Szenario bereits am weitesten fortgeschritten ist, doch finden sich auch in Polen erste Anzeichen dieser Entwicklung. Wenn man jedoch die politischen Veränderungen der letzten Jahre in Ungarn betrachtet, stellt sich die prinzipielle Frage, ob eine illiberale Demokratie überhaupt längerfristig möglich ist, oder ob es nicht doch nur eine Übergangsform zu einem autoritären System ist, wie es sich etwa auch in Venezuela abzeichnete und wie wir es heute in der Türkei oder Russland vorfinden. Es ist schwer vorstellbar, dass eine die Staatsmacht kontrollierende und von einem gewichtigen Teil der Bevölkerung getragene politische Führung sich selbst beschränken könnte und freiwillig jemals eine dominante Position aufgeben würde, zumal sie im Falle des Machtverlustes mit Repressalien der Gegenseite zu rechnen hat. Selbst im Falle eines weniger autoritären Verlaufes populistischer Regierungsdominanz drohen mangels ausreichender Kontrolle der kollektive Irrtum und schwere politische Fehlentwicklungen. Hierbei sei etwa an die Amtszeit von Landeshauptmannschaft Jörg Haider erinnert, dessen populistische Politik den finanziellen Ruin des Landes Kärntens zur Folge hatte. In den meisten Fällen kommt es nach den Erfolgen populistischer Kräfte nicht zu den versprochenen radikalen Veränderungen zugunsten des kleinen Mannes, sondern in erster Linie zu symbolischer Politik. Mit großen Gesten werden Pseudomaßnahmen ergriffen, die scheinbar mit bisherigen Gepflogenheiten aufräumen, aber in der Substanz wenig Wirkung zeigen. So betreffen beispielsweise die Kürzungen der Sozialleistungen für Ausländer und so genannte Sozialschmarotzer vor allem die untere Mittelschicht und damit viele derjenigen, die populistische Parteien wählen. Sobald jedoch die Kontroll­ mechanismen unabhängiger Gerichte, der Medien und der Oppositionsparteien

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ausreichend geschwächt sind, gedeiht im Umfeld populistischer Machteliten ein System von Korruption und Günstlingswirtschaft, wie ein Blick auf das Ungarn unter Orbán, die Entwicklungen unter den italienischen Populisten, das Umfeld von Donald Trump oder das System von Jörg Haider im österreichischen Kärnten zeigt. Die Politik der einfachen Lösungen und des Bauchgefühls erweist sich in der Regel nicht als zielführend. Das zeigt die Ankündigung von Donald Trump, dass Handelskriege etwas Gutes ­seien und leicht zu gewinnen sind, oder das Versprechen der Brexit-­Befürworter, dass die Briten zukünftig 350 Millionen Pfund an wöchentlichen Beiträgen an die EU einsparen würden. Um von ­diesem politischen Scheitern abzulenken, mobilisieren Populisten gegen innere und äußere Feinde und wettern wie im Fall Donald Trump sogar gegen die eigenen Behörden. In jedem Fall sind populistische Parteien und Bewegungen dabei, sich in die Zentren der politischen Macht zu bewegen. Ihr Stimmenanteil steigt von Wahl zu Wahl an und man rechnet damit, dass im nächsten Europäischen Parlament mehr als 25 Prozent der Sitze von euroskeptischen und populistischen Parteien eingenommen werden. Daher sollte die von Populisten ausgehende Bedrohung für die liberale Demokratie als eine Bedrohung für die Demokratie in jeder Form angesehen werden.

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Literatur Freedom House. 2019. Freedom in the World – Hungary. https://freedomhouse.org/report/freedom-­ world/2019/hungary (Abgerufen am 12. 02. 2019). Heinisch, Reinhard, und Oscar Mazzoleni. 2017. Analysing and Explaining Populism: Bringing Frame, Actor and Context back in. In: Political Populism. A Handbook, Hrsg. Reinhard Heinisch, Christina Holtz-­Bacha, und Oscar Mazzoleni, 105 – 122. Baden-­Baden: Nomos. Huber, Robert A., and Christian H. Schimpf. 2016. A Drunken Guest in Europe? The Influence of Populist Radical Right Parties on Democratic Quality. In: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft 10(2): 103 – 29. Jagers, Jan und Stefaan Walgrave. 2007. Populism as political communication style: An empirical study of political parties’ discourse in Belgium. In: European Journal of Political Research, 46(3): 319 – 45. Lackner, Herbert, Andreas Weber, und Christa Zöchling. 1994. Wir sind nicht aufzuhalten. In: profil, Nr. 17. Laclau, Ernesto. 2005. On Populist Reason. London: Verso. Moffit, Benjamin, und Simon Tormey. 2014. Rethinking Populism: Politics, Mediatisation and Political Style. In: Political Studies, 62(2): 381 – 97. Mudde, Cas. 2004. The Populist Zeitgeist. In: Government and Opposition, 39(4): 541 – 63. Mudde, Cas, und Christóbal Rovira Kaltwasser. 2017. Populism: A Very Short Introduction. Oxford: Oxford University Press. Oppenheim, Maya. 2018. Hungarian Prime Minister Viktor Orban bans gender studies programmes. The Independent 24. October. https://www.independent.co.uk/news/world/europe/ hungary-­bans-­gender-­studies-­programmes-­viktor-­orban-­central-­european-­university-­ budapest-­a8599796.html (Abgerufen am 12. 02. 2019). Rydgren, Jens. 2018. The Radical Right: An Introduction. In: The Oxford Handbook of the Radical Right, Hrsg. Jens Rydgren, 1 – 14. New York: Oxford University Press. Weyland, Kurt. 2001. Clarifying a Contested Concept: Populism in the Study of Latin American Politics. In: Comparative Politics, 34(1): 1 – 22.

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Since the fall of the Berlin Wall, liberalism has been “the only game in town” across Europe. The centre-­left and centre-­right parties rotating through power in various European countries carried on their banners the basic liberal slogans: individual liberty, tolerance, inclusiveness, fairness, constitutional democracy, the rule of law, human rights, open borders, European integration and diplomatic multilateralism. Today, politicians who openly question these values are increasingly in vogue. They already control governments in Italy, Hungary and Poland and have joined coalition governments in several other European countries, including Austria. Even if anti-­liberal politicians fail to win national elections, as in the case of Nigel Farage or Marine Le Pen, they shape the public narrative and dominate the political agenda.1 Most liberals who stayed in power have embraced a soft version of populism. Mark Rutte in Holland castigated migrants, Emmanuel Macron in France bashed traditional parties, and Theresa May embraced Brexit. This has not guaranteed their survival. Currently, Macron and May are fighting for their political lives, albeit for different reasons. Is liberalism doomed, and if so, why? This is a one billion bitcoin question, which many political analysts are trying to answer. Not surprisingly, there is no single, simple answer to this question. Liberalism is certainly in retreat, but it may well bounce back. Much depends on our capacity to understand the roots of the liberal crisis. This paper is chiefly about these roots and the ­possible solutions to address them.2

1 It should be kept in mind, however, that the UKIP and Front National came first in the United Kingdom and France in the 2014 European Elections. For the official results see: http://www.europarl.europa.eu/elections2014-results/en/election-­results-2014.html. 2 This paper draws from my two books: Is the EU doomed? Cambridge: Polity Press, 2014; and Counter-­revolution. Liberal Europe in Retreat, Oxford University Press 2018.

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From crisis to crisis For many years, Europe under the liberal reign was a symbol of prosperity and stability, but the current discourse is chiefly about chaos and crisis. Economists talk about the banking crisis, debt crisis, currency crisis, growth crisis, crisis of inequality, crisis of cohesion, and crisis of work. The list of crises does not end here. We also have a democracy crisis, crisis of trust, crisis of European integration, crisis of trans-­Atlantic cooperation, migration crisis, environmental crisis, and above all a crisis of imagination.3 In the media-­saturated world the term crisis is overused and misused, but the perception of crisis is certainly widespread and it affects voters’ behaviour. Voters have begun to desert the liberal politicians who have been in power for many decades and who are now being held responsible for the series of above-­mentioned crises. At stake are not just political careers, but the entire liberal project. Troubles for the liberal project have not arisen overnight. There was always some scepticism regarding Francis Fukuyama’s declaration of the end of history, and the ultimate triumph of liberalism.4 Russia’s flirtation with liberalism – ​or more precisely, with economic neo-­liberalism – ​was brief under President Yeltsin, and China never embraced liberal ideals. Although communism fell from grace in most countries in Africa, Latin America and Asia, this did not mean the rise of liberal democracy and economics in most of these cases. Liberal norms have also been frequently compromised by liberal governments in Europe and the United States. After 9/11, illiberal security and foreign policies became widespread. The fall of the Lehman Brothers heralded the crisis of economic liberalism. The illiberal treatment of refugees was already registered during the war in the Balkans. Parliamentary representation and the liberal system of checks and balances have also been under strain for some time. And one wonders whether the notion of an international liberal order was plausible in a world of repetitive military intervention, persistent post-­colonial exploitation, and widespread violations of human rights. Theory and practice often diverge, and politicians often fail to live up to the proclaimed standards. This by itself does not need to herald the end of a certain ideology. However, there is a problem of scale: how much can actual policies 3 Anthony Giddens, Turbulent and Mighty Continent: What Future for Europe? Cambridge: Polity Press, 2013; Jürgen Habermas, The Crisis of the European Union: A Response, Cambridge: Polity Press, 2012. 4 Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York: Free Press, 1992.

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diverge from proclaimed values? Moreover, the current situation as compared with the situation twenty or so years ago suggests a paradigm change. In the past, declared liberal values were frequently compromised in practice, but the distinction between liberal constitutionalism and autocracy was tangible, and violators of liberal norms were shamed, if not sanctioned. Today the distinction between liberalism and autocracy is blurred, and autocrats are kingmakers in such eminent international bodies as the G-20. The G-20 features at least four archetypal illiberal states: Russia, China, Turkey and Saudi Arabia. One even wonders whether the self-­proclaimed leader of the “free” world, the United States of America, is still a liberal actor at present. Autocrats such as Viktor Orbán of Hungary are also part of the European Council, and the liberal credentials of several of other European Prime Ministers can also be questioned. President Macron of France, the celebrated leader of the liberal cause, is facing a political revolt initiated by the “yellow vests” demonstrations. His handling of this protest movement is not necessarily liberal either. In the past, economic inequalities (within and across countries) had to be justified and addressed, however ineffectively. Today, inequalities are being tolerated, if not justified by the narrative glorifying economic competition, freedom and self-­sufficiency. Welfare systems are being slashed even in Scandinavian countries. Institutions created to help laggards and to promote convergence such as the IMF and the EU are now preserving or even stimulating inequalities as exemplified by the Fiscal Compact, for instance. The international liberal order was never as stable, just and effective as claimed by its proponents. Today, however, there is hardly any trace of order, let alone a liberal one. Chaos and anarchy prevails with citizens and firms desperately searching for sound international rules, offering predictability and protection. The picture is even gloomier when we consider Europe’s liberal pretensions following the fall of the Berlin Wall. Europe was supposed to get rid of power politics. Large and rich states were no longer to bully small and impoverished ones. Above all, Europe was not to be ruled by Germany. Today a few “triple A” countries run Europe, with Germany in the driving seat. Gone is equality among member states. New treaties are written with only some states in mind, external (arbitrary) interference in domestic affairs abounds, and policies are chiefly about punishment rather than help and incentives. Europe was also supposed to create the most competitive economy in the world. It was supposed to lead to the “Stockholm consensus” prevailing over the “Washington consensus,” not just in the North, but also in the East and South of Europe. The common currency and the single market were the key means

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for achieving these ambitious economic aims. Today the common currency is in trouble and is undermining the achievements of the single market. Even the strongest European economies are failing to generate growth and Europe’s welfare systems are collapsing. The Euro was meant to help integrate Europe, but it achieved the opposite: it exacerbated the gaps and conflicts between the surplus and deficit countries, the importers and exporters, and the North and South. Europe prided itself as the hotbed of liberal democracy envisaging effective means of citizens’ participation. Today some key decisions are being made by the ECB , the IMF and the German Constitutional Court with only symbolic input from the European Council representing democratically elected leaders. Citizens in individual states are free to elect their governments, but these governments are not free to change the course of their policies. The powers of the European Parliament have been progressively augmented, but fewer and fewer people bother to vote in European elections, and an ever-­ larger percentage of elected European MP s is Euro-­sceptic. The strength of the European Parliament as an institution has been achieved at the expense of its representative role. Europe used to be a key guardian of the international liberal order despite its largely civilian nature. Its policy of enlargement has generated security and prosperity in post-­communist Eastern Europe. EU regulatory regimes imposed extra-­territorial scrutiny on numerous trading partners across the world. Today the EU no longer generates security, but instead instils insecurity. Further enlargements are put on hold, Europeans clash in the UN Security Council, and the European External Action Service cannot claim any significant successes. The EU is failing to steer global trade or environmental negotiations, leaving its citizens exposed to global turbulence. It is rightly argued that the term crisis is quite relative, but if the current situation does not represent a crisis, than one wonders whether the term crisis has any meaning. The crisis of the European version of liberalism is even more apparent when we examine individual policy fields. Let us start with the crisis of liberal democracy in contemporary Europe.

Democratic malady Manifestations of the democratic crisis abound and they are well illustrated by Wolfgang Merkel’s contribution to this volume. Over the last three decades we have experienced record low levels of electoral turnout, record low levels of

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party membership, and record low levels in public trust in parliaments.5 In the same period, we also observed record high levels of electoral volatility, suggesting a widening gap between the voters and the established political class.6 These factors not only undermine liberal democratic institutions; they also affect the entire system of socio-­economic governance.7 Liberal political parties have proved skilful in beefing up their financial resources, but unable to recruit new members, especially young ones, and to propose political programs attracting average voters. Traditional parties no longer act as a bridge between the state and society; they have become part of the state machine, detached from the electorate. Parties are basically relying on state-­regulated channels of communication, they use state facilities in order to staff and support their own undermanned organizations, and they reward their supporters and activists with the state’s privileges and resources.8 Parliaments are also in crisis. They are no longer the key sites of political representation where laws are being made and governments are being scrutinized. Most laws are now being prepared in ministries, usually headed by party leaders, with parliaments rubber-­stamping their decisions — ​often with little discussion. The scrutinising of politicians is mainly taking place in the media, increasingly online. Even special parliamentary committees established to air major misconduct of officials are run as public relations exercises, and hardly ever lead to disciplinary actions against party leaders. Gone are the times when parliaments pretended to resemble a marketplace of ideas with great doses of inspiring eloquence; today parliaments are voting machines disciplined by party-­whips. Debates are still taking place in parliaments and they are often aired on TV channels, but they bear little resemblance to the ideal of deliberative democracy. MPs follow the party line and throw insults at each other, sometimes even leading to violent brawls. Examples of 5 See the Voter Turnout Database, http://www.idea.int/data-­tools/data/voter-­turnout; Ingrid van Biezen, Peter Mair and Thomas Poguntke, Going, going… gone? The Decline of Party Membership in Contemporary Europe. In: European Journal of Political Research, 51/1(2012), pp. 24 – 56, and the Standard Eurobarometer http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ eb/eb83/eb83_first_en.pdf. 6 James Adams, (2012), The causes and the electoral consequences of party policy shifts in multiparty elections: Theoretical results and empirical evidence. In: Annual Review of Political Science 15: pp. 401 – 419. 7 Christof Schiller, Democracy splutters — ​good governance under pressure, Social Europe, 14 February 2019: https://www.socialeurope.eu/good-­governance-­under-­pressure. 8 Peter Mair, Ruling the Void, London: Verso, 2013.

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compromise and mediation between the ruling parliamentary majority and minority are scarce these days, but there is no shortage of parliamentary scandals revealing the shady deals of parliamentarians, sometimes amounting to corruption. This could not but affect parliaments’ public standing. According to the 2016 Eurobarometer only 28 % of Europeans tend to trust their national parliament. Spanish citizens’ net trust decreased by 67 % in a short period between 2008 and 2010, and that of Irish citizens declined by 65.7 %. Decline of trust in parliaments, albeit less drastic, has also been observed in economically prosperous countries such as Germany. Elections have also changed their meaning under the liberal reign. Elections are being organized and celebrated, but they hardly ever lead to major changes in economic, cultural, or migration policies. In some way, they have ceased to be seen as a political game changer reflecting voters’ preferences. Voters can punish ruling politicians, but they were unable to bring them closer to their homes, work places, and daily concerns. This brings us to another fundamental problem of liberal democracy being practiced in contemporary Europe: most important decisions are being taken outside parliaments in formal and informal bodies with little accountability and popular legitimization. Of course, informal institutions were always important, but there is a growing body of evidence suggesting that liberal democracies are being run by an informal network of politicians, lobbyists, bankers, and media moguls. Rupert Murdoch, Silvio Berlusconi or Andrej Babis are only the most famous examples of people running influential networks that are neither transparent, institutionalized, nor accountable.9 Even if it is difficult to attach a name to a specific mogul behind certain parliamentary decisions, there is mounting evidence suggesting that corporate lobbying has become widespread in Europe and able to determine policies of individual states and the EU . The 9,860 organisations currently registered on the voluntary EU lobby register declare a total of 91,251 people involved in lobbying activities towards the EU and its member states. (Given the voluntary nature of the register and poor monitoring of the data, the real number of lobbyists is probably much higher.)10 9 See e. g. https://www.transparency.org/news/pressrelease/transparency_international_czech_ republic_complaint_concerning_andrej_babis or http://webarchive.nationalarchives.gov. uk/20140122145147/; http://www.levesoninquiry.org.uk/. 10 https://transparency.eu/lobbyistsinbrussels/. See also https://www.theguardian.com/ world/2014/may/08/lobbyists-­european-­parliament-­brussels-­corporate.

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Informal politics aside, parliaments have lost much of their formal powers to numerous non-­majoritarian institutions such as central banks, constitutional courts and various regulatory agencies. The reasons for shifting decisions to these non-­majoritarian institutions may well be legitimate. Constitutional courts are part of the checks-­and-­balances and their role is to ensure that politicians do not interpret basic law in a partisan manner, defy it, or ignore it. Central banks are to ensure that politicians do not manipulate monetary policy for their political ends. Regulatory agencies are said to possess highly specialized expertise lacking among parliamentarians. They are also able to adopt a longer time perspective than the usual electoral cycle.11 The problem is that issues tackled by non-­majoritarian institutions are not just technical, but also political. In democracy, people and their elected representatives should have the right to shape the notion of collective interest and not unelected experts. These unelected experts tend to be ideologically or politically biased. If unelected bodies notoriously alter decisions taken by elected parliaments, voters may well conclude that their vote does not amount to voice under the liberal reign. Was liberal democracy ill-­conceived or just badly executed? Probably both. The liberal model of democracy was not in sync with the liberal policy of open borders for capital, labour, services and goods. As a result, there has been a growing disjunction between electoral and stakeholders’ communities, the former confined to national borders, and the latter increasingly transnational. When formal democratic institutions begin to weaken, democracy becomes hostage to vested interests operating in the shadow of formal democratic laws. Liberal democracy has also been badly executed, if not perverted in some cases. As links between social classes and politicians have weakened, the latter increasingly rely on spin, image, and deception. Elections increasingly resemble heavily mediated carnivals. Fake news and manufactured statistical data have become the order of the day.12 In order to insulate themselves from uncomfortable electoral pressures, politicians have also been shifting decisions to 11 Giandomenico Majone, Temporal Consistence and Policy Credibility: Why Democracies Need Non-­Majoritarian Institutions, European University Institute, RSC Working Paper, 96/57, 12. 12 According to BuzzFeed News, spreading deceitful information on Facebook and Twitter has become the daily bread and butter of politics in many democratic states. See https:// www.buzzfeed.com/charliewarzel/trump-­trolls-­find-­new-­tactics-­to-­spread-­false-­voting-­ informa?utm_term=.ykELdz02l#.adNd9gr4Y or https://www.buzzfeed.com/craigsilverman/

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non-­elected bodies beyond the balance of power rationale. Blaming the European Commission or the Central Bank for unpopular decisions has also become notorious, undermining transparency and accountability. All this explains why ever more citizens have given up on liberal democracy while others are beginning to rebel.

Misguided economic policies Liberal governments presided over the greatest economic crisis of a century. The 2008 financial crisis not only erupted on the liberal watch; the crisis resulted from liberal, or if you wish, neo-­liberal policies of the thirty or even forty preceding years. Liberal policies handling the crisis also proved controversial.13 Liberalism has always embraced the free market, free trade, free choice, free competition, and free community. Yet over the past three or four decades, a more aggressive version of economic liberty has been pushed through. It included the privatisation and marketization of public services such as energy, water, trains, health, education, roads, and prisons; removing or reducing state regulation of such vital economic sectors as trade, industrial competition, financial services, communication, energy, health, and environment; reduction of taxes, especially for the big business and toleration of tax havens; decreased social support and stringent means testing for groups still eligible for public help such as unemployed, disabled, homeless, or single parents. These policies have not been pursued secretly; they represented the liberal blueprint of making Europe prosperous. For instance, appointing Jean-­Claude Juncker as head of the European Commission was a symbolic g­ esture. It has sent a message to Europe’s citizens and firms that tax loopholes are going to be tolerated preventing a meaningful redistribution of wealth across the continent. As Nick Cohen put it in the Guardian: “Juncker has dedicated his

how-­macedonia-­became-­a-­global-­hub-­for-­pro-­trump-­misinfo?utm_term=.mfOAYMzb3#. wsXvO8oGV. 13 See Philip R Lane, 2012, The European sovereign debt crisis. In: Journal of Economic Perspectives no. 26 (3): pp. 49 – 68; Peter A. Hall, 2014, Varieties of capitalism and the Euro crisis. In: West European Politics no. 37 (6): pp. 1223 – 1243; Torben Iversen, David Soskice & David Hope, 2016, The Eurozone and Political Economic Institutions. In: Annual Review of Political Science, 19: pp. 163 – 185.

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career to ensuring that society becomes less fair; that wealthy institutions and individuals can avoid the taxes little people and small businesses must pay.”14 Money was allowed to buy nearly everything during the liberal, or if you wish, neo-­liberal era. Even ministries of culture or museums were expected to make profits. Money has also become a prerequisite of “respectable” non-­ governmental work and social protest. Prominent NGOs have formed formal partnerships with multinational corporations.15 Oxfam has teamed with Nokia and Marks & Spencer, and Greenpeace with Unilever and Coca-­Cola. The private sector has vastly expanded at the expense of the public sector; profits were usually privatized while the state was left with the risks. The distinction between the public and private sphere has been effectively blurred and public money is now spent on actors and causes with dubious public credentials. According to the National Audit Office (NAO) in the United Kingdom, around half of that spent by the public sector on goods and services now goes to private contractors, some of them helping the state to reduce welfare spending or boost deregulation of trade and financial services. The folly of these policies have manifested themselves in both corporate and social sector. The financial crisis of 2008 is clearly a child of excessive deregulation. Numerous banks across the continent found themselves insolvent and sought support from their respective governments. Cascading inequalities are another child of the deregulation and neglect of the public sector. Bankrupt cities, regions, and even states, failed schools, impoverished hospitals, overcrowded prisons, broken highways, and collapsing bridges also represent the legacy of the liberal economic reign over the past three or four decades.16 Neoliberal economists usually point to high public spending rates across Europe. The problem is that much of this money is being invested in helping the rich rather than the poor. This was most striking after the 2008 financial crisis; ordinary taxpayers were simply asked to cover the debts of banks, which behaved irresponsibly and with the liberal governments’ blessing. 14 Nick Cohen, Jean-­Claude Juncker’s real scandal is his tax-­haven homeland of Luxembourg, The Guardian, 12 July 2014: https://www.theguardian.com/commentisfree/2014/jul/12/why-­ good-­europeans-­despair-­jean-­claude-­juncker-­commission. 15 Peter Dauvergne and Genevieve LeBaron, Protest Inc.: The Corporatization of Activism, Cambridge: Polity Press, 2014. 16 Paul Verhaeghe documents that neo-­liberal economics is responsible for epidemics of self-­ harm, eating disorders, depression, loneliness, performance anxiety and social phobia. See Verhaeghe, Paul, and Jane Hedley-­Prôle. What about Me? The Struggle for Identity in a Market-­based Society, Victoria, Australia; London, 2014.

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Of course, this is not to say that the current system of social welfare does not require any reforms. However, it seems increasingly clear that sound education, health, and welfare require strong public authorities. Markets too require strong public authorities able to legislate, enforce and arbitrate fair rules of market competition. Public authorities have clearly been weakened under the liberal reign with disappointing if not disastrous economic effects. No wonder, electorates in many countries have begun to desert liberal politicians.

Erroneous migration policies Liberal politicians often see themselves as victims of the unexpected and unprecedented migratory crisis of 2015. Suddenly more than a million of refugees entered Europe’s borders beyond governments’ capacity to handle the tide in any satisfactory manner.17 In reality, the 2015 crisis was anything but unexpected and unprecedented. In fact, Europe’s liberal politicians have made a significant contribution to its creation. WWI and WWII caused much greater migration and there was hardly any effective governance then. Displacements and resettlements due to the Indian partition, the Indochina wars, the war in Yugoslavia, or the ethnic migration of Germans from the Soviet Union were also greater in scale than the 2015 refugee wave.18 This most recent refugee influx represented just a small proportion of the much larger processes of forced displacement of over 20 million people in the vicinity of the EU and 60 million worldwide. The EU’s population increased 0.2 percent as a result of the recent refugee influx. In comparison, Turkey’s population increased by 4 percent, and Lebanon’s by 25 percent, both countries less affluent than the average member of the EU.19 17 It is difficult to assess how many of those who entered EU borders in 2015 were refugees or migrants. EU documents talk about asylum seekers, refugees and migrants. The latter category contains what they call “migrants illegally present in the EU.” See e. g. http://www.europarl. europa.eu/news/en/headlines/society/20170629STO78630/eu-­migrant-­crisis-­facts-­and-­figures. 18 In 1992, the EU received 672,000 asylum seekers, and numbers remained high during the Bosnia conflict. In 2001, numbers again peaked at 424,000 following the Kosovo crisis and with many arriving from Somalia and Afghanistan. In 2015 numbers exceeded those figures but not dramatically, especially when one considers that in 1992 there were 15 EU member states and currently there are 28. For detailed statistics see: http://ec.europa.eu/eurostat/ statistics-­explained/index.php/asylum_statistics. 19 Franck Duvell, Quo Vadis Europe? In: Edit Andras et al. eds., Vienna Festival Open Forum Catalogue, Vienna: Universal Hospitality, 2016, pp. 11 – 13.

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Horrific scenes at the Keleti rail station in Budapest were not unprecedented either, even by modern European standards. They resembled scenes from ­Brindisi and Bari ports in the early 1990s with thousands of Albanians trying to reach the Italian shores.20 The majority of recent refugees in absolute terms ended up in Germany, and in relative terms in Sweden, yet these were not the countries with the greatest anti-­refugee sentiment (although the handling of the mass sexual assaults and muggings carried out by groups of young males during New Year’s Eve celebrations in Cologne lead to a hefty debate in Germany).21 In Poland manifestations of anti-­Islamic and anti-­refugee phobias have been particularly vicious even though the country only hosts a handful of Islamic asylum seekers from Chechnya and practically no Afghans or Syrians. Poland hosts one million Ukrainian migrants, many of them fleeing violence in Ukraine’s Donbass region, and yet anti-­Ukrainian sentiments have not been pronounced in Poland as yet. Anti-­migratory rhetoric has often stirred up public hysteria, manifested most clearly when refugees were portrayed as terrorists. As Viktor Orbán put it succinctly: “all the terrorists are basically migrants.”22 In fact, most of the terrorist acts recently committed on European soil were carried out by ­people born in Europe. It is also true that some of them could exploit the chaos on Europe’s borders to move back and forth between continents by posing as ­refugees. For instance, it was confirmed that the Belgian national of Moroccan origin, Abdelhamid Abaaoud, who organized the Paris attacks that killed 129 people in November 2015, had travelled through Greece with a large group of refugees and migrants from North Africa and the Middle East. This leads us to the border-­management question. Europe’s liberal leaders promised the comprehensive, coherent, humane, and effective management of refugees that addressed the root causes, and not only the symptoms of the problem. In reality their policies did the opposite, making things worse rather than better. Military interventions conducted by Europeans and Americans in Afghanistan and the Middle East killed thousands of innocent civilians and contributed to the instability that generated migration. Most of Europe’s 20 See the documentary by Daniele Vicari, La Nave Dolce (The Human Cargo): https://www. youtube.com/watch?v=RIDOMHym7p4. 21 See https://www.theguardian.com/world/2016/jan/06/tensions-­rise-­in-­germany-­over-­ handling-­of-­mass-­sexual-­assaults-­in-­cologne. 22 Victor Orbán’s interview for Politico on November 23, 2015: http://www.politico.eu/article/ viktor-­orban-­interview-­terrorists-­migrants-­eu-­russia-­putin-­borders-­schengen/.

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countries failed to live up to their development aid pledges and their post-­ conflict state-­building efforts were either limited or absent altogether. During the Arab Spring, Europe did not rush to help democratic campaigners even in such relatively successful cases as Tunisia. Most of Europe’s money went to autocrats promising to control their outward migration, however with limited tangible results. Patrolling maritime space between Europe and North Africa has also failed to bring about the promised results. Closing one route of migration simply opened another. When a greater than usual number of desperate people decided to head northwards, Europe’s officials looked totally surprised, which is in itself surprising given the gap between their rhetoric and behaviour. Under the so-­called Dublin Regulation, refugees had to apply for asylum in the first EU country they entered, and if they crossed borders to another country after being fingerprinted, they could be returned to the former. This put disproportionate burdens on countries such as Greece or Italy; they were neither able nor willing to enforce this regulation when faced with larger refugee waves. And since people could move freely within the Schengen zone, the Dublin Regulation remained just a piece of paper. When Hungary decided to enforce this regulation in 2015 it led to the horrifying scenes witnessed on TV screens and mobile phones all over the world. Germany has subsequently decided to suspend compliance with the Dublin Regulation and voluntarily assumed responsibility for processing all Syrian asylum applications within its borders. The German decision has been criticized for being taken with little or no consultation with the governments of Hungary, Slovakia, and Poland, in particular. Governments of these countries also refused to endorse mandatory quotas for distributing refugees among EU member states. Merkel has subsequently negotiated a deal with Turkey: in return for taking back migrants that have “illegally” reached Greece from Turkey, the EU has promised to pay Turkey to support refugee camps; open a new chapter in the EU accession talks; and offer Turkish citizens visa-­free travel into the European Union. The number of refugees reaching Greece via Turkey has indeed reduced, but the number of refugees reaching Italy via the Mediterranean Sea has increased. When elections in Italy elevated Matteo ­Salvini to power, who as a new Interior Minister closed the Italian ports to any ­refugees, Spain, Malta and France started to feel the heat. Diplomatic squabbles between these countries soon intensified, preventing any common migratory policy getting off the ground.

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France and Italy competed for the favour of Libyan warlords to make sure that they prevented people fleeing through their shores. Such policy has already been practiced with little success towards the late Colonel Qaddafi. There is no reason to believe that this time it will fare any better. The chances that Turkey will deliver on its promises to the EU are also slim. The political situation in Turkey has deteriorated drastically after the 2016 failed military coup attempt to oust President Erdoğan. There are multiple violent conflicts just beyond Turkish borders and refugee camps in Turkey are already in dire condition. Liberal governments’ intra-­E U migratory policy has also been a failure, causing public anxiety if not outrage. Great Britain is here a very good and disturbing example. Great Britain, in contrast to Germany and Sweden, has been only marginally affected by the recent refugee flow. However, it experienced serious political tensions caused by migrants from other EU member states, especially new states such as Poland. After the 2004 EU enlargement most Western European governments utilized a seven-­year transition period in order to prepare for an inflow of new migrants from Eastern Europe. Great Britain decided to welcome Eastern Europeans instantly to fill the gaps in the labour market and stimulate economic growth. The number of EU workers subsequently increased from 2.6 percent to 6.8 percent over a decade, most of them coming from Poland and other new EU member states. This influx of labour has clearly helped Britain to escape the recession and to create extra jobs for Brits too.23 Yet those places with the highest concentration of new foreign labour have experienced a “cultural shock” and seen overcrowded hospitals and schools. According to experts, the UK government was more skilful in collecting taxes from new migrants than in investing in local infrastructure aimed at easing pressures on social services. Instead of admitting its mistakes, the government began to blame the EU for the influx of foreign labour, and the immigrants for exploiting the British social welfare system. The latter claim was never backed by any evidence.24 The HMRC figures show that migrants who arrived in Britain since 2011 from the EU paid £ 2.5 billion more in tax and national insurance 23 The rapid increase in EU workers — ​700,000 extra in 2012 – 2015 — ​coincided with the increase of one million British people at work. See data provided by: http://www.­independent. co.uk/news/uk/politics/eu-­referendum-­immigration-­and-­brexit-­what-­lies-­have-­been-­ spread-­a7092521.html. 24 EU member states which utilized a seven-­year transition period for preparing social service ahead of the new labour influx have experienced much less political anxiety about working Poles and other East Europeans than was the case in Great Britain. Bela Galgoczi, Janine

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than they took in tax credits and child benefits. The Pandora’s Box had been opened, however. Anti-­immigration feelings became widespread, leading to the surge in support for UKIP and the “yes” vote in the Brexit referendum. Liberals have rightly condemned the rise of xenophobia in their respective countries, but one of the main reasons behind the anxiety around migration stems from the above described migratory policies. People are increasingly dissatisfied with the way governments manage migration of various kinds. Liberal migratory policies have often been immoral, and utterly ineffective.

Flawed regional integration The European integration project was the liberal flagship. It is therefore particularly painful to see this project becoming an easy target for illiberal attacks. The EU is a populist target because it was successful and central to the liberal project. When this project began to falter, illiberal forces attempted to exploit its weakness and in time they managed to undermine the very pillar upon which the European version of liberalism was based.25 Throughout its history, the EU may have done many silly things such as, for instance, trying to define the proper shape of a banana. However, it has also done numerous virtuous things liberals could be proud of. Most notably, the EU helped Europe’s citizens to achieve remarkable wealth by any comparative global standard. The EU worked hard to abolish barriers to the movement of capital, goods, services and people within its borders. It created and enforced rules of economic competition. It negotiated external trade agreements on behalf of all its members. It helped weaker economic actors (such as farmers in the private sector and regions in the public sector) to cope with economic pressures. It opened and transformed the markets of neighbouring countries through its policy of conditional accession to the EU or through various forms of association. When the EU’s ability to generate all these economic and security benefits faltered, the anti-­liberal forces walked through the open “window of opportunity.”

Leschke and Andrew Watt, EU Labour Migration in Troubled Times: Skills Mismatch, Return and Policy Responses, London: Routledge, 2012. 25 Sara B. Hobolt, and James Tilley, 2014, Blaming Europe? Responsibility without Accountability in the European Union, Oxford: Oxford University Press.

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Reasons for the EU’s decreasing efficacy are many. Some reasons have to do with the implications of the neo-­liberal folly pursued by the EU. The EU was the champion of deregulation rather than social policy, for instance. In fact, the European body of laws dealing with welfare issues is very thin indeed. Other reasons have to do with the European power politics. Large and rich states have increasingly steered the European “ship,” at the expense of smaller and weak states. Some other reasons are the result of a classic complacency of all elites who remain in power for a long period. Major reforms of the EU have always been contentious, and in the recent years, those in charge of the European Union have become risk averse and unwilling to undertake painful, but necessary reforms. One can plausibly argue that the last genuine reform that took place within the EU was the Treaty of Maastricht in the early 1990s. Since then the geopolitical situation in Europe has changed completely, globalization has become omnipotent, and digitalization widespread. Clearly, the EU institutions are no longer fit for purpose. By extension, they are unable to fulfil the generated expectations. This leads to another reason for the EU ’s current predicament. The EU never found ways of assuring genuine citizens’ participation. The European project has always relied on output rather than input legitimacy, which means that efficiency, not democracy, was its key rationale.26 It is not that the EU has ignored democracy entirely. Members of the European Council represent democratically elected governments, and they maintain veto rights over many matters important to their citizens. The powers of the European Parliament (EP) have also gradually expanded, offering citizens some standard means of contestation. They can petition the EP and appeal to the European Ombudsman with complaints about most EU institutions. However, all of these measures do not afford the EU any sound input legitimacy. Fewer people bother voting in EP elections and large numbers of those who do cast ballots do so in order to endorse anti-­European politicians. In time, relaying on input legitimacy chiefly could not but create an organization run by a narrow group of elites with little involvement from citizens and little scope for deliberation and contestation. As long as such organization generates prosperity for all actors involved, it can count on so called permissive 26 Scharpf, Fritz W., 2009, Legitimacy in the Multilevel European Polity. In: European Political Science Review, 1 (2): pp. 173 – 204. Also Schmidt, Vivian A., 2013, Democracy and Legitimacy in the European Union Revisited: Input, Output and Throughput. In: Political Studies, 61, pp. 2 – 22.

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public consensus. However, prosperity depends equally on indigenous and exogenous conditions. To put it in colloquial terms, the output legitimacy based on efficiency is only strong when the weather is good. When the weather is bad, institutions need to relay on the input legitimacy. Only when people feel part of a project, are they going to stick to it in difficult times. It is similar to the situation with a football club supporters. You are only able to digest lost games when you feel an emotional attachment to your club or if you are part of the club decision making, as is the case with Borussia Dortmund, for instance. The financial crisis of 2008 and the refugees crisis of 2015 put European institutions under strain, and they found it difficult to keep citizens on the board. More and more voters turned against the EU, and this was skilfully exploited by anti-­liberal politicians. Policies adopted by Europe’s liberal elite arguably made things worse rather than better. For instance, the decisions aimed at fencing off Europe from the implications of the financial crisis have produced perverse effects. First, they exposed the different strengths of individual states, especially those within the single currency area. The financial markets have subsequently realized that a member state could actually default and they raised the risk premiums on the weaker states with a vengeance. Second, the set of decisions taken has put pressure on public expenditures in all states, but especially in the weak ones. Cutting funds for public hospitals, schools and pension has become commonplace, causing enormous social hardship and political contestation. Third, the set of decisions taken directly involved tax-­paying citizens in all future European arrangements. A growing conflict could be observed between the public opinion in creditor states and in the debtor states, as the former were reluctant to subsidize the latter. The decision that each country should look after its own financial institutions instead of the EU doing it collectively may have been taken on practical grounds, but it broke the principle of solidarity that was one of the bases on which the EU and the Euro were based. The decision to bail out banks using public funds was aimed at preventing seemingly imminent economic chaos, but it effectively made those dependent on public provisions “pay” for the mistakes of the banking sector. This could not but have serious political implications in the long term. The European Union survived the populist turn most clearly manifested by the Brexit referendum. However, Brexit is likely to cost not only the United Kingdom dearly, but also the 27 EU member states. Brexit has also led to a change of anti-­liberal strategy. Illiberal politicians no longer campaign for leaving

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the EU; they want to take the EU over. The elections to the European Parliament in May of 2019 will show whether their new strategy proves successful, but it is already clear that several centre-­left and centre-­right parties in Europe progressively adopt the illiberal rhetoric of their populist contenders. This does not represent good news for the future of the liberal project.

Conclusions: does liberalism have a future? Liberalism can bounce back, but the challenge is to win back the disillusioned voters. This will not be achieved only by criticizing populist politicians, which nowadays is the liberals’ favourite occupation. Nor will liberals regain disenchanted voters by adopting populist rhetoric. Anti-­immigration or nationalist rhetoric can only benefit populist forces. Liberals will never be good at espousing populist discourse, and they lack populist credentials.27 Moreover, liberals should not fall into the populist trap of promising heaven on earth by issuing a few decrees and rebuking opponents. Political demagoguery is the populist trademark, not a liberal one.28 Inspirational liberal thinkers such as Hannah Arendt, Isaiah Berlin, and Karl Popper invited us to strive for an ‘open society’, but argued against r­ evolutions [Emmanuel Macron’s favourite term] with clearly defined agendas; they wanted to move forward through reasoning, deliberation and bargaining, with open minds and no dogmas.29 They were fond of experiments, marching through trial and error, recognizing our limitations, and suspicious of simple solutions for complicated problems. Their approach is not an endorsement of benign-­ neglect policy; this is a call for modesty, patience and reason. My program for the new liberal renaissance consists of three steps: reckoning with the past, engaging in experimentation, and creating a new liberal system fit for the digital world. The first step can be accomplished in a year or two, the second step in less than a decade, but the third step may take much longer and we ought to be honest about that. Liberals should offer the public 27 Cas Mudde, On Extremism and Democracy in Europe, Routledge, 2016. 28 Margaret Canovan, Trust the People! Populism and the Two Faces of Democracy. In: Political Studies, 47/1, (1999), pp. 2 – 16, and Robert R. Barr, 2009, Populists, Outsiders and Anti-­Establishment Politic. Party Politics, Vol. 15 (1), pp. 29 – 48. 29 Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism, Schocken Books, 1951; Karl Popper, The Open Society and Its Enemies, London, Routledge, 1945; Isaiah Berlin, Liberty, Oxford: Oxford University Press, 2002.

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a new sense of direction in their march towards a better future. They should offer safe refuge to those unable to adjust to change. However, liberals should avoid the populist temptation of making big, unfounded promises whilst critiquing their rivals. Instead of cultivating nostalgia for the period of liberal glory, liberals should revisit the catalogue of liberal norms guiding their policies. Over the past three decades, those who called themselves liberals have given priority to freedom over equality; economic goods have received more attention (and protection) than political ones; and private values have been cherished more than public values. These priorities need to be revisited. People associated with neoliberal excesses, clientelism, and international adventurism should be asked to retire from liberal politics. New people should take their place, especially women and groups neglected by the previous liberal generation. The next step is to endorse a series of courageous experiments reflecting basic liberal values. The Tobin tax, ‘timebanks’, and various forms of shared economy ought to be tried together with various forms of e-­democracy and Barcelona-­style municipalismo. These experiments by themselves will not heal capitalism and democracy, but they will help to move Europe forward from the current deadlock, empower citizens, and reinstall a sense of justice. They will show that liberalism is a force for progress and not a device for maintaining the status-­quo and preserving the interests of those in power. Perhaps these experiments will even make liberalism sexy enough to appeal to young people. At present, most of them are either alienated or outraged. The final and most demanding step is to move from experiments to a new liberal system of governance. As Zygmunt Bauman has observed in his famous book Liquid Times, the “openness” of the open society “has acquired a new gloss, undreamt of by Karl Popper.”30 Today openness chiefly means “a society impotent, as never before, to decide its own course with any degree of certainty, and to protect the chosen itinerary once it has been selected.” Liberals should therefore find plausible solutions for unbounded trade, capital, migration, communication, crime and violence. They need to conceive a model of democracy and capitalism which makes sure that citizens are not left in “authority holes” with no public jurisdiction and protection. At present, even the brightest liberal minds lack holistic solutions for handling transnational movements; besides, possible solutions ought to be negotiated with the public and tried in practice, which takes time. 30 Zygmunt Bauman, Liquid Times: Living in the Age of Uncertainty, Cambridge: Polity, 2007, p. 9.

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I strongly believe that the new version of the open society should welcome the plurality, heterogeneity, and hybridity of a Europe shaped by globalisation, but I know that some of my liberal friends fear that this would lead to chaos, free riding, and conflict. I am in favour of embracing technological innovation and employing it for the service of the open society, but it is hard to deny that the internet is also being used as a tool of propaganda and repression. Machines will perform many jobs more cheaply and more skilfully than humans, but they may also leave many people with no prospect of employment. I look at migrants as a cultural and economic asset, but this does not mean that those who demand a set of stricter conditions for allowing migration are wrong. We need to debate all these complex if not controversial issues and search for practical solutions to them, reflecting such core liberal values as openness and tolerance; individual rights and welfare; restraint, inclusiveness and fairness. It will soon be fairly obvious to most European voters that populist calls for sovereign (selfish if not autarchic) national policies are at odds with the world of economic interdependence and digital connectivity. Liberals should theoretically be in a better position to offer a better way forward, but there is hardly any time to waste. If liberals fail to grasp the emerging opportunity, this will mean not only the death of liberalism, but possibly also the death of a democratic, prosperous and peaceful Europe.

The right to academic freedom: how can it be protected? Nico J. Schrijver

1 Introduction Academic freedom appears to be under stress, not only in authoritarian states such as China, Russia and Turkey but also in some liberal democracies. President Trump prompted with his initial climate change denial the March for Science movement in many cities around the world on 22 April 2017, emphasizing the value independent research has for society. In some countries, academics are labelled as ‘leftists’, while President Erdogan of Turkey did not shy away from calling academics with sympathy for the Kurdish cause ‘terrorists’. In other countries freedom to conduct research is de facto being conditioned by research agenda’s set by political institutions, such as national science agendas, top sector policies or Horizon 2020 (EU). While the latter bring in some welcome additional research budgets, it also raises the question: what room is left for free academic inquiry? This contribution explores and discusses firstly the notion of academic freedom and what academic freedom entails (section 2). Secondly, it discusses academic freedom as a fundamental human right (section 3). Next, it indicates the legal framework at the domestic, European and global ­levels (section 4). As in so many other fields of policy and walks of life, self-­regulation is also practiced by academic institutions and is increasingly providing a normative framework within which universities and other science institutions operate. Various codes of conduct are discussed (section 5). The last substantive section assesses the risks of violation of academic freedom. Here reference is made to a recent policy paper on this by the Royal Academy of Arts and Sciences of the Netherlands (section 6). The contribution closes with some conclusions and final observations on how to promote and protect academic freedom as a fundamental right as well as a value for both science and society (section 7).

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2 The notion of academic freedom: what does it entail? Various definitions or description of the notion of academic freedom exist. A comprehensive definition is provided by UNESCO, providing:1 …the right, without constriction prescribed by prescribed doctrine, to freedom of teaching and discussion, freedom in carrying out research and disseminating and publishing the results thereof, freedom to express freely their opinion about the institution in which they work, freedom from institutional censorship, and freedom to participate in professional or representative academic bodies. All higher-­education personnel should have the right to fulfil their functions without discrimination of any kind and without fear of repression by the state or any other source.

With reference to this definition, one could list the following dimensions of academic freedom which no doubt will be recognisable by any academic in whatever country or institution:2 • freedom to study; • freedom to teach; • free speech; • access to information; • freedom to conduct research; • freedom of conscience; • freedom of opinion and expression; • freedom to publish and disseminate the results of academic research; • freedom to associate and participate in academic bodies.

1 UNESCO, Recommendation concerning the Status of Higher-­education Teaching Personnel, adopted by the General Conference at its twenty-­ninth session, Paris, 21 October — ​12 November 1997. 2 See on this the in-­depth report by J. Vrielink, P. Lemmens and S. Parmentier and the LERU Working Group on Human Rights, Academic Freedom as a Fundamental Human Right, LERU (League of European Research Universities), Advice Paper no. 6, December 2010.

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3 Academic freedom as a fundamental human right It may well be argued that academic freedom is not just a principle or policy concept, but also a fundamental human right in the sense that it accords a right for each individual or group of individuals that can be invoked and a corresponding duty incumbent upon the state to respect and uphold the right. Obviously, a human right to academic freedom is first of all relevant for an individual scientist, especially those involved in teaching and/or research, but also for the universities and academic institutions in general as well as for the public at large. In the latter sense, academic freedom is not merely a right of an individual citizen but also a collective right belonging to the group of academic researchers, be it a specific professional group or academics in general or their institutions (institutional autonomy in order to be free from government control), as well as a people’s right to have access to and benefit from the progress in science. By analogy to human rights protection, one could distinguish three principal obligations incumbent upon the state, i. e. the duty to respect academic freedom, the duty to protect academic freedom and the duty to promote and fulfil academic freedom. Furthermore, as will be explained in the following two sections, this trinity of respect, protect and fulfil should be implemented at the three prime layers of administration, namely the domestic level, the European level and the global level. Governments and international organisations have a responsibility to take effective measures to respect, protect, facilitate, strengthen and optimise academic freedom.3 There can be little doubt that the ‘mother rights’ of the right to academic freedom are the classic civil rights of freedom of opinion, freedom of expression and freedom to publish; and the economic, social and cultural rights, most notably the right to education. All these rights are also enshrined in the Universal Declaration of Human Rights and in many national constitutions. The right of free speech in science and the right to conduct scientific research freely and to disseminate its results freely are an offspring of these rights.

3 Cf. also LERU Advice Paper, ibid, p. 5; and UN Committee on Economic, Social and Cultural Rights (CESCR), General Comment No. 13: The Right to Education (Art. 13 of the Covenant), 8 December 1999, UN doc. E/C.12/1999/10.

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4 The legal framework Below three levels of regulation of academic freedom are discussed, namely the domestic, the European and the global levels.

4.1 The domestic level While states differ considerably in their political systems, constitutional orders and legislative traditions (parliamentary or executive), some states have in common a provision in their constitution on academic freedom. An example is the provision in the German Basic Law, providing that: “Art and Sciences, research and teaching are free.”4 Similar provisions can be found in the constitutions of Greece and Spain. Many developed states have a specific law on higher education. For example, the Higher Education and Research Act of the Netherlands provides that: “Academic freedom shall be respected at higher education institutions and university hospitals.”5 It is not, however, specified what this specifically entails. Regularly, this is elaborated upon in specific regulations. Occasionally, issues of academic freedom also give rise to court cases, for example in cases where academic freedom is constrained as a result of security considerations. The judgments in such cases can also be instrumental in clarifying the contours of the right to academic freedom and the exceptions to it. Lastly, nearly every state publishes at regular intervals policy notes on higher education elaborating the goals of its policies in this regard, the challenges and opportunities.

4.2 European level Academic freedom or elements thereof are at the European level included in various principal legal instruments. There is, first of all, the landmark European Convention of Human Rights and Fundamental Freedoms (1949). The key provision is Article 10, paragraph 2, on freedom of expression. There is 4 Basic Law of Germany, Art 5. This Article also provides: “The freedom of teaching shall not release any person from allegiance to the Basic Law.” 5 Wet op hoger onderwijs en wetenschappelijk onderzoek (Higher Education and Research Act), The Netherlands, 1992.

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abundant case law on the ins and outs of this right from the European Court of Human Rights in Strasbourg. It follows from Article 10 of the Convention that freedom of expression is not an absolute right and that it can be subjected to some limitations, most notably for reasons of public order and national security. A more explicit provision can be found in the EU Charter of Fundamental Rights of 2007, which is an integral part of EU law under the Lisbon Reform Treaty. The specific Article 13 on ‘Freedom of the Arts and Sciences’ reads: “The arts and scientific research shall be free from constraint. Academic freedom shall be respected.” Hence, this provision embodies a clear-­cut and important recognition of academic freedom as a human right.

4.3 Global level Article 27 of the Universal Declaration of Human Rights (UDHR) proclaims that:6 (1) Everyone has the right freely to participate in the cultural life of the community, to enjoy the arts and to share in scientific advancement and its benefits. (2) Everyone has the right to the protection of the moral and material interests resulting from any scientific, literary or artistic production of which he is the author.

At long last, the Universal Declaration was elaborated in two multilateral treaties in 1966. One is the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights (ICESCR), adopted on 10 December 1966.7 Article 15 of the ICESCR recognises the right of every one “to enjoy the benefits of scientific progress and its applications”. With a view to achieving the full realization of this right, states must take steps “necessary for the conservation, development and the diffusion of science”. Article 15(3) also provides: “The States Parties to the present Covenant undertake to respect the freedom indispensable for scientific research and creative activity.” Lastly, ICESCR obliges states to encourage and develop “international contacts and co-­operation in the scientific and cultural fields” (Art. 15(4)). In many situations international contacts and co-­operation can 6 Universal Declaration of Human Rights, adopted by UN General Assembly, 10 December 1948. GA Res. 217A(III) of 10 December 1948. 7 UN General Assembly, International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights, 16 December 1966, United Nations Treaty Series, vol. 993, p. 3.

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be very useful for academics, especially for those working in countries where academic freedom cannot be taken for granted. The other multilateral treaty is the International Covenant on Civil and Political Rights.8 Whereas this Covenant does not explicitly mention academic freedom, it includes the basic human rights of freedom of thought and freedom of speech.9 Within the United Nations system the United Nations Education, Science and Culture Organisation (UNESCO) has a central place as far as academic freedom is concerned. The organisation itself is not free from controversies, as frequent debates on full academic freedom or political issues such as the membership of Palestine have demonstrated. In 1997, the General Conference of UNESCO adopted a useful Recommendation concerning the Status of Higher-­ Education Teaching Personnel.10 The Recommendation emphasizes the institutional autonomy of higher education institutions, formulates individual rights and freedoms and stresses self-­governance of the institution and collegiality. In this way UNESCO seeks to foster academic freedom. This is also reflected in the call to provide to higher education personnel tenure or its functional equivalent. In 2017, UNESCO adopted a new policy recommendation which resulted from extensive consultation. This UNESCO Recommendation on Science and Scientific Researchers (November 2017) aims to promote that:11 Each Member State should institute procedures…for ensuring that, in the performance of research and development, scientific researchers respect public accountability while at the same time enjoying the degree of autonomy appropriate to their task and to the advancement of science and technology. It should be fully taken into account that creative activities of scientific researchers should be promoted in national policy on the basis of utmost respect for the autonomy and freedom of research indispensable to scientific progress.

Particularly the phrases “enjoying the degree of autonomy appropriate to their task” and “on the basis of utmost respect for the autonomy and freedom of research necessary to scientific progress” can be interpreted as clear calls from 8 UN General Assembly, International Covenant on Civil and Political Rights, 16 December 1966, United Nations Treaty Series, vol. 999, p. 171. 9 Art. 19. 10 See supra note 1. 11 UNESCO, Recommendation on Science and Scientific Researchers, adopted by the General Conference at its 39th session, Paris, 30 October — ​14 November 2017, Art. 10.

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UNESCO ’s General Conference on Member States to establish conditions

which are conducive to upholding academic freedom. This also follows clearly from the next quotation of this Recommendation:12 …to work in a spirit of intellectual freedom to pursue, expound and defend the scientific truth as they see it, an intellectual freedom which should include protection from undue influences on their independent judgement.

Traditionally, the Organisation of Economic Co-­operation and Development (OECD ) has also dealt extensively with the role of education in economic development. In 2007, the organisation adopted the OECD’s Best Practices for Ensuring Scientific Integrity and Preventing Misconduct.

5 Self-regulation by academic institutions As in other fields of policy, self-­regulation becomes en vogue at the level of academic institutions as well. In the absence of specific legislation or perhaps even as a result of a certain distrust in this, it is increasingly felt that parties in academic research have to seek to adopt agreements and behavioural codes themselves. This is mostly done at the level of universities or academic institutions themselves or by associations of academic institutions. Self-­regulation is mostly done by either codes of conduct or by review mechanisms. It is beyond the scope of this contribution to provide a comprehensive review of such arrangements. Some example may be illustrative. For example, in various countries codes of conduct for guaranteeing good and honest science and codes of conduct on conflict of interests exist. Reference should also be made to the European Code of Conduct for Research Integrity, issued by the Association of All European Academies (ALLEA) in 2017. As regards review mechanisms, academic institutions have established at nearly a global level the practice of independent review for publications, most notably book manuscripts, academic articles and reports. This can also be a way of ensuring that the publications are based on research conducted in the context of academic freedom, independence and integrity. Similarly, standard evaluation protocols have been drafted and adopted on a wide scale to serve the same aims as the worldwide peer review system. 12 Ibid., Art. 16(a)(i).

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By way of example, I list here the five principles of integrity that underlie good research practices as adopted in the Netherlands Code of Conduct for Research Integrity of 2018. These include:13 • Honesty; • Scrupulousness; • Transparency; • Independence; • Responsibility. For the purposes of this contribution it is pertinent to quote the commentary to the principle of independence, reading: “Academic practitioners operate in a context of academic freedom and independence. Where restriction of freedom cannot be avoided, this is clearly stated.”

6 Risks of violation of academic freedom In a recent report by the Netherlands Royal Academy of Arts and Sciences on the pursuit of academic freedom, three categories of risk that impact on that freedom are distinguished:14 1. risks when drawing up the research agenda; 2. risks when performing research itself; and 3. risks when utilising the research results.

6.1 Risks when drawing up the research agenda The research agenda of academic institutions in various countries is to a large extent determined by the major scientific and societal issues affecting the societies in question. National governments and society in general may often 13 Netherlands Code of Conduct for Research Integrity, 2018. This is a revision of an earlier version. Available at https://doi.org/10.17026/dans-2cj-­nvwu. 14 See KNAW, “Freedom of Scientific Practice in the Netherlands”, Advisory Memorandum by the Royal Netherlands Academy of Arts and Sciences in response to the Straus-­Duisenberg motion (No. 120, 34550-VIIII), Amsterdam, March 2018 (translation from the original version in Dutch).

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provide direction as regards research questions, the focus of scientific research, and the diversity of points of view in science. However, the fact that it does so also inevitably means a certain restriction of academic freedom. What room is left for free academic inquiry? The current Dutch Government Coalition Agreement, Confidence in the Future (2017), refers to this tension:15 Funding for university-­based research will be more closely linked to research quantity, academic quality and social impact. At the same time, sufficient scope must be given for free academic inquiry, now and in the future.

The Government thus recognises the crucial contribution that science makes to tackling societal challenges and hence the importance of political decision-­ making based on facts and analyses that have been substantiated scientifically. However, the Government also shows awareness that some room should be left for independent researcher-­driven research projects. Academic freedom is therefore unavoidably influenced by political choices in the funding of research. This concerns not only the size of the available budget but also the degree of control of content and the freedom that academic institutions are given to make their own decisions as regards spending. The freedom of an individual researcher also depends on the administrative choices made by his or her institution, faculty, or institute. Furthermore, in quite some countries the budget that universities actually have available for research has diminished. At the same time, there are more and more tasks for scientists for which less and less money is available. Competition for research funding is increasing, both nationally and internationally. The potential consequences of this for freedom of scientific practice are:16 • The high pressure of funding applications may result in projects that are innovative but scientifically, socially, and/or politically risky no longer being eligible for funding. • Due to the high degree of dependence on external research funding, an increasing proportion of the research agenda is determined by external parties. On the one hand, external control can embed science in society more firmly and can prevent self-­censorship within scientific practice. On the 15 Regeerakkoord 2017 – 2021. Vertrouwen in de toekomst, 2017, The Hague, p. 12. Coalition agreement VVD, CDA, D66 and Christian Union. 16 See also J. van Dijck and W. van Saarloos, The Dutch Polder Model in Science and Research, KNAW, 2017, also available at www.knaw.nl/en.

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other, it may result in some subjects being neglected because there is (temporarily) less interest in them within society, despite there being no reason for that lack of interest from a scientific perspective. In 2015, the Netherlands Academy published an Advisory Report that identified potential undesirable effects of, among other things, the “Top Economic Sectors” policy. The report’s conclusion was that vigilance and appropriate care remain necessary in order to prevent a concentration of resources on broad themes and thus reducing the scope for curiosity-­driven research.17 • The relatively sharp increase in the importance of project financing can lead to undesirable influence being exerted by the institution providing funding. Independence and academic freedom can be obstructed if the researcher allows significant interference by the client in the working method, interpretation, and publication of the results. It is of paramount importance to avoid a situation of “science to order” to occur.18 The principle of “independence” in the Netherlands Code of Conduct for Scientific Practice also applies here (see the previous section).

6.2 Risks during performing the research project Risk of bias (whether or not consciously) or restriction of ideas during the research process may differ from one discipline or research method to another. Each field of science has its own methods, standards, or entrenched dogmas. The zeitgeist also plays a role, as a result of which some subjects are temporarily more in the spotlight while others are marginalised. This is not to say that every point of view must always be represented. There may be good scientific reasons for one point of view or school to be abandoned and perhaps replaced 17 KNAW (2015), De ruimte voor ongebonden onderzoek — ​Signalen uit de Nederlandse wetenschap. Amsterdam: Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, 2015. 18 The Netherlands Academy’s Advisory Report Science to Order, already published back in 2005, makes a number of still valid recommendations for guaranteeing the independence of research commissioned by government or businesses. Among other things, it is recommended that sound agreements be made with the client in advance about such matters as publication of the research results. The Advisory Report contains a proposal for a declaration of independence for externally financed research to which both the client and the researcher would commit themselves and which can be utilised by both academic and non-­ academic research institutes. KNAW (2005), Wetenschap op bestelling — ​Over de omgang tussen wetenschappelijke onderzoekers en hun opdrachtgevers.

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by another as scientific knowledge develops. It is also important to realise that a plurality of points of view does not necessarily need to be achieved at the level of individual research groups. In many disciplines, national networks such as research schools and international networks such as scholarly associations contribute to the plurality of points of view at the national level. Points within the research process when there is the greatest risk of bias, restriction of ideas, or restriction in the choice of topics are the appointment of academic staff and the process of peer reviewing research proposals and scientific publications. Universities and research institutes should aim for scientific staffs that are diverse – ​in all respects – ​by implementing open and transparent procedures in their personnel policies. Creating an open organisational climate and a culture in which differences are valued is also of great importance, thus enabling a diversity of ideas and the organisation to benefit more effectively from having teams that are of varied composition. The same also applies, mutatis mutandis, to the composition of research assessment committees, for example in the context of the European Research Council (ERC). Assessing research proposals and research reports by means of peer review is another point in the research process where risks are lurking. On the one hand, peer review can help prevent bias on the part of researchers or research groups by providing an independent judgement. On the other hand, it can obstruct academic freedom if there is a case of “schools” being formed. Interdisciplinary research, for example, is often difficult to finance and publish, as is highly innovative research (“paradigm shifts”). Peer review is a good system but bias and self-­censorship among researchers and the formation of “schools” can be a risk. This applies to science worldwide. The extent to which it occurs varies from one discipline to another. Preventing bias and the undesirable, freedom-­ restricting formation of just a few “schools” is an issue that should be tackled primarily at the international level in the context of the particular discipline.

6.3 Risks when utilising the research results The application of, or possibility of applying, research results can sometimes lead to public debate as to whether certain research is desirable. However, there is no clear boundary between desirable and undesirable research and between desirable and undesirable restriction. Moreover, such a boundary is subject to change as society changes, and as our views, knowledge, and values regarding such boundaries also change. An example in the Netherlands is Professor

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Wouter Buikhuisen’s research on biological backgrounds to delinquency in the late 1970s. The desirability of such research was contested at the time and led to fierce public debate. It was ultimately impossible for Buikhuisen to continue his research. Now, several decades later, our views regarding this matter have changed and such research would probably now be acceptable. The question then arises as to how far that restriction hampered scientific progress. What we can learn from the Buikhuisen and other affairs is that science and society need to deal cautiously with the tension between the search for scientific truth and the societal impact of research. A dialogue is necessary both between researchers themselves and between researchers and society. A plea for full academic freedom is not only a plea for the right to conduct research freely and to freely disseminate the results but also for scientists to take responsibility for engaging in debate with society. Academic freedom goes hand in hand with responsibility on the part of researchers to explain to society why such research is being carried out and wherever possible to apply the knowledge acquired in such a way that society benefits from it. There may also be self-­censorship on the part of the researcher. There may be good reasons for this, for example if major risks are involved in carrying out the research or publishing the results, such as a biosecurity risk in the case of some biomedical research projects.19 In other cases, self-­censorship by the researcher is inadvisable, for example if the researcher considers their own results undesirable because they conflict with their own views or because they expect negative reactions from certain groups within society or from the external body that is funding the research. Freedom of scientific practice also implies the obligation to report all results which the research generates.

7 Conclusions and final observations I. Academic freedom is an important policy goal, a fundamental societal value and a necessity for proper scientific research. It is also widely considered a conditio sine qua non for the proper functioning of universities and other academic institutions. At the same time academic freedom is a multi-­faceted concept, with not only scientific but also ethical, political and societal dimensions.

19 KNAW, Bouwen aan Biosecurity — ​Beoordelen van dual-­use onderzoek, Amsterdam, 2013.

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II. The right to freely pursue academic research and to disseminate its results is a fundamental human right, building upon established human rights such as freedom of opinion, freedom of expression and freedom of publication. The right to academic freedom includes individual, collective and institutional rights and also entails obligations incumbent upon the public authorities. III. The various human rights treaty provisions, codes of conduct and legal regulations for honest scientific practice together provide relevant frameworks for guaranteeing the right to academic freedom, including by obligations incumbent upon the states to respect, protect and fulfil the right to academic freedom. However, in general terms legal protection of academic freedom is fragmented and incomplete. Academic freedom, both as a principle and a right, should be better anchored in national and constitutional law as well as in international legal documents such as treaties, resolutions and recommendations. These should include a basic definition of what academic freedom entails and implies. Protection of academic freedom by the national and international judiciary is a promising and necessary complementary avenue, next to regulation. IV. Equally relevant is self-­regulation by academic institutions with enhanced mechanisms for implementation and oversight. Codes of conduct guaranteeing research integrity and the practice of review mechanisms, including standard evaluation protocols and worldwide peer review are important responses to calls that researchers and academic institutions have themselves to take responsibility. The protection of academic freedom at the European level should be addressed by the various European umbrella organisations of academic institutions and academies of sciences. V. The frequent emphasis on societally relevant research means that society has an influence on the research agenda of the academic institutions. In this way, society provides direction as regards research questions, the focus of scientific research, and the diversity of points of view in science. However, the fact that it does so also means a certain restriction of academic freedom that can lead to constraints in the scope for researcher-­driven projects. VI. Equally, the increased importance of project financing can lead to undesirable influence being exerted by the institutions providing funding. Independence and academic freedom can be obstructed if the researcher allows significant interference by the client in the working method, interpretation, and publication of the results. This can be prevented by having

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effective prior agreements in place between researcher and client, so-­called declarations of scientific independence. Apart from this, it is important to retain sufficient scope in direct public funding for unfettered research. VII. Bias, consciously or unconsciously, on the part of researchers and the undesirable, freedom-­restricting creation of “schools” can be a threat to proper scientific practice. Such tendencies to bias can be combated by policies for diversity and pluriformity. The process of peer reviewing research proposals and scientific publications is part of this. Furthermore, universities and research institutes should implement open and transparent procedures in their personnel policies. VIII. Academic freedom can be restricted if certain research or the results/potential results thereof are considered undesirable by society or by researchers themselves. There may, for example, be ethical objections, safety risks, or fear of negative reactions from certain groups within society. This tension between the search for scientific truth and the societal impact of research can be reduced by ensuring sufficient dialogue both between researchers themselves and between researchers and society. IX. Academic freedom and professional responsibility go hand in hand: academic freedom also means that researchers should seek where possible to connect with society and explain why the research is being carried out and how the knowledge generated can be applied.

Die Wissenschaft in der Defensive – bleibt die Universität im Zentrum der freien Gesellschaft? Anton Pelinka

Die Wissenschaft generell und die Universität speziell sind weder in einer prinzipiellen Krise (wie das Wort „Defensive“) andeuten könnte, noch sind sie in ihrer Position – im Zentrum einer durch die Merkmale liberaler Demokratie bestimmten freien Gesellschaft – ernsthaft bedroht. Das 20. Jahrhundert hat vielmehr gerade in Europa den prinzipiellen Gegnern einer freien Universität, die unter den Rahmenbedingungen einer freien Gesellschaft wirkt, entscheidende Niederlagen zugefügt: 1945, 1989. Warum also sollte diese insgesamt so erfolgreiche Universität sich in der Defensive sehen? Warum der in der Fragestellung anklingende Alarmismus? In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die freie Universität als wesentlicher Teil liberaler Demokratie vielmehr auf einem Erfolgskurs; und dieser ist auch im 21. Jahrhundert – jedenfalls bisher nicht – ernsthaft in Gefahr. Die Niederlage des totalitären Systems des Nationalsozialismus, des autoritären Systems des Faschismus und der Militärdiktatur Japans sicherten 1945 den gesellschaftlichen Status der freien Universität. Diese Niederlage der Diktaturen bedeutete die Bestätigung der in den Jahrzehnten davor bedrohten liberalen Demokratie, deren zentralen Merkmale – Freiheit und Solidarität – auch den gesellschaftlichen Respekt vor und die politische Sicherung der Freiheit universitären Forschung und Lehre mit einschließen. 1989, 1990 folgte in Europa die Niederlage der Systeme sowjetischen (marxistisch-­leninistischen) Typs – und auch diese Entwicklung, diese Niederlage eines diktatorischen Systems sicherte die Freiheit der Universität.

Universität heute und morgen: Mehr Komplexität, Mehr Ambivalenz Dieser grundsätzlich positive Befund ändert nichts an den durchaus potentiell auch bedrohlichen Herausforderungen einer freien Forschung und einer freien Lehre an einer freien Universität in einer freien Gesellschaft, die in Form von dialektischen Ambivalenzen dargestellt werden können.

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Die erste dieser Ambivalenzen ist die ­zwischen gesellschaftlicher (und damit politischer) Verantwortung und wissenschaftlicher Freiheit (ausgedrückt in ­Helmut Schelskys Wort von „Einsamkeit und Freiheit“). Freiheit ist nicht Freiheit ist nicht Freiheit. Dies kann am Beispiel Martin Heideggers gezeigt werden, der mit dem für ihn so typischen Wortgeklingel die Instrumentalisierung der deutschen Universität durch den nationalsozialistischen Totalitarismus bejubelte: „Die vielbesungene ‚akademische Freiheit‘ wird aus der deutschen Universität verstoßen; denn diese Freiheit war unecht, weil nur verneinend.“ (zit. nach Ettinger 1994, 61) So formulierte Heidegger in seiner Rektoratsrede 1933, die an Orwells „1984“ gemahnte: Freiheit ist Knechtschaft, Knechtschaft ist Freiheit. In Österreich wurden zu dieser Zeit, im ersten Anlauf der demokratischen Republik, Begriffe wie „wahre Demokratie“ (Ignaz Seipel) und „wahrer Staat“ (Othmar Spann) geprägt, um die real existierende Demokratie zu zerstören und den real existierenden Staat zu erobern. Heidegger lehnte – ganz im Sinne des Nationalsozialismus – die real existierende Freiheit der Universität als „unecht“ ab, um so die „echte“ Freiheit einer „judenfrei“ gemachten, politisch gleichgeschalteten Universität zu rechtfertigen. Heideggers zynisch anmutender Freiheitsbegriff war das Ergebnis eines antiintellektuellen politischen Opportunismus. Heideggers Zugang, der auf die Zerstörung universitärer Freiheit hinauslief, machte klar, was diese Freiheit immer auch und zuallererst ausmachen muss – das Freisein von Herrschaft; das Freisein vom Diktat derer, die gerade regieren. Eine freie Universität ist vor allem dadurch definiert, dass sie nicht das beliebig steuerbare Instrument der Herrschenden ist. Aber natürlich bedeutet diese primäre Qualität akademischer Freiheit nicht, dass die Universität sich abkoppeln könnte von dem, was um sie herum in der Gesellschaft vorgeht. Die Universität ist Teil der Gesellschaft. Die substan­tielle, die materielle Grundlage der Universität muss gesellschaftlich, also politisch gesichert werden. Und das begründet die Ambivalenz der universitären Verantwortung. Die Universität erfüllt gesellschaftliche Funktionen – in Forschung und Lehre. Deshalb erhält sie gesellschaftliche Unterstützung, die sich in Budgetzahlen niederschlägt; und eben deshalb muss die Universität in einem permanenten politischen Diskurs die materiellen, aber auch die intellektuellen Rahmenbedingungen aushandeln, die universitäres Wirken ermöglichen. In ­diesem Diskurs ist die Universität weder einfach Befehlsempfänger von Regierungen noch Sprachrohr einer sozial abgekoppelten Elite. Die Freiheit der Universität ist nicht die Freiheit eines privilegierten Gettos. Die Geschichte zeigt einen grundsätzlich synchronen Wandel von Gesellschaft

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und Universität. Die Universität wurde durch die sozialen und politischen und wirtschaftlichen Veränderungen der Neuzeit herausgefordert: So entstanden im 19. Jahrhundert die „Technischen Universitäten“ als Ausdruck eines neuen gesellschaftlichen Bedarfs. Und so wird die Universität auch in Zukunft auf gesellschaftlichen Bedarf reagieren. Die Freiheit der Universität ist eine Freiheit vom politischen Diktat – aber auch eine Freiheit in der Universität. Freiheit ist immer durch die Abwesenheit von unbedingter Fremdbestimmung definiert. Die Universität ist nicht nur frei, wenn sie nicht von den politisch Herrschenden direkt gesteuert wird; sie ist auch frei, wenn die verschiedenen Forschungs- und Lehrbereiche Autonomie, also relative Freiheit voneinander genießen; und wenn die grundsätzlich unvermeidlichen Unterschiede des Status in der Universität nicht zu einer Oligarchie der voll Etablierten wird. Die Freiheit der Universität ist notwendig eine relative – relativiert durch die verschiedensten Entwicklungen. Die Relativierung besteht zunächst und vor allem in der finanziellen Abhängigkeit der Universität. Die Universität braucht öffentliche Mittel – und sie braucht zunehmend private Mittel (Beispiel „Drittmittelforschung“). Die Universität erhält diese Mittel, weil sie gesellschaftlich nützlich ist; weil sie sich nützlich macht. Dieser Zusammenhang ist Teil des Balanceaktes der „entzauberten“ Universität (Loprieno 2016). Und die „Entzauberung“ der Universität äußert sich auch in einer zunehmenden Konkurrenzsituation: Das unverzichtbare Alleinstellungsmerkmal der Universität ist herausgefordert – etwa durch die Konkurrenz, aber auch die Kooperation mit anderen Institutionen der postsekundären Ausbildung, etwa mit Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen. Eine entgettoisierte, d ­ iesem Sinne entzauberte Universität kann eine s­ olche Konkurrenz auch und wesentlich als Anreiz verstehen. Die Spannung von Effizienz und Autonomie begründet eine weitere Ambivalenz, die kein Widerspruch, sondern (gerade auch im Zusammenbruch des marxistisch-­leninistischen Verständnisses von Wissenschaft deutlich) an sich ein ­­Zeichen von Stärke ist: Politische Systeme, die in ihrem gesellschaftlichen Entwurf die Universität ausschließlich als politisches Instrument sehen, waren die großen Verlierer des 20. Jahrhunderts. Politische Systeme, die erkennen, dass eine in Autonomie wirkende Universität auch entscheidende Effizienzvorteile impliziert, waren die Gewinner der Entwicklung des vorigen Jahrhunderts. Die Universität war erfolgreich durch ihren Ausbruch – aus den religiösen und quasi-­religiösen Gettos der Vergangenheit. Die entzauberte Universität ist auch eine, die dem verführerischen Zauber endgültiger Gewissheit eine Absage

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erteilt. Aber die Universität ist immer noch mitten im Ausbruch aus einem anderen Getto – aus dem sozialen Getto, in dem die Universität als höhere Bildungsanstalt privilegierter sozialer Schichten funktioniert. Alle Daten – vor allem die von der UNESCO gesammelten – bestätigen den Befund: Trotz des heute als selbstverständlich empfundenen Endes legaler Diskriminierung beim Zugang zur Universität ist diese nach wie vor auch eine Institution der Selbstrekrutierung des Bildungsbürgertums. Die Universität heute drückt nach wie vor aus, dass ­zwischen einer von den Kriterien individueller Leistungsfähigkeit bestimmten Universität – wie dies ihrem eigenen Anspruch entspricht – und der Realität ein tiefer Graben liegt: In der Universität ist nach wie die Ungleichheit erkennbar, die eine Ungleichheit der sozialen Herkunft ist.

Die Universität als Beitrag zur sozialen Balance Die Universität des 19. und 20. Jahrhunderts war eine Institution der Entfeudalisierung der Gesellschaft. Das Prinzip individueller Leistung, das der Universität immanent ist, rieb sich in der Gesellschaft Europas und Nordamerikas zunehmend mit dem aristokratischen Prinzip sozialer Herkunft. Eine der bürgerlichen Gesellschaftsordnung inhärente Meritokratie, auch und gerade von der Universität ermöglicht, steigerte die soziale Durchlässigkeit der Gesellschaft. Die Universität half mit, dass Leistungseliten an die Stelle von Geburtseliten traten. Die Universität lernte – oft auch mit ärgerlicher Verspätung –, dass sie sich gesellschaftlich öffnen muss, um ihre gesellschaftliche Funktion zu erfüllen. Das ursprünglich militant protestantische „Trinity College“ in Dublin, die drittälteste englischsprachige Universität der Welt, musste erst im 19. Jahrhundert durch das „University College“ ergänzt werden, um der katholischen Mehrheitsbevölkerung Irlands den Zugang zum Studium zu ermöglichen. Die europäischen Universitäten wurden erst um 1900 – Schritt für Schritt – der weiblichen Mehrheit der Gesellschaft geöffnet. Und an vielen US -amerikanischen Universitäten waren Ausschlusskriterien nach den Gesichtspunkten „Religion“ und/oder „Rasse“ bis tief ins 20. Jahrhundert hinein wirksam. Die Universitäten des „Großdeutschen Reiches“ wurden „judenfrei“ gemacht, bevor das Grundrecht der Nicht-­Diskriminierung wieder greifen konnte. Freilich – alle Analysen der sozialen Komposition der Universität der Gegenwart zeigen, dass die Herkunft aus einem durch höhere Bildung charakterisierten Milieu den Zugang zur höheren Bildung (und damit zur Universität) nach wie vor wesentlich bestimmt. Diese Realität und die damit verbundene

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Ungleichheit wird zwar nicht von der Universität direkt bestimmt – das ist vor allem die Folge der primären Sozialisation in den Familien und auch Folge eines Schulsystems, das de facto die Chancen auf höhere Bildung nach sozialer Herkunft ungleich verteilt. Durch die bestehende soziale Ungleichheit im Bildungssystem und damit auch an der Universität ist diese herausgefordert. Und sie hat auch in weiten Teilen der Welt Instrumente entwickelt, wie mit dieser Herausforderung umgegangen werden kann – die Instrumente der „reversed discrimination“. Die bewusste Förderung ethnischer Minderheiten an US-amerikanischen und traditionell diskriminierter Kasten an indischen Universitäten ist das politische Modell, das indirekt auch den Diskurs an europäischen Universitäten mitbestimmt – in Form der Debatten über „Gender Gleichheit“ und über den Zugang von Menschen mit Behinderung (Appelt, Jarosch 2000). „Reversed discrimination“ berührt freilich nicht direkt die Ursachen einer kulturell und materiell verursachten Ungleichheit. Die Universität ist nur ein Faktor, der – partiell – für mehr Gleichheit sorgen kann. Und die Universität ist ein nachgeordneter Faktor, konfrontiert mit den Ergebnissen primärer und sekundärer (schulischer) Sozialisation. Aber die Universität ist ein Faktor – auch dadurch, dass sie in ihrer Lehre auf die sozialen Kosten einer im Bildungssystem erkennbaren Ungleichheit der Lebenschancen verweist. Die Universität war und ist ein wesentlicher Beitrag zur Modernisierung der Gesellschaft – Modernisierung verstanden als Fähigkeit zu permanentem Lernen, als Fähigkeit zur permanenten Anpassung an sich permanent ändernde Herausforderungen. Die – oft vereinfachend – personalisierten „Genies“ zugeschriebenen Innovationen wurden und werden durch die Universität gesellschaftlich verbreitet. Die Universität, als Denkfabrik die hohe Schule der Intellektualität, hilft Einsichten in die Wirklichkeiten der Welt von heute zu vermitteln – und auch in die Wahrscheinlichkeiten der Welt von morgen. Von dieser zentralen Funktion der Universität, die den Kern ihrer gesellschaftlichen Nützlichkeit ausmacht, sollten alle unmittelbar profitieren – unabhängig davon, in welches Milieu sie hineingeboren sind. Das ist eine der großen Herausforderungen der Universität heute und morgen: Sie muss sich mehr als bisher den Begabungsund Leistungsreserven der Gesellschaft öffnen. In den literarischen Dystopien, die eine besonders erschreckende negative Zukunftsperspektive zeichnen – in H. G. Wells „Time Machine“ etwa oder in Margret Atwoods „The Handmaid’s Tale“ –, wird deutlich gemacht, wohin eine Gesellschaft führt, die das Leistungspotential wesentlicher Segmente der Gesellschaft nicht nur nicht fördert, sondern gezielt unterdrückt: Eine ­solche,

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die Moderne und die Aufklärung umkehrende Gesellschaft zerstört sich letztlich selbst. Die Universität kann ­diesem Potential zur Selbstzerstörung entgegenarbeiten – und sie könnte dies noch verstärkt, mehr noch als bisher tun: durch die Förderung von Chancengleichheit. Denn es ist, in unserer postfeudalen Gesellschaft, vor allem Bildung und damit vor allem auch die Universität, die das Ausmaß an sozialer Durchlässigkeit und damit an Chancengleichheit in der Gesellschaft entscheidend beeinflusst. Der Aufstieg in die gesellschaftlichen Positionen, die eine signifikant größere Vielfalt von Optionen für die eigene Lebensgestaltung eröffnen, erfolgt vor allem über die Instanzen der höheren Bildung. Diese Instanzen zu öffnen – mehr als bisher, das muss eine zentrale Aufgabe der Universität sein.

Globalisierung – Herausforderung der und Chance für die Universität Die Universität hat die Globalisierung als Megatrend zu akzeptieren, allein schon aus dem Grund, weil sie nicht die Fähigkeit zur Gegensteuerung besitzt. Globalisierung passiert – in Form der zunehmenden Durchlässigkeit der verschiedensten Formen deklarierter und nicht-­deklarierter Grenzen. Die Universität wird – wie Wirtschaft und Kultur und Politik insgesamt – von der Globalisierung erfasst. Aber es gibt keinen Grund, dies als Bedrohung zu sehen – und es gibt jeden Grund, Globalisierung als Chance für die Universität zu begreifen. Universität ist zwar nicht gleich Universität, die Globalisierung führt aber zu einer weltweiten Konvergenz der Universitäten: Eine Groß- oder Massenuniversität in Shanghai ist heute weniger als je zuvor von einer Groß- oder Massenuniversität in Los Angeles verschieden. In allen Universitäten muss die Balance ­zwischen Forschung und Lehre unter teilweise analogen Rahmenbedingungen immer wieder dem gesellschaftlichen Wandel angepasst werden; in allen Universitäten ist die Rekrutierung von Lehrenden und Studierenden nicht vor identische, aber analoge Herausforderungen gestellt; und an der University of Toronto ist die Frage der Gewinnung privater Finanzierungsquellen – in Ergänzung zur öffentlichen Finanzierung – ähnlich zu beantworten wie an der Technischen Universität München. Faktor ökonomische Globalisierung: Die ökonomische Logik der Globalisierung zwingt zur weitgehenden Angleichung von Lehre und damit auch von Forschung. IT-Ingenieure da und dort müssen weitgehend analog ausgebildet werden, um global definierten Anforderungsprofilen zu entsprechen. Wenn ein

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nationales Universitätssystem systematisch Rückmeldungen bekommt, dass die national ausgebildeten Ärztinnen und Ärzte im internationalen Vergleich relativ schlecht evaluiert werden, muss d ­ ieses nationale System Korrekturen vornehmen – soll nicht das nationale Gesundheitssystem wachsende, vor allem auch finanziell spürbare, negative Konsequenzen spüren. Die Globalisierung zwingt zur Anpassung der Forschungs- und Ausbildungsqualität. Faktor kulturelle Globalisierung: Die rasante Entwicklung der Kommunikationstechnologien (auch in Verbindung mit dem Englischen als de facto akademischer Lingua franca) ermöglicht, ja erzwingt exponentiell wachsenden Austausch und damit Angleichung. Nordeuropäische Universitäten bieten schon lange Studiengänge in den verschiedensten Disziplinen in englischer Sprache an, und die Erfahrungen japanischer Universitäten mit dem Abbau von Gender-­Differenz wirken sich auf brasilianische Universitäten aus. Diese und andere Erfahrungen sind durch Mausklick global vermittelbar. Faktor politische Globalisierung: Aus Eigeninteresse werden politische Systeme veranlasst, Studiengänge und Studienabschlüsse kompatibel zu machen. Der europäische „Bologna-­Prozess“, der eine weitgehende Angleichung universitärer Studien über innereuropäische Grenzen hinweg gebracht hat, kann dafür als Beispiel gelten. Ein Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union bedeutet eine neue Attraktivität für irische Universitäten – weil die Republik Irland weiterhin Teil eines transnationalen Universitätssystems bleibt. Die Universität muss die Globalisierung als bedeutsamen Bestimmungsfaktor akzeptieren. Sie kann mithelfen, die Ursachen und Folgen der Globalisierung verstehen zu lernen. Sie kann die Konsequenzen der Globalisierung differenziert zur Kenntnis nehmen – und nützen, wenn es für die Qualität der Universität von Vorteil ist, etwa in Form der wachsenden Transnationalität von Forschung und Lehre. Die Universität kann mithelfen, Abhilfe gegenüber den negativ empfundenen Folgen der Globalisierung zu finden – etwa im Bereich der Ökologie. Aber die Universität hat keinen Grund, Globalisierung generell a priori negativ bewerten.

Was wäre denn die Antithese zu der Universität, die erfolgreich das schreckliche 20. Jahrhundert überstanden hat? Die Universität, die im 20. Jahrhundert die a priori als intellektuell unsinnig und ethisch verwerflich erkennbare Herausforderung des Nationalsozialismus ebenso wie die schlussendlich gescheiterte Herausforderung des Marxismus-­Leninismus

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souverän überstanden hat – was sollte denn im 21. Jahrhundert diese Universität ersetzen, von welcher Alternative sollte sie sich grundsätzlich bedroht sehen? Die Alternative mag eine vollkommen gleichgeschaltete Universität à la „1984“ sein – totalitär von einer mit Monopolgewalt ausgestatteten Zentrale gesteuert, nur deren Nützlichkeitserwägungen unterworfen. Auch wenn das von George Orwell willkürlich gewählte Jahr schon längst vorübergegangen ist – möglich, denkbar ist eine s­olche Universität, zum Beispiel für das Jahr 2084. Dass dies nicht wünschenswert ist, dass eine s­ olche Alternative zur europäischen Universität von heute nur Schreckensvisionen hervorruft, ist das eine; dass sie grundsätzlich durchsetzbar ist – wie die partiell bereits vorhandenen Techniken der Totalkontrolle menschlichen Verhaltens zeigen –, ist das andere. Freilich: eine Universität à la Orwell wäre nur dann durchsetzbar, wenn es ein perfektes politisches Machtmonopol gäbe – und das nicht nur in regionalem oder nationalem Bereich. Eben deshalb sind unbedingte Vorsicht und politische Sensibilität angesagt: Auch wenn die liberale, die pluralistische Demokratie sich 1945 und 1989, 1990 als erfolgreich gegenüber den politischen Alternativen erwiesen hat – es gibt keine Garantie für die Fortsetzung des Erfolgslaufes der Demokratie. Freilich, die liberale Demokratie hat gelernt, auch „wehrhaft“ zu sein – eben weil wir keine Garantie dafür haben, dass sie sich auch in weiterer Zukunft durchsetzen wird können. Und Teil der Qualitäten, die „wehrhaft“ zu verteidigen sind, ist die Universität. Die freie Universität ist immer gefährdet – weil die Freiheit der Demokratie immer gefährdet ist. Eben deshalb können wir nicht, bequem zurückgelehnt, auf die permanente Lernfähigkeit der Universität setzen, die sich immer wieder mit den jeweils neu auftauchenden Herausforderungen arrangieren kann. Die freie Universität – deren Freiheit durch eine politische Ordnung des Pluralismus, also der liberalen Demokratie gewährleistet wird – ist von eben dieser Ordnung abhängig; von der Ordnung, die nicht auf einer einzigen, letztgültigen Gewissheit, einer letzten Wahrheit beruht, die vielmehr immer wieder auf der Suche nach den relativ besten (und das heißt auch: den am wenigsten schlechten) Lösungen ist. Die Universität, die in einer solchen Ordnung bestmöglich aufgehoben ist, ist der Suche nach der Wirklichkeit verpflichtet; und diese Suche gleicht der Aufgabe des Sisyphus – sie wird nie an einem Ende anlangen. Es ist die Bereitschaft und die Fähigkeit zu einer solchen permanenten Suche, die diese Universität auszeichnet. Und dafür braucht sie die Freiheit einer offenen Gesellschaft. Solange die Universität frei ist, sich als Sisyphus zu betätigen – auch und gerade in der Akzeptanz, dass Perfektion schlussendlich nicht möglich

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ist –, solange braucht die Universität sich nicht in der Defensive fühlen. Die Universität muss freilich bereit sein, immer wieder zu lernen. Aber das wäre ein Offensiv-, nicht ein Defensivkonzept. Alle Konzepte für die Universität setzen die Antwort auf die Frage voraus, um ­welche Universität es sich handelt, die es weiter zu entwickeln gilt: Um die Universität als professoralen Adelsrepublik, die 1933 Martin Heidegger zum Rektor der Universität Freiburg bestellt hat – aus politischem Opportunismus, aus akademischem Überlebensinteresse? Oder geht es um die sozial elitäre Universität, die gegen die „Massenuniversität“ verteidigt werden soll, gegen den in dieser „Massenuniversität“ spürbaren Ludergeruch des gemeinen Volkes? Oder geht es um die Verteidigung einer Universität, die sich – um ihre Freiheit nicht zu verlieren – dem Zugriff, den Nützlichkeitsvorstellungen einer im engsten Sinn ökonomischen Logik versperren will? Wollen wir die Universität verteidigen – oder sie weiter entwickeln? Wollen wir die Universität verteidigen – oder die politischen Rahmenbedingungen, die dieser Universität heute den (historisch gesehen) besten Zustand erlaubt hat, den die Universität je entwickeln konnte? Es geht um die Freiheit – aber nicht nur um die der Universität. Die Universität, die ist in Entwicklung – und das ist gut so. Denn eines soll sie nicht – stillstehen. Es geht um die freie Universität in einer freien Gesellschaft – und nicht um eine nostalgische Rückbesinnung auf die Universität von gestern, mit ihren quasi-­liturgischen Ritualen. Es geht um eine Universität, die ihren erfolgreichen Weg, gekennzeichnet durch eine Bindung an eine immer neu zu definierende Aufklärung, bestimmt von einem sich immer wieder neu entdeckenden Erkenntnisinteresse in Natur- und Geistes- und Sozialwissenschaften; um eine Universität, die sich – aus eigenen Stücken, aus eigenem Antrieb – immer wieder neu gestaltet: nicht aus einer Defensivgesinnung heraus, sondern in der Einsicht in ihre gesellschaftliche Verantwortung. Jean Monnets strategischer Denkansatz zum Verständnis der europäischen Integration – die Allianz von Interesse und Idee – hilft auch hier weiter. Was wäre denn die Alternative zu einem Europa, das sich durch die Verflechtung von Interessen zum friedlichsten Europa entwickelt hat, das es je gab? Was wäre denn die Alternative zur Universität, die auf eine Erfolgsgeschichte zurück­ blicken kann – jedenfalls, bezogen auf Europa, seit 1945? Und wie das Europa des Jean Monnet kein als perfekt skizziertes Design eines fest formulierten Zieles zu verstehen ist, sondern als ein fortlaufender Prozess, so ist die Universität, die sich ständig weiterentwickelt, nichts Fertiges. Europa ist ein Entwicklungsprozess – und die Universität ist dies ebenso.

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Anton Pelinka

Die Alternative zu der am Ende des 20. und am Beginn des 21. Jahrhunderts insgesamt weltweit gestärkten Universität ist nicht eine andere, die Alternative ist eine bessere Universität. Die nach wie vor gegebene Stärke der Universität zeigt sich in der ständig steigenden Nachfrage nach universitärer Bildung, also nach Universität. Diese Stärke der Universität ist aber in ihrer Fähigkeit zur Reform begründet, zur Selbstreform, zur Anpassung an eine sich wandelnde Gesellschaft. In der Vergangenheit war diese Fähigkeit im Aufbrechen der Struktur elitärer männlicher Adelsrepubliken (der „Ordinarienuniversität“) sichtbar – und heute zeigt sich die Lernfähigkeit der Universität in ihrer rasanten Feminisierung in allen Bereichen. In der Zukunft wird sich diese Fähigkeit zur permanenten Reform wohl in einer verbesserten sozialen Durchlässigkeit zeigen müssen – und in einer Weiterentwicklung der bereits vorhandenen Transnationalität. Diese und andere Entwicklungen können, sollen, müssen weitergehen – im Interesse einer der Wissenschaft, aber auch einer der Gesellschaft verpflichteten Universität.

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Literatur Ettinger 1995: Elzbieta Ettinger, Hannah Arendt. Martin Heidegger. Eine Geschichte. München (Piper). Appelt, Jarosch 2000: Erna Appelt, Monika Jarosch (Hrsg.), Combating Racial Discrimination. Affirmative Action as a Model for Europe. Oxford (Berg). Loprieno 2016: Antonio Loprieno, Die entzauberte Universität. Europäische Hochschulen z­ wischen lokaler Trägerschaft und globaler Wissenschaft. Wien (Passagen). Schelsky 1963: Helmut Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihre Reformen. Berlin (Rowohlt).

Meta-research: Evaluation and Improvement of Research Methods and Practices  1

John P. A. Ioannidis

Meta-­research: Why research on research matters Science, like all human endeavours, is prone to biases. Yet science can assess its own methods, reporting, reproducibility, evaluation, and incentives. A relatively new discipline, called meta-­research, covers a wide range of theoretical, observational, and experimental investigations designed to study research itself and its practices. The objective is to understand and improve how we perform, communicate, verify, evaluate, and reward research. Before elaborating on a discipline that studies biases, I should disclose some of my own. First, all scientists are meta-­researchers to some extent, though most usually work on focused subject matter disciplines. And though the advice of my early lab mentor — ​“focus, focus, focus” — ​still rings in my ears, the piles on my desk and the files in my computers can be notoriously unfocused. I don’t have attention-­deficit disorder, but plain unconstrained curiosity. What attracted me to science was its vastness and diversity. In my early training years, I enjoyed roaming in libraries in Athens and Boston, discovering scientific journals with fancy names, encountering intriguing articles, drifting from my initial search. Without yet realizing it, I was interested primarily in research itself apparently, much as others were interested primarily in Caenorhabditis elegans, volcanic eruptions, or automata. Science and its literature is a marvellous maze of data, arguments, biases, errors, and the greatest achievements of humans. What can be more rewarding to study scientifically? Thirty years later, I still feel like a researcher-­in-­training — ​ actually, in early training — ​barely scratching the surface. However, much has changed. Thirty years ago, articles had to be handpicked like flowers one by 1 This paper is compiled from: Ioannidis JPA (2018), Meta-­research: Why research on research matters. PLOS Biology, https://doi.org/10.1371/journal.pbio.2005468, March 13, 2018; and: Ioannidis JPA, Fanelli D, Dunne DD, Goodman SN (2015), Meta-­research: Evaluation and Improvement of Research Methods and Practices. PLOS Biology, DOI :10.1371/journal. pbio.1002264, October 2, 2015.

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John P. A. Ioannidis

one from their journal shelves and photocopied one page at a time. Now, one can text mine a million articles overnight. Good research, however, still takes time and focus. Take, for example, a recent project I worked on with my friend David Chavalarias. We text mined 12,821,790 abstracts and 843,884 full-­text articles. We initially joked that it would take two days max. Eventually, it took four years of work with innumerable iterations, meticulous corrections, and repeated downloads. My other personal bias is a heightened interest in methods rather than results. Result narratives are supposedly always exciting. I find them unbearably boring. Conversely, methods typically are missing in action, left unsung, or hidden in small print. Many researchers hope to clarify how to do experiments chatting in corridors or conferences. Study design and analysis are still mostly taught (if at all) in statistics-­light courses. Most of us have mastered how to write papers through reading other (mostly poorly reported) papers. We freely volunteer peer review but lack formal training on how to do it. In many fields, issues surrounding reproducibility were dormant until recently. Science remains the key driver of human progress, yet we have little evidence on how to best fund science and incentivize high-­quality work. We do know that leaving research practices to serendipity, biasing influences, methodological illiteracy, and statistical innumeracy is inefficient. Science needs science to avoid wasted effort and optimize resources. Amateur approaches face the current gigantic magnitudes of the research endeavour. Google Scholar currently includes about 180,000,000 documents, accruing approximately 4,000,000 new papers annually 2. Along this universe of visible (published) matter, dark matter abounds; probably most observations and data analyses remain unpublished. Ulrich’s directory includes more than 40,000 refereed academic journals, and this is probably an underestimate 3. Thousands of journals follow predatory practices or have uncertain value. The Science, Technology, Engineering, and Math (STEM ) publishing business market size ($28 billion) roughly equals the National Institutes of Health (NIH ) budget. Webometrics lists 26,368 research-­producing universities  4, and many other entities generate research. 2 Orduna-­Malea E, Ayllon JM, Martin-­Martin A, Lopez-­Cozar ED, Methods for estimating the size of Google Scholar. In: Scientometrics, 2015, 104: pp. 931 – 949. 3 Wang Y, Hu R, Liu M, The geotemporal demographics of academic journals from 1950 to 2013 according to Ulrich’s database. In: J Informetrics, 2017, 11: pp. 655 – 671. 4 Webometrics. List of universities (as of January 2017). [Cited 21 January 2018]. Available from: http://www.webometrics.info/en/node/54.

Meta-research: Evaluation and Improvement

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Probably 100,000 biomedical conferences happen annually 5. Global Research and Development (R&D) investment recently exceeded $2 trillion per year. Industry has the lion’s share, while public funding is limited for basic research and it is even sparser for evidence-­based evaluation research. Financial conflicts may shape research agendas, results, and interpretations 6. Consider that the $1 trillion tobacco industry still runs “research” on its products despite killing millions of people who use them as directed. Big Pharma, another behemoth of similar financial magnitude, but which probably saves lives (albeit often at high cost), has to sponsor most research on its own products. Understanding who should do what and how in research needs better study. Science is no longer the occupation of few intellectual dilettanti. Millions (co)author scientific papers. Even more people participate in research. Currently, health record databases engulf hundreds of millions of individuals. Social media databases generate the possibility of using data on billions — ​active monthly Facebook users, for example, exceeded 2 billion by July 2017. Currently, generated research data are massive but also fragmented and often nontransparent. Full data sharing and preregistration of protocols are still uncommon in most fields 7. We need to understand whether results and inferences are correct, modestly biased, or plain wrong. Comparing patterns of data and biases across the vast number of available studies, one can help answer this important question 8. We have mapped 235 biases in biomedical research alone 9. With increasing research complexity, multifarious choices emerge on how to design studies and analyse data. With 20 binary choices, 220 = 1,048,576 different ways exist to analyse the same data. Therefore, almost any result is possible, unless we safeguard methods and analysis standards. Surveys show that questionable research practices are used by most scientists: not fraud (which is rare) but 5 Ioannidis JP , Are medical conferences useful? And for whom? In: JAMA , 2012, 307: pp. 1257 – 1258. https://doi.org/10.1001/jama.2012.360, PMID: 22453564. 6 Bekelman JE, Li Y, Gross CP, Scope and impact of financial conflicts of interest in biomedical research: a systematic review. In: JAMA, 2003, 289: pp. 454 – 465. PMID: 12533125. 7 Iqbal SA, Wallach JD, Khoury MJ, Schully SD, Ioannidis JP, Reproducible research practices and transparency across the biomedical literature. In: PLoS Biol. 2016, 14: e1002333. https://doi.org/10.1371/journal.pbio. 1002333, PMID: 26726926. 8 Fanelli D, Costas R, Ioannidis JP, Meta-­assessment of bias in science. In: Proc Natl Acad Sci USA, 2017, 114: pp. 3714 – 3719. https://doi.org/10.1073/pnas.1618569114, PMID: 28320937. 9 Chavalarias D, Ioannidis JP , Science mapping analysis characterizes 235 biases in biomedical research. In: J Clin Epidemiol, 2010, 63: pp. 1205 – 1215. https://doi.org/10.1016/j. jclinepi.2009.12.011, PMID: 20400265.

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“cutting corners” to achieve more interesting-­looking results 10. Understanding the boundaries between bias and creative exploration is important. Efforts to reproduce high-­profile studies have shown high rates of nonreproducibility 11 and most scientists agree that a reproducibility crisis exists 12. Meta-­analyses  — ​ efforts to combine all data on a given question — ​become increasingly popular but face their own problems and biases 13. How should a scientist best train, work, collaborate, and contribute to scientific and broader communities? Researchers spend most of their time on grants 14 and administrative chores of unclear utility. Journal peer review takes another 64 million hours annually for biomedical papers alone 15. Justifiably, we all despise bureaucracy and obstructions. Poor research practices make things worse. Thousands of new scientific fields emerge, merge, split, and evolve 16. Different disciplines may differ in research standards and challenges (Box 1). Meta-­research can help us disseminate efficient research practices and abandon wasteful ones. Publication and peer review models, scientific education, funding, and academic reward systems need to adapt successfully to a rapidly changing world. Some predict 17 that even researchers may disappear within decades, replaced 10 Fanelli D, How many scientists fabricate and falsify research? A systematic review and meta-­ analysis of survey data. In: PLOS ONE , 2009, 4: e5738. https://doi.org/10.1371/journal. pone.0005738, PMID: 19478950. 11 Ioannidis JPA, The reproducibility wars: successful, unsuccessful, uninterpretable, exact, conceptual, triangulated, contested replication. In: Clin Chem, 2017, 63: 943 – 945. https:// doi.org/10.1373/clinchem.201 7. 271965, PMID: 28298413. 12 Baker M, 1,500 scientists lift the lid on reproducibility. In: Nature, 2016, 533: pp. 452 – 454. https://doi.org/10.1038/533452a. PMID: 27225100. 13 Ioannidis JP, The mass production of redundant, misleading, and conflicted systematic reviews and meta-­analyses. In: Milbank Q, 2016, 94: pp. 485 – 514. https://doi.org/10.1111/14680009.12210, PMID: 27620683. 14 Herbert DL, Barnett AG, Clarke P, Graves N, On the time spent preparing grant proposals: an observational study of Australian researchers. In: BMJ Open, 2013, 3: e002800. https:// doi.org/10.1136/bmjopen-2013-002800. PMID: 23793700. 15 Kovanis M, Porcher R, Ravaud P, Trinquart L, The global burden of journal peer review in the biomedical literature: strong imbalance in the collective enterprise. In: PLoS ONE, 2016; 11: e0166387. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0166387, PMID: 27832157. 16 Börner K, Klavans R, Patek M, Zoss AM, Biberstine JR, Light RP, Larivière V, Boyack KW, Design and update of a classification system: the UCSD map of science. In: PLoS ONE, 2012; 7: e39464. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0039464. PMID: 22808037. 17 Grace K, Salvatier J, Dafoe A, Zhang B, Evans O, When will AI exceed human performance? Evidence from AI experts. In: arXiv, 2017, 170 5. 08807v2 [cs.AI].

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by artificial intelligence. While this sounds extreme, several aspects of current “business as usual” in research will face disruption. Even 1 % improvement in the yield and translation of useful discoveries effected through better research practices reflects value equivalent of many Nobel or Breakthrough prizes. Features of research practices, opportunities, and threats that vary across fields • Type of research, designs, tools, and statistical methods ◦ Type of mix of research (basic, applied translational, evaluation, implementation) ◦ Types of study designs commonly used or misused ◦ Types of experimental/measurement tools commonly used or misused ◦ Types of statistical methods commonly used or misused • Biases and questionable/detrimental practices ◦ Types of common biases encountered and whether they are easy to fix or not ◦ Extent of use of methods to prevent or correct for biases ◦ Prevalence of different types of questionable/detrimental research practices • Targeted effects and signals ◦ Distribution of effect sizes observed ◦ Typical heterogeneity of results across studies ◦ Proportion of results that are true, exaggerated, or entirely false ◦ Reputational impact for bias or wrong, refuted results • Publication and peer review practices ◦ Proportion of studies and analyses that are published ◦ Number and types of available publication venues ◦ Implementation of prepublication peer review (e. g., preprints) ◦ Implementation of postpublication peer review ◦ Extent from adoption of various research reporting standards • Scientific workforce standards ◦ Commonly accepted authorship and contributorship norms ◦ Extent of adoption of team science and consortia ◦ Type of training for scientists in the field ◦ Extent of methodological and statistical literacy/numeracy • Replication and transparency standards ◦ Extent and enforcement of preregistration of protocols ◦ Extent of use of replication studies ◦ Extent of use of exact replication versus corroboration or triangulation ◦ Extent of sharing of primary raw data and/or processed data

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◦ Extent of sharing of software and code ◦ Extent and types of evidence synthesis used

• Reward structures and standards ◦ Main funders (government, industry, other) and types of studies that they fund ◦ Project-­based versus person-­based funding ◦ Mix and interplay of institutions performing research (university, industry, other) ◦ Types of metrics and criteria used for assessing researchers and institutions • Conflicts ◦ Typical conflicts of interest operating in the field ◦ Completeness of disclosure of conflicts of interest • Public interface ◦ Extent and fidelity of dissemination of research findings to the general public ◦ Extent of public misperceptions about the field ◦ Threats from antiscience advocates attacking the field

Why Perform Research on Research? Throughout the history of science, leading scientists have endeavoured to theorize and conduct research on fundamental aspects of the scientific method and to identify ways to implement it most efficiently. While focused subject matter questions and discoveries attract attention and accolades, the machinery of science relies greatly on progressive refinement of methods and improvement of theory verification processes. The large majority of the most used articles across science are about methodology 18, and many scientific prizes are awarded for the development of techniques (e. g., Nobel prizes for PCR and MRI ). Studying the scientific method in itself empirically is thus a topic of great potential value. Even though the scientific method has solid theoretical foundations and a long track record of successes, it is a continuing challenge to know how its basic principles (“systematic observation, measurement, and experiment, and the formulation, testing, and modification of hypotheses”, according to the Oxford English Dictionary) should be applied optimally in 18 Van Noorden R, Maher B, Nuzzo R (2014), The top 100 papers. In: Nature. 514 (7524): pp. 550 – 553. Doi:10.1038/514550a. PMID: 25355343.

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ways that can lead to faster, better, more accurate, and ultimately more useful results. In biomedical research in particular, lives can depend on the efficiency with which reliable evidence is generated and used. This challenge is increasing, in parallel with the clear success of the scientific enterprise, which has grown in both size and diversity. Several million new research papers are published annually, and the number of publishing authors in 1996 – 2011 exceeded, according to one estimate, 15 million 19. Across biomedicine, the number of articles published is increasing, and the acceleration is becoming more prominent over time, e. g., PubMed has indexed (as of July 6, 2015) 435,302 items published in 1994, 636,951 items published in 2004 (1.46-times those published 10 years ago in 1994), and 1,182,143 items published in 2014 (1.85-times those published 10 years ago in 2004). Moreover, the wide availability of big data and the accumulation of huge amounts of data (available often online) create new opportunities and bias threats for the production of scientific knowledge, and they may challenge existing notions of data sharing, data ownership, research planning, collaboration, and replication. Mounting evidence suggests that the reproducibility of research findings in biomedicine and other disciplines is alarmingly low, that the scientific process is frustratingly inefficient, and that the number of false-­positives in the literature exceedingly high; this may be a by-­product of the growing complexity and multiplicity of observations, hypotheses, tests, and modifications thereof 20. In biomedicine,

19 Ioannidis JP, Boyack KW, Klavans R (2014), Estimates of the continuously publishing core in the scientific workforce. In: PLOS ONE, 9(7):e101698. Doi: 10.1371/journal.pone.0101698. PMID: 25007173. 20 MacLeod MR, Michie S, Roberts I, Dirnagl U, Chalmers I, Ioannidis JP, Al-­Shahi Salman R, Chan AW, Glasziou P (2014), Biomedical research: increasing value, reducing waste. In: Lancet, 2014, Jan 11, 383 (9912): pp. 101 – 4. Doi: 10.1016/S0140 – 6736(13)62329 – 6. PMID: 24411643; Begley CG, Ioannidis JP (2015), Reproducibility in science: improving the standard for basic and preclinical research. In: Circ Res, 116(1): pp. 116 – 26. Doi: 10.1161/ CIRCRESAHA.11 4. 303819. PMID: 25552691; Begley CG, Ellis LM (2012), Drug development: Raise standards for preclinical cancer research. In: Nature, 483(7391): pp. 531 – 533. Doi: 10.1038/483531a. PMID: 22460880; Alberts B, Kirschner MW, Tilghman S, Varmus H (2014), Rescuing US biomedical research from its systemic flaws. In: Proc Natl Acad Sci USA, 111(16): pp. 5773 – 5777. Doi: 10.1073/pnas.1404402111. PMID: 24733905; Manolagas SC, Kronenberg HM (2014), Reproducibility of results in preclinical studies: a perspective from the bone field. In: J Bone Miner Res. 29(10): pp. 2131 – 2140. Doi: 10.1002/jbmr.2293. PMID: 24916175; Fanelli D (2012), Negative results are disappearing from most disciplines. In: Scientometrics, 90: pp. 891 – 904.

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it has been estimated that 85 % of the invested effort and resources are wasted because of a diverse array of inefficiencies 21. The geometric growth of the scientific corpus allows new opportunities for studying research practices with large-­scale evidence and for testing empirically their effectiveness at producing the most reliable evidence. While one can theorize about biases (e. g., publication bias, reporting bias, selection bias, confounding, etc.), it is now possible to examine them across multiple studies and to think about ways to prevent or correct them. Many ideas and solutions have been proposed about how to strengthen the research record, including, but not limited to, registration of studies, improved standards for reporting of research, wider (even public) availability of raw data and protocols, sharing, prespecification of hypotheses, improved statistical tools and choice of rules of inference, reproducibility checks and adoption of a replication culture, team work and consortia-­building, minimization of conflicts of interest, and more 22.

A Hot but Fragmented Scientific Discipline Many scientists are already working on these solutions, because they realize that improving methods and practices within research is integral to their quest for better and more reliable research results in their own field. Some fields could benefit from the knowledge and experience that has accumulated in other fields where various solutions have been tested and applied. However, many scientists do not closely track what is happening in fields different from their own, even within their own broad discipline. Thus, independent fragmented efforts are made to solve what are intrinsically similar challenges, albeit in different manifestations and in different environments. It is possible that the best solutions may not be the same for all fields, e. g., preregistration of experimental protocols may not serve the ends of exploratory “blue sky” science in the same way it does for clinical trials. However, one needs to see the big picture to identify the relevant similarities and differences. A research effort is needed that cuts across all disciplines, drawing from a wide range of methodologies and theoretical frameworks, and yet shares a common objective; that of helping science progress faster by conducting scientific research on research itself. This is the field of meta-­research. 21 McLeod et al. (footnote 20). 22 Ioannidis JP (2014), How to make more published research true. In: PLOS Med, 11(10):e1001747. Doi: 10. 1371/journal.pmed.1001747. PMID: 25334033.

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What Is Included in the Discipline of Meta-research? As for all disciplines, multiple classifications are possible, and categories are inevitably overlapping. We believe it convenient to categorize meta-­research into five major areas of interest: Methods, Reporting, Reproducibility, Evaluation, and Incentives. These correspond, respectively, with how to perform, communicate, verify, evaluate, and reward research. Table 1 lists the issues that are covered under each theme and some delineation of specific interests. Many scientists are currently working on these various aspects of meta-­research, motivated by the common objective to improve the scientific enterprise, but tend to do it in methodological or disciplinary silos; unlike a physical and organic chemist, who both recognize they are chemists, these reformers within science may not recognize that they are all working within the domain of meta-­research. Given the types of questions addressed, meta-­research interfaces with many other established disciplines. These include, but are not limited to, history and philosophy of science (epistemology), psychology and sociology of science, statistics, data science, informatics, evidence-­based medicine (and evidence-­based “X” in general), research synthesis methods (e. g., meta-­analysis), journalology, scientometrics and bibliometrics, organizational and operations research, ethics, research integrity and accountability research, communication sciences, policy research, and behavioural economics. Meta-­research area

Specific interests (nonexhaustive list)

Methods: “performing research” –  ​ study design, methods, statistics, research synthesis, collaboration, and ethics

Biases and questionable practices in conducting research, methods to reduce such biases, meta-­a nalysis, research synthesis, integration of evidence, crossdesign synthesis, collaborative team science and consortia, research integrity and ethics

Reporting: “communicating research” –  ​reporting standards, study registration, disclosing conflicts of interest, information to patients, public, and policy-­makers

Biases and questionable practices in reporting, explaining, disseminating and popularizing research, conflicts of interest disclosure and management, study registration and other bias-­prevention measures, and methods to monitor and reduce such issues

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Meta-­research area

Specific interests (nonexhaustive list)

Reproducibility: “verifying research” –  ​sharing data and methods, repeatability, replicability, reproducibility, and self-­ correction

Obstacles to sharing data and methods, replication studies, replicability and reproducibility of published research, methods to improve them, effectiveness of correction and self-­correction of the literature, and methods to improve them

Evaluation: “evaluating research” – pre­ publication peer review, postpublication peer review, research funding criteria, and other means of evaluating scientific quality

Effectiveness, costs, and benefits of old and new approaches to peer review and other science assessment methods, and methods to improve them

Incentives: “rewarding research”: promotion criteria, rewards, and penalties in research evaluation for individuals, teams, and institutions

Accuracy, effectiveness, costs, and benefits of old and new approaches to ranking and evaluating the performance, quality, value of research, individuals, teams, and institutions

Table 1: Major themes covered by meta-­research. doi:10.1371/journal.pbio.1002264.t001

Meta-­research includes both theoretical and empirical investigation. The former uses analytical as well as computational methods, the latter yields descriptive evidence (e. g., surveys of biases in a given field), association and correlation observational analyses, and intervention studies (e. g., randomized trials assessing whether one research practice leads to better outcomes than another). Meta-­ research involves taking a bird’s eye view of science. For example, single meta-­ analyses that synthesize evidence on multiple studies on a specific question of interest are not within the primary remit of meta-­research. However, the combination of data from multiple meta-­analyses on multiple topics (“meta-­ epidemiology”) may offer insights about how common and how consistent certain biases are across a large field or multiple fields. This emphasis on the broader picture is typical of many meta-­research investigations. Meta-­research is interdisciplinary. For example, it benefits from better tools and methods in statistics and informatics. Complex issues of behaviour change converge on modeling, psychology, sociology, and behavioural economics. Newly introduced, sophisticated measurement tools and techniques in various disciplines introduce new, peculiar errors and biases; their understanding requires combining expertise in biology, bioengineering, and data sciences. Properly communicating science and its value requires combining expertise in multiple fields and has become increasingly critical nowadays, when mistrust of science runs high and multiple interests hold a stake in influencing research

Meta-research: Evaluation and Improvement

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results. Some interests set out to manipulate science and cause damage when their intentional bias pollutes the scientific record (e. g., tobacco companies or climate change deniers). Meta-­research may be our best chance to defend science, gain public support for research, and counter antiscience movements. It may help provide a correcting mechanism closer to real time than the self-­ correcting scientific process that otherwise may take much longer. Moreover, bird’s-­eye metaviews of science are not separate and detached from focused field-­specific research. In my experience, inspiration for new projects has often come from mistakes, shortcomings, or difficulties that I encountered while doing field-­specific research. It is sometimes difficult to convey a message that something is wrong. However, it is paradoxically easier when the message says that thousands or millions of papers are doing something wrong rather than arousing personal animosity for a single failed paper. It is also easier when the constructive critique comes from within a field, recognized as necessary improvement rather than intrusion. Learning by collaborating with researchers in diverse disciplines and trying to understand the daily challenges in a specific field can be a highly rewarding experience for a meta-­researcher. We need scientific curiosity but also intellectual humility and commitment to improve our efforts. We are in the process of mapping the influential meta-­research literature and identifying the key players in this burgeoning field. By an iterative process of search and manual inspection, we have compiled a search string comprising 79 terms (keywords, sentences, author identifiers) that capture with good efficiency the five thematic areas described above. A search in the Scopus database using these terms, followed by manual inspection and cross-­checked selection by two co-­authors, identified 851 meta-­research-­relevant publications (out of a starting list of 1,422) that have been published, across all disciplines, in the period January 1–May 16 2015 alone. Around three quarters of these records (n = 610) are classified by Scopus as research articles, conference papers, or reviews, and the rest as editorial material or letters. This preliminary “photograph” of the field suggests that meta-­research is a growing and truly global enterprise (Fig 1), even though our sample is likely to underestimate the true extent of the field, since it is not fully sensitive yet to detect all relevant papers, given the very wide variety of disciplines and nomenclature involved. Identifying the boundaries of any discipline, let alone those of a highly cross-­disciplinary field, is a dynamic and somewhat arbitrary process, which requires continuous updates and refinements. Therefore, a list of meta-­research literature and details of the search strategy used will be posted on metrics.stanford.edu, where they will be regularly updated, expanded, and refined over time.

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Fig 1: Number of meta-­research–related publications registered by the Scopus database between January 1 and May 16 2015, by country of corresponding author and by affiliation of any coauthor. Countries are attributed based on corresponding or first author address (legend, from light yellow to red, respectively, to 1 – 5, 5 – 10, 10 – 20, 20 – 50, 50 – 230 publications). Blue dots indicate the 100 institutions most frequently listed amongst coauthors’ addresses. Dot size is proportional to number of papers (range: 2 – 37). Papers were selected for inclusion from an initial list of 1,422 papers retrieved from the Scopus database using a combination of search terms aimed at capturing the core areas described in Table 1. Of the 851 records selected for inclusion, country or affiliation data could not be retrieved for 102 Scopus records, which therefore are not included in the map. Search terms, literature lists, and further details are available at metrics.stanford.edu. The map and plots therein were generated anew, using the packages ggmap and ggplot2 implemented in the open source statistical software R. Image Credit: Daniele Fanelli doi:10.1371/journal.pbio.1002264.g001

Meta-research-Related Initiatives Worldwide Table 2 shows an illustrative list of some existing initiatives that aim to address different portions of the meta-­research agenda. This list is not complete, and the number of initiatives may continue to grow fast. The table aims only to give the reader a sense of the breadth of the various efforts that are ongoing. Many initiatives were launched only within the last few years. This diversity suggests that an effort is needed to better define and connect this rapidly growing discipline.

Meta-research: Evaluation and Improvement

Initiative

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Area of work (website)

Methods Cochrane Collaboration

Systematic reviews of health care (cochrane.org)

Campbell Collaboration

Systematic reviews of social science (campbellcollaboration.org)

James Lind Library

Evolution of fair tests of treatment (jameslindlibrary.org)

Society for Clinical Trials

Clinical trials (sctweb.org)

SRSM

Methods for research synthesis (srsm.org)

BioSharing

Standards for biology, natural, and life sciences (biosharing.org)

Human Proteome Project

Collaboration center for proteome (thehpp.org)

NCPRE

Research ethics (ethicscenter.csl.illinois.edu)

Reporting ClinicalTrials.gov

Clinical trials registration (clinicaltrials.gov)

EQUATOR network

Reporting standards for research (equator-­network.org)

Sense About Science

Communicating research in public (senseaboutscience.org)

Health News Reviews

Expert review of science news stories (healthnewsreview.org)

Reproducibility Center for Open Science

Open science in psychology and more (centerforopenscience.org)

BITSS

Transparency in social sciences (bitss.org)

BPS

Best practices in social sciences (bps.stanford.edu)

Political Science Replication

Reproducibility in political science (­politicalsciencereplication.com)

YODA

Sharing data from clinical research (yoda.yale.edu)

Neurovault

Data repository for PET and MRI maps (neurovault.org)

OpenfMRI

fMRI data repository (openfmri.org)

NIH repositories, examples: dbGAP

Raw data on genotype and phenotype (ncbi.nlm.nih.gov/gap)

GEO

Functional genomics repository (ncbi.nlm.nih.gov/geo)

Science Exchange

Reproducibility checks (validation.scienceexchange.com)

Evaluation Peer Review Congress

Evidence on peer review (peerreviewcongress.org)

Center for Scientific Integrity

Tracking retractions of scientific articles (retractionwatch. com/the-­center-­for-­scientific-­integrity)

PubMed Commons

Postpublication comments (ncbi.nlm.nih.gov/pubmedcommons)

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Initiative

Area of work (website)

ArXiv

Preprint article repository (arxiv.org)

ICMJE

Standards for journal publishing (icmje.org)

COPE

Journal publication ethics (publicationethics.org)

PubPeer

Peer comments on research (pubpeer.com)

PEERE

New models for peer review (www.peere.org)

Incentives REWARD

Reducing waste and rewarding diligence in research (­researchwaste.net)

AAAS

Science policy (aaas.org)

ICSU

International science policy (icsu.org) Table 2: A nonexhaustive list of initiatives that address various meta-­research themes*23 doi: 10.1371/journal.pbio.1002264.t002

The Meta-­Research Innovation Center at Stanford (METRICS ) is one such effort that we have undertaken, with the primary objective to connect the disparate elements of this field and enhance their synergy and collective efficiency towards the goal of improving published research. It does this through primary research and creation of a research and policy-­focused network of meta-­researchers around the world. METRICS has recruited a large number of faculty, from multiple disciplines within and outside biomedicine, and scholars and graduate students at Stanford, has created a seed grant research program to support innovative research ideas in this area, and has started building further this meta-­research community through speaker series, curriculum development, regular workshops, and other events. A major challenge for this centre is to connect the much larger global community of meta-­researchers and related stakeholders. As part of building and * for clarity, each initiative has been grouped under one of the five themes of Table 1, but several of these initiatives cater to more than one of the five themes AAAS: American Association for the Advancement of Science; BITSS: Berkeley Initiative for Transparency in the Social Sciences; BPS: Best Practices in Science; COPE: Committee on Publication Ethics; dbGAP: Database on Genotypes and Phenotypes; EQUATOR: Enhancing the quality and transparency of reporting; GEO: Gene Expression Omnibus; ICMJE: International Committee of Medical Journal Editors; ICSU: International Council for Science; NCPRE: National Center for Professional and Research Ethics; NIH: National Institutes of Health; REWARD: Reduce research waste and reward diligence; SRSM: Society for Research Synthesis Methodology; YODA: Yale University Open Data Access.

Meta-research: Evaluation and Improvement

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supporting this network, we plan to create an interactive online platform to inform and connect researchers working on these themes. No single centre can cover this vast field alone, so we see METRICS as a partner and facilitator of the multiple other related scientific endeavours. A biannual meeting helps bring together scientists working in distant fields who are interested in improving research practices. The first of these meetings took place at Stanford on November 19 – 20, 2015. A central goal of this community is to provide evidence-­based guidance on policy initiatives to improve research quality. Such evidence should come not only from observational but also from experimental studies and through dialogue and engagement with key stakeholders from the public and private sectors. The most ambitious and durable transformations will likely require considerable realignment of the reward and incentive system in science. Funding agencies, institutional leaders, scientific journals, and the mass media will all be important partners in ensuring that the best science is designed, conducted, analysed, published, disseminated, and ultimately rewarded.

Better Education in Better Research Practices A strong educational curriculum and the development of training materials to equip researchers with the knowledge of best scientific practices will also be a critical component in accomplishing these goals. There is a need to train meta-­ researchers, in the same way we train immunologists or biologists or computer scientists, and not just expect that some scientists will keep finding their way into meta-­research in somewhat random fashion. There is also a need to educate practicing scientists, not just meta-­research specialists, on the importance of methods and rigorous, reproducible research practices. Most disciplinary training focuses on learning topical subject matter facts and technical skills that are field-­specific and that can have a short half-­life. Conversely, there is little training of future investigators and little continuing education of mature investigators on fundamental principles of research methods and practices. Beyond scientists, other key stakeholders, including media, journal editors, and funders can be educated on best research practices. Building such an educational curriculum may require integrating best research practices modules with required Responsible Conduct of Research training and evaluations and collaborating with other scholars to share best practices and facilitate shared learning, and creating online courses in specific

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methods areas. NIH recently issued a Request for Proposals for online training in this domain. Even the general public would benefit from exposure to these issues, and many activated consumer networks (e. g., Project LEAD , sponsored by the National Breast Cancer Coalition [http://www.breastcancerdeadline2020.org/get-­involved/training/project-­lead/], Consumers United for Evidence-­based Healthcare [http://us.cochrane.org/CUE], and PCORI’s Patient Powered Research Networks [http://www.pcornet.org/patient-­powered-­ research-­networks/]) are leading the way in patient and consumer scientific engagement and education.

Who Will Fund Research on Research? Funding all these efforts requires a substantial investment. Until recently, the few large-­scale initiatives in this space, such as the Cochrane Collaboration, were based mostly on volunteering of idealistic individuals who cared about science and high-­quality evidence. Most of that effort was invested on performing systematic reviews on topical questions of interest (e. g., learning about whether a specific drug works and by how much), although this led inevitably to concerns about larger meta-­research issues like bias, methods, and reproducibility across studies. Most funding agencies have organized themselves into sections based on topical focus rather than widely applicable, cross disciplinary methods. This disease or discipline-­specific paradigm does not lend itself to solving problems that cut across science more generally. Until now, mostly a few private foundations have been championing the cause of meta-­research to improve research quality. However, it is encouraging to see several public funders (e. g., NIH 24 [10] and PCORI [www.pcori.org/blog/open-­science-­pcoris-­efforts-­make-­study-­ results-­and- data-­more-­widely-­available] among others) recognizing the need to support such efforts and to eventually generate and apply scientific evidence on scientific investigation, including how they themselves should function.

23 Collins FS, Tabak LA (2014), Policy: NIH plans to enhance reproducibility. In: Nature, 505(7485): pp. 612 – 613. PMID: 24482835.

Meta-research: Evaluation and Improvement

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Summary Meta-­research is the study of research itself: its methods, reporting, reproducibility, evaluation, and incentives. Given that science is the key driver of human progress, improving the efficiency of scientific investigation and yielding more credible and more useful research results can translate to major benefits. The research enterprise grows very fast. Both new opportunities for knowledge and innovation and new threats to validity and scientific integrity emerge. Old biases abound, and new ones continuously appear as novel disciplines emerge with different standards and challenges. Meta-­research uses an interdisciplinary approach to study, promote, and defend robust science. Major disruptions are likely to happen in the way we pursue scientific investigation, and it is important to ensure that these disruptions are evidence based.

Alternative Wahrheiten: Die Konstruktion der Wirklichkeit aus der Perspektive der Quantenphysik Markus Aspelmeyer

Ich wurde im Vorfeld ­dieses Wissenschaftstages mit unangenehmen Fragen konfrontiert. Etwa: „Untergräbt die Quantenphysik durch Relativierung des Ursache-­Wirkungs-­Prinzips in der Öffentlichkeit den Objektivitätsanspruch der Wissenschaften?“ Oder: „Ist das scheinbare Aufgeben des physikalischen Realismus durch die Quantenphysik mitverantwortlich, dass es keinen Konsens mehr geben kann darüber, was „die Wirklichkeit“, w ­ elche Sichtweise richtig oder falsch ist?“ Etwas anders formuliert: „Trägt nicht doch die moderne Wissenschaft einen großen Teil der Schuld selbst?“ Ich war offen gestanden ein wenig erschüttert über diese recht klar formulierte kausale Kette der Zusammenhänge und stelle mich daher gern der Aufgabe, diese Fragen vor dem Hintergrund der Quantenphysik zu kommentieren. Ich beginne mit der Frage nach der drohenden „Demokratisierung“ der Wissenschaft. In der idealen Welt entscheiden wir Wissenschaftler auf Basis von Fakten. Dazu muss zunächst einmal intersubjektive Übereinstimmung vorliegen darüber, was „harte Fakten“ ausmacht – darüber, was eigentlich „ist“. Diese Möglichkeit der intersubjektiven Übereinstimmung schafft erst die notwendigen Voraussetzungen dafür, Phänomene in der Natur zu systematisieren, um dann auf Basis von Modellen bzw. Theorien Vorhersagen für das Eintreffen zukünftiger solcher Phänomene zu treffen. Die Einbettung der Modelle in einen größeren ontologischen Kontext konstituiert dann das Weltbild. Naturgesetze werden somit zum Ausdruck fundamentaler Einsichten in die Funktionsweise der Natur. Im Idealfall sollte es möglich sein, Theorien ausgehend von wenigen physikalischen Prinzipien zu rekonstruieren. Einstein hat ein ähnliches Modell der Theoriebildung 1952 in einem Brief an Maurice Solovine treffend skizziert 1. Ausgehend von der Mannigfaltigkeit der unmittelbaren Sinneserlebnisse („E“) kommt es „intuitiv“ zur Erstellung von Axiomen („A“). Einstein betont explizit: „Es gibt aber keinen logischen Weg von den E zu den A, sondern nur einen intuitiven Zusammenhang, der immer auf 1 Einstein, A., Berger, N. & Solovine, M., 2010. Letters to Solovine: 1906 – 1955, New York, Philosophical Library/Open Road.

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Markus Aspelmeyer

Widerruf ist“.2 Aus dem Axiomensystem, d. h. den physikalischen Prinzipien, ergeben sich gefolgerte Sätze, d. h. die logisch richtig geschlussfolgerten Konsequenzen, die eine Entsprechung in der Mannigfaltigkeit der unmittelbaren Sinneserlebnisse finden. Dieser letzte Schritt, die „Prüfung an der Erfahrung“ entscheidet schließlich darüber, ­welche dieser ­Theorie(n) untauglich sind, um die Phänomene in unserer Welt zu beschreiben. Aber natürlich ist die Welt nicht ideal! Selbst bei unerschütterlicher Faktenlage kann es auch bei „uns“, der idealisierten Welt der Naturwissenschaft, lange dauern, bis sich ein neues Erklärungsmodell, eine neue ­Theorie durchsetzt – oder um es mit Kuhn 3 zu sagen: bis ein Paradigma durch ein anderes ersetzt wird. Wir haben unzählige Beispiele, bei denen „Fakten“, d. h. von Vielen unabhängig beobachtete Phänomene, durch verschiedene Modelle erklärt werden. Beispiele, bei denen wir eine „demokratische“ Phase mit wechselnden Mehrheiten durchwandern, in denen einmal die eine, einmal die andere ­Theorie in den Vordergrund rückt, bis der Paradigmenwechsel vollzogen ist, sich die neue ­Theorie durchsetzt und sich schließlich mit dem Weltbild auch unsere Welt ändert – wenn etwa aus den beiden Sternen „Morgenstern“ und „Abendstern“ der eine Planet Venus wird. Lassen Sie mich ein Beispiel aus der Quantenphysik nennen: Einstein hat 1905 mit der Postulierung der Lichtquantenhypothese 4, der Existenz von kleinsten Energieeinheiten der elektromagnetischen Strahlung – heute Photonen, oder Lichtteilchen genannt –, ein beachtlich einfaches Erklärungsmodell für den ein paar Jahre zuvor von Lenard untersuchten photoelektrischen Effekt gegeben. Er stellt auf Basis ­dieses Postulats ein Gesetz auf, das die Energie des eintreffenden Lichts mit der der austretenden Elektronen in Relation setzt, das Jahre ­später auch bestätigt wird und sowohl seinem „Entdecker“ Einstein wie auch dem Experimentator (Robert Millikan) jeweils den Nobelpreis für Physik einbringt. Einsteins Argument für die Notwendigkeit der Quantisierung von Licht basierte auf einfachen thermodynamischen Überlegungen – und benutzte lediglich Annahmen über Eigenschaften der Strahlung, die Max Planck bereits 2 Dieser „intuitive“ Schritt unterscheidet die Physik von der reinen Mathematik. Oder um es mit den Worten des Physikers und Nobelpreisträgers Wolfgang Pauli an den berühmten Mathematiker John von Neumann zu formulieren: „Wenn es in der Physik ums Beweisen ginge, wären Sie ein großer Physiker.“ 3 Kuhn, T. S., 1962. The structure of scientific revolutions, Chicago, Ill. [u. a.]: Univ. of Chicago Press [u. a.]. 4 Einstein, A., 1905. Über einen die Erzeugung und Verwandlung des Lichtes betreffenden heuristischen Gesichtspunkt. In: Annalen der Physik, 322(6), S. 132 – 148.

Alternative Wahrheiten

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für sein kurz vorher gefundenes Strahlungsgesetz zur Beschreibung von Schwarzkörperstrahlung verwendet hatte. Obwohl das Plancksche Strahlungsgesetz und seine Konsequenz der Notwendigkeit der Quantisierung von Energie nahezu instantan als revolutionär anerkannt wurde, war die Lichtquantenhypothese „zu viel des Guten“. Für Nils Bohr etwa, stellvertretend für die meisten anderen Physiker/innen dieser Zeit, waren die „Quantensprünge“ eine Eigenschaft der Materie, was sich s­ päter im Bohrschen Atommodell (in dem Elektronen im Atom nur bestimmte „Orbitale“, d. h. Energiewerte, annehmen können) klar manifestierte. Strahlung selbst, also das elektromagnetische Feld, verhält sich immer klassisch, wird aber von den Atomen nur in finiten Energiemengen aufgenommen und abgegeben. Eine „Quantisierung“ des Strahlungsfeldes ist nicht nötig. Auch Modelle zur Erklärung des photoelektrischen Effekts wurden vor d ­ iesem Hintergrund aufgestellt, die das Beobachtete – wenn auch umständlicher – erklären konnten. Selbst Planck, der 1913 (gemeinsam mit Nernst, Rubens und Warburg) ein Empfehlungsschreiben für Einsteins Aufnahme in die Preußische Akademie der Wissenschaften verfasst, schreibt dort noch: „Zusammenfassend kann man sagen, dass es unter den großen Problemen, an denen die moderne Physik so reich ist, kaum eines gibt, zu dem nicht Einstein in bemerkenswerter Weise Stellung genommen hätte. Dass er in seinen Spekulationen einmal über das Ziel hinausgeschossen haben mag, wie z. B. in seiner Hypothese der Lichtquanten, wird man ihm nicht allzu schwer anrechnen dürfen; denn ohne ein Risiko zu wagen lässt sich auch in der exaktesten Naturwissenschaft keinerlei wirkliche Neuerung einführen.“ 5 Gleichwohl wurde die Faktenlage immer erdrückender. Die von Arthur Compton 1922 untersuchte Streuung von Röntgenstrahlen an Elektronen 6 zeigte schließlich, dass der Impuls einzelner Lichtquanten übertragen wurde und bestätigte die Notwendigkeit des „Teilchencharakters“ von Licht. Zwar unternimmt Bohr – gemeinsam mit seinen Assistenten Kramers und ­Slater – einen letzten Versuch einer semi-­klassischen Erklärung des Compton-­Effekts, der schließlich grandios scheitert (in der Fachwelt aber noch immer als Bohr-­ Kramers-­Slater ­Theorie  7 bekannt ist). Dennoch: die Tatsache, dass (drei) schlaue 5 Archiv der Berlin-­Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Bestand Preußische Akademie der Wissenschaften, II-III-36, Bl. 36 – 37. 6 Arthur H. Compton: Secondary Radiations produced by X-rays and some of their applications to physical problems. In: Bulletin of the National Research Council, Band 20, 1922, S. 10. 7 N. Bohr, H. A. Kramers & J. C. Slater (1924) LXXVI. The quantum theory of radiation. In: The London, Edinburgh, and Dublin Philosophical Magazine and Journal of Science, 47, S. 281, 785 – 802.

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Menschen scheitern, heißt nicht, dass sich nicht doch noch eine andere (semiklassische) Beschreibung finden lässt. In Bohrs Worten: „Even if Einstein sends me a cable that an irrevocable proof of the physical existence of light-­quanta has now been found, the message cannot reach me, because it has to be transmitted by electromagnetic waves.“ 8 Und in der Tat: In den Jahrzenten danach erlebten die sogenannten semi-­klassischen Theorien immer wieder eine Renaissance. Erst in den 1970er Jahren konnte durch den Physiker John Clauser das Experimentum crucis 9 durchgeführt werden, das die Unmöglichkeit der „klassischen Strahlung“ unumstößlich untermauert – knapp 70 Jahre nach der Formulierung des Postulats. Bitte entschuldigen Sie diesen langatmigen Exkurs. Worauf ich hinaus will ist das Folgende: Trotz aller augenscheinlichen „Demokratisierung“ konnten wir uns bislang immer darauf verlassen, dass wir – selbst nach 70 Jahren – ein „experimentum crucis“ finden, das verschiedene Modelle voneinander unterscheidet. Bislang war es in der Physik nie der Fall, dass zwei sich unterscheidende Theorien (und damit Weltansichten) zu exakt deckungsgleichen Vorhersagen geführt haben. Um es anders zu formulieren: Am Ende des Tages weicht die Demokratie der Gelehrten dem Diktat der Natur. Auch die Quantenphysik trägt hier qualitativ nichts Neues zur Diskussion bei. Hierbei handelt es sich um einen den Naturwissenschaften inhärenten und gnadenlosen Selektionsprozess. Am Ende des Tages entscheiden die Fakten. Was mich zum zweiten Aspekt der Eingangsfragen führt: Fakten „worüber“? Welchen Aspekt der Realität beschreibt eine physikalische ­Theorie? Bis zum Einzug der Quantentheorie hat die Physik unter der Prämisse gearbeitet, dass physikalische Theorien die Natur so beschreiben „wie sie ist“. Mathematische Elemente der Th ­ eorie beziehen sich auf „in der Natur existierende“ Entitäten, sogenannte „elements of reality“. Diese sind im Wesentlichen Eigenschaften eines Objekts, die vor und unabhängig von einer Beobachtung des Systems „vorliegen“ und das Ergebnis einer Messung (Beobachtung) vollständig determinieren. Das ist zeitgleich die Arbeitsdefinition des „naiven Realismus“. Die Quantentheorie bricht mit d ­ iesem Realismus-­Anspruch. Erstmals liegt in der Geschichte der Physik eine ­Theorie vor, deren Beschreibungsgegenstand nicht konkrete „prä-­existierende“ Eigenschaften sind, sondern 8 J. Mehra and H. Rechenberg, The historical development of quantum theory, Springer-­Verlag, New York, 1982, Vol. 1, Part 2, S. 554. 9 Clauser, J. F. F., 1974. Experimental distinction between the quantum and classical field-­ theoretic predictions for the photoelectric effect. In: Physical Review D, 9(4), S. 853 – 860.

Alternative Wahrheiten

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„Wahrscheinlichkeiten von möglichen Ereignissen“. Nachdem die Anzahl „möglicher Ereignisse“ für ein System groß sein kann – ein Photon kann beispielsweise durch den oberen Spalt oder durch den unteren Spalt von zwei Spalten fliegen, bevor es an einem bestimmten Ort am Beobachtungsschirm detektiert wird –, gibt es Regeln, wie sich die Wahrscheinlichkeiten möglicher Ereignisse aufaddieren und sogar interferieren können. Mathematisch gesehen werden jedem möglichen Ereignis komplexwertige Amplituden zugeordnet, die dann ähnlich dem Verhalten von Wellen „interferieren“ können, d. h. einender entweder verstärken oder auslöschen. Das führt zu paradoxen Situationen: Wenn mein Photon nur den oberen Spalt passiert (ich kann das sicherstellen, indem ich den unteren Spalt blockiere), erhalte ich eine Vorhersage für die Wahrscheinlichkeit des Auftreffens des Photons am Beobachtungsschirm (dazu brauche ich übrigens keine Quantentheorie; reine Optik tut es auch…). Dasselbe gilt für die Situation, wenn nur der untere Spalt offen ist. Sind aber beide Spalte offen, dann würde ich als „naiver Realist“ erwarten, dass sich die Wahrscheinlichkeiten für das Auffinden des Teilchens am Schirm schlicht addieren. Das Teilchen geht entweder durch den oberen Spalt oder durch den unteren Spalt, um an einen gewissen Punkt zu gelangen, und daher addiert sich die Wahrscheinlichkeit der vorher bestimmten einzelnen Wege. Das Gegenteil ist der Fall. Die „wellenartige“ Addition der Wahrscheinlichkeitsamplituden, die uns die Quantentheorie zwingt zu benutzen, führt dazu, dass es Positionen gibt, an denen das Teilchen nie zu finden sein wird, wenn beide Spalte offen sind. Und das, obwohl die Einzelwahrscheinlichkeit für das Passieren von jeweils einem Spalt nicht null ist. In anderen Worten: der Ausgang des Experiments steht im Widerspruch zu der (naiv realistischen) Annahme, dass das Teilchen entweder den oberen oder den unteren Spalt passiert hat. Der Einfachheit halber sprechen wir in so einer Situation von einer „Überlagerung“ (Superposition) des Teilchens – wobei wir eigentlich die Wahrscheinlichkeitsamplituden für die möglichen Beobachtungsergebnisse am Teilchen meinen. Was also sind die „Elemente der physikalischen Realität“? Welchen Spalt passiert das Teilchen denn nun, wenn es zwei offene Spalte vorfindet? Löst sich die Realität unter den Fingern unserer Beobachtung auf? Wir stellen schnell fest, dass es Fragen gibt, auf die die Th ­ eorie schlicht keine Antwort hat. Jede Frage muss vor dem Hintergrund einer konkreten Beobachtungssituation gestellt werden. Sind beide Spalte offen und ist mein Detektor hinter den Spalten platziert, kann ich die Frage stellen, mit welcher Wahrscheinlichkeit dieser Detektor anschlagen wird. Wenn es im Rahmen dieser Beobachtungssituation

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gleichzeitig prinzipiell unmöglich ist, Information über den Weg der Teilchen zu erhalten, dann kommt es zu den beschriebenen Quanteneffekten. Stelle ich die Detektoren hingegen direkt an die Spalte (um zu erfahren, durch ­welchen Spalt die Teilchen gegangen sind), werde ich die Wahrscheinlichkeit für das Anschlagen dieser Detektoren erfahren. Das Auslösen eines Detektors lokalisiert das Teilchen nun an einem der beiden Spalte, und wir werden wieder, wie klassisch erwartet, die Teilchen gleichverteilt hinter beiden Spalten finden – keine Quanteninterferenz. Der Beobachtungskontext bestimmt, was beobachtet werden kann, und damit, w ­ elche Frage an ein konkretes System gestellt werden kann. Im Fall des Photons (oder beliebig anderer Teilchen, etwa Makromoleküle, wie sie von meinem Kollegen Markus Arndt an der Universität Wien untersucht werden 10, wird es immer einen Kompromiss geben: Ich kann nie vollständig den Weg des Teilchens wissen und gleichzeitig maximale Quanteninterferenz beobachten. Dieses Prinzip, letztlich darauf zurückführbar, dass für mögliche Messungen am System nur eine bestimmte Menge an Information zur Verfügung steht, hat Bohr bereits erkannt und mit dem Namen „Komplementarität“ versehen. Was „existiert“ aber nun, wenn Eigenschaften eines Systems nur relativ zur Beobachtungssituation „real“ sein können? Am Beispiel der Teilchentrajektorie am Doppelspalt: Die Frage nach dem Weg des Teilchens ist im Rahmen der ­Theorie nicht beantwortbar, wenn beide Spalte offen sind, und die Annahme, dass es durch einen Spalt geht, steht im Widerspruch zu den experimentellen Daten. Also scheint es unmöglich zu sein, in dieser Beobachtungssituation widerspruchsfrei vom „Weg des Teilchens“ zu sprechen. Eine pragmatische Sichtweise könnte sein: was „existiert“ sind Messergebnisse, also registrierbare Ereignisse im Detektor. Diese sind Teil der notwendigen Voraussetzungen, die eine Formulierung der Quantentheorie überhaupt erst möglich machen. Sie gehören sozusagen zu den „Möglichkeitsbedingungen“ der ­Theorie. Warum? Weil Quantentheorie nichts anderes ist als eine ­Theorie über mögliche Messausgänge. Als ­solche kann sie natürlich nicht den Anspruch haben, das Zustandekommen des Messausgangs erklären zu wollen. Ähnlich wie wir mit der Newtonschen Mechanik eine ­Theorie haben, die die Bewegung von Massepunkten in der Raumzeit ganz hervorragend beschreibt – ohne dass jemand auf die Idee kommen würde, von den Newtonschen Gesetzen zu verlangen, den Ursprung der Masse und die Struktur der Raumzeit zu 10 Markus Arndt et al., 1999. Wave–particle duality of C60 molecules. In: Nature, 401(6754), S. 680 – 682.

Alternative Wahrheiten

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erklären. Diese Elemente sind nicht Teil des Erklärungsanspruchs einer solchen ­Theorie. Ich betone das deshalb, weil man heute noch oft den Anspruch auf eine „Theory of Everything“ formuliert hört. Jede Th ­ eorie kann nur im Rahmen ihres Erklärungsanspruchs agieren, der wiederum durch die a priori gesetzten Möglichkeitsbedingungen gegeben ist. Verschiedene Beobachtungssituationen werden immer nur einen bestimmten Aspekt der „Wirklichkeit“, der Natur, erfassen können. Je nachdem, ob nur einer oder beide Spalte offen sind, sehen wir die Teilchen- oder die ­Wellennatur von physikalischen Objekten. Je nachdem, ob wir bildgebende Verfahren, etwa Kernspinresonanz (NMR), anwenden oder psychologisch motivierte Fragen stellen, um das „Bewusstsein“ zu beschreiben, werden wir komplementäre Information über ein und dasselbe Phänomen bekommen. Vielleicht ist das Prinzip der Komplementarität in der Natur viel stärker verankert als nur in der Quantenphysik. Ich schließe mit einem beunruhigenden Thema, das den Kreis zum Anfang schließt: der Unmöglichkeit von Dokumenten. Was meine ich damit? Es gibt aus Sicht der Quantentheorie immer eine Beobachtungssituation, bezüglich derer ein Beobachtungsfaktum, also einfach der Ausgang einer Messung – hier: Teilchen geht durch einen Spalt –, prinzipiell kein Element der physikalischen Realität mehr darstellt. Unter einem Element der physikalischen Realität verstehen wir dabei etwas, das unabhängig vom Beobachter, unabhängig von der Beobachtungssituation, als Dokument in der Welt seine Gültigkeit hat. Das scheint im krassen Widerspruch mit unserer Erfahrung der Alltagswelt zu sein. Es ist eine Beobachtungstatsache (im Einsteinschen Sinne ein „unmittelbares Sinneserlebnis E“), dass makroskopische Objekte immer in einem bestimmten Zustand sind (das Glas am Tisch vor mir ist entweder „hier“ oder „dort“). Woran liegt das? Nun, ein makroskopisches Objekt steht in ständiger Wechselwirkung mit seiner Außenwelt: Luftmoleküle werden ständig reflektiert, Wärmestrahlung wird ausgestrahlt und absorbiert, etc. Wenn nun unser Teilchen, das durch den Spalt geht, in einer „Überlagerung“ der beiden Spalt-­Positionen war, so wird das auch für die gestreuten Luftmoleküle oder Photonen der Wärmestrahlung gelten, und auch für den Detektor, der das Teilchen entweder oben oder unten sieht (etwa durch die Wärmestrahlung), und auch für mein Gehirn, das regis­ triert, in welchem Zustand ich den Detektor beobachte. Zu keinem Zeitpunkt aber habe ich die Ununterscheidbarkeit der beiden Kausalketten aufgehoben! Beide Ketten von mehr und mehr makroskopisch unterscheidbaren Zuständen sind nach wie vor in einer Superposition – jeder Beobachter, den wir einführen, ist aus Sicht eines „Super-­Beobachters“ nach wie vor in einer Überlagerung.

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Wie kann also überhaupt ein Zustand eines physikalischen Systems „realisiert“ sein? Das ist das so genannte Messproblem. Warum ist das ein Problem? Weil es unseren Beobachtungstatsachen der makroskopischen Alltagswelt widerspricht. Was sagt die Quantentheorie dazu? Sie sagt uns: eigentlich ist es nicht verwunderlich, dass wir das Glas am Tisch in einem der beiden Zustände sehen. Denn um Quantenphänomene beobachten zu können, brauchen wir die Ununterscheidbarkeit der möglichen Zustände. Aber da das Glas so groß ist, kann schon ein Gasmolekül oder ein Lichtteilchen, das am Glas reflektiert wird, Information über den Zustand des Glases transportieren. Wenn ich nun ­dieses Gasmolekül oder Lichtteilchen in der Beschreibung meines Systems außer Acht lasse, dann verliere ich die Information an die „Umwelt“ des Glases. Mit anderen Worten: Eine Messung an der Umgebung genügt, um unabhängig vom Glas etwas über den Zustand des Glases zu lernen, und damit ist die prinzipielle Ununterscheidbarkeit der Zustände des Glases aufgehoben. Dieser Verlust der beobachtbaren Quantenphänomene durch Wechselwirkung mit einer „Umwelt“ nennt man Dekohärenz 11. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass Dekohärenz nicht die Frage klärt, ob Quantenphänomene auf der Makroskala prinzipiell unmöglich sind. Dekohärenz erklärt lediglich das Verschwinden von Quantenphänomenen, wenn ich die Umwelt eines physikalischen Systems, beispielsweise aufgrund ihrer Komplexität, nicht mehr in die Beschreibung meines Quantensystems einbeziehe. Was passiert aber in einer Beobachtungssituation, in der gemeinsame Eigenschaften des Gesamtsystems – also Glas am Tisch einschließlich Gasmolekül oder Lichtteilchen – gemessen werden können? In dem Fall ist keine Information verlorengegangen und das Gesamtsystem befindet sich in einer Überlagerung verschiedener (gemeinsamer) Zustände, die prinzipiell ununterscheidbar sind. Mit anderen Worten: obwohl wir in einer bestimmten Beobachtungssituation bereits davon ausgehen konnten, das Glas aufgrund von Dekohärenz in einem der beiden möglichen Zustände „links“ oder „rechts“ vorzufinden, erlaubt uns eine andere Beobachtungssituation, den Dekohärenzprozess aufzuheben. Durch die neue Beobachtungssituation wird die ursprüngliche Information in der Umgebung „gelöscht“ und wir stehen wieder am Anfang unseres Problems: Wir können unabhängig von der Messung nichts über den ontologischen Status der möglichen Zustände des Systems sagen.

11 Maximilian Schlosshauer, Decoherence and the Quantum-­to-­Classical Transition, Springer, New York.

Alternative Wahrheiten

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Wie wir oben gesehen haben, kann ein „Superbeobachter“, der Zugriff auf alle physikalischen Freiheitsgrade des Detektors, Beobachters etc. hat, im Prinzip die Information über alle gemachten Beobachtungen wieder löschen und somit einen großen Superpositionszustand verschiedener möglicher Systemzustände herstellen. Ich sollte ergänzen, dass das rein praktisch für komplexere Systeme nahezu unmöglich sein wird, aber der Punkt ist, dass die Th ­ eorie es prinzipiell zulässt. Das Problem für die Philosophie ist im Prinzip, dass das Element der Irreversibilität notwendig scheint, um Dokumente überhaupt zu ermöglichen. Als Dokumente wollen wir hier Fakten bezeichnen, über deren Beobachtung intersubjektive Übereinstimmung herrscht. Diese erst erlauben es, dass wir uns über die Welt, über „alles, was der Fall ist“, austauschen können. Angesichts der möglichen Konsequenzen einer makroskopischen Quantenphysik stehen wir nun vor der großen Frage: Welche Fakten existieren? Was kann denn überhaupt als intersubjektives Faktum gelten, wenn es prinzipiell die Möglichkeit einer Beobachtungssituation gibt, in der bereits sicher geglaubte Information wieder gelöscht wird? Um bei Wittgenstein zu bleiben: Was ist denn der Fall, wenn wir die Tatsachen aus der Welt schaffen? Mir persönlich sind die Konse­ quenzen für die Philosophie völlig unklar. Ich glaube außerdem, dass diese Frage primär ein philosophisches und kein physikalisches Problem formuliert, und ich setze große Hoffnung in einen interdisziplinären Dialog der jetzigen und kommenden Forschergenerationen. Beide Aspekte, sowohl die Relativität der Existenz von Eigenschaften ­bezüglich des Beobachters als auch die Unmöglichkeit eines vollständigen Erklärungsanspruchs einer physikalischen Th ­ eorie, sind die eigentlichen von der Quantentheorie gestellten Herausforderungen in der Konstruktion der Wirklichkeit. Diese Aspekte sind keinesfalls gesellschaftspolitisch zu verstehen, wie etwa in den eingangs formulierten Statements vermutet werden könnte, sondern sind fundamentale Randbedingungen an unsere Möglichkeiten, Natur zu beschreiben. Ich sehe daher keine Gefahr, die von der Quantenphysik ausgeht, oder mögliche Folgerungen für die Politik. Allerdings bleiben erschreckend starke Lücken in der Philosophie zu füllen. In jedem Fall freue ich mich auf einen möglichst breiten Dialog für die Zukunft.

Chinas Aufstieg in der Wissenschaft: Kein reiner Zufall! Susanne Weigelin-­Schwiedrzik

Der „friedliche Wiederaufstieg“ Chinas ist seit einiger Zeit in aller Munde. Dass die VR China nicht nur ökonomisch und militärisch, sondern auch wissenschaftlich bald an der Weltspitze stehen könnte, ist demgegenüber ein verhältnismäßig rezentes Thema, das in den Medien allenthalben aufgegriffen wird. Die öffentliche Debatte über die so genannten „CRISPR -Babys“ Lulu und Nana, die mit der Youtube-­Bekanntmachung des Projektleiters He Jiankui im Dezember 2018 begann 1, hat dieser Diskussion ebenso Nahrung gegeben wie die Landung auf der Schattenseite des Mondes und die damit verbundene Erkundung des Mondes durch ein abgesetztes Mondfahrzeug im Januar 2019.2 Bei so viel Aufstieg geht zunehmend die Angst um in der Welt, China als ein Land mit autoritärer Führung könnte in nicht allzu ferner Zukunft sich die Welt Untertan machen. Um diesen Prozess zu beschleunigen, unterwandere es Europa, kopiere die technischen Errungenschaften anderer Länder und setze alle möglichen Mittel ein, um seine potentiellen Kontrahenten zu schwächen. Während in Europa die eigene Niederlage als geradezu systemimmanent von vielen klagend antizipiert wird, versuchen die USA unter der Führung von Donald Trump mit Hilfe des Handelskriegs das Unausweichliche zumindest hinauszuzögern, wenn nicht sogar durch Herbeiführung eines Regime-­ Wechsels die drohende weltweite Machtübernahme Chinas unmöglich zu machen. Die Angst und die darauf aufbauenden Reaktionen beruhen auf einer weit verbreiteten Unkenntnis der Verhältnisse in der VR China, die Euphorie, die sich viel seltener, aber dennoch manchenorts beobachten lässt, ebenso. Der folgende Beitrag wird unter Bezug auf Innen- und Außensichten auf die wissenschaftliche Entwicklung der letzten 40 Jahre in der VR China im Kontext der historischen Entwicklung seit Mitte des 19.Jahrhunderts das Argument 1 He Jiankuis englisch-­sprachige Erläuterungen finden sich unter https://www.youtube.com/ watch?v=th0vnOmFltc, zuletzt gesehen am 21. 1. 2019. 2 Devlin, Hannah und Kate Lyons: Far side of the moon: China’s Chang’e 4 probe makes historic touchdown, in The Guardian v. 3.1 – 2019, https://www.theguardian.com/science/2019/ jan/03/china-­probe-­change-4-land-­far-­side-­moon-­basin-­crater, zuletzt gesehen am 28. 1. 2019.

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entfalten, wonach gerade deshalb, weil die Eliten in China die Wissenschaft als ein „Importprodukt“ begreifen, wissenschaftliche Höchstleistungen im Kontext des Wettbewerbs unter den Nationen für sie von besonderer Bedeutung sind. Will man Gleichrangigkeit mit den höchst-­entwickelten Nationen der Welt unter Beweis stellen, so reicht es nicht, mit ihnen auf ökonomischem und militärischem Gebiet gleichzuziehen. Auch in der Wissenschaft muss China exzellent sein. Doch ist es genau dieser utilitaristische Bezug zur Wissenschaft, welcher der Exploration des bisher Unbekannten im Wege steht. Dabei – so wird im Einzelnen zu erläutern sein – ist dieser utilitaristische Zugang Triebfeder der wissenschaftlichen Entwicklung und Selbstschutz zugleich. Denn: Da die Wissenschaft nicht etwas genuin Chinesisches ist, kann und darf sie das Innerste der chinesischen Partikularität nicht berühren. Dies impliziert, dass die Th ­ emen, an denen sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in China abarbeiten, stets von außen kommen und „außen“ bleiben, was nicht bedeutet, dass deren Bewältigung in China nicht wesentlich schneller vorankommen könnte als anderswo.

Wo steht die Wissenschaft aus China im internationalen Vergleich? Die Zahlen sprechen für einen fulminanten Aufstieg der Wissenschaft aus China. Aus fast allen Bereichen der naturwissenschaftlichen Forschung ist bekannt, dass die Zahl der Publikationen von Autoren, die aus der VR China stammen und von dort aus bzw. in Zusammenarbeit mit Forschenden aus anderen Ländern, publizieren, rasant zunimmt. Dabei ist zu beachten, dass die so genannten Qualitätssicherungssysteme in der VR China nach dem angelsächsischen Vorbild funktionieren und die Evaluation von Forschungsleistungen ausschließlich auf quantitativen Analysen beruhen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können in der VR China nur Karriere machen, wenn sie so viel publizieren, wie dies für ihren Bereich vorgesehen ist, und dabei mehr publizieren als andere. Kein Wunder also, dass der Publikationsdruck einen wachsenden Publikations-­Output generiert. Hinzu kommt, dass Universitäten in China ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über Boni motivieren, besonders viel und vor allem in international anerkannten Zeitschriften mit hohem Impact-­Faktoren zu publizieren: „One of the more controversial ways Chinese institutions encourage their researchers to publish high-­profile papers is to offer cash incentives. One study found that on average a paper in Nature or Science could earn the author a bonus of almost $44,000 in 2016.

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The highest prize on offer was as much as $165,000 for a single paper, up to 20 times a typical university professor’s annual salary.”3

Abbildung 1 Quelle: OSTA , Wissenschaft und Technologie in China, 2016, S. 9.

Dabei entsprachen die Publikationen, die wir wahrnehmen, weil sie in internationalen Zeitschriften veröffentlicht werden, im Jahr 2014 lediglich knapp 25 % aller wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die überhaupt in China getätigt wurden. Die Mehrzahl aller Publikationen bleibt den meisten von uns verschlossen, weil sie in chinesischer Sprache veröffentlicht werden. Zwar halten sich die wissenschaftlichen Autorinnen und Autoren aus China meistens daran, Abstracts in englischer Sprache ihren chinesisch-­sprachigen Publikationen hinzuzufügen, doch sind vor allem Publikationen im Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften oft nicht über die international üblichen Datenbanken recherchierbar. Wer also nicht ausdrücklich in chinesischen Datenbanken wie CNKI recherchiert, kann sich kein Urteil über die in China übliche Forschungspraxis und den Forschungsstand im jeweiligen Fachgebiet erlauben. Dabei sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass im Jahr 2015 ca. 17 % aller weltweiten Publikationen aus China stammten. Damit stand China zu ­diesem Zeitpunkt noch weltweit an zweiter Stelle. Inzwischen hat die US amerikanische 3 Ball, Philip: China’s Great Leap Forward in Science. https://www.theguardian.com/science/2018/feb/18/china-­great-­leap-­forward-­science-­research-­innovation-­investment-5g-­ genetics-­quantum-­internet, zuletzt gesehen am 20. 1. 2019.

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National Science Foundation bekanntgegeben, dass China im Jahr 2016 zum ersten Mal mit 426.000 Artikeln mehr wissenschaftliche Publikationen als die USA (409.000) hervorgebracht hat.4. Diese Publikationen werden von ca. 3,7 Mill. in der Wissenschaft Tätigen 5 geschrieben, wobei die Autorinnen und Autoren aus China noch keine überdurchschnittlichen Impact-­Faktoren generieren. Das einzige Feld, das hier eine Ausnahme bildet, ist der Bereich der Chemie 6 Insgesamt liegen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der VR China mit der Zahl ihrer am meisten zitierten Publikationen weltweit an 5.Stelle hinter Schweden, der Schweiz, den USA und Europa.7

Abbildung 2 Quelle: OSTA 2016, S. 9.8

4 Tollefson, Jeff: China declared world’s largest producer of scientific articles. In: Nature January 18, 2018, https://www.nature.com/articles/d41586-018-00927-4, zuletzt gesehen am 21. 1. 2019. 5 OSTA 2016, S.7. 6 van Noorden, Richard: China by numbers. In: Nature June 22, 2016, https://www.nature. com/news/china-­by-­the-­numbers-1.20122, zuletzt gesehen am 21. 1. 2019. 7 Tollefson, Jeff 2018. 8 Office of Science and Technology Austria, Beijing: Wissenschaft und Technologie in China 2016, Beijing 2016, von jetzt immer zitiert als an OSTA 2016.

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Die Graphik weist auch aus, dass die beiden Großproduzenten von wissenschaftlichen Publikationen auch diejenigen sind, ­welche die höchste Häufigkeit von Selbst-­Zitationen aufweisen. Dies bedeutet, dass in beiden Ländern so viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler so erfolgreich tätig sind, dass sie meinen, in hohem Maße von den Publikationen aus anderen Ländern unabhängig zu sein, wenn es darum geht, eigene Ergebnisse zu entwickeln und zu publizieren. Wahrscheinlich bedeutet dies auch, dass das peer-­review Verfahren, dem die meisten dieser Publikationen unterliegen, häufig nicht durch Personen durchgeführt wird, w ­ elche außerhalb des jeweiligen nationalen Wissenschaftssystems stehen. Für China bedeutet dies, dass sich in den letzten Jahren weltweit ein gewisser Zweifel an der Validität der Publikationen breit gemacht hat. So erregte beispielsweise der Vorgang großes Aufsehen (und hat inzwischen auch zu Maßnahmen seitens der chinesischen Regierung geführt), dass alle 107 Artikel, die von der Zeitschrift Tumor Biology 2017 zurückgezogen werden mussten, aus der Feder chinesischer Autoren stammten. Es scheint möglich, dass diese Artikel verfälschte Review-­Prozesse durchliefen, in denen der Reviewer und der Autor identisch sind. In China ist als Reaktion auf das oben kurz angedeutete Evaluationsverfahren eine „Industrie“ entstanden, die dafür sorgt, dass Artikel geschrieben werden, die eine hohe Wahrscheinlichkeit aufweisen, das Peer-­Review-­System zu durchlaufen, ohne dass je die dort präsentierte Forschung durch eine Person durchgeführt worden wäre. Autorenschaften können gekauft werden und, so ist zu befürchten, positive peer reviews ebenfalls. Das Risiko, sich an solchen Machenschaften zu beteiligen, wird nun, nachdem das Ausmaß ­dieses schwarzen Marktes bekannt geworden ist, steigen, und es ist auch nicht auszuschließen, dass andernorts in der Welt ähnliche Mechanismen wirken.9 Die Tatsache jedoch, dass der persönliche Ehrgeiz jedes Einzelnen und der nationale Ehrgeiz Chinas einander häufig problemlos ergänzen, lässt vermuten, dass wir in Zukunft immer wieder neue Methoden zur Erreichung persönlicher und nationaler Ziele werden kennenlernen können, die ein rein quantitatives Verfahren der Qualitätsüberprüfung ausnutzen, das keine Tradition der qualitativen Auseinandersetzung mit Wissenschaft kennt.

9 Mitchell, Natasha: Inside the ‚shadowy world‘ of China’s fake science research black m ­ arket. https://www.abc.net.au/news/science/2018-09-13/the-­fake-­science-­trade-­inside-­chinas-­ research-­black-­market/10238730, zuletzt gesehen am 20. 1. 2019.

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Chinesische Universitäten im internationalen Wettbewerb Es ist naheliegend, dass ein Land, dessen politisches System weltweiter Kritik ausgesetzt ist, einerseits um internationale Anerkennung ringt und andererseits an Evaluationssystemen besonders interessiert ist, w ­ elche als „neutral“ gelten. Die quantitative Auswertung von Forschungsleistungen und das Ranking von Universitäten erfreuen sich deshalb in der VR China besonderer Beliebtheit. Universitäten setzen sich selbst das Ziel, einen bestimmten Platz im Ranking zu ergattern, und Besucher, ­welche die inzwischen gut ausgestatteten Labors, Unterrichtsräume und Bibliotheken vieler chinesischer Universitäten besichtigt haben, werden sich nicht wundern, wenn sie erfahren, dass immerhin 105 der fast 3000 Universitäten in den gängigen Rankings aufscheinen.10 Unter den so genannten Top 100 Universitäten firmieren nach QS Ranking chinesische Universitäten sechs Mal, Deutschland drei Mal und die Schweiz vier Mal. Die USA sind 31 Mal vertreten, wie überhaupt der Hauptkonkurrent USA auch in allen anderen Rankings, die auf die Qualität von Universitäten abstellen, sich besser positioniert als China.11 Die Universitäten in der VR China sind in den letzten Jahren schnell gewachsen, viele Neugründungen sind hinzugekommen. Die Zahl der Studierenden ist so groß, dass im Jahr 2017 wohl 8 Mill. Absolventen die Universitäten verlassen haben. Die Zahl hat sich in den letzten 20 Jahren verzehnfacht und ist doppelt so hoch wie in den USA.12 Seitdem die chinesische Regierung im Jahr 1999 die Politik der Vermassung des Universitätsstudiums umzusetzen begann, verliert jedoch der Abschluss an einer chinesischen Universität auf dem chinesischen Arbeitsmarkt an Wert. Dementsprechend steigt die Zahl der chinesischen Studierenden im Ausland. Offizielle Statistiken weisen aus, dass allein im Jahr 2017 die Zahl der im Ausland studierenden jungen Menschen aus China noch einmal gegenüber dem Vorjahr um ca. 11 % gestiegen ist und 608.400 beträgt. Insgesamt studieren zurzeit ca. 1,5 Mill. chinesische Studierende im Ausland, und mehr als 5 Mill. Studierende haben in den letzten 40 Jahren ihr Studium im Ausland zum Abschluss gebracht. Davon sind lt. offizieller Berechnungen 83,73 % nach China zurückgekehrt, die meisten seit dem 10 Vgl. https://www.mastersportal.com/ranking-­country/105/china.html, zuletzt gesehen am 21. 1. 2019. 11 Vgl. https://www.topuniversities.com/university-­rankings/world-­university-­rankings/2018, zuletzt gesehen am 27. 1. 2019. 12 Stapelton, Catherine: China now produces twice as many graduates a year as the US. https:// www.weforum.org/agenda/2017/04/higher-­education-­in-­china-­has-­boomed-­in-­the-­last-­ decade, zuletzt gesehen am 21. 1. 2019.

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18. Parteitag der KPCh und der Wahl Xi Jinpings zum Parteivorsitzenden im Jahr 2012.13 Wenn China also in den nächsten Jahren auch in der Wissenschaft zur Großmacht aufsteigt, so sollten alle, die sich darüber wundern, wissen, dass dieser Aufstieg – wie übrigens auch der im Bereich der Wirtschaft – ein Resultat der Globalisierung ist. Überall auf der Welt profitieren Universitäten und Forschungszentren davon, dass junge Menschen aus China sich im Ausland ausbilden lassen und – vor allem, wenn sie ihre Zukunft in der Wissenschaft sehen – ihren ersten Arbeitsplatz im Ausland suchen. Die Führung der KPC h und des chinesischen Staates ist im Gegensatz zur Sowjetunion und den Staaten Osteuropas seit Mitte der siebziger Jahre das Risiko eingegangen, immer mehr jungen Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, das Land zu verlassen. Auch wenn zwischenzeitlich viele der im Ausland Studierenden nicht unmittelbar nach Abschluss des Studiums den Weg zurück in die VR China fanden, hat die chinesische Regierung von dieser Politik nicht abgelassen und sich damit ganz anders verhalten, als man es normalerweise von einer autoritären Regierung erwarten würde. Sie erntet nun den Erfolg ihrer Risikobereitschaft und strategischen Weitsicht. Universität nach China Ranking Tsinghua University

QS Ranking 2014

QS Ranking 2018

47

25

Peking University

57

38

Fudan University

71

40

Shanghai Jiaotong University

104

62

University of Science and Technology*

147

97

Zhejiang University*

144

87

Nanjing University

162

114

Beijing Normal University

240

256

* Position im China internen Ranking wurde inzwischen ausgetauscht Chinas Universitäten in verschiedenen Rankings Quelle: Eigene Darstellung nach verschiedenen Internet-­Quellen

Die quantitative Sicht auf Forschung und Lehre geht mit einer starken Reputationsorientierung einher. Wenn chinesische Universitäten also danach streben, einen höheren Platz im internationalen Ranking einzunehmen, so tun sie dies auch, um für ausländische Kooperationspartner bzw. für heimkehrende 13 Für eine offizielle Darstellung des chinesischen Ministry of Education siehe http://en.moe. gov.cn/News/Top_News/201804/t20180404_332354.html, zuletzt gesehen am 21. 1. 2019.

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chinesische Absolventen attraktiver zu sein. Unter den ausländischen Universitäten favorisieren chinesische Studierende ebenfalls diejenigen, die im Ranking besonders weit oben stehen, auch wenn die damit verbundenen Kosten exorbitant hoch sind. Manch eine renommierte angel-­sächsische Universität lukriert gerade deshalb, weil sie im internationalen Ranking weit oben steht, erhebliche Anteile ihres Budgets durch die vielen Studierenden aus China, die im gnadenlosen Wettbewerb untereinander meinen, einen Platz an der am weitesten oben gerankten Universitäten ergattern zu müssen, um s­päter im Berufsleben erfolgreich sein zu können. Im Einzelnen kommt es nicht darauf an, ob das jeweilige Studienfach auch genauso gut dasteht wie die Gesamtuniversität im Ranking. Wichtig ist, dass der teuer bezahlte Studienplatz auch zu einem Studienabschluss führt. Hier sind angelsächsische Universitäten besonders erfolgreich, österreichische nicht. Andersherum ist es für chinesische Universitäten wichtig, dass sie von Studierenden der höchst-­gerankten Universitäten weltweit für deren Auslandsstudien ausgewählt werden. Sie gewinnen ihrer Meinung nach dadurch an internationaler Anerkennung und innerhalb der VR China an Attraktivität für besonders begabte oder erfolgreiche Studierende. Der Markt der Universitäten in China ist nicht nur groß und auf ersten Blick unübersichtlich; er ist vor allem in sich stark hierarchisiert. Jede Universität versucht, in ihrem jeweiligen Bereich weiter nach oben zu gelangen, um an Reputation und Attraktivität zu gewinnen. Deshalb ist nicht nur das internationale Ranking von großer Bedeutung, sondern auch das durch Evaluationen seitens des Wissenschaftsministeriums der VR China vorgenommene nationale Ranking. Dabei werden einzelne Wissenschaftsbereiche einer Evaluation unterzogen und das Ergebnis aller Einzelevaluationen zu einem Gesamtranking der Universitäten in China zusammengezogen. Wenn Universitäten dabei im Ranking abrutschen, kann dies aufgeregte Diskussionen auslösen, an denen sich Tausende von Diskutanten im Internet beteiligen. So geschehen, als die Universität Nanjing im Jahr 2018 in mehreren Fachgebieten ihren Exzellenzstatus verlor. In der im Internet gut dokumentierten Diskussion wurden zwei Faktoren angesprochen, die als Grund für das Abrutschen dieser traditionell sehr renommierten Universität geführt haben sollen.14 Zum einen habe die Universität im Vorfeld der Evaluierung eine ganze Reihe von höchst angesehenen Wissenschaftlern verloren. Der 14 Eine Zusammenfassung der Diskussion findet sich unter http://www.brtn.cn/news/341j8bi49 a88knpanelgo3fndv1?page=2, zuletzt gesehen am 25. 1. 2019.

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Wettbewerb ­zwischen den Universitäten führe dazu, dass insbesondere vor den regelmäßig stattfindenden Evaluationen Abwerbungen mit Hilfe von Gehalts- und Ausstattungsangeboten vorgenommen würden, die, da die Evaluation sich auch auf die Anzahl besonders erfolgreicher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bezieht, sofort einen Einfluss auf das Evaluationsergebnis haben, sollten sie erfolgreich sein. Universitäten, die finanziell schlechter ausgestattet sind, haben in einer solchen Situation keine Möglichkeit, den Angeboten besser gestellter Universitäten standzuhalten. Der zweite Grund ist der Standort und das Verhältnis auch der Universitäten, die der Zentralregierung unterstehen, zu den jeweiligen Provinzregierungen. Universitäten, die durch ihre Größe mehr Aufmerksamkeit seitens der Provinzregierungen auf sich ziehen, profitieren von besseren Rahmenbedingungen als andere. Dabei bevorzugen die Provinzen große, gut sichtbare und renommierte Standorte. Als groß gelten Universitäten, die durch Fusion zustande gekommen sind. Paradebeispiel hierfür ist die Universität Zhejiang, die aus der Fusion mehrerer Standorte entstanden ist und heute im internationalen QS Ranking die Position 6815 einnimmt. Politische Entscheidungsträger verlassen sich auf quantitative Indikatoren und Positionen in Rankings, weil es ihnen verständlicherweise an den Detailkenntnissen mangelt, die eine qualitative Bewertung von Forschungsleistungen voraussetzt. Dies ist ein weltweites Problem, das in solchen Universitätssystemen stark ausgeprägt ist, in ­welchen die Autonomie der Institutionen und damit die Bedeutung wissenschaftsnaher Entscheidungsträger gering ist. Dies gilt für das chinesische System in besonderem Maße. Die Universitätsleitungen werden vom Wissenschaftsministerium eingesetzt und sind d ­ iesem unterstellt. Hinzu kommt eine spezifische historische Erfahrung. Da die chinesische Öffentlichkeit die bittere Erfahrung hat machen müssen, dass die von vielen anerkannte Ideologie des Marxismus-­Leninismus und der Mao-­Zedong-­Ideen keinen Weg zur Wahrheitsfindung eröffnet, ist sie nun besonders misstrauisch gegenüber Ideologien und hat sich bis tief in die gebildeten Schichten hinein darauf verständigt, Zahlen zu glauben.16 Wo früher ideologische Erklärungen 15 Die Universität Nanjing verlor im QS Ranking von 2018 auf 2019 erneut Plätze. 2018 stand sie auf Platz 114, 2019 auf Platz 122. Gleichzeitig verbesserte sich die Zhejiang Universität von Platz 87 auf Platz 68. http://www.twoeggz.com/news/11449610.html, zuletzt gesehen am 25. 1. 2019. 16 Zur Herrschaft der Zahlen im post-­maoistischen China vgl. Liu, Xin: The Mirage of China: Anti-­Humanism, Narcissism, and Corporeality of the Contemporary World. New York 2009.

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und Postulate die Zeitungsseiten füllten, findet man nun Zahlen. Das Führungspersonal glänzt mit Vorträgen, in denen sich zum Ausweis der jeweiligen Exzellenz eine Zahl an die andere reiht. Zu d ­ iesem Glauben gehört allerdings auch das Wissen, dass Zahlen genauso manipuliert werden können, wie zuvor die Erkenntnis der Realität mittels der Ideologie manipuliert wurde. Das Spiel mit den Zahlen ist deshalb hoch riskant. Wer bei der Manipulation erwischt wird, kann tief fallen. Doch so lange die Zahl für die Realität gehalten wird, profitiert man davon. Ein viel diskutiertes Beispiel in d ­ iesem Zusammenhang ist der Plagiatsvorwurf an eine Professorin im Bereich der Sozialwissenschaften an der Nanjing Universität. Die vergleichsweise junge Professorin gilt als eine Spitzenforscherin des Landes und ist mehrfach im Zusammenhang der Aufnahme in Forschungsförderungsprogramme evaluiert worden. Dabei ist wohl zunächst nicht aufgefallen, dass die Zahl der von ihr veröffentlichten Artikel sowohl in chinesischer als auch in englischer Sprache ungewöhnlich, um nicht zu sagen unglaublich, hoch ist, bis die Wissenschaftlerin selbst begann, die elektronischen Versionen ihrer Publikationen aus den entsprechenden Datenbanken entfernen zu lassen. Inzwischen stellt sich heraus, dass ein großer Teil ihrer Publikationen plagiiert ist bzw. die hohe Zahl an Publikationen auch darauf zurückzuführen ist, dass ein und derselbe Artikel unter verschiedenen Titeln mehrfach publiziert wurde. Alle Qualitätssicherungsverfahren haben eine derartige Publikationsstrategie nicht verhindert. Aufgrund ihrer Förderung in mehreren Exzellenzprogrammen wurden entsprechende Hinweise an die vorgesetzten Stellen in der Universität lange Zeit nicht überprüft. Die beschuldigte Wissenschaftlerin verteidigt ihre Vorgangsweise mit dem Hinweis darauf, dass in China erst seit 2005 Regeln guten wissenschaftlichen Arbeitens bekannt gemacht wurden und sie deshalb annimmt, dass sehr viele unter den anerkanntesten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in China ähnlich wie sie gehandelt haben.17

17 Nanda jiaoshou liang mou she lunwen chaoxi, xiaofang qing zhuanjia quanmian diaocha heshi (Eine Professorin der Universität Nanjing wird mit Plagiat in Verbindung gebracht, die Universität bittet Spezialisten, den Fall umfassend zu untersuchen), http://news.­sciencenet. cn/htmlnews/2018/10/419162.shtm; Qingnian changjiang xuezhe lunwen „404“, xuewei lunwen dou chai le (Die Publikationen einer jungen Changjiang Wissenschaftlerin [produzieren im Internet die Errormessage] 404, alle Qualifikationsarbeiten sind [aus dem Netz] gelöscht), http://news.sciencenet.cn/htmlnews/2018/10/419052.shtm, zuletzt gesehen am 24. 1. 2019. Die Entscheidung der Universität in dieser Frage steht noch aus, obwohl die Wissenschaftlerin selbst bereits um ihre Entlassung angesucht hat.

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Warum in der VR China so viel in Wissenschaft und Forschung investiert wird Die Volksrepublik China hat sich das Ziel gesetzt, im Jahr 2020 2,5 % des BIP für Forschung und Entwicklung auszugeben. Über viele Jahre hat die Regierung dazu beigetragen, dass die Investitionen in diesen Bereich jährlich um ca. 20 % stiegen. Erst in jüngster Zeit haben die Investitionen staatlicherseits nachgelassen, während gleichzeitig Unternehmen stärker als zuvor in F&E investieren. Dieser Investitionsrausch kann auf verschiedene Faktoren zurück­geführt werden. An erster Stelle stehen wie immer die Bedürfnisse der Wirtschaft. Die Eliten in China sind mit dem Problem konfrontiert, dass die bisher auf Export und Niedriglöhne basierende Politik des Wirtschaftswachstums nicht mehr so große Steigerungsraten generiert wie in früheren Jahren. Die ökologischen und sozialen Kosten dieser Politik nehmen Dimensionen an, die ein Umdenken im Sinne einer Suche nach dem Wachstum für morgen schon vor einigen Jahren hat einsetzen lassen. Nicht länger möchte man als verlängerte Werkbank der Industrienationen fungieren. Deshalb muss die Wirtschaft von der arbeitskräfte-­intensiven auf die Schiene der hoch-­technisierten Produktion und vom unteren Ende der Wertschöpfungskette zu höheren Stufen geführt werden. In d ­ iesem Kontext macht es Sinn, möglichst viele gut ausgebildete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit guten Gehältern und guten Ausstattungen zurück nach China zu holen und ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, zugleich in der Wissenschaft und in der Wirtschaft zu reüssieren. Hier hat die Führung in der VR China eine Marktlücke identifiziert. Im Ausland kann eine Tätigkeit in der Forschung zu einem stabilen Einkommen und zu Anerkennung in der Wissenschaft führen. Sehr selten bringt sie jedoch Reichtum und gesamtgesellschaftliche Anerkennung mit sich. In China soll das anders sein. Die Wissenschaftlerinnen und Wissen­schaftler werden ermuntert, ihr Wissen durch Gründung von Start-­Ups zu vermarkten und auf die Weise ihren persönlichen wie den Reichtum ihres Heimatlandes zu vermehren. Sie werden dabei unterstützt und dürfen sich in einem gesellschaftlichen Klima erproben, in dem der mögliche wirtschaftliche Misserfolg nicht als Untergang gewertet wird. Die heutige chinesische Gesellschaft ist eine Hoch-­Risiko-­Gesellschaft, die nach dem Motto funktioniert: Wer wagt, gewinnt. Wer erfolgreich ist, wird wie ein Nationalheld gefeiert. Dass auch die Wissenschaft von ­diesem Fieber angesteckt wurde, ist ein wichtiger Grund für das im internationalen Vergleich erstaunliche Ausmaß an Dynamik auch in d ­ iesem Bereich. Der zweite Aspekt dieser Vorgehensweise besteht darin, dass in der chinesischen Gesellschaft eine ausgeprägte Offenheit gegenüber technischen

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Neuerungen besteht. Die Menschen imaginieren ihre Zukunft als ein Leben in einer hoch-­technisierten Umgebung und betrachten den Umgang mit Technik als Ausdruck ihrer Teilhabe am Fortschritt der Menschheit. Die Erinnerung an die im Lande herrschende Armut und die Scham über den übergroßen Abstand ­zwischen den technischen Möglichkeiten, die man in China realisieren konnte, und dem, was in den so genannten entwickelten Ländern des Westens Realität war, ist noch lebendig. Man ist bereit, alles zu geben, um in den Club der am weitesten entwickelten und damit am höchsten technisierten Nationen aufgenommen zu werden. Deshalb gibt es keine und aus europäischer Sicht vielleicht zu wenig Abwehr gegen die Einführung neuer Technologien in China. Vielleicht hofft man auch, mittels Technologie der Fehlbarkeit des Menschen einen Riegel vorzuschieben, um auf die Weise die Menschen induzierten ­Katastrophen des 20. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert vermeiden zu können. Auf jeden Fall gibt es nur eine verschwindend kleine Minderheit, die sich mit den chinesischen Eliten nicht darin einig sind, dass technischer Fortschritt gut ist. Dementsprechend bedürfen Investitionen in Forschung und Entwicklung keiner zusätz­ lichen Legitimation. Dies gilt in besonderem Maße, da der durch Wissenschaft und Technik imaginierte weitere Aufstieg des Landes einhergeht mit der Realität einer durch Bildung ermöglichten sozialen Mobilität. Bildung macht es möglich, vom Land in die Stadt, von der Peripherie ins Zentrum, von China in die Welt zu wandern und dabei Armut wie Rückständigkeit hinter sich zu lassen. Wenn der Staat also die Institutionen öffnet, die Bildung immer größeren Teilen der Bevölkerung zur Verfügung stellen, dann gibt er der Hoffnung Nahrung, dass die Investitionen des Staates sich in der Verbesserung der Lebensverhältnisse all jener niederschlagen, die Bildung als Mittel der sozialen Mobilität für sich in Anspruch nehmen. Die angestammten gebildeten Eliten müssen angesichts des Bildungshungers der breiten Bevölkerung ihren Nachwuchs ins Ausland ­schicken; zu stark ist der Druck aus bildungsfernen Schichten, in die Elite aufzurücken. Es gibt wohl kaum eine andere Gesellschaft, in welcher der Klassenkampf in Form des Kampfs um gesellschaftlichen Aufstieg mit so großer Unerbittlichkeit gefochten wird. Die Bildung ist die für diesen Kampf offiziell zugelassene Arena. Für sie darf Geld ausgegeben werden, in jeder Familie und auf allen Ebenen des Staates. Die Graphik zeigt, dass die Einsicht in die Notwendigkeit, mehr in Forschung und Entwicklung zu investieren, in China etwa mit dem Beginn des neuen Millenniums Wirkung zeigt. Als Ergebnis seiner jährlich wachsenden Ausgaben für F&E hat es im Jahr 2015 mit einer Summe von 386 Milliarden US$ die Europäische Union erstmals überholt. Da sich die Investitionen in F&E

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in den letzten Jahren in den USA nur um durchschnittlich 4 % erhöht haben, wird davon ausgegangen, dass China mit seinen durchschnittlichen 18 % auch die USA bald wird eingeholt haben.18 Die Vormachtstellung der USA, die im Jahr 2000 noch daran erkennbar war, dass 40 % aller weltweiten Investitionen in F&E amerikanischen Ursprungs waren, ist bereits nicht mehr so eindeutig. Im Jahr 2013 ist der Anteil der US-amerikanischen Investitionen auf 29,3 % gefallen.19 Zahlen zu dem Verhältnis von Grundlagen- und angewandter Forschung zeigen allen Anstrengungen zum Trotz, dass nach wie vor in China der Anteil der Investitionen in angewandte Forschung besonders hoch und der, welcher die Finanzierung der Grundlagenforschung ausweist, besonders niedrig ist.

Abbildung 3: Ausgaben für Forschung und Entwicklung im internationalen Vergleich Quelle: https://eos.org/articles/china-­catching-­up-­to-­united-­states-­in-­research-­and-­development

18 Showstack, Randy: China catching up to United States in Research and Development. https://eos.org/articles/china-­catching-­up-­to-­united-­states-­in-­research-­and-­development, zuletzt gesehen am 22. 1. 2019. 19 Croucher, Gwilym: Funding for fundamental research is under threat. https://www.universityworldnews.com/post.php?story=20180502113052154, zuletzt gesehen am 22. 1. 2019.

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Unbestritten hat die chinesische Regierung ihre Haltung in der Frage des Verhältnisses von angewandter und Grundlagenforschung in den letzten Jahren geändert, die staatlichen Investitionen in diesen Bereich in den letzten fünf Jahren verdoppelt 20, doch wird gerade in China selbst immer wieder darauf hingewiesen, dass der oben angesprochene utilitaristische Zugang zur Wissenschaft dem langen Atem, den Grundlagenforschung oft für sich beansprucht, im Wege steht. So zeigen sich die chinesischen Beobachter der Situation im eigenen Land bisweilen kritischer, wenn es darum geht, das eigene wissenschaftliche Potential einzuschätzen, als die vielen ausländischen Journalisten, die dazu tendieren, China jetzt schon an die Spitze der Weltentwicklung zu stellen.

Abbildung 4 Quelle: OSTA 2016, S. 4.

20 China’s basic science funding doubles in 5 years. http://www.xinhuanet.com/english/201802/11/c_136967522.htm, zuletzt gesehen am 22. 1. 2019.

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Wie weit ist China von der Spitze entfernt? Im Sommer 2018 machte sich der Herausgeber der chinesischen Tageszeitung „Wissenschaft und Forschung“ Liu Yadong unbeliebt. In verschiedenen öffentlichen Diskussionen und Artikeln, die seine Zeitung publizierte, erkannte er zwar an, dass sich in China seit Anfang des Millenniums einiges im Sinne des technischen Fortschritts getan hat, doch bestand er darauf, dass man eine offene Diskussion über die noch immer nicht gelösten Probleme führen müsse. Dabei ging er nicht einmal in erster Linie darauf ein, ob in China zu wenig über Grundlagenforschung und zu viel über angewandte Forschung nachgedacht wurde. Er zeigte mit seinem Finger unerbittlich auf eine ganze Reihe von technischen Problemen, die man seit langem zu bewältigen versuche, bis heute aber noch nicht gelöst habe. So verwies er in einer seiner Reden darauf, dass viele der großen Errungenschaften, derer sich China in den letzten Jahren rühmte, immer noch Teil einer Aufholjagd s­ eien und nicht als Nachweis dienen könnten, dass China sich bereits an die Spitze vorgearbeitet habe. So sei China nun in der Lage, Flugzeuge zu produzieren, die nach Größe und Leistung internationalen Standards standhielten, aber dazu, Großraumflugzeuge zu bauen, s­ eien andere Länder schon seit 20 Jahren fähig. Die Landung auf dem Mond, die China seit Jahren anstrebe, habe die USA bereits im Jahr 1969 vollzogen.21 Insgesamt werden in der Zeitung „Wissenschaft und Technik“ 35 technische „Flaschenhalsprobleme“ aufgeführt, an deren Bewältigung Forscherinnen und Forscher aus China schon lang arbeiten, ohne jedoch den erhofften Durchbruch erlangt zu haben. Viele der angeführten Probleme sind international schon gelöst, alle Probleme sind rein technischer Natur.22 Ausgangspunkt dieser kritischen Anmerkungen ist der sogenannte – und außerhalb Chinas wenig beachtete – ZTE-Zwischenfall. ZTE ist Chinas größter Telekommunikationsausrüster. Sein Hauptsitz befindet sich in Shenzhen, und seine Aktien werden an den Börsen in Hongkong und Shanghai gehandelt. ZTE ist eines der ersten Opfer der Sanktionspolitik von Donald Trump. Am 16. 3. 2018 verkündeter dieser, dass es amerikanischen Unternehmen in den 21 Die Rede Liu Yadongs findet man in chinesischer Sprache dokumentiert unter https:// baijiahao.baidu.com/s?id=1608676444664302094&wfr=spider&for=pc, zuletzt gesehen am 27. 1. 2019. 22 Liu Yadong: Zhe 35 xiang ka bozi jishu zhi shi bingshan yi diao (Diese 35 technischen Flaschenhalsprobleme sind nur die Spitze des Eisbergs), https://3g.china.com/act/mili tary/11172988/20180806/32774052.html, zuletzt gesehen am 27. 1. 2019.

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kommenden 6 Jahren verboten sei, produktionsrelevante Teile an ZTE zu verkaufen. Die Produktion kam praktisch sofort zum Erliegen. Nach hektischen Verhandlungen wurden die Sanktionen am 13. 7. 2018 jedoch wieder aufgehoben. Das Unternehmen zahlte eine Strafe von ca. 1,4 Milliarden US Dollar und wechselte auf Betreiben der USA sein Führungspersonal aus. Am 28. 8. 2018 verkündete der so neu ins Amt gelangte CEO Li Zixue, die Lage habe sich ­wieder normalisiert. Für das Jahr 2019 sagte er normale Wachstumsraten voraus.23 Aus diesen Friktionen ist klar geworden, dass die Telekommunikationsindustrie in China zu einem in der Öffentlichkeit damals nicht gekannten Ausmaß von Zulieferungen und Patenten aus den USA abhängig ist. Aller Dynamik zum Trotz ist die Hochtechnologieproduktion in der VR China nach wie vor stark vom Import zentraler Bestandteile, im Chinesischen Kern-­Technologie genannt, abhängig. Daran hatte offensichtlich auch der 2015 offiziell verkündete „Made in China 2025“ Plan nicht viel geändert. Die Ziele, die darin enthalten waren, Chinas Importabhängigkeit so schnell wie möglich zu überwinden, waren noch nicht erreicht. Diese Erkenntnis ergriff die Gesellschaft wie eine unerwartete Schockwelle. Auch wenn viele der höchst entwickelten Produkte im Bereich der Telekommunikation in China hergestellt und in aller Welt gekauft werden, bedeutet dies eben nicht, dass diese Produkte „chinesische“ Produkte sind. Die lebhafte Diskussion, die sich im Kontext des ZTE-Zwischenfalls entwickelte, wurde auch dazu genutzt, der bisweilen übermäßig erscheinenden Euphorie nach dem 19.Parteitag, auf dem Xi Jinping verkündet hatte, dass China kurz davor stehe, „wieder das Zentrum der Weltbühne zu betreten“, Einhalt zu gebieten. Zugleich ermöglichte sie auch die von Li Yadong in Gang gesetzte Auseinandersetzung, die letztlich dann auch das Verhältnis von angewandter und Grundlagenforschung, von Nachahmung und Innovation zum Inhalt hatte. Liu Yadong hob in seiner viel beachteten Rede hervor, dass die Tendenz zum Selbstlob dazu führe, dass man die eigenen Kapazitäten überschätze und der Realität nicht ins Auge sehe, wonach China viele technische Probleme, die es sich zu lösen vorgenommen habe, nach wie vor nicht gelöst habe. Als Grund dafür gab er an, dass die Grundlagenforschung zu wenig Beachtung fände, man allzu häufig Sein und Schein miteinander verwechsle und sich eher auf Reputation denn auf robuste Ergebnisse verlasse. Insgesamt herrsche nach wie vor eine Abkürzungsmentalität vor, die sich nicht davor scheue, unlautere Mittel einzusetzen. Die Ethik der guten wissenschaftlichen Praxis sei genauso 23 Barrott, Eamon: Embattled ZTE is back on track, but its core problem remains. http:// fortune.com/2018/08/30/zte-­china-­sanctions-­trade/, zuletzt gesehen am 27. 1. 2019.

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wenig selbstverständlich wie ein notwendiger Perfektionismus nicht nur in der Wissenschaft an sich, sondern auch im Ingenieurwesen und im Handwerk. „Viele Wissenschaftler und Techniker scheuen die Einsamkeit und das Sitzen auf harten Stühlen. Sie wollen auf dem kürzesten Weg zum Ziel und überholen in der Kurve“.24 In der Tat, die obige Abbildung zeigt dies deutlich: Die VR China investiert im internationalen Vergleich wenig in die Grundlagenforschung und viel in die so genannte experimentelle Forschung, die sich im Wesentlichen darauf konzentriert, Verbesserungen an bereits bestehenden Produkten und Verfahrenstechniken vorzunehmen, und in die angewandte Forschung. Ein Bereich, in dem das sehr gut beobachtet werden kann, ist die viel diskutierte Artificial Intelligence. Weltweit staunt man viel darüber, wie rapide sich die Anwendung von AI in China durchsetzt. Industrie 4.0 ist in vielen Bereichen bereits Realität, AI Anwendungen oft wesentlich fortgeschrittener als in den USA und Europa.25 Doch sind es gerade die schnellen Entwicklungen in diesen Bereichen, ­welche die Stärken und Schwächen von Forschung und Entwicklung in China deutlich zeigen. Noch kein technisches Produkt, das es vorher nirgends auf der Welt gab, ist in China erfunden worden; noch keine wissenschaftliche Fragestellung, die weltweit diskutiert wird, scheint aus der Forschung in China heraus generiert worden zu sein.26 Die seit mehr als 150 Jahren angesagte Aufholjagd, aber auch die ständige Ungewissheit darüber, wie lange die politischen Rahmenbedingungen so stabil bleiben, dass überhaupt geforscht werden kann, bedingen ein Denken in ­kurzen Zeiträumen und schnell erkennbaren Erfolgen. Genau dieser Zeitdruck, der langfristiges Planen in der Forschung und das Vorstoßen in gänzlich Unerforschtes verhindert, macht die hohe Geschwindigkeit in der Umsetzung möglich. Dabei spielt die oben angesprochene Konkurrenz um die Verwirklichung sozialer Mobilität genauso eine Rolle wie der in d­ iesem Zusammenhang vorteilhafte demographische Vorsprung Chinas. Noch verfügt das Land über sehr viele junge Menschen, die zu einem hohen Prozentsatz sich dem rigorosen Bildungssystem unterwerfen und dabei so viel lernen, dass sie für die Umsetzung der Ideen anderer, für deren Verbesserung, aber auch – was vielen außerhalb Chinas große Kopfschmerzen bereitet – für das schiere Nachahmen bereit und in der Lage sind. Die Gelegenheit ist günstig, 24 Vgl. Fußnote 20. 25 Lee, Kai-­Fu: AI Superpowers. China, Silicon Valley, and the new world order. Boston 2018. 26 Göbel, Christian: Innovationsgesellschaft China? Politische und Wirtschaftliche Herausforderungen. In: Fischer Doris et.al. (Hg.): Länderbericht China. Bonn 2014, S. 573 – 606.

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doch niemand weiß, wie lange diese Devise noch gilt. Deshalb muss jeder Plan schnell umgesetzt werden, jeder Erfolg sofort erkennbar sein, jede Investition innerhalb kürzester Zeit Profit abwerfen. In einem solchen Kontext ist auch in der Wissenschaft das Kopieren der kürzeste Weg zum Erfolg. Kopieren kann man aber nur, was andere bereits erdacht und erforscht haben. Die Idee eines anderen zu kopieren und vielleicht zu verbessern, auf jeden Fall aber zu vermarkten ist für jeden, der mittels Wissen­schaft um sozialen, wirtschaftlichen und nationalen Erfolg ringt, wesentlich näherliegend als die Suche nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält. Der Zufall als Generator der wirklich neuen Idee ist für das Land im Wiederaufstieg unbrauchbar. Brauchbar sind Ideen mit einem hohen Maß an Sichtbarkeit, Anwendbarkeit und wirtschaftlichem Potential. Wer sich über eine derartige Haltung zur Wissenschaft erhebt, übersieht, dass die Pragmatik d ­ ieses Gedankens oftmals genau das ist, was den europäischen Gesellschaften im Übergang zur wissensbasierten Ökonomie fehlt. Die so genannten entwickelten Länder insbesondere in Europa schreiten auf dem Weg zur wissensbasierten Ökonomie mit großer Wahrscheinlichkeit langsamer voran als die aufholende Ökonomie der VR China, weil der angewandten und experimentellen Forschung zu wenig Beachtung geschenkt wird, während die Wissenschaft in der VR China weniger ist, als sie darstellt (zumindest in den Augen europäischer Beobachter), weil sie die Mühen der Grundlagenforschung scheut. Eine Politik des „Sowohl-­als-­Auch“, die auf der Hand läge, ist überall schwer umzusetzen, ganz egal, auf w ­ elche Region der Welt wir schauen. Für die Wissenschaft aber gilt, nach all dem, was wir bisher darüber wissen, dass sie ohne Grundlagenforschung ihrer eigenen Zielsetzung nicht näherkommt. Grundlagenforschung erfordert viel Zuversicht, aus ­welchen Ressourcen auch immer gewonnene Sicherheit, Neugierde, Risikofreudigkeit und eine in den einzelnen Forscherpersönlichkeiten angesiedelte grundlegende Freiheit anzunehmen, dass alles, was Mensch und Natur ausmacht, grundsätzlich erkennbar ist und eine derartige Erkenntnis einen Wert an sich besitzt. Diese Verortung der Erkenntnisfähigkeit beim Individuum ist es, die es möglich macht, dass bahnbrechende Forschung selbst unter Bedingungen der Diktatur geleistet werden kann. Oder andersherum gesagt: Wenn das Individuum sich selbst diese Erkenntnisfähigkeit nicht zugesteht, werden selbst unter Bedingungen der Freiheit und der ökonomischen Prosperität keine herausragenden Forschungsleistungen erbracht.

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Die Wissenschaft als Importprodukt: ein historischer Exkurs Ein Blick auf die Entwicklung im 19.Jahrhundert zeigt, warum das Bekenntnis zur Wissenschaft nicht auf der Erkenntnisfähigkeit des Individuums und der Wertschätzung von Erkenntnis an sich beruht. Im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzung ­zwischen dem Reich der Qing und den europäischen Kolonialmächten, ­später auch Japan, hat die damals herrschende Elite schnell erkannt, dass die ihnen durch mehrere Niederlagen vor Auge geführte Schwäche des Landes ökonomischer und militärischer Natur war. In ­diesem Zusammenhang entstand die so genannte „Selbsterstarkungsbewegung“, die sich das Ziel setzte, technologischen Fortschritt so schnell wie möglich verfügbar zu machen, indem Maschinen importiert, Studierende und Offiziere ins Ausland geschickt, im Lande Industrieanlagen aufgebaut und mit entsprechenden Bildungseinrichtungen verbunden wurden, die z. B. Kenntnisse der Naturwissenschaften und der Mathematik sowie das Erlernen von Fremdsprachen in das Curriculum integrierten. Die Marine, die in d ­ iesem Zusammenhang rasch aufgebaut wurde, ereilte eine Niederlage nach der anderen. So kam es zu einer weiteren Reformbewegung im Jahr 1898, in der eine jüngere Generation von Reformern die Forderung nach Einführung der konstitutionellen Monarchie aufstellte, weil sie meinten, das politische System reformieren zu müssen, damit andere Reformschritte erfolgreich sein konnten. Diese Reform wurde zunächst von der damals die Geschicke des Landes bestimmenden Kaisermutter Cixi niedergeschlagen, ­später dann doch zaghaft umgesetzt. Die Revolution von 1911 und damit das Ende der dynastischen Ordnung haben sie nicht verhindern können. Im Zusammenhang dieser beiden Reformversuche entbrannte eine Diskussion unter den Gelehrten über die Frage, wie weit eine Übernahme von Praktiken aus Europa möglich sei, ohne die ureigenen Traditionen und, heute würden wir sagen, Identitäten in Frage zu stellen. Man einigte sich auf die Formel, dass die Übernahme des Fremden nie in der Lage sein würde, das Eigene grundlegend zu berühren. Das Fremde diene nur dem Nutzen (yong). Das Eigentliche (ti) bleibe davon unberührt, weil es jenseits dessen angesiedelt sei, was in Kategorien der Nützlichkeit erfasst werden kann. So praktisch diese Formel für die Reformer der damaligen Zeit gewesen sein mag, sie hat Implikationen, die bis heute unintendierte Nachwirkungen hervorgebracht haben. Sie impliziert nämlich, dass, was immer man aus dem Bereich des Fremden übernimmt, äußerlich bleibt, da es ja nie das Eigentliche berührt. Das Äußerliche hat zwar den Vorteil, dass es Nutzen generiert, und an d ­ iesem Nutzen kann man auch erkennen, ob man es „importieren“ sollte oder nicht. Aber es wurde in dieser

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Diskussion grundsätzlich festgelegt, dass Technik und Wissenschaft nicht Teil des „Eigentlichen“ sein können, also nicht aus dem „Eigentlichen“ heraus entwickelt werden können. Diese Denkweise, die zunächst einmal ermöglichte, dass innerhalb kurzer Zeit sehr viel aus dem Ausland gelernt und übernommen werden konnte, hat dazu geführt, dass es letztlich außer dem Kriterium des Erfolgs keine Indikatoren für die Qualität von Wissenschaft geben kann, da es im „Eigentlichen“ keine derartigen Kriterien gibt. Das impliziert, dass Wissenschaft, die sich nicht dem Kriterium des Nutzens stellt, nicht in ihrem Wert erkennbar ist. Zugleich impliziert dies auch, dass der Nutzen alle Mittel heiligt, denn Verstöße gegen die Prinzipien des guten wissenschaftlichen Arbeitens oder gegen die Ethik sind außerhalb des „Eigentlichen“ angesiedelt und berühren ­dieses letztlich nicht, weil sie in den Bereich des „Fremden“ gehören. Wissenschaft, der es um die Erkenntnis geht, ist keine nützliche Wissenschaft. Die Erkenntnis, die allein in individueller Neugierde fußt und sich dem Kriterium der Nützlichkeit verwehrt, hat keinen Wert an sich. Wenn wir also feststellen, dass keine grundlegend neuartigen Erkenntnisse bisher aus der wissenschaftlichen Forschung in der VR China generiert wurden, dann bekümmert das niemanden, der im Raster von „Fremdem“ und „Eigentlichem“ in dem oben beschriebenen Sinne denkt. Im Gegenteil: Es bestärkt sogar die im 19. Jahrhundert formulierten Grundannahmen und trägt zu ihrer Perpetuierung bei.

Wissenschaft als Nischenprodukt und Instrument der Soft-Power-Diplomacy 27 Göbel verweist in seiner Studie auf das Phänomen der „Leuchttürme“ in der chinesischen Wissenschaftslandschaft. Er meint damit den Umstand, dass es einige wenige herausragende Institutionen der Wissenschaft gibt, diese aber weit aus dem Durchschnitt der allgemeinen Forschungsleistungen heraus­ragen.28 Abgesehen davon, dass die Schwierigkeit, Forschung zu steuern, auch in anderen Ländern dazu führt, dass gleichzeitig Forschung auf sehr unterschiedlichem Niveau durchgeführt wird, ist die „Leuchtturmqualität“ der in der VR China zu beobachtenden Spitzenforschung nicht nur Zufall oder Ausdruck eines gewissen strategischen Unvermögens, sondern eher Teil einer Forschungspolitik, die 27 Zum Begriff der Soft-­Power-­Diplomacy siehe die einschlägige Publikation von Joseph S, Nye: Soft power: the means to success in world politics, New York 2004. 28 Vgl. Fußnote 24, S. 575.

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Leuchttürme braucht, um sie im Sinne einer Soft-­Power-­Diplomacy einzusetzen. Forschung dient dazu, die Attraktivität des Standorts VR China, die Leistungsfähigkeit nicht nur der Forschung, sondern auch des Landes an sich sowie seinen Willen, nach Exzellenz zu streben, in der internationalen Politik unter Beweis zu stellen. Der Wiederaufstieg Chinas zur Weltmacht ist ein Projekt, das nur reüssieren kann, wenn die Welt China als Weltmacht anerkennt. In d­ iesem Zusammenhang ist der Nachweis herausragender Forschung von „Leuchtturmqualität“ ein wichtiger Hebel, um derartige Anerkennung zu gewinnen und zugleich sich selbst davon zu überzeugen, dass das Land nach langen Jahren des kollektiven Bemühens über diese Führungsqualität auch verfügt. Damit derartige Projekte auch die angestrebte Wirkung zeigen, sind sie in Bereichen angesiedelt, die besonders viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen und zugleich außerhalb Chinas auf finanzielle oder juristische Probleme stoßen, die deren weitere Entwicklung beeinträchtigen. Genau diese Bereiche sind dazu geeignet, „Leuchttürme“ aufzustellen. Hier sollen Beispiele aus dem Bereich der Neurowissenschaften, das Beispiel der CRISPR-Babys sowie die Forschungszusammenarbeit im Bereich der Quantenphysik der Entwicklung in den Geistes- und Sozialwissenschaften gegenübergestellt werden, um die angedeutete Vorgangsweise von verschiedenen Seiten beleuchten zu können. Tierversuche sind in den meisten Ländern mit international sichtbarer Forschung umstritten. Dies führt dazu, dass manche Bereiche der Wissenschaft, so z. B. die Hirnforschung, schwierige Prozeduren durchlaufen müssen, bevor sie das Mittel des Tierversuchs in der Forschung einsetzen können. Diese Prozeduren sind langwierig, und selbst wenn sie im Sinne der Antragstellenden entschieden werden, müssen diese damit rechnen, dass die Öffentlichkeit derartige Entscheide nicht akzeptiert und gegen die Durchführung von Tierversuchen Einspruch erhebt oder außergerichtlich protestiert. In einer schnelllebigen Wissenschaft, so wie sie heute betrieben wird, werden derartige Vorgänge als zeitaufwendig und von den betroffenen Forschenden als hinderlich bezogen auf die Entwicklung ihrer Forschung sowie ihrer persönlichen Karriere erlebt. Die VR China nun bietet sich als eine Möglichkeit an, derartige Forschungen auf internationalem Niveau und mit allen entsprechenden Ethik-­Bescheinigungen durchzuführen, ohne dass die involvierten Forschenden Zeit damit verlieren und mit Protesten seitens der Bevölkerung zu rechnen haben. Einige Forscher, darunter Forschende aus der Schweiz und aus den USA, ziehen es deshalb vor, mit chinesischen Institutionen zusammenzuarbeiten und ihre Tierversuche in China durchzuführen. Das Brain Cognition and Brain Disease Institute in Shenzhen ist das Ergebnis einer Kooperation mit

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dem renommierten amerikanischen McGovern Institute of Brain Research in Boston, ­welche darauf ausgerichtet ist, die Forschung mit gentechnisch veränderten Affen voranzutreiben. Dass dies nicht Zufall ist, sondern Teil einer Forschungsstrategie, zeigen die vom Nationalen Volkskongress verabschiedeten Pläne zur Entwicklung der Hirnforschung in China, die ausdrücklich auf Tierversuche setzen.29 Im Sinne einer Vorbereitung darauf wurden in China schon vor Jahren Affenfarmen aufgebaut, die weltweit Forschungsinstitute mit Makaken beliefern. Im Januar 2018 wurde mitgeteilt, dass es chinesischen Wissen­ schaftlern gelungen sei, zwei Makaken zu klonen.30 Auch in ­diesem Kontext wurde darauf verwiesen, dass geklonte Affen für Tierversuche besonders gute Voraussetzungen mitbrächten. Es zeigt sich also, dass hier nicht nur einzelne „Leuchttürme“ aufgestellt werden, sondern die hier zu leistende Forschung mit strategischem Blick ausgewählt und von einer Infrastruktur umgeben ist, die ihre Attraktivität bedingt und erhöht, was wiederum geeignet ist, Publikationen hervorzubringen, die China im Ranking an immer besserer Stelle firmieren lässt. Bei dem Einsatz der CRSPR Technologie zeigt sich ein ähnliches Muster. Zunächst gab es in China seitens der offiziellen Stellen eine positive Reaktion auf die Genmanipulation bei zwei Embryonen, die laut Auskunft des Wissenschaftlers He Jiankui 31 zur problemlosen Geburt der Zwillingsmädchen Lulu und Nana geführt hatte. Wieder war ein chinesischer Wissenschaftler mit einer aus der Forschung entwickelten Technik vorgeprescht, bevor dies in einem anderen Land der Welt versucht worden war. Und wieder war er sich sicher, diesen Schritt schneller als anderswo vollziehen zu können, weil er dafür die Erlaubnis der Behörden erhalten hatte, die er andernorts nicht so schnell, wenn überhaupt, hätte erhalten können. Es sah so aus, als würde hier ein neuer „Leuchtturm“ aufgestellt, so zumindest in der Einschätzung des Wissenschaftlers und der chinesischen Stellen. Doch bald wurde klar, dass der Einsatz der CRSPR Technologie durch He Jiankui weltweit auf große Empörung stieß. Die chinesische Regierung distanzierte sich vom Vorgehen Hes und qualifizierte

29 Zöfel, Katrin und Lena Stallmach: Made in China – Affen für die Forschung. NZZ online, 25. 7. 2017, https://www.nzz.ch/wissenschaft/tierversuche-­made-­in-­china-­affen-­fuer-­die-­ forschung-­ld.1296484, zuletzt gesehen am 27. 1. 2019. 30 Jimenez, Fanny: Forscher haben erstmals einen Affen geklont. https://www.welt.de/wissen​ schaft/article172779983/Weltsensation-­Forscher-­haben-­erstmals-­einen-­Affen-­geklont.html, zuletzt gesehen am 27. 1. 2019. 31 Vgl. hierzu Fußnote 1.

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es als Ergebnis seiner ganz persönlichen Entscheidung als Forscher.32 Das für die Überwachung und Genehmigung zuständige Institut teilte mit, es habe bereits im November 2018 dessen Weiterführung unterbunden, da die angeforderten Dokumente und Daten zum Experimentverlauf nicht vorgelegt worden waren.33 He Jiankui verwahrte sich gegen diese Vorgangsweise unter Hinweis darauf, dass er vor Durchführung des Experiments mit ausländischen Wissenschaftlern in engem Kontakt gestanden habe. Sie hätten ihn nicht davon abgehalten, das Experiment durchzuführen.34 In seiner Rechtfertigung gegenüber der zuständigen Kontrollinstanz in China verweist He auf den Beschluss der US National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine, die in ihrem „big gene-­editing report“ festgestellt hatten, dass sie die Gen-­Manipulation für legitim erachten, wenn diese mit dem Ziel durchgeführt würde, schwerwiegende Krankheiten zu heilen oder zu vermeiden. Zwar hatte derselbe Bericht zum Ausdruck gebracht, dass es für derartige Maßnahmen noch zu früh sei. Er hat sie aber nicht grundsätzlich abgelehnt.35 Auf genau diesen Bericht hatte He Jiankui sich gestützt, um die Bedenken der Kontrollbehörde in der VR China zu entkräften. Umso mehr wunderte er sich wohl über den großen Aufruhr, den seine über Youtube lancierte Veröffentlichung des Experiments hervorrief. Dass er nicht den Weg einer in der Wissenschaft üblichen Publikation 32 Zwischenzeitlich galt der Wissenschaftler vermisst. Es wurde berichtet, er stehe unter Hausarrest. Vgl. Baby- Designer He Jiankui vermisst. Wo ist der „chinesische Frankenstein“? In: Stern v. 5. 12. 2018, https://www.stern.de/panorama/wissen/china--gen-­forscher-­he-­jiankui-­ vermisst---wo-­ist-­der-­chinesische-­frankenstein-8478258.html, zuletzt gesehen am 28. 1. 2019. Chinesische Quellen geben zwar zu, dass er möglicherweise aus Sicherheitsgründen derzeit in seiner Freiheit etwas „eingeschränkt“ sei, er habe aber seinen Kollegen an der Stanford University davon überzeugt, daß es ihm gut gehe. Vgl. Xiao Si: He Jiankui anran w ­ uyang, na you sixing (He Jiankui ist wohlauf. Wer spricht hier von Todesstrafe?), in: Tianxia ­luntan vom 10. 1. 2019, http://bbs.creaders.net/politics/bbsviewer.php?trd_id=1379412, zuletzt ­gesehen am 28. 1. 2019. 33 Vgl. hierzu die entsprechende chinesisch-­sprachige Meldung unter https://baijiahao.baidu. com/s?id=1620082363157284046&wfr=spider&for=pc, zuletzt gesehen am 14. 1. 2019. 34 Zhao Tianyu et al.: Zuiwen „sheji ying’er” – Jiujing shi shenme cuisheng le He Jiankui de keyan maoxian? (Hinterfragung der „genmanipulierten Babys“: Was hat eigentlich He Jiankui dazu angestachelt, d ­ ieses Forschungsrisiko einzugehen?), in: Caijing v. 3. 12. 2018, https:// baijiahao.baidu.com/s?id=1618884178990463066&wfr=spider&for=pc, zuletzt ­gesehen am 28. 1. 2019. 35 Regalado, Antonio: Rogue Chinese CRISPR scientist cited US report as his green light, in: MIT Technology Review v. 27. 11. 2018, https://www.technologyreview.com/s/612472/rogue-­ chinese-­crispr-­scientist-­cited-­us-­report-­as-­his-­green-­light/, zuletzt gesehen am 28. 1. 2019.

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gewählt hat, in der er die Details seines Experiments hätte darlegen müssen, ist ein erneutes ­­Zeichen dafür, dass es ihm mehr um die angenommene internationale Wirkung als darum ging, im Rahmen der Wissenschaft Anerkennung für sein Experiment zu finden. Mit einiger Wahrscheinlichkeit meinte er sich zumindest auf dem richtigen Weg, da diese Vorgangsweise unverblümt genau das zum Ausdruck bringt, was er meint, als Strategie der chinesischen Regierung verstanden zu haben. Die zunächst positive Reaktion zeigt auch, dass er mit dieser Einschätzung nicht falsch lag. Dass die Regierung sich dann doch von ihm distanzieren würde, konnte er kaum antizipieren. Doch ist auch diese Vorgangsweise leicht nachvollziehbar: Wenn ein wissenschaftliches Experiment mit „Leuchtturm-­Qualität“ das Gegenteil von dem hervorruft, was man sich erhofft hatte, ist es besser, sich davon zu distanzieren, weil sonst der Soft-­ Power-­Diplomacy-­Effekt nicht nur verpufft, sondern geradezu in sein Gegenteil umschlägt. Das gilt übrigens auch für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in China. Einerseits erlauben die gesetzlichen Regelungen in China oftmals ein schnelleres Erreichen des angestrebten Ziels, was den Interessen von ehrgeizigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entsprechen könnte; andererseits schädigt aber eine überschnelle und international nicht akzeptierte Vorgangsweise den Ruf aller Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Deren internationale Vernetzung bedingt, dass diese befürchten müssen, international in die Isolation getrieben zu werden, wenn die Forschenden und die sie regulierenden Behörden in China über das Ziel hinausschießen. Wenn dann auch noch Forschende von außerhalb der VR China sich entscheiden, im Sinne eines möglichst schnellen Fortschritts der Wissenschaft ihre Forschung in die VR China zu verlagern, dann werden sie, ob sie wollen oder nicht, in ­dieses System verstrickt. Die aufgeregte Reaktion auf He Jiankuis Experiment ist, ­dieses Eindrucks kann man sich kaum erwehren, Ausdruck eines späten Erwachens in dieser Frage und des Entsetzens darüber, dass Außenseiter wie He Jiankui den Wettbewerb im Feld ohne weiteres auf den Kopf stellen können. Als leuchtendes Gegenbeispiel sollte der Quantenphysiker Pan Jianwei genannt werden. Er wird allenthalben „Vater der Quantenphysik in China“ genannt, wurde 2018 auf der Times-­Liste der 100 wichtigsten Persönlichkeiten geführt und 2017 von der Zeitschrift „Nature“ als einer von 10 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern genannt, die einen bahnbrechenden Beitrag zur Weiterentwicklung der Wissenschaft geleistet haben.36 Pan hat bereits in 36 Vgl. Hierzu https://www.oeaw.ac.at/detail/news/pan-­jianwei-­unter-­top-­ten-­forschern/, zuletzt gesehen am 28. 1. 2019; und Anton Zeilingers Statement zu Pan Jianwei in http://

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den 1990er Jahren, als er als Doktorand an der Universität Wien tätig war, mit seinem Doktorvater Anton Zeilinger herausragende Publikationen veröffentlicht und hat es nach seiner Rückkehr nach China im Jahr 2001 geschafft, die chinesische Regierung davon zu überzeugen, in die Quantenkommunikation erheblich zu investieren. Dank seines Engagements und seiner Überredungskunst hat er es vermocht, China in der Quantenphysik prominent zu positionieren. China ist das erste Land, das einen Quantensatelliten zum Einsatz brachte, der 2017 Österreich und China über eine Distanz von fast 5000 km mit den Mitteln der Quantenkommunikation miteinander verband. China, so die Einschätzung der Zeitschrift „Inside Science“, sei dem Rest der Welt in Sachen Quantenkommunikation ca. 5 Jahre voraus. Die USA und Europa sehen sich inzwischen genötigt, ihre Investitionen zu verstärken, um mit dem rasanten Fortschritt in China standhalten zu können.37 Doch so sehr internationale Journalisten und Wissenschaftler Pan Jianwei positiv hervorheben, vor Kritik in China ist auch er nicht gefeit. Kollegen aus der Physik werfen ihm vor, Versprechungen zu machen, die nicht gehalten werden können, den chinesischen Behörden nicht zu widersprechen, wenn sie ihn in den Himmel loben, und selber nicht immer in der Wahl seiner Ausdrucksweise auf größte Genauigkeit zu achten. Diese Diskussion, die im Internet ausführlich dokumentiert ist 38, wird natürlich auf Chinesisch geführt und von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die des Chinesischen nicht mächtig sind, nicht zur Kenntnis genommen. Doch selbst wenn sie die vielen Beiträge lesen könnten, würden sie sich wohl kaum davon abhalten lassen, mit Pan Jianwei zu kooperieren, sind sie doch – und das haben Pan und die chinesische Regierung früh erkannt – mit der Problematik konfrontiert, dass in ­dieses Gebiet außerhalb Chinas über lange Zeit hinweg nur mit großer Zurückhaltung investiert wurde, obwohl es, sollten sich die Vorhersagen der Forschenden als richtig erweisen, von erheblicher strategischer Bedeutung ist. Pan ist ein wichtiges Bindeglied ­zwischen Wissenschaft und Regierung, und seine Bemühungen haben inzwischen nicht nur in China Früchte gezeitigt, time.com/collection/most-­influential-­people-2018/5238153/jian-­wei-­pan/, zuletzt gesehen am 28. 1. 2019. 37 Yuen Yiu: Is China the leader in quantum communications? In: Inside Science v. 19. Januar 2018, https://www.insidescience.org/news/china-­leader-­quantum-­communications, zuletzt gesehen am 28. 1. 2019. 38 Vgl. hierzu ein Internetarchiv, in dem viele Artikel, ­welche sich mit Pan Jianwei und der Quantenkommunikation auseinandersetzen, zu finden sind: http://www.xys.org/dajia/ panjianwei.html, zuletzt gesehen am 28. 1. 2019.

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sondern ganz offenbar auch die EU dazu veranlasst, weit mehr als in der Vergangenheit in die Quantenphysik zu investieren.39 Hier geht es nicht mehr nur um Soft-­Power-­Diplomacy, hier geht es um harte Machtkonstellationen im System der internationalen Politik mit militärischen Auswirkungen. Wenn die VR China in Bereiche wie die Quantenkommunikation investiert, können Mitbewerber um die Großmachtstellung nicht weiter abwarten, sie müssen auch investieren. Die Kooperation von europäischen Wissenschaftlern mit Kolleginnen und Kollegen aus China stärkt also in ­diesem Fall nicht nur die chinesische Wissenschaft, sondern auch die europäische. Zugleich kann man an dieser Kooperation erkennen, wie die Zusammenarbeit die Stärken beider Seiten zusammenführen kann und die weiter oben angesprochenen „Sowohl-­ als-­auch-­Lösungen“ Realität werden lassen. Dass die Physik dabei erneut ihre Unschuld verliert, wissen die Beteiligten nur allzu gut.

Die Geisteswissenschaft und das Partikulare der chinesischen Kultur Die Geistes- und Sozialwissenschaften spielten bisher im Kontext der Soft-­ Power-­Diplomacy eine wesentlich geringere Rolle als die oben angesprochenen Fachrichtungen. Zwar wird über die sogenannten Konfuzius-­Institute seit einigen Jahren die chinesische Kultur im Ausland „propagiert“ und versucht, über die chinesische Sprache und Schrift, Malerei und Kalligraphie, Kochkunst und Teezubereitung ein positives Bild von der traditionellen chinesischen Kultur zu verbreiten und damit die Akzeptanz Chinas weltweit zu befördern, doch treten Vertreterinnen und Vertreter der Geistes- und Sozialwissenschaften in ­diesem Zusammenhang nur sehr selten auf. Dabei ist jedoch nicht zu übersehen, dass auch chinesische Forscherinnen und Forscher aus dem Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften international gut vernetzt sind, häufig englisch-­sprachige Publikationen zur Kenntnis nehmen und bisweilen auch in englischer Sprache publizieren. Waren es im Jahr 1978 noch 68 Publikationen, die in ­diesem Bereich außerhalb Chinas zur Publikation kamen, ist die Zahl bis in das Jahr 2013 auf 8014 gestiegen. Der Anteil 39 Meyer, Christian J.: Europa blast beim Bau eines Quantencomputers zur Aufholjagd – doch etwas Entscheidendes fehlt noch, in: NZZ v. 26. 1. 2019, https://www.nzz.ch/wissenschaft/ quantencomputer-­europa-­moechte-­anschluss-­an-­die-­usa-­wahren-­ld.1453642, zuletzt gesehen am 28. 1. 2019.

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chinesischer Autorinnen und Autoren unter den weltweiten Publikationen lag im Jahr 2013 bei 4,3 %.40 Diese Zahl überrascht auf ersten Blick, da nur wenige chinesisch-­sprachige Zeitschriften aus dem Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften SCCI indiziert sind. Der Grund für die internationale Präsenz liegt deshalb wohl eher dort, wo aus China stammende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in nicht-­chinesischen Zeitschriften allein oder in Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen von außerhalb Chinas publizieren. Besonders aussagekräftig ist in ­diesem Zusammenhang, dass die Zahl der Publikationen von Autoren aus der VR China über China bezogene ­Themen rasant zunimmt. Inzwischen stammen ca. 55 % aller China-­bezogenen Artikel aus der Feder eines Autors oder einer Autorin aus der VR China.41 Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, die grundsätzlich von der universellen Gültigkeit ihrer Befunde ausgehen, ist in den Geistes- und Sozialwissenschaften die These von der Partikularität Chinas weit verbreitet. Diese These beinhaltet, dass sich Entwicklungen im sozialen und kulturellen Bereich in China von denen in den entwickelten kapitalistischen Ländern unterscheiden. Obwohl diese These aus dem 19. Jahrhundert stammt und seit der Öffnung Chinas in den späten siebziger Jahren an Relevanz zu verlieren schien, erfährt sie gerade in jüngster Zeit wieder eine gewisse Renaissance. Die besondere Form der hybriden Wirtschaft, die in der VR China zu beobachten ist, die gesellschaftliche Organisation, die weder dem entspricht, was man landläufig dem Sozialismus zuschlagen würde, noch einfach einer so genannten kapitalistischen Gesellschaftsform zugeordnet werden kann, die Gleichzeitigkeit einer stark zentralisierten politischen Ordnung mit vergleichsweise hoher Autonomie politischen Handelns in den Regionen, das alles wird herangezogen, um die These von der chinesischen Partikularität zu untermauern. Dabei ist insbesondere die Geschichtswissenschaft dazu geeignet, die Partikularitätsthese aus der Vergangenheit abzuleiten und sie mit dem Wiederaufstiegsszenario zu verbinden, das seit einigen Jahren die Diskurse beherrscht. Die Partikularität macht China unangreifbar, denn wer sich für partikular erklärt, verwehrt sich gegen Standards, die andere gesetzt haben, und gegen Vergleiche mit jenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ordnungen, die angeblich nicht dieser Partikularität entsprechen. Auf ersten Blick scheint dies dem oben dargestellten Spiel mit den Zahlen zu widersprechen, bei dem 40 Liu, Weishu et al.: China’s global growth in social science research (1978 – 2013), in: Journal of Informetrics, Vol. 9:3 (2015), S. 555 – 569. 41 Ebd.

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es ja immer darum geht, sich mit anderen zu vergleichen und letztlich sich darin zu bestätigen, dass man im internationalen Vergleich auf dem Weg an die Spitze ist. Aber diese Gegensätzlichkeit in der Argumentationsweise birgt keine innere gegenseitige Ausschließlichkeit. Sie ist vielmehr komplementär zu sehen. So wie oben dargestellt das Nützliche und das Eigentliche sich nicht gegenseitig ausschließen, so ist die Partikularität nicht gegen den internationalen Wettbewerb gerichtet. Sie ist vielmehr ein Schutzmechanismus, der immer dann zur Anwendung kommt, wenn der internationale Vergleich zum Nachteil Chinas gerät. Auf diese Weise kann China seinen eigenen Weg an die Weltspitze gehen, ohne sich Kriterien stellen zu müssen, die außerhalb Chinas entstanden und zur Anwendung gekommen sind. In Zeiten der Globalisierung hat dies den Vorteil, dass Integration in den Weltmarkt nicht mit Homogenisierung gleichgesetzt wird. Der Nachteil, und das zeigt sich gerade auch in dem hochgradig globalisierten Bereich von Wissenschaft und Forschung, besteht darin, dass die internationalen Spielregeln national nur selektiv zur Anwendung kommen. Welche Regeln gelten und ­welche nicht, wann sie gelten und wann nicht, ist für Betroffene wie Beobachter schwer zu eruieren. Was zunächst wie eine geschickte Taktik aussieht, die ohne jede Regelhaftigkeit mal so oder mal anders zur Anwendung kommt, ist eine Vorgangsweise, die im Sinne der oben angesprochenen Verbindung von Nützlichkeit (yong) und Eigentlichkeit (ti) als systematisch verstanden werden kann. Jede Vorgangsweise, die sich als nützlich erweist, ist so lange legitim, wie sie das Eigentliche nicht berührt. Die Naturwissenschaften sind dem Bereich des potentiell Nützlichen zuzuordnen und werden im Vergleich zum Eigentlichen als äußerlich begriffen. Hier kann man problemlos international agieren, da sie in ihrer Nützlichkeit überprüfbar sind und in ihrer Äußerlichkeit keine Bedrohung für das Eigentliche beinhalten. Die Geisteswissenschaften hingegen sind bezogen auf ihre Nützlichkeit nur bedingt überprüfbar. Ihr Gegenstand betrifft im Kern das Eigentliche und kann deshalb nicht als äußerlich begriffen werden. Sie ist in ­diesem Sinne das Gegenstück zu den Naturwissenschaften. Sie verhandelt, egal in welchem Fachgebiet die Forschung stattfindet, immer direkt oder indirekt das, was im Sinne der Partikularität international nicht zur Verhandlung stehen darf. Sie konstruiert die Partikularität, perpetuiert sie und unterliegt den Kautelen der eigenen Konstruktion. Je mehr die Geistes- und Sozialwissen­ schaften zur Plausibilisierung der Partikularitätsthese beitragen und sich ihr zugleich unterwerfen, umso mehr können die Bereiche der Nützlichkeit internationalisiert werden.

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So plausibel die Partikularitätsthese gerade unter dem Gesichtspunkt ihrer Nützlichkeit für die Legitimation politischen Handelns erscheinen mag, sie ist in China immer umstritten gewesen und bis heute nicht vorbehaltslos anerkannt. Dies ist besonders im Bereich der Geschichtswissenschaft erkennbar, die geradezu zentral für die Entwicklung der Partikularitätsthese von Bedeutung ist. In Zeiten, da der Marxismus in seiner sinisierten Form den einzig möglichen Rahmen für die Geschichtswissenschaft abgab, tobte ein Methodenstreit unter den Historikern, der in der Kulturrevolution seinen Höhepunkt erlangte. Die Vertreter der Partikularitätsthese sind dabei fast ausnahmslos Opfer der Kulturrevolution geworden, die Vertreter einer dogmatisch marxistischen Interpretation der chinesischen Geschichte, denen es darum ging, die Anwendbarkeit des stalinistischen Fünf-­Phasen-­Modells auf China nachzuweisen, haben mehrheitlich überlebt.42 Seit 1978, dem Jahr, in dem die KPCh ihren Beschluss über Reform und Öffnung verabschiedete, hat sich die Geschichtswissenschaft Schritt für Schritt aus ­diesem Korsett gelöst und versucht, die Rekonstruktion der Vergangenheit direkt aus den Quellen heraus zu generieren. Doch nun schlägt die Partikularitätsthese wieder mit aller Macht zu. Dabei gibt Xi ­Jinping vor, wie die Partikularität der chinesischen Geschichte mit dem von ihm mehrfach vorgetragenen Weltmachtanspruch harmonisiert werden kann. So sagte er in Verbindung mit der Gründung des Zentralinstituts für chinesische Geschichte: “Wenn wir in der neuen Epoche den partikularen chinesischen Sozialismus bewahren und entwickeln wollen, dann müssen wir die chinesische Geschichte und Kultur noch systematischer erforschen und zugleich die historischen Entwicklungsgesetze der Menschheit tiefer begreifen, um aus der tiefgehenden Reflexion über die Geschichte Weisheit zu gewinnen und in die Zukunft zu marschieren.“ 43 Der neu ernannte Präsident des Instituts ­interpretiert 42 Vgl. hierzu: Weigelin-­Schwiedrzik, Susanne: Post-49 Chinese Historical Writing since 1949, in: Axel Schneider und Daniel Woolf (Hg.): The Oxford History of Historical Writing, Vol.1 – 5, Vol. 5, Historical Writing since 1945, Oxford 2011, S. 615 – 636; dies.: On the Compatibility of Chinese and European History: A Marxist Approach in: Duara, Prasenjit und Viren Murthy (Hg.): A companion to global historical thought, Chichester 2014, S. 243 – 256; dies.: Back to the Past: Historical Revisionism in Chinese Communist Historiography, in: Leutner, Mechthild (Hg.): Rethinking China in the 1950s. Chinese History and Society, Berliner China-­Hefte, Vol. 31 (2006), S. 3 – 22. 43 Zitiert nach: Gao Xiang: Zhongguo lishi yanjiuyuan yuanzhang: suipianhua biaomianhua pianmianhua bu ying shi lishi yanjiu zhuliu (Der Präsident des [zentralen] Geschichtsforschungsinstituts: Die Fragmentierung der Forschung zur chinesischen Geschichte, die Simplifizierung und Vereinseitigung dürfen nicht zur Hauptrichtung der

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den Parteivorsitzenden dahingehend, dass es Aufgabe der Geschichtswissenschaft in China sei, einen speziellen chinesischen Geschichtsdiskurs zu etablieren, von dem ausgehend die Geschichte der Menschheit zu erforschen sei. Nur aus dieser Position heraus könne man sinnvoll international kooperieren.44 In fast jedem Satz seines Aufsatzes taucht die Formulierung von der Partikularität auf. Doch das allein genügt ihm nicht. Es kommt ihm offensichtlich darauf an, die Partikularitätsthese auch international durchzusetzen. Damit geht die Geschichtswissenschaft in der von Xi Jinping ausgerufenen „neuen Epoche“ (xin shidai) weiter als bisher. Die Partikularitätsthese dient nicht mehr nur dem Schutz vor dem internationalen Vergleich. Sie soll Basis der Master-­Narrative sein, mit der China sich der Welt vorstellt und die Welt auffordert, seine Geschichte als Ausdruck dieser Partikularität zu akzeptieren. Die Geschichtsschreibung wirkt nicht nur nach innen als identitätsstiftend, sondern auch nach außen. So wie alle Länder, die mit China diplomatische Beziehungen pflegen, die Ein-­China-­Politik anerkennen müssen, sollen wir lernen, die Partikularitätsthese zu akzeptieren.

Fazit Die vielen journalistischen Artikel, die in letzter Zeit zur Frage des rasanten Aufstiegs der VR China im internationalen Wettbewerb um Wissenschaft und Forschung geschrieben wurden, gehen von derselben Grundannahme aus, dass Wissenschaft sich in Zahlen messen lasse. Wer diese Grundannahme teilt, wird der chinesischen Regierung, die der Entwicklung von Wissenschaft und Forschung sehr viel Beachtung schenkt, und den chinesischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die die daraus entstandenen Möglichkeiten ­nutzen, attestieren müssen, dass sie sich bereits an die Spitze der Entwicklung vorgearbeitet haben. Die so ausgelöste Dynamik lässt sich nicht nur mit demographischen und ökonomischen Überlegungen erklären. Sie wurde bewusst hergestellt, um Wissenschaft und insbesondere Naturwissenschaft als Mittel der Soft-­Power-­Diplomacy einzusetzen, um Chinas Streben nach weltweiter Anerkennung als Großmacht zu befördern. Dabei wurden in den letzten Geschichtsforschung werden), in: Renmin Ribao v. 15. 1. 2019, https://www.thepaper.cn/ newsDetail_­forward_2854239, zuletzt gesehen am 30. 1. 2019. 44 Vgl. hierzu auch: Dabringhaus, Sabine: China feiert seinen Sonderweg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 23. 1. 2019.

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Jahren mit strategischem Blick Bereiche zur gezielten Förderung ausgewählt, die geeignet erschienen, besonders viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Betrachtet man die rezente Entwicklung im historischen Kontext, so fällt auf, dass die chinesischen Eliten für diese Vorgangsweise bereits im 19. Jahrhundert eine Begründung gefunden haben, die es ihnen ermöglicht, im Bereich der Naturwissenschaften mit großer Risikobereitschaft ideologische Grenzen zu überschreiten und ethische Bedenken hintanzustellen. Naturwissenschaftliche Forschung wird eng mit Technologie verbunden und dem Kriterium der Nützlichkeit unterstellt, was wiederum erklärt, warum der Grundlagenforschung weit weniger Beachtung geschenkt wird als in den USA und Europa üblich. Diese Konzentration auf die Nützlichkeit ist notwendig, um Wissenschaft als Importprodukt akzeptabel zu machen und gleichzeitig das Eigentliche, die Besonderheit der chinesischen Kultur und Tradition, zu bewahren. Wenn also jenseits der quantitativen Entwicklung von Forschung in der VR China festgestellt werden kann, dass qualitativ betrachtet bisher keine originären Beiträge zur wissenschaftlichen Entwicklung aus ­diesem System hervorgegangen sind, dann liegt das auch daran, dass Wissenschaft letztlich in ihrer Nützlichkeit rein äußerlich geblieben ist. Ganz anders die Geisteswissenschaften. Diese beschäftigen sich mit dem Eigentlichen, dem partikular Chinesischen. Sie wirken komplementär zur Nützlichkeit und Äußerlichkeit der Naturwissenschaften und tragen dazu bei, den chinesischen Weg zum Wiederaufstieg vor internationaler Kritik zu ­schützen. Zugleich reklamieren sie in jüngster Zeit für sich auch eine Aufgabe, wenn es darum geht, die Außenwelt auch davon zu überzeugen, dass die von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus China geschaffene Erzählung zur chinesischen Geschichte die einzig gültige ist. Der Aufstieg Chinas in der Wissenschaft ist nicht nur den Bemühungen der chinesischen Regierung und der Forschenden in der VR China geschuldet. Er ist Bestandteil und Ausdruck der Globalisierung, ­welche im Bereich der Wissenschaft besonders stark ausgeprägt ist. Während die Außenwelt plötzlich wahrnimmt, ­welche nationale Stärke China auch im Bereich der Wissenschaft erlangt hat, sollte nicht übersehen werden, dass die Wissenschaft weit über die Grenzen Chinas hinaus vom Wirken chinesischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in China und international profitiert hat. Es wäre deshalb nicht angebracht, aus dem plötzlichen Erwachen über die Prominenz Chinas in ­diesem Gebiet den Schluss zu ziehen, die Welt müsse nun China isolieren, um einen weiteren Aufstieg zu verhindern. Das oben Gesagte sollte vielmehr zeigen, dass die angebliche Stärke Chinas in der Wissenschaft nicht in allen

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Gebieten gleichmäßig ausgeprägt ist und ohne internationale Kooperation sich gar nicht wird weiterentwickeln können. Wenn wir besser als bisher verstehen, welches die Triebkräfte der Entwicklung in China sind, w ­ elche Risiken wir in der Kooperation eingehen und w ­ elche Vorteile wir aus ihr generieren können, ergibt sich jetzt die Möglichkeit, da China sich auch in der Wissenschaft derart entwickelt hat, mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der VR China in einer Form zusammenarbeiten, die wirklich den vielfach beschworenen beiderseitigen Nutzen hervorbringt. Naivität, Opportunismus und ein Übermaß an Pragmatismus und Karrierismus werden in der Zusammenarbeit mit der Wissenschaft in der VR China immer häufiger zu international beachteten Skandalen führen, die allen Beteiligten schaden. Die Wirkmechanismen genau zu studieren, ­welche zur Dynamik der wissenschaftlichen Entwicklung in der VR China beigetragen haben, kann nur dazu dienen, unsere eigenen Systeme kritisch zu durchleuchten und dabei die Stärken und Schwächen gerade in der Gegenüberstellung mit dem anderen besser zu erkennen. Auf dieser Grundlage ist die Zusammenarbeit möglich und nötig.

Autor/inn/enverzeichnis Markus Aspelmeyer

Universitätsprofessor für Physik, Fakultät für Physik, Universität Wien, und Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI), Österreichische Akademie der ­Wissenschaften, Wien [email protected] Markus Aspelmeyer besuchte das Gymnasium in Schongau bis zum Abitur im Jahr 1993. Darauf­ hin studierte er an der Universität München Philosophie bis zum Magister sowie Physik, worin er 2002 bei Johann Peisl promovierte, und zwar mit seiner Untersuchung über den Einfluss externer Felder auf Struktur und Grenzflächenmorphologie dünner ferroelektrischer Filme. Danach arbeitete er als Post-­Doc bei Anton Zeilinger an der Universität Wien. Er folgte ­Zeilinger bei dessen Wechsel an das Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und wurde dort zuerst Junior-, ­später Senior-­ Scientist. Er beschäftigte sich dort mit Problemen der Quantenverschränkung und Quantenoptik. ­Aspelmeyer erhielt 2007 den Lieben-­Preis. Nach einem START -Preis 2008 erhielt er 2009 einen der renommierten ERC Starting Independent Researcher Grants des Europäischen Forschungsrats (European Research Council, ERC ) und 2010 den Friedrich Wilhelm Bessel-­ Forschungspreis. 2009 wählte er aus drei Angeboten auf Professorenstellen (University of Oxford, University of Calgary) den Ruf an die Universität Wien, wo er seitdem Universitätsprofessor für Quantum Information on the Nanoscale an der Fakultät für Physik ist. Markus Aspelmeyer ist Leiter einer Forschungsgruppe, die Quanteneffekte in Nano- und Micro-­Systemen erforscht. Für 2017 wurde ihm der Preis der Stadt Wien für Naturwissenschaften zugesprochen, 2018 wurde er in die Österreichische Akademie der Wissenschaften gewählt.

Reinhard Heinisch

Professor für Österreichische Politik in vergleichender europäischer Perspektive [email protected]

Reinhard Heinisch ist seit September 2009 Universitätsprofessor für Österreichische Politik in vergleichender europäischer Perspektive an der Universität Salzburg, wo er auch als Leiter der Abteilung Politikwissenschaft fungiert. Von 1986 bis 2009 lebte und arbeitete Reinhard Heinisch in den Vereinigten Staaten (M. A. Virginia Tech 1987; Ph. D. Michigan State University 1994), wobei er zuletzt an der University of Pittsburgh als Professor of Political Science tätig war, an deren Johnstown Campus er die Abteilung Internationale Studien leitete. In Wissenschaft und Lehre beschäftigt sich Reinhard Heinisch mit Fragen der österreichischen Politik im europäischen Kontext, der vergleichenden Arbeitsmarktpolitik sowie der vergleichenden Populismusforschung. Neben einer regen internationalen Publikations-, Vortrags-, und Lehrtätigkeit fungierte er auch als Konsulent für diverse Organisationen und Regierungsstellen (u. a. das US-Außenministerium). Seit 2001 betreut er regelmäßig ein Entwicklungsprojekt in Bolivien.

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Autor/inn/enverzeichnis

Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit betätigt sich Reinhard Heinisch auch als Gastkommentator in diversen Medien und ist Mitinitiator und akademischer Leiter der Internationalen Summer University Carinthia.

John P. A. Ioannidis

C. F. Rehnborg Chair in Disease Prevention at Stanford University, Professor of Medicine, Professor of Health Research and Policy, and Professor (by courtesy) of Biomedical Data ­Science at the School of Medicine [email protected]

John P. A. Ioannidis, MD, DSc has delivered over 500 invited and honorary lectures and he is the recipient of many awards (e. g. European Award for Excellence in Clinical Science [2007], Medal for Distinguished Service, Teachers College, Columbia University [2015], Chanchlani Global Health Award [2017], Epiphany Science Courage Award [2018], Einstein fellow [2018]). He has been inducted in the Association of American Physicians (2009), the European Academy of Cancer Sciences (2010), the American Epidemiological Society (2015), and the European Academy of Sciences and Arts (2015). He has received honorary titles from FORTH (2014) and Ioannina (2015), honorary doctorates from Erasmus U Rotterdam (2015) and U Athens (2017) and multiple honorary lectureships/visiting professorships (Caltech, Oxford, LSHTM, Yale, U Utah, U Conn, UC Davis, U Penn among others). The PLoS Medicine paper on “Why most published research findings are false” has been the most-­accessed article in the history of Public Library of Science (>2.5 million hits). He is a Highly Cited Researcher according to Thomson Reuters in both Clinical Medicine and in Social Sciences and among the 10 scientists with the highest current citation rate in the world (~3,000 new citations per month per Google Scholar). Ioannidis’ work has had tremendous impact across a large range of disciplines in public health, biomedicine and beyond. He is considered the world-­leader and top authority on meta-­research, or research on research. His empirical and methodological work has discovered, highlighted and corrected multiple biases, errors, and inefficiencies in the way that research is designed, conducted, analyzed, disseminated, and rewarded. His work is widely known and cited not only in biomedicine (in fields ranging from public health, clinical trials, evidence synthesis, genomics, epidemiology, preclinical research, animal studies, and neuroscience), but also in psychology, economics, and many other social sciences, where he has published many highly-­cited papers. In 2014 he launched the Meta‐Research Innovation Center at Stanford (METRICS) which has become a world-­caliber hub for research on research.

Wolfgang Merkel

Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung [email protected]

Wolfgang Merkel, geboren 1952, studierte Politische Wissenschaft, Geschichte, Sport und International Relations in Heidelberg und Bologna. Wolfgang Merkel lehrte und forschte an den Universitäten in Bielefeld, Mainz, Heidelberg, Harvard, Madrid und Sydney. Im Jahr 2002

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erfolgte der Ruf auf die Position eines Direktors am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) für die Abteilung „Demokratie: Strukturen, Leistungsprofil und Herausforderungen“. Seit 2004 ist Wolfgang Merkel Direktor der Abteilung „Demokratie und Demokratisierung“ am WZB und Professor für Politische Wissenschaft an der Humboldt-­Universität zu Berlin. Er ist Mitglied der Berlin-­Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sowie anderer internationaler und nationaler Gremien.

Anton Pelinka

Professor für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck [email protected]

Nach der Matura absolvierte er an der Universität Wien ein Studium der Rechtswissenschaften, das er 1964 mit der Promotion zum Dr. iur. abschloss. Anschließend studierte er Politikwissenschaft am Institut für Höhere Studien und Wissenschaftliche Forschung (IHS) und war von 1966/67 als Redakteur für die Wochenzeitung „Die Furche“ tätig, ehe er 1968 an die Abteilung für Politikwissenschaft des Instituts für Höhere Studien zurückkehrte, wo er bis 1971 als Forschungsassistent tätig war. 1971 wechselte er als Assistent an das Institut für Politikwissenschaft der Universität Salzburg, wo er sich 1972 beim Sozialphilosophen und Politikwissenschaftler Norbert Leser habilitierte. Von 1973 bis 1975 lehrte er Politikwissenschaften an den Universitäten in Essen und West-­Berlin, ehe er 1975 als ordentlicher Universitätsprofessor für Politikwissenschaft an die Universität Innsbruck berufen wurde. An der Universität Innsbruck war er von 1976 bis 1986 bzw. ab 1989 Vorstand des Politikwissenschaftlichen Instituts, das er mit aufgebaut hatte, und darüber hinaus von 1987 bis 1989 Dekan der Fakultät für Sozial und Wirtschaftswissenschaften und von 2004 bis 2006 Dekan der Fakultät für Politikwissenschaft und Soziologie. In diesen Jahren führten ihn etliche Gastprofessuren an ausländische Universitäten, darunter Nehru University Neu-­Delhi (1977), University of New Orleans (1981), Stanford University (1997), University of Michigan (2001/2002), Université Libre Brüssel (2002) und Hebrew University Jerusalem (2011/2013). Von 1990 bis 2012 übernahm er die Wissenschaftliche Leitung des Instituts für Konfliktforschung (IKF ) in Wien, er war Gründungsleiter des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-­ Studien, bis 2012 Vorsitzender im wissenschaftlichen Beirat im Sir Peter Ustinov Institut und ist Mitglied in zahlreichen Gesellschaften und Beiräten. Von 2006 – 2017 war Anton Pelinka Professor für Politikwissenschaft und Nationalismusstudien an der englischsprachigen Central European University in Budapest. Anton Pelinkas Forschungsschwerpunkte liegen auf den Gebieten Demokratietheorie, Politisches System und Politische Kultur in Österreich und der Vergleichenden Parteienund Verbändeforschung. Er gilt außerdem als Experte für die ­Themen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. So war er auch von 1994 bis 1997 österreichischer Vertreter in der „EU -Commission on Racism and Xenophobia“ (Kommission gegen Rassismus und Fremden­ feindlichkeit).

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Nico J. Schrijver

Professor of Public International Law an der Universiteit Leiden [email protected] Dr. Nico Schrijver is Professor of Public International Law, Leiden University. Since September 2017 he also serves on the Council of State of the Netherlands, which is the principal legal advisory body of the government and parliament. Previously, he was the Academic Director of the Grotius Centre for International Legal Studies as well as a Senator and Chair of the Standing Committee on Foreign Affairs. Currently, Nico Schrijver also serves as the President of the Institut de Droit international, one of the most renowned institutes in the field of international law. He is a former Chair of the Academic Council on the United Nations System (2000 – 02) and also served as the President of the International Law Association (2010 – 12) and President of the Royal Netherlands Society of International Law (2003 – 11). Furthermore, he is member of the Permanent Court of Arbitration and the Royal Netherlands Academy of Arts and Sciences, including the former (until 2018) Chair of its Committee on the Pursuit of Academic Freedom. During 2009 – 2016 he served as independent expert member on the UN Committee on Economic, Social and Cultural Rights and from 2005 – 2010 he served on the UN High-­level Panel on the Right to Development. Nico Schrijver is the author of various books and numerous book chapters and scholarly articles in the field of international law, peace and security, international co-­operation, human rights and sustainable development.

Carsten Wegscheider

Doktorand an der Universität Salzburg [email protected] Carsten Wegscheider ist seit Oktober 2018 Doktorand am Fachbereich für Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Salzburg. Seinen BA in Politikwissenschaft und MA in ­Theorie und Vergleich politischer Systeme im Wandel absolvierte er an der Universität Duisburg-­Essen (Deutschland) und der Babeș-­Bolyai-­Universität in Cluj-­Napoca (Rumänien). In seiner Bachelorarbeit „Die Ukraine – ein in der politischen Kultur geteiltes Land?“ untersuchte er Unterschiede in der politischen Kultur z­ wischen der west- und ostukrainischen Bevölkerung als Ursache für die Destabilisierung des ukrainischen politischen Systems. In seiner Masterarbeit „The Paradox of Democracy: Citizens‘ Understanding of Democracy and Regime Support in Consolidated Democracies” analysierte er den Einfluss unterschiedlicher Demokratiekonzeptionen der Bürger auf ihre politische Unterstützung für die etablierten demokratischen Regime. Sein Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der Vergleichenden Politikwissenschaft mit Interesse an der politischen Kultur- und Demokratieforschung, politischer Soziologie und politischer Psychologie. Im Rahmen seines Doktoratsstudiums beschäftigt er sich mit Rechtsextremismus, rechtspopulistischen Parteien und Wahlverhalten in vergleichender europäischer Perspektive.

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Susanne Weigelin-­Schwiedrzik

Professorin für Sinologie an der Universität Wien susanne.weigelin-­[email protected] Nach Studium der Sinologie, Japanologie und der Politischen Wissenschaften (1973 – 1978) in Bonn, Peking und Bochum Promotion im Fach Geschichte Chinas an der Ruhr-­Universität Bochum 1982, Habilitation 1989. 1989 – 2002 Ordinaria für Moderne Sinologie an der Universität Heidelberg, dort Pro-­Rektorin für Internationales 1999 – 2001. Seit 2002 Professorin für Sinologie an der Universität Wien, seit 2011 korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. 2011 – 2015 Vize-­Rektorin für Forschung und Nachwuchsförderung an der Universität Wien. Forschungsaufenthalte an der Peking University (1980), University of California, Berkeley (1984 – 1985), Tsinghua University, Peking (1987), Kyoto University (1992), Hong Kong University of Science and Technology (1987), University of California, Berkeley (1999), Brandeis University (2005), Chinese Academy of Social Sciences (2014) und an der Chinese University of Hong Kong (2018).

Jan Zielonka

Professor of European Politics an der University of Oxford [email protected]

Jan Zielonka is Professor of European Politics at the University of Oxford and Ralf D ­ ahrendorf Professorial Fellow at St Antony’s College. His previous appointments included posts at the University of Warsaw, Leiden and the European University Institute in Florence. His work oscillates between the field of international relations, comparative politics and political theory. Zielonka has produced eighteen books including Counter-­revolution.