Königreich der Angst: Gedanken zur aktuellen politischen Krise 3806238758, 9783806238754

Die aktuelle Stimmung in der westlichen Welt ist gekennzeichnet durch eine scharfe gesellschaftliche Spaltung, eine Rhet

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German Pages 299 [302] Year 2019

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Titel
Impressum
Inhalt
2016: Trump wird gewählt und bringt mich zum Nachdenken
1 Einführung: alles eine Frage der Emotionen
2 Angst: Früh und machtvoll
3 Zorn als Kind der Angst
4 Von Angst getriebener Ekel: Die Politik der Ausgrenzung
5 Das Reich des Neides
6 Ein giftiges Gebräu: Sexismus und Frauenfeindlichkeit
7 Hoffnung, Liebe und die Vision einer besseren Zukunft
Danksagung
Nachwort: Bemerkungen zur Situation in Europa
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Königreich der Angst: Gedanken zur aktuellen politischen Krise
 3806238758, 9783806238754

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Martha Nussbaum

KÖNIGREICH DER ANGST Gedanken zur aktuellen politischen Krise

Aus dem Englischen von Manfred Weltecke

Titel der Originalausgabe: The Monarchy of Fear. A Philosopher Looks at Our Political Crisis © 2018 Martha C. Nussbaum Diese Ausgabe erscheint gemäß der Vereinbarung mit Simon & Schuster Inc. in deutscher Erstübersetzung bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt. Copyright der deutschen Übersetzung © 2019 Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Theiss ist ein Imprint der wbg. © 2019 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Lektorat: Dietlind Grüne, Heidelberg Satz: Mario Moths, Marl Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-3875-4 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-3904-1 eBook (Epub): ISBN 978-3-8062-3903-4

INHALT

2016: Trump wird gewählt und bringt mich zum Nachdenken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1 Einführung: alles eine Frage der Emotionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2 Angst: Früh und machtvoll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3 Zorn als Kind der Angst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 4 Von Angst getriebener Ekel: Die Politik der Ausgrenzung. . . . 1 22 5 Das Reich des Neides. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 6 Ein giftiges Gebräu: Sexismus und Frauenfeindlichkeit. . . . . . 196 7 Hoffnung, Liebe und die Vision einer besseren Zukunft.. . . . . . 231 Danksagung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284

Nachwort: Bemerkungen zur Situation in Europa. . . . . . . . . . . . . . . 287

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2016: Trump wird gewählt und bringt mich zum Nachdenken

Die Wahlnacht der Präsidentschaftswahl des Jahres 2016 erlebte ich am hellen Tag – in Kyoto, wohin ich gerade wegen einer Preisverleihung gereist war, nachdem mich meine Kollegen zu Hause fröhlich verabschiedet hatten. Ich war angesichts der erbittert gespaltenen Wählerschaft ziemlich besorgt und dennoch recht zuversichtlich, dass die Aufrufe zu Angst und Zorn zurückgewiesen werden würden – obwohl es sehr viel harter Arbeit bedürfen würde, die Amerikaner wieder zusammenzubringen. Meine japanischen Gastgeber kamen wiederholt in mein Hotelzimmer und erklärten mir den Ablauf der verschiedenen Zeremonien. Im Hintergrund dieser Gespräche – allerdings im Vordergrund meiner Gedanken – trafen stets die aktuellsten Wahlergebnisse ein, die in mir zunächst eine immer größere Beunruhigung auslösten, dann schließlich Trauer und auch eine tiefe Angst um das Land, seine Menschen und Institutionen. Ich war mir dessen bewusst, dass meine Angst nicht ausgewogen oder unparteiisch war – also war ich selbst ein Teil des Problems, das mir Sorgen bereitete. Ich war in Kyoto, um einen Preis entgegenzunehmen, der von einem japanischen Wissenschaftler, Geschäftsmann und Philanthropen – außerdem Priester des Zen-Buddhismus – gestiftet worden war,

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der diejenigen auszeichnen wollte, die „wesentlich zur wissenschaftlichen, kulturellen und spirituellen Verbesserung der Menschheit beigetragen haben“. Während es mir sehr gefiel, dass Kazuo Inamori die Philosophie als Disziplin anerkannte, die einen bedeutsamen Beitrag leistet, empfand ich die Ehrung eher als eine Herausforderung denn als eine Auszeichnung. Ich fragte mich bereits, wie ich an diesem schwierigen Punkt der Geschichte der USA meinen Lorbeeren gerecht werden könnte. Als das Wahlergebnis klar war, musste ich zu meinem ersten offiziellen Treffen mit den beiden anderen Preisträgern (beide Wissenschaftler) in den Büros der Inamori-Stiftung. Ich zog daher aufmunternde Kleidung an, richtete mein Haar und versuchte, Glück und Dankbarkeit auszustrahlen. Das erste offizielle Abendessen war eine lästige Pflicht. Die geselligen, durch einen Dolmetscher gefilterten Gespräche mit Fremden hatten keinerlei ablenkenden Charme. Ich wollte meine Freunde umarmen, aber sie waren weit weg. E-Mails sind eine tolle Sache, aber sie können nicht mit einer Umarmung konkurrieren, wenn es um Trost und Zuspruch geht. In dieser Nacht wachte ich aufgrund der Kombination aus politischer Angst und Jet-Lag immer wieder auf, sodass ich ins Nachdenken kam. Gegen Mitternacht beschloss ich, dass meine Untersuchung der Gefühle in bisherigen Arbeiten nicht tiefgehend genug war. Indem ich meine eigene Angst analysierte, dämmerte es mir allmählich, dass Angst das zentrale Thema war – eine nebulöse und vielgestaltige Angst, welche die Gesellschaft der USA durchdrang. Ich hatte einige vorerst noch unvollständig durchdachte, aber vielversprechende Ideen in Bezug darauf, wie Angst mit anderen problematischen Emotionen wie Wut, Ekel und Neid verbunden ist und sie vergiftet. Ich arbeite nur selten mitten in der Nacht. Ich schlafe gut, und meine besten Ideen kommen mir meistens nach und nach, während ich an meinem Computer sitze. Doch Jet-Lag und eine nationale

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Krise können die Gewohnheiten ändern, und in diesem Fall hatte ich das freudige Gefühl, eine Entdeckung gemacht zu haben. Ich dachte, dass das Ergebnis dieses Aufruhrs möglicherweise ein gewisses Maß an Einsicht sein würde, und – wer weiß? – es könnte eine Einsicht sein, die auch andere auf gute Ideen bringen würde, wenn ich meine Arbeit gut machen würde. Mit einem beruhigenden Gefühl der Hoffnung schlief ich wieder ein. Am nächsten Tag stürzte ich mich – nach einem erfrischenden morgendlichen Training – in die feierlichen Zeremonien. Ich zog mein Abendkleid an und lächelte so gut ich konnte für das offizielle Porträtfoto. Die Zeremonie auf der Bühne war ästhetisch ansprechend und daher ablenkend. Fasziniert lauschte ich den Lebensläufen meiner Mitpreisträger und ihren kurzen Reden über ihre Arbeit, da sie auf Fachgebieten tätig sind, über die ich wenig weiß (von selbstfahrenden Autos bis zu Grundlagenforschung in der Onkologie), und ich war voller Bewunderung für ihre Leistungen. In meiner eigenen kurzen Rede konnte ich einige der Dinge zum Ausdruck bringen, die mir wirklich am Herzen liegen, und mich bei Menschen bedanken, die mich während meiner gesamten Karriere unterstützt haben. Mindestens genauso wichtig war mir, dass ich auch die Liebe zu meiner Familie und meinen engen Freunden zum Ausdruck bringen konnte. (Die ganze Rede hatte ich für den Dolmetscher im Voraus schreiben müssen, sodass keine spontanen Änderungen möglich waren. Die Gelegenheit, Liebe auszudrücken, war dennoch äußerst tröstlich.) Bankette anlässlich von Preisverleihungen enden in Kyoto pünktlich und extrem früh, sodass ich um 20.30 Uhr wieder in meinem Zimmer war, und ich setzte mich an meinen Schreibtisch und schrieb. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Ideen, die mir in der Nacht gekommen waren, Gestalt angenommen, und indem ich sie niederschrieb, entwickelten sie sich immer weiter und wurden (zumindest für mich!) immer überzeugender. Nach zwei Abenden Arbeit hatte

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ich einen langen Blog-Beitrag verfasst, den ein befreundeter Journalist in Australien veröffentlichte, und dieser Blog-Beitrag nahm gleichzeitig auch eine andere Form als Buchvorschlag an. Aber wer bin ich denn, so könnte mich ein Leser fragen, und wie bin ich dazu gekommen, mich so sehr für Gefühle politischer Einheit und Spaltung zu interessieren? Ich bin natürlich eine Akademikerin, lebe ein sehr privilegiertes Leben, umgeben von wunderbaren Kollegen und Studenten und mit jeglicher Unterstützung, die ich mir für meine Arbeit wünschen könnte. Selbst in dieser Zeit, in der die Geistes- und Kulturwissenschaften unter Druck geraten sind, unterstützt meine Heimatuniversität die Geisteswissenschaften nach wie vor sehr. Als Philosophin ohne Jurastudium freut es mich besonders, dass ich zum Teil an einer juristischen Fakultät unterrichten darf, wo ich täglich etwas über die politischen und rechtlichen Fragen dieser Nation lernen kann, während ich Lehrveranstaltungen zum Thema Gerechtigkeit und zu politischen Ideen anbiete. Ich verfüge also über einen günstigen Aussichtspunkt für einen Gesamtüberblick, doch er mag zu distanziert erscheinen, um die Ängste der meisten Amerikaner teilen zu können. Ich war auch ein privilegiertes Kind, jedoch auf viel kompliziertere Weise. Meine Familie, die in Bryn Mawr, einem vornehmen Stadtteil im Speckgürtel von Philadelphia lebte, gehörte zur oberen Mittelschicht und war ziemlich wohlhabend. Ich erfuhr Liebe, hatte mehr als ausreichend zu essen und eine exzellente Gesundheitsvorsorge. An einer ausgezeichneten Privatschule für Frauen erhielt ich eine erstklassige Ausbildung. Die Schule bot damals Anreize für herausragende Leistungen – frei von geschlechtsspezifischem Gruppenzwang –, wie sie eine öffentliche Schule Mädchen nicht auf ebenso gleichberechtigte Weise geboten hätte. (Meine Mutter sagte immer zu mir: „Rede nicht so viel, sonst werden dich die Jungen nicht mögen“ – ein guter Rat für die damalige Zeit, doch in der Schule musste ich ihn

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nicht befolgen.) Ich habe schon immer gern gelesen, geschrieben und Gedankengänge konstruiert. Außerdem gefielen meinem Vater die von mir angestrebten Ziele, und er unterstützte sie. Er stammte aus einer Arbeiterfamilie in Macon, Georgia, und hatte sich durch Begabung und harte Arbeit zum Teilhaber einer führenden Anwaltskanzlei in Philadelphia hochgearbeitet. Er glaubte und sagte das auch, dass der amerikanische Traum allen offen stehe. Diese Überzeugung säte in mir Zweifel. Er sagte immer wieder, dass Afroamerikaner in Amerika nicht erfolgreich seien, weil sie einfach nicht hart genug arbeiteten; doch ich beobachtete seinen tiefsitzenden Rassismus, mit dem er von Haushaltshilfen verlangte, dass sie ein separates Badezimmer benutzten, und sogar damit drohte, mich zu enterben, wenn ich in der Öffentlichkeit in einer größeren Gruppe (einer Theatergruppe) auftreten würde, zu der ein Afroamerikaner gehörte. Dadurch erkannte ich, dass sein Glaubensbekenntnis der Situation der Afroamerikaner, die durch Stigmatisierung und Rassendiskriminierungsgesetze unterdrückt und beleidigt wurden, nicht gerecht wurde. Der Abscheu meines Vaters vor Minderheiten erstreckte sich auf viele, die (trotz sozialer Hindernisse) durch harte Arbeit Erfolge erzielt hatten: insbesondere auf Afroamerikaner und Juden der Mittelschicht. Er wusste, dass Frauen zu hervorragenden Leistungen fähig sein können. Er freute sich über meinen Erfolg und ermutigte mich, unabhängig und sogar herausfordernd zu sein. Doch auch hier stellte ich ein Problem fest, denn er hatte eine Frau geheiratet, die als Innenarchitektin gearbeitet hatte, und es verstand sich von selbst, dass sie zu arbeiten aufhörte, was zur Folge hatte, dass meine Mutter für einen Großteil ihres Lebens unglücklich und einsam war. Seine Einstellungen waren äußerst widersprüchlich. Als ich sechzehn war, ließ er mir die Wahl zwischen einem Debütantenball und dem Aufenthalt bei einer Gastfamilie im Ausland im Rahmen eines internationalen Programms (Experiment in International Living), und er freute sich

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sehr, dass ich mich für Letzteres entschied – doch er selbst hätte eine Frau, die sich nicht für Ersteres entschieden hätte, niemals geheiratet. Er war der Überzeugung, dass das Tragen gewagter modischer Kleidung (bei Frauen und Männern) mit intellektuellem Anspruch und Erfolg durchaus vereinbar sei; und der Spaß, den wir bei gemeinsamen Einkaufsbummeln hatten, wurde durch den subversiven Plan, dass ich bei seinem Vortrag über „Ernennungsbefugnisse“ am Institut für juristische Praxis in einem leuchtend rosa Minirock auftauchen würde, noch verdoppelt. Und doch fragte ich mich, was er wirklich darüber gedacht haben mag, wohin all dies führen würde – vor allem: zu welcher Art von Familienleben? Er ermutigte mich, genau mit jenen aufstrebenden, geschniegelten Männern auszugehen, die – wie er – niemals eine berufstätige Ehefrau gewollt hätten. Zwischenzeitlich verstärkte jener Auslandsaufenthalt meine Zweifel am Credo meines Vaters. Ich wurde zu einer Familie von Fabrikarbeitern in Swansea in Südwales geschickt und begriff, wie Armut, schlechte Ernährung, schlechte sanitäre Einrichtungen (Außentoilette) sowie schlechte Gesundheitsbedingungen (vor allem der Kohlebergbau, der die Gesundheit etlicher Familienmitglieder ruiniert hatte) den Menschen nicht nur ein blühendes Leben, sondern auch ihre Sehnsucht und Kraft raubt. Meine gleichaltrigen Gastschwestern in dieser Familie wollten nicht studieren oder durch harte Arbeit glänzen. Wie in den britischen Arbeiterfamilien, die in Michael Apteds „Seven Up“ 1 und seinen Fortsetzungen so schonungslos dargestellt werden, sahen sie für sich selbst keine Zukunft, die rosiger war als das Leben ihrer Eltern, und ihre größte Freude war es, in Kneipen zu gehen und die legalen Spielkasinos in 1 Anm. d. Übers.: Die „Up“-Serie ist eine Reihe von Dokumentarfilmen, die von Granada Television für ITV produziert wurden und das Leben von vierzehn britischen Kindern von 1964 an, als sie sieben Jahre alt waren, begleiten.

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der Nähe aufzusuchen. Ich erinnere mich daran, wie ich im Bett lag, einen Roman über die britische Oberschicht las – in diesem Haus mit einer Außentoilette im Garten – und darüber nachdachte, warum Eirwen Jones, die in meinem Alter war, nicht das geringste Interesse am Lesen und Schreiben, ja nicht einmal am Lernen der walisischen Sprache hatte. Die durch Armut aufgebauten Hindernisse sind oft tief im Inneren eines Menschen verwurzelt, und viele benachteiligte Menschen können dem Weg meines Vaters nicht folgen. (Er erzählte, dass er ausreichend zu essen, viel Liebe, geistige Anregung und eine gute Gesundheitsversorgung bekommen und irgendwie eine erstklassige Ausbildung erhalten hatte. Dabei war ihm nicht bewusst, was für riesige Vorteile ihm die Tatsache, dass er weiß war, brachte. Außerdem lebte er, geboren im Jahr 1901, in einer Welt mit größeren Chancen für sozialen Aufstieg als es sie heute selbst für arme Weiße gibt.) So sah ich mich selbst in einer neuen Perspektive: nicht nur als sehr kluges Kind, sondern als Produkt sozialer Faktoren, die ungleich verteilt sind. Es war nicht überraschend, dass ich dieses Verständnis viel später durch die Mitarbeit in einer internationalen Entwicklungsorganisation und durch eine enge Partnerschaft mit Gruppen, die sich für die Bildung und die Rechte von Frauen in Indien einsetzen, vertieft habe. Wie die meisten der Leute, die ich in Bryn Mawr kannte, war ich damals Republikanerin, und ich bewunderte die Ideen von Barry Goldwater, der die individuellen Freiheitsrechte betonte. Ich glaube immer noch, dass Goldwater ein ehrenwerter Mann war und dass er sich voll und ganz für das Ende der Rassentrennung einsetzte – er hatte seine Prinzipien sogar auf mutige Weise in sein Familienunternehmen integriert. Ich denke, er glaubte tatsächlich, dass sich die Menschen dafür entscheiden sollten, gerecht zu sein, sich gegenseitig zu respektieren und zu helfen, allerdings ohne den Zwang der Regierung. Während ich noch in der Highschool für sei-

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nen Wahlkampf zu arbeiten begann, stellte ich jedoch fest, dass die meisten meiner politischen Mitstreiter nicht von hoher Gesinnung, sondern zutiefst rassistisch waren und den Liberalismus lediglich in seiner Funktion als Schutzschirm für Ansichten unterstützten, welche die Rassentrennung befürworteten. Die Hässlichkeit jener Politik, welche die Vorherrschaft der Weißen zum Ziel hatte, stieß mich ab und überzeugte mich davon, dass Goldwater naiv war und dass allein die Gesetzgebung stark genug sein würde, die Rassentrennung zu überwinden. Mittlerweile (nach meinem Aufenthalt in Swansea) hatte ich auch begriffen, dass wirkliche Gleichberechtigung gleichen Zugang zu einer guten Ernährung und Gesundheitsversorgung erfordert. Ich begann, die politischen Ideale des New Deal zu übernehmen, und mein Vater beschwerte sich bei meiner Schule darüber, dass meine Geschichtslehrer mich „einer Gehirnwäsche unterzogen“ hätten – es war nicht das einzige Mal, dass er die geistige Unabhängigkeit, die er so stolz gefördert hatte, unterschätzen sollte. Ich erwähnte bereits das Theater: schon früh wurden die Künste, insbesondere das Theater und die Musik, für mich zu einem Fenster in eine weniger ausgrenzende Welt. Erstens war es eine Welt, die – im Gegensatz zur weißen, angelsächsischen, protestantischen Kultur („WASP-Kultur“) von Bryn Mawr – den Ausdruck starker Emotionen unterstützte. Alle meine Lehrer förderten meinen Verstand, aber der Theaterlehrer förderte meine gesamte Persönlichkeit. Also fasste ich den Entschluss, Schauspielerin zu werden. Ich arbeitete für zwei Spielzeiten an einem Sommertheater, verließ das Wellesley College nach drei Semestern, um eine Stelle bei einem Repertoiretheater anzunehmen, und verfolgte meine Schauspielkarriere an der heutigen Tisch School of the Arts an der Universität New York – bis ich einsah, dass ich keine sehr gute Schauspielerin, dieses Leben zu unsicher und meine wahre Leidenschaft das

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Nachdenken und Schreiben über die Stücke war. Doch als Amateurin spiele und singe ich nach wie vor (aufgrund meiner Lebenserfahrung bin ich nun besser), und es bereitet mir Freude. Ich ermutige auch meine Kollegen zum Schauspielen (in Stücken, die im Zusammenhang mit unseren Konferenzen über Recht und Literatur stehen). Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es die juristische Fakultät menschlicher macht und intellektuelle Freundschaften bereichert, wenn ich mit meinen Kollegen Gefühle teile. Im Theater begegnete ich zum ersten Mal Menschen, die offen homosexuell waren. Ja, im Alter von siebzehn Jahren war ich vernarrt in einen schwulen Schauspieler, und ich verfolgte sein Leben mit der gesteigerten Anteilnahme einer enttäuschten Verliebtheit. Ich sah, dass er einen Lebenspartner hatte, der ihn besuchte und mit dem er die Absolventenringe ausgetauscht hatte, dass sie jedoch nur in der Welt des Theaters offen ein Paar waren und nicht in der größeren Gesellschaft. Dies erschien mir völlig absurd und irrational. Er war sehr viel netter als die meisten Jungen, die ich kannte: Er zeigte mehr Verständnis und Respekt. Ich denke, ich hatte mittlerweile verstanden, dass sich hinter Rassismus und Sexismus oft ein abstoßendes Eigeninteresse verbirgt. Die Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung, die mir – ebenso wie ihre Erscheinungsformen – bis dahin verborgen geblieben war, war ein weiteres schlimmes amerikanisches Laster, das ich in der Folge auf meiner Liste ergänzte. Nachdem ich mich dagegen entschieden hatte, Schauspielerin zu werden, wandte ich mich wieder dem akademischen Leben der Universität von New York zu und blühte dort auf. Bald darauf lernte ich meinen späteren Mann kennen, verlobte mich und konvertierte zum Judentum. Was mich am Judentum anzog und noch immer anzieht, ist die vorrangige Bedeutung der sozialen Gerechtigkeit. Außerdem liebte ich schon immer die jüdische Kultur, in die ich eingetreten bin,

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und fand, dass in ihr Emotionen stärker ausgedrückt und Streitigkeiten auf eine offenere Weise ausgetragen werden als in der „WASPKultur“. Einer meiner (sehr erfolgreichen) jüdischen Kollegen sagte über seine eigene Zeit in führenden Anwaltskanzleien, WASP-Anwälte würden einen nie kritisieren, sondern nach fünf Jahren einfach plötzlich feuern, während jüdische Anwälte zwar herumschreien und auf und ab springen, einen am Ende jedoch recht fair behandeln würden. Obwohl ich nicht mehr verheiratet bin, habe ich meinen jüdischen Namen und meine jüdische Religion beibehalten und bin jetzt mehr am Leben meiner Gemeinde beteiligt, als ich es vorher war. (Mit der mittleren Initiale „C“ ehre ich meinen Geburtsnamen, Craven.) Ich schloss mich also einer der Gruppen an, die mein Vater verachtete, und er kam nicht zu meiner Hochzeit, obwohl meine Mutter mir dabei half, sie zu organisieren. Zu der Zeit waren meine Eltern bereits geschieden. Ich hatte also ein in mancher Hinsicht begünstigtes Leben, aber schon früh lernte ich, es als privilegiert zu betrachten und darüber nachzudenken, dass andere von solchen Privilegien ausgeschlossen waren. Eine Form der Diskriminierung, der ich nicht entgehen konnte, war die Diskriminierung von Frauen, die in meiner frühen Karriere eine große Rolle spielte (obwohl ich auch eine Menge Ermutigung erfuhr) und die wahrscheinlich erklärt, warum ich in Harvard keine Festanstellung bekam – obwohl bei einer knappen Entscheidung und zwei gespaltenen Abteilungen eine Vielzahl von Dingen angeführt werden könnte, um das Ergebnis zu erklären. Und wie die meisten berufstätigen Frauen meiner Generation habe ich die Probleme kennengelernt, die entstehen, wenn das Familienleben um neue und noch nicht vollständig durchdachte Erwartungen herum strukturiert wird. Selbst wenn beide Parteien die besten Absichten haben, sind die männlichen Erwartungen aus einer früheren Ära im Herzen schwer zu besiegen, besonders, wenn Kinder

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im Spiel sind. Und manchmal können zwei Menschen, die sich lieben, einfach nicht zusammenleben. Aber ich bereue gewiss nicht, mich in das Abenteuer begeben zu haben. Meine Tochter, die jetzt bei Friends of Animals in Denver für die Rechte von wilden Tieren arbeitet, gehört zu den großen Glücksquellen meines Lebens. (Ihr liebenswerter und unterstützender Ehemann, der im Alter von achtzehn Jahren in der DDR zu drei Jahren Haft verurteilt wurde, weil er ein politisches Plakat aufgehängt hatte, das den Kommunismus kritisierte, hat mir die Perspektive eines Einwanderers eröffnet, der die Vereinigten Staaten von Amerika mit ihren Freiheiten und ihren Traditionen des Willkommenheißens und der Inklusion liebt.) Manchmal sind Akademiker von den Realitäten des menschlichen Lebens zu weit entfernt, um gute Beiträge zu dessen Strukturen leisten zu können. Das ist ein Risiko, das mit der akademischen Freiheit und dem sicheren Arbeitsverhältnis – wunderbaren Institutionen, wie sie die Philosophen der meisten früheren Epochen nicht geschützt haben – verbunden ist. Mein eigenes Engagement und meine Bemühungen haben mich immer dazu geführt, der Philosophie das breite Spektrum der behandelten Themen zurückzugeben, das sie in der griechischen und römischen Antike auszeichnete: die Analyse der Emotionen und des Kampfes um ein gelingendes Leben in schwierigen Zeiten; das Bedenken von Liebe und Freundschaft sowie der menschlichen Lebensspanne (einschließlich des Alterns, das von Cicero so großartig untersucht wurde); die Hoffnung auf eine gerechte Welt. Ich hatte zahlreiche Partner auf dieser Suche nach einer menschlichen Philosophie (und mehrere großartige Mentoren, darunter Stanley Cavell, Hilary Putnam und Bernard Williams). Doch ich hoffe, dass mir auch meine eigene Geschichte – sowohl in ihren unverdienten Privilegien als auch in ihrem Bewusstsein für Ungleichheiten – bei meiner Suche geholfen hat.

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Wenn ich an diesem Abend im November 2016 meine Freunde hätte umarmen können, hätte ich dieses Buchprojekt vielleicht nicht begonnen – oder zumindest nicht genau dann. Aber als ich diesen Weg einmal eingeschlagen hatte, waren meine Freunde wichtige Quellen der Unterstützung, des Verständnisses, skeptischer Herausforderungen und nützlicher Vorschläge. Ehrerbietung ist Gift für die intellektuelle Arbeit, und ich bin so glücklich, dass meine Kollegen und Freunde alles andere als ehrerbietig sind. Doch es gibt einen vor allen anderen, dessen skeptische Herausforderungen, provozierende Einsichten, zynischer Spott über alle Emotionen sowie unerschütterliche Unterstützung und Freundschaft dazu führen, dass ich mich meines Lebens und meiner Arbeit mehr freue und (so hoffe ich) meine Arbeit besser mache. Daher widme ich dieses Buch Saul Levmore.

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1 Einführung: alles eine Frage der Emotionen

In den USA gibt es heute sehr viel Angst, und diese Angst ist häufig mit Zorn, Schuldzuweisungen und Neid vermischt. Angst blockiert allzu oft rationale Überlegungen, sie vergiftet die Hoffnung und behindert eine konstruktive Zusammenarbeit für eine bessere Zukunft. Worum geht es bei der heutigen Angst? Viele Amerikaner fühlen sich machtlos. Sie haben das Gefühl, dass sie die Kontrolle über ihr Leben verloren haben. Sie fürchten um ihre eigene Zukunft und die Zukunft der Menschen, die sie lieben. Sie fürchten, dass der amerikanische Traum – die Hoffnung, dass die eigenen Kinder erfolgreich sein und es besser haben werden, als man es selbst hatte – gestorben und ihnen alles entglitten ist. Diese Gefühle haben ihre Grundlage in realen Problemen, unter anderem in der Stagnation des Einkommens der unteren Mittelschicht, in der alarmierenden Verschlechterung der Gesundheit und im Sinken der Lebenserwartung der Mitglieder dieser gesellschaftlichen Gruppe, insbesondere der Männer, sowie in den explodierenden Kosten der Hochschulausbildung in einer Zeit, in der ein Hochschulabschluss für eine Anstellung zunehmend unerlässlich ist. Aber wirkliche Proble-

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Einführung

me sind schwer zu lösen, und ihre Lösung erfordert lange, anstrengende Untersuchungen und Zusammenarbeit in Richtung einer ungewissen Zukunft. Es kann daher nur allzu attraktiv erscheinen, mit diesem Gefühl der Panik und Ohnmacht umzugehen, indem man es in Schuldzuweisungen an Außenstehende wie Einwanderer, ethnische Minderheiten und Frauen umwandelt und sich von ihnen innerlich distanziert. „Sie“ haben uns unsere Jobs weggenommen. Oder: Reiche Eliten haben uns unser Land gestohlen. Die Probleme, welche die Globalisierung und Automatisierung für Amerikaner der Arbeiterklasse mit sich bringen, sind real, fundamental und scheinbar unlösbar. Statt sich diesen Schwierigkeiten und Unsicherheiten zu stellen, können Menschen, die ihren Lebensstandard sinken sehen, sich auf Bösewichte stürzen, und eine Fantasie nimmt Gestalt an: Wenn „wir“ „sie“ irgendwie draußen halten (eine Mauer bauen) oder an „ihrem Platz“ (in untergebenen Positionen) festhalten, können „wir“ unseren Stolz und Männer ihre Männlichkeit zurückgewinnen. Angst führt also eher zu aggressiven Strategien der Distanzierung von „den anderen“ als zu nützlichen Analysen. Gleichzeitig grassiert die Angst auch unter den „Linken“, die eine größere soziale und wirtschaftliche Gleichstellung anstreben und fest entschlossen sind, die hart erkämpften Rechte von Frauen und Minderheiten zu verteidigen. Viele Menschen, die über das Wahlergebnis bestürzt waren, reagieren, als ob das Ende der Welt unmittelbar bevorstehe. Eine Mehrheit meiner Studierenden, viele Bekannte und viele Kollegen fühlen und sagen – oft mit großer Angst –, dass unsere Demokratie am Rand des Zusammenbruchs stehe, dass die neue Regierung in ihrer Bereitschaft, auf Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Homophobie einzugehen, beispiellos sei. Sie befürchten vor allem das mögliche Verschwinden der demokratischen Meinungs-, Reise-, Vereinigungs- und Pressefreiheit. Vor

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Einführung

allem meine jüngeren Studierenden glauben, dass das Amerika, das sie kennen und lieben, im Begriff ist zu verschwinden. Statt die Dinge nüchtern zu analysieren, der anderen Seite Gehör zu schenken und zu versuchen, die Dinge zu ordnen, verteufeln sie häufig die andere Hälfte der amerikanischen Wählerschaft und stellen sie als Monster, als Feinde alles Guten dar. Wie im Buch der Offenbarung scheinen wir in den letzten Tagen zu leben, in denen ein Häuflein von Rechtschaffenen gegen die Kräfte Satans antreten muss. Wir alle müssen erst einmal tief durchatmen und uns an unsere Geschichte erinnern. Als ich ein kleines Mädchen war, wurden Afroamerikaner im Süden gelyncht. Kommunisten verloren ihre Arbeit. Frauen begannen gerade erst, an renommierten Universitäten zu studieren und in die Arbeitswelt einzutreten; sexuelle Belästigung war ein allgegenwärtiges Vergehen, und es gab keine Gesetze, die als Abschreckung hätten wirken können. Juden konnten keine Partnerschaften in großen Anwaltskanzleien erwerben. Homosexuelle Männer und Frauen, die nach dem Gesetz Verbrecher waren, hielten ihre sexuelle Orientierung fast immer geheim. Menschen mit Behinderungen hatten keinen Anspruch auf öffentliche Räume und staatliche Bildung. Transgender war eine Kategorie, für die es noch keinen Namen gab. Amerika war alles andere als schön. Diese Fakten sagen uns zwei Dinge, die meine Studierenden wissen müssen. Erstens: Das Amerika, dem sie nachtrauern, hat es nie gegeben, nie vollständig; es war ein laufendes Projekt, eine Reihe dynamischer Bestrebungen, die durch harte Arbeit, Kooperation, Hoffnung und Solidarität über einen langen Zeitraum in Gang gehalten wurden. Ein gerechtes und inklusives Amerika war und ist noch keine vollendete Realität. Zweitens mag die gegenwärtige Zeit wie ein Rückschritt in unseren Bemühungen in Richtung menschlicher Gleichberechtigung erscheinen, aber sie ist nicht die Apokalypse, und es ist tatsächlich eine Zeit, in der Hoffnung und

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Einführung

Arbeit viel Gutes bewirken können. Nicht nur werden auf linker wie rechter Seite die Gefahren durch Panik übertrieben, sondern durch diese Panik wird die Zeit noch viel gefährlicher, als es sonst der Fall wäre, und dieser Umstand lässt wirkliche Desaster wesentlich wahrscheinlicher werden. Es ist wie in einer schlechten Ehe, in der Angst, Misstrauen und Schuldzuweisungen sorgfältiges Nachdenken über die wirklichen Probleme und ihre Lösung verdrängen. Stattdessen werden diese Emotionen zu einem eigenen Problem und verhindern konstruktive Arbeit, Hoffnung, Zuhören und Kooperation. Wenn Menschen Angst voreinander und vor einer unbekannten Zukunft haben, führt dies leicht dazu, dass ein Sündenbock gesucht wird, dass Rachefantasien und ein giftiger Neid auf die Bessergestellten (seien es die Wahlsieger oder die sozial und wirtschaftlich Mächtigeren) aufkommen. Wir alle erinnern uns an die Aussage von Franklin D. Roosevelt, dass wir „vor nichts Angst haben müssen, außer vor der Angst selbst“. Vor Kurzem hörten wir den scheidenden Präsidenten Obama sagen: „Die Demokratie kann zerbrechen, wenn wir der Angst nachgeben.“ Roosevelt hatte unrecht, wenn wir seine Worte wörtlich nehmen: Obwohl wir Grund hatten, Angst vor der Angst zu haben, hatten wir zu seiner Zeit auch viele andere Dinge zu fürchten, wie etwa den Nazismus, Hunger und soziale Konflikte. Die Angst vor diesen Übeln war vernünftig, und in diesem Sinne brauchen wir keine Angst vor unserer Angst zu haben, obwohl wir sie stets analysieren sollten. Doch Obamas präzisere und bescheidenere Aussage ist sicherlich richtig: Der Angst nachzugeben, das heißt, sich von ihren Strömungen mitnehmen zu lassen und die skeptische Prüfung abzulehnen, ist sicher gefährlich. Wir müssen genau über die Angst nachdenken und darüber, wohin sie uns führt. Nachdem wir tief durchgeatmet haben, ist es wichtig, dass wir alle uns so gut wie möglich selbst verstehen, indem wir diesen Moment der Distanz nutzen, um her-

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Einführung

auszufinden, woher die Angst und die damit verbundenen Gefühle kommen und wohin sie uns führen. Aber vielleicht sind meine Leser noch nicht davon überzeugt, dass die Angst wirklich ein tief greifendes Problem für die demokratische Selbstregierung ist. Ich stelle mir daher einen kleinen Dialog zwischen mir (MN) und einem Verteidiger der Angst vor, den ich VA nenne. VA:  Aber wir wollen die Angst doch nicht vernichten. Ohne Angst wären wir alle tot. Angst ist nützlich, und sie treibt uns zu lebensrettenden Handlungen an. MN:  Sicher, da hast du recht. Doch Angst hat eine starke Tendenz, von uns Besitz zu ergreifen und uns zu egoistischen, gedankenlosen und unsozialen Handlungen anzutreiben. Ich werde versuchen, dir zu zeigen, dass diese Tendenz aus der Geschichte der Evolution und der psychologischen Struktur dieser Emotion stammt. Mehr als andere Gefühle bedarf die Angst sorgfältiger Prüfung und Eindämmung, wenn sie nicht giftig werden soll. VA:  Davon bin ich noch nicht überzeugt. Doch ich möchte jetzt auch wissen, warum du sagst, dass die Angst für die demokratische Selbstregierung besonders gefährlich ist. Sicherlich sind Demokratien häufig gut beraten, die Angst zu befragen, wenn es darum geht, Gesetzen und Institutionen eine Struktur zu geben. Sind unsere Verteidigungsbemühungen nicht etwa eine vernünftige Antwort auf die legitime Angst vor Fremdherrschaft? Und wie verhält es sich mit unserer Verfassung? Wurden ihre Väter nicht von Angst geleitet, als sie die grundlegenden Freiheitsrechte niederschrieben? Schließlich schrieben sie über all die Dinge, welche die Briten verletzt oder ihnen genommen hatten: Ihre Angst, dass sich ähnliche Dinge in der neuen Nation ereignen könnten, gab der Demokratie einen guten, keinen schlechten Rat.

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MN:  Es wäre dumm zu leugnen, dass Angst häufig gute Handlungsempfehlungen gibt. Die Angst ist schließlich ein Teil unserer evolutionären Ausstattung für das Überleben. Doch deine Beispiele beziehen sich auf eine Angst, die durch eine sorgfältige und ausführliche öffentliche Diskussion gefiltert wurde. Du hast voreilige und ungerechtfertigte Feldzüge unerwähnt gelassen. Du hast Fälle ausgelassen, in denen Rechte ungleich verteilt oder Privilegien aufgrund weitverbreiteter Ängste hastig eingeschränkt wurden. Wir haben die Angewohnheit, in Zeiten, in denen die Nation Belastungen ausgesetzt ist, missliebige Menschen zu Sündenböcken zu erklären und ihre Rechte auf eine Weise zu beschneiden, die später als völlig fehlgeleitet erscheinen wird. Eugene Debs wurde wegen friedlicher Reden gegen die Teilnahme der USA am Ersten Weltkrieg ins Gefängnis geworfen. Gesetzestreue und friedliche japanische Amerikaner wurden in Lagern interniert. Dies sind Fälle, in denen die Angst uns nicht nur nicht in die Richtung verfassungsmäßiger Rechte führte, sondern zur Folge hatte, dass bereits etablierte Rechte zurückgenommen wurden, und dasselbe Klima der Angst führte dazu, dass selbst unsere Gerichte dies damals nicht erkannten. Angst ist oft schneller als das sorgfältige Nachdenken. Es ist diese von Unsicherheit getriebene Flucht nach vorn, die ich mit großer Skepsis betrachte. Diese Form der Angst untergräbt Brüderlichkeit, vergiftet die Zusammenarbeit und lässt uns Dinge tun, für die wir uns später zutiefst schämen. VA:  Nochmals: Ich warte auf deine Argumente! Du hast mich davon überzeugt, dass hier ein Problem vorliegt. Doch ich sehe noch nicht, wie groß es ist oder wie seine Lösung aussehen könnte. Aber es gibt da noch eine andere Sache, die du versuchen musst, mir zu erklären. Du verwendest den Titel „Das Königreich der Angst“. Und du wiederholst ständig, dass Angst ein besonderes

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Problem für die demokratische Selbstregierung darstellt. Was ich nicht verstehe, ist die besondere Verbindung, die du scheinbar zwischen der Angst und einer Bedrohung der Demokratie feststellst. Bedroht die Angst, soweit sie ein gesellschaftliches Problem ist, nicht alle Regierungsformen auf gleiche Weise? MN:  Nein, nicht wirklich. In einer absoluten Monarchie kann der Monarch natürlich nicht übermäßig ängstlich sein, obwohl er oder sie auch gut beraten wäre, nicht überstürzt zu handeln. Doch Monarchen nähren sich von der Angst von unten. Die Angst, vom Monarchen bestraft zu werden, garantiert regelkonformes Verhalten. Und die Angst vor Bedrohungen von außen führt zu freiwilliger Knechtschaft: Ängstliche Menschen wünschen sich Schutz und Fürsorge, und bei ihrer Suche danach wenden sie sich an einen starken, absoluten Herrscher. In einer Demokratie müssen wir uns hingegen gleichberechtigt in die Augen sehen, und dies bedeutet, dass die Bürger durch ein Vertrauen auf Augenhöhe miteinander verbunden sein müssen. Vertrauenswürdigkeit ist mehr als Verlässlichkeit. Sklaven können sich auf das brutale Verhalten ihres Herrn verlassen, aber natürlich vertrauen sie ihm nicht. Vertrauen bedeutet, bereit zu sein, sich anderen auszusetzen, die eigene Zukunft in die Hände der Mitbürger zu legen. Absolute Monarchen brauchen oder wollen kein Vertrauen.   Man denke an eine Ehe. In einer Ehe nach althergebrachtem Muster, in der das männliche Familienoberhaupt einem Monarchen glich, bestand kein Bedarf an Vertrauen. Die Ehefrau und die Kinder mussten lediglich Gehorsam leisten. Doch die Ehen, wie sie die Menschen heute anstreben, sind ausgewogener und verlangen echte Verletzlichkeit, Gegenseitigkeit und beiderseitiges Vertrauen. Und Vertrauen wird durch Angst untergraben. In dem Maße, in dem ich dich als Bedrohung meines Lebens und meiner

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Ziele betrachte, werde ich mich vor dir schützen, und ich werde geneigt sein, mich strategisch zu verhalten, ja, statt zu vertrauen, mich sogar zu verstellen.   Entsprechendes gilt in der Politik. Diese Weigerung zu vertrauen durchzieht jetzt das ganze Land. Meine Studierenden vertrauen niemandem, der Trump gewählt hat, und sie betrachten solche Menschen als eine feindliche Macht – bestenfalls als „bedauernswerte Menschen“, schlimmstenfalls als Faschisten. Viele Trump-Anhänger erwidern das Kompliment und sehen Studierende und Universitäten als subversive Feinde „echter Menschen“ an.   Und es gibt noch eine andere Seite der Verbindung. Wenn Menschen sich ängstlich und machtlos fühlen, suchen sie gierig nach Kontrolle. Sie können es nicht abwarten, zu sehen, wie sich die Dinge entwickeln werden; sie müssen andere Menschen dazu bringen, das zu tun, was sie wollen. Wenn sie sich also keinen wohlwollenden Monarchen suchen, der sie beschützen könnte, werden sie sich nur allzu wahrscheinlich selbst wie ein Monarch verhalten. Später werde ich diese Tendenz auf die Art und Weise zurückführen, mit der Babys versuchen, ihre Betreuungspersonen zu Sklaven zu machen: Was können sie anderes tun als schreien, wenn sie ihre eigene Ohnmacht erkennen? Auch auf diese Weise untergräbt die Angst das gleichberechtigte Geben und Nehmen, die Wechselseitigkeit, die für das Überleben von Demokratien unerlässlich ist. Und das führt zu vergeltendem Zorn, der spaltet, wenn es darum geht, einer ungewissen Zukunft auf konstruktive und kooperative Weise zu begegnen. VA:  Du hast den Zorn erwähnt. Das führt mich zu einer anderen Frage: Wozu diese Betonung der Angst? Gibt es nicht viele Gefühle, welche die Demokratie bedrohen? Was hat es denn eigentlich mit dem Zorn auf sich? Sollten wir uns angesichts seiner aggres-

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siven Tendenzen nicht mehr Sorgen um dieses Gefühl machen als um die Angst? Bewegt nicht das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, viele Amerikaner dazu, andere anzugreifen? Neid wird ebenfalls häufig für eine große Bedrohung der Demokratie gehalten, da er Klassenkonflikte anfacht. Und schließlich wurde auch viel über die Rolle des Ekels im Rassismus sowie in anderen Formen der Stigmatisierung und Diskriminierung geschrieben. MN:  Da hast du vollkommen recht, und die Kapitel dieses Buches werden sich in der Tat mit diesen verschiedenen Emotionen und den Zusammenhängen zwischen ihnen befassen. Aber nachdem ich jahrelang über jede dieser Emotionen mehr oder weniger isoliert von den anderen gearbeitet habe, habe ich erkannt, dass meine bisherige Vorgehensweise einige äußerst wichtige Kausalzusammenhänge zwischen den Emotionen verdeckt hat. Insbesondere habe ich erkannt – und ich werde versuchen, dich davon zu überzeugen –, dass die Angst sowohl genetisch als auch kausal eine Vorrangstellung hat und dass die drei anderen Emotionen, die du angeführt hast, aufgrund einer „Ansteckung“ durch die Angst vergiftet werden und die Demokratie bedrohen. Gewiss, Menschen schlagen zurück, weil sie sich ungerecht behandelt fühlen. Doch wie genau verhält es sich damit? Wie kommt es dazu? Warum fühlen Menschen so, und unter welchen Bedingungen wird die Schuldzuweisung zu einem politischen Gift? Es sind Fragen dieser Art, die wir bei jedem der Gefühle stellen müssen, und ich glaube, dass sie sich sämtlich auf Angst und Lebensunsicherheit zurückführen lassen. VA:  Aber was soll diese ganze Aufregung um Gefühle? Sicherlich sind die großen Probleme der amerikanischen Gesellschaft struktureller Art, und wir benötigen strukturelle Lösungen, die durch Gesetze realisiert werden können – unabhängig davon, ob sie den Menschen gefallen oder nicht. Wir müssen nicht ab-

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warten, bis die Menschen besser oder sich ihrer selbst besser bewusst werden, um die Dinge, die repariert werden müssen, zu beheben, und die Konzentration auf Gefühle kann uns sogar von der strukturellen Arbeit ablenken, die geleistet werden muss. MN:  Ich stimme dir voll und ganz darin zu, dass Strukturen und Gesetze von entscheidender Bedeutung sind. Die Positionen, die ich bezüglich dieser Fragen vertrete, werden sich im weiteren Verlauf zeigen. Doch Gesetze lassen sich nicht ohne die Herzen und Köpfe der Menschen in Kraft setzen oder aufrechterhalten. In einer Monarchie ist das nicht der Fall; alles, was der Monarch benötigt, ist ausreichend Angst, um Gehorsam zu bewirken. In einer Demokratie benötigen wir viel mehr: Liebe zum Guten, Hoffnung auf die Zukunft, Entschlossenheit, die zerstörerischen Kräfte des Hasses, des Ekels und des Zorns zu bekämpfen – die allesamt, so behaupte ich, durch die Angst genährt werden. VA ist nicht zufrieden und sollte es auch nicht sein, da bislang nur Behauptungen aufgestellt, jedoch keine Argumente oder Analysen angeboten wurden. Dennoch sollte VA inzwischen eine allgemeine Vorstellung davon haben, in welche Richtung meine Argumentation zielt. Die gegenwärtigen Probleme – wirtschaftliche, soziale und die Sicherheit betreffende – sind kompliziert und widersetzen sich einfachen Lösungen. Wir wissen kaum, wie die Arbeitswelt sich entwickeln und in den nächsten Jahrzehnten aussehen wird. Auch die steigenden Kosten der Gesundheitsversorgung stellen jede Partei und jeden führenden Politiker vor unglaublich schwierige Herausforderungen. Eine Hochschulausbildung, die für eine dauerhafte Beschäftigung zunehmend wichtig wird, gerät für viele amerikanische Bürger immer mehr außer Reichweite. Die verwirrende politische Situation im Nahen und im Fernen Osten sollte zwar von allen verstanden werden, entzieht sich jedoch einer ein-

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fachen Analyse. Denken ist schwierig; sich der Angst zu ergeben und andere zu beschuldigen, ist einfach. VA könnte allerdings eine noch grundlegendere Frage stellen: Warum sollten wir uns in dieser Zeit der Krise überhaupt an einen Philosophen wenden? Worum geht es in der Philosophie, und wie kann sie uns helfen? Was Philosophie ist, wird in vielen unterschiedlichen historischen Traditionen verschieden beantwortet. Für mich geht es in der Philosophie nicht um dogmatische Aussagen. Es geht nicht darum, dass eine Person behauptet, tiefsinniger zu sein als andere, oder angeblich weise Aussagen trifft. Es geht darum, ein „geprüftes Leben“ zu führen, bescheiden angesichts der Tatsache, dass wir nur wenig wirklich verstehen, mit der Verpflichtung zu präzisen, wechselseitigen und aufrichtigen Argumenten sowie der Bereitschaft, anderen als gleichberechtigten Partnern zuzuhören und auf das, was sie vorbringen, zu reagieren. Philosophie in dieser sokratischen Form zwingt, bedroht oder verspottet niemanden. Sie kommt nicht mit nackten Behauptungen daher, sondern stellt stattdessen eine Denkstruktur auf, die den Zuhörer Schlussfolgerungen aus Prämissen, die er frei diskutieren kann, ziehen lässt. Sokrates debattierte in der Demokratie Athens mit zahlreichen Menschen. Er stellte fest, dass alle über die Fähigkeit zum Begreifen und zum Verständnis ihrer selbst verfügten. (Platon bringt dies zum Ausdruck, indem er zeigt, wie Sokrates ein Gespräch mit einem unterdrückten, ungebildeten Sklavenjungen führt und dieser einen komplizierten geometrischen Beweis findet.) Philosophisches Fragen geht von dieser grundlegenden Fähigkeit aus, doch es zeigt auch, dass die meisten von uns es vernachlässigen, diese zu kultivieren: Menschen (einschließlich Militärführer, kulturelle Autoritäten und Politiker, wie Sokrates herausfand) legen sich nicht wirklich Rechenschaft über das ab, was sie denken, und sie eilen auf der

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Grundlage unausgegorener, oft inkonsistenter Ideen zum Handeln. Die Philosophie lädt zum Dialog ein und respektiert den Zuhörer. Im Gegensatz zu den übertrieben selbstbewussten Bürgern, die Sokrates befragt hat (Euthyphro, Critias, Meletus), ist der philosophische Redner bescheiden und verletzlich: Seine Position ist transparent und damit möglicher Kritik ausgesetzt. (Seine oder ihre Position, denn Sokrates sagte, er würde gerne Frauen befragen, wenn auch nur im Jenseits, und Platon unterrichtete Frauen in seiner Akademie!) Sokrates hatte recht mit der Aussage, dass seine Methode eng mit den Zielen der demokratischen Selbstregierung verbunden ist, in der das Denken jedes Einzelnen zählt, und indem er darauf bestand, dass sie einen äußerst wertvollen Beitrag zum Leben in einer Demokratie leistet und die Qualität der öffentlichen Diskussion verbessert. Er sagte, er sei wie eine Bremse auf dem Rücken der Demokratie, die er mit einem „edlen, aber trägen Pferd“ verglich: Der Stachel der philosophischen Befragung sollte die Demokratie wachrütteln, damit sie ihrer Aufgabe besser gerecht werden könne. Dies ist kein Buch über öffentliche Ordnung oder Wirtschaftsanalyse, auch wenn beide Disziplinen für die Lösung unserer Probleme von entscheidender Bedeutung sind. Es ist allgemeiner und introspektiver. Sein Ziel ist ein besseres Verständnis einiger jener Kräfte, die uns zum Handeln bewegen, und insofern bietet es allgemeine Handlungsanweisungen. Doch sein vorrangiges Ziel ist Verstehen. Verstehen ist immer praktisch ausgerichtet, denn ohne es fehlt dem Handeln zwangsläufig die Richtung, und es wird von prinzipienlosen Einzelentscheidungen hin und her geworfen. Philosophen reden über viele Themen, die für die Demokratie relevant sind. Meine eigene Arbeit hat sich, wie viele philosophische Arbeiten in den letzten Jahrzehnten, mit politischen Institutionen und Gesetzen auseinandergesetzt und allgemeine Argumente darüber vorgelegt, was Gerechtigkeit ist und über welche Grundrechte

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oder -ansprüche sämtliche Staatsbürger verfügen. In den Kapiteln über die Verhinderung von Neid und die Gestaltung von Hoffnung werde ich einige dieser Ideen bezüglich der Handlungsfähigkeit von Menschen und der „menschlichen Fähigkeiten“ ansprechen. Ich bin der Meinung, dass sie uns auf unserem Weg helfen können, doch wird das nicht der Hauptschwerpunkt dieses Buches sein. In der anderen Hälfte meiner beruflichen Laufbahn habe ich mich auf das Wesen der Gefühle sowie auf ihre Rolle bei unserer Suche nach dem guten Leben konzentriert. Einer langen Tradition folgend, die sich (in der westlichen Philosophie) von Platon über moderne Denker wie Adam Smith und John Rawls erstreckt, habe ich (gestützt auf Psychologie und psychoanalytisches Denken ebenso wie auf Philosophie) dafür argumentiert, dass Gefühle eine wichtige Rolle in einem akzeptablen politischen Gemeinwesen spielen. Sie können eine Gemeinschaft destabilisieren und fragmentieren. Sie können aber auch eine bessere Zusammenarbeit und ein energischeres Streben nach Gerechtigkeit zur Folge haben. Gefühle sind nicht von Geburt an festgelegt, sondern werden durch soziale Kontexte und Normen auf zahllose Art und Weise geprägt. Das ist eine gute Nachricht, denn es bedeutet, dass wir viel Raum haben, die Emotionen unserer eigenen politischen Kultur zu gestalten. Es ist auch eine schlechte Nachricht – für Faulpelze und Menschen ohne Wissbegier: Es bedeutet, dass wir das Wesen von Angst, Hass, Zorn, Ekel, Hoffnung und Liebe erforschen und darüber nachdenken müssen, wie wir sie so gestalten können, dass sie gute demokratische Bestrebungen unterstützen, statt diese zu blockieren oder auszuhöhlen. Wir können uns der Verantwortung nicht entziehen, indem wir über unseren eigenen Hass oder unsere übertriebene Angst sagen: „Es tut mir leid, aber so sind die Menschen nun einmal.“ Nein, es gibt nichts Unvermeidliches oder „Natürliches“ an Rassenhass, Angst vor Einwanderern, der Leidenschaft, Frauen als zweitrangig

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zu behandeln, oder dem Ekel vor den Körpern von Menschen mit Behinderungen. Wir haben das zugelassen, wir alle, und wir können und müssen es rückgängig machen. Kurz gesagt: Wir müssen uns selbst erkennen und Verantwortung für uns selbst übernehmen. So ist es etwa die Aufgabe einer anständigen Gesellschaft, darauf zu achten, wie der Hass auf bestimmte Gruppen durch soziale Anstrengungen und institutionelle Entwicklungen minimiert werden kann. Selbst eine so einfache politische Entscheidung wie die Entscheidung, Kinder mit Behinderungen in „normale“ Klassenzimmer zu inkludieren, hat offensichtliche Folgen für die Ausprägungen von Angst und Aggression. Wir müssen die betreffende Frage untersuchen – in diesem und in vielen anderen Fällen – und dann, auf der Grundlage dessen, was wir verstanden haben, Richtlinien auswählen, die Hoffnung, Liebe und Zusammenarbeit bewirken, und solche vermeiden, die Hass und Ekel nähren. Manchmal können wir nur besseres Verhalten hervorbringen, während unter der Oberfläche weiterhin Hass brodelt. Manchmal können wir jedoch tatsächlich ändern, wie Menschen einander sehen und emotional aufeinander reagieren – wie dies im Fall der gemeinsamen Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderungen mit Sicherheit geschieht. (Es hilft, früh damit zu beginnen.) Die Philosophie für sich allein diktiert nicht sehr viele konkrete politische Entscheidungen, denn diese müssen in einem bestimmten Kontext getroffen werden und das Ergebnis einer Partnerschaft von Philosophie, Geschichts-, Politik-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften sowie der Soziologie sein. Doch die Philosophie gibt uns ein Gefühl dafür, wer wir sind, welche Probleme auf dem Weg vor uns liegen und in welche Richtung wir uns bewegen sollten. Und, wie gesagt, ihre Methoden, die eine gleichberechtigte Teilnahme, Respekt und Gegenseitigkeit umfassen, antizipieren auch einige wichtige Aspekte des Zustands, auf den wir uns zubewegen sollten.

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Sie ist Teil des Studiums unserer politischen Gegenwart, nicht das Ganze, doch die Philosophie kann uns allen helfen, ein „geprüftes Leben“ zu führen. Die Philosophie ist, wie ich gesagt habe, eine sanfte Disziplin. Sie nähert sich dem Menschen mit Respekt vor seiner vollen Menschlichkeit und ist in diesem Sinne eine Form der Liebe. Häufig kann sie unmissverständlich sagen: „Das ist falsch. Das ist keine Art zu leben.“ Aber sie tut dies, ohne Menschen auszugrenzen; sie verurteilt falsche Überzeugungen und schlechte Taten, behandelt jedoch Menschen immer mit Aufmerksamkeit und Respekt. Ich glaube, es ist nicht zu gewagt, die philosophische Herangehensweise an die Probleme Amerikas mit der Methode der gewaltfreien politischen Veränderung zu verbinden, wie sie im Leben und Werk von Martin Luther King Jr. beispielhaft zum Ausdruck kam. King (der eine wichtige Person in diesem Buch sein wird) bestand auf einer Haltung gegenüber anderen, die er Liebe nannte, auch wenn er gegen ungerechte Verhältnisse äußerst heftig protestierte. Wir müssen uns, so sagte er, unseren Gegnern trotz allem nicht mit Wut, sondern mit Liebe nähern. Er betonte sogleich immer, dass es sich dabei nicht um romantische Liebe handele, und sie erfordere nicht einmal, dass wir die Menschen mögen. Die Liebe, die er forderte, war eine Kombination aus Respekt vor der Menschheit, gutem Willen und Hoffnung: Wir behandeln Menschen wie Menschen, die zuhören und mitdenken und die schließlich gemeinsam mit uns etwas Schönes aufbauen können. Die Philosophie, wie ich sie hier praktizieren werde, teilt diesen Vorsatz und diese Hoffnung. Meine Argumentation beginnt, nicht gerade überraschend, mit der Angst und zeigt auf, dass diese sowohl chronologisch als auch kausal eine Vorrangstellung hat, da sie sehr früh von uns Besitz ergreift

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und uns dann den Rest unseres Lebens mehr oder weniger stark bestimmt. Diese Analyse wird uns bereits einige Strategien aufzeigen, mit denen sich die Angst eindämmen und „entgiften“ lässt, obwohl sie auch zu dem Schluss gelangen wird, dass wir uns von ihren Gefahren nicht vollständig befreien können. Im Anschluss daran betrachte ich dann drei Gefühle, die in unserem privaten und im öffentlichen Leben zum Teil unabhängig von der Angst auftreten, jedoch besonders destruktiv werden, wenn sie von Angst durchdrungen sind: Zorn, Ekel und Neid. Zunächst analysiere ich jedes der drei Gefühle und zeige dann ihre negativen Auswirkungen auf das politische Leben in einer Demokratie auf. Ein eigenes Kapitel widme ich sodann den negativen politischen Gefühlen gegenüber Frauen, die in unserem jüngsten politischen Diskurs eine so große Rolle gespielt haben. Ich analysiere die Beziehung zwischen dem Sexismus (den ich als eine Ansammlung von Ansichten definiere, die behaupten, dass Frauen Männern unterlegen sind) und der Frauenfeindlichkeit (die ich als Durchsetzungsstrategie definiere, als eine Art von virulentem Hass und durch Hass gesteuerten Verhaltens, das darauf abzielt, Frauen in einer untergeordneten Position zu halten). Ich verteidige hier die Auffassung, dass Frauenfeindlichkeit, die normalerweise, aber nicht notwendig auf sexistischen Überzeugungen beruht, generell ein toxisches Gebräu aus strafendem Zorn, körperlichem Ekel (der mit sexuellem Verlangen nicht unvereinbar ist) und Neid auf den zunehmenden Erfolg von Frauen im Wettbewerb mit Männern ist. Abschließend wende ich mich Hoffnung, Liebe und Arbeit zu, beziehungsweise wieder zu, denn jedes Kapitel enthält konstruktive Vorschläge zur Eindämmung oder Überwindung der schädlichen Aspekte der jeweils analysierten Gefühle. Was unsere Zukunft betrifft, bin ich vorsichtig optimistisch, und meine philosophische Analyse der Hoffnung schlägt Strategien vor, um Hoffnung, Glaube

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und die Liebe zur Menschheit zu fördern, gerade in einer Zeit, in der es besonders schwer zu glauben scheint, dass uns diese guten Gefühle leiten könnten. Obwohl ich einige aktuelle politische Beispiele verwende, um meine Thesen zu unterstreichen, ist es mein Ziel, zum Nachdenken, zur Selbstbeobachtung und zur kritischen Auseinandersetzung einzuladen. Zu diesem Zweck gehe ich häufiger auf historische Beispiele ein – vor allem aus dem antiken Griechenland und Rom, mit denen ich mich in meiner wissenschaftlichen Forschung lange eingehend beschäftigt habe. Wie ich in der Lehre festgestellt habe, denken wir oft besser und treten besser zueinander in Beziehung, wenn wir vom Alltag, in dem es um unsere unmittelbaren Ängste und Wünsche geht, einen Schritt zurücktreten.

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2 Angst: Früh und machtvoll

Du liegst im Dunkeln auf dem Rücken. Nass. Kalt. Hunger und Durst melden sich pausenlos. Sie sind eins mit dir, und du bist nichts als Schmerz. Du versuchst zu schreien, und es gelingt dir, irgendwie ein Geräusch von dir zu geben – doch nichts geschieht. Du versuchst oder beginnst zumindest damit, dich zu bewegen, irgendwohin zu gelangen, ganz gleich wohin, nur weg von dieser Qual. Aber deine Gliedmaßen bewegen sich nicht. Es gelingt dir nicht, sie zu irgendetwas anderem zu bringen, als sich nutzlos in der Luft hin und her zu bewegen. Du siehst, du hörst, du fühlst. Doch du kannst dich nicht bewegen oder etwas tun. Du bist vollkommen hilflos, einfach hilflos. Das ist der Stoff, aus dem Albträume bestehen. Die meisten von uns haben solche Albträume von Hilflosigkeit, in denen wir versuchen, vor einer schrecklichen Gefahr davonzulaufen, aber unsere Beine ihren Dienst versagen; oder wir versuchen zu schreien, bringen aber keinen Ton heraus oder niemand hört uns. In diesen Albträumen empfinden wir eine schreckliche Angst vor bösen Menschen oder Monstern, die uns verfolgen, aber eine noch größere Angst vor unserer eigenen Ohnmacht und vielleicht auch Hass darauf.

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Angst: Früh und machtvoll

Diese Horrorgeschichte ist zugleich der unspektakuläre Alltag jedes menschlichen Babys. Kälber, Fohlen, Elefantenbabys, Welpen, Giraffen- oder Delphinbabys – alle anderen Tiere lernen sehr schnell, sich fortzubewegen, mehr oder weniger kurz nach der Geburt. Wenn sie nicht aufrecht stehen, von der Mutter Milch trinken und sehr bald neben der Mutter gehen oder schwimmen und ihren eigenen Körper gebrauchen können, um die Nahrung zu erlangen, die sie benötigen, dann sind sie schwer geschädigt und werden so gut wie sicher sterben. Hilflosigkeit bedeutet das Ende. Nur der Mensch ist sehr lange hilflos, und allein der Mensch überlebt diesen hilflosen Zustand. Der römische Dichter Lukrez, einer meiner Lieblingsautoren in Bezug auf das Thema Emotionen, beschrieb im 1. Jahrhundert v. Chr. das Baby mit folgenden Worten: Wie der Schiffer, den rasende Wogen warfen an Land, liegt nackt es am Boden, stumm und bedürftig jeglicher Hilfe des Lebens, sobald in des Lichtes Bereiche es aus der Mutter Leib die Natur mit Wehen geschleudert, füllt mit traurigem Schrein die Gegend, wie billig für einen, dem soviel an Leid im Leben bleibt zu durchstehen.1 1 Zitiert nach: Lukrez, De rerum natura/Welt aus Atomen, übers. von Karl Bücher, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2008, 5, Zeile 222–227. Titus Lucretius Carus lebte von etwa 99 bis 55 v. Chr., also zu Beginn des langen Abgleitens der Römischen Republik in eine Tyrannei. Als Schüler des griechischen Philosophen Epikur (341– 270 v. Chr.) schuf er ein sechsbändiges episches Gedicht in daktylischen Hexametern, um Epikurs Lehren über Angst, Aggression und den Aufbau des Universums bekannt zu machen. Da Lukrez Zugang zu mehr Schriften Epikurs hatte als wir, ist es schwer zu sagen, wie viel auf seinen schöpferischen Geist zurückgeht, doch sicherlich stammen alle brillanten poetischen Bilder und zumindest ein Teil der Philosophie (vor allem diejenigen Teile, die den Epikureismus mit römischen Werten in Einklang bringen) von ihm. Es gibt viele gute Übersetzungen. In diesem Buch erstelle ich meine eigenen englischen Übersetzungen, die eher unbeholfen und wörtlich sind; meine Lieblingsübersetzung, die den Geist der Dichtung am besten einfängt, ist diejenige von Rolfe Humphries (Bloomington 2008).

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Andere Tiere, so bemerkt er trocken, benötigten keine Rasseln oder Babysprache; sie benötigten keine unterschiedliche Kleidung zu verschiedenen Jahreszeiten. Sie müssten sich nicht bewaffnen, sie bedürften keiner hohen Stadtmauern. Schließlich lieferten die Erde und die Natur selbst alles, was jedes andere Tier brauche. Wir werden in eine Welt geboren, der wir nicht gewachsen sind. (Und in einem entscheidenden Sinn sind wir dies niemals wirklich.) Furchtbar zart und verletzlich liegen wir hilflos da und warten darauf, dass andere uns das geben, was wir brauchen – Nahrung, Geborgenheit und Beruhigung. Nach dem Leben im Mutterleib mit besänftigenden Wiegebewegungen, einer automatischen Ernährung und unproblematischen Ausscheidung gibt es plötzlich eine abrupte Trennung; man ist plötzlich der kalten Luft ausgesetzt und auf schmerzlich einsame Weise ohnmächtig. Die Diskrepanz zwischen der sehr langsamen körperlichen Entwicklung des menschlichen Kindes und seiner schnellen kognitiven Entwicklung ist in vielerlei Hinsicht eine Albtraumgeschichte.2 Man sieht, was man braucht, kann sich jedoch nicht bewegen, um es zu erlangen. Man fühlt Schmerz, kann ihn aber nicht beenden. Spätere Albträume erinnern uns zweifellos an diese frühe Qual. Neurologische Forschungen über die Angst gelangen zu dem Schluss, dass die Narben der frühen Angstursachen bleiben und sich dem Wandel widersetzen.3

2 Eine brillante Nachbildung, die im Detail auf dem basiert, was wir heute aus der Forschung wissen, ist das Tagebuch eines Babys des Psychologen Daniel Stern (München 1990); eine prosaischere Version findet sich in seinem Buch Die Lebenserfahrung des Säuglings, Stuttgart 2003. 3

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Vgl. die Diskussion über Joseph LeDoux weiter unten.

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Tatsächlich wissen wir, was mit uns geschieht.4 Im Alter von einem Monat kann ein Kind den Unterschied zwischen seinen eigenen Eltern und anderen Menschen erkennen, obwohl es erst viel später eine Person als Ganzes wirklich sehen kann oder versteht, dass die blinkenden Bilder, die sich in sein Blickfeld und aus ihm heraus bewegen, stabile Entitäten sind. Tatsächlich benötigt ein Kleinkind Monate, bis es den Unterschied zwischen Teilen seines eigenen Körpers (Füße, Hände) und physischen Gegenständen außerhalb seines Körpers begreift. Kleinkinder experimentieren ständig mit Gleichartigkeit und Äußerlichkeit, greifen nach ihren eigenen Zehen, stecken sich Teile des eigenen Körpers (Daumen, Finger) und äußere Gegenstände (das Ende einer Decke, einen Schnuller) in den Mund. Doch all dieses Lernen entfaltet sich – und bloßes Schreien wird allmählich zu halb artikulierten Silben – lange, bevor ein Kind selbstständig gehen oder gar krabbeln kann. Normalerweise überleben wir diesen Zustand. Wir überleben ihn jedoch nicht, ohne davon ge- und verformt zu werden. Die Angst, genetisch gesehen die erste unter den Emotionen, bleibt als Untergrund aller Gefühle vorhanden. Sie infiziert sie alle und nagt an den Rändern von Liebe und Gegenseitigkeit. Es gibt aber auch gute Zeiten. Wie Lukrez weiß, ist diese Welt des Schmerzes auch eine Welt der Freude. „An die Ufer des Lichts“ sind wir gekommen, in eine Welt von bewundernswerter Schönheit und voller aufregender Dinge. Das Licht verzaubert, und praktisch die erste freiwillige Bewegung eines Kindes besteht darin, mit seinen 4 Meine Ansichten lehnen daher Freuds einfachen Hedonismus ab, der Säuglingen nicht besonders viel an Objektbewusstsein zuschreibt; wie in anderen Arbeiten auch, folge ich hier der Schule der „Objektbeziehungen“ von Denkern wie William R. D. Fairbairn und besonders Donald Winnicott, der in den USA heute der dominierende Theoretiker in der Ausbildung von Psychoanalytikern ist. Melanie Klein steht dieser Schule nahe, ist jedoch eine eigenständige Analytikerin, die sich einer Kategorisierung entzieht. Detaillierte Diskussionen über die Ansichten aller drei findet man in meinem Buch Upheavals of Thought: The Intelligence of Emotions (New York 2001) in Kapitel 5.

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Augen dem Licht zu folgen. Doch die beginnende Freude und Liebe werden bald vom Schmerz der Not überwältigt. Es gibt allerdings auch Zeiten einer ruhigen Behaglichkeit: Du saugst an der Mutterbrust oder der Flasche. Du liegst auf einem warmen Körper, der ein bisschen süß, ein bisschen salzig riecht. Du wirst von tröstenden Armen umschlossen. Aber du selbst hast das nicht herbeigeführt. Irgendwie ist es dir einfach zugestoßen, und du hast noch keine Vorstellung davon, wie du es herbeiführen kannst, wenn du es brauchst. Selbst wenn du zu entdecken beginnst, dass dem Schreien (nach einer Pause) regelmäßig Nahrung und Beruhigung folgt, ist es noch immer nicht so, dass du dich selbst trösten oder ernähren könntest. Die einzige Möglichkeit, das zu bekommen, was du brauchst, besteht darin, dass ein anderer Teil der Welt es dir gibt. Die Politik beginnt dort, wo wir beginnen. Die meisten politischen Philosophen waren Männer, und selbst wenn sie Kinder hatten, verbrachten sie normalerweise keine Zeit mit ihnen oder beobachteten sie nicht genau. Die poetische Fantasie von Lukrez führte bereits ihn an Orte, an die er in seinem Leben wahrscheinlich nicht kam. Doch die Philosophie machte große Schritte nach vorn, als einer der großen frühen Theoretiker der Demokratie, Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) – ein bedeutender Begründer der revolutionären, anti-monarchistischen Politik des 18. Jahrhunderts – mit einem tiefen Verständnis der Psychologie der Kindheit und ihrer Gefahren für das demokratische Projekt über die Erziehung von Kindern schrieb.5 Rousseau war das Gegenteil ei5 Rousseaus Ansichten sind nicht die meinen; sein Werk Der Gesellschaftsvertrag (1762) schreibt unter der Überschrift „Zivilreligion“ eine zwingende Homogenität des Denkens und Sprechens vor, ohne Raum für die Rede-, Presse- und Vereinigungsfreiheit zu schaffen, die seinen amerikanischen Kollegen und britischen Denkern wie John Locke und später John Stuart Mill so wichtig waren.

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nes liebenden Vaters: Tatsächlich gab er sämtliche seiner Kinder (vier oder fünf, alle unehelich) bei der Geburt in ein Findelhaus und notierte sich nicht einmal ihre Geburtsdaten. Irgendwie aber verstand er durch seine verschiedenen Experimente beim Unterrichten von kleinen Kindern anderer Menschen, durch Gespräche mit Frauen, durch Erinnerungen an seine eigene Kindheit, durch seine genaue Lektüre von Lukrez und anderen römischen Philosophen sowie durch seine eigene poetische Fantasie, wie die frühe Not Probleme für die von ihm angestrebte Form der politischen Ordnung schafft. Das menschliche Leben, das verstand Rousseau, beginnt nicht in der Demokratie, sondern in der Monarchie. Das Baby, an dem die Menschen, die es pflegen, mit großer Liebe hängen, hat keine andere Überlebensmöglichkeit, als andere zu versklaven. Babys sind so schwach, dass sie entweder herrschen oder sterben müssen. Da sie zu gemeinsamer Arbeit oder Gegenseitigkeit nicht fähig sind, können sie nur durch Befehle und Drohungen etwas bekommen, indem sie die bewundernswerte Liebe ausnutzen, die ihnen von anderen entgegengebracht wird.6 (In Briefen erklärte Rousseau, dass dieser Umstand der Grund dafür war, weshalb er seine Kinder abgab: Er hatte einfach keine Zeit, nach der Pfeife eines Babys zu tanzen.) 6 Rousseau, Émile oder Über die Erziehung, Leipzig o. J., Buch I: „So entsteht gerade aus ihrer Schwäche, der zunächst das Abhängigkeitsgefühl entspringt, später die Vorstellung des Befehlens und Herrschens.“ Übers. von Herrman Denhardt, gemeinfreier Text verfügbar unter www.zeno.org/Philosophie/M/Rousseau, +Jean-Jacques/Emil+oder+Ueber+die+Erziehung (abgerufen am 22.10.2018). Rousseau glaubte, dass man sehr früh damit anfangen kann, sich dieser ängstlichen Abhängigkeit zu erwehren, indem man freie Beweglichkeit und eigenständige Sorge um das eigene Selbst fördert. Den Einzelheiten seiner Ansichten folge ich nicht; vielmehr entwickle ich Rousseaus ursprüngliche Einsichten auf meine eigene Weise weiter, beeinflusst von Psychologen wie David Stern und vor allem von den Ansichten Donald Winnicotts.

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Welche Emotionen beginnen im sich entfaltenden Leben des Kindes, Wurzeln zu schlagen? In Bezug auf das Leben im Mutterleib ist es schwer, von Emotionen zu reden, obwohl es gegen Ende der Schwangerschaft schließlich Empfindungen gibt – denn Emotionen erfordern ein gewisses – wenn auch verworrenes – Bewusstsein äußerer Objekte und einige Gedanken über diese Objekte, wie rudimentär und ungeformt sie auch sein mögen. Emotionen passen also in die Welt nach der Geburt, in der wir von den Quellen des Guten getrennt sind und uns nach ihrer Anwesenheit sehnen, wobei wir uns dunkel bewusst sind, dass sie irgendwo da draußen existieren, unserer Kontrolle entzogen. Für den Säugling, der in diesem Albtraumszenario gefangen ist, ist eine überwältigende Emotion, die einen prägenden Einfluss auf das tägliche Leben hat, die Angst. Erwachsene sind über das vergebliche Strampeln des Babys amüsiert und von seinem Schreien ungestört, da sie wissen, dass sie es füttern, kleiden, beschützen und pflegen werden. Sie reagieren auf sein offenkundiges Verlangen nach Beruhigung, indem sie es nahe bei sich halten, es in Babysprache anreden (die schon im alten Rom bekannt war!), es schaukeln und so die Sicherheit der Gebärmutter nachahmen. Aber die Erwachsenen selbst ängstigen sich nicht, da sie nicht denken, dass etwas Schlimmes vor sich geht – es sei denn, es gibt andere Gefahrensignale, wie etwa Fieber oder die Tatsache, dass das Baby keine Milch verträgt. In der Welt des Babys kommen jedoch Vertrauen, Regelmäßigkeit oder Sicherheit nicht vor. Seine begrenzte Erfahrung und kurzen Zeithorizonte haben zur Folge, dass vollkommen wirklich nur die gegenwärtige Qual ist, solange sie andauert, und die Momente freudiger Beruhigung, flüchtig und instabil, führen allzu schnell zurück zu Mangel und Schrecken. Auch die Freude selbst ist bald von Angst beeinträchtigt, da sie dem Säugling flüchtig erscheint und es allzu wahrscheinlich ist, dass sie ihm wieder entgleitet.

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Die Definition von Angst

Die Definition von Angst Wie Psychologen lieben auch Philosophen Definitionen. In jedem Forschungsbereich gibt es Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Angst; im Licht der jüngsten interdisziplinären Forschung über menschliche und tierische Emotionen hat sich dennoch ein Konsens herausgebildet. Zu diesem Konsens gehört die Vorstellung, dass fast alle Emotionen (sowohl bei Menschen als auch bei anderen Tieren) eine Art Informationsverarbeitung in Bezug auf das Wohlbefinden des Tieres beinhalten. Selbst Tiere, die über keinerlei Sprache verfügen, haben in irgendeiner Form Gedanken darüber, was gut und was schlecht für sie ist, und diese Gedanken werden in ihre Emotionen integriert. Emotionen sind also nicht wie geistlose Energiestöße: Sie konzentrieren sich auf die Außenwelt und bewerten Objekte und Ereignisse in dieser Welt. Typischerweise registrieren sie unsere animalische Verletzlichkeit, unsere Abhängigkeit von und unsere Verbundenheit mit Dingen außerhalb unserer selbst, die wir nicht vollständig kontrollieren können. (Deshalb traten die griechischen und römischen Stoiker in der Antike dafür ein, fast sämtliche Emotionen zu eliminieren, abgesehen von einigen wenigen, wie etwa dem Staunen über das Universum oder der heiteren Freude über die eigene Integrität, die für sie keine unkluge Abhängigkeit von „Glücksgütern“ zu beinhalten schienen.7) Angst ist nicht nur die erste Emotion im Leben des Menschen, sie ist auch diejenige, welche wir mit den meisten Tieren gemeinsam haben. Um Mitgefühl empfinden zu können, muss man über 7 Ich verteidige dieses Gesamtbild in: Upheavals of Thought: The Intelligence of Emotions, New York 2001, wobei ich mich sowohl auf die Philosophie als auch auf die Psychologie stütze. Einige Aspekte meiner Gesamtsicht sind zwar umstritten, jedoch nicht die hier dargelegten allgemeinen Vorstellungen.

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Angst: Früh und machtvoll

eine ziemlich komplexe Abfolge von Gedanken verfügen: dass ein anderes Wesen leidet, dass dieses Leiden schlecht ist, dass es gut wäre, wenn es gelindert würde. Einige Tiere (Affen, Elefanten) haben diese Emotion, aber sie erfordert relativ komplizierte Gedankengänge. Um nicht nur Irritation oder primitive Wut, sondern wirklichen Zorn empfinden zu können, muss man kausal denken können: Jemand hat mir etwas angetan, und das war falsch. Doch um Angst haben zu können, braucht man nur das Bewusstsein einer drohenden Gefahr. Aristoteles definiert Angst als Schmerz angesichts der scheinbaren Anwesenheit einer bevorstehenden schlechten Sache, kombiniert mit dem Gefühl, dass man keine Macht hat, sie abzuwehren.8 Das ist eine recht gute Definition. Die damit verbundenen Gedanken erfordern keine Sprache, sie erfordern nur die Wahrnehmung und ein gewisses Bewusstsein vom eigenen Wohl und Wehe, wie vage es auch immer sein mag. Etwas Schlimmes droht, und ich sitze in der Klemme. Doch wie steht es um Gefühle? Angst wird gewiss von starken subjektiven Gefühlen begleitet; oft spricht man von einem „Zittern“ oder davon, dass es einen „schüttelt“. Sollten wir das in die Definition mit aufnehmen und sagen, dass, wenn diese Aspekte fehlen, die Emotion nicht wirklich Angst sein kann? Es gibt drei Gründe, aus denen wir das nicht tun sollten. Zunächst erleben verschiedene Menschen Angst unterschiedlich, je nach ihrer Lebensgeschichte und ihrem Charakter. Wollen wir wirklich behaupten, dass einem mutigen Soldaten die Knie schlottern müssen, wenn er normale menschliche Todesangst empfindet? Aristoteles sagte, dass selbst die Mutigsten den Tod fürchten, und sie wären verrückt, wenn sie es nicht täten.9 Wir wünschen uns keine Soldaten, denen ihr Leben 8 Aristoteles, Rhetorik, II, 5, 1382a21–25. 9 Aristoteles, Nikomachische Ethik, III, 9, 1117b7–16.

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Die Definition von Angst

nichts wert ist. Doch im Falle des disziplinierten Soldaten drückt sich das Bewusstsein der Gefahr meist nicht als Zittern aus. Wir können noch weiter gehen: In vielen Fällen haben die Menschen Angst, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Jeden Tag sind die meisten von uns in vielem von dem, was wir tun, durch die Angst vor dem Tod motiviert. Wir laufen nicht vor Autos auf die Straße (es sei denn, unsere Smartphones sind uns lieber als unser Leben!). Wir versuchen, auf unsere Gesundheit zu achten, wir gehen zum Arzt und so weiter. Die Angst vor dem Tod ist oft sehr nützlich, aber sie ist meistens unbewusst, genau wie der Glaube an die Schwerkraft oder der Glaube an die Festigkeit physischer Gegenstände – sie sind unbewusst und doch ist das Vertrauen darauf allgegenwärtig. Wir benötigen keine psychoanalytische Doktrin der Verdrängung, damit wir verstehen, dass die Angst häufig unter der Oberfläche des Bewusstseins lauert. Doch ich denke, dass wir noch weiter gehen können und sollten: Es ist für ein friedliches Alltagsleben von wesentlicher Bedeutung, dass wir diese Angst in den Hintergrund unseres Bewusstsein drängen. Lukrez, der wahrscheinlich der erste Theoretiker der unbewussten Angst war, merkt an, dass diese Anstrengung manchmal zur Last wird. Statt zu zittern, haben wir vielleicht das Gefühl, dass ein „großer Berg auf unserer Brust sitzt“. Oder wir zeigen ein hektisches Vermeidungsverhalten, eine rastlose Aktivität, die nur auf Selbstablenkung abzielt. Denken wir an das Reisen mit dem Flugzeug. Manche Menschen haben eine bewusste Flugangst. Wesentlich mehr Leute drängen diese Angst jedoch in den Hintergrund ihres Bewusstseins, empfinden aber dennoch eine innere Last oder eine Anspannung und ein stärkeres Bedürfnis als sonst, sich mit E-Mails, Essen oder ziellosen Gesprächen abzulenken. Andere sind vielleicht einfach nur gereizter als sonst oder weniger fähig, sich zu konzentrieren.

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Schließlich neigen Wissenschaftler heute dazu, Aristoteles zuzustimmen, der ein bedeutender Biologe war und viele Theorien über die Emotionen der Tiere aufstellte: Alle Tiere, nicht nur Menschen, haben Angst vor etwas Schlechtem in der Welt außerhalb von ihnen, das ihnen Schaden zufügen könnte.10 Es wird allgemein angenommen, dass sich die Angst entwickelt hat, weil sie zur Selbsterhaltung der Tiere beiträgt. Aber wenn wir sagen sollten, wie sich die Angst für eine Ratte anfühlt: Wie sollen wir sie beschreiben? Wir können sicher sein, dass Tiere über eine reiche subjektive Erfahrung verfügen, aber es wäre sehr voreilig, so zu tun, als wüssten wir, was sie fühlen. Angst umfasst also Gefühle, aber es ist schwer, Angst in Bezug auf eine bestimmte Art von Gefühl zu definieren. Wir befinden uns auf sichererem Boden, wenn wir uns an die Art und Weise halten, wie uns Objekte als gut oder schlecht bewusst werden, denn diese scheint ein unausweichlicher, zentraler Teil der Angst zu sein und ist notwendig, um das Verhalten von Tieren zu erklären. Sagen wir also durchaus, dass die subjektive Seite der Angst wichtig ist, und nehmen wir Dichter und Schriftsteller zu Hilfe, um ihre vielen Formen und verschiedenen Fälle zu beschreiben. Doch konzentrieren wir uns zunächst auf das Bewusstsein von Objekten, das all diese Formen zusammenhält. Was gibt es diesbezüglich über das Gehirn zu sagen? An dieser Stelle müssen wir aus der jüngsten Forschung lernen. In seinem wichtigen Buch Das Netz der Gefühle11 hat der Neurowissenschaftler Joseph LeDoux meisterhaft dargelegt, auf welche Weise das Gefühl der Angst besonders eng mit der Amygdala verbunden ist, einem mandelförmigen Organ an der Unterseite des Gehirns. Wenn Tiere Angst signalisieren oder ihr Verhalten vernünftigerweise als von 10 Aristoteles, Historia animalium, vgl. die vielen Hinweise im gesamten Verlauf des Buches. 11 München 2004.

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Die Definition von Angst

Angst bestimmt erklärbar ist, ist die Amygdala in einem erregten Zustand. LeDoux hat außerdem gezeigt, dass bestimmte Auslöser beim Menschen Reaktionen hervorrufen, die mit der Angst in Beziehung stehen, zweifellos durch gespeicherte evolutionäre Mechanismen: Zum Beispiel bringt die Gestalt einer Schlange die Amygdala immer auf Touren. Die Amygdala ist ein ungewöhnlich primitives Organ. Sie findet sich bei sämtlichen Wirbeltieren, unabhängig davon, wie fortgeschritten ihr übriger Wahrnehmungs- und Erkenntnisapparat ist, und sie hat überall die erkennbar gleiche Form. Die Rolle der Amygdala hilft eindeutig dabei zu erklären, warum Angst allen Tieren zu eigen ist. Wenn wir Angst erleben, greifen wir auf ein gemeinsames tierisches Erbe zurück und nicht nur auf ein Primaten- oder gar Wirbeltiererbe. Die Angst geht direkt auf das Gehirn der Reptilien zurück. LeDoux ist vorsichtig und sagt nicht, dass die Angst „in“ der Amygdala sitzt oder dass das Wissen um die Rolle der Amygdala die Angst vollständig erklärt. Erstens hat er keine Experimente an Menschen durchgeführt. Zweitens ist er sich durchaus dessen bewusst, dass bei allen Tieren die Angst auf dem gesamten Netzwerk des Gehirns beruht und dass die Amygdala ihre Funktion nur aufgrund ihrer Rolle in einem komplexeren System erfüllt. Wenn dies bei Ratten der Fall ist, trifft es mit noch größerer Wahrscheinlichkeit auf den Menschen zu. Der Mensch bezieht seine Informationen über Gefahren aus vielen Quellen: aus der Wahrnehmung, aus der Sprache, aus vernünftigen Schlussfolgerungen. Außerdem ist das menschliche Gehirn ziemlich anpassungsfähig, und es gibt wahrscheinlich viele Unterschiede zwischen den Individuen, was die Art und Weise betrifft, auf die ihr Gehirn eine einzige Emotion verarbeitet. Wir gelangen daher zu keiner guten Erklärung der Angst, wenn wir einfach nur die Zustände des Gehirns beschreiben. Eine brauchbare

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Erklärung muss über das subjektive Bewusstsein lebender Wesen von Objekten und ihre diffusen oder noch unausgereiften Gedanken über Situationen oder Objekte reden, die als schädlich für das Selbst (ein Begriff, der bei den meisten Tieren und bei menschlichen Kleinkindern ebenfalls ein vager, unvollständiger Begriff sein wird) angesehen werden. Dieses Bewusstsein wird im Laufe der Zeit durch Lernen vermittelt. Wir erschließen uns die „Landkarte“ unserer Welt und lernen, was in ihr gut und was schlecht ist. Dies lässt Angst als menschlicher und weniger primitiv erscheinen. Dennoch ist es wichtig zu betonen, dass Angst ein Gefühl ist, das eine Ratte in einer Form haben kann, die sich von der eines menschlichen Kleinkindes nicht allzu sehr unterscheidet. Auch Ratten verfügen über eine mentale Landkarte, in der Gut und Böse verzeichnet sind, allerdings ohne Sprache oder höhere Denkfunktionen. Und auch wenn sich unseren Urerfahrungen mit der Angst später komplizierte, erlernte Formen dieser Emotion anschließen, so hebt LeDoux doch hervor, dass die frühe Konditionierung der Angst nachhaltige Auswirkungen auf einen Organismus hat; sie erweist sich als nur äußerst schwer rückgängig zu machen. Wir alle wissen, wie die Angst in Zeiten der Gefahr anschwillt, wie sie unsere Träume steuert.

Die Politik der Angst Angst ist nicht nur primitiv, sie ist auch asozial. Wenn wir Mitgefühl empfinden, sind wir nach außen gerichtet: Wir denken an das, was mit anderen geschieht, und fragen uns, wodurch es verursacht wird. Wir schreiben einem Tier Mitgefühl nur dann zu, wenn wir davon ausgehen, dass es Teil eines reichen sozialen Netzwerks ist. Hunde, Affen und Elefanten kümmern sich wahrscheinlich mitfühlend um das Schicksal anderer lebender Wesen in ihrer Welt. Wissenschaftler, die mit diesen Tierarten arbeiten, kommen zu dem Schluss, dass

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Die Politik der Angst

sie über komplizierte Formen des sozialen Bewusstseins und die damit verbundenen Emotionen verfügen. Aber um Angst zu spüren, braucht man keine Gesellschaft; man braucht nur sich selbst und eine bedrohliche Welt. Angst ist in der Tat sehr narzisstisch. Sie vertreibt alle Gedanken an andere, selbst wenn diese bereits in irgendeiner Form in uns verwurzelt sind. Die Angst eines Säuglings konzentriert sich vollständig auf seinen eigenen Körper. Selbst wenn wir später in der Lage sind, uns um andere zu sorgen, treibt die Angst diese Sorge oft aus und wirft uns auf die Stufe eines kindlichen Solipsismus zurück. Soldaten beschreiben die Erfahrung der Angst im Kampfgeschehen als eine lebendige innere Konzentration auf ihren ganzen Körper, der zu ihrer einzigen Welt wird.12 (Dies ist der Grund, weshalb sich die militärische Ausbildung so streng auf den Aufbau von Loyalität im Team konzentrieren muss: Sie muss einer tief sitzenden gegenläufigen Tendenz entgegenwirken.) Oder denken wir an unseren ängstlichen Umgang mit Ärzten: Wenn wir eine bedrohliche Diagnose erhalten – oder selbst wenn wir nur zu einer Routineuntersuchung gehen und annehmen, dass wir möglicherweise eine schlechte Nachricht erhalten könnten –, sind wir wahrscheinlich völlig auf uns selbst konzentriert und in Alarmbereitschaft. (Die häufige Erfahrung eines Blutdruckanstiegs in einer Arztpraxis ist ein Zeichen für die Rückkehr der Angst der Hilflosigkeit.) Oft haben wir natürlich Angst um unsere Kinder und andere uns nahestehende Menschen und sind für sie im Zustand hoher Alarmbereitschaft. Doch das bedeutet lediglich, dass das Selbst sich erweitert hat, und das intensive schmerzhafte Bewusstsein der Gefahr für das eigene vergrößerte Selbst vertreibt jegliche Gedanken an die restliche Welt. 12 Eine bemerkenswerte Darstellung findet man in Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues, Berlin 1929, S. 55 ff. Remarque diente im Alter von achtzehn Jahren für mehrere Monate an der Westfront, bevor er im Kampf schwer verletzt wurde; den Rest des Krieges verbrachte er in einem Lazarett.

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Der bedeutende Schriftsteller Marcel Proust stellt sich ein Kind (seinen Erzähler) vor, das besonders zur Schlafenszeit ungewöhnlich anfällig für Angst bleibt.13 Welches Vorhaben suggeriert die panische Angst dem jungen Marcel? Er sollte seine Mutter dazu bringen, in sein Zimmer zu kommen, zu bleiben und erst so spät wie möglich wieder zu gehen. (Er hebt hervor, dass der Trost ihrer Anwesenheit bereits durch das Bewusstsein getrübt ist, dass sie bald wieder gehen wird.) Marcels Angst zwingt ihn, andere kontrollieren zu müssen. Was seine Mutter glücklich machen würde, interessiert ihn nicht. Von Angst beherrscht, braucht er sie als jemanden, der ihm gehorcht. Dieses Muster ist ein Kennzeichen aller seiner späteren Beziehungen, besonders der zu Albertine, seiner großen Liebe. Er kann Albertines Unabhängigkeit nicht ertragen. Sie macht ihn zu ängstlich. Die fehlende Kontrolle über sie macht ihn verrückt vor Angst und Eifersucht. Das traurige Ergebnis, von dem er mit großer Selbsterkenntnis erzählt, ist, dass er sich bei Albertine nur dann sicher fühlt, wenn sie schläft. Er liebt sie nie so, wie sie ist, denn so, wie sie ist, ist sie nicht sein. Proust bekräftigt Rousseaus Standpunkt: Angst ist das Gefühl eines absoluten Monarchen, dem nichts und niemand sonst etwas bedeutet. (Rousseau nahm an, die Könige von Frankreich könnten kein Mitgefühl für die Menschen aufbringen, die sie regieren, da sie sich keine gemeinsame Welt oder Gegenseitigkeit mit ihnen vorstellen könnten.)14 So hätte es nicht sein müssen. Andere Tiere können – fast sobald sie Angst empfinden – selbstständig handeln, und ihre Angst hält sich, soweit wir das sagen können, in Grenzen und ist kein Hindernis für Fürsorge und Kooperation. Elefanten zum Beispiel zeigen fast von Geburt an ein aufeinander bezogenes Verhalten in 13 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band I. Verfügbar in mehreren deutschen Übersetzungen. 14

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Vgl. Rousseau, Émile, a.a.O., Buch IV.

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der Gruppe ihrer Herde. Sie laufen zu erwachsenen weiblichen Tieren, um sich geborgen zu fühlen, aber sie spielen auch mit anderen jungen oder ausgewachsenen Elefanten und lernen allmählich das Gefühlsvokabular, welches das Leben der Elefanten so besonders gemeinschaftlich und altruistisch macht. Das menschliche Baby, machtlos wie es ist, hat nur eine Möglichkeit, das zu bekommen, was es will: Es muss andere Menschen benutzen.

Fürsorge, Gegenseitigkeit, Spiel Wie überwinden Kleinkinder den Narzissmus der Angst? Unsere düstere Erzählung muss nun differenzierter werden, denn wir wissen, dass wir viel mehr sind als dieses herrische Baby, das andere dazu zwingt, seine Gebote zu befolgen. Und wenn wir darüber nachdenken, wie wir uns von infantilem Narzissmus befreien können, könnte uns das dabei helfen, darüber zu reflektieren, wie wir uns aus unserer äußerst narzisstischen und von Angst getriebenen politischen Gegenwart befreien können. Zeiten der Geborgenheit und Freude lassen Liebe und Dankbarkeit entstehen. Diese Gefühle entstehen später in der Entwicklung und sind von komplizierterer Struktur als die Angst. Liebe, die mehr als ein narzisstisches Bedürfnis ist, verlangt die Fähigkeit, die andere Person als eine eigenständige Person zu sehen, sich vorzustellen, was diese andere Person fühlt und will, und dieser Person ein eigenes Leben jenseits von sklavischer Abhängigkeit zu ermöglichen. Es handelt sich demnach um einen Schritt aus der Monarchie hin zur demokratischen Gegenseitigkeit. Diese Bewegung ist ungleichmäßig, taumelnd und unsicher, aber die Fähigkeit, sich in das Leben eines anderen Menschen hineinzuversetzen, unterstützt sie ebenso wie die Erwiderung

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von Liebe, die ausgelöst wird durch die offensichtliche Liebe und den guten Willen der fürsorgenden Betreuer. Dankbarkeit und gegenseitige Liebe verfügen möglicherweise über eine evolutionäre Basis. Die für das Überleben der Arten notwendige Bindung zwischen Eltern und Kindern erfordert zumindest ein begrenztes Maß an wechselseitigem Geben und Nehmen. Eltern müssen das Gefühl haben, dass sie für ihre emotionalen Investitionen etwas zurückbekommen – das ist ein Grund dafür, dass die Betreuung von Kindern mit starken emotionalen Behinderungen (zum Beispiel schwerem Autismus) so quälend schwierig ist. In der Vorgeschichte wurden solche Kinder wahrscheinlich sich selbst überlassen. Psychologen, die Experimente mit Säuglingen durchführen (insbesondere Paul Bloom in Yale), sind davon überzeugt, dass die Fähigkeit, sich in die Welt der Pflegeperson einzufühlen – ein „Gedankenleser“ zu werden –, sehr früh auftritt. Für das normale menschliche Erwachsenenalter ist diese Fähigkeit offensichtlich unerlässlich.15 Robert Hares Studie über Psychopathen gelangt zu dem Schluss, dass das Fehlen der Fähigkeit, „Gedanken zu lesen“, sowie echter gegenseitiger Fürsorge Kennzeichen dieser schwer geschädigten Individuen sind, die wahrscheinlich so geboren und nicht dazu gemacht werden.16 Dennoch zeigen wir alle in Form unseres normalen menschlichen Narzissmus Tendenzen, die sich psychopathischem Verhalten annähern. Allzu häufig halten wir nicht inne, um darüber nachzudenken, was unsere Worte und Taten für das Seelenleben anderer bedeuten. Vielleicht können wir es noch nicht einmal verstehen, wenn die anderen sehr verschieden von uns sind. Und wenn wir uns 15 Vgl. Paul Bloom, Descartes’ Baby: How the science of child development explains what makes us human, New York 2004. 16 Robert D. Harse, Without conscience: The disturbing world of the psychopaths among us, New York 1999.

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bemühen, tun wir dies allzu oft für Menschen in einem engen Kreis, in unserer Familie oder Gruppe: für das „größere Selbst“, von dem ich sprach. Die Anwendung unserer moralischen Fähigkeiten bleibt also grundsätzlich narzisstisch. Und allzu oft wissen wir genau, was unsere Worte und Taten für andere bedeuten – dass sie nämlich Schmerzen oder Demütigungen zur Folge haben oder anderen eine schwere Last auferlegen –, und es ist uns einfach gleichgültig. Die narzisstische, ängstliche Welt, in der wir begannen, dehnt sich in Zeiten der Not und Angst wieder aus und gefährdet unsere zögerlichen Schritte hin zum moralischen Erwachsensein und zu einer konstruktiven Staatsbürgerschaft. Der Philosoph Adam Smith, ein früher Gegner des Kolonialismus und des Sklavenhandels, stellte im 18. Jahrhundert fest, dass es für Menschen schwierig ist, sich um andere Menschen in der Ferne zu sorgen, wenn die Angst das Bewusstsein so leicht wieder zurück auf das Selbst richten kann. Sein Beispiel ist ein Erdbeben in China. Hört ein mitfühlender Mensch in Europa von der Katastrophe, so wird er äußerst betroffen und besorgt sein – für eine Weile. Wenn die gleiche Person hört, dass er (Smith stellt sich typischerweise Männer vor) am nächsten Tag seinen kleinen Finger verlieren wird, wird er das Schicksal von Millionen von Menschen völlig vergessen: „Der Untergang dieser riesigen Menschenmenge erscheint für ihn schlichtweg weniger interessant als sein eigenes armseliges Unglück.“17 Wie können frühe Interaktionen mit Kindern dazu beitragen, dass unsere Schritte auf andere Menschen zu etwas weniger zögerlich sind? Wenn wir über diese Frage nachdenken, erhalten wir erste Anhaltspunkte zum Verständnis produktiver sozialer Reaktionen. Solange sich das kleine Kind hilflos fühlt, unfähig, angstfrei allein zu sein, werden Gegenseitigkeit und Liebe nicht gedeihen. Donald 17 Adam Smith, The Theory of Moral Sentiments (1759), III, 3.5, eigene Übersetzung.

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Winnicott, ein großer Psychoanalytiker, der zugleich Kinderarzt war und Tausende von gesunden Kindern beobachtete, gelangte zu dem Schluss, dass die dunkle Geschichte von Terror und monarchischer Versklavung selten die Oberhand gewinnt.18 Das Leben entwickelt sich meistens besser, auch wenn es unruhig und mit vielen Rückschritten verläuft. Allmählich entwickelt das Kind die Fähigkeit, allein zu sein. Wie kommt es dazu? Winnicott betrachtete vor allem die Rolle der sogenannten „Übergangsobjekte“, der Schmusedecken und Plüschtiere, mit denen sich sehr kleine Kinder bei Abwesenheit der Eltern trösten. (Er liebte Peanuts von Charles Schulz und fragte sich, ob die Decke von Linus den Einfluss seiner Ideen zeigte.) Das Kuscheln mit einer Decke oder einem Teddybären besänftigt die Angst, und so muss das Kind seine Eltern nicht so sehr herumkommandieren. So werden die Grundlagen für das gelegt, was Winnicott als „reife Interdependenz“ bezeichnete. Schließlich entwickelt das Kind normalerweise die Fähigkeit, „in Gegenwart seiner Mutter allein zu spielen“, sich selbst zu beschäftigen, ohne ständig nach dem Elternteil rufen zu müssen, auch wenn er oder sie sich in Sicht- oder Hörweite befindet. (Winnicott stellte klar, dass „Mutter“ eine Rolle, keine geschlechtsspezifische Person sei; er war stolz auf seine eigenen mütterlichen Eigenschaften und identifizierte sich häufig mit weiblichen Charakteren in Büchern und Filmen). Sicherheit und Vertrauen ermöglichen die Entwicklung von gesundem Geben und Nehmen. An diesem Punkt beginnt ein Kind, sich auf seine Eltern als ganze Personen zu beziehen, nicht nur als Erweiterung seiner eigenen Bedürfnisse. Das demokratische Selbst ist bereit, geboren zu werden. 18 Winnicott war ein produktiver Schriftsteller, aber besonders wichtig für dieses Kapitel sind Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Studien zur Theorie der emotionalen Entwicklung, Gießen 2002 und Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart 2006.

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Diese Phase, so glaubte Winnicott, führe typischerweise zu einer schmerzlichen emotionalen Krise: Denn das Kind verstehe jetzt, dass genau die Person, die es liebt und umarmt, die Person ist, gegen die es seine aggressiven und zornigen Wünsche gerichtet hat, wenn seine Bedürfnisse auf Frustration trafen. Doch hier beginnt das echte moralische Leben: Denn aus dem Entsetzen über seine eigene Aggression entwickelt das Kind allmählich eine „Fähigkeit zur Anteilnahme“. Der Elternteil darf nicht vernichtet werden, und ich muss zu einer Person werden, die nicht vernichtet. Moral und Liebe bilden ein Gespann, denn es ist die Liebe, die das Kind dazu bringt, die Schlechtigkeit seiner eigenen Aggression zu empfinden. Nach Winnicotts Überzeugung nimmt fantasievolles Spielen eine Schlüsselrolle in dieser Entwicklung ein. Durch Geschichten, Lieder und Spiele, durch die Darstellung fröhlicher und beängstigender Geschehnisse mithilfe von Stofftieren, Puppen und anderem Spielzeug entwerfen Kinder eine Landkarte der Möglichkeiten der Welt und des Inneren anderer Menschen. Sie beginnen, die Fähigkeit zu entwickeln, großzügig und altruistisch zu sein. Winnicott betonte stets die ethische und politische Aufgabe der Kunst, welche die förderliche Rolle des Spielens im Leben des Kleinkindes im Erwachsenenalter fortsetzt. „Wir sind in der Tat arm dran“, sagte er, „wenn wir nur gesund sind.“19 Allein auf sich gestellt können Kinder keine emotionale Reife erlangen. Sie brauchen eine stabile und liebevolle Betreuung, die ihnen die Sicherheit gibt, dass sie auch durch ihre Angst und ihre Aggression die Liebe der Eltern nicht verlieren werden. Das Überwinden der Angst – soweit wir dazu in der Lage sind – ist eine relationale Angelegenheit. Liebe und Geborgenheit stellen die erste Phase dessen bereit, was Winnicott als „förderliche Umwelt“ bezeichnet. Die 19 Winnicott wiederholte diesen Satz immer wieder. Einmal findet er sich in The Family and Individual Development, London und New York, 1965, S. 61 (dt. Familie und individuelle Entwicklung, München 1978).

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Eltern müssen den Hass des Kindes entgegennehmen und dürfen sich dadurch nicht verängstigen oder deprimieren lassen – und Winnicott betonte, dass die meisten Eltern dies ausreichend gut leisten können. Der Elternteil muss „weiterhin er selbst sein, empathisch gegenüber seinem Kind, [er muss] da sein, um spontane Gebärden aufzunehmen und sich zu freuen“. Würden wir dagegen die frühe Kindheit als einen glücklichen Raum voller Spiele, Spielzeug und Teddybären betrachten, so würden wir uns selbst etwas vormachen. Die schreckliche Dunkelheit der frühen Angst befindet sich stets unter der Oberfläche und kann durch jede destabilisierende neue Entwicklung leicht zu einem Albtraum erweckt werden: durch eine Kinderkrankheit, die Krankheit oder den Tod eines Elternteils, die Geburt eines neuen Geschwisters. Gabrielle war zweieinhalb Jahre alt, als ihre Eltern sie zur Behandlung zu Winnicott brachten.20 Nach der Geburt einer jüngeren Schwester war das kleine Mädchen von Ängsten und Albträumen wie gelähmt. Das zentrale Thema dieser Träume war eine schreckliche, dunkle Gefahr, die sie bedrohte und die irgendwie mit dem neuen Baby und der Aufmerksamkeit ihrer Eltern, die es bekam, verbunden war. Sie stellte sich einen schrecklichen, dunklen Zug vor, einen „Babacar“, der sie an einen unbekannten Ort brachte. Eine „schwarze Mama“ schwebte über ihr und versuchte, sie zu verletzen; sie befand sich aber zugleich auch in ihr und machte sie selbst schwarz. Am schlimmsten war die „Sush Baba“, eine Albtraumversion des neuen Kindes. (Der Name ihrer kleinen Schwester war Susan.) Gabrielle (in der Analyse mit ihrem Spitznamen „das Schweinchen“ benannt) hatte liebevolle, aufmerksame und spiele20 Donald W. Winnicott, The Piggle: An Account of the Psychoanalytic Treatment of a Little Girl, London 1977.

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rische Eltern. Ihr Vater schloss sich sogar der Analyse an, und es gibt eine schöne Beschreibung, wie er auf Drängen von Winnicott die Geburt des neuen Kindes nachahmte, indem er den Körper des Analytikers hinab auf den Boden rutschte. Gabrielle war offensichtlich ein ungewöhnlich sensibles Kind; nicht alle Kinder sind bei solchen „normalen“ Ereignissen vor Angst wie gelähmt. Aber es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass die Ängste, die Gabrielle zu Winnicott gebracht haben, bis zu einem gewissen Grad bei allen Kindern vorhanden sind, auch wenn sie sich weniger heftig äußern oder nicht von so sensiblen und aufmerksamen Eltern bemerkt werden. Ihre Geschichte ist zwar einzigartig, dennoch kann sie für uns alle stehen, da die frühe Kindheit eine Zeit der immer wiederkehrenden Angst und Unsicherheit ist. Die Analyse wurde (auf Wunsch des Kindes) in regelmäßigen Abständen fortgesetzt, bis Gabrielle fünf Jahre alt war. Winnicotts Aufzeichnungen zeigen, dass ein Schlüssel zur Analyse sein totaler Respekt vor der inneren Welt des Kindes war, ebenso wie seine bemerkenswerte Fähigkeit, in diese Welt einzutreten. Fast die erste Bemerkung in seinen Notizen von der ersten Sitzung lautet: „Ich hatte mich bereits mit dem Teddybären angefreundet, der auf dem Boden am Schreibtisch saß.“ Winnicott gab Gabrielle und ihren Eltern Sicherheit und schuf eine Atmosphäre des „Gehaltenwerdens“, in der die Angst nach und nach ausgedrückt werden und letztlich abnehmen konnte. Das Spiel, in dem der Vater vorgab, ein Baby zu sein, ist ein typisches Beispiel für Winnicotts schöpferische Einsicht: Denn wenn der Vater die Schrecken der Kindheit spielt und sich auf diese Weise verletzlich macht – und dies, so würde ich hinzufügen, auf eine so lustige Weise, dass er dadurch Lachen und Vergnügen erzeugt –, dann hilft dies dem Kind, mit seinen eigenen Ängsten fertig zu werden. Auf ähnliche Weise wurde die hilflose Angst und Aggression, die Gabrielle dem neuen Baby gegenüber empfand,

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in ein lustiges Spiel umgewandelt, in dem sie Winnicott mit der Attrappe eines Nudelholzes schlug. Das Spiel gab ihr eine Perspektive und half ihr, Herrin ihrer Aggression zu werden. Am Ende der Analyse musste sich Gabrielle von Winnicott selbst verabschieden, was ein mögliches Trauma hätte werden können. Während die beiden zusammensaßen, sagte Winnicott: „Der Winnicott, den du erfunden hast, gehörte ganz dir, und du bist jetzt fertig mit ihm, und niemand sonst kann ihn haben.“ (Auf diese Weise erinnerte er Gabrielle daran, dass sie eine einzigartige Beziehung haben. Sie hatte Angst, dass ihre kleine Schwester sie aus der Liebe ihrer Eltern verdrängen würde, und jetzt musste sie Angst haben, dass neue Patienten sie aus Winnicotts Liebe verdrängen würden. Aber so ist die Liebe nicht – sie ist ein einzigartiges Band, sagte er.) Die beiden saßen zusammen und lasen ein Tierbuch. Dann sagte er: „Ich weiß, wann du sehr schüchtern bist: dann wenn du mir sagen willst, dass du mich liebhast.“ – „Dem stimmte sie mit einer Geste lebhaft zu.“ Im Jahr 2017 korrespondierte Deborah Luepnitz, eine Analytikerin in Philadelphia, mit einer Therapeutenkollegin, die sich dann als „Gabrielle“ zu erkennen gab. Luepnitz führte daraufhin ein langes Interview mit ihr, das kürzlich veröffentlicht wurde.21 Gabrielle war selbst eine psychoanalytische Therapeutin geworden. Sie sagte Luepnitz, es sei aus ihrer Sicht von großer Bedeutung, dass die Familie ihrer Mutter tschechische Juden seien, die vor dem Holocaust geflohen waren. (Ihr Vater war ein irischer Protestant.) Gabrielles richtiger Name war Esther. Die Eltern, so stellte sich heraus, waren selbst noch so von Angst gelähmt, dass sie nicht in der Lage waren, sie bei ihrem wahren Namen zu nennen, der, wie sie es ausdrückt, „die jüdische Geschichte der Familie und ihr Trauma enthält“. Sie 21 Deborah Anna Luepnitz, „The Name of the Piggle: Reconsidering Winnicott’s Classic Case in Light of Some Conversations with the Adult ‚Gabrielle‘“, in: International Journal of Psychoanalysis 98 (2017), S. 343–370.

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Die fördernde Umwelt, Teil 1

erinnerte sich an relativ wenig aus der Analyse, aber sie erinnerte sich noch an das Spiel mit der Nudelholzattrappe. Sie fühlte sich damals schuldig, weil sie wusste, dass Winnicott krank gewesen war und sie ihm „sehr anstrengendes Spielen“ zugemutet hatte. Es fällt auf, dass dieser Moment des Erwachens der Sorge um den anderen ihre lebendigste Erinnerung ist.

Die fördernde Umwelt, Teil 1 Der Fall von Gabrielle ruft uns in Erinnerung, dass die Kindheit ihrem Wesen nach eine beängstigende Zeit ist. Fürsorge, Liebe und Gegenseitigkeit sind erstaunliche Errungenschaften, die gegen heftigen Widerstand erworben werden. Winnicott kam zu dem Schluss, dass die große Mehrzahl der Eltern ihre Sache gut macht. Kinder brauchen keine perfekten Eltern, und die Forderung nach Perfektion setzt Eltern häufig so unter Druck, dass dies ihnen und dem Kind schadet. Es bedarf nur einer Geborgenheit, die „gut genug“ ist. Winnicott jedoch hatte zwei Weltkriege erlebt und viele Kinder gesehen, die durch Trennung, Abwesenheit und Gewalt traumatisiert waren. (Vielleicht hatte Gabrielles Mutter unabsichtlich etwas vom Schrecken des Holocaust, den sie offensichtlich empfunden hat, auf ihr Kind übertragen: Das „Babacar“ erinnert auf unheimliche Weise an deutsche Deportationszüge.) Er wusste auch, dass Eltern ihren Kindern schwere emotionale oder sogar körperliche Misshandlungen zufügen können. So war er selbst durch eine krankhaft depressive Mutter und einen grausamen Vater, der ihn wegen seiner mangelnden Geschlechtskonformität verspottete, traumatisiert worden.22 Er sagte, dass diese „Verletzung des Kerns des Selbst“ schmerzlicher sei als „von Kanniba22 Zum gesamten Inhalt dieses Abschnitts vgl. F. Robert Rodman, Winnicott: Life and Work, Cambridge 2003.

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len gefressen zu werden“. Das Ergebnis war, dass er sexuell impotent war, bis er in seinen mittleren Lebensjahren seine zweite Frau Claire kennenlernte, eine Sozialarbeiterin, die auf ihre eigene Art nicht geschlechtskonform war, und dabei lustig, freundlich und fröhlich. Winnicott wusste demnach, dass die Grundvoraussetzungen für ein unbeschädigtes Überwinden der Angst nicht immer erfüllt sind. Winnicott erfand ein Konzept für alles, was Kinder benötigen, damit ihre Sorge um andere wachsen und gedeihen kann. Er nannte diese Bedingungen die „fördernde Umwelt“. In einer ersten Phase wandte er dieses Konzept auf die Familie an: Sie muss über einen Kern aus grundlegender liebevoller Stabilität verfügen (was auf seine nicht zutraf ). Sie muss frei von Sadismus und Kindesmissbrauch sein (was für seine nicht galt). Doch sobald wir über Familien in Zeiten des Kriegs nachdenken, sehen wir auch, dass die fördernde Umwelt ebenso wirtschaftliche und soziale Voraussetzungen umfasst: Grundsätzlich muss Freiheit von Gewalt und Chaos, von Ängsten vor ethnischer Verfolgung und vor Terror gegeben sein; es muss genug zu essen geben und eine medizinische Grundversorgung gewährleistet sein. Aus seiner Arbeit mit Kindern, die aus Kriegsgebieten evakuiert wurden, wusste er, welche psychischen Traumata äußeres Chaos bewirken kann. So ist also bereits diese erste Phase von politischen Anliegen geprägt: Was sollten wir als Nation anstreben, wenn wir wollen, dass Kinder zu Fürsorge und Gegenseitigkeit und auch zu einem glücklichen Leben fähig werden? Da Winnicott (im Gegensatz zu vielen anderen Psychoanalytikern) erkannt hatte, dass das Persönliche und das Politische nicht voneinander zu trennen sind, kehrte er während seiner gesamten beruflichen Laufbahn immer wieder zu politischen Fragen zurück. Wir werden diese zweite Phase noch weiter untersuchen, aber wir dürfen nie vergessen, dass sich die beiden „Phasen“ von Anfang an gegenseitig durchdringen. In der Geschichte

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der letztlich glücklichen Gabrielle sind die Verletzungen durch den Holocaust und die Geburt eines neuen Geschwisterkindes miteinander verwoben. Bevor wir die zweite Phase erreichen, kommen wir jedoch zu einer weiteren erschreckenden Entdeckung.

Der Tod tritt in das Bewusstsein Zuerst erscheint die Angst als Reaktion auf Hunger, Durst, Dunkelheit, Nässe und die Hilflosigkeit, weil man nichts gegen diese schlimmen Zustände tun kann. Im Laufe der Zeit aber tritt eine neue Idee auf den Plan, die gleichwohl in unseren evolutionären Angstreaktionen von Anfang an gewiss enthalten ist: die Idee des Todes. Das Kind ist sich des Todes oder seiner eigenen Sterblichkeit nicht bewusst. Doch seine Reaktionen haben sich zum Zweck des Überlebens entwickelt, sodass wir sagen können, dass die Angst vor Hunger und Durst, ja sogar die Angst vor dem Fehlen von Geborgenheit in gewisser Weise eine Angst vor dem Tod ist. Eine vage Todesangst mag durchaus angeboren sein, da sie einen evolutionären Vorteil bringt. Und in Zeiten von Krankheit in der Familie oder bei politischen Umwälzungen vermitteln selbst die liebevollsten Eltern ihren Kleinkindern die eigene Angst vor dem „Babacar“. Wir sind also von Natur aus konditioniert, Tod und Sterben zu meiden und zu fürchten. Dieses angeborene oder zumindest sehr frühe Zurückschrecken prägt unsere frühen Ängste. Selbst wenn ein Kind kein explizites Bewusstsein vom Tod hat, so durchdringt die Sterblichkeit doch den Schrecken der Albträume in der Kindheit. Das Kind fürchtet eine schwarze Leere, einen Sturz aus unendlicher Höhe oder ein verschlingendes Monster. Wenn seine Betreuer nicht da sind, entsteht die schreckliche Angst, dass sie nicht wiederkommen – die Quel-

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le endloser Freude von Babys: Beim Versteckspielen verschwindet ein geliebtes Spielzeug oder ein Elternteil plötzlich und taucht dann, von begeistertem Glucksen begrüßt, wieder auf. Gabrielles Albtraumfantasien sind eindeutig Anspielungen auf den Tod: das „Babacar“, das sie scheinbar der Vernichtung näher bringt, die verschlingende „schwarze Mutter“, vor allem das bedrohliche „Sush-Baby“, das Gabrielle mit der Vernichtung droht. Die Angst vor dem Verlust der elterlichen Liebe und Aufmerksamkeit stellte sich für sie als eine Art Angst vor dem Tod dar. Und warum nicht? In diesem Alter konnte sie sich keine Zukunft mit stabiler, andauernder Liebe vorstellen. Für ein sehr kleines Kind ist jeder vorübergehende Verlust ein Tod. Die zentrale Arbeit der dreijährigen Analyse mit Winnicott bestand darin, Vertrauen zu schaffen: das Gefühl, dass Unterbrechungen nicht wirklich tödlich sind, dass Teddybären, Analytiker und Eltern allesamt überleben und das Kind weiterhin lieben werden. Wie gut diese Lektion auch immer gelernt werden mag – das Kind lernt nur allzu bald eine andere, dunklere Lektion: Einige Tiere und Menschen tauchen nicht wieder auf. Der Tod von Geschwistern und Eltern war früher ein normales Geschehen, und kleine Kinder lernten schnell, die Welt und ihre eigene Existenz als etwas sehr Fragiles zu sehen. Bereits im 18. Jahrhundert dachte Rousseau jedoch, dass sein erdachter Schützling Émile nicht genug über den Tod erfahren würde, um die Vorstellung seiner eigenen Verwundbarkeit auszubilden. Deshalb beginnt sein imaginärer Lehrer damit, über den Tod zu reden, indem er Émile auf den Tod von Kleintieren hinweist.23 Sobald Kinder die Idee des Todes kennenlernen, stellen sie viele Fragen, und sie finden bald heraus, dass auch sie selbst einmal sterben werden. Kinder reagieren auf diese Entdeckung unterschiedlich, aber immer mit einem Gefühl von großer Angst und Unruhe. 23 Rousseau: Émile, a.a.O., Buch IV.

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Der Tod tritt in das Bewusstsein

Als ich sechs Jahre alt war – eine bange Zeit für mich, da meine jüngere Schwester gerade erst geboren worden war und ich das Gefühl hatte, dass meine Eltern sich nun nicht mehr für ihre bisher einzige Tochter interessieren würden –, nahm mich meine Großmutter mit in die Metropolitan Opera, zu Verdis Rigoletto. Sie hatte kein Interesse an Opern und keine Vorstellung davon, dass irgendjemand von einer Oper tief bewegt sein könnte; daher erkannte sie nicht, welch eine seltsame Wahl sie getroffen hatte. Ich saß in der dritten Reihe im Parkett und war erstarrt und traumatisiert. Wochenlang wiederholte ich mit meinen Puppen die Schlussszene, in der die sterbende Gilda (die versehentlich ermordet wird, da sie bereitwillig den Platz des wankelmütigen Herzogs, den sie liebt, eingenommen hat) Rigoletto in einem verschlossenen Sack übergeben wird. Der Narr schaut in der Erwartung hinein, den Körper seines verhassten Feindes zu finden – und wendet sich entsetzt ab, als er feststellt, dass der Sack in Wirklichkeit sein geliebtes Kind enthält, dem Tode nah. Ich bin sicher, dass für mich der Sack die tödliche Bedrohung durch die Geburt meiner Schwester und die Art und Weise, wie sie mir den Atem abschnürte, symbolisierte. Doch er stellte auch mein aufkeimendes Bewusstsein von der eigenen Sterblichkeit dar. Die Puppe, die ich in den Sack legte, als ich die Oper später nachspielte, war Jo: diejenige aus meiner Puppenfamilie, die mich selbst darstellte. Indem ich den Sack mit der Puppe öffnete, war ich Zeuge meines eigenen Todes und übte ihn ein. (Seither bin ich ein Opernfan, und ich glaube, dass diese mitreißenden Musikdramen Formen des Spiels im Sinne von Winnicott sind, in denen wir unsere Einsicht vertiefen und sogar lernen, inmitten tragischer Situationen durchzuatmen.) Die Angst vor dem Tod hat vieles für sich. Sie motiviert uns, nach Sicherheit, Gesundheit und sogar Frieden zu streben. Sie bringt uns dazu, die Menschen, die wir lieben, vor Bösem zu bewahren und die

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Institutionen und Gesetze, die wir lieben, zu schützen. Und wenn wir erkennen, dass wir sterblich sind, sollte uns das daran erinnern, dass wir auf eine fundamentale Weise alle gleich sind. So herablassend die herrischen Könige und Adligen Frankreichs ihre Untertanen auch behandelt haben mögen, so konnten sie ehrlicherweise dennoch nicht leugnen, dass sie ihnen in der wichtigsten Sache überhaupt ähnlich waren. Diese Erkenntnis, so hoffte Rousseau sehnlich, könnte Mitgefühl und Gegenseitigkeit zur Folge haben: Wir können uns zusammenschließen, um uns gegenseitig vor Hunger, Krankheit und Krieg zu bewahren. Doch die Angst vor dem Tod erregt auch Grauen, und sie umgibt uns ständig. Im Gegensatz zu anderen Ängsten der Kindheit kann sie durch Beschwichtigung nicht beseitigt werden. Eltern, die das Zimmer verlassen haben, kehren zurück. Neue Geschwister rauben die Liebe der Eltern nicht. Wir lernen (in gewisser Weise) bald, dass es im Schrank kein Monster gibt, keine Hexe, die kleine Kinder frisst. Die Angst vor dem Tod ist hingegen niemals falsch, und sie kann durch kein Lernen beseitigt werden. Das „Babacar“ rast weiter in die Dunkelheit. So besteht die Angst unter der Oberfläche des täglichen Lebens fort und führt zu guten Eigenschaften, wie Rousseau sagte. Aber sie führt auch zu vielen Strategien des Narzissmus, der Selbstvermeidung und Verleugnung. Lukrez behauptete, dass die Angst vor dem Tod die Ursache aller anderen Ängste des menschlichen Lebens sei. Das scheint falsch zu sein. Das Leben ist einfach schwierig, und es enthält vieles, was zu fürchten ist. Die Quelle der Angst ist unsere menschliche Verletzlichkeit selbst, und nur ein Teil dieser Angst bezieht sich auf den Tod, denn der Tod ist nur ein Aspekt unserer Verletzlichkeit. Die Griechen und Römer stellten sich Götter vor, die zwar unsterblich waren, aber dennoch vieles erleiden konnten: körperliche Schmerzen (die Leber des Prometheus wurde auf ewig von einem Geier angefressen),

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Verstümmelung (Uranus wurde von seinem Sohn kastriert, und seine Hoden wurden ins Meer geworfen), den Verlust von Kindern (Zeus betrauerte seinen toten Sohn Sarpedon) und Demütigung (Hera wurde unzählige Male von ihrem Mann betrogen). Sie wussten also, dass Unsterblichkeit die Angst nicht beseitigen würde. Dennoch hatte Lukrez wahrscheinlich recht, wenn er dachte, dass die Angst vor dem Tod unser Leben mit „der Schwärze des Todes durchdringt“, auch wenn es viel Licht und Glück darin gibt.

Die Rhetorik der Angst und die Irrtümer der Demokratie Angst hat zur Folge, dass wir Katastrophen vermeiden wollen. Aber sie sagt uns gewiss nicht, wie wir das tun können. In der evolutionären Vorgeschichte folgten die Menschen der instinktiven Stimme der Angst. Sie flüchteten vor Raubtieren und anderen instinktiv erfassten Gefahren. In unserer komplizierten Welt können wir uns jedoch nicht auf den Instinkt verlassen: Wir müssen denken, und wir tun gut daran, richtig zu denken. Wir benötigen eine Vorstellung von unserem Wohlergehen und davon, was und wer es bedroht. In allen Gesellschaften ist der Prozess, in dem die Angst Form annimmt, von Kultur, Politik und Rhetorik durchdrungen. Erinnern wir uns daran, dass Aristoteles die Angst in einer Abhandlung über Rhetorik für zukünftige Politiker behandelte. Um Menschen davon zu überzeugen, das zu tun, was man will, so sagt er, muss man verstehen, wie ihre Emotionen funktionieren; dann kann man das, was man sagt, auf ihre Befindlichkeiten zuschneiden. Und natürlich wusste Aristoteles, dass Menschen diesen Rat sowohl für gute als auch für schlechte Zwecke nutzen würden. Angst enthält den Gedanken an eine unmittelbare Bedrohung unseres eigenen Wohlergehens. Laut Aristoteles können politische

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Redner nur dann Angst schüren, wenn sie a) das bevorstehende Ereignis als höchst bedeutsam für das Überleben oder Wohlergehen darstellen, b) die Menschen glauben machen, es stehe unmittelbar bevor, und wenn sie c) ihnen das Gefühl geben, dass die Dinge außer Kontrolle geraten sind – dass sie das Übel allein nicht ohne Weiteres abwehren können. Außerdem, so fügt er hinzu, müssen die Menschen dem Redner vertrauen; er muss also dafür sorgen, dass er vertrauenswürdig erscheint.24 Offensichtlich wird dieser Rat nicht immer im Dienste der Wahrheit umgesetzt werden. Aufgrund der fundamentalen Neigung des Menschen zur Angst sind demokratische Gesellschaften höchst anfällig für Manipulation. Der antike griechische Historiker Thukydides erzählte eine düstere Geschichte über demokratische Verirrungen.25 Die Athener hatten dafür gestimmt, alle Männer der aufständischen Kolonie Mytilene hinzurichten und die Frauen und Kinder zu versklaven. Doch dann beruhigten sie sich und bedachten, wie grausam es sei, eine ganze Stadt für eine Rebellion zu verurteilen, die nur von wenigen angeführt wurde – ein Verbrechen, das heute wahrscheinlich als Völkermord gelten würde. Ein demagogischer Redner namens Cleon, der die Abstimmung über die Hinrichtung ursprünglich vorgeschlagen hatte, trat vor, um gegen jeglichen Sinneswandel zu argumentieren. Cleon, ein feuriger Populist, machte die Menschen ängstlich und wütend: Diese Rebellion bedrohe die Sicherheit Athens, denn alle anderen Kolonien würden rebellieren, wenn sie sähen, dass sie damit durchkommen können. Er stellte die Gefahr als unmittelbar bevorstehend dar: Die Athener würden ihr Leben schon bald immer wieder aufs Neue riskieren müssen. 24 Zum Thema Angst vgl. Aristoteles, Rhetorik II, 5 passim. Zur Vertrauenswürdigkeit vgl. Rhetorik I, 2, 9. 25 Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges (verfügbar in vielen Übersetzungen), III, 25–28, 35–50; die Debatte fand 427 v. Chr. statt.

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Cleon setzte sich durch. Ein Schiff, das den todbringenden Beschluss ausführen sollte, war bereits auf dem Weg. Doch dann trat ein anderer Redner, Diodotus, auf und überzeugte die Versammlung auf eine beruhigende und bedachtsame Weise davon, dass ihre vorherige Abstimmung tatsächlich falsch gewesen war. Die Menschen sollten sich nicht von Angst und Wut überrumpeln lassen: Sie sollten sich in Ruhe über ihre eigenen künftigen Interessen Gedanken machen. Es bestehe keine dringende Gefahr, ihre Sicherheit sei durch die Rebellion nicht wirklich gefährdet, und es wäre ein schwerer Fehler, tödliche Übergriffe zu begehen, die Athen die Loyalität vieler gegenwärtiger Verbündeter kosten würden. Die Athener revidierten ihre Position und schickten ein weiteres Schiff, um das erste abzufangen. Durch reines Glück geriet das erste Schiff in eine Flaute, und das zweite konnte es einholen. An so einem dünnen Faden hing das Leben Tausender von Menschen. Selbst ohne zu entscheiden, welcher Redner Recht hatte, können wir sicher sein, dass einer falsch lag, und Thukydides machte deutlich, dass seiner Ansicht nach Cleon im Unrecht war und – durch seine manipulative, populistische Vorgehensweise – eine Gefahr für den Fortbestand der Demokratie in Athen darstellte. Angst kann durch wahre und falsche Informationen beeinflusst werden und auf diese Weise sowohl zu angemessenen als auch zu unangemessenen Reaktionen führen. Wie aber schleichen sich falsche Auffassungen ein? Zunächst müssen die Menschen über eine Vorstellung von ihrem eigenen Wohlergehen und vom Wohlergehen der Gesellschaft verfügen; es gibt diesbezüglich zahlreiche falsche Vorstellungen. Es kann besonders leicht geschehen, dass man zu wenig umfassend denkt, das Wohlergehen der Gesellschaft mit dem Wohlergehen der eigenen Gruppe oder Klasse gleichsetzt und die Beteiligung anderer vergisst. Cleon tat dies auf eine Art und Weise, die uns vertraut erscheinen

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sollte: Er drängte die Menschen dazu, eine eingeengte Sichtweise der Vorherrschaft Athens zu akzeptieren, die Verbündete und Abhängige ausschloss. Er machte die Verbündeten zu „Anderen“ und ließ sie sämtlich als potenzielle Feinde erscheinen. Selbst wenn Menschen eine angemessene Vorstellung von ihrem Wohlergehen haben, können sie sich vollständig darin irren, was sie wirklich bedroht. Die Rebellion hat Athen zweifellos gekränkt, und Cleon brachte die Bürger der Stadt dazu, eine Kränkung mit einer realen Gefahr zu verwechseln. Falsche Auffassungen können lediglich darin bestehen, dass man sich bezüglich der Fakten irrt; andere können sich aus der Überschätzung einer realen Gefahr oder der Unterschätzung anderer Gefahren ergeben (in diesem Fall der Gefahr, andere Verbündete dazu anzuregen, sich von Athen abzuwenden, weil sie über das grausame Vorgehen der Stadt schockiert sein würden). Die Menschen können sich angesichts einer Bedrohung auch verletzlicher und hilfloser fühlen, als sie es in Wirklichkeit sind. Manchmal scheinen solche Irrtümer durch zu wenig Angst herbeigeführt zu werden. Auch Athen machte diesen Fehler, als es später die katastrophale Sizilienexpedition begann und sich weigerte, nüchterne Ratschläge zu befolgen. Worauf die Athener hätten hören sollen, waren nicht die Anflüge oder Wellen von Angst, sondern vorsichtige Berechnungen, Fakten und Beweise. Und es gibt ein gutes Argument dafür, dass selbst das beispielhafte Verhalten, das sie bei dieser voreiligen Tat an den Tag legten, ein Ergebnis tiefer sitzender Angst war. Lukrez behauptete, dass Eroberungskriege sehr oft durch ein Gefühl der Ohnmacht und grundlegenden Verwundbarkeit ausgelöst werden, welches den Gedanken aufkommen lässt, dass man sicherer sei, wenn man alle Widersacher beseitigt hat. Die Eile des Entschlusses zu der zum Scheitern verurteilten Expedition unterscheidet sich nicht allzu sehr von der Eile des Beschlusses, alle Men-

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schen in Mytilene zu ermorden – beide zeigen eine unkluge Strategie des Selbstschutzes, die darin besteht, alle möglichen Risiken auszuschalten. Es ist nicht viel anders bei Prousts erwachsenem Marcel, der vor Angst wahnsinnig wird, wenn er Albertine nicht einsperrt, um es ihr physisch unmöglich zu machen, ihn zu verraten.

Die Gesetze der Angst: Heuristik und Vorurteile Das neue Fachgebiet der Verhaltensökonomie stützt sich auf die psychologische Forschung, um uns die Irrtümer der Angst noch besser zu erklären. Psychologen zeigen uns, dass unsere Risikobewertungen häufig ungenau sind, weil wir nicht nüchtern Kosten und Nutzen berechnen, sondern eine Reihe von Entscheidungsregeln verwenden, die in der komplizierten Welt unserer Gegenwart keine gute Orientierung mehr bieten, selbst wenn sie uns in der evolutionären Vorgeschichte die Richtung gewiesen haben.26 Eine sehr häufige Quelle von Irrtümern im Zustand der Angst ist das, was Psychologen „die Verfügbarkeitsheuristik“ nennen: Wenn eine einzige Art von Problemen unsere Erfahrung dominiert, hat dies zur Folge, dass wir die Bedeutung dieses Problems überschätzen. Diese Entscheidungsregel ist eine häufige Schwierigkeit bei der Betrachtung von Umweltrisiken. Die Leute hörten in den Nachrichten, dass Äpfel mit einem gefährlichen Pestizid, Alar, kontaminiert sind, und das ließ viele Menschen – ohne weitere Nachforschungen – den Schluss ziehen, dass die Gefahr sehr groß sei. (Das letzte Wort ist in dieser Sache noch nicht gesprochen, aber wir wissen sicher, dass weitere Untersuchungen statt Panik die richtige 26 Eine ausgezeichnete Quelle für diese Entscheidungsregeln ist Cass R. Sunstein, Risk and Reason: Safety, Law and the Environment, Cambridge 2002. Dort findet man auch weitere Verweise auf die psychologische Literatur.

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Antwort gewesen wären. Alar wird von der Umweltschutzbehörde EPA weiterhin als wahrscheinlich karzinogen eingestuft, aber die Menge der Chemikalie, die laut dem Ergebnis von Studien potenziell gefährlich ist, ist extrem groß. Sie entspricht der Menge von Alar, die man zu sich nehmen würde, wenn man etwa 20 000 Liter Apfelsaft am Tag trinken würde.) Die Verfügbarkeitsheuristik führt auch dazu, dass die ganze Bandbreite alternativer Szenarien außer Acht gelassen wird, so zum Beispiel die Tatsache, dass das Verbot des Insektizids DDT zu einem Anstieg der Todesfälle durch Malaria führen würde. In technischen Fachbereichen gibt es für gute und umfassende wissenschaftliche Forschung keinen Ersatz, aber die Öffentlichkeit lässt sich häufig mehr von der Angst als von der Wissenschaft bestimmen. Ein weiteres Phänomen, das im Zusammenhang mit ethnischer Feindseligkeit untersucht wurde, ist die „Kaskade“: Menschen reagieren auf das Verhalten anderer Menschen, indem sie sich ihnen schnellstens anschließen. Manchmal schließen sie sich diesen Menschen wegen ihres Rufs an – man nennt dies „Reputationskaskade“ – und manchmal auch, weil sie annehmen, das Verhalten anderer gebe ihnen neue Informationen: Das ist die „Informationskaskade“. Der Ökonom Timur Kuran hat die These vertreten, dass solche Kaskaden eine wichtige Rolle im Kontext der „Ethnifizierung“ spielen, der (oft erstaunlich schnellen) Verschiebung, in der sich Menschen anhand einer ethnischen oder religiösen Identität definieren und sich gegen eine andere ethnische Gruppe abgrenzen.27 Der psychoanalytische Psychologe Sudhir Kakar, der die ethnische Gewalt in Indien untersucht, kommt un-

27 Timur Kuran, „Ethnic Norms and Their Transformation Through Reputational Cascades“, in: Journal of Legal Studies 27 (1998), S. 623–659. Vgl. auch Sunstein 2002, S. 37–39.

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abhängig davon zu einem ähnlichen Ergebnis.28 Kakar fragte sich, warum Menschen, die seit Jahren friedlich zusammengelebt haben – Hindus und Muslime –, sich plötzlich feindselig gesonnen sind und ihre Identität nun auf eine Weise definieren, wie sie es vorher nicht taten, nämlich in Bezug auf ihre religiös-ethnische Herkunft. Seine Studie zeigt, dass respektierten Anführern von Gemeinschaften, deren Ruf unkritische Anhänger anzieht, hierbei eine große Rolle zukommt. Ebenfalls eine Rolle spielt die Verbreitung neuer, häufig höchst unzuverlässiger „Informationen“ über Gefahren, die angeblich von Muslimen ausgehen. Derartige Tendenzen bedrohen heute die Demokratie in den USA, genauso wie sie Indien seit vielen Jahren bedroht haben. Es gibt jedoch eine neue Entwicklung, welche die Dinge noch explosiver macht: Durch die sozialen Medien und das Internet ist das Verbreiten von Falschmeldungen und das Entstehen von Kaskaden einfacher geworden. Wenn ein Bericht sich wie ein Lauffeuer in sozialen Medien verbreitet, geraten Emotionen viel leichter außer Kontrolle, als dies bei Zeitungs- oder sogar Fernsehberichten der Fall ist. Was lässt sich gegen schädliche Informationskaskaden aufbieten? Korrekte Fakten, eine sachkundige öffentliche Diskussion und, am wichtigsten, eine Kultur von Dissens und geistiger Unabhängigkeit aufseiten der Bürger. Die Kultur des Dissenses ist allerdings von Angst ständig bedroht. Angst lässt Menschen Schutz und Zuspruch in der Nähe eines Anführers oder in einer homogenen Gruppe suchen. Kritischer Geist lässt Menschen sich nackt und einsam fühlen. Der Psychologe Solomon Asch zeigte in berühmten Experimenten, dass Menschen ein erstaunlich hohes Maß an Unterwürfigkeit 28 Sudhir Kakar, The Colors of Violence: Cultural Identities, Religion, and Conflict, Chicago 1996.

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aufweisen, wenn sie unter Druck gesetzt werden, selbst wenn die Mitglieder ihrer Gruppe Dinge sagen, die ganz offensichtlich falsch sind (wobei die richtige Antwort völlig offensichtlich ist), wie zum Beispiel in Bezug auf die Frage, welche von zwei Linien die längere ist.29 Die Menschen versuchten, ihr Mitläuferverhalten bei solchen Irrtümern damit zu begründen, dass sie Angst gehabt hätten, sich frei zu äußern. Wir können die tiefen psychologischen Kräfte, die hierbei im Spiel sind, heute verstehen. Asch fand jedoch auch heraus, dass die Versuchsperson dazu befreit wurde, richtig zu antworten, wenn auch nur eine einzige Person vor der Versuchsperson die richtige Antwort laut hörbar von sich gab. Dissens befreit den Geist von Angst. Darüber, wie wir den Geist des Dissenses kultivieren können, werde ich noch viel zu sagen haben; doch wir können bereits hier erkennen, dass die Menschen dazu bereit sein müssen, für sich allein zu stehen, ohne lähmende Angst zu verspüren. Die Leistung des Kindes, das lernt, „in Gegenwart seiner Mutter allein zu spielen“, muss eine Parallele finden in der Leistung des Erwachsenen, der lernt, in Gegenwart mächtiger, auf Konformität drängender Kräfte allein seine Auffassung zu vertreten. Die Demokratie muss die Bereitschaft fördern, für die Wahrheit und für hohe Ideale Risiken auf sich zu nehmen. Amerikaner wachsen mit wertvollen Vorbildern politischer Unabhängigkeit auf: Atticus Finch in Wer die Nachtigall stört, die von Henry Fonda gespielte Figur in Die zwölf Geschworenen – und die amerikanischen Revolutionäre selbst, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um das Land zu schaffen, in dem wir leben.

29 Solomon Asch, Opinions and Social Pressure (1955), zu finden unter www.panarchy.org/asch/social.pressure.1955.html (abgerufen am 1.10.2018).

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Angst vor Muslimen: Rhetorik und Heuristik

Angst vor Muslimen: Rhetorik und Heuristik. Eine Geschichte von zwei Präsidenten Im Anschwellen der Angst vor Muslimen, die ein so herausragender Aspekt der gegenwärtigen Situation in den USA ist, kommen sämtliche Irrtümer vor, die wir untersucht haben. Die Amerikaner haben Angst vor vielen Dingen: vor dem Verlust der Gesundheitsversorgung, hohen Gesundheitskosten, vor Trump und seinen Anhängern, wirtschaftlicher Not, vor dem Erfolg von Frauen und Minderheiten, vor rassistisch motivierter Gewalt der Polizei. Jede dieser Ängste ist bis zu einem gewissen Grad sowohl vernünftig als auch hilfreich. Allerdings kann jede von ihnen auch aus dem Ruder laufen und gesundes Denken sowie kooperatives Verhalten lahmlegen. Die Angst vor Muslimen ist ein guter Testfall, um das Gelernte anzuwenden und zu verstehen, wie ein Kern rationaler Angst (vor der terroristischen Gewalt von Kriminellen, motiviert durch eine extremistische, islamistische Ideologie) zu einer Angst anwachsen kann, die irrational und gefährlich ist und ein Klima des Misstrauens erzeugt, welches die sonst hochgeschätzten demokratischen Werte zu zerstören droht. Häufig wird Angst durch Rhetorik manipuliert, eingesetzt von Führern, die ihrem Publikum Vertrauen einflößen. Das Phänomen ist umfangreich und komplex. Ich möchte nur ein Beispiel dafür anführen, wie die Angst rhetorisch ausgenutzt werden kann, um zu zeigen, wo die Gefahren einsetzen: die Rede von Präsident Trump in Polen am 11. Juni 2017. Zuerst ein paar Worte zum Kontext: Das Wissen der meisten Amerikaner über den Islam ist minimal. Die meisten von ihnen wissen nichts vom Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten und haben wenig Ahnung davon, in welchen Nationen die Muslime in der heutigen Welt in welcher Zahl leben. So wissen sie etwa nicht, dass die beiden größten muslimischen Bevölkerungsgruppen in Indonesi-

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en und Indien leben – beides blühende Demokratien. Die Wörter „Muslim“ und „Araber“ werden häufig als Synonym verwendet und für gleichbedeutend gehalten. Da nur wenige den Koran gelesen haben, ist man sich ebenso wenig dessen bewusst, dass der Islam (darin dem Christentum ähnlich) ursprünglich im Wesentlichen eine Religion gleichen Respekts war – was ein Grund dafür ist, dass so viele indische Hindus der untersten Kasten zum Islam oder Christentum konvertiert sind. Die Amerikaner verfügen nur über ein geringes Verständnis der verschiedenen Nationen, in denen Muslime leben, ihrer Geschichte und gegenwärtigen Konflikte. Auch wissen sie nichts von den unterschiedlichen Auslegungen des Korans oder über die Tatsache, dass die Popularität der strengen wahhabitischen Auslegung, soweit sie besteht, sich vor allem der Unterstützung durch die Herrscher Saudi-Arabiens verdankt, eines amerikanischen Verbündeten. In diesem Klima der Unwissenheit können alle von mir benannten Mechanismen der Angst ihre verzerrende Wirkung sehr einfach entfalten. Zunächst bildeten offensichtlich die Terroranschläge vom 11. September 2001 sowie spätere Anschläge, an denen Muslime beteiligt waren, einen fruchtbaren Boden für die „Verfügbarkeitsheuristik“. Diese im Zentrum der Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit stehenden Ereignisse verdecken andere Gefahrenquellen und halten Menschen davon ab, sich mit anderen Problemen auseinanderzusetzen, wie etwa dem einfachen Zugang zu Waffen, ohne dass der Hintergrund der Käufer geprüft würde. Sie führen dazu, dass man in diesem einen Fall aggressive Maßnahmen unterstützt und andere Fälle vernachlässigt, als wäre dies der beste Weg, die Gefährdung generell zu verringern. Eine nahe Verwandte der Verfügbarkeitsheuristik, die sich stets besonders negativ auswirkt, ergibt sich daraus, dass es Menschen nicht gelingt, zwischen dem, was in die Augen springt und

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sich Aufmerksamkeit verschafft, und seiner verhältnismäßigen Wahrscheinlichkeit gedanklich sauber zu unterscheiden. Dieses Phänomen ist bei Problemen, die mit ethnischer Herkunft zu tun haben, und im Strafrecht wohl bekannt. Werden Afroamerikaner einmal als Kriminelle gebrandmarkt, weil weithin bekannt gewordene Verbrechen von Afroamerikanern begangen wurden, dann werden daraus häufig zwei höchst unzuverlässige Schlussfolgerungen gezogen: Erstens, dass ein großer Teil der Verbrechen von Afroamerikanern begangen wird, und zweitens, dass ein großer Teil der Afroamerikaner Kriminelle sind. Selbst wenn die erste Schlussfolgerung der Wahrheit entspräche, kann die zweite nicht aus der ersten abgeleitet werden. Dennoch beweist die Regelmäßigkeit, mit der Weiße ihre Handtaschen fest umklammert halten oder die Straßenseite wechseln, sobald sie einen Afroamerikaner sehen, wie weit solche Schlussfolgerungen verbreitet sind. Und was Muslime betrifft, so ist es klar, dass man viel zu schnell von weithin bekannten terroristischen Anschlägen zu der Annahme fortschreitet, die meisten terroristischen Anschläge würden von Muslimen begangen. Diese Behauptung lässt sich nur schwer untersuchen, weil die Definition von „Terrorismus“ so vage und umstritten ist. Daran schließt sich jedoch ein noch wesentlich bedenklicherer Fehlschluss an: Man geht von der Annahme, dass die meisten Terrorakte von Muslimen begangen werden, zu der Behauptung über, dass die meisten Muslime Terroristen oder potenzielle Terroristen sind. Diese Behauptung ist sowohl ganz offensichtlich falsch als auch äußerst kontraproduktiv, denn eine gute Möglichkeit, an Informationen über mögliche islamische Terrorakte zu kommen, bestünde darin, gute Beziehungen zur örtlichen muslimischen Gemeinschaft zu unterhalten. Eine große Rolle beim Schüren dieser generellen Ängste spielen auch Kaskaden, sowohl Reputations- als auch Informationskaska-

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den. Das Internet macht das Entstehen solcher Kaskaden sehr einfach. Ebenso wie sich harmlose Videos von süßen Kätzchen rasend schnell verbreiten, verbreiten sich auch diffamierende und irreführende Informationen mit großer Geschwindigkeit, häufig noch verstärkt durch das Ansehen, das ein bestimmter politischer Beobachter oder eine selbsternannte Autorität im Internet hat. Außerdem liefern sehr wahrscheinlich angeborene neurologische Mechanismen der Angst weitere Nahrung. So wie wir scheinbar durch die Evolution dazu bestimmt wurden, die Form einer Schlange zu fürchten, so scheinen wir auch darauf programmiert zu sein, eine Person zu fürchten, die verborgen ist, deren Gesicht nicht zu sehen ist. Horrorfilme nutzen das aus. Darth Vader wirkt genau deshalb so beängstigend, weil seine menschliche Stimme aus einer Maske ertönt und sein ganzer Körper verhüllt ist; ebenso lösen – zumindest bei vielen Amerikanern – muslimische Frauen in voller Verschleierung Angst aus, besonders wenn auch ihr Gesicht bedeckt ist. Auch wenn der tiefe Respekt vor religiösen Entscheidungen die USA davon abgehalten hat, dem Burkaverbot einiger europäischer Länder zu folgen, so gibt es dennoch keinen Zweifel daran, dass die Burka viele Menschen mit Unbehagen und diffuser Angst erfüllt – obwohl es in den USA und in Europa praktisch keine Hinweise auf terroristische Handlungen von Frauen gibt und obwohl entschlossene Terroristen wie die Boston-Marathon-Bomber sehr bemüht waren, sich anzupassen: Die beiden trugen Baseballkappen und T-Shirts und hatten Rucksäcke dabei. Ferner ist es bemerkenswert, dass Menschen vor vielen anderen Formen der Ganzkörperbekleidung nicht zurückschrecken, etwa vor normaler Winterkleidung (einem langen Daunenmantel) oder sogar einem bedeckten Gesicht (über die Augenbrauen gezogener Hut, Schal über Mund und Nase, undurchsichtige oder reflektierende Sonnenbrillen), vor der Sportbekleidung von Wintersportlern, der

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Kleidung von Chirurgen und Zahnärzten oder Personen auf einer Kostümparty. (Tatsächlich musste das Gesetz, das in Frankreich das Verhüllen des Gesichts verbietet, eine lange Liste von Ausnahmen aufnehmen, darunter Gründe, die mit „Gesundheit“, „Sport“, „Beruf “ sowie „künstlerischen und kulturellen Veranstaltungen“ in Zusammenhang stehen.) Trotz der deutlichen Anzeichen von Ungleichheit und einer Art „Stammesgefühl“ in den in Amerika und Europa erlebten Ängsten lässt eine angeborene Abneigung gegen das verhüllte Gesicht, wenn sie mit unserer angeborenen „stammesbewussten“ Abneigung gegen alles Fremde und Unbekannte verbunden ist, viele Amerikaner vor Muslimen auf eine andere Weise zurückschrecken, als Menschen es vor vertrauter erscheinenden Mitgliedern von Gruppen tun, obwohl einige ihrer Mitglieder Gewalt ausüben. Zum Beispiel schreckte niemand vor irischen Katholiken zurück oder schlug vor, die Einwanderung irischer Katholiken einzuschränken – obwohl bekannt war, dass die „Troubles“ in Nordirland zu zahlreichen Terroranschlägen geführt haben und dass ein großer Teil des Geldes, mit dem der Terrorismus der IRA (Irisch-Republikanischen Armee) unterstützt wurde, aus den USA kam. Selbst in Großbritannien, wo die meisten Terroranschläge stattfanden, wurden Iren nicht generell gemieden (man verstand, dass die Republik Irland und Nordirland zwei völlig verschiedene politische Entitäten waren); ebenso wenig wurden Katholiken allgemein gemieden, obwohl die IRA eine katholische Terrororganisation war. Es hat auch niemand versucht, die Idee eines „Kampfes der Kulturen“ heraufzubeschwören, was absurd gewesen wäre, da alle Parteien des Konflikts weiße Christen waren. Kurz gesagt: Man berücksichtigte die bewiesenen Fakten und wurde nur selten zum Opfer irrationaler Ängste – zweifellos, weil alle Parteien weiß und christlich waren.

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Angst spricht vor allem auf Rhetorik an, wie Aristoteles bereits vor langer Zeit wusste, und die beiden republikanischen US-Präsidenten der jüngsten Zeit haben die Aufgabe der Kommunikation mit der Öffentlichkeit sehr unterschiedlich gehandhabt. Nach dem Anschlag vom 11. September 2001 sagte Präsident George W. Bush den Amerikanern ausdrücklich, dass unser Land sich nicht in einem Krieg mit dem Islam befände. „Wir befinden uns nicht im Krieg mit dem Islam“, lautete seine berühmt gewordene Feststellung. Und er sagte es nicht nur einmal: Er wiederholte diese Aussage viele Male, wie man im Archiv seiner Webseite30 nachlesen kann. Hier sollen einige repräsentative Beispiele genannt werden: Unsere muslimischen Bürger leisten in den Vereinigten Staaten in Wirtschaft, Wissenschaft und Recht, Medizin und Bildung sowie in anderen Bereichen zahlreiche Beiträge. Muslimische Angehörige unserer Streitkräfte und meiner Regierung leisten für ihre amerikanischen Mitbürger hervorragende Dienste, indem sie in einer friedlichen Welt die Freiheits- und Gerechtigkeitsideale unserer Nation verteidigen. (Am 5. Dezember 2002 im Islamischen Zentrum von Washington, DC) Einige der Dinge, die über den Islam geäußert wurden, geben nicht die Stimmung meiner Regierung oder die der meisten Amerikaner wieder. Der Islam, wie er von der großen Mehrzahl der Menschen praktiziert wird, ist eine friedliche Religion, eine Religion, die andere respektiert. Unser Land basiert auf Toleranz, und in Amerika sind Menschen aller Glaubensrichtungen willkommen. (Am 13. November 2002 bei einem Treffen mit UN-Generalsekretär Kofi Annan)

30 Unter georgewbush-whitehouse.archives.gov/infocus/ramadan/islam.html (abgerufen am 19.11.2018).

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Unser Krieg ist kein Krieg gegen eine Religion, gegen den muslimischen Glauben. Doch es ist ein Krieg gegen Individuen, die absolut alles hassen, wofür Amerika steht … (Am 20. November 2002 auf einer Pressekonferenz)

Es gibt noch viel mehr Zitate in diesem Archiv, und allein die Tatsache, dass Präsident Bush ein solches Archiv geführt hat, ist schon bedeutsam. Für mich entspricht dies der Art, wie eine verantwortungsbewusste politische Führung auf eine unter der Bevölkerung weitverbreitete Angst reagieren sollte. Sie beruhigt die eskalierende Verwirrung und Angst, eröffnet den Menschen eine sachlichere und gezieltere Strategie und erinnert sie an hochgeschätzte amerikanische Werte, die nicht geopfert werden dürfen. (Fragwürdiger war zugegebenermaßen die berühmte Rede vom 29. Januar 2002 über die „Achse des Bösen“, in der Präsident Bush eine Gruppe von Nationen dämonisierte, von denen man annahm, dass sie den Terrorismus unterstützen. Doch zumindest standen dabei staatlich geförderte kriminelle Aktivitäten im Mittelpunkt und nicht eine gesamte Religion. Die Einbeziehung Nordkoreas machte zudem deutlich, dass er den staatlich geförderten Terrorismus nicht für ein typisch islamisches Phänomen hielt.) Allgemeiner gesprochen verwendete Präsident Bush typischerweise die Rhetorik universeller Menschenwürde und des Fortschritts, nicht die Rhetorik eines Konflikts der „Zivilisationen“. Zum Beispiel forderte er die USA und Europa dazu auf, „Männern und Frauen auf der ganzen Welt zu helfen, ein sinnvolles Leben in Würde aufzubauen“, und „die Gesundheit der Menschen in der Welt zu schützen“. Auch diese Rhetorik war wertvoll, da sie diffuse Ängste besänftigte und Menschen dazu veranlasste, sich strikt auf Beweise für tatsächliche Gefahren zu konzentrieren, während sie gleichzeitig konstruktive Maßnahmen nannte, die für das menschliche Leben auf der ganzen Welt hilfreich waren. (Solche Aussagen entsprechen Prä-

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sident Bushs Bestehen darauf, dass die Pharmaindustrie den Menschen in Afrika Medikamente zur Bekämpfung von HIV zu einem angemessenen Preis verfügbar machen soll.) Präsident Trump hingegen hat während seines Wahlkampfs und danach immer wieder so über den Islam gesprochen, als sei er insgesamt eine Quelle der Gefahr. In der Rhetorik, die er vor dem umstrittenen Reiseverbot verwendete, wurden Muslime als potenzielle Feinde herausgehoben, oft verbunden mit dem Ausdruck „Muslim ban“ („Einreiseverbot für Muslime“). Die Rede, die er am 6. Juli 2017 in Warschau hielt und die weithin gelobt wurde, erscheint fast noch bedrohlicher, weil sie subtiler war. In ihr stellte er die Frage, ob „der Westen“ noch den Willen habe, gegen einen Feind zu kämpfen, der als monolithisch und boshaft dargestellt wurde. Von einer Beschreibung des polnischen „Kampfes für die Freiheit“ gegen die Nazis (die in der Rede seltsamerweise mit den Sowjets, die natürlich unsere Verbündeten waren, durcheinandergebracht wurden!) ging die Rede schnell zur einer gegenwärtigen Bedrohung über: zu „einer anderen Ideologie der Unterdrückung“, die „versucht, Terrorismus und Extremismus in die ganze Welt zu exportieren“. Obwohl die Ideologie als „radikaler islamischer Terrorismus“ bezeichnet wird, nicht als der Islam schlechthin, und obwohl der Präsident auf seine Bitte an „die Führer von mehr als fünfzig muslimischen Nationen“ anspielt, „sich zusammenzuschließen, um diese Bedrohung der gesamten Menschheit zu vertreiben“, schließt sich die Rede dennoch der altbekannten Idee eines „Kampfes der Kulturen“ an. Wie Peter Beinart am 6. Juli desselben Jahres in der Zeitschrift The Atlantic feststellte, bezog sich die Rede zehnmal auf „den Westen“ und fünfmal auf „unsere Zivilisation“.31 Diese Rhetorik spielt auf die These von Samuel Huntington 31 Peter Beinart, „The Racial and Religious Paranoia of Trump’s Warsaw Speech“, in: The Atlantic, 6. Juli 2017, www.theatlantic.com/internaional/archive/2017/07/ trump-speech-poland/532866 (abgerufen am 1.10.2018).

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an, dass „der Westen“ sich mit der islamischen Zivilisation insgesamt in einem Krieg befinde.32 Und was ist „der Westen“? Er ist keine geografische Einheit, da er Australien und Polen umfasst, aber Nationen wie Ägypten und Marokko ausschließt, die weiter westlich liegen als einige der dazugehörigen Nationen. Und wie Beinart anführt, ist er auch kein politischer oder wirtschaftlicher Begriff, da Japan, Südkorea und Indien nicht enthalten sind. Im Grunde ist der Begriff ein Appell an eine gemeinsame Religion und eine ethnische Identität: an das Christentum (inklusive einiger Juden) und an die Weißen (da Lateinamerika scheinbar nicht dazugehört). Als politische Analyse ergibt diese Rede keinerlei Sinn. Die islamische Welt befindet sich im Krieg mit sich selbst, und es gibt unter den vielen verfeindeten Gruppen keine einzige Organisation oder Gruppe, die die Macht hätte, selbst der schwächsten europäischen Nation mit einer militärischen Invasion zu drohen. In der Rede geht es allerdings nicht um eine Analyse, sondern darum, die Angst vor dem „Süden“ und dem „Osten“ zu schüren, genauer gesagt: vor Einwanderern aus diesen Regionen. Beinarts Schlussfolgerung scheint mir richtig zu sein: „Amerika ist im Kern westlich, was bedeutet: weiß und christlich (oder zumindest jüdisch-christlich). Dies impliziert, dass jeder Bürger der USA, der nicht weiß und christlich ist, möglicherweise nicht wirklich Amerikaner ist, sondern eher ein Schwindler und eine Bedrohung.“ Die Rhetorik von Präsident Trump erzeugt, anders als die Rhetorik von Präsident Bush, ein Schreckgespenst, ohne die Auf32 Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996. Eine bemerkenswerte Besonderheit von Huntingtons Sichtweise der Geschichte ist, dass Indien eine einheitlich hinduistische „Zivilisation“ habe und nicht einmal zu den „gespaltenen“ Ländern gehöre – womit die tief greifende Vermischung und Durchdringung von Hinduismus und Islam über weite Strecken der indischen Geschichte hinweg ignoriert wird.

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Angst: Früh und machtvoll

merksamkeit auf wichtige Fakten zu lenken. Sie entfacht Angst, indem sie das Gefühl einer großen und grenzenlosen Gefahr (durch den Süden, den Osten) sowie der Bedrohung und Dringlichkeit erzeugt. Sie geht daraufhin in eine Rhetorik von Schuldzuweisung und Selbstverteidigung über, während die Angst Wut erzeugt. Ich werde dieser Verbindung in meinem nächsten Kapitel nachgehen. Kurz gesagt, beruht die gegenwärtige Angst vor Muslimen auf sämtlichen von mir erörterten Mechanismen der Angst: auf angeborenen Tendenzen, tief verwurzelten psychologischen Faustregeln und der Empfänglichkeit der Menschen für politische Rhetorik. Diese Art von gestaltloser Angst, zu der es in einem Klima der Unwissenheit kommt und die durch ungenaue und unheilverkündende Rhetorik weiter genährt wird, ist der Feind jedes vernünftigen Dialogs über unsere Zukunft. Glücklicherweise wissen gute politische Kommentatoren, wie man ihr den Kampf ansagt. Dies ist lediglich ein Beispiel dafür, wie die Angst der Amerikaner in die Irre gegangen ist. Derselben Art von Analyse sollten auch andere Befürchtungen unterzogen werden: Was denken Menschen und stellen sie sich vor? Warum? Wie konkret verankert ist die Angst, und wie sehr wird sie von sachgerechten Informationen bestätigt? Wurde in dem Maße, in dem die Angst auf einen konkreten Gegenstand beschränkt wurde, ein bestimmter Fall auf Kosten anderer überbetont, die ebenso ernst zu nehmen sind? Wenn eine Angst gut begründet und ausgewogen ist, aber dennoch die Gefahr besteht, dass das eigentliche Problem ignoriert wird und Menschen es versäumen, darauf zu reagieren, dann kann es gerechtfertigt sein, für eine gewisse Aufregung zu sorgen, zum Beispiel indem ein Politiker, der die Bürger dazu bewegen möchte, ihre Häuser zu verlassen, einen kommenden Orkan als „Monstersturm“ bezeichnet. Doch selbst begründete Übertreibungen sollten nur mit großer Vorsicht verwendet werden.

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Die fördernde Umwelt, Teil II

Die fördernde Umwelt, Teil II Wir sind nicht unverwundbar, und unser Leben ist anfällig für Angst. Auch in Zeiten von Glück und Erfolg nagt die Angst an den Rändern von Fürsorge und Gegenseitigkeit. Sie führt dazu, dass wir uns von den anderen ab- und einer narzisstischen Beschäftigung mit uns selbst zuwenden. Angst ist monarchisch, und die demokratische gleiche Augenhöhe ist eine hart erkämpfte Errungenschaft. Winnicott, der optimistisch war, obwohl er diese Gefahren in ihrem vollen Umfang erkannte, war der Überzeugung, dass es Menschen möglich sei, eine „reife wechselseitige Abhängigkeit“ zu erreichen, wenn sie eine „fördernde Umwelt“ haben, und er nahm an, dass diese Umwelt häufig gegeben ist. Durch seinen Beruf dazu bestimmt, bestand sein Hauptziel während seines gesamten Lebens darin, diese Umwelt im Leben des einzelnen Kindes in seiner Familie zu realisieren. Viele Kinder hatten bereits eine solche Umwelt; wenn nicht, ließ sie sich durch die geduldige Arbeit des Analytikers herbeiführen. Doch seine Arbeit während des Krieges führte ihn zu Spekulationen über die noch größere Frage, was es für die Gesellschaft als Ganzes bedeuten würde, eine „fördernde Umwelt“ für die Kultivierung ihrer Mitglieder und ihrer Beziehungen untereinander zu gestalten. Eine solche Gesellschaft, so dachte er (während der Kalte Krieg sich verschärfte), müsste eine Demokratie sein, welche die Freiheit schützt, da allein diese Gesellschaftsform die Fähigkeiten des Menschen, sich zu entfalten, zu spielen, zu handeln und sich auszudrücken, vollständig und auf gleiche Weise fördere.33 Immer wieder brachte er die Demokratie mit psychischer Gesundheit in Verbin33 Vgl. insbesondere „Einige Gedanken zur Bedeutung des Wortes Demokratie“, in: Donald Winnicott, Familie und individuelle Entwicklung, München 1978.

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dung: Um mit anderen in einem Geist wechselseitiger Abhängigkeit und Gleichheit zusammenleben zu können, müssen die Menschen den Narzissmus, mit dem wir alle unser Leben beginnen, hinter sich lassen. Wir müssen auf den Wunsch verzichten, andere zu versklaven, indem wir Fürsorge, guten Willen und die Anerkennung von Grenzen an die Stelle kindlicher Aggression setzen. Wir haben eine vage Vorstellung davon, was diese Ziele in einer Familie bedeuten, und Winnicott betonte stets, dass eine Schlüsselaufgabe der Regierung darin bestehe, Familien zu unterstützen, obwohl er wenig darüber sagte, wie dies in der Praxis aussehen sollte. Wir können mit Sicherheit selbst erkennen, dass Familien nicht in der Lage sind, Kinder zu selbstsicheren und ausgeglichenen Menschen zu erziehen, die fähig sind, Anstürmen der Angst zu widerstehen, wenn sie hungrig sind, wenn es ihnen an medizinischer Versorgung, guten Schulen und einer sicheren Umgebung in der unmittelbaren Nachbarschaft fehlt. Dies führt uns zu der größeren Frage, auf die Winnicott nicht genauer eingegangen ist: Wie kann eine Nation als Ganzes eine „fördernde Umwelt“ sein, die Angst besänftigt und die demokratische Gegenseitigkeit schützt? Dies ist eine dringliche Frage, und es steht viel auf dem Spiel. Da dies kein Buch über detaillierte Richtlinien der öffentlichen Ordnung ist, werde ich hier nicht einmal versuchen, Lösungen für diese Probleme zu finden, obwohl ich in Kapitel 7 allgemeine Strategien dafür vorschlagen werde. Fassen wir an dieser Stelle zunächst das Problem so zusammen, wie es sich nach meiner Analyse darstellt. Die Angst schwelt ständig unter der Oberfläche der moralischen Anteilnahme und droht, die Demokratie zu destabilisieren; denn die Demokratie verlangt von uns allen, dass wir unseren Narzissmus einschränken und die Gegenseitigkeit akzeptieren. Gegenwärtig greift die Angst in unserer Nation ungezügelt um sich: Angst vor einem sinkenden Lebensstandard, Angst vor Arbeitslosigkeit, vor

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fehlender Gesundheitsversorgung in Zeiten der Not, Angst vor einem Ende des amerikanischen Traums, in dem man sicher sein konnte, dass harte Arbeit ein menschenwürdiges und stabiles Leben ermöglicht und dass es den eigenen Kindern besser gehen wird, wenn auch sie hart arbeiten. Unsere Ausführungen über die Angst zeigen uns, dass einige äußerst schlimme Dinge leicht geschehen können. Es kann passieren, dass die Bürger eines Landes der Wahrheit gegenüber gleichgültig werden und der Geborgenheit einer sich absondernden Gruppe von Gleichgesinnten den Vorzug geben, die voreinander ihre Unwahrheiten wiederholen. Es kann sein, dass sie Angst davor haben, ihre Meinung frei zu äußern, und die Zusicherungen eines Führers bevorzugen, der ihnen ein Gefühl der Geborgenheit wie im Schoß ihrer Mutter vermittelt. Und sie können aggressiv gegen andere werden und sie für den Schmerz der Angst verantwortlich machen. Dieser Dynamik von Angst und Schuld wenden wir uns nun zu.

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Amerika ist ein Land voller Zorn. Das ist schon lange so; doch heute scheint der Zorn allgegenwärtiger und aggressiver zu sein. Männer beschuldigen Frauen, Frauen beschuldigen Männer der Arbeiterklasse. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums finden wir hysterische Schuldzuweisungen an Muslime, auf der linken Seite wütende Beschuldigungen derjenigen, welche die Muslime verunglimpfen. Einwanderer machen für die Instabilität ihres Lebens die neue politische Führung verantwortlich. Zahlenmäßig überwiegende Bevölkerungsgruppen machen Einwanderer für die Instabilität „unser aller“ Leben verantwortlich. Selbstverständlich ist Wahrheit wichtig, und darauf werde ich bestehen. Dennoch sind die Schuldzuweisungen, die wir erleben, allzu oft nicht angemessen, sondern hysterisch, von Angst getrieben und mit der Weigerung verbunden, in Ruhe Überlegungen anzustellen. Außerdem streben sie nach Vergeltung und versuchen, als Reaktion auf den Schmerz, den die wütende Person oder Gruppe erleidet, ebenfalls Schmerz zuzufügen. Zu diesem öffentlichen Zorn gehört nicht nur der Protest gegen Unrecht – was eine gesunde Reaktion in einer Demokratie ist, wenn der Protest gut begrün-

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det ist –, sondern auch ein brennendes Verlangen nach Rache, als könnte das Leiden eines anderen die Probleme der Gruppe oder der Nation lösen. Wir könnten versuchen, diesen Zorn zu verstehen, indem wir intensiver über unsere eigene politische Gegenwart nachdenken. Allerdings glaube ich, dass wir – besonders im Zusammenhang mit Wut – nur selten klar denken, wenn wir uns selbst und unsere eigene unmittelbare Gegenwart reflektieren. Ich meine, wir wären besser beraten, uns zunächst der Vergangenheit zuzuwenden und das Thema anhand historischer und literarischer Beispiele zu betrachten, da wir diese frei von parteiischen Abwehrhaltungen erörtern können. Aus diesem Grund schlage ich vor, dass wir uns zunächst das antike Griechenland und Rom anschauen, wo sich viele Aspekte finden, die für die Probleme unserer Gegenwart Relevanz haben. Betrachten wir das Ende einer der berühmtesten griechischen Tragödien, der Orestie von Aischylos (458 v. Chr.), in der es um den Fluch von vergeltendem Zorn geht, der das Haus des Atreus heimsuchte – sowie um die politische Auflösung dieses Fluchs durch Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Obwohl die Trilogie scheinbar in fernen mythischen Zeiten spielt, gipfelt sie in einem Loblied auf die Institutionen Athens im 5. Jahrhundert, und ihr drittes Stück, die Eumeniden, ist voll von anachronistischen Hinweisen auf das Strafrechtssystem, mit dem das Publikum vertraut war.1 1 Ich erörtere die Orestie auch im ersten Kapitel von Zorn und Vergebung: Plädoyer für eine Kultur der Gelassenheit, Darmstadt 2017, doch ich habe einige Nuancen meiner Interpretation geändert. Ich verwende hier meine eigene englische Übersetzung des griechischen Textes. Anm. d. Übers.: Die folgenden Zitate sind der berühmten Übersetzung von Johann G. Droysen entnommen, die der Sprachkunst des Originals sehr nahekommt: Aischylos, Die Tragödien, übertragen von J. G. Droysen, durchgesehen von W. Nestle. Neu herausgegeben und eingeleitet von B. Zimmermann, Stuttgart 72016. Der Text ist rechtefrei und im Internet zugänglich unter www.gottwein.de/Grie/aischy/eum0001de.php (abgerufen am 19.10.2018).

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Am Ende der Orestie kommt es in Athen zu zwei Veränderungen. Die eine ist berühmt, während der anderen weniger Beachtung geschenkt wird. Die bekanntere Veränderung besteht darin, dass Athene rechtliche Institutionen einführt, die den Kreislauf von Blutvergießen und Rache beenden und an seine Stelle treten. Sie richtet einen Gerichtshof mit festgelegten Beweis- und Argumentationsverfahren sowie Geschworenen ein, die per Losverfahren aus den Bürgern Athens ausgewählt werden. Athene verkündet, dass Blutschuld von nun an durch das Gesetz und nicht durch die Furien, alte Rachegöttinnen, geregelt wird. Doch die Furien werden nicht einfach verbannt. Stattdessen überredet Athene sie, als Teil der Stadt weiter in ihr zu leben; und in Anerkennung ihrer Bedeutung für das Wohlergehen der Stadt weist sie ihnen einen unterirdischen Ehrenplatz zu. Normalerweise wird dieser Schritt Athenes als Anerkennung der Tatsache verstanden, dass das Rechtssystem die auf Vergeltung sinnenden Leidenschaften einbeziehen und ehren muss. Diese Leidenschaften selbst bleiben unverändert, sie bekommen lediglich ein neues Haus, das sie umgrenzt. Die Furien stimmen den Zwängen des Gesetzes zwar zu, doch behalten sie ihr dunkles und rachsüchtiges Wesen unverändert bei. Diese Lesart ignoriert jedoch die zweite Veränderung: eine Veränderung im Charakter der Rachegöttinnen selbst. Zu Beginn des Dramas werden die Furien als abstoßend und schreckenerregend beschrieben. Sie sollen schwarz und ekelhaft sein, aus ihren Augen tropft eine scheußliche Flüssigkeit. Apollo sagt sogar, dass sie Klumpen des Blutes ihrer Opfer erbrächen. Der ihnen angemessene Ort sei eine barbarische Tyrannei, in der Grausamkeit herrscht. Und als sie erwachen, widersprechen die Furien diesen düsteren Beschreibungen keineswegs. Als der Geist der ermordeten Klytämnestra sie ruft, sprechen sie nicht, sondern geben lediglich Tiergeräusche von sich: Sie ächzen und heulen. (Im Griechischen heißt es

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mugmos und oigmos, wobei es sich um Tierlaute handelt.) Wenn sie endlich sprechen, sind ihre einzigen Worte: „Faß ihn! Faß ihn! Faß ihn! Faß ihn!“, was dem Jagdruf eines Raubtiers so nahe kommt, wie es das Genre erlaubt. Klytämnestra sagt: „Im Traum verfolgst dein Wild du, schlägst gleich einem Hund hell an, der niemals seines Dienstes Pflicht vergisst!“2 Wenn den Furien später, wie es das Genre verlangt, eine poetische Sprache verliehen wird, sollten wir diese anfängliche Charakterisierung im Hinterkopf behalten. Aischylos stellt hier ungebändigten Zorn dar. Er ist zwanghaft, zerstörerisch und existiert nur, um Schmerz zuzufügen und Verderben zu bringen. (Wie Bischof Joseph Butler, der angesehene Philosoph des 18. Jahrhunderts, anmerkte, gibt es „kein anderes Prinzip und keine Leidenschaft, deren Ziel das Unglück unserer Mitgeschöpfe“ ist.) Nach den Vorstellungen Apollos gehören diese wütenden Wesen anderswo hin, aber sicherlich nicht in eine das Gesetz achtende Demokratie. Ohne dass sie sich ändern, könnten diese Furien unmöglich die Grundlage des Rechtssystems einer Gesellschaft bilden, die der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet ist. Man erhält keine Gerechtigkeit, wenn man wilde Hunde in einen Käfig sperrt. Doch die Furien vollziehen den Übergang zur Demokratie keineswegs unverändert. Bis zu einem sehr fortgeschrittenen Zeitpunkt im Drama behalten sie ihr brutales Wesen und drohen, ihr Gift über das Land auszuspeien. Aber dann überredet Athene sie dazu, sich zu ändern, damit sie sich ihrem Vorhaben anschließen können. „Bring deines Ingrimms schwarzen Wogensturz zur Ruh“3, sagt sie. Das aber kommt natürlich praktisch einem Wandel ihrer Identität gleich, so gebunden sind sie an die obsessive Kraft des Zorns. Athene versucht, sie mit Reizen 2 Aischylos, Orestie, a.a.O., Zeile 130 bzw. 132 f. 3 Aischylos, Orestie, a.a.O., Zeile 832.

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zu locken, sich der Demokratie anzuschließen: mit einem Ehrenplatz sowie der Ehrerbietung der Bürger – allerdings nur dann, wenn sie sich ein neues Spektrum an Gefühlen zu eigen machen und zukunftsorientiertes Wohlwollen an die Stelle der Vergeltung setzen. Vielleicht die grundlegendste Veränderung besteht darin, dass die Furien auf die Stimme der Überzeugung hören müssen. Sie nehmen Athenes Angebot an und zeigen sich „sanftmütig“. Jeder, so erklären sie, sollte sich jedem anderen gegenüber als großzügig erweisen, in einer „Gesinnung allseitiger Liebe“. Es überrascht nicht, dass sich auch ihr körperliches Erscheinungsbild entsprechend verändert. Für den Festzug am Ende des Dramas nehmen sie offenbar eine aufrechte Haltung an, und von einer Gruppe von Begleitern aus der Bürgerschaft werden sie mit purpurroten Gewändern ausgestattet. Statt weiterhin Bestien zu sein, sind sie nun eher zu Athenern geworden. Ja, selbst ihr Name wurde geändert: Sie sind jetzt die Wohlmeinenden (Eumeniden), nicht länger die Furien. Diese zweite Veränderung ist ebenso wichtig wie die erste, ja für den Erfolg der ersten von entscheidender Bedeutung. Aischylos zeigt, dass eine demokratische Rechtsordnung den Zorn nicht einfach einzäunen kann. Vielmehr muss sie ihn grundlegend verwandeln: von etwas, das kaum menschlich, zwanghaft und blutrünstig ist, zu etwas Menschlichem, das Gründe der Vernunft gelten lässt und Leben schützt, statt es zu bedrohen. Die Furien werden weiterhin gebraucht, weil diese Welt eine unvollkommene ist und es immer wieder Verbrechen geben wird, mit denen man sich befassen muss. In ihrer ursprünglichen Form sind sie jedoch weder erwünscht noch notwendig. Sie müssen zu Werkzeugen der Gerechtigkeit und des menschlichen Wohlergehens werden. Die Stadt ist von der Geißel des rachsüchtigen Zorns befreit, die zu inneren Unruhen führte. An seiner Stelle erhält sie eine in die Zukunft blickende Gerechtigkeit.

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Wie die modernen Demokratien hatte auch die alte griechische Demokratie ein Problem mit dem Zorn. Liest man Texte der Geschichtsschreiber und die Reden der Oratoren, so trifft man auf Dinge, die einem bekannt vorkommen: auf Einzelne, die zwanghaft gegen Menschen prozessieren, denen sie vorwerfen, sie ungerecht behandelt zu haben, auf Gruppen, die andere Gruppen für ihre fehlende Macht verantwortlich machen, auf Bürger, die berühmte Politiker und andere Eliten für den Ausverkauf der höchsten Werte der Demokratie verantwortlich machen, auf andere Gruppen, die Ausländer oder auch Frauen für ihre eigenen politischen und persönlichen Probleme verantwortlich machen. Der Zorn, den die Griechen – und später auch die Römer – nur allzu gut kannten, war ein Zorn voller Angst vor der eigenen Verletzlichkeit als Mensch. Lukrez behauptet sogar, aller politischer Zorn sei eine Folge der Angst – eine Folge kindlicher Hilflosigkeit und ihres erwachsenen Gegenstücks, der Angst vor dem Tod. Angst, so sagt er, verschlimmere jede Situation und führe zu politischen Missständen, mit denen wir uns noch beschäftigen werden. Zunächst wollen wir jedoch näher auf den Zorn eingehen. Die Griechen und Römer sahen in ihrem Umfeld viel Zorn. Doch wie der Altphilologe William Harris in seinem gelungenen Buch Restraining Rage4 zeigt, haben sie sich den Zorn nicht zu eigen gemacht oder ihn aufgewertet. Sie definierten Männlichkeit nicht anhand von Zorn, und tatsächlich tendierten sie dazu, ihn wie bei diesen Furien eher Frauen zuzuschreiben, da sie diese als irrationale Wesen ansahen. Wie sehr sie auch Zorn empfanden und zum Ausdruck brachten – ihre Kultur kämpfte dagegen an, denn sie sahen ihn als destruktiv für das Wohl der Menschen und 4 William Harris, Restraining Rage: The Ideology of Anger Control in Classical Antiquity, Cambridge 2002.

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die demokratischen Institutionen an. Zorn ist das erste Wort in Homers Ilias – es ist der Zorn von Achilles, der „den Achäern tausendfache Schmerzen brachte“. Das hoffnungsvolle Ende der Ilias verlangt von Achilles, dass er seinen Zorn aufgibt und sich mit seinem Feind Priamos versöhnt, da beide die Gebrechlichkeit des menschlichen Lebens anerkennen. Ich werde versuchen, meine Leser davon zu überzeugen, dass die Griechen und Römer recht hatten: Zorn ist Gift für demokratische Politik, und er ist umso schlimmer, je mehr er durch unterschwellige Angst und ein Gefühl der Hilflosigkeit verstärkt wird. Ich habe mich in meinem Buch Zorn und Vergebung 5 mit dem Phänomen des Zorns beschäftigt, aber ich habe nunmehr das Gefühl, dass die dortige Analyse etwas Entscheidendes weggelassen hat: die Rolle der Angst als Ursprung und Erfüllungsgehilfe vergeltenden Zorns. Ich werde versuchen, auf überzeugende Weise zu zeigen, dass wir gegen den Zorn in uns selbst Widerstand leisten und seine Rolle in unserer politischen Kultur zurückdrängen sollten. Diese Idee ist allerdings radikal, und sie ruft starken Widerstand hervor. Denn Zorn ist trotz all seiner Hässlichkeit ein beliebtes Gefühl. Viele Menschen meinen, es sei unmöglich, für Gerechtigkeit zu kämpfen, ohne Zorn angesichts von Ungerechtigkeiten zu empfinden, und dass er als Teil eines transformativen Prozesses gefördert werden sollte. Ferner denken viele Menschen, dass es ohne Zorn unmöglich sei, für die eigene Selbstachtung einzustehen, dass jemand, der auf Unrecht und Beleidigungen ohne Zorn reagiert, rückgratlos und unterdrückt sei. Diese Auffassungen sind nicht allein auf den Bereich der persönlichen Beziehungen beschränkt. Die derzeit populärste Position im Bereich des Strafrechts ist der „Retributivismus“, die Auffassung, dass das Gesetz Aggressoren in 5

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Darmstadt 2017.

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einer Weise bestrafen sollte, die den Geist eines gerechtfertigten Zorns verkörpert und versucht, vergeltenden Schmerz zuzufügen. Und es wird zudem weithin angenommen, dass diese Art von Zorn erforderlich ist, wenn es möglich sein soll, im Kampf gegen große Ungerechtigkeiten Erfolge zu erzielen. Wir dürfen dennoch bei unserer aischyleischen Skepsis bleiben und uns daran erinnern, dass in jüngster Vergangenheit drei Freiheitsbewegungen mit edlen Zielen auch ohne Appelle an Wut und Zorn erfolgreich angeführt wurden: die von Mahatma Gandhi, Martin Luther King Jr. und Nelson Mandela – drei Menschen, von denen man mit Sicherheit sagen kann, dass sie für die Achtung ihrer selbst und anderer eintraten und sich mit Ungerechtigkeiten nicht abgefunden haben. Ich werde im Folgenden geltend machen, dass eine philosophische Analyse des Zorns uns helfen kann, jene Philosophien zu unterstützen, die nicht an den Zorn appellieren, indem ich darlege, warum dem auf Vergeltung sinnenden Zorn aus normativer Sicht verhängnisvolle Fehler anhaften – da er teils inkohärent ist, teils auf schlechten Werten basiert und besonders dann verderbliche Konsequenzen hat, wenn Menschen ihn dazu einsetzen, die Aufmerksamkeit von wirklichen Problemen abzulenken, denen gegenüber sie sich machtlos fühlen. Zorn verdirbt die demokratische Politik und ist sowohl im Leben als auch in Fragen des Gesetzes von zweifelhaftem Wert. Ich werde zunächst meine allgemeine Auffassung erläutern und dann zeigen, wie relevant sie ist, wenn es darum geht, angemessen über den Kampf für politische Gerechtigkeit nachzudenken, wobei ich unseren fortwährenden Kampf für die gerechte Behandlung aller Menschen unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit als Beispiel nehme.

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Die Wurzeln des Zorns: Wut und Vorstellungen von Ungerechtigkeit Kommen wir nun noch einmal kurz auf das hilflose, ängstliche Baby zurück, das Lukrez so brillant beschrieben hat. Nach der Geburt haben Babys zunächst noch keinen Zorn als solchen, denn vollständig ausgebildeter Zorn erfordert kausales Denken: Jemand hat mir etwas Schlimmes angetan. Wenn sie nicht bekommen, was sie wollen, schreien Babys, und dieses Schreien drückt zunächst eher Unbehagen als einen Vorwurf aus – weil das Kind noch keine Kausalzusammenhänge erfassen kann. Doch schon bald schleicht sich eine weitere Idee ein: Die für mich sorgenden Personen geben mir nicht, was ich dringend benötige. Sie haben mir das angetan. Wegen ihnen ist mir kalt, bin ich nass und hungrig. Die Erfahrungen des Gefüttert-, Gehalten- und Angezogenwerdens führen schnell zu Erwartungen, Erwartungen wiederum zu Forderungen. Unsere instinktive Selbstliebe lässt uns unserem eigenen Überleben und Wohlbefinden einen hohen Wert beimessen. Das Selbst wird jedoch von anderen bedroht, wenn sie nicht tun, was wir wollen und erwarten. Die Psychoanalytikerin Melanie Klein bezeichnete diese emotionale Reaktion von Säuglingen als „Verfolgungsangst“, da es sich in der Tat um Angst handelt, die allerdings mit der Vorstellung einer vagen Bedrohung von außen verbunden ist.6 Ich würde sie lieber als Angstzorn oder sogar Angstbeschuldigung bezeichnen. Wenn wir nicht hilflos wären, würden wir uns einfach besorgen, was wir brauchen. Da wir jedoch anfangs hilflos sind, sind wir auf andere angewiesen. Sie geben uns nicht immer, was wir brauchen. 6 Kleins Schriften zu diesem Thema sind sehr umfangreich. Eine gute englischsprachige Zusammenfassung mit Referenzen findet sich unter www.melanie-klein-trust.org.uk/paranoid-schizoid-position (abgerufen am 2.10.2018).

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Und wenn wir dann den „Schuldigen“ identifizieren können, schlagen wir zu und geben ihm die Schuld. Die Schuldzuweisung gibt uns eine Strategie an die Hand: Jetzt werde ich meinen Willen mit Toben und Lärmen durchsetzen. Doch sie drückt auch ein ihr zugrunde liegendes Bild von der Welt aus: Die Welt sollte uns geben, was wir verlangen. Wenn Menschen das nicht tun, sind sie böse. Protest und Schuldzuweisungen sind in gewisser Weise etwas Positives: Sie konstruieren eine geordnete, auf Ziele ausgerichtete Welt, in der ich ein Akteur bin, der Forderungen stellt. Mein Leben ist wertvoll, und die Dinge sollten so gestaltet werden, dass ich glücklich bin und meine Bedürfnisse erfüllt werden. Wenn das nicht geschieht, muss jemandem die Schuld dafür gegeben werden. Doch allzu oft infiziert der Gedanke an Rache den Gedanken der Schuld und häufig selbst den der Bestrafung: Die Menschen, die wir beschuldigen, sollten für das, was sie getan haben, leiden müssen. Der Psychologe Paul Bloom hat gezeigt, dass Rachegedanken schon sehr früh im Leben von Kindern auftauchen – noch bevor sie zu sprechen beginnen. Kleinkinder sind hoch erfreut, wenn sie sehen, dass der „böse Mensch“ – eine Puppe, die einer anderen Puppe etwas weggenommen hat – mit einem Stock geschlagen wird. Bloom erkennt darin einen sehr frühen Sinn für Gerechtigkeit.7 Ich ziehe es vor, solche Gedanken als die inneren Furien zu bezeichnen, die in uns allen wohnen, aber mit wirklicher Gerechtigkeit nicht auf verlässliche Weise verbunden sind. Diese frühkindliche Idee wirkt wie eine Version der lex talionis: Auge um Auge, Schmerz um Schmerz. Es ist wahrscheinlich, dass diese primitive Vorstellung von einer proportionalen Heimzahlung ihren Ursprung in der Evolution hat. Es ist ein gedanklicher Sprung, dies als eine frühe Vorstellung von Gerechtigkeit zu bezeichnen, und ich denke, wir sollten diesen Sprung nicht machen. 7

Paul Bloom, Jedes Kind kennt Gut und Böse, München 2014.

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Man beachte, dass die Wut kleiner Kinder auf einem tiefen Widerspruch beruht, der den größten Teil des menschlichen Lebens durchzieht: Einerseits bin ich hilflos, dem Universum gleichgültig. Andererseits bin ich ein Alleinherrscher, und jeder muss sich um mich kümmern. Die Kombination aus körperlicher Hilflosigkeit, evolutionärer Selbstliebe und kindlichem Narzissmus erzeugt diesen Widerspruch. Wie wir sehen werden, besteht er in der Regel ein Leben lang fort, und zwar in Form des primitiven Gedankens einer „gerechten Welt“ sowie einer Tendenz, andere für die Härten und das Unglück des Lebens verantwortlich zu machen.

Die Definition von Zorn Spulen wir jetzt von der Kindheit zum Erwachsenenalter vor. Erwachsene erleben und äußern nicht mehr nur kindlichen, sondern vollständig ausgebildeten Zorn. Aber was ist Zorn? Wie ich sagte, lieben Philosophen Definitionen, denn sie schaffen Klarheit im Kopf. In diesem Fall helfen sie uns, die potenziell vielversprechenden Teile des Zorns von denen abzusondern, die zu nichts als Ärger führen. Kehren wir noch einmal zu den Griechen zurück und reden wir über Aristoteles’ Definition, da mehr oder weniger alle Definitionen des Zorns in der westlichen philosophischen Tradition sich daran orientieren.8 (Die Definitionen der indischen Tradition – leider die einzige nicht westliche Tradition, die ich kenne – sind sehr ähnlich.9) Nach Aristoteles ist Zorn eine Reaktion auf einen erheblichen Schaden, der einer Sache oder einer Person zugefügt wurde, an der 8 Aristoteles’ Definition findet sich in seiner Rhetorik, Buch II, Kap. 2, wo auch beschrieben ist, wie man Zorn herbeiführt; Kapitel 3 beschreibt, wie man Zorn besänftigt. 9 Siehe besonders die Ausführungen zu dem indischen buddhistischen Philosophen Santideva in meinem Buch Zorn und Vergebung, Darmstadt 2017.

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Die Definition von Zorn

einem viel liegt, wobei die zornige Person glaubt, dass dieser Schaden zu Unrecht zugefügt wurde. Aristoteles fügt hinzu, dass Zorn zwar schmerzhaft ist, aber dass er auch die angenehme Hoffnung auf Heimzahlung oder Vergeltung enthält. Also: Es gibt einen erheblichen Schaden, der sich auf die eigenen Interessen oder die Dinge bezieht, die einem am Herzen liegen, und Unrecht. Diese beiden Elemente scheinen sowohl wahr als auch unbestreitbar zu sein, und sie wurden durch moderne psychologische Studien bestätigt. Diese beiden Aspekte des Zorns können in einzelnen Fällen auf spezielle Weise Irrtümern unterliegen: Wir können uns darin täuschen, wer das Schlimme getan hat, oder darin, wie erheblich es tatsächlich war, oder darin, ob es uns wirklich angetan wurde (und sich nicht nur zufällig ergeben hat). Doch häufig werden diese Aspekte auch richtig eingeschätzt. Umstrittener ist sicherlich die Vorstellung, dass die zornige Person sich eine Art von Vergeltung wünscht, und dass dieser Wunsch zum Begriff des Zorns hinzugehört. Alle westlichen Philosophen, die sich über den Zorn äußern, schließen diesen Wunsch als ein begriffliches Element des Zorns mit ein.10 Trotzdem müssen wir hier innehalten, da dieser Zusammenhang nicht offensichtlich ist. Wir sollten verstehen, dass der Wunsch nach Vergeltung ein sehr subtiler Wunsch sein kann: Die zornige Person muss sich nicht notwendigerweise selbst rächen wollen. Sie möchte vielleicht, dass das Gesetz den Übeltäter bestraft; oder sogar dass es eine Art göttlicher Gerechtigkeit gibt. Oder sie wünscht sich lediglich, dass das Leben des Übeltäters in der Zukunft schlecht verlaufen wird – wie zum Beispiel bei der Hoffnung, dass die zweite Ehe des ehebrecherischen Partners kläglich scheitern wird. Ich denke, dass Aristoteles recht hat, wenn wir den Wunsch in dieser weit gefassten Weise 10 So ordnen die griechischen und römischen Stoiker, die sämtliche Gefühle in zweierlei Hinsicht bewerten – Gegenwart/Zukunft und gut/schlecht –, den Zorn in die Kategorie „gut/Zukunft“, und nicht „Gegenwart/schlecht“ ein.

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verstehen: Zorn enthält in der Regel die Tendenz, dem anderen etwas heimzuzahlen, und dies unterscheidet ihn von mitfühlender Trauer. Psychologen der Gegenwart, die den Zorn empirisch untersuchen, stimmen mit Aristoteles darin überein, diese doppelte Bewegung zu sehen: vom Schmerz zur Hoffnung.11 Wir sollten allerdings erkennen, dass die beiden Aspekte des Zorns getrennt voneinander bestehen können. Wir können Empörung über das Unrecht einer Handlung oder einen ungerechten Zustand empfinden, ohne uns für das Unrecht, das uns angetan wurde, rächen zu wollen. Ich werde geltend machen, dass der Aspekt der Empörung persönlich und gesellschaftlich wertvoll ist, wenn unsere Überzeugungen der Wahrheit entsprechen: Wir müssen unrechtmäßige Handlungen als solche erkennen, dagegen protestieren und unsere Sorge angesichts der Verletzung einer wichtigen Norm zum Ausdruck bringen. Und es gibt eine Form von Zorn, die meiner Meinung nach frei von dem Wunsch nach Vergeltung ist. Ihr gesamter Inhalt lässt sich in die folgenden Worte fassen: „Wie empörend das ist. Dagegen muss etwas unternommen werden.“ Ich nenne diese Form „Zorn des Übergangs“, weil er zwar einen Protest zum Ausdruck bringt, aber der Zukunft zugewandt ist: Er macht sich daran, nach Lösungen zu suchen, statt sich damit aufzuhalten, in Fixierung auf die Vergangenheit Schmerzen zuzufügen. (Um diese Art von Zorn zu bezeichnen, wird häufig das gewöhnliche Wort Empörung verwendet; doch weil dessen Gebrauch schwankt, habe ich einen eigenen Ausdruck dafür geprägt.) Betrachten wir das Verhältnis von Eltern und Kindern: Eltern haben oft das Gefühl, dass ihre Kinder falsch gehandelt haben, und sind erbost. Sie wollen gegen das falsche Verhalten protestieren 11 Siehe zum Beispiel Carol Tavris, Anger: The Misunderstood Emotion, New York 1982, überarbeitete Ausgabe 1989; weitere Referenzen finden sich in Zorn und Vergebung, a.a.O.

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und das Kind irgendwie zur Rechenschaft ziehen. Aber sie vermeiden normalerweise eine rachsüchtige Heimzahlung. Sie denken (zumindest heute) nur selten: „Nun musst du für das, was du getan hast, büßen“, als wäre allein das bereits eine angemessene Reaktion. Stattdessen fragen sie sich, welche Art von Reaktion in Zukunft zu einem besseren Verhalten des Kindes führen wird. In der Regel wird das keine Schmerzen zufügende Rache sein und sicherlich nicht das „Auge um Auge“ der lex talionis befolgen. Wenn ihr Kind einen Spielkameraden schlägt, schlagen die Eltern ihr Kind nicht ebenfalls, als sei es „das, was es verdient“. Stattdessen wählen sie ein Verhalten, das streng genug ist, um die Aufmerksamkeit des Kindes zu erlangen, und das klar zum Ausdruck bringt, dass und auf welche Weise das Kind falsch gehandelt hat. Und sie geben positive Anregungen für die Zukunft, wie das Kind sich anders verhalten kann. Liebevolle Eltern trennen demnach in der Regel den Empörungsaspekt des Zorns von dem der Vergeltung, wenn es um ihre Kinder geht, weil sie sie lieben. Das wird ein Schlüssel zu meinem positiven Vorschlag für eine demokratische Gesellschaft sein, in der wir, so fürchte ich, unsere Mitbürger nicht immer lieben. Diese konstruktive Reaktion ist keineswegs nur für asymmetrische Beziehungsverhältnisse typisch. Denken wir an gute Freundschaften: In jeder Freundschaft gibt es Verfehlungen und Missverständnisse. Eine Freundin fühlt sich verletzt durch etwas, was die andere getan hat. Wenn es sich jedoch um eine solide Freundschaft handelt, wird die verletzte Freundin nicht im Entferntesten daran denken, Schmerz mit Schmerzen zu vergelten. Sie wird der Freundin wahrscheinlich sagen, was aus ihrer Sicht falsch zu sein scheint, indem sie zum Ausdruck bringt, welche wichtigen Werte durch das Verhalten der Freundin verletzt wurden. Anschließend wird sie jedoch alles dafür tun, die Kooperation der Freundin zu gewinnen, den Bruch zu heilen und weitere Fehler zu vermeiden.

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Vergeltungswünsche sind allerdings ein tiefsitzender Teil der menschlichen Natur, der sowohl von manchen Aspekten der großen Religionen als auch von vielen als Gesellschaft verfassten Kulturen gefördert wird, obwohl Rufe nach Vergeltung durch religiös und gesellschaftlich radikale Individuen von Jesus und Buddha bis zu Mahatma Gandhi verurteilt wurden.12 Solche Vorstellungen mögen uns in einem vorgesellschaftlichen Zustand dadurch gedient haben, dass sie aggressive Übergriffe verhinderten. Doch die Vorstellung, dass erlittener Schmerz durch zugefügten Schmerz gut gemacht oder gelindert wird, ist – wie weit sie auch verbreitet sein mag – eine trügerische Fiktion. Die Tötung des Mörders bringt den Toten nicht wieder ins Leben zurück, obwohl die Forderung nach der Todesstrafe von vielen Opferfamilien unterstützt wird, als könnten die Dinge dadurch irgendwie wieder in Ordnung gebracht werden. Schmerzen für erlittene Schmerzen zuzufügen, ist eine simple Idee: Sogar Blooms Babys kennen sie. Doch sie ist eine falsche Verlockung, die noch mehr Schmerzen verursacht, ohne das Problem zu beseitigen. Gandhi soll gesagt haben: „Auge um Auge führt zur Blindheit der ganzen Welt.“ Dieser Wunsch nach Heimzahlung kommt in allen möglichen Situationen auf. Nehmen wir zum Beispiel Ehescheidungen: Betrogene Eheleute fühlen sich oft berechtigt, strafende Scheidungsvereinbarungen und Sorgerechtsregelungen zu beantragen, als ob ihnen das irgendwie zustünde und als ob durch die Strafe das Gleichgewicht der Macht oder ihre beschädigte Würde auf irgendeine Weise wiederhergestellt würde. Aber im wirklichen Leben ist die Funktion der Heimzahlung in der Regel weit weniger harmlos. Zwei Menschen sind in einen Kampf um Schmerzen verstrickt, sie konzentrieren sich auf die Vergangenheit und verursachen für 12 Vgl. hierzu die Diskussion in Kapitel 3 von Zorn und Vergebung, a.a.O.

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Kinder, Freunde und Familie häufig große Kollateralschäden. Am Ende bekommt der Ehebrecher vielleicht „seine wohlverdiente Strafe“, doch was ist damit gewonnen? Normalerweise wird das weitere Leben der prozessführenden Partei dadurch nicht verbessert. Indem sie sich verbissen auf die Vergangenheit konzentriert, wird sie für neue Möglichkeiten blind und häufig zu einem verbitterten und unangenehmen Menschen. Was der nach Vergeltung Strebende will, ist zukünftiges Glück und Selbstachtung. Doch durch Vergeltung allein wird das niemals erreicht, und normalerweise macht es das Leben aller Beteiligten lediglich viel schlimmer. Oder greifen wir noch einmal die Freundschaft auf, die ich mir vorstellte. Angenommen, die verletzte Freundin denkt sich: Ich werde dir die zugefügten Schmerzen heimzahlen, und das wird die Dinge ins Lot und alles wieder in Ordnung bringen. Viele Menschen denken so. Aber solche Leute sind keine guten Freunde. Die vergeltende Verletzung wird die Dinge wahrscheinlich verschlimmern, ja, der Freundschaft vielleicht einen so großen Schaden zufügen, dass sie nicht mehr wiederhergestellt werden kann. Vergeltung scheint vielen Amerikanern (Männern und Frauen) ein Zeichen von Männlichkeit und Stärke zu sein: Ein echter Mann (eine starke Frau) schlägt bei einer Verletzung zurück. Nicht alle Kulturen haben so gedacht. Die Griechen und Römer der Antike hielten Zorn für ein Zeichen von Schwäche: entweder für kindisch oder „weibisch“, da sie Frauen für schwache Wesen hielten. Stärke, so dachten sie, bestehe darin, sich nicht in den Teufelskreis von „Blut für Blut“ hineinziehen zu lassen. In der antiken Mythologie gilt Rache als etwas Hässliches, wie der altgriechische Tragiker Aischylos veranschaulichte, indem er die Furien, die Rachegöttinnen, als abstoßend und die Politik vergiftend darstellte, da sie nicht in der Lage waren, an menschliches Wohlergehen zu denken.

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Doch Moment mal! Wir sind uns alle einig, dass widerrechtliche Handlungen bestraft werden sollten, wenn sie schwerwiegend genug sind, und eine Bestrafung ist in der Regel schmerzhaft. Gewiss, wir sollten uns darüber einig sein, dass Strafe oft eine nützliche Funktion hat: aber warum und auf welche Weise? Wir könnten Strafe in einem Geist der Vergeltung sehen, als Heimzahlung für das, was bereits geschehen ist. Das ist die Haltung, die ich kritisiert habe, die großen gesellschaftlichen Schaden anrichtet und zu einer grausamen Strategie der Zufügung immer neuer Schmerzen führt, als ob die durch kriminelles Verhalten verursachten Schäden dadurch ausglichen werden könnten. Doch es gibt eine bessere Haltung, die dem Verhalten der guten Eltern in meinem Beispiel ähnlicher ist: Wir könnten versuchen, in die Zukunft zu blicken und eine bessere Gesellschaft zu schaffen, indem wir Strafen dazu verwenden, den Wert zum Ausdruck zu bringen, den wir dem menschlichen Leben und seiner Sicherheit beimessen, andere Menschen davon abzuhalten, dieses Verbrechen zu begehen, und – so hoffen wir – den Bestraften davon abzuhalten, ein weiteres Verbrechen zu begehen, oder ihn zumindest in Verwahrung zu nehmen. In einigen Fällen ist Besserung eine weitere Möglichkeit, die es zu prüfen gilt. Wenn wir jedoch so denken und versuchen, die Zukunft zu verbessern, werden wir wahrscheinlich viele andere Gedanken haben, bevor wir an Strafe denken. Wie jene guten Eltern werden wir davon ausgehen, dass Menschen wesentlich seltener Unrecht tun, wenn sie grundsätzlich geliebt und respektiert werden, wenn sie genug zu essen haben, wenn sie eine anständige Ausbildung erhalten, wenn sie gesund sind und in eine Zukunft mit Möglichkeiten der Entfaltung blicken. Das Nachdenken über Kriminalität wird uns demnach dahin bringen, eine Gesellschaft zu entwerfen, in der die Menschen weniger Anreize zu kriminellem Verhalten

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haben. Wenn sie sich jedoch, trotz all unserer Bemühungen, so verhalten, nehmen wir das um der Zukunft willen ernst.13 Aristoteles’ Definition deckt noch einen weiteren Aspekt ab. Er behauptet, Zorn sei stets eine Antwort, und zwar nicht auf irgendeinen Schaden, sondern auf einen Schaden von der Art einer „Herabstufung“. Dies scheint nicht in jedem Fall zuzutreffen. Ich kann wegen des Unrechts, das anderen angetan wird, zornig werden, ohne es als eine Herabstufung meiner selbst zu betrachten. Spätere Philosophen halten an den anderen Teilen von Aristoteles’ Definition fest, lassen diese Einschränkung jedoch weg: Zorn kann eine Reaktion auf jede unrechtmäßige Handlung sein, nicht nur auf eine Statusverletzung. Wir wollen dennoch an Aristoteles’ Idee festhalten, denn sie trifft, wie empirische Forscher betonen, auf erstaunlich viele Fälle von Zorn zu. Die Statusidee ist wichtig, weil dies meines Erachtens der einzige Fall ist, in dem einem Vergeltung das gibt, was man sich wünscht. Wenn das, worauf man seine Aufmerksamkeit richtet, nicht der Mord oder der Diebstahl oder die Vergewaltigung selbst ist, sondern nur die Art und Weise, wie diese Tat den eigenen relativen Status in der Welt beeinflusst hat, und wenn man dann den Übeltäter im gleichen Verhältnis herabstuft, dann bringt man sich tatsächlich verhältnismäßig wieder nach oben. Wenn einem ausschließlich etwas an diesem relativen Status liegt, dann muss man sich keine Sorgen darüber machen, dass die zugrunde liegenden Verletzungen, die durch die unrechtmäßige Tat (den Mord, die Vergewaltigung oder den Diebstahl) zustande gekommen sind, nicht behoben wurden. Denkt man nur an den relativen Status, ergibt Vergeltung mehr oder 13 Dies war die Ansicht aller großen griechischen und römischen Philosophen, im jüdisch-christlichen Westen gewann sie jedoch erst im 18. Jahrhundert durch die Vorschläge von Cesare Beccaria und Jeremy Bentham zur Strafrechtsreform wieder an Bedeutung.

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weniger Sinn. Viele Menschen denken so, und das kann erklären helfen, warum Vergeltung so beliebt ist und man nicht schnell zu der Einsicht gelangt, dass sie eine inhaltslose Ablenkung von der Aufgabe ist, die Zukunft besser zu gestalten. Was ist falsch an der Statusidee? Das Interesse am relativen Status einer Person war im antiken Griechenland verbreitet: Es erklärt Achilles’ Wut, als Agamemnon ihn beleidigt, indem er ihm „seine“ Frau wegnimmt. Auch bei der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika war die Orientierung am Status üblich; daran erinnert uns Lin-Manuel Miranda in seinem brillanten Musical Hamilton. Ein komplizierter Ehren- und Statuskodex führte tatsächlich zu ständiger Sorge um den eigenen Status und zu zahlreichen Aufforderungen zum Duell, mit denen man auf angebliche Beleidigungen reagierte.14 Falsch an der Statusbesessenheit ist die Tatsache, dass es im Leben nicht ausschließlich um den Ruf geht, sondern um wesentlichere Dinge: um Liebe, Gerechtigkeit, Arbeit und Familie. Wir alle kennen heute Menschen, die davon besessen sind, was andere über sie denken, und die ständig im Internet danach suchen, wer sie beleidigt hat. Soziale Medien dürften diese Besessenheit fördern, da Menschen sich darin gegenseitig herabwürdigen, die Anzahl der „Likes“ zählen, die ihre Posts erhalten haben, und so weiter. Da wir mehr und mehr unter Beobachtung leben, wird ein immer größerer Teil unseres Lebens zu einem Gegenstand der Bewertung, zeigt der Like/Dislike-Daumen der anderen nach oben oder unten. Aber ist diese Statusbesessenheit nicht ein Zeichen von Unsicherheit? Und verstärkt sie diese Unsicherheit nicht noch, da derjenige, der die Welt nach Anzeichen von Missgunst absucht, solche mit Sicherheit 14 Vgl. Joanne Freeman, Affairs of Honor: National Politics in the New Republic, New Haven 2002.

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Drei Irrtümer des Zorns

finden wird? Und ebenso wichtig: Lenkt die Besessenheit von dem eigenen Status nicht von wichtigeren Werten ab? Achilles musste lernen, wie fürchterlich es war, Tausende von Menschen wegen einer Beleidigung zu vernichten; Aaron Burr15 hat anscheinend nie viel gelernt, aber sein Beispiel zeigt uns, was wir verlieren, wenn wir davon besessen sind, „am Ort des Geschehens zu sein“. Wir sollten beachten, dass die Besessenheit von dem eigenen relativen Status etwas anderes ist als die Orientierung an Menschenwürde oder Selbstachtung, da die Würde jedem gehört und die Menschen in ihrer Würde gleich sind (zumindest sollten wir so denken und tun dies in der Regel auch). Würde baut demnach keine Hierarchie auf, und niemand wäre versucht anzunehmen, dass seine Würde als Mensch durch die Demütigung eines anderen gestärkt werden könnte. Würde ist, im Gegensatz zum Ruf, für alle gleich und kann nicht verloren gehen.16

Drei Irrtümer des Zorns Wir sind jetzt in der Lage, drei Wege zu erkennen, auf denen uns der Zorn in die Irre führen kann. 15 Anm. d. Übers.: Aaron Burr (1756–1836) war von 1801 bis 1805 unter Thomas Jefferson der dritte Vizepräsident der Vereinigten Staaten. Er forderte Alexander Hamilton zum Duell und verwundete ihn am 11. Juli 1804 tödlich. 16  Philosophen haben viele verschiedene Auffassungen der Menschenwürde verteidigt, und viele begründen sie mit dem Besitz von Rationalität oder einem anderen charakteristischen Merkmal, das nur dem Menschen zukommt. Meine eigene Sichtweise erlaubt es, Menschen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen die volle und gleiche Würde zuzuschreiben ebenso wie auch den meisten nicht-menschlichen Tieren – ein anderes Thema, das nicht für das vorliegende Buch geeignet ist. Vgl. hierzu meine Veröffentlichungen Grenzen der Gerechtigkeit: Behinderung, Nationalität, Spezieszugehörigkeit, Frankfurt a. M. 2006, und „Human Dignity and Political Entitlements“, in: Human Dignity and Bioethics: Essays Commissioned by the President’s Council on Bioethics, Washington, D.C. 2008, S. 351–380.

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1. Die offensichtlichen Irrtümer: Zorn kann töricht sein und uns in die Irre führen, wenn er auf falschen Informationen darüber beruht, wer wem was angetan hat oder ob die boshafte Handlung wirklich absichtlich ausgeführt wurde (mit irgendeiner Art von böser Absicht) und nicht nur durch Zufall zustande kam, und wenn er auf einem gestörten Gefühl für das, was wichtig ist, beruht. Aristoteles erwähnt Menschen, die zornig werden, nur weil jemand ihren Namen vergisst, und dieses vertraute Beispiel ist ein Fall, in dem jemand die Bedeutung dessen, was eine Person getan hat, überschätzt. (Wahrscheinlich ist dies auch ein Fall, in dem fälschlicherweise eine Absicht unterstellt wird.) Da wir oft voreilig handeln, wenn wir zornig sind, treten diese Fehler häufig auf. 2. Der Statusirrtum: Wir gehen ebenfalls in die Irre, so behaupte ich, wenn wir denken, unser relativer Status sei sehr wichtig, wenn wir uns darauf konzentrieren statt auf andere Dinge. Dieser Fehler ist tatsächlich eine falsche Einschätzung der Bedeutung, die ein bestimmter Wert hat. Da er jedoch so häufig gemacht wird und eine so große Quelle des Zorns ist, müssen wir ihn herausgreifen und ihn eigens auflisten. 3. Der Vergeltungsirrtum: Schließlich gehen wir auch dann in die Irre, wenn wir tief verwurzelten Vergeltungsgedanken in uns Raum geben, die uns annehmen lassen, dass Schmerz durch Schmerz, Mord durch Tod usw. wieder gut gemacht werden kann, kurz gesagt: wenn wir denken, dass durch gegenwärtigen Schmerz die Vergangenheit in Ordnung gebracht werden kann. Wir liegen damit falsch, weil diese Annahme eine Art von irrationalem magischen Denken ist und weil sie uns von der Zukunft ablenkt, die wir ändern können und oft auch sollten.

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Der vierte Irrtum des Zorns: Hilflosigkeit und die „gerechte Welt“ All diese Fehler werden häufig begangen, nicht zuletzt in der Politik. Wir werden zum Opfer einer falschen Darstellung dessen, wer was getan hat, oder wir geben Einzelpersonen und Gruppen die Schuld an einem großen, die gesamte Gesellschaft betreffenden Problem, das sie nicht verursacht haben. Wir überschätzen triviale Ungerechtigkeiten – und unterschätzen manchmal auch großes Unrecht. Wir sind besessen von unserem eigenen relativen Status (oder von dem unserer Gruppe). Wir glauben, dass Vergeltung die Probleme, die durch die ursprüngliche Straftat entstanden sind, lösen wird, selbst wenn dies nicht der Fall ist. Doch es gibt diesbezüglich noch mehr zu bedenken. Wir nehmen Schuldzuweisungen vor, auch wenn keine Schuld vorliegt. Die Welt ist voller Zufälle. Manchmal ist eine Katastrophe einfach eine Katastrophe. Manchmal sind Krankheit und Beschwerden nur Krankheit und Beschwerden. Ärzte können uns nicht völlig vor Krankheit und Tod schützen, und die weiseste und gerechteste Sozialpolitik wird nicht verhindern können, dass es aufgrund von Naturkatastrophen oder schlecht verstandenen wirtschaftlichen Entwicklungen zu ökonomischen Schwierigkeiten kommt. Aber auf unsere „monarchische“ Weise erwarten wir, dass die Welt zu unseren Diensten steht. Zu denken, an jedem schlimmen Ereignis sei irgendjemand schuld, befriedigt unser Ego und ist in einem tiefen Sinn beruhigend. Die Schuldzuweisung und die Verfolgung des „Missetäters“ sind zutiefst tröstlich: Sie geben uns ein Gefühl von Kontrolle statt Hilflosigkeit. Psychologen haben intensiv über die instinktiven Ansichten der Menschen über das Wesen der Welt geforscht, und sie kommen zu dem Ergebnis, dass Menschen ein tiefes Verlangen nach dem Glauben haben, dass die Welt gerecht sei. Ein Aspekt dieser

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„Annahme einer gerechten Welt“ ist die Tendenz zu glauben, dass Menschen, denen es schlecht geht, ihre Notsituation durch Faulheit oder schlechtes Benehmen selbst herbeigeführt haben.17 Ein anderer, verwandter Aspekt dieser Vorstellung von einer „gerechten Welt“ ist das Bedürfnis zu glauben, dass Verluste und Widrigkeiten, denen wir begegnen, auf jemandes Fehlverhalten beruhen, und dass wir unseren Verlust irgendwie wieder gut machen können, indem wir den „Missetäter“ bestrafen. Vater oder Mutter sterben im Krankenhaus. Es ist sehr menschlich zu glauben, dass „die Ärzte daran schuld sind“, und der eigenen Trauer durch eine gerichtliche Klage wegen eines ärztlichen Kunstfehlers auszuweichen. Eine Ehe zerbricht. Oft liegt irgendwo die Schuld, doch manchmal ist sie nicht leicht zu erkennen. Die Beziehung ist einfach zerrüttet. Dennoch ist es menschlich, die Schuld daran dem „bösen“ Ehepartner zu geben und zu versuchen, sich an dieser Person mit einem Gerichtsverfahren zu rächen. Es lässt das Leben verständlicher erscheinen, das Universum gerechter. Wirtschaftliche Probleme werden manchmal durch eine eindeutig identifizierbare Einzelperson oder das Fehlverhalten mehrerer Personen und manchmal durch eine eindeutig dumme oder ungerechte Politik verursacht; häufiger ist ihre Ursache allerdings unklar und ungewiss. Wir fühlen uns schlecht, wenn wir das zugeben: Es lässt die Welt chaotisch und unregierbar erscheinen. Warum also nicht bestimmten Gruppen die Schuld daran geben, die 17 Es gibt mittlerweile eine umfangreiche Literatur zu diesem Phänomen. Einen guten Einstieg bietet Melvin J. Lerner, The Belief in a Just World: A Fundamental Delusion, New York 1980. Ein wichtiger Aufsatz, der das Phänomen mit den Bemühungen des New Deal, die Sichtweise zu verändern, nach der die Armen in den USA träge und faul sind, in Verbindung bringt, ist Richard J. McAdams, „The Grapes of Wrath and the Role of Luck in Economic Outcomes“, in: Alison LaCroix, Saul Levmore und Martha C. Nussbaum (Hrsg.), Power, Prose, Purse: Law, Literature, and Economic Transformations, New York 2018.

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leicht zu dämonisieren sind, so wie es schon die Griechen taten? Anstelle ihrer rhetorischen Kategorie der „Barbaren“ könnten wir die Schuld Immigranten zuschieben oder Frauen, die in die Arbeitswelt eintreten, oder Bankern oder Reichen. Die Hexenprozesse von Salem galten einst als das Ergebnis einer Gruppenhysterie unter jungen Mädchen. Aber heute wissen wir, dass eine große Zahl derjenigen, die „Hexen“ beschuldigten, junge Männer waren, die an der Schwelle des Erwachsenenalters standen und sich mit den typischen Problemen einer verunsicherten Kolonie in einer neuen Welt konfrontiert sahen: mit wirtschaftlicher Unsicherheit, einem rauen Klima und politischer Instabilität. Da ist es ein Leichtes, „Hexen“ – zumeist ältere, unbeliebte Frauen – zu beschuldigen, die mühelos angegriffen werden können und deren Tod eine einstweilige Befriedigung verschafft. Unsere ältesten Märchen weisen dieselbe Struktur auf. Hänsel und Gretel gehen in den Wald, um nach Nahrung zu suchen. Das Problem ist Hunger, noch verschlimmert durch die Tatsache, dass ihre Eltern niedere Tätigkeiten verrichten müssen und keine freie Zeit haben, in der sie sich um die Kinder kümmern könnten. Doch die Geschichte erzählt uns, dass diese höchst realen Probleme unwirklich sind und dass das wahre Problem eine Hexe ist, die im Wald lebt und kleine Kinder in Lebkuchen verwandelt. Rotkäppchen geht seine Großmutter besuchen und legt zu Fuß eine lange Strecke zurück. Das reale Problem dieser Geschichte ist das Altern und der Mangel an Pflege: Die Familie lebt weit entfernt, und der Großmutter geht es nicht gut. Doch die Geschichte lenkt unsere Aufmerksamkeit schnell ab: Das Problem ist nicht dieses schwierige menschliche Problem, welches nach einer strukturellen Lösung verlangt, es ist ein einzelner Wolf, der in Großmutters Haus eingebrochen ist. In beiden Geschichten ist die Welt wieder in Ordnung, nachdem das hässliche böse Wesen getötet wurde. Unsere Vorliebe

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für ein geordnetes Universum lässt diese einfachen fiktiven Lösungen verlockend erscheinen. Es ist schwer, sich komplizierten Wahrheiten zu stellen, und es ist viel einfacher, die Hexe zu verbrennen, als mit Hoffnung in einer Welt zu leben, die nicht zum Vergnügen des Menschen eingerichtet ist.

Der Zorn als Kind der Angst Zorn ist ein eindeutiges Gefühl, das von charakteristischen Gedanken begleitet wird. Es sieht männlich und wichtig aus, keinesfalls ängstlich. Dennoch ist es ein Kind der Angst.18 Warum ist das so? Zunächst: Wenn wir nicht von einer großen Verletzlichkeit gequält würden, würden wir wahrscheinlich nie wütend werden. Lukrez stellte sich die Götter als Wesen vor, die vollkommen und perfekt sind, jenseits unserer Welt, und er sagte: „Sie sind nicht von Dankbarkeit versklavt, noch sind sie vom Zorn berührt.“19 Wenn Zorn eine Reaktion auf einen beträchtlichen Schaden ist, den jemand einem selbst oder einem anderen oder einer Sache zufügt, die einem am Herzen liegt, dann hat ein Wesen, das vollkommen ist, dem also nicht geschadet werden kann, keinen Platz für Zorn. (Jüdisch-christliche Bilder von göttlichem Zorn stellen sich vor, dass Gott die Menschen liebt und dass ihn ihr Fehlverhalten daher zutiefst verletzt.) Einige moralische Reformer haben uns dazu gedrängt, zu werden wie die Götter des Lukrez. Die griechischen Stoiker meinten, wir soll18 Für mich ist das Versäumnis, diesen Zusammenhang ausdrücklich anzuerkennen, ein schwerwiegender Fehler in jüngsten soziologischen Analysen des Zorns in den USA; vgl. zum Beispiel Arlie Russell Hochschild, Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten, Frankfurt am Main 2017. 19 Lukrez, De rerum natura/Welt aus Atomen, übers. von Karl Bücher, Stuttgart 2008. Dieser Abschnitt kommt in Buch I, Zeile 44–49 und auch in Buch II vor; er gehört wahrscheinlich an beide Stellen, obwohl der erste oft in Klammern gesetzt wird. Es ist ein so wichtiger Punkt, dass Lukrez ihn besonders hervorheben möchte.

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ten lernen, uns überhaupt nicht um die „Glücksgüter“ zu kümmern, das heißt um alle Dinge, die durch etwas jenseits unserer Kontrolle beeinträchtigt werden können. Dann würde die Angst von uns abfallen und mit ihr auch der Zorn. Der Philosoph Richard Sorabji hat gezeigt, dass Gandhis Ansichten denen der Stoiker sehr nahe kamen.20 Das Problem ist jedoch, dass wir mit der Angst auch die Liebe verlieren. Die Grundlage von beiden ist eine starke Bindung an jemanden oder etwas jenseits unserer Kontrolle. Es gibt nichts, was uns verletzlicher macht, als andere Menschen oder ein Land zu lieben. So vieles kann schlecht ausgehen. Oft ist Angst vernünftig und Trauer eine allgegenwärtige Realität. Innerhalb von sechs Monaten verlor der römische Philosoph und Politiker Cicero das, was er am meisten liebte: seine Tochter Tullia, die im Kindbett starb, und die römische Republik, die in Tyrannei versank. Obwohl seine Freunde seine Trauer für übertrieben hielten und ihn drängten, ein richtiger Stoiker zu sein, sagte er seinem besten Freund Atticus, er könne nicht aufhören zu trauern und außerdem denke er nicht, dass er zu trauern aufhören sollte.21 Wer intensiv liebt, wird leiden müssen. Also sollten wir eine Lösung, die sowohl die Angst als auch den Zorn mit einem Schlag beseitigt, nicht akzeptieren. Wer ein Liebender bleibt, wird immer wieder Angst erfahren. Und obwohl das nicht notwendigerweise bedeutet, dass man den auf Vergeltung sinnenden Zorn behalten muss, erschwert es den Sieg über den Zorn. Angst ist nicht nur eine notwendige Voraussetzung für Zorn, sie ist auch ein Zorn erzeugendes Gift, das 20 Richard Sorabji, Gandhi and the Stoics: Modern Experiments in Ancient Values, Chicago 2012. 21 Die Briefe an Atticus wurden von David Shackleton Bailey hervorragend ins Englische übersetzt und von ihm in einer ausgezeichneten vierbändigen Edition in der Loeb Classical Library herausgebracht. Ich diskutiere die Tullia-Briefe in: Martha C. Nussbaum und Saul Levmore, Älter werden, Darmstadt 2018.

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die vier Irrtümer begünstigt. Wenn wir Angst haben, ziehen wir voreilig Schlüsse und schlagen zu, bevor wir über das Wer und das Wie sorgfältig nachgedacht haben. Sind Probleme komplex und werden ihre Ursachen schlecht verstanden, wie es bei wirtschaftlichen Problemen in der Regel der Fall ist, so führt die Angst häufig dazu, dass wir Einzelpersonen oder Gruppen die Schuld geben und dann Hexenjagden durchführen, anstatt innezuhalten, um die Dinge in Ruhe zu analysieren. Angst nährt auch die Besessenheit vom relativen Status: Wenn Menschen sich größer fühlen als andere, fühlen sie sich unverwundbar. Schützen Menschen aber ihre verletzlichen Egos durch Statusdenken, so können sie leicht zum Zorn verleitet werden, denn die Welt ist voller Beleidigungen und Verleumdungen. Lukrez führt jeden Wettbewerb um Status auf die Angst zurück und behauptet, dieser sei ein Weg, uns selbst zu beruhigen: Indem wir andere kleinmachen, verleihen wir uns selbst das Gefühl von Macht.22 Angst begünstigt auch die Konzentration auf Rachegedanken, da verletzte Menschen glauben, dass es die eigene verlorene Kontrolle und Würde wiederherstellt, wenn man es dem Missetäter heimzahlt oder ihn sogar vernichtet. Lukrez führt sogar Kriege auf die Angst zurück: Wir fühlen uns unsicher, wir wüten gegen das, was uns bedroht, und versuchen, es zu vernichten. Er übergeht die offensichtliche Möglichkeit, dass ein Krieg durch eine vernünftige Reaktion auf eine echte Bedrohung unserer Sicherheit und unserer Werte und damit durch eine rationale Angst ausgelöst werden kann.23 Wir sollten seine Analyse daher nicht im vollen Umfang ak22 Lukrez, Buch III, Zeile 59–64, 74–78, vgl. auch die weiteren Ausführungen in Kapitel 5. 23 Siehe Buch III, 73. Er macht Angst nur für Bürgerkriege verantwortlich, die zu seiner Zeit eines der großen Probleme Roms waren. Dagegen sagt er nichts über Kriege mit fremden Mächten und lässt die Möglichkeit offen, dass diese vernünftig sind – denn er will seinen Gesprächspartner Memmius überzeugen, einen Römer in der Armee, der die Kämpfe kurz unterbrochen hat.

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zeptieren. Ich bin keine Pazifistin, ebenso wenig wie meine wichtigsten Helden des Verzichts auf jeglichen Zorn, Martin Luther King Jr. und Nelson Mandela. Gandhi beging, so glaube ich, einen großen Fehler, als er einen totalen Pazifismus befürwortete. Aber selbst gerechte Kriege, zu denen meiner Ansicht nach der Zweite Weltkrieg zählt, werden oft durch das Verlangen nach dem Blut des Aggressors getrübt, und man könnte sicherlich die Meinung vertreten, dass Ereignisse wie die Bombardierung Dresdens eher durch Rachegedanken als durch eine vernünftige Politik motiviert waren. Große politische Führungspersönlichkeiten wissen, dass wir den Geist eines entschlossenen Widerstands gegen Ungerechtigkeiten bewahren und stärken müssen, ohne uns Vergeltungsgedanken hinzugeben. Die brillante Rede, in der Winston Churchill sagte: „Ich habe nichts zu bieten außer Blut, Mühen, Tränen und Schweiß“, bezieht sich auf die Gefahr, den Kampf und die Bereitschaft, große Schmerzen auf sich zu nehmen, um die demokratischen Werte zu bewahren. Sie zeichnet sich durch das gänzliche Fehlen von Vergeltungsgedanken aus. Churchill sagte nicht, dass die Rache an den Nazis die Bedrohung der Freiheit beseitigen wird. Freiheit ist etwas Wunderbares, und wir müssen bereit sein, dafür zu leiden; aber wir müssen uns vor allem darauf konzentrieren, das zu verteidigen, was wir lieben, statt „[unser] Gift auf das Land auszuspeien“, wie die Furien des Aischylos. Churchills Rede gehört in die Tradition der besten alliierten Absichten, Deutschland nach dem Krieg wieder aufzubauen, und wir können heute die Weisheit dieser Politik erkennen, da Deutschland zu unseren wertvollsten Verbündeten zählt. Schließlich führen Hilflosigkeit und die damit einhergehende Angst zu dem Reflex, jemand anderem die Schuld zu geben, um selbst das Gefühl zu haben, weniger ein Spielball des Zufalls zu sein und die Dinge unter Kontrolle zu haben. Selbst ein langer

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und schwieriger Streit (ein langwieriger Prozess gegen ärztliche Kunstfehler, ein jahrelanges Scheidungsverfahren) ist psychologisch gesehen dem Akzeptieren eines Verlusts häufig vorzuziehen.

Protest ohne Vergeltung Was ist die Alternative? Wir können den Geist des entschlossenen Widerstandes gegen die Ungerechtigkeit bewahren und gleichzeitig die leere Fantasie der Rache aufgeben. Zu dieser zukunftsweisenden Strategie gehört es, gegen Rechtsbrüche zu protestieren, wo sie vorkommen, sie jedoch nicht dort zu unterstellen, wo wir es eigentlich mit dem verzwickten Geflecht der Weltwirtschaft zu tun haben und wo es gilt, Outsourcing und die Automatisierung von Arbeit mit dem Wohlergehen unserer Bürger in Einklang zu bringen. Wir sollten hierbei niemals bei Schuldzuweisungen – als Ersatz für ein Gefühl der Ohnmacht – Zuflucht suchen, jedoch auch nicht der Versuchung der Verzweiflung nachgeben. Selbst wenn wir uns sicher sind, dass einem Einzelnen oder einer Gruppe ein Fehlverhalten anzulasten ist, so können wir uns immer noch entschieden der Vergeltung verweigern und stattdessen mit Hoffnung in die Zukunft blicken, indem wir Strategien entwickeln, die darauf abzielen, die Dinge besser zu machen, statt die größtmöglichen Schmerzen zuzufügen. Betrachten wir nur ein Beispiel für Protest ohne Rachsucht: die Ideen von Martin Luther King Jr., der so viel zum ständigen Kampf unserer Gesellschaft gegen den Rassismus und ihrer zu Suche nach Gerechtigkeit beigetragen hat. King sagte immer, der Zorn habe einen begrenzten Nutzen, da er die Menschen zu seiner Protestbewegung brachte, statt sie in Verzweiflung versinken zu lassen. Doch sobald sie ein Teil dieser Bewegung waren, musste der Zorn „gerei-

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nigt“ und „kanalisiert“ werden.24 Was er damit sagen wollte, war, dass die Menschen die Rachsucht aufgeben und sich dennoch den Geist des gerechtfertigten Protestes bewahren müssen. Statt Vergeltung brauchen sie Hoffnung und den Glauben an die Möglichkeit der Gerechtigkeit. In einem Essay von 1959 schrieb er, dass der Kampf um Integration weiterhin auf Hindernisse stoßen wird, und dass diese Hindernisse auf zwei sehr unterschiedliche Arten überwunden werden können: Eine davon ist die Entwicklung einer umfassenden sozialen Organisation, die sich mit wirksamen und entschlossenen Maßnahmen gegen alle Bemühungen, den Fortschritt zu verhindern, wehrt. Die andere ist ein wirrer, durch Zorn motivierter Drang, gewaltsam zurückzuschlagen, Schaden anzurichten. In erster Linie geht es dabei darum, Verletzungen zu verursachen, um für ungerechtfertigte Leiden Vergeltung zu üben. […] Er ist strafend – nicht radikal oder konstruktiv.25

Martin Luther King charakterisierte damit natürlich nicht nur eine tief sitzende menschliche Tendenz, sondern auch ganz konkret die Ideen und Gefühle von Malcolm X, wie er sie verstand.26 King beharrte immer darauf, dass seine Strategie nicht bedeute, sich mit Ungerechtigkeit abzufinden: Es besteht nach wie vor eine dringliche Forderung, es gibt weiterhin den Protest gegen ungerech24

I ch analysiere die meisten relevanten Texte in Kings Schriften in „From Anger to Love: Self-Purification and Political Resistance“, in: Tommie Shelby (Hrsg.), To Shape a New World: Essays on the Political Philosophy of Martin Luther King, Jr., Cambridge 2018. Einige Passagen werden auch in Kapitel 7 von Zorn und Vergebung, Darmstadt 2017, wiedergegeben.

25 James M. Washington (Hrsg.), A Testament of Hope: The Essential Writings and Speeches of Martin Luther King, Jr., New York 1986, S. 32. 26 Diese Ideen werden ebenfalls in „From Anger to Love“ diskutiert. Vergleiche insbesondere Malcolms „Message to the Grassroots“, in: George Breitman (Hrsg.), Malcolm X Speaks, New York 1965.

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te Zustände, in dem die Protestierenden bei von King so genannter „direkter Aktion“ körperlich große Risiken eingehen. Dennoch muss der Blick der Protestierenden auf die Zukunft gerichtet sein, für die alle gemeinsam arbeiten müssen, mit Hoffnung auf und Glauben an die Möglichkeit der Gerechtigkeit. Kurz gesagt bevorzugt und veranschaulicht Martin Luther King das, was ich Zorn des Übergangs genannt habe: den Protestaspekt des Zorns ohne den Racheaspekt. Untersuchen wir, um dies besser zu erkennen, die Abfolge der Gefühle in seiner Rede „Ich habe einen Traum“.27 Tatsächlich beginnt King mit Worten, die sich wie eine Aufforderung zum Zorn lesen: Er weist auf die ungerechten Verletzungen durch den Rassismus hin, welche die impliziten Gleichheitsversprechen der Nation nicht erfüllt haben. Hundert Jahre nach der Emanzipationsproklamation ist „das Leben des Schwarzen immer noch durch die Fesseln der Rassentrennung und die Ketten der Diskriminierung verkrüppelt“.28 Der nächste Schritt, den King unternimmt, ist bedeutsam: Denn statt die weißen Amerikaner zu dämonisieren, vergleicht er sie gelassen mit Menschen, die eine finanzielle Verpflichtung nicht eingehalten haben: „Amerika hat den Schwarzen einen ungedeckten Scheck gegeben, einen Scheck, der mit ‚nicht ausreichend gedeckt‘ gekennzeichnet ist.“ Hiermit beginnt die Verschiebung zu dem, was ich als Zorn des Übergangs bezeichnet habe, da er uns dazu bringt, auf nicht rachsüchtige Weise vorausdenkend in die Zukunft zu blicken. Die wesentliche Frage ist nicht, wie Weiße gedemütigt, sondern wie diese Schulden bezahlt werden können; und in der Metapher aus der 27 Ich analysiere die Rede in Kapitel 2 von Zorn und Vergebung, a.a.O. Hier zeige ich jedoch eine neue Analyse, in der ich in einigen Punkten leicht von der früheren abweiche. 28 Anm. d. Übers.: Die Übertragungen der Redeausschnitte stammen vom Übersetzer.

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Finanzwelt ist der Gedanke, den Schuldner zu vernichten, wohl kaum zentral. Ab jetzt steht die Zukunft im Zentrum der Aufmerksamkeit; King wendet sich einer Zeit zu, in der sich alle zusammenschließen können, um Gerechtigkeit zu üben und Verpflichtungen zu erfüllen: „Aber wir weigern uns zu glauben, dass die Bank der Gerechtigkeit bankrott ist. Wir weigern uns zu glauben, dass es in den großen Schatzkammern der Möglichkeiten dieser Nation keine ausreichenden Deckungsmittel gibt.“ Wieder keinerlei Rede von Quälen oder Rache, nur von der Entschlossenheit, endlich den Schutz der Bürgerrechte sicherzustellen. King erinnert seine Zuhörer an die Dringlichkeit des geschichtlichen Augenblicks und an die Gefahr, dass der Zorn sich entlädt: Aber er lehnt dieses Verhalten im Voraus ab. „Beim Einnehmen unseres rechtmäßigen Platzes dürfen wir uns nicht des Unrechts schuldig machen. Lasst uns nicht versuchen, unseren Durst nach Freiheit zu stillen, indem wir aus dem Kelch der Bitterkeit und des Hasses trinken […] Immer wieder müssen wir uns zu jener majestätischen Höhe aufschwingen, in der wir physischer Gewalt Seelenstärke entgegensetzen.“ So wird die „Heimzahlung“ zur Verteidigung der Bürgerrechte umgedacht, zu einem Prozess, der Schwarz und Weiß in einem Streben nach Freiheit und Gerechtigkeit vereint. Hiervon profitieren alle: Viele Weiße erkennen bereits, dass „ihre Freiheit mit unserer Freiheit untrennbar verbunden“ ist. Als nächstes weist King eine Verzweiflung zurück, die zur Aufgabe der Bemühungen führen könnte. Ab diesem Punkt nimmt der berühmteste Teil der „Ich habe einen Traum“-Rede seinen Lauf. Und natürlich ist dies kein Traum von vergeltender Strafe, sondern einer von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit. Pointiert lädt King die Afroamerikaner unter seinen Zuhörern dazu ein, sich die Brüderlichkeit selbst mit ihren ehemaligen Peinigern vorzustellen:

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Ich träume davon, dass die Söhne ehemaliger Sklaven und die Söhne ehemaliger Sklavenhalter sich eines Tages auf den roten Hügeln Georgias an den Tisch der Brüderlichkeit setzen können. Ich träume davon, dass eines Tages sogar der Staat Mississippi, ein Staat, der in der Hitze der Ungerechtigkeit brütet, in der Hitze der Unterdrückung, in eine Oase der Freiheit und Gerechtigkeit verwandelt wird. […] Ich habe einen Traum, dass eines Tages unten in Alabama – mit seinen bösartigen Rassisten, mit seinem Gouverneur, von dessen Lippen Worte wie „Intervention“ und „Aufhebung der Rassenintegration“ triefen –, dass eines Tages genau dort in Alabama kleine schwarze Jungen und schwarze Mädchen sich mit kleinen weißen Jungen und weißen Mädchen als Schwestern und Brüder die Hände reichen können.

Diese Rede enthält tatsächlich Empörung, und die Empörung ruft eine Vision der Wiedergutmachung hervor, die leicht die Form von Vergeltung annehmen könnte. Doch es geht King unmittelbar darum, Vergeltungswahn in Arbeit und Hoffnung umzugestalten. Denn wie sollte auf vernünftige und realistische Weise Ungerechtigkeit durch Vergeltung wiedergutgemacht werden? Der Schmerz und die Erniedrigung des Unterdrückers machen die Unterdrückten nicht frei. Das kann nur durch ein intelligentes und fantasievolles Streben nach Gerechtigkeit erreicht werden. Es mag seltsam erscheinen, Martin Luther King mit Aischylos zu vergleichen, aber eigentlich ist es überhaupt nicht seltsam, wenn man bedenkt, dass King über eine umfangreiche literarische und philosophische Bildung verfügte. Im Grunde sagt er dasselbe wie Aischylos: Die Demokratie muss den leeren und zerstörerischen Gedanken der Vergeltung aufgeben und sich auf eine Zukunft zubewegen, in der auf Gesetzen basierende Gerechtigkeit und menschliches Wohlergehen herrschen. Kings Gegner legten seine Haltung als Schwäche aus. Malcolm X erklärte sarkastisch, sie gleiche einem

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Kaffee, in den so viel Milch gegossen wurde, dass er weiß und kalt geworden sei und nicht einmal mehr wie Kaffee schmecke.29 Aber das war falsch. Kings Haltung ist Ausdruck von Stärke, nicht von Schwäche. Er widersteht um der Zukunft willen einem der mächtigsten menschlichen Impulse: der Rachsucht. Eines der schwierigsten Probleme der Politik besteht darin, weiterhin entschlossen nach Lösungen zu suchen, ohne es der Angst zu erlauben, uns auf den Pfad der Irrtümer des Zorns zu lenken. Aischylos und King teilen die Idee, dass die Bürger einer Demokratie den Problemen und, ja, den unerhörten Ungerechtigkeiten, die wir im politischen und gesellschaftlichen Leben erleben, mit Mut begegnen sollten. Wütend und voller Angst um sich zu schlagen, löst diese Probleme nicht, sondern führt, wie in Athen und Rom, in eine Spirale rachsüchtiger Gewalt. Lukrez erzählt eine grausige Geschichte von menschlichem Zorn und zügelloser Angst. Er stellt sich eine Welt vor, in der Unsicherheit zu Angriffen führt, die die Unsicherheit jedoch nicht beseitigen. (Zu dem Zeitpunkt, als er das schrieb, kollabierte die Römische Republik und die sich überall ausbreitende Unsicherheit sollte bald einer Gewaltherrschaft weichen.) Aischylos stellte sich vor, dass die Menschen in dem Bemühen, die Angst zu beruhigen, immer aggressiver werden – bis sie sich eine neue Methode ausdenken, ihren Feinden maximalen Schaden zuzufügen: Sie beziehen wilde Tiere in das Kampfgeschehen ein.30 Auch den Stier haben sie im Werk des Krieges erprobt dann, und die rasenden Eber versucht, in die Feinde zu schicken. 29 Vgl. „Message to the Grassroots“, in: George Breitman (Hrsg.), Malcolm X Speaks, New York 1965. 30 Lucretius, De rerum natura, Buch 5, 1308–1349. Deutsche Übersetzung zitiert nach: Lukrez, De rerum natura / Welt aus Atomen. Lateinisch/deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort hrsg. von K. Bühler, Stuttgart 2008.

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Teils haben vor sich her sie geschickt die kräftigen Löwen, mit den bewaffneten Lehrern und ihren grausigen Meistern, die sie zu bändigen wüssten und fest mit Ketten zu halten, ganz umsonst, da sie vom blutigen Knäuel in Hitze rasend, in Unordnung brachten Geschwader, ohne zu scheiden, allerwärts schüttelnd die schreckenerregenden Mähnen der Häupter.

In einer poetischen tour de force stellt sich Lukrez nun das Gemetzel vor, das die Tiere entfesseln. Dann macht er einen Rückzug: „Ist das wirklich geschehen?“, fragt er. Vielleicht ist es in einer anderen Welt irgendwo im Weltall passiert. Und was, so fragt er weiter, was war das Ziel dieser fiktiven Menschen? Sie wollten dem Feind großen Schmerz zufügen – selbst wenn dies bedeutete, dass sie selbst zugrunde gehen würden! Lukrez will darauf hinaus, dass unsere rachsüchtigen Gefühle diese wilden Tiere sind. Menschen mögen dem Zorn eine große Macht zuschreiben, doch er gerät immer außer Kontrolle und wendet sich gegen einen selbst. Und noch schlimmer: Die Hälfte der Zeit ist das den Menschen gleichgültig. Sie sind so tief in Rachefantasien versunken, dass sie es vorziehen würden, nichts zu erreichen, solange sie diesen Menschen Leid zufügen. Seine grimmige Science-Fiction-Fantasie erinnert uns daran, dass wir uns – solange wir uns von Angst, Zorn und der Politik der Schuldzuweisung regieren lassen – stets selbst besiegen werden. Es gibt eine bessere Alternative. Aischylos kannte sie, und Martin Luther King kannte und lebte sie. Eine Zukunft der Gerechtigkeit und des Wohlergehens herbeizuführen, ist schwierig. Es erfordert Selbstprüfung, die Bereitschaft, persönliche Risiken auf sich zu nehmen, die Suche nach kritischen Argumenten und ungewisse Initativen, mit den Gegnern gemeinsame Sache zu machen – in einem Geist

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der Hoffnung und dessen, was wir als einen vernünftigen Glauben bezeichnen könnten. Ein entscheidender Teil dieser zukunftsgerichteten Bewegung besteht darin, Martin Luther King darin zu folgen, den Täter von der Tat zu trennen, das Menschsein der anderen zu akzeptieren und gleichzeitig gegen das Unrecht zu protestieren, das sie möglicherweise begangen haben. Auf diese Weise können wir beginnen, unsere Mitbürger als unsere Freunde zu betrachten, auch wenn wir mit dem, was sie sagen und tun, nicht einverstanden sind. Im Verhaltensschema aus Angst, Schuldzuweisung und Heimzahlung gefangen, sehen wir in anderen nichts Gutes. Und in unserer von den sozialen Medien geprägten Welt ist es allzu einfach, statt konstruktiver Netzwerke solche der Schuldzuweisung zu bilden. Wenn wir so denken, rufen wir die wilden Tiere zu Hilfe, und es ist kein Wunder, wenn sie dann die Führung übernehmen und ihre Klauen in uns schlagen.

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In allen Gesellschaften werden Gruppen von Menschen marginalisiert und als zweitrangig behandelt. In feudalen Gesellschaften und Monarchien ist die Unterordnung Teil der offiziellen Herrschaftstheorie: Adlige sind besser als Bauern und sollten über diese herrschen; der König hat ein göttliches Recht, anderen zu befehlen. Im Gegensatz dazu ist in modernen Demokratien die öffentliche Norm in der Regel eine des gleichen Respekts und der gleichen Berücksichtigung. Wenn es zur Herabstufung einer Gruppe kommt, verletzt dies die eigenen Gerechtigkeitsnormen der Gesellschaft. Wir wissen allerdings, dass die Bürger in Demokratien keine besondere Spezies darstellen, sondern auch nur Menschen sind, die zu all den Schwächen neigen, zu denen Angst und Selbstschutz auch die Besten von uns verführen, wenn diese Tendenzen nicht fest im Zaum gehalten werden. Wir können daher prognostizieren, dass die Bürger in einer Demokratie sowohl gute soziale Normen als auch gute Gesetze benötigen, um eine Gleichheit des Respekts zu gewährleisten, und dass es – selbst wenn diese Normen und Gesetze existieren – in Zeiten von Stress oder Unsicherheit nur allzu leicht dazu kommen kann, dass diese verletzt werden.

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Von Angst getriebener Ekel: Die Politik der Ausgrenzung

Wie die meisten anderen Gesellschaften auch, haben die USA eine hässliche Geschichte der Ausgrenzung aufgrund von ethnischer Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung, Behinderung, Alter und Religionszugehörigkeit. In unserer politischen Gegenwart wird den Forderungen ausgegrenzter Gruppen nach Gleichheit und Würde erschreckend oft mit Hasspropaganda und sogar durch Hass motivierten Verbrechen begegnet. Tatsächlich wissen wir viel zu wenig über die Zahl der von Hass motivierten Gruppen und Straftaten. Nach Angaben des Southern Poverty Law Center, das seit Jahren Daten über durch Hass motivierte Straftaten sammelt, ist die Zahl der durch Hass motivierten Gruppen von 892 im Jahr 2015 auf 917 im Jahr 2016 angestiegen.1 Nach Angaben des Center for the Study of Hate and Extremism an der California State University in San Bernardino stieg im Jahr 2017 in neun Metropolen der USA die Anzahl der Hassverbrechen um über 20 Prozent.2 Und laut einem FBI-Bericht aus dem Jahr 2015, der von Hass motivierte Delikte nach ihrer Art aufschlüsselt, waren 59,2 Prozent durch rassistische Vorurteile motiviert, 19,7 Prozent durch religiöse (von denen die meisten antisemitisch, aber immer mehr auch anti-muslimisch waren) und 17,7 Prozent durch Vorurteile gegenüber der sexuellen Orientierung von Menschen.3 Die Daten sind in diesem Bereich nicht zuverlässig. So erklärte der damalige Direktor des FBI, James Comey, im Jahr 2014: „Es muss uns besser gelingen, Hassdelikte aufzuspüren und zu melden, um voll und 1 Southern Poverty Law Center, „Hate groups increase for second consecutive year as Trump electrifies radical right“, 15. Februar 2017, www.splcenter.org/ news/2017/02/15/hate-groups-increase-second-consecutive-year-trump-electrifies-radical-right (abgerufen am 8.10.2018). 2  csbs.csusb.edu/hate-and-extremism-center (abgerufen am 8.10.2018). Diese Seite enthält alle Berichte des Centers. 3  www.fbi.gov/news/stories/2015-hate-crime-statistics-released (abgerufen am 8.10.2018); www.fbi.gov/news/pressrel/press-releases/fbi-releases-2015-hatecrime-statistics (abgerufen am 8.10.2018).

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ganz zu verstehen, was in unseren Gemeinwesen geschieht und wie wir es beenden können.“4 Ein Teil der scheinbaren Zunahme solcher Verbrechen ist sicherlich das Ergebnis besserer Datenerhebung und vermehrter Berichterstattung. Wir sollten daher nicht in Panik verfallen oder für einen angeblichen Anstieg auf der Stelle Trump-Anhänger verantwortlich machen. Stattdessen sollten wir uns daran erinnern, dass die Vereinigten Staaten von Amerika eine schlimme Geschichte von Hassverbrechen und Feindseligkeiten haben, vor allem im Bereich des Rassenhasses, jedoch auch in Bezug auf Hassdelikte, die sich gegen Menschen einer bestimmten Religion, ihr Geschlecht und ihre sexuelle Orientierung richten. Wir sollten schlicht feststellen, dass es zu viele Hassverbrechen gibt, und wir sollten herausfinden, wie wir sie verhindern können. Das bedrohliche Wiederaufleben des weißen Rassismus und des Antisemitismus im August 2017 in Charlottesville in Virginia hat dieses lange im Untergrund brodelnde Thema ans Licht gebracht. Ein Faktor, den meine philosophische Analyse nicht berücksichtigen wird, ist die leichte Verfügbarkeit von Waffen in den USA. Hass und Hassverbrechen gibt es in allen Ländern – was in Europa jedoch eine Prügelei sein könnte, wird in unserem Land allzu oft zu einem bewaffneten Angriff mit mehreren Opfern. Ich bin davon überzeugt, dass dies ein großer Teil des gegenwärtigen Problems der Hassdelikte ist, aber das ist nicht mein Thema. Glücklicherweise gibt es (da es heute politisch unmöglich ist, in dieser Frage Fortschritte zu erzielen) noch andere Themen, die man erörtern kann! 4 Comeys Bemerkungen, die er in einer Rede vor der Anti-Defamation League im Jahr 2014 von sich gab, werden im FBI-Bericht 2015 zitiert (unter www.fbi.gov/ news/stories/2015-hate-crime-statistics-released). Er wiederholte seine Forderung nach mehr Daten im Jahr 2017 (vgl. Jewish Telegraphic Agency, FBI Director James Comey calls for better ways to track hate crimes, 9. Mai 2017, www.jta. org/2017/05/09/news-opinion/politics/fbi-director-james-comey-calls-for-better-ways-to-track-hate-crimes).

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Abhilfe lässt sich schaffen, wenn die Wurzeln dieser Probleme verstanden werden. Eine philosophisch-psychologische Analyse der Ausgrenzungsgefühle wird klären, wo wir stehen, wohin wir gehen und wie wir mehr Gegenseitigkeit und Gleichheit anstreben können. Wie kommt Ausgrenzung zustande? Welche Emotionen stehen hinter ihr und prägen sie? Und welche Rolle spielt die Angst bei der Bildung solcher Hierarchien? Angst ist der Motor für einen Großteil des verwerflichen Verhaltens in diesem Bereich, besonders wenn sie mit der Dynamik von Zorn und Schuldzuweisung kombiniert wird. Angst und damit verbundener Zorn sind vor allem bei Hassdelikten gegen Muslime hervorzuheben, bei denen eine Welle der Angst leicht in Richtung Schuldzuweisung und vergeltende Gewalt umgelenkt werden kann. Es gibt hier allerdings noch eine weitere Emotion, die wir berücksichtigen müssen: Wie der Zorn ist dieses Gefühl mit Angst infiziert, und Angst führt dieses Gefühl und damit uns selbst häufig auf Irrwege. Im Gegensatz zum Zorn kann dieses Gefühl allerdings auch ohne Fehlverhalten oder eine Bedrohung durch Verbrechen entstehen. Es ist durch die Angst vor Animalität und Sterblichkeit motiviert und wird daher durch – reale oder unterstellte – körperliche Merkmale ausgelöst, die in enger Beziehung zu unseren Ängsten bezüglich der Sterblichkeit und unseres verletzlichen animalischen Leibes stehen. Dieses Gefühl ist der Ekel. Die Irrationalitäten dieses Gefühls liegen zahlreichen gesellschaftlichen Übeln zugrunde.5 5 Über Ekel habe ich in zwei früheren Büchern geschrieben: Hiding from Humanity: Disgust, Shame, and the Law, Princeton 2004, und From Disgust to Humanity: Sexual Orientation and Constitutional Law, New York 2010. Ersteres untersucht die Emotionen von Ekel und Scham aus einer psychologischen und philosophischen Perspektive und betrachtet dann Beispiele aus einem breiten Spektrum von Vorurteilen; Letzteres konzentriert sich auf die sexuelle Orientierung und die Rolle von Ekel bei Vorurteilen in diesem Bereich. Vor Kurzem habe ich mit Kollegen in Indien eine vergleichende Zwei-Länder-Studie über Ekel und Stigmatisierung auf den Weg gebracht, die in Zoya Hasan, Aziz Huq, Martha C. Nussbaum und Vidhu Verma, The Empire of Disgust: Prejudice, Discrimination, and Policy in India and

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Kehren wir noch einmal zu den Märchen zurück. Hexen und Unholde sind nicht nur bedrohlich, sie sind auch hässlich und deformiert. Oft sind sie auf eine bestimmte Weise hässlich: Sie ekeln uns an. Ihre Körper werden als unrein, schleimig oder übelriechend vorgestellt, und häufig nehmen sie sogar die Form von Tieren an, die diese Eigenschaften haben (Frösche, Schlangen, Fledermäuse). Shakespeare wusste, was er tat, als er die Hexen in Macbeth als Gefährtinnen solcher als widerlich geltenden Tiere darstellte: Sie werfen Körperteile von Kröten, Schlangen oder Molchen in ihr Gebräu (4. Akt, 1. Szene). Und Shakespeare wusste auch, wie leicht die Vorstellungen von Schleim und Widerlichkeit auf die Körper von Minderheiten projiziert werden, die als unerwünscht angesehen werden: Die Hexen werfen in ihre Brühe auch „des Lästerjuden Lunge“, eine „Türkennas“, eine „Tatarenzunge“ sowie einen „Finger des neugeborenen Knaben, den die Metz erwürgt im Graben“. Ethnische und sexuelle Minderheiten (Juden, Muslime und Prostituierte) werden neben ekelhaften schleimigen Tieren aufgelistet, so als seien ihre Körper selbst schleimig und ekelhaft. Der Finger stammt von einem Baby, das von einer Prostituierten in einem Abflussgraben zur Welt gebracht wurde, und so mit Fäkalien, Urin und mit der Sexualität zusammenhängenden Körperflüssigkeiten verunreinigt wurde. Doch damit nehmen wir Dinge vorweg. Auf diese ausgewählten Beispiele von „projektivem Ekel“ werde ich an späterer Stelle noch einmal zurückkommen. Wenden wir uns zunächst dem „primären Ekel“ zu.

the US, Delhi 2018 resultierte. Der Band betrachtet Ekel in Bezug auf Vorurteile im Hinblick auf Kaste, Rasse, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Behinderung, Alter, Klasse und muslimische Identität. (Zu jedem Thema gibt es zwei Aufsätze, die unterschiedlichen Perspektiven und Argumenten Raum geben.)

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Primärer Ekel und Verwundbarkeit Ekel scheint ein uns besonders stark aufwühlendes Gefühl zu sein. Die übliche instinktive Reaktion darauf ist, dass man erbricht oder zumindest eine verbale Äußerung wie „Igitt“ von sich gibt, und Ekel ist, wie die Angst, wahrscheinlich Teil unseres evolutionären Erbes. Im Gegensatz zur Angst ist er jedoch bei sehr kleinen Kindern nicht vorhanden. Sie spielen gern mit ihrem eigenen Kot, bis sie eines Besseren belehrt werden. Tatsächlich beobachtet man Ekel erstmals, wenn Kinder den Windeln entwöhnt werden. Dies bedeutet nicht, dass es sich um ein rein erlerntes Verhalten handelt. Eine Tendenz kann angeboren sein, und dennoch Zeit brauchen, um sich zu entwickeln, wie es bei der Sprache der Fall ist. Es bedeutet allerdings, dass die Kultur viel Zeit hat, die Ekelgefühle zu formen, und dass wir diese kulturspezifischen Überformungen beachten sollten. Ich verwende den Begriff „primärer Ekel“, um eine „Ekelreaktion“ auf Ausscheidungen und andere Flüssigkeiten des Körpers zu bezeichnen (Blut, Nasenschleim, Sperma, Ohrenschmalz, Erbrochenes und Urin werden alle normalerweise als ekelhaft empfunden), wende ihn aber auch auf Tiere an, die scheinbar mit diesen Körperabsonderungen gemeinsame Eigenschaften haben, wie etwa Widerlichkeit, Schleimigkeit und üblen Geruch – all das, was die Zutaten im Kessel der Hexen auszeichnet. Shakespeare listet auch Kröten, Eidechsen und Fledermäuse auf; unserem eigenen Kessel würden wir sicherlich Kakerlaken, Stubenfliegen, Bettwanzen und wahrscheinlich Ratten hinzufügen. Das Deutsche hat einen Oberbegriff dafür: Ungeziefer. Als ein solches findet sich Gregor Samsa in Franz Kafkas Roman Die Verwandlung wieder, und Kafkas Absicht, der keine Übersetzung gerecht werden kann, besteht darin, die genaue Artbezeichnung der widerlichen Kreatur

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unbestimmt zu lassen. Sie ist eine Art Kakerlake, jedoch viel größer, und hat lange Beine. Das Hauptmerkmal des Gregor-Ungeziefers ist der Ekel, den seine Anwesenheit hervorruft. Der Liste der ekelerregenden Dinge müssen wir auch als eine wichtige Ergänzung die Leichen von Tieren und Menschen hinzufügen. Ja, möglicherweise ist diese Abneigung der Schlüssel zu all den anderen, da sich die Vorstellung von Verwesung und Zerfall scheinbar wie ein roter Faden durch alle anderen Gegenstände des primären Ekels zieht. Man könnte zunächst denken, dass primärer Ekel ein einfacher, nicht kognitiver Reflex ist. Doch wichtige umfangreiche psychologische Untersuchungen von Paul Rozin und seinen Kollegen haben gezeigt, dass dies nicht der Fall ist: Ekel hat einen ausgeprägten kognitiven Gehalt.6 Einerseits zeigen Experimente, dass Ekel nicht dasselbe ist wie ein einfacher Reflex. Derselbe Geruch löst unterschiedliche Reaktionen aus, je nachdem, was man für seine Quelle hält. Die Probanden riechen an einem Reagenzglas, das eine unbekannte Substanz enthält. Diejenigen, die glauben, dass der Geruch von Käse stammt, mögen ihn normalerweise; Versuchspersonen, denen gesagt wird, dass er von Kot stammt, finden ihn normalerweise ekelhaft. (Die Gerüche sind sich in Wirklichkeit sehr ähnlich.) Wenn wir davon ausgehen, es handele sich bei einer Substanz um Käse, denken wir wahrscheinlich auch, dass es angenehm wäre, sie in den Mund zu nehmen. Wenn wir angewidert sind und denken, es handele sich um Kot, lässt uns der Ekel vor der Substanz zurückschrecken, und wir würden sie niemals in den Mund nehmen. Die Forscher ziehen hieraus den Schluss, dass Ekel den Gedanken beinhaltet, ein Gegenstand sei verunreinigend: etwas, das wir nicht zu 6 Ich diskutiere die Untersuchungen von Rozin und seinen Kollegen ausführlich anhand umfangreicher Zitate in Hiding from Humanity, Princeton 2004.

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uns nehmen oder vielleicht noch nicht einmal anfassen sollten. Der Mund ist in diesem Zusammenhang eine besondere, heikle Zone. Wir alle vermeiden es, Dinge zu essen, die gefährlich sind, und Kot zu essen, ist in der Tat gefährlich, ebenso gefährlich wie Leichen und viele dieser schleimigen Tiere zu essen. Die nächste Hypothese, welche die Forscher überprüften, lautete demnach, dass es sich bei Ekel um eine Art Angst vor etwas Gefährlichem handelt. Es ist etwas Wahres an dieser Hypothese, insofern es eine grobe Korrelation zwischen dem Ekelhaften und dem Gefährlichen gibt, und Ekel könnte sich durchaus als ein Mechanismus entwickelt haben, der uns vor den Gefahren schützt, die von Fäulnis und Bakterien ausgehen. Die Hypothese hat sogar einen begrenzten heuristischen Wert, auch wenn wir vieles über Gefahren wissen. Daher ist es eine gute Idee, ekelhaft riechende Milch wegzuschütten, anstatt sie auf Bakterien zu untersuchen. Dennoch zeigt die Forschung, dass Ekel etwas anderes ist als eine Angstreaktion auf Gefahr. Viele gefährliche Dinge erregen keinen Ekel: Giftige Pilze sind ein offensichtliches Beispiel hierfür. Und viele Dinge werden selbst dann noch als ekelhaft empfunden, wenn keine Gefahr von ihnen ausgeht oder diese Gefahr beseitigt ist. Urin, Sperma und Blut könnten gefahrlos getrunken werden, und Schweiß ist nur eine Form von Urin, die lediglich dann gefährlich ist, wenn auch Bakterien in der Nähe sind. (Anders ausgedrückt: Gefährlich ist nicht der Schweiß, sondern die Haut der schwitzenden Person.) Unsere Weigerung, solche Dinge zu uns zu nehmen, muss daher eine andere Erklärung haben. Warum werden sie mit Fäkalien und Nasenschleim, die wirklich gefährlich sind, in dieselbe Kategorie geworfen? Des Weiteren weigerten sich Versuchspersonen, keimfreie Kakerlaken zu essen oder mit einer keimfreien Fliegenklatsche gerührten Saft zu trinken. Ein Experiment bestand darin, eine sterilisierte Kakerlake in eine unverdauliche Plastikkapsel einzuschließen,

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die unverändert ausgeschieden werden würde. Die Versuchspersonen weigerten sich auch dann noch, sie zu schlucken. Die wahrgenommene Gefahr erklärt also nicht wirklich, warum Menschen es verabscheuen, bestimmte Dinge zu sich zu nehmen. Noch komplizierter wird es, wenn wir erkennen, dass Form und Berührung bei Ekel eine symbolische Funktion zukommen. (Rozin bezeichnet dies als „magisches Denken“.) So weigern sich die Menschen beispielsweise, Buttertoffee in der Form von Hundekot zu essen, auch wenn sie wissen, was es ist. Sie weigern sich auch, Saft aus einem sterilisierten Gefäß zu trinken, das die Form einer Bettpfanne hat. Und Berührung ist von großer Bedeutung: Wenn eine Sache etwas Ekelhaftes berührt hat, wird sie dadurch selbst ekelhaft, wie sehr wir sie auch säubern mögen. Wenn also eine Ratte von einem Teller gefressen hat, wollen wir diesen Teller nicht mehr benutzen, egal wie oft er gewaschen wurde. Nach dem Urteil der Forscher ist Ekel eine Aversion gegen Kontakt, hinter der wiederum Gedanken von Verunreinigung stehen. Diese Gedanken können mit einer bestimmten Gefahr in Zusammenhang stehen, doch sie können auch einfach die Weigerung beinhalten, dieses Ding zu sein, dieses (niedere) Ding als ein Teil des eigenen Selbst in sich zu haben. Die Forscher führen die Vorstellung, dass „man ist, was man isst“, als den volkstümlichen Glauben an, der dieser Denkweise zugrunde liegt. Offensichtlich gibt es eine Art von Angst, die dem Ekel zugrunde liegt, denn seine körperlichen Reflexe sind Aversion und häufig auch Flucht. Doch aufgrund ihrer symbolischen Natur ist diese Angst nicht einfach Angst vor der Gefahr. Rozin stellt fest, dass sämtliche Gegenstände des (primären) Ekels Tiere oder tierische Substanzen sind (mit der möglichen Ausnahme einiger schleimiger Pflanzen wie Okra, die manche Menschen ekelhaft finden), und er gelangt zu dem Schluss, dass die Gegenstände des Ekels „Mahnungen an unsere tierische Natur“ sind, Dinge, die

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uns an unsere eigene Animalität und damit an unsere Sterblichkeit erinnern. Wie ich 2004 dargelegt und einige Forscher im Anschluss daran betont haben, zieht Rozin seine Schlussfolgerungen hier zu schnell. Wir fühlen uns weder von allen Aspekten unserer Animalität angewidert – zum Beispiel nicht von Stärke und Schnelligkeit –, noch finden wir Tiere widerwärtig, die diese Eigenschaften verkörpern. Wir sind angewidert von dem, was wir als niedrig oder erniedrigend betrachten, einschließlich dessen, was entweder tot und vergänglich ist oder uns an den Geruch von Tod und Verfall erinnert. Wir sollten also den Ekel nicht zu voreilig von der Angst und vom Vermeiden schädlicher Krankheitserreger trennen. Irgendeine Art von Angst erfüllt den Ekel, doch ist es – in diesem Punkt hat Rozin Recht – eine Angst, die tiefer sitzt als der bloße Gedanke, dass dieses oder jenes Ding gefährlich ist. Es ist eine Angst, die sich irgendwie auf den Tod sowie auf unseren Leib und die Möglichkeit seines Verwesens bezieht, und das ist der Grund dafür, dass sie durch Symbole und nicht nur durch sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften wirksam ist. Wir weigern uns buchstäblich, den Verfall zu „schlucken“ und damit „tot“ zu sein. Die Menschen aller Kulturen zeigen als einzige unter den Tieren eine Angst davor, Tier zu sein. Wir versuchen, die Zeichen unserer Animalität zu verbergen und schrecken vor ihnen zurück, wenn wir gezwungen werden, uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Jonathan Swifts Gedicht „The Lady’s Dressing Room“ 7 ist eine wunderbare Darstellung dieser universalen menschlichen Tendenz. Eine Frau verbringt fünf Stunden damit, sich zu waschen und anzuziehen und dabei so zu tun, als sei sie eine „Göttin“, „süß und sauber“, „in Spitze, Brokat und Linnen“. Doch ihr Geliebter schleicht sich in 7 Volltext siehe www.poetryfoundation.org/poems/50579/the-the-ladys-dressingroom (abgerufen am 9.10.2018). Anm.: Die Übertragung der zitierten Passage stammt vom Übersetzer.

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ihr Ankleidezimmer und findet dort alle Zeichen ihrer Animalität: Nasenschleim, Ohrenschmalz, Schuppen, Haare von ihrem Kinn, unter den Achseln verschwitzte Kleidung, Hautfett, eine Schale mit dem, was sie aus „ihren Zähne und ihrem Zahnfleisch“ gekratzt hat, Strümpfe, die wie „stinkende Zehen“ riechen – all dies „dreht dem armen Strephon den Magen um“. Der Höhepunkt seiner Abscheu ist erreicht, wenn er die Wäschekiste öffnet, eine wahre Büchse der Pandora voller Übel – und Beweise für Urin und Kot findet (vielleicht auch Menstruationsblut, „unaussprechliche Dinge“). „So beendete er seine Übersicht, / der angeekelte Strephon stahl sich davon / und wiederholte in seinen amourösen Anfällen, / Oh! Celia, Celia, Celia scheißt!“ Auch wenn Swift ungewöhnlich besessen von solchen Dingen ist, verleiht er doch einer tiefen menschlichen Angst Ausdruck, und er hat recht damit, dass ein großer Teil des menschlichen (sicherlich nicht nur des weiblichen) Lebens mit routinemäßigem Verhalten ausgefüllt ist, mit dem wir zu verhindern versuchen, dass wir andere oder uns selbst anekeln. Wir sollten auch nicht denken, dass diese Ängste einer lang vergangenen Zeit angehören. Das Verlangen nach einer göttlichen Celia ist allgegenwärtig auf pornografischen Webseiten im Internet, auf denen Frauen ohne Schamhaare, Falten und Körpersekrete (der Menstruation und anderen) dargestellt werden und natürlich auch geruchsfrei sind. Von Frauen wird erwartet, dass sie alles Anstößige wegretuschieren und sich in eine Celia verwandeln; in dem Maße, in dem ihnen dies misslingt, laufen sie Gefahr, als ekelhaft wahrgenommen zu werden. Worum geht es hierbei eigentlich? Die Bezeichnung „Göttin“ sagt es uns: Es geht darum, unser sterbliches, körperliches Menschsein zu transzendieren sowie Tod und Verfall vor uns selbst und anderen zu verbergen. Und von Frauen wird oft erwartet, dass sie dies mit besonderer Besessenheit tun. Kein anderes Tier verhält sich so. Alle Tiere

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fürchten den Tod auf direkte Weise; sie schrecken vor Schmerzen und dem Ende des Lebens zurück. Viele Tiere vergraben ihre Exkremente und viele überlassen alternde oder invalide Artgenossen ihrem Schicksal. Wir jedoch sind die einzigen Tiere, die unsere Aversion gegen den Tod in ein merkwürdiges symbolisches Projekt der Transzendenz verwandeln. Der bedeutende Primatenforscher Frans de Waal spricht in diesem Zusammenhang sogar von anthropodenial, das heißt dem Leugnen der tierähnlichen Eigenschaften unserer Spezies. Sogar der primäre Ekel, der auf eine vernünftige Weise nützlich ist, wenn er sich auf Körperflüssigkeiten, stinkende und klebrige Gegenstände beschränkt, ist dann von Angst durchdrungen. Er drückt aus, was der Anthropologe Ernest Becker als „Leugnung des Todes“ bezeichnet hat, und dabei handelt es sich nicht nur um eine Leugnung, sondern auch um eine Form von Flucht.8 Auch wenn ich diesen Ekel „primär“ genannt habe und sagte, dass er von kulturellen Unterschieden nur relativ wenig überformt wird, hat er trotzdem einen komplizierten symbolischen Inhalt, der ein zum Scheitern verdammtes, und dennoch äußerst wichtiges menschliches Projekt ausdrückt.

Projektiver Ekel und die Abwertung von Gruppen Wie wir gesehen haben, taucht der Ekel erstmals während der Windelentwöhnung auf. Die Kultur hat daher eine Chance, seine Ausformung zu beeinflussen. Individuen und Kulturen unterscheiden sich bis zu einem gewissen Grad darin, welche Botschaften sie über die Körperlichkeit des Menschseins vermitteln, als wie gut oder wie 8 Siehe Ernest Becker, Dynamik des Todes. Die Überwindung der Todesfurcht, München o.J.

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schlecht sie diese ansehen. Aber es gibt keine bekannte Gesellschaft und vielleicht auch keinen einzelnen Menschen, die beziehungsweise der ein umfassendes und durchgängiges Beispiel für das Ideal Walt Whitmans abgibt, welches den „Leib, den elektrischen“ mit Liebe und ohne jeden Vorbehalt feiert.9 Vielleicht sollten wir uns das gar nicht wünschen, denn der Kampf des Menschen darum, seine Sterblichkeit zu transzendieren, ist wohl der Ursprung vieler wissenschaftlicher und kultureller Fortschritte. Der Ekel beschränkt sich jedoch nicht auf die „primären Gegenstände“ – Körperflüssigkeiten, Tiere mit diesen ähnlichen Eigenschaften und Leichen. Er verzweigt sich nach außen, und seine kulturelle Form wird mit der Zeit immer komplexer. Die Flucht vor Animalität und Tod nimmt eine höchst problematische Form an: Sie wird zu dem, was ich projektiven Ekel nennen werde. Das Projekt, unseren „höheren“ Status gegenüber dem „bloßen“ Tier zu definieren, ist von Unsicherheit bedroht. Weil wir uns immer selbst täuschen, wenn wir uns als über dem Tier stehend betrachten, sind unsere Strategien fadenscheinig und leicht zu entlarven. Jeden Tag erzwingen unsere tierischen Leiber auf unzählige Weise unsere Aufmerksamkeit. In genau diesem Augenblick, während ich diesen Satz schreibe, drückt meine Blase, und ich versuche zu entscheiden, wie lange ich weiterarbeiten kann, bevor ich austreten muss. Selbst wenn wir uns in Aversion von den Gegenständen des primären Ekels abwenden und versuchen, uns von jeder Verunreinigung rein zu halten, gelingt uns dies nicht gut. So sehr wir uns auch waschen und bürsten, mit Zahnseide reinigen und säubern und das Fenster öffnen: Wir kommen dennoch fast ständig in Kontakt mit unseren eigenen Sekreten und denen anderer. Eine gewisse Abneigung 9 „Ich singe den Leib, den elektrischen“ ist eines der Gedichte aus Whitmans Sammlung Grashalme (1855).

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gegen Körpersekrete ist durch die Angst vor Gefahren rational motiviert. Wie die meisten Sänger habe auch ich zum Beispiel Angst davor, wenn Menschen in meiner Nähe niesen und husten. Aber vieles davon ist eigentlich Ekel, und es ist schwierig, dem Ekelhaften aus dem Weg zu gehen. Ja, nur in der hohen Literatur, wo die Körperfunktionen in der Regel nicht erwähnt werden, halten wir uns erfolgreich davon fern. Swift ist schockierend, selbst im Rahmen toleranterer Literaturgattungen von Satire und Komik. Doch was seltsamerweise als „realistischer Roman“ bezeichnet wird, zeigt auf aufschlussreiche Weise, wie das Vermeiden für ein ganzes Genre bestimmend wurde. Der „realistische Roman“ präsentiert tatsächlich viel Realität, viele Einzelheiten von Menschen und Orten, sogar des Essens. Die physischen Aspekte der Natur sind stark präsent, selbst wenn sie gefährlich sind. Doch der ganze Bereich des Ekligen wurde (bis vor Kurzem) verbannt – keine Toiletten, kein Zähneputzen, keine Menstruation, keine tropfenden Nasen, keine sexuell konnotierten Körperflüssigkeiten, tote Menschen, aber keine Leichen, das heißt keine Erwähnung von Gestank und Verwesung. Als James Joyce plötzlich beschrieb, wie Leopold Bloom zur Außentoilette geht und später masturbiert, während er unter Gerty MacDowells Rock schaut, und als er Molly Bloom beschrieb, die über die Penisse ihrer Liebhaber nachsinnt, während sie sich auf den Nachttopf setzt, weil ihre Menstruation beginnt, war die Öffentlichkeit schockiert. „Sämtliche geheimen Abwässer des Laster fließen in seinem Strom unvorstellbarer Gedanken, Bilder und pornografischer Wörter zusammen“, schrieb ein früher Rezensent des Buches.10 So groß war der Schrecken der Leser, sich 10 James Douglas im Sunday Express, 1922, zitiert nach: David Bradshaw, „James Douglas: The Sanitary Inspector of Literature“, in: David Bradshaw und Rachel Potter (Hrsg.), Prudes on the Prowl: Fiction and Obscenity in England, 1850 to the Present Day, Oxford 2013, S. 90–110, hier S. 97 f.

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selbst anzusehen, dass die Darstellung des Alltäglichen wie ein monströses Laster erschien. Als D. H. Lawrence explizit den Geschlechtsverkehr beschrieb, wurde auch er beschuldigt, widerwärtig und „obszön“ zu sein – ein Wort, das von dem lateinischen Ausdruck für Kot (caenum) abgeleitet ist. Ja, die juristische Definition des Obszönen, die Richter gegeben haben, bezieht sich auf das Ekelhafte.11 Die Menschen werden also immer wieder mit sich selbst konfrontiert, wie sehr sie auch stets versuchen, es nicht zu tun. Allerdings: Wenn die Menschen sich selbst nicht vollständig vom Ekelhaften in sich selbst fernhalten können, dann kann ihnen eine weitere, im menschlichen Leben allzu weitverbreitete Strategie helfen. Es ist diese „glänzende Idee“: Was wäre, wenn wir eine Gruppe von Menschen ausmachen könnten, die wir als animalischer ansehen könnten als uns selbst – verschwitzter, stärker riechend, triebhafter, stärker vom Gestank der Sterblichkeit durchdrungen? Könnten wir eine solche Gruppe von Menschen identifizieren und sie uns erfolgreich unterordnen, dann könnten wir uns sicherer fühlen. Das sind die Tiere, nicht wir. Die sind schmutzig und stinkend, wir sind rein und sauber. Und sie sind uns untergeordnet, wir beherrschen sie. Diese Art von verworrenem Denken ist in menschlichen Gesellschaften allgegenwärtig. Sie dient dazu, in Distanz zur eigenen problematischen Animalität zu gehen. Wenden wir uns abermals den Märchen zu. Wenn kleine Kinder lernen, ihre Ängste zu beschwichtigen, so geschieht dies nicht allzu oft durch rationales Nachdenken darüber, wie sie sich vor Hunger, Krankheit und sonstigen Gefahren des Lebens schützen können. Stattdessen werden sie häufig durch die Geschichten, die sie hören, darin bestärkt, eine hässliche, missgestaltete, bestialische Figur, ein 11 Für die Geschichte der relevanten Obszönitätsgesetze vgl. Kapitel 3 von Hiding from Humanity, Princeton 2004.

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Ungeheuer oder eine Hexe oder sogar ein sprechendes Tier zu beschuldigen; und sie sagen sich, dass das Leben sicherer wäre, wenn sie diese Figuren – Projektionen dessen, was sie in sich selbst fürchten – nur kontrollieren und beherrschen könnten. Schon im alten Rom wurden Hexen als ekelhaft und dreckig dargestellt.12 In Märchen ist der Unhold meistens ein Individuum, doch im gesellschaftlichen Leben wird das Ekelhafte häufig auf eine verletzliche Gruppe nach außen projiziert. Die Hexen in Macbeth werfen in ihren Kessel den Juden, den Türken oder Muslim, symbolisiert durch seine Nase, und den Tataren – wahrscheinlich einen Schwarzafrikaner („Tartarus“ ist eine mythologische Region der Schwärze) –, symbolisiert durch seine Lippen. Wenn wir die Kontamination durch diese Menschen umgehen können, können wir irgendwie unserer eigenen Animalität aus dem Weg gehen und uns über sie erheben. Das ist der Gedanke hinter dem, was ich als projektiven Ekel bezeichne. Es scheint ein verrücktes, zum Scheitern verurteiltes Bestreben zu sein. Das Menschsein ist fast überall dasselbe; wie lassen sich solche Aufteilungen also überhaupt vornehmen? Und werden sie nicht von sich aus in dem Maße zusammenbrechen, in dem die untergeordnete Gruppe ihr eigenes Menschsein bezeugt? Der projektive Ekel wird „projektiv“ genannt, weil er eklige Eigenschaften vom eigenen Selbst auf andere projiziert und sich sagt: „Sie sind übelriechend und bestialisch.“ Doch wird diese Konzentration darauf, anderen ekelhafte Eigenschaften zuzuschreiben, nicht mit Sicherheit dazu führen, dass wir „unsere“ Blicke (die der dominanten Gruppe) wieder zurück auf uns selbst richten und „uns“ bewusst 12 Siehe Debbie Felton, „Witches, Disgust, and Anti-abortion Propaganda in Imperial Rome“, in: Donald Lateiner und Dimos Spatharas, The Ancient Emotion of Disgust, New York 2017, S. 189–201. Felton legt dar, dass das Interesse an der Figur der ekelhaften Hexe in dieser Zeit mit der fundamentalen Angst vor der sexuellen Freiheit der Frauen, einschließlich der Praxis der Abtreibung, in Verbindung stand.

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machen, dass das, was „wir“ in anderen angreifen und wovor wir fliehen, unser eigenes Selbst ist? Dennoch spielt projektiver Ekel in jeder bekannten Gesellschaft eine prominente Rolle. Einige Gruppen, die für diese Unterwerfung des vermeintlich Ekligen in Frage kommen, sind ethnische Untergruppen, die durch ihre Hautfarbe oder andere äußere Merkmale gekennzeichnet sind. Wir wissen auch, welch pseudowissenschaftlicher rassistischer Unfug betrieben wurde, um die Lüge aufrechtzuerhalten, dass diese Gruppen (Afroamerikaner, Asiaten, Indianer) wirklich „anders“ sind, eine andere Spezies als „wir“. Andere Gruppen werden auf der Grundlage einer religiös-ethnischen Zugehörigkeit zu Kandidaten für die Unterordnung: Juden und Muslime. Weitere Gruppen werden ins Visier genommen, weil ihre von der Mehrheit abweichende Sexualität Aufmerksamkeit auf sich zieht. In vielen Gesellschaften werden Schwule, Lesben und Transsexuelle als ekelhaft empfunden, weil ihr körperbetontes Wesen und die Art ihrer Sexualität auffallen und Faszination geradezu erzwingen. Sie wirken auf irgendeine Art „körperlicher“. In den USA verwendeten Kampagnen gegen die Gleichberechtigung von Schwulen Bilder von Analverkehr und der angeblichen Vermischung von Kot und Blut, um die Öffentlichkeit darin zu bestärken, vor sozialem Kontakt mit Homosexuellen, vor allem schwulen Männern, in Wohnsituationen und im Arbeitsleben zurückzuschrecken.13 Wieder andere Gruppen werden als ekelhaft empfunden, weil sie die dominante Gruppe direkt an ihre eigene Schwachheit, ihr künftiges Schicksal erinnern. So waren die ehemaligen „Unberührbaren“ in der indischen Kastenhierarchie diejenigen, die Fäkalien und Leichen entsorgten und Böden reinigten. Indem man den körperlichen 13 In meinem Buch From Disgust to Humanity, New York 2010, nenne ich Beispiele für die in der Kampagne gegen Nichtdiskriminierungsgesetze in Colorado verbreiteten Pamphlete.

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Kontakt mit ihnen vermied, meinte man, irgendwie den Kontakt mit dem „Dreck“ in sich selbst zu vermeiden – trotz der Tatsache, dass man jeden Tag selbst die Exkremente ausschied, welche die unteren Kasten entsorgten, und trotz der Tatsache, dass man Menschen aller sozialen Gruppen sterben sah. So wurden auch in jeder Gesellschaft Menschen mit schweren geistigen und körperlichen Behinderungen als abstoßend angesehen und gemieden, als mache das Vermeiden des Kontakts mit solchen behinderten Menschen gegen eigene Behinderungen immun. Mit besonderer Abscheu begegnet man oft alternden Körpern, denn die Alten sind die einzige Gruppe, von der jeder weiß, dass er früher oder später darin landen wird, es sei denn, er stirbt eines vorzeitigen Todes. Wenn man sich von faltigen und hinkenden Körpern fernhält, fühlt man sich besser, so, als sei ihre Stigmatisierung ein wahres Lebenselixier. Ekel vor dem weiblichen Körper (Menstruationsflüssigkeit, weichem Fleisch) geht mit Angst und sexuellem Verlangen eine einzigartige Verbindung ein, weshalb ich auf dieses Thema erst an späterer Stelle eingehen möchte. Zu glauben, dass wir den Kontakt mit unserer Animalität wirklich vermeiden können, ist verrückt und zum Scheitern verurteilt; doch ist es nicht ebenso verrückt zu denken, dass wir den Kontakt mit Mitgliedern dieser symbolisch überfrachteten Untergruppen vermeiden können. Shakespeares England vertrieb einfach die Juden, sodass es zwischen 1290 und 1656 keine Juden in Großbritannien gab. Es war ein Geniestreich aufseiten Shakespeares und seiner Mitstreiter in der Welt des Theaters, sich das Ekelhafte in Form einer Gruppe vorzustellen, die wirklich existierte, deren Geschichte man erzählen und die man sich anschaulich vorstellen konnte, die in Großbritannien jedoch einfach nicht vorhanden war. In unserer Zeit wurde der Versuch der Nazis, alle Juden Europas zu vernichten, ernsthaft in Angriff genommen, und er war in einem schrecklichen

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Ausmaß erfolgreich. Menschen mit Behinderungen und alternde Menschen wurden ebenfalls als mögliche Opfer von Ausrottung ins Visier genommen, aber viel häufiger wurden sie einfach an den Rand der Gesellschaft gedrängt und aus der Öffentlichkeit verbannt. (In vielen Städten gab es früher „Hässlichkeitsgesetze“, die es Menschen mit Behinderungen oder verstörendem Äußeren verboten, in der Öffentlichkeit zu erscheinen.)14 Schwule und Lesben waren gezwungen, ein Leben im Versteck zu führen, indem sie in der Öffentlichkeit nur diejenigen Aspekte ihrer selbst zeigten, die den Normen der dominanten Gruppe entsprachen. In einer Vielzahl von Fällen bringt projektiver Ekel die Menschen dazu, sich zu verbergen und oder zurückzuziehen. In anderen Fällen wird die als eklig geltende Gruppe von der dominanten Gruppe als nützlich empfunden, sodass sie jene nicht vollständig verdrängen will. In diesen Fällen entwickeln sich umständliche Rituale, um die Interaktionen mit dieser Gruppe zu reglementieren und Kontaminationen zu unterbinden. Die indische Kastenhierarchie, die Behandlung von Afroamerikanern durch Weiße in den USA und die Behandlung von Frauen durch Männer gehören alle zu diesem Typus: Man sieht sie ständig, sie gehen ihrer nützlichen Arbeit nach, aber besondere Arrangements verhindern, dass es durch sie zu einer Verunreinigung kommt. Und die Leute glauben mehr oder weniger, dass sie durch das Vermeiden von X und Y und Z tatsächlich den Kontakt mit Schweiß, Kot, Sperma und Nasenschleim vermeiden. Wenn kein Afroamerikaner in einem öffentlichen Schwimmbad schwimmt, bedeutet es, dass das Schwimmbad 14 Siehe Susan M. Schweik, The Ugly Laws: Disability in Public, New York 2010. Chicago hatte ein solches Gesetz, und ein ehemaliger Kollege von mir mit einer schweren neurologischen Behinderung, einer der brillantesten jüngeren Verfassungsrechtler der USA, wies darauf hin, dass es ihm nach diesen Gesetzen nicht erlaubt gewesen wäre, in der Öffentlichkeit aufzutreten.

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sauber ist, dass kein Kot oder Schweiß oder Urin in seinem Wasser ist! (Menschen, die versuchten, vernünftige Gründe für diese Regeln anzuführen, sagten, dass diese Gruppen sexuell übertragbare oder andere ansteckende Krankheiten hätten, und viele glaubten dies wahrscheinlich auch.) Wie verhält es sich mit moralisierendem Ekel? Es ist ein bekanntes Phänomen, dass Menschen sich vor Dingen ekeln, die sie für unmoralisch halten. In einigen dieser Fälle hat die Aversion zwei Komponenten, die voneinander zu trennen wir zumindest versuchen können. So halten etwa viele Menschen homosexuellen Geschlechtsverkehr für unmoralisch, ohne Ekel zu empfinden, und viele glauben, dass der Geschlechtsverkehr von Schwulen „eklig“ ist, ohne ein bestimmtes moralisches Argument dafür anzuführen. Einige Leute ekeln sich vor den Körpern von Afroamerikanern und schließen sich auch der Meinung an, dass Afroamerikaner zu kriminellem Verhalten neigen; aber auch hier existieren diese beiden Aspekte häufig voneinander getrennt. Noch rätselhafter sind Fälle, in denen sich der Ekel selbst direkt auf unmoralisches Verhalten richtet: Wir können die Korruption von Politikern, schreckliche Verbrechen oder Rassismus und Sexismus selbst ekelhaft finden. Dieses Phänomen hat die Forscher lange verwirrt, und es hat auch mich verwirrt. Ich habe es in anderen Arbeiten ausführlich behandelt.15 Daher fasse ich meine Auffassung im Folgenden zusammen. In einigen dieser Fälle handelt es sich nur um eine ungenaue Wortwahl. Wenn Leute sagen: „Diese Politiker ekeln mich an“, dann bringen sie in Wahrheit Protest oder Wut zum Ausdruck, und was sie empfinden, ist wahrscheinlich kein Ekel. In anderen Fällen ist es wirklich Ekel, doch wenn man die Sache genauer betrachtet, konzentrieren sich die Vorstellungen auf typische Ekelbilder: Man stellt sich 15 Vgl. Hiding from Humanity, Princeton 2004, Kapitel 2.

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die blutigen Taten des Verbrechers lebhaft vor; die Politiker werden als Kakerlaken oder Ratten imaginiert. In wieder anderen Fällen, in denen Ekel statt Wut empfunden wird, existiert im Kern des Gefühls immer noch eine allgemeine Vorstellung von Reinheit und Schmutz, und die Person äußert den Wunsch, von der Verunreinigung durch diese schmutzigen Menschen befreit zu sein, an einen saubereren Ort zu gelangen. Meiner Meinung nach zeigen solche Fälle nicht, dass Ekel sozial konstruktiv ist, denn die angeekelte Person will einfach fliehen, statt das Problem zu lösen. (Ich habe manchmal die Fantasie, nach Finnland zu ziehen, in ein Land, das ich ziemlich gut, aber nicht allzu gut kenne. Ich stelle es mir daher als ein Land mit klaren, blauen Seen und sozialdemokratischer Reinheit vor.) Auch in juristischen Kontexten ist auf Ekel kein Verlass: So ekeln sich Geschworene zum Beispiel in der Regel bei der Erwähnung von Blut und grausamen Details, doch Morde können auch dann schrecklich sein, wenn sie keine solche sinnlich erschütternden Begleitumstände haben – man denke an den Mord an einem Wachmann während eines Banküberfalls. Ich widerspreche daher der Behauptung einiger Forscher, dass Ekel in solchen Fällen politisch produktiv und vertrauenswürdig ist. Aber ich gebe zu, dass in einigen dieser Fälle der Wunsch, andere unterzuordnen, keine Rolle spielt.

Ekel und das, wovor wir uns fürchten Im Zentrum des primären Ekels steht Angst: Sie hält uns fern von dem, was uns alarmiert und (häufig) auch bedroht. Da der primäre Ekel uns jedoch nicht ausreichend von dem entfernt, was wir fürchten, erzeugt die Angst projektiven Ekel als einen weiteren Schutzmechanismus, der Gleichheit und gegenseitigen Respekt bedroht. Da sich die Angst jedoch weit ausbreitet und viele verschiedene Arten von Stigmatisierung aus Ekel erzeugt, müssen wir die grenzenlose

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Plastizität dieser sozialen Gebilde verstehen, um uns auf diejenigen von ihnen konzentrieren zu können, die für unsere gegenwärtige politische Situation am relevantesten sind. Obwohl wir unsere Aufmerksamkeit auf viele Arten von Ausgrenzung richten könnten, möchte ich mich auf zwei von ihnen konzentrieren, die heute besonders akut erscheinen: auf körperlichen Ekel vor Afroamerikanern und vor Schwulen, Lesben und Transsexuellen. (Die komplexen hasserfüllten Reaktionen auf die Gegenwart und den Erfolg von Frauen in unserer Gesellschaft enthalten ein giftiges Gemisch aus Ekel, Zorn und Schuldzuweisung sowie Neid, weshalb ich sie gesondert besprechen werde.) Lassen Sie mich kurz erwähnen, was in diesem Kapitel nicht behandelt wird. Der Ekel, der die Diskriminierung alter Menschen und von Menschen mit Behinderungen verstärkt, ist ein großes soziales Übel, doch ich habe mich vor Kurzem gemeinsam mit Saul Levmore in unserem Buch Älter werden16 damit auseinandergesetzt und werde das Thema daher hier beiseitelassen. Jedenfalls scheint es mir in unseren aktuellen Diskussionen kein Thema zu sein: Altersdiskriminierung, so fürchte ich, ist höchst universell und überschreitet die Parteigrenzen. In manchen Ländern sind Muslime Opfer von Hassverbrechen. In Indien verwendet die Propaganda, die diese Feindseligkeit aufheizt, eine Rhetorik des Ekels, die den Körper der Muslime als stinkend (vermutlich weil sie Rindfleisch essen), als hypersexuell und übermäßig fruchtbar hinstellt, im Gegensatz zu dem angeblich reinen und sexuell beherrschten Körper der Hindus. Narendra Modi betrieb in seinem Heimatstaat Gujarat mit folgendem Slogan Wahlkampf: „Wir sind zwei und wir haben zwei [jedes Hindu-Paar hat 16 Martha Nussbaum und Saul Levmore, Älter werden. Gespräche über die Liebe, das Leben und das Loslassen, Darmstadt 2018.

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zwei Kinder]; sie sind fünf [weil man sich vorstellt, jeder Muslim habe vier Frauen, obwohl Polygamie unter Muslimen nicht häufiger ist als unter Hindus], und sie haben fünfundzwanzig.“ Mit obszöner Propaganda bezüglich der Körper muslimischer Frauen schürten Modi und die mit ihm verbündeten Gruppen eine mörderische Wut gegen Muslime, was 2002 in Gujarat zu einem Pogrom führte, bei dem etwa 2000 unschuldige muslimische Staatsbürger ermordet wurden.17 In den USA enthält der Hass auf Muslime lediglich den Aspekt der Angst; Ekel spielt hier keine Rolle. Testen wir nun also die Analyse, indem wir uns meine beiden Beispiele genauer ansehen. Sie werden uns erkennen helfen, wie sich der Schaden, der durch Ekel angerichtet werden kann, durch Erziehung und Gesetze eingrenzen lässt. In der Jim-Crow-Ära18 unserer jüngeren Geschichte, die noch nicht ganz überwunden ist, wurden afroamerikanische Körper mit Abscheu als Quellen der Verunreinigung angesehen. Trinkbrunnen, Esstheken, Schwimmbäder oder Hotelbetten durften nicht gemeinsam benutzt werden. Menschen, die ansonsten intelligent und zivilisiert waren, waren der Überzeugung, dass schwarze Körper einen großer Makel aufwiesen. Als Kind eines rassistischen Vaters aus dem tiefen Süden (obwohl ich im Norden lebte) wurde mir gesagt, dass Afroamerikaner anders riechen, dass sie Krankheiten verbreiten würden, wenn sie die gleichen Toiletten benützten oder 17 Ich diskutiere diese entsetzliche und abscheuliche Reihe von Verbrechen in meinem Buch The Clash Within: Democray, Religious Violence and India’s Future, Cambridge 2007. 18 Anm. d. Übers.: Im 19. Jahrhundert wurde in den USA „Jim Crow“ als Bezeichnung für das Stereotyp eines faulen, unterdurchschnittlich intelligenten Schwarzen verwendet. Ausgehend von dieser Symbolik wurden die Gesetze, die von 1876 bis 1964 die Rassentrennung zwischen Afroamerikanern und Weißen festlegten, von Kritikern die „Jim-Crow-Gesetze“ genannt. Man bezeichnet diese Zeit daher als „Jim-Crow-Ära“.

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dass man, wenn sie ein Trinkglas benutzt hatten, besser nicht mehr aus diesem Glas trinken sollte, selbst wenn man es gewaschen hatte. Obwohl sich dieser Ekel auf Fantasien gründete, nahm er reale körperliche Formen an: So hörte man während der Reconstruction19 von Menschen, die, nachdem sie vom Süden in den Norden gezogen waren und dann an einem gemischten Tisch saßen, sich buchstäblich übergeben mussten.20 Ich habe ganz optimistisch die Vergangenheitsform verwendet, doch die weißen Rassisten, die im August 2017 in Charlottesville auf die Straße gingen, zeigen uns, dass diese hässlichen Fantasien fortbestehen. Doch worum geht es bei dieser Angst? Zum Teil zeugt dieser Ekel von der Angst vor Animalität und Leiblichkeit, die allen Formen von Stigmatisierung aus Ekel gemeinsam ist. Allerdings hat jede projektive Form ihre eigenen besonderen Merkmale, die wir in unserem Fall anhand von zwei Vergleichen besser verstehen können: dem Vergleich mit dem Ekel, der in der indischen Kastenhierarchie enthalten ist, sowie mit dem antisemitischen Ekel. Die indische Haltung gegenüber „Unberührbaren“ hatte viele Aspekte mit unserem eigenen, auf ethnischer Herkunft basierenden Ekel gemeinsam. (Leider ist dies keine Sache der Vergangenheit, da 30 Prozent der hinduistischen Haushalte immer noch die Vorschriften der Unberührbarkeit beachten.) Dazu gehören die Weigerung, Trinkwasser, Lebensmittel, Schwimmbäder und Hotelbetten zu teilen, sowie das generelle Vermeiden von Körperkontakt. B. R. Ambedkar, der an der Ausarbeitung der indischen Verfassung maß19 Anm. d. Übers.: Als Reconstruction wurde der vom Kongress nach dem Bürgerkrieg durchgeführte Wiederaufbau bezeichnet, der von 1866 bis 1877 dauerte und darauf abzielte, die Südstaaten so neu zu organisieren, dass Weiße und Schwarze in einer Gesellschaft zusammenleben konnten, in der die Sklaverei abgeschafft war. 20 Diesen Hinweis verdanke ich einem Gespräch mit Jane Dailey, einer Historikerin an der Universität Chicago, die ein Buch über diesen Zeitraum schreibt.

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geblich beteiligt und einer der bedeutendsten Juristen der Neuzeit war, wuchs nach eigenem Bericht als ein Dalit-Kind (früher „Unberührbare“) auf. Er war wohlhabend und gut ernährt und gekleidet, da sein Vater für die britische Armee arbeitete, die in vielerlei Hinsicht rassistisch war, aber der Kastenhierarchie keine Beachtung schenkte. In der Schule durfte er kein Wasser aus dem gemeinsamen Wasserhahn trinken (in einer Region Indiens, in der die Temperatur oft 46 °C erreicht) oder auf den Matten sitzen, auf denen andere Kinder saßen. Als er mit seinen Schwestern, die teure, ordentliche und gebügelte Kleidung trugen und viel Geld mit sich führten, auf Reisen war, konnten sie kein Hotel finden, das sie aufgenommen hätte. All das klingt nach den Jim-Crow-Südstaaten, wo selbst wohlhabende und erfolgreiche schwarze Baseballspieler bis in die Mitte der 1950er-Jahre nicht in „weißen“ Hotels übernachten konnten.21 Aber es gibt Unterschiede. Der folgende ist ein sonderbarer Unterschied, der zeigt, wie irrational das gesamte System des Ekels ist. Afroamerikaner kochten und servierten oft in weißen Haushalten. In einem Hindu-Haushalt der oberen Kaste hatte ein Dalit jedoch niemals Zutritt zur Küche, und das Berühren von Nahrungsmitteln war ein zentraler Punkt im Rahmen der Stigmatisierung.22 Es gibt 21 Vgl. Hank Aaron, I Had a Hammer: The Hank Aaron Story, New York 1991. 22 In dem großen Roman Gora (1910) des indischen Philosophen Rabindranath Tagore weigert sich der Held, Essen zu sich zu nehmen, das in der Küche seiner eigenen Mutter gekocht wurde, weil sie eine Christin als Köchin beschäftigt. (Christen waren normalerweise Konvertiten aus den unteren Kasten, sodass in Bezug auf sie dieses Problem ebenfalls präsent war.) Er fantasiert über eine Rückkehr zum reinen Hinduismus der oberen Kaste als Indiens Weg in die Zukunft. Aber der Titel verweist schon auf die ganze Geschichte: Zu Beginn des Romans erfahren wir, dass Gora, dessen Name „Blassgesicht“ bedeutet, eigentlich das Kind einer Irin ist, die 1857 in der Rebellion gegen die britische Armee starb; Goras Mutter hat das Kind aus Mitgefühl adoptiert. Gora kann also niemals ein Hindu der oberen Kaste werden, da die Kastenzugehörigkeit durch die Geburt übertragen wird. Die verzweifelte Entdeckung seiner eigenen Abstammung führt

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jedoch noch eine weitere Verrücktheit: In den Jim-Crow-Südstaaten wurden oft die Teller, von denen Schwarze gegessen hatten, zerbrochen, damit sie nicht mehr benutzt werden konnten. Der berühmte Baseballspieler Hank Aaron beschreibt diese gängige Praxis in seiner Autobiografie: „Wenn Hunde von diesen Tellern gegessen hätten, hätte man sie abgewaschen.“23 Die Südstaaten der USA hatten demnach bizarre Praktiken bezüglich des Essens: Schwarze durften für Weiße das Essen zubereiten und es ihnen servieren, aber man glaubte, sie würden die Teller, von denen sie selbst aßen, verunreinigen. Und es gibt noch einen weiteren großen Unterschied zwischen dem indischen Kasten-Ekel und dem Rassismus in den USA: Männliche Dalits wurden als erbärmlich, schwach und niedrig angesehen; nicht als beängstigende potenzielle Sexualstraftäter, die auf Sex mit den Frauen der oberen Kasten aus waren. Das Vermeiden von sexuellem Kontakt war ein Teil des Gesamtsystems, doch die mögliche Vergewaltigung durch Dalit-Männer war keine zentrale Furcht in der Vorstellungswelt der oberen Kasten. Man könnte sagen, dass der Dalit-Mann eher wie eine Kakerlake gesehen wurde: schmutzig, niedrig, ekelhaft, doch nicht kraftvoll oder stark. Im Fall des afroamerikanischen Mannes verhielten sich die Dinge anders. Ein ehrlicher Blick auf die hitzigen Debatten über die Schulintegration in den 1950er-Jahren zeigt, dass die Angst vor sexuellem Kontakt zwischen schwarzen Männern und weißen Frauen für Widerstände bei der Schulintegration von zentraler Bedeutung war. In einem vor Kurzem erschienenen wichtigen Artikel hat mein Kollege Justin Driver, ein führender Verfassungsrechtler, alle Beweise für dieses Bild auf akribische Weise zusammengetragen. Er bei ihm zur Selbstprüfung und letztlich zu einem Sinneswandel: Die Zukunft Indiens liegt darin, das gleiche Menschsein all seiner Völker zu akzeptieren. 23 Aaron 1991, S. 47.

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hat gezeigt, dass selbst eine scheinbar wohlwollende politische Führungspersönlichkeit wie Dwight Eisenhower diesem Thema feindlich gegenüberstand.24 Im vertraulichen Gespräch mit dem Obersten Richter Earl Warren, der damals über den Fall „Brown vs. Board of Education“ zu entscheiden hatte, beschwor Eisenhower Warren, er möge einsehen, dass weiße Südstaatler, welche die Rassentrennung befürworten, „keine schlechten Menschen sind. Sie wollen lediglich sicherstellen, dass ihre süßen kleinen Mädchen nicht gezwungen sind, in der Schule neben großen schwarzen jungen Männern zu sitzen.“25 Die Vorstellung vom schwarzen Mann als einem gefährlichen Tier, das auf der Lauer liegt, zog sich durch sämtliche unserer heftigen Debatten – und ich würde behaupten, dass dieselben Bilder immer noch stark sind, obwohl sie in vielen Fällen unbewusst sind. Sie bestärken, was Psychologen als „implizite Vorurteile“ bezeichnen – Vorurteile, die bei empirischen Tests deutlich werden, obwohl die voreingenommene Person nicht weiß, dass sie sie hat.26 Ekel und Angst verbinden sich also auf eine einzigartige Weise, die sich von der Art und Weise unterscheidet, wie die Ekelgefühle in Indien überformt wurden. Der berühmte Baseballspieler Don Newcombe erzählt die Geschichte eines allein Weißen vorbehaltenen Hotels, das den schwarzen Spielern im Jahr 1954 den Aufenthalt erlaubte, 24 Justin Driver, „Of Big Black Bucks and Golden-Haired Little Girls: How Fear of Miscegenation Informed Brown v. Board of Education and Its Resistance“, in: Zoya Hasan, Aziz Z. Huq, Martha C. Nussbaum und Vidhu Verma, „The Empire of Disgust“: Prejudice, Stigma, and Discrimination in India and the U.S., New Delhi 2018. 25 Bernard Schwartz, Super Chief: Earl Warren and His Supreme Court, New York 1983, S. 113, zitiert in: Driver 2018, S. 64. 26 Die Literatur über implizite Vorurteile ist mittlerweile äußerst umfangreich, und die empirischen Daten sind sehr überzeugend. Eine gute Zusammenfassung findet sich in: Mahzarin R. Banaji und Anthony G. Greenwald, Blindspot: Hidden Biases of Good People, New York 2013.

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solange sie versprachen, den Swimmingpool nicht zu benutzen und sich damit spärlich bekleideten weißen Frauen zu nähern – und man wies ihnen Räume zu, die dem Pool abgewandt waren!27 Siebzig Jahre später sind diese Ideen nicht verschwunden. In Charlottesville in Virginia wurde während des Aufmarsches der weißen Rassisten im August 2017 einer jungen Gegendemonstrantin von einer Teilnehmerin des Aufmarschs, also einer Frau, gesagt: „Ich hoffe, du wirst von einem Nigger vergewaltigt.“28 Wenden wir uns nun dem Antisemitismus zu. Juden wurden, genauso wie Afroamerikaner, sowohl in Europa als auch in den USA weithin als übermäßig körperbezogen und animalisch betrachtet, als stinkender und sexualisierter als Nichtjuden. Die jüdische Nase wurde obsessiv kommentiert und eindeutig als eine Art Genitalorgan angesehen. Der Tropus, dass Juden große, lange Zigarren rauchen (wie mein Vater mir immer wieder sagte), verstärkte das Bild von Juden als sinnlichen und ausschweifenden Wesen.29 (Der amerikanische Antisemitismus hat ähnliche Themen. Heutzutage werden sie jedoch nur noch selten geäußert, wobei die Alt-Right-Bewegung eine trotzige Ausnahme bildet.) Allerdings gab es zur damaligen Zeit zwei große Unterschiede zwischen dem antisemitischen Ekel und dem rassistischen Ekel vor Afroamerikanern: Erstens wurden Juden als hochintelligente Tiere angesehen, die wegen ihrer Arglist gefährlich waren, während afroamerikanische Männer als dumme Tiere angesehen wurden. Was intolerante bigotte Personen fürchte27 Don Newcombe, zitiert in: Aaron 1991, S. 124. 28 „What U.Va. Students Saw in Charlottesville“, in: The New York Times, 13. August 2017, www.nytimes.com/2017/08/13/opinion/university-virginia-uva-protests-charlottesville.html (abgerufen am 10.10.2018). 29 Vgl. meinen Aufsatz „Jewish Men, Jewish Lawyers: Roth’s ,Eli, the Fanatic‘ and the Question of Jewish Masculinity in American Law“, in: Saul Levmore and Martha C. Nussbaum (Hrsg.), American Guy: Masculinity in American Law and Literature, New York 2014, S. 165–201.

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ten, unterschied sich also auf subtile Weise: Im ersten Fall sorgten sie sich, durch eine kluge Verschwörung von Bankern überrumpelt zu werden, im zweiten Fall, vergewaltigt und ermordet zu werden. Dies prägte die Charakteristika des jeweiligen Vorurteils. So erhob mein Vater beispielsweise vehement Einspruch gegen mein öffentliches Auftreten in einer gemischtrassigen Gruppe – offenbar mit der Begründung, dass Leute, die eine solche Gruppe sähen, sexuelle Intimität vermuten würden. (Was sonst, so fragte er sich offenbar, würde ein Schwarzer in einer solchen Gruppe suchen?) Aber er hatte keine analoge Angst vor meinem Kontakt mit Juden, solange ich keinen von ihnen heiraten würde (was ich später allerdings dennoch tat) – wahrscheinlich, weil er wusste, dass man aus einem solchen Zusammentreffen auf alle möglichen intellektuellen und beruflichen Absichten schließen konnte. Außerdem war es so, dass Juden – auch wenn sie als hypersexuell angesehen wurden – in der Regel nicht als Vergewaltiger, als bedrohlich oder körperlich aggressiv angesehen wurden. Tatsächlich wurden die sportlichen Leistungen von Juden häufiger herabgewürdigt und sie selbst als schwach dargestellt.30 Auch hier sehen wir wieder, dass jede Ausbildung von Ekel ihre eigenen Nuancen und ihre eigene Geschichte hat. Die Tatsache, dass gemeinsame Fäden alle Formen durchziehen, ist zwar bedeutsam, aber dies nimmt uns nicht aus der Verantwortung, unsere eigene gegenwärtige Situation und unsere eigenen pathologischen Aspekte zu analysieren. Diese Vergleiche zeigen, dass wir in Bezug auf Juden – insoweit wir uns bedauerlicherweise gegenwärtig noch immer mit Antisemitismus auseinandersetzen müssen – auf Fantasien über jüdische Arglist, jüdische Korruption, jüdische Verschwörungen sowie über 30 Daher wird der jüdische Leichtathletikstar „Swede“ Levov in Philip Roths Roman Amerikanisches Idyll (dt. 1998) als ethnischer Hybrid, als Anomalie, als „Schwede“ angesehen und sieht sich auch selbst so.

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jüdische Vulgarität und Rohheit achten müssen. Wenn es um Afroamerikaner geht, müssen wir auf die Tendenz achten, schwarze Männer als raubtierhaft, kriminell, unmenschlich und von Natur aus gewalttätig darzustellen. Außerdem müssen wir auch das Vorurteil beachten, dass schwarze Kinder nichts lernen können oder sich nicht darum bemühen oder – was noch schlimmer ist –, dass sie kriminelles Verhalten unweigerlich jeglicher Bildung vorziehen. (Hank Aaron erwähnte mit einiger Bitterkeit, dass Reporter sein zurückhaltendes und scheues Verhalten typischerweise als das eines „schleichenden farbigen Jungen“ darstellten. Sie wussten, welche Geschichte sie schreiben wollten, bevor sie ihm begegneten.31) Angesichts der starken psychologischen Beweise dafür, dass in den Köpfen der meisten Amerikaner auch weiterhin Vorurteile existieren – selbst wenn wir in gutem Glauben davon überzeugt sind, dass wir nicht rassistisch sind –, müssen wir besondere Anstrengungen unternehmen, um diesen entgegenzuwirken. Bei Entscheidungen über Schulbudgets, über Schulbusse und darüber, wie man vom Scheitern bedrohte, innerstädtische Schulen verbessern kann, müssen demnach Weiße, Asiaten und Latinos dringend gegen ihre eigenen impliziten Vorurteile vorgehen. (Schwarze können diese Vorurteile natürlich teilen.) Sie sollten dabei davon ausgehen, dass unter anständigen Bedingungen alle Kinder ähnliche Lern- und Leistungskapazitäten haben, und sie sollten zusätzliche Anstrengungen unternehmen, um schwarzen Kindern solche Bedingungen zu bieten und während der gesamten Schulzeit ihre künftigen Chancen und Möglichkeiten immer wieder zu betonen. Der Bürgermeister von Chicago, Rahm Emmanuel, hat kürzlich vorgeschlagen, dass Chicago in die Anforderungen an einen Schulabschluss einen Zukunftsplan für jeden einzelnen 31 Aaron 1991, S. 153 f.

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Schüler aufnimmt, der in Absprache mit Lehrern und Berufsberatern ausgearbeitet wird.32 Die Jugendlichen müssen wissen, welche Beschäftigungsmöglichkeiten sie haben; sie müssen wissen, dass der Besuch von Community Colleges kostenlos ist und dass die Teilnahme daran ihnen viele Möglichkeiten eröffnen kann. Kinder aus privilegierten Verhältnissen verfügen natürlich über diese Informationen. Wenn aber ein solcher Plan aufgestellt werden muss, dann kann auf diese Weise sichergestellt werden, dass Lehrer und Berufsberater afroamerikanische Schüler nicht aufgrund der Annahme, dass sie nichts erreichen oder nicht arbeiten wollen, benachteiligen. Die Geschichte der Vorurteile im Strafrecht enthält eine deutliche Warnung. In dem Wissen, dass sowohl die Polizei als auch die Zivilbevölkerung implizite Vorurteile hat, nach denen schwarze Männer ein raubtierhaftes Wesen haben (und es ist kaum auszuschließen, dass auch schwarze Polizisten implizite Vorurteile haben), sollten die Anwärter in einer Polizeiausbildung bevorzugt jene Studien kennenlernen, die ein hohes Maß an impliziten Vorurteilen belegen, und wir sollten sie dazu auffordern, sich selbstkritisch auf solche Vorurteile zu prüfen. Außerdem sollte die Ausbildung von Polizeibeamten auch die Bedeutung von gerechten Verfahren betonen, wofür die führenden Strafrechtler Tom Tyler und Tracey Meares von der Yale Law School eingetreten sind. Durch feste Verfahrensregeln werden Vorurteile und Stigmatisierung entmachtet.33 Hank Aaron sagte, dass er gegen die rassistischen Vorurteile von Schiedsrichtern, die er lange Zeit beobachtet hatte, anging, indem er mehr Home Runs als jeder andere erzielte und damit sein „Schicksal nicht in die Hän32 www.chicagotribune.com/news/local/politics/ct-rahm-emanuel-High-SchoolAnforderung-met-20170405-story.html (zum Zeitpunkt der Übersetzung von Europa aus nicht einsehbar). 33 Siehe trustandjustice.org/resources/intervention/procedural-justice (abgerufen am 10.10.2018).

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de des Schiedsrichters legte“.34 Doch weniger außergewöhnliche Sterbliche können nicht immer einen Home Run erzielen: Sie müssen sich auf „die Gerechtigkeit des weißen Mannes“ verlassen, wie Aaron es ausdrückt. Wir müssen hart daran arbeiten, dass diese Gerechtigkeit ihren Namen immer mehr verdient. Die Gesetzgebung hat bereits viel dafür getan, die Stigmatisierung zu erschweren: Die Rassendiskriminierung in Schulen wurde abgeschafft, die ethnische Diskriminierung bei der Vergabe von Wohnraum und Arbeitsplätzen ist für illegal erklärt worden, und die Rassentrennung in öffentlichen Einrichtungen wurde abgeschafft. Es gibt noch mehr Integrationsarbeit zu leisten, da viele Stadtbezirke und öffentlichen Schulen de facto ethnisch getrennt sind. In ihrem wichtigen Buch The Imperative of Integration legt die Philosophin Elizabeth Anderson überzeugend dar, dass nur die Integration im Bereich von Bildung und Wohnverhältnissen der Stigmatisierung wirklich ein Ende bereiten wird.35 Meine Analyse pflichtet ihr bei: Ekel nährt sich von Fantasien über die anderen: Das Teilen eines gemeinsamen Alltags ist der beste Weg, diese Fantasien zu beseitigen.36 Wenden wir uns nunmehr Schwulen, Lesben und Transsexuellen zu. Auch hier zieht sich durch die politische Propaganda gegen die Gleichberechtigung ein roter Faden des körperlichen Ekels, der große Ähnlichkeit mit anderen Fällen projektiven Ekels aufweist. Ich war 1994 in einem Gerichtssaal in Denver anwesend, in dem das Verfahren verhandelt wurde, das später zum richtungsweisenden Fall „Romer vs. Evans“ wurde. An diesem Tag sagte Will Perkins aus, der Hauptbefürworter eines Referendums – bekannt als Amendment 2 – das Schwulen und Lesben das Recht verweigerte, sich durch lokale 34 Aaron 1991, S. 145. 35 Elizabeth S. Anderson, The Imperativ of Integration, Princeton 2010. 36 Eine sehr wichtige Studie in diesem Bereich ist: Glenn Loury, The Anatomy of Racial Inequality, Cambridge 2002.

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Verordnungen gegen Diskriminierung schützen zu lassen. Er gab zu, dass er zur Unterstützung des Referendums Flugblätter verteilt hatte, in denen stand, dass Schwule Fäkalien essen und „rohes Blut“ trinken. Fünfzehn Jahre später, als ich über Verfassungsrecht und die Rechte gleichgeschlechtlicher Paare schrieb, studierte ich die im frühen 21. Jahrhundert von Gegnern der Bürgerrechte Schwuler verbreitete Literatur und stellte fest, dass sich wenig geändert hatte. Im Folgenden führe ich ein typisches Beispiel aus einer Broschüre von Paul Cameron (einem führenden schwulenfeindlichen Aktivisten) mit dem Titel Die medizinischen Konsequenzen dessen, was Homosexuelle tun an: Die typischen Sexualpraktiken von Homosexuellen sind eine medizinische Horrorstory – man stelle sich den Austausch von Speichel, Kot, Sperma beziehungsweise Blut mit jährlich Dutzenden von verschiedenen Männern vor. Man stelle sich das Trinken von Urin vor, das Essen von Kot und das regelmäßige Erleiden von Verletzungen des Rektums. Häufig finden diese Begegnungen statt, wenn die Teilnehmer betrunken und durch Drogen berauscht sind beziehungsweise an einer Orgie teilnehmen. Außerdem finden viele von ihnen an extrem unhygienischen Orten statt (WCs, schmutzige Peepshows) oder – weil Homosexuelle so häufig reisen – in anderen Teilen der Welt. Jedes Jahr besucht mindestens ein Viertel der Homosexuellen ein anderes Land. Frische amerikanische Keime werden nach Europa, Afrika und Asien getragen. Und frische Krankheitserreger von diesen Kontinenten kommen hierher. Ausländische Homosexuelle besuchen regelmäßig die USA und nehmen an diesem biologischen Flohmarkt teil.37

37 Die Broschüre ist 2009 erschienen. Camerons Ansichten werden in From Disgust to Humanity, New York 2010, ausführlicher diskutiert.

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Zu den üblichen Hinweisen auf Körperflüssigkeiten und schmutzige Umgebungen fügt Cameron die Idee der Auslandsreisen als Quelle der Verunreinigung hinzu, wobei es sich sicherlich um eine Vorstellung handelt, die bei vielen Amerikanern Anklang findet. Nun gut – treten wir einen Schritt zurück, und analysieren wir diesen speziellen Fall von projektivem Ekel. Erstens geht es nicht darum, eine völlige Trennung der benutzten Einrichtungen zu erreichen, und zwar aus dem offensichtlichen Grund, dass dies angesichts der Tatsache, dass es eine verheimlichte Homosexualität gibt, gar nicht möglich wäre. Zweitens hat die Entstehung dieses Ekels wenig mit einer allgemeinen Abneigung gegen gleichgeschlechtliches Verhalten an sich zu tun, da Frauen standardmäßig von der Ekelpropaganda ausgeschlossen sind und Sex zwischen zwei Frauen ein Grundmuster der sich an heterosexuelle Männer richtenden Pornografie ist. (In Großbritannien war Sex zwischen zwei Frauen nie illegal. In den USA war das oft der Fall, aber man kann mit Fug und Recht behaupten, dass Hassliteratur diese Variante vernachlässig hat.) Die Propaganda ist natürlich auch nicht darauf ausgerichtet, schwule Männer daran zu hindern, Sex mit Frauen zu haben und sie zu heiraten. Das wäre in der Tat ein „gutes“ Ergebnis für die schwulenfeindliche Bewegung. Die Propaganda stellt schwule Männer als raubgierig und sexbesessen dar, jedoch nicht als Bedrohung für unsere „süßen kleinen Mädchen“. Tatsächlich wünscht sich der Schwulenfeind ein größeres Interesse an diesen Mädchen, und die „Bekehrungstherapie“ findet weiterhin Unterstützung, obwohl sie diskreditiert ist. Allerdings werden homosexuelle Männer in der Tat als potenzielle Raubtiere angesehen – auf der Jagd nach heterosexuellen Männern, wie Amerikas gequälte Diskussionen über gemeinsame Duschen beim Militär zeigten. Schon der Blick eines schwulen Mannes wurde als zutiefst bedrohlich empfunden.

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Manchmal hört man noch von einer anderen Angst: Schwule Menschen würden, wenn sie heiraten, die Ehen der Heterosexuellen, die neben ihnen leben, irgendwie „besudeln“ oder „beschmutzen“. Eine solche Vorstellung ist jedoch völlig unverständlich, wenn man nicht in irrationalen Kategorien von Stigma und Verunreinigung denkt. (Es kann sich hierbei unmöglich um eine konsistente moralische Auffassung handeln, da die Menschen, die sie vertreten, mit Gesetzen einverstanden sind, welche Kriminellen und sogar Personen, die des Kindesmissbrauchs für schuldig befunden wurden, erlauben zu heiraten.) Worum geht es hier eigentlich wirklich? Einzelne Personen können natürlich persönliche moralische Vorbehalte gegen homosexuelle Kontakte oder gleichgeschlechtliche Ehen haben. Das würde sie jedoch normalerweise dazu bewegen, solche Kontakte und solche Ehen zu meiden, ihren Kindern davon abzuraten und sich religiösen Gruppen anzuschließen, die ihren Glauben teilen. So gehen Menschen in der Regel mit ihren moralischen Einwänden gegen andere Formen unmoralischen Verhaltens um, wie zum Beispiel gegen Korruption oder das Nichterfüllen finanzieller Verpflichtungen. Solche moralischen Einwände erklären allerdings nicht die Angst und den Ekel, mit denen sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität diskutiert wurden. Viele Juden und Christen missbilligen die Eheschließung mit Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften, und sie raten ihren Kindern davon ab. Aber hier liegt kein Ekel vor – es sei denn, es besteht ein vorausgehender antisemitischer oder rassistischer Ekel. Warum gibt die Idee der gleichgeschlechtlichen Ehe also Anlass zu Ekelgefühlen? Es scheint, als handele es sich bei dem projektiven Ekel, der sich besonders gegen Schwule und Angehörige der LGBT-Gemeinschaft im Allgemeinen richtet, zum Teil um eine allgemeine Ekelangst vor Körperflüssigkeiten und Sexualität. Schwule Männer, deren

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Geschlechtsverkehr nicht zu einer Zeugung führt, scheinen irgendwie sexueller zu sein als andere Menschen (deren Geschlechtsverkehr meistens natürlich ebenfalls zu keiner Zeugung führt), und sie symbolisieren die Ängste, die viele Amerikaner vor der unkontrollierbaren „animalischen“ Natur des körperlichen Begehrens haben. Zum Teil ist dieser Ekel auch eine Angst vor dem „Neuen“, dem auf unheimliche Weise Unkonventionellen. In Zeiten des Umbruchs und des moralischen wie kulturellen Wandels müssen Menschen scharfe Trennungslinien ziehen und alles ablehnen, was von den bisher akzeptierten Mustern abweicht. Gegenwärtig leben wir in einer Zeit, in der Schwule und Lesben in allen Regionen unseres Landes ein produktives Leben führen und durch ihre bloße Präsenz und ihr konstruktives Engagement in Gemeinschaften verschiedenster Art dem Ekel vor ihnen ein Ende bereiten; zugleich ist ein neues Objekt der Ekelangst in den Vordergrund gerückt: Transsexuelle, welche die Toiletten des von ihnen gewählten Geschlechts benutzen wollen. Es ist noch zu früh für gute Studien darüber, welche Rolle projektiver Ekel bei diesem Phänomen spielt, aber es ist sicher bedeutsam, dass die Toilette dessen Mittelpunkt bildet. Und die Tatsache, dass die Ängste keinen Sinn ergeben, ist ein gutes Zeichen dafür, dass sich in ihnen etwas anderes, etwas Unbewusstes Ausdruck verschafft. Warum sage ich, dass dieser Ekel keinen Sinn ergibt? Eine Person, die wie eine Frau aussieht, würde niemanden dadurch verärgern, dass sie eine Damentoilette betritt, wo die anderen Frauen nicht erkennen können, ob sie im anatomischen Sinne eine Frau ist. Sie würde genauso aussehen wie die anderen Frauen, was ihre Absicht ist und ihren Bemühungen entspricht. Frauen in einer Damentoilette könnten durch eine Person, die wie ein Mann aussieht, beunruhigt werden, und dennoch ist es genau diese Situation, die aktive Gegner von Transsexuellen per Gesetz fordern wollen: Eine Person,

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die eine Geschlechtsumwandlung von einer Frau zu einem Mann hinter sich hat, wäre gezwungen, die Damentoilette zu benutzen. Dieser Fall ähnelt also der bereits diskutierten Feindseligkeit gegen Schwule: Es geht um die Angst vor Veränderungen, um den Wunsch, traditionelle Grenzen durchzusetzen, und um ein körperliches Zurückschrecken vor verletzlichen Menschen, wobei es sich entweder um einen Fall von projektivem Ekel handelt oder um einen Ekel, der diesem sehr ähnlich ist. Er ist von einem religiösen oder gar moralischen Einwand vollkommen verschieden. In allen drei von mir angeführten Fällen geht es um Ekel, allerdings nicht von der einfachen Art, mit der man versucht, Nacktschnecken oder Kakerlaken aus dem Weg zu gehen. Ekel wird in diesen drei Fällen gefährlich und führt zum Widerstand gegen gleiche Bürgerrechte oder sogar zu einem auf Vorurteilen basierenden illegalen Verhalten, verursacht durch eine zugrunde liegende Angst (vor Körpern, Tieren oder vor Veränderung selbst), die den Ekel nährt.

Warum spielt Ekel aktuell eine Rolle? Entweder haben Hassdelikte tatsächlich zugenommen oder es werden mehr von ihnen gemeldet – in beiden Fällen gibt es eine neue Aufmerksamkeit für dieses soziale Problem. Zum Teil mag diese größere Besorgnis durch die Signale der neuerdings wieder einflussreicheren Alt-Right-Bewegung ausgelöst werden, die Vorurteile zulässt, ja sie noch nicht einmal als solche erkennt. Herabwürdigende Stereotype, die lange Zeit sorgfältig versteckt waren, stolzierten 2017 offen auf den Straßen von Charlottesville herum. Es mag jedoch teilweise auch eine leicht abweichende Erklärung hierfür geben. Bei der Untersuchung von Gewalt gegen Lesben und Schwule fand Gary David Comstock heraus, dass die Ursache für die Wahl dieser Zielgruppe nicht ein tief sitzender Hass war, son-

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Warum spielt Ekel aktuell eine Rolle?

dern einfach die Annahme (häufig von betrunkenen Jugendlichen, die Frustrationen ausleben und Ärger machen wollten), dass sich die Polizei nicht um diese Menschen kümmern würde und man sie daher ungestraft angreifen könnte.38 So könnte der Einfluss der Alt-Right-Bewegung auf eine etwas andere Weise wirksam sein und potenziellen Aggressoren eine Lockerung des öffentlichen Schutzes für gefährdete Gruppen signalisieren: Das sind Menschen, denen gegenüber man sich ungestraft aggressiv verhalten kann. Präsident Trumps Versäumnis, Gruppen, die Vorurteile pflegen, unmissverständlich zu verurteilen, ist daher äußerst gefährlich. Unser Verständnis impliziter Vorurteile, von Gruppenzwang und „Kaskadeneffekten“ legt nahe, dass Hass unbeständig ist. Die meisten Menschen, die sich an hasserfüllten Aufmärschen und sogar an Hassdelikten beteiligen, zeigen kein lebenslanges Engagement für derartige Aktionen; sie können sich so oder so entwickeln: Wird solches Verhalten zugelassen und erfährt es Zustimmung, können sie dadurch „radikalisiert“ werden. Wie dem auch sei – auf jeden Fall liegen jetzt genügend Beweise dafür vor, dass auf Vorurteilen basierende Delikte ein großes gesellschaftliches Problem darstellen und dass wir noch nicht in der proklamierten „nachrassistischen“ Ära angekommen sind. Meine Darstellung des Ekels, die diesen mit der Angst vor der Verwundbarkeit des Leibes und der Klebrigkeit seiner Sekrete in Verbindung bringt, legt jedoch eine weitere Diagnose zur Erklärung eines Anstiegs der Vorurteile nahe. Wenn Menschen sich sehr verunsichert fühlen, schlagen sie um sich, schieben die Schuld auf andere und machen wehrlose Menschen zu Sündenböcken. Wir können nun hinzufügen, dass die Tendenz, Ekel nach außen zu projizieren, in dem Maße zunehmen wird, in dem das eigene Gefühl von körper38 Gary David Comstock, Violence against Lesbians and Gay Men, New York 1995.

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licher Verletzlichkeit und Sterblichkeit stärker wird. Ekel ist immer spezifisch und mit speziellen Angstgedanken kombiniert. Doch die Einsicht, dass es bei Ekel um Angst geht und dass er von einer Konstellation spezifischer Ängste verstärkt wird, macht es plausibel, dass das Bedürfnis nach einer Gruppe, auf die der Ekel projiziert werden kann, sowie die Intensität der von Ekel motivierten Stigmatisierung in Zeiten allgemeiner Unsicherheit zunehmen. Wenn wir uns dieses Phänomens bewusst sind, sollten wir unsere Anstrengungen, unsere Politik auf versteckte und nicht so versteckte Vorurteile hin zu überprüfen, verdoppeln. Wie steht es um positive Bemühungen, gegen Ekel und Stigmatisierung vorzugehen? Walt Whitmans Vorschlag, dass wir unseren eigenen Körper und folglich ebenso „seinesgleichen“ bei anderen Männern und Frauen feiern sollten, ist utopisch. Enthält er einen Vorschlag für eine Strategie, der man in einer Demokratie folgen könnte? Der Kampf gegen den Ekel muss eindeutig vor allem in der Familie, in der Schule und generell bei der Erziehung von Kindern geführt werden. Die schulische Inklusion über sämtliche problematische Trennungslinien der Differenz hinweg hilft den Schülern, verschiedene Körper als nicht abscheulich, sondern als vollständig menschlich zu sehen – allerdings nur, wenn Schulen und Lehrer auf mögliches Mobbing achten und eine Atmosphäre der Inklusivität und des Respekts schaffen. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass eine wirkliche Integration im Bereich von Wohn- und Ausbildungsverhältnissen dringend erforderlich ist. Die Tatsache, dass schwule, lesbische und Transgender-Kinder in jeder Familie auftauchen können, bedeutet, dass die Aufgabe der Integration weniger kompliziert ist. Im Prinzip geht es dabei darum, junge Menschen zu ermutigen, sich innerhalb der Familie und im Kreis ihrer Freunde zu ihrer sexuellen Orientierung zu bekennen; und die Tatsache, dass so viele dies bereits getan haben, ist sicherlich ein großer Teil

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des umfassenden und deutlich altersbedingten gesellschaftlichen Wandels, den wir bei Themen wie gleichgeschlechtlicher Ehe und im Zusammenhang mit der Benutzung von Toiletten erlebt haben. Doch in dem Alter, in dem sie in die Schule kommen, sind Kinder nicht mehr frei von Vorurteilen, daher sind Bemühungen, Mobbing und Stigmatisierung der Kinder untereinander zu beseitigen, entscheidende Aspekte eines jeden erfolgreichen Integrationsprogramms. Das Internet und die sozialen Medien bergen heute viele Gefahren, da Menschen sehr leicht Zugang zu Hassgruppen haben und positiveren Botschaften aus dem Weg gehen können. Glücklicherweise bieten Fernsehen und Filme bessere Möglichkeiten. Comedy ist ein besonders wertvolles Anti-Ekel-Genre, denn seit Aristophanes verfolgt die Komödie das Ziel der Versöhnung mit dem Körper. Wenn man über die lächerlichen Aspekte der Körperlichkeit lachen kann, wird es umso schwieriger, die Körper von Minderheiten mit Angst zu betrachten. So können Menschen, die glaubten, keine Schwulen oder Lesben zu kennen, die virtuellen Freunde von Will, Grace, Karen und Jack39 werden und dabei lernen, dass schwule Männer verschiedene Wege einschlagen, dass sie Frauen liebevolle Freunde sein können (oft bessere als heterosexuelle Männer) und dass sie nicht auf den Zerfall der Gesellschaft abzielen. (Selbst Jack, der dem Vergnügen nachgeht, liebt seinen Sohn.) Wenn sie die Serie Modern Family sehen, kann ihnen diese die Wahrheit vermitteln, dass Familien vielgestaltig sind, dass gleichgeschlechtliche Paare sich um Kinder kümmern, dass Liebe, Anpassungsfähigkeit und Humor wichtiger sind als der traditionelle oder nicht traditionelle Charakter ihrer Erscheinungsformen. An diesem Punkt unserer gesellschaftlichen Entwicklung muss ethnische Vielfalt in Tragödien und Komödien thematisiert 39 Anm. d. Übers.: Charaktere in der Fernsehserie Will & Grace.

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werden, und die meisten hochwertigen Serien sind nicht auf eine solch verlogene Weise adrett wie die Bill Cosby Show, sondern bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Tragödie und Komödie: zum Beispiel The Wire, Orange Is the New Black und Filme wie der Oscar-gekrönte Spielfilm Moonlight, in dem die beiden von uns betrachteten Formen der Ausgrenzung zusammengebracht werden. Hollywood hat in Bezug auf die Thematik der sexuellen Orientierung bisher viel besser abgeschnitten als bei der Thematik ethnischer Verschiedenheit, doch die Dinge beginnen sich zumindest zu ändern. Es scheint völlig verkehrt zu sein, die staatliche Förderung für die Kunst- und Geisteswissenschaften zu kürzen, wenn wir die Rolle verstanden haben, die ihnen bei der Zusammenführung von Menschen über Grenzen hinweg zufällt, die durch soziale Medien häufig verschärft werden. Tatsächlich, und dies ist der zentrale Punkt, können solche Massenmedien uns unserem eigenen Selbst näherbringen.

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5 Das Reich des Neides

Bisher haben wir gesehen, wie primäre Angst mit zwei Emotionen zusammenwirkt, die später in der Entwicklung entstehen: Zorn und Ekel. Häufig reißt die Angst das Gefühl von Empörung und Protest an sich und verwandelt es in einen giftigen Wunsch nach Rache. Und die Angst durchdringt die Aversion des Ekels gegen Sterblichkeit und Leibgebundenheit und erzeugt Strategien, die andere ausschließen und unterordnen. Jetzt müssen wir dem giftigen Gebräu noch eine weitere Emotion hinzufügen: den Neid. Der Neid treibt in unserem Land ungehindert sein Unwesen. Der Neid bedroht Demokratien, seit es sie gibt. In absoluten Monarchien, besonders unter dem System des Feudalismus, hatten die Menschen kaum Möglichkeiten, ihr Leben zu gestalten. Sie konnten leicht glauben, dass das Schicksal oder die göttliche Gerechtigkeit ihnen ihren Platz in der Welt angewiesen hatte. Doch eine Gesellschaft, die auf festgefügte Ordnungen und Schicksale zugunsten von Mobilität und Wettbewerb verzichtet, öffnet dem Neid auf die Errungenschaften anderer Tür und Tor. Ist Neid weitverbreitet, kann er schließlich die politische Stabilität gefährden – insbesondere, wenn sich eine Gesellschaft dem „Leben, der Freiheit und dem

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Das Reich des Neides

Glücksstreben“ aller Menschen verpflichtet hat. Neid sagt, dass nur einige Menschen die guten Dinge des Lebens genießen. Neider hassen diese Menschen: Sie wollen ihr Glück zerstören. Wir sehen Neid sowohl auf der „rechten“ als auch auf der „linken“ Seite des politischen Spektrums. Auf der rechten Seite treibt ein Gefühl der Stagnation, der Hilflosigkeit und sogar der Verzweiflung viele Menschen der unteren Mittelschicht zu einer neidischen Verteufelung der Elite in Washington, der Mainstream-Medien, der erfolgreichen Minderheiten und der Frauen, die ihnen „ihren Arbeitsplatz“ wegnehmen. Die Menschen wünschen denen Böses, von denen sie sich überrundet, verdrängt oder vernachlässigt fühlen. Unter den politisch links stehenden Menschen beneiden viele Mittellose die Macht der Bankiers, des Großkapitals und der politischen Insider, die deren Interessen unterstützen. Neid ist nicht einfach nur Kritik (die jederzeit wertvoll ist), da es sich um feindselige und zerstörerische Wünsche handelt: Er will den „Habenden“ den Genuss ihres Lebens verderben. Gleich zu Beginn möchte ich feststellen, dass ich Neid auch dann für problematisch halte, wenn er eine gerechte Sache vertritt. Bei vielen gegenwärtigen Fällen von Neid ist es schwer herauszufinden, wo die Gerechtigkeit liegt. Die Klagen vieler Angehöriger der weißen Arbeiterklasse sind sicherlich ebenso berechtigt wie die Forderungen der Linken nach mehr wirtschaftlicher Gerechtigkeit. Es ist jedoch eine Sache zu sagen: „Hier besteht ein Problem, das wir lösen müssen, und ihr solltet gemeinsam mit uns nach einem besseren Weg suchen“, und eine völlig andere, der dominanten Gruppe Böses zu wünschen und ihr Glück verderben zu wollen. Die feindseligen Wünsche des Neides sind ebenso wie das rachsüchtige Element des Zorns (mit dem sie verwandt sind) für die Demokratie selbst dann schädlich, wenn die beneideten Menschen kein Recht auf all die guten Dinge haben, die sie genießen.

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Die Definition von Neid

Neid führt zu der Vorstellung, dass es sich bei der gesellschaftlichen Kooperation um ein Nullsummenspiel handelt: Damit ich das gute Leben genießen kann, muss ich dich unglücklich machen. Diese Art des Denkens ähnelt dem Neid unter Geschwistern und hat höchstwahrscheinlich genau darin seine Wurzeln: Das neidische Geschwisterteil will nicht nur Liebe und Aufmerksamkeit, es will das andere Geschwisterteil von Liebe und Aufmerksamkeit wegdrängen. So ist es für Aaron Burr in Lin-Manuel Mirandas Musical Hamilton erforderlich, den Rivalen zu verdrängen, um selbst an die Schaltstellen der Macht zu gelangen. Selbst wenn die Eltern des Geschwisterkindes (oder Burrs Quasi-Elternteil George Washington) darin ungerecht gewesen wären, dass sie dem rivalisierenden Geschwisterkind (Hamilton) reichlich Aufmerksamkeit zukommen ließen, ist es doch immer widerlich, wenn man dem anderen als Bedingung für den eigenen Erfolg Schmerzen und Fehlschläge wünscht. Das ist allerdings eine bittere Pille, da die Demokratie – in gewissem Sinne im Gegensatz zur Familie – von Natur aus auf Wettbewerb angelegt ist. Kann sie es erreichen, dass Wettbewerb ohne Neid stattfindet?

Die Definition von Neid Was also ist Neid? Wie immer suchen Philosophen typischerweise nach Definitionen, und diese Bemühung um Klarheit erweist sich als nützlich und führt uns zu den Ursprüngen dieses heimtückischen politischen Problems. Man hat zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kontexten Unterschiedliches über den Neid gesagt – doch es lässt sich im Gesagten ein gemeinsamer Kern der Übereinstimmung ausmachen. Neid ist ein schmerzliches Gefühl, das seine Aufmerksamkeit auf die günstigen Lebensumstände anderer Menschen richtet und die

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eigene Situation zum eigenen Nachteil damit vergleicht. Zum Neid gehört ein Rivale (das könnte auch eine Gruppe sein) und ein Gut beziehungsweise Güter, die der Neider für sehr bedeutsam hält. Es quält den Neider, dass der Rivale diese Güter besitzt und er nicht. Typischerweise gehört zum Neid Feindseligkeit gegenüber dem glücklichen Rivalen: Der Neider will haben, was der Rivale besitzt, und er gönnt es ihm daher nicht. Neid erzeugt demnach Feindseligkeit und Spannung im Innersten der Gesellschaft, und diese Feindseligkeit kann die Gesellschaft letztlich daran hindern, manche ihrer Ziele zu verwirklichen. Als Nächstes müssen wir den Neid von drei verwandten Phänomenen abgrenzen. Eines dieser Phänomene ist das Nacheifern. Das Nacheifern richtet seine Aufmerksamkeit ebenfalls auf günstige Umstände anderer, und es geht dabei ebenfalls um wichtige Dinge. Doch wer nachahmt oder nacheifert, hegt keine Missgunst gegenüber dem anderen: Er betrachtet ihn vielmehr als ein herausragendes Vorbild. Der Nacheifernde will diesen Menschen nichts wegnehmen, er will sich ihnen lediglich nähern. Worin besteht der Unterschied? Anscheinend in zwei verwandten Dingen. Nacheifernde glauben erstens, dass sie dem Ziel tatsächlich näher kommen können. Indem sie beispielsweise dem Rat eines geliebten Lehrers folgen, können sie diesem Lehrer ähnlicher werden. Und zweitens konzentriert sich das Nacheifern, und das ist sehr wichtig, nicht ausschließlich auf Leistungen, bei denen es um ein Nullsummenspiel geht. Der Grund, aus dem Schüler denken, dass sie ihrem Lehrer ähnlich werden können, ist folgender: Sie glauben, dass viele Menschen über Wissen verfügen können und dass das Wissen des Lehrers sie nicht bedroht, sondern ihnen im Gegenteil sogar hilft. Oder denken wir an Freundlichkeit: Es wäre merkwürdig, wenn man seine Freundin beneidete, weil sie so freundlich ist. Sei einfach selbst so! Arbeite an dir! Wenn es sich um eine Eigenschaft handelt, von der

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wir glauben, dass sie durch Anstrengung erreicht werden kann, ist Nachahmung viel wahrscheinlicher als Neid. Neid ist anders. Seine Missgunst entstammt typischerweise einem Gefühl der Machtlosigkeit, das ich später mit der primären Angst in Verbindung bringen werde. Es gibt keine offensichtliche Möglichkeit, das zu bekommen, was der Rivale besitzt, und Neider fühlen sich zu der Minderwertigkeit verdammt, die sie erleben. Darüber hinaus ist dieses Gefühl des Verdammtseins häufig mit der Wahrnehmung verbunden, dass manche Dinge nicht jedem, der sie zu erlangen versucht, offen stehen. Beliebt sein, reich sein, eine Wahl gewinnen – all dies sind Beispiele für auf Konkurrenz basierende Nullsummengüter: Güter, die knapp sind, und bei denen der Besitz einer Person die Besitzchancen einer anderen Person bedroht. Ein weiteres mit dem Neid verwandtes Gefühl ist die Eifersucht. Auf den ersten Blick mögen die beiden fast identisch sein, doch sie sind in wichtiger Hinsicht voneinander verschieden. Sowohl der Neid als auch die Eifersucht implizieren ein Gefühl der Feindseligkeit gegenüber einem Rivalen bezüglich des Besitzes oder Genusses eines geschätzten Guts. In der Eifersucht geht es jedoch in der Regel um die Angst, etwas zu verlieren, was man hat – in der Regel eine Beziehung, die von persönlicher Liebe und Aufmerksamkeit geprägt ist. Während Neid das Fehlen von etwas Gutem empfindet, ist die Eifersucht auf den geschätzten, aber unsicheren Besitz von etwas Gutem gerichtet. Da sich die Eifersucht auf die meistgeschätzten Beziehungen des Selbst konzentriert, kann sie oft besänftigt werden, wenn sich herausstellt, dass der Rivale nicht länger um die Zuneigung der geliebten Person konkurriert oder nie ein wirklicher Konkurrent war. Nur pathologische Eifersucht erfindet ständig neue und häufig eingebildete Rivalen; für sich genommen ist Eifersucht nicht immer ein pathologisches Gefühl.

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Das Reich des Neides

Neid kommt hingegen nur selten zur Ruhe, weil die Güter, denen er sich typischerweise zuwendet (Status, Reichtum, Ruhm, andere Konkurrenzgüter), in allen Gesellschaften ungleich verteilt sind und niemand wirklich damit rechnen kann, mehr davon zu haben als andere. Wenn wir verunsichert sind, haben wir das Gefühl, dass wir möglicherweise nicht die Dinge bekommen, die wir für ein gutes Leben benötigen. Das entscheidende Merkmal des Neides ist jedoch die Fantasie, dass andere die guten Dinge haben, und ich nicht: Ich befinde mich außerhalb einer glücklichen Beziehung, habe keine befriedigende berufliche Position und kein gelungenes Sozialleben. Denken wir an Othello und Jago: Othello war eifersüchtig und krankhaft besessen von der eingebildeten Untreue Desdemonas. (Die meisten Ehepartner sind nicht so.) Doch er litt nicht unter einer allgemeinen Verunsicherung in Bezug auf Status oder Erfolg und hatte auch nicht das Gefühl, wundervolle Dinge seien außerhalb seiner Reichweite und er sei von ihnen abgeschnitten. Jago hingegen war nicht eifersüchtig auf Othello: Er sehnte sich nicht nach Othellos Liebe und Aufmerksamkeit. Was er wollte, war, Othello zu sein, die guten Dinge zu haben, die Othello besitzt: Ruhm, Erfolg, Liebe. Er sah, dass er diese Dinge nicht hatte, weshalb er Othellos Glück zerstören wollte, um ihm die Liebe zu nehmen, ihn zu erniedrigen und abzuwerten. Schließlich ist der Neid ein Cousin jener Art von Zorn, die auf dem Glauben an eine Verletzung des eigenen Status basiert und die von den drei verwandten Gefühlen vielleicht am schwersten vom Neid selbst zu unterscheiden ist. Der Neid richtet sich tatsächlich auf den Status: Der Rivale verfügt über gute Dinge, die mir fehlen. Wie Zorn wird er von feindseligen Gefühlen gegenüber dem Rivalen begleitet. Der Hauptunterschied besteht darin, dass Statuszorn den Glauben erfordert, dass eine bestimmte Beleidigung oder ein Affront statt-

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gefunden hat. Neid nährt sich im Gegensatz dazu allein vom Glück des Rivalen: Der Rivale hat vielleicht nichts getan, mit dem er den Neider hätte beleidigen können, ja, er ist sich möglichweise noch nicht einmal bewusst, dass es den Neider überhaupt gibt. Diese Unterscheidung ist wichtig, aber im Einzelfall schwer zu treffen, da Neider gern über Beleidigungen fantasieren und den Glücklichen die Schuld geben, auch wenn die Schuldzuweisung nicht gerechtfertigt ist. Auf noch subtilere Art können sie den Rivalen beschuldigen, indem sie eine soziale Hierarchie beschuldigen, in welcher der Rivale einen privilegierten Platz innehat (unabhängig davon, ob diese Struktur ungerecht oder erniedrigend ist). Noch einmal: Kritik ist immer legitim, Neid ist jedoch nicht einfach Kritik, sondern destruktive Feindseligkeit.

Die Wurzeln des Neides in der Angst Ich habe gesagt, dass Neid aus Unsicherheit entsteht. Sein Ursprung ist demnach Angst: die Angst, das, was man dringend braucht, nicht zu haben. Wenn wir wunschlos glücklich wären, würden wir nichts benötigen und deshalb keinen Neid empfinden. Wenn uns Dinge fehlten und wir dennoch zuversichtlich wären, dass wir bekommen können, was wir brauchen, dann wäre die Tatsache, dass andere wertvolle Dinge besitzen, kein emotionales Problem. Also müssen wir, um die Macht des Neides zu verstehen, über Unsicherheit und Hilflosigkeit nachdenken. Damit wir sehen können, warum es so wichtig ist, den Neid mit der Angst zusammenzudenken, betrachten wir eine einflussreiche Sichtweise auf den Neid, die diese Verbindung nicht herstellt: die Auffassung Immanuel Kants. Laut Kant enthält das menschliche Leben „radikales Übel“: eine Neigung, anderen Schaden zuzufügen, die nicht kulturell erworben wird, sondern Teil unserer menschli-

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chen Situation selbst ist. Das Problem ist jedoch nicht, dass uns der Teufel reitet oder dass wir einen angeborenen bösen Sinn haben. Wir sind grundsätzlich auf das Gute ausgerichtet. Das Problem besteht darin, dass sich uns andere Leute in den Weg stellen: Der Neid, die Herrschsucht, die Habsucht, und die damit verbundenen feindseligen Neigungen bestürmen alsbald seine an sich genügsame Natur, wenn er unter Menschen ist, und es ist nicht einmal nöthig, daß diese schon als im Bösen versunken und als verleitende Beispiele vorausgesetzt werden; es ist genug, daß sie da sind, daß sie ihn umgeben, und daß sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben und sich einander böse zu machen.1

Kants Darlegungen klingen in gewisser Hinsicht zutreffend: Neid scheint zu entstehen, sobald Menschen sich in Gruppen oder sogar Familien befinden. Aber die Darstellung ist offenbar unvollständig. Warum kommt es dazu? Warum führt die bloße Anwesenheit anderer Menschen zu konkurrierendem und feindseligem Verhalten? Und entsteht Neid in Gruppensituationen immer? Gewiss machen bestimmte Situationen destruktiven Neid viel wahrscheinlicher als andere. Meine zweite Frage beantwortet John Rawls in seiner denkwürdigen Erörterung des Neides in A Theory of Justice.2 Er behauptet darin, es gebe drei Bedingungen, unter denen sozial zerstörerischer Neid mit besonderer Wahrscheinlichkeit ausbricht. Erstens gibt es eine psychologische Bedingung: Menschen fehlt das sichere Vertrauen 1 Immanuel Kant, Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), Hrsg. von W.  Weischedel, Darmstadt 1975, AA VI, S. 93  f. Die Standardseitenzahlen sind die der Berliner Akademie-Ausgabe, die am Rand sämtlicher Ausgaben und Übersetzungen angegeben werden. 2 John Rawls, A Theory of Justice (dt. Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1979, S. 547 ff.), Cambridge 1971, S. 532–537.

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„in ihren eigenen Wert und in ihre Fähigkeit, etwas Sinnvolles zu tun“. Zweitens gibt es eine soziale Bedingung: Viele Anlässe entstehen, wenn dieser psychische Zustand deshalb als schmerzhaft und demütigend empfunden wird, weil die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens die Diskrepanzen, die den Neid entstehen lassen, höchst sichtbar machen. Und drittens: Die Neider sehen in ihrer Situation keine konstruktive Alternative zur Feindseligkeit. Die einzige für sie vorstellbare Erleichterung besteht darin, anderen Schmerzen zuzufügen. Dies ist eine wichtige Analyse, die uns ein Verständnis unserer gegenwärtigen politischen Lage erlaubt, wie wir noch sehen werden. Rawls hat jedoch nicht versucht, meine erste Frage zu beantworten: Was liegt dem Problem des Neides letztlich zugrunde? Menschen können liebevoll und kooperativ sein – die Behauptung, dass bereits die bloße Existenz einer Mehrzahl von Menschen den Neid auf den Plan ruft, kann also nicht zutreffen. Die Sache auf den Punkt gebracht hat – auch dieses Mal – der Philosoph Lukrez, der die generelle Sicht seines Mentors Epikur auf die Probleme der römischen Republik anwandte, die schon zu seiner Zeit (um 99–55 v. Chr.) ein Hexenkessel des zerstörerischen Neides war und kurz darauf in sich zusammenbrach. Lukrez beobachtete Folgendes um sich herum: Ganz auf ähnliche Art, entsprungen derselben Befürchtung, quält sie oftmals der Neid: daß der vor Augen ist mächtig, der im Blicke der Welt, der im Glanze der Ehre daherkommt, selbst sie im Dunkel und Kote sich wälzen, ist ihre Klage.3

3 Zitiert nach: Lukrez, De rerum natura/Welt aus Atomen, übers. und hrsg. von Karl Bücher, Stuttgart 2008, III, Zeile 74–77.

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Das Reich des Neides

Diese wunderbare poetische Darstellung fängt, so glaube ich, den besonderen Schmerz, den der Neid bereitet, treffend ein. Neidische Menschen schauen wie besessen auf die Erfolge anderer; wenn sie diese sehen, vergleichen sie ihr eigenes Los mit dem der anderen, und der Vergleich fällt für sie ungünstig aus. Neid gibt einem das Gefühl, dass man sich im Dunkeln befindet, aber auch schmutzig, befleckt und voller Selbstmitleid ist. Sich so zu sehen, zehrt einen innerlich auf oder nagt am eigenen Inneren. Diese Kombination aus Hoffnungslosigkeit und akut empfundener Qual macht den Neid zu einem der am schwersten zu ertragenden Gefühle. Lukrez sagt uns auch, warum wir diesem scheußlichen Gefühl so oft ausgeliefert sind: Es ist alles „entsprungen derselben Befürchtung“, nämlich derjenigen, die ich als kleinkindliche oder primäre Angst bezeichnet habe. Mit anderen Worten: Aufgrund einer tiefen Grundangst, einer schmerzhaften elementaren Unsicherheit lassen sich die Menschen auf ein Nullsummenspiel ein und hassen diejenigen, die Erfolg haben. Es ist demnach nicht allein die bloße Gegenwart anderer: Es ist etwas Tieferes, etwas, das uns befällt, sobald wir in eine Welt der Bedürftigkeit und Ohnmacht hineingeboren werden. Lukrez vertritt, wie wir gesehen haben, eine besondere Sicht der primären Angst, die nicht ganz zutreffend ist. Er denkt, dass es dabei letztlich um den Tod geht und dass die Stärke dieser Angst von ruchlosen Sachwaltern der Religion abhängt, die uns glauben machen wollen, der Tod sei etwas Schreckliches, vor allem durch die Androhung von Strafen im Jenseits. Er ist der Ansicht, dass die Menschen ohne diese Einmischung zwar in vielfacher Hinsicht verunsichert wären, jedoch nicht instabil. Wir haben gute Gründe, diese reduktive These zu bezweifeln. Da wir schwach und machtlos sind, fürchten wir alle möglichen Dinge. Die primäre Angst hat mannigfache Formen, und sie entfaltet ihre Wirkungen in sämtlichen

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Lebensbereichen. Wenn sie stark ausgeprägt ist, können Gruppen von Menschen leicht zu Hexenkesseln des Neides werden. Lukrez, der (in der westlichen Welt) vielleicht der erste Theoretiker des Unterbewussten war, vertrat die Auffassung, dass die primäre Angst unterhalb der Ebene des Bewusstseins wirkt und alles mit ihrer „Schwärze“ verdunkelt. Die Wurzeln des Neides in der Angst sind für den leidenden Erwachsenen nicht erkennbar. Doch wir können die Kausalkette zurückverfolgen und erkennen, wie sie normalerweise entsteht: mit der ängstlichen Annahme, dass andere über wertvolle Dinge verfügen, wir jedoch nicht. Melanie Klein, die größte psychoanalytische Theoretikerin des Neides, sieht das ähnlich. Klein betont immer wieder, dass unsere Erwachsenenwelt nur dann vollständig verstanden werden kann, wenn wir ihre Wurzeln in der Kindheit verstehen. Sie beschreibt den Neid als etwas, das in der primären Angst wurzelt, von den wertvollen Gütern des Lebens – Nahrung, Liebe, Wunscherfüllung – abgeschnitten zu sein. „Das frühe emotionale Leben ist durch das Gefühl gekennzeichnet, das gute Objekt zu verlieren und wiederzugewinnen“; die Angst, die mit diesem Wechsel zwischen Wunscherfüllung und Leere einhergeht, nimmt – wie wir gesehen haben – schnell die Form einer Art „Verfolgungswahn“ an, und das Kind beschuldigt die Eltern, ihm alle guten Dinge vorzuenthalten. An dieser Stelle kommt der Neid ins Spiel. Nach Lukrez hat das Kind das schmerzliche Gefühl von Verlust und Verlassenheit, und es entwickelt die Vorstellung, die Eltern seien glücklich und vollständig; dieses Glück will es dann verderben. Kleins Darstellung mag ein wenig extrem sein, wenn sie behauptet, die Fantasie des Kindes bestehe darin, „schlechte Exkremente“ in die Mutter zu stecken, um sie zu verdrecken und zu besudeln. Wenn man es nicht wörtlich versteht, ist es sicherlich ein ausdrucksstarkes Bild dessen, was wir wollen, wenn wir jemanden beneiden.

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Neid ist also der Anfangspunkt eines Teufelskreises. Der Wunsch, das glückliche Objekt – das zugleich geliebt wird – anzugreifen und zu beschmutzen, führt zu Gefühlen von Schuld und Schlechtigkeit, die dem Kind noch stärker das Gefühl geben, in den äußeren Bereich der Dunkelheit geworfen und vom Glück der Liebe und Beachtung abgeschnitten zu sein. Neid greift auch auf Schuldzuweisungen über. Manchmal denkt der Neider einfach: Ich will unbedingt haben, was diese Person hat. Doch es ist sehr leicht, von dieser Haltung in eine damit verwandte abzugleiten: Ich habe diese Dinge verdient und sie nicht. Die von Neid bestimmte Politik bekennt manchmal ehrlich: „Wir wollen das haben, was sie (Frauen, Immigranten, Eliten) haben.“ Aber Menschen lieben es, ihrem Neid einen moralischen Anstrich zu verleihen, und sehr häufig entwickelt sich das, was als reiner Neid beginnt, weiter zu folgender Ansicht: Sie sind schlechte Menschen, die nicht verdient haben, was sie besitzen. Diese Entwicklung ist ein alter Hut: Der Altphilologe Robert Kaster hat gezeigt, dass in der römischen Kultur der Neid (invidia) dieselben beiden Formen hatte, eine moralisierende und eine nicht moralisierende, und dass die eine leicht in die andere umschlug.4 Auf diese Weise verbindet sich der Neid mit der Politik der Schuldzuweisung. Manchmal kann den „Habenden“ wirklich etwas Ungerechtes oder Kränkendes vorgeworfen werden, und manchmal nicht. Natürlich bleibt noch eine dritte Möglichkeit: Die Habenichtse können persönliches Fehlverhalten oder strukturelle Ungleichheit, deren Opfer sie sind, mit vernünftigen Argumenten kritisieren und Verbesserungsvorschläge machen. Dies entspräche dem Geist dessen, was ich als den Zorn des Übergangs bezeichnet habe, der frei 4 Robert A. Kaster, Emotion, Restraint, and Community in Ancient Rome, New York 2005, Kapitel 4, S. 84–103.

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von Neid ist, da er kein Interesse daran hat, den Mächtigen den Genuss ihres Lebens zu verderben, sondern stattdessen, wie Martin Luther King anmerkt, danach strebt, mit ihnen konstruktiv zusammenzuarbeiten. Wie uns das Leben lehrt und Klein deutlich macht, zeigt sich Neid im Leben einzelner Menschen in vielen unterschiedlichen Ausprägungen – und Kleins Analyse passt überraschend gut zur Gesellschaftsanalyse von Rawls. Neid wird niemals völlig verschwinden. Doch wenn das heranwachsende Kind beginnt, sich selbst zu vertrauen und darauf, dass es ihm möglich sein wird, die guten Dinge des Lebens zu erlangen, und wenn es konstruktive Alternativen zu seinen destruktiven Wünschen erkennt – Alternativen, die Großzügigkeit, Kreativität und Liebe beinhalten –, dann kann es den Schmerz des Neides leichter überwinden. Er wird zwar eine Versuchung bleiben, doch das Leben nicht vergiften. Klein konzentriert sich auf Unterschiede innerhalb der Familie und vernachlässigt die gesellschaftliche und politische Dimension. Es ist jedoch offensichtlich – und darum ging es Rawls –, dass politische Gemeinschaften viel dazu beitragen können, Neid zu einem weitaus weniger beunruhigenden Problem zu machen. Sie können in den Menschen ein sicheres Vertrauen entstehen lassen: Vertrauen auf sich selbst und auf ihre Möglichkeiten, die guten Dingen des Lebens zu erlangen. Sie können die Zahl der Situationen, in denen der Anreiz zum Entstehen von Neid ungewöhnlich groß wird, auf ein Minimum reduzieren; und sie können den Menschen konstruktive Alternativen anbieten, die Großzügigkeit und Liebe zu anderen beinhalten. Doch wie um alles in der Welt kann das bewerkstelligt werden? Machen wir, während wir uns dem Thema des Neides in der Gesellschaft nähern, einen kleinen Umweg und betrachten wir eine gesellschaftliche Institution, in welcher der Neid oft außer Kontrolle gerät.

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Neid in Aktion: Die letzten Schuljahre Eine amerikanische Highschool von typischer Größe ist ein wahrer Hexenkessel des Neides. Denken wir an diese unbehagliche Zeit, die wir alle durchlebt haben, zurück. Die Adoleszenz ist eine Zeit des Lebens, in der man besonders verletzlich ist. Im Begriff, aus dem Schoß der Familie gerissen zu werden und praktisch eine zweite Geburt zu erleben, durch die sie in eine unsichere und oft feindselige Welt gestoßen werden, müssten Teenager schon seltsame Wesen sein, wenn sie sich nicht unsicher fühlen würden. Unsicherheit ist jedoch die eine Sache, destruktiver Neid eine andere. Was ist der Grund dafür, dass Neid in Highschools so zügellos um sich greift? Da ist zuerst einmal die offensichtliche Tatsache zu nennen, dass in der Atmosphäre von Highschools normalerweise Dinge in den Vordergrund rücken, bei denen Konkurrenz und Selbstpositionierung eine sehr große Rolle spielen, wie etwa Popularität, sexuelle Anziehungskraft und sportliche Leistungen. Kein Jugendlicher fühlt sich in diesen Bereichen wirklich sicher. Noch viel schlimmer wird die Sache dadurch, dass es immer diese Schickimicki-Kids gibt, die scheinbar alle erstrebenswerten Dinge besitzen, während die meisten sie nicht haben. Die Verse von Lukrez beschreiben sehr treffend das schreckliche Gefühl, von Neid zerfressen zu werden, jene Menschen zu sehen, die alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen und sämtliche guten Fähigkeiten besitzen, während die Jugendlichen, die nicht zu diesem Kreis gehören, sich selbst als Wesen erleben, die im Dunkeln tappen oder sich im Schlamm wälzen. Dieser Neid erzeugt, wie wir wissen, reale Gewalt. Doch selbst in den überwiegenden Fällen, in denen dies nicht so ist, entstehen immer noch schmerzhafte Spannungen, gefährliche Depressionen und feindliche Beziehungen. Nicht alle Highschools sind gleich. Es gibt zumindest einige, in denen Sport weniger zählt und akademische Leistungen mehr. Das

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ist allerdings nicht viel besser, da die fieberhafte Konkurrenz um die besten Colleges die mögliche Freude am Lernen vergiftet. Die Konkurrenz unter den Jugendlichen um überlegene Positionen ist allgegenwärtig, und die meisten von ihnen besetzen nicht die Spitzenpositionen. Ich war in meiner reinen Mädchenschule in einem privilegierten Vorort zwar in Sport ziemlich schlecht, aber das habe ich in den akademischen Fächern mehr als ausgeglichen. Viele junge Leute hatten keine solchen alternativen Erfolge; diese jungen Leute hassten die Schule und besuchten später nie wieder Klassentreffen. Sie fühlten sich in Bezug auf Beliebtheit und Leistungen in die Finsternis am äußeren Rand gedrängt. Sie hassten die Schule und die begabten Mitschüler dafür, dass sie ihnen diesen Schmerz zufügten. (Ich weiß das: Ich habe mich sehr bemüht, einige von ihnen dazu zu überreden, an unserem fünfzigsten Klassentreffen teilzunehmen!) Und denken wir daran, dass die jungen Leute, die diese Schule besuchten, bereits einer privilegierten Elite angehörten. Sie konnten mit Sicherheit erwarten, irgendeine Art von Anstellung zu finden und eine gute gesellschaftliche Stellung zu erlangen. In den meisten anderen Highschools sind weitaus mehr und grundlegendere Unsicherheiten zu bewältigen. Denkt man über die drei Kriterien von Rawls nach, so stellt sich die Frage, was die Verantwortlichen tun könnten, damit die Erfahrungen der Jugendlichen in einer Highschool einen weniger vergiftenden Einfluss haben. Vieles muss zwar schon lange vorher in der Familie geschehen, doch es gibt durchaus Dinge, die unsere Schulen tun könnten. Zunächst einmal könnten sie jedem bei der Bewältigung der schulischen Aufgaben und der Vorbereitung auf das Studium helfen. Es freut mich zu sehen, dass meine Schule heute eine andere ist: Sie bietet jetzt Unterstützung bei Lernschwierigkeiten und hat es sich generell zur Aufgabe gemacht, das Potenzial eines jeden Schülers maximal zu fördern, anstatt ihn lediglich zu beurteilen und

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zu belohnen. Eine solche Unterstützung wird allerdings für Schüler, deren Familien nicht zur gesellschaftlichen Elite zählen, viel hilfreicher sein, wenn es uns gelingt, das Problem des ungleichen Zugangs zur Hochschulbildung deutlich besser zu lösen. Es gibt genug Studienplätze für alle, doch Geld ist für viele ein sehr großes Hindernis. Wenn jeder das Gefühl hat, dass er sich durch entsprechende Anstrengung bei einem passenden College einschreiben und sich ein Studium leisten kann, dann trägt dies viel dazu bei, eine der Formen des Nullsummenspiels einzudämmen. Schulen können auch andere Bereiche fördern, in denen ihre Schüler einen Beitrag leisten können, wie zum Beispiel Theater, Musik und andere musische Fächer, in denen es – anders als im Sport – weniger um Wettbewerb und mehr um Kooperation geht. Dies hilft den Jugendlichen außerdem, die emotionale Unruhe, die sie erleben, zum Ausdruck zu bringen. Vor Kurzem besuchte ich eine Highschool für problematische Teenager. Es handelte sich um Jugendliche, die man von anderen öffentlichen Highschools verwiesen hatte. Und obwohl das Mitgefühl des beeindruckenden Schulleiters und ein Lehrplan, zu dem auch eine Gruppentherapie zählte, viel dazu beigetragen hat, diese Jugendlichen davon zu überzeugen, dass ihnen jemand zuhört, fand ich es dennoch erstaunlich, dass die Schule überhaupt keine musischen Fächer anbot, noch nicht einmal die Beschäftigung mit Lyrik. Auf meinen Vorschlag hin haben sie kreatives Schreiben in den Lehrplan aufgenommen, und mir wurde gesagt, dass dies sehr geholfen habe: Die Jugendlichen haben jetzt ein Ventil für ihre stürmischen Gefühle. Dass man Theater und Tanz ignoriert, scheint mir weiterhin problematisch. In meiner eigenen Highschool fanden viele von uns angesichts unserer mangelnden sportlichen Leistungen in der warmherzigen und relativ wenig von Neid geprägten emotionalen Atmosphäre des Theaterunterrichts Trost und Ermutigung; ihm galt meine Leidenschaft, und er wurde mein Zuhause.

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Lukrez sprach von seiner eigenen Gesellschaft, und die Römische Republik war gewiss mit einer großen Highschool vergleichbar. Alles drehte sich um Wettbewerb: um Rang und gesellschaftliche Stellung. Es gab eine Reihe von Ehrungen, den cursus honorum, den zu durchlaufen jeder erwachsene Mann sich bemühen musste. Es galt, Erfolg zu haben oder am dunklen Rand der Gesellschaft zu bleiben. Jedes politische Amt konnte erst ab einem bestimmten Alter bekleidet werden, und man musste diese Ämter der Reihe nach durchlaufen. Es war nicht nur für den Ruf von entscheidender Bedeutung, dass man jedes der Ämter der Reihe nach übernahm – Ädil, Prätor, Konsul, Prokonsul –, sondern es kam auch darauf an, dass man ein bestimmtes Amt so früh wie möglich bekam, wenn man das erforderliche Alter erreicht hatte. Andernfalls hing einem für immer der Geruch des Versagers an. Das war schlimm genug, doch wie erlangte man diese Bevorzugung? Durch Wahlen. Aber wie gewann man diese? Mit Reichtum, Familienehre, Ansehen und mit einem Wahlkampf, bei dem die eigene Persönlichkeit im Mittelpunkt stand. Es gab nichts Besseres als ein Jurastudium oder einen Doktortitel, den man durch Anstrengung und harte Arbeit erlangen konnte und durch den man die Eignung für den Dienst an der Gesellschaft unter Beweis stellte. Es war tatsächlich wie in einer Highschool, wobei allerdings Geld und Familie mehr bedeuteten und sportliche Erfolge weniger. Jemand wie der bedeutende Staatsmann Marcus Tullius Cicero, der einer unscheinbaren, wenn auch wohlhabenden Familie entstammte, konnte sich einen Namen machen, indem er seinen Klienten ein kompetenter Anwalt war und viel Geld verdiente – allerdings nicht ohne große Belastungen. Ciceros Karriere war geprägt von dem, was Melanie Klein als „Verfolgungsangst“ bezeichnet: dem Gefühl, dass sein eigener Zugriff auf die guten Dinge des römischen Lebens höchst unsicher war und dass andere Menschen aus angesehenen alten Familien „seinen“ Platz ohne jede Anstrengung oder

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Auszeichnung innehaben konnten. In seinen Briefen und Reden verweist Cicero immer wieder auf seinen eigenen Status als „Aufsteiger“, das heißt als Sohn einer Familie ohne imposante Vergangenheit, und sein bitterer Hass auf Rivalen und Feinde, auch wenn er manchmal politisch wirklich gerechtfertigt war, bezog zumindest einen Teil seiner Aggressivität aus Neidgefühlen, die sich zeigten, wenn sich Cicero allzu offensichtlich über ihre Attraktivität, ihre sexuellen Eroberungen und ihre Beliebtheit ausließ. Dieser Neid auf attraktive Rivalen verleitete Cicero manchmal zu unklugen und ausufernden Aktionen – wie etwa zu dem Vorschlag (der seinem Ruf sehr schadete), die Rädelsführer der Catilinarischen Verschwörung auf illegale, außergerichtliche Weise zu töten. Sein Neid verleitete ihn außerdem oft zu unausgewogenem Selbstlob als einer Art Verteidigung gegen Rivalen. Diese narzisstische Tendenz machte ihn für viele zu einer Witzfigur und verringerte seine politische Wirksamkeit. Wer konnte schon einem Mann vertrauen, der ein episches Gedicht über die Vereitelung der Catilinarischen Verschwörung durch sich selbst schrieb – mit sich als dem Helden, wohlgemerkt? Das Gedicht enthält die oft verspottete Zeile „Oh Rom, glücklich, während meiner Amtszeit als Konsul gelebt zu haben“ („O fortunatam natam me consule Romam“). So sehr war er darauf erpicht, seine Feinde schlecht zu machen und seine eigenen Verdienste herauszuposaunen, dass er nicht einmal den höchst unschönen, unpoetischen Klang bemerkte, den er diesem Vers gab. Cicero war ein bedeutender Mann, der zahlreiche wertvolle Beiträge geleistet hat. Doch sein Seelenleben wurde durch „aggressive Verfolgung seiner Gegner“ destabilisiert, und seine Leistungen, so groß sie zweifellos waren, haben dem Staat weniger Gutes gebracht, als es ansonsten der Fall hätte sein können. Dabei ist Cicero noch ein gutes Beispiel für Neid: ein Mann, der seinen Kampf damit gewonnen und viel Wertvolles geleistet hat. Dieselben Aspekte der

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römischen Gesellschaft, die an diesem patriotischen Mann nagten und ihn zeitweilig zu einer Witzfigur werden ließen, trieben auch schlechtere Personen an die Macht – Menschen ohne hohe Ideale oder noble Zielsetzungen, Menschen, denen es ausschließlich um den rivalisierenden Wettkampf um gesellschaftliche Stellungen sowie um Neid und Zerstörung ging. Ungefähr auf diese Weise versank die Römische Republik, die immer große Schwachstellen hatte, schließlich in einer Tyrannei. Das ist ein Beispiel, über das wir intensiv nachdenken sollten.

Neid und Demokratie: Hamilton und Burr Kehren wir nun zu unserer eigenen Nation zurück, bei deren Gründung ähnliche Themen im Vordergrund standen. Die amerikanischen Revolutionäre liebten die Römische Republik und waren von ihrem Kampf gegen die Tyrannei beinahe besessen. Sie hatten offensichtlich viele ähnliche Probleme. In der Anfangszeit unserer Republik waren Neid sowie ein zerstörerischer Wettstreit um Ehre und gesellschaftliche Stellung allgegenwärtig und richteten großen Schaden an. Ein Teil der Feindseligkeit nahm die Form des Statuszorns an, da die Menschen an verschiedensten Beleidigungen Anstoß nahmen. Ein anderer Teil entsprach reinem Neid ohne wirklichen Anlass für eine Schuldzuweisung. Die beiden Formen konnten leicht ineinander übergehen: Neidische Menschen suchten nach einer vermeintlichen Beleidigung, sodass sie sich mit einem Duell Genugtuung verschaffen konnten. Aber den Gründungsvätern ging es etwas besser als den alten Römern. Obwohl sie in einer Kultur lebten, die vom Wettbewerb um Ehre und Status besessen war, kämpften sie gegen den Neid an und überwanden ihn in überraschend hohem Maße. Die Liebe zu der Republik, die sie gerade ins Leben riefen, war stärker als Destrukti-

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vität und Hass. Lin-Manuel Mirandas Musical Hamilton beschäftigt sich, wie wir gesehen haben, zentral mit einem auf der Angst um den eigenen Status basierenden Zorn. Es ist auch eine Besinnung auf die Rolle des Neides bei der Gründung Amerikas und auf den Umstand, dass es wichtig ist, den Neid einzudämmen, wenn eine erfolgreiche Nation entstehen soll. Das berühmte Duell, in dem Burr Hamilton tötet, ist der tragische Höhepunkt, und das Motiv des Duells durchzieht das ganze Stück. Mit dem Gegensatz von Hamilton (der ehrgeizig, aber dem Streben nach dem Wohl der ganzen Nation verpflichtet ist) und Burr (der besessen von Neid ist und bestrebt, Hamilton seinen Erfolg zu verderben) zeigt das Musical die Gefahren des von Angst getriebenen Neides für die demokratische Politik. Im Kern geht es in Hamilton um die Wahl zwischen zwei möglichen politischen Lebensformen: dem Leben der Liebe und des Dienstes an der neuen Nation und dem Leben des angstgesteuerten Neides und des Nullsummenspiels. Die Figuren von Burr und Hamilton stehen für alternative Wege, welche die einzelnen Zuschauer einschlagen können. (Es geht also nicht nur um große politische Führer, sondern um uns alle.) Angenommen, eine Person oder eine politische Gruppierung wählt den Weg des rivalisierenden Wettbewerbs um Ruhm: In diesem Fall wird es vermutlich das Beste sein, keine festen Ansichten oder tief verankerten moralischen Überzeugungen zu haben, da es – je nach vorherrschender Mode – klug sein kann, den eingeschlagenen Kurs zu ändern. Das ist die Figur des Aaron Burr: charismatisch und überaus talentiert, aber nicht dazu bereit, Stellung zu beziehen.5 Unter der weisen Anleitung George Washingtons lernt Hamilton, dass es in der Politik zwar einfach ist, für Aufruhr zu sorgen, jedoch schwer und riskant, etwas wirklich Vortreffliches entstehen 5 Den vollständigen Text des Musicals findet man im Libretto auf der CD.

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zu lassen. („Gewinnen war einfach“, sagt Washington. „Regieren ist schwerer.“) Schöpferische Politik, so lernt Hamilton, erfordert Studium, Überlegung, vielleicht sogar Philosophie! (Alle Gründungsväter lesen zumindest Locke und Montesquieu, Hamilton liest jedoch weit mehr.) Und eine solche Politik bringt Risiko und Leid mit sich. Der Lohn besteht darin, dass es einem vielleicht gelingt, etwas Außergewöhnliches zu erschaffen, das einen überdauert. Hamilton lernt zwar von Washington, doch er hat seine Wahl von Anfang an getroffen und benötigt nur eine kleine Kurskorrektur. Von seinem ersten Auftritt an ist es sein Ziel, „ein Held und ein Gelehrter“ zu sein und „jede Abhandlung im Regal“ zu lesen. Und während Burr seinen dringlichen Wunsch besingt, am entscheidenden Ort zu sein, singt Hamilton davon, etwas Dauerhaftes und Vortreffliches zu schaffen. Die Dinge sind allerdings komplizierter. Denn Hamilton kann sein Werk nur schaffen, weil er zugleich ein unerbittlicher Konkurrent ist. Er will stets überlegen sein, und nur weil ihm das gelingt (zum Beispiel, indem er die Anerkennung und das Vertrauen Washingtons gewinnt), kann er der Nachwelt ein Vermächtnis hinterlassen. Mit anderen Worten: Die Bindung an ehrenwerte Ideale reicht für schöpferisches politisches Handeln nicht aus. Das Bestreben, etwas Vortreffliches entstehen zu lassen, mag ausreichen, wenn man versucht, innerhalb einer Familie oder einer religiösen Gemeinschaft ein moralisches Leben zu führen. Doch in dem Moment, in dem man einen Bereich betritt, in dem das, was man zum Tun des Guten benötigt, Mangelware ist, muss man sich zu einem gewissen Grad auf das Spiel Burrs einlassen. Wenn man sich zur richtigen Zeit nicht am entscheidenden Ort befindet, dann kann man den Lauf der Geschichte nicht beeinflussen. Und man kann nicht an diesen Ort gelangen, ohne sich gegen andere erfolgreich durchzusetzen. Ob wir nun über die Kandidaten für das Amt des Präsidenten oder weniger glamouröse Teilnehmer

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am demokratischen Prozess reden: Das Schaffen von etwas Bedeutsamem und Konkurrenz sind sehr schwer voneinander zu trennen, und es ist keine Überraschung, dass reine Idealisten in der demokratischen Politik auf der Strecke bleiben. Während sich Burr also nicht um den Weg Hamiltons kümmern muss, hat Hamilton die Pflicht, sich um des erhofften Zieles willen bis zu einem gewissen Grad auf den Weg Burrs einzulassen. Konkurrenz führt nicht zwangsläufig zu Kompromissen hinsichtlich der Moral, doch sie führt einen ständig in Versuchung: zu Verleumdung, Vertuschung der Wahrheit, vor allem zu Narzissmus und mangelndem Respekt vor anderen. Kurz gesagt: Die Demokratie ist ein unsicherer, von Angst durchsetzter Bereich, in dem man nur die Gelegenheit erhält, seine schöpferischen Kräfte zu entfalten, wenn man sich bemüht, im politischen Wettstreit Vorteile zu erlangen. Darüber hinaus ist das Streben nach Ruhm und öffentlicher Ehre wahrscheinlich ein wichtiger Bestandteil politischer Kreativität. Zumindest sehen wir, dass Hamiltons echte Leidenschaft für Ideen stets von dem Wunsch, Aufsehen zu erregen, begleitet – und wahrscheinlich auch beflügelt – wird; er gibt ihm die Kraft, viele Hindernisse zu überwinden. Als uneheliches Kind und Waise dürstet er nach Erfolg und Anerkennung, und dieses Verlangen begleitet und nährt seine Leidenschaft für Tugendhaftigkeit und Ideen. Diese schmerzlichen Einsichten verkomplizieren und vertiefen den zentralen Gegensatz. Wir stehen nunmehr vor der folgenden Frage: Wenn politisches Schaffen Wettstreit erfordert, ist dieser dann auf Neid angewiesen? Oder: Muss ich, um mit meinem Bruder zu konkurrieren, ihm die Freude an den guten Dingen des Lebens verderben wollen? Auf diese höchst wichtige Frage gibt das Musical die Antwort „Nein“. Hamilton ist stolz und ehrsüchtig, jedoch beinahe vollkommen frei von Neid. Burr hingegen ist, wie Jago, völlig vom Neid zerfressen, und das Musical liefert starke Argumente dafür, dass Neid ein Krebsgeschwür

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am Körper der Politik ist, dem sich jeder Einzelne widersetzen muss und das wir als Nation zurückdrängen oder beseitigen müssen. Rawls sprach von drei gesellschaftlichen Bedingungen, die Neid besonders gefährlich machen, und diese Bedingungen treffen exakt auf Mirandas Burr zu. Elemente tiefer Unsicherheit in seinem Innersten (vielleicht verbunden mit dem Fehlen einer Mutter, da diese während seiner Kindheit starb) führen bei ihm dazu, dass er von rivalisierendem Wettstreit besessen ist. Die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens in der neuen, noch ungeordneten Nation machen die Positionen aller prekär. Und was die Frage nach konstruktiven Alternativen betrifft: Burr versucht zunächst, sich Washington anzunähern, doch der Erfolg bleibt aus. Im Anschluss daran versucht er ebenso erfolglos, das höchste Amt im Wahlkampf zu erlangen, und findet schließlich nichts anderes, worauf er zurückgreifen kann, als den Hass. Der Neid beginnt mit etwas sehr Konkretem: dem Wunsch, an einem bestimmten geheimen Treffen teilzunehmen, „in dem Raum [zu sein], in dem es geschah“. Doch schnell, noch im selben Lied, dehnt der Wunsch sich aus und wird umfassend: „Ich muss am Ort des Geschehens sein.“ Den Höhepunkt des Musicals und der Beziehung zwischen Burr und Hamilton bildet das berühmte Duell der beiden. Im Musical, das im Wesentlichen der historischen Wahrheit folgt, schreibt Burr einen provozierenden Brief, in dem er auf Hamiltons ehrenrührige Beleidigungen anspielt. Burr stellt das ihn bewegende Gefühl also als Statuszorn dar, dessen Ursache bestimmte Beleidigungen sind. Doch mittlerweile hat das Publikum erkannt, dass die angeblichen Beleidigungen nichts als Ausreden für einen von Neid motivierten Angriff sind. Zumindest zu diesem Zeitpunkt seines Lebens lehnte Hamilton Duelle aus religiösen und moralischen Gründen entschieden ab. Er hinterließ eine öffentliche Erklärung, in der er die Gründe darleg-

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te, aus denen er Burrs Herausforderung zu einem Duell trotz dieser Einwände annahm: Alle Überlegungen, die bestimmen, was Weltmänner als Ehre bezeichnen, haben mir (wie mir schien) eine besondere Notwendigkeit nahegelegt, die Aufforderung nicht abzulehnen. Die Möglichkeit, in Zukunft nützlich zu sein – in jenen Krisen unserer öffentlichen Angelegenheiten, die wahrscheinlich eintreten werden, dem Unheil zu widerstehen oder Gutes zu bewirken –, wäre wahrscheinlich untrennbar verbunden mit einer Übereinstimmung mit dem öffentlichen Vorurteil in dieser besonderen Sache.6

Miranda zitiert diesen faszinierenden Text zwar nicht, aber er stellt das Duell in diesem Sinne dar. Um handeln und etwas bewirken zu können, muss die politische Tugend im Reich des Neides den Forderungen des Neides nachgeben. Sie muss nicht innerlich neidisch sein, aber sie muss in einer Welt überleben, in der Neid großen Einfluss hat. Hamilton erklärte vielen Leute, dass seine Lösung des Dilemmas darin bestand, das Duell anzunehmen, aber seinen Schuss zu verschwenden, das heißt, absichtlich am Ziel vorbeizuschießen und damit zu zeigen, dass er Burrs Leben nicht ruinieren wollte. Ironischerweise beschließt also der Mann, dessen Leidenschaft für Arbeit und tugendhaftes Handeln ihn zu Beginn des Musicals immer wieder erklären lässt: „Ich verschwende meinen Schuss nicht“, seinen Schuss nicht zu nutzen; es stellte sich heraus, dass dies bedeutete, die Möglichkeit, zu arbeiten und etwas schaffen, nicht zu nutzen. Die beiden treffen sich also mit ihren Sekundanten in New Jersey, wo das Duellieren erlaubt ist. Hamilton schießt in die Luft. Burr hingegen 6 Alexander Hamilton, „Statement on Impending Duel with Aaron Burr“, in: Harold C. Syrett u. a. (Hrsg.), The Papers of Alexander Hamilton, New York 1961–1987, Bd. 26, S. 278.

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schießt, um zu töten. Je mehr die Boshaftigkeit des Neides die Gesellschaft beherrscht, desto mehr wird die Tugend unterlegen sein. Doch Amerika, so stellt sich heraus, ist nicht vollends ein Reich des Neides. Tatsächlich stellt Miranda Hamilton als Gewinner dar und nicht als Verlierer. Mirandas Amerika ist eine gespaltene Nation. Doch vor allem erkennt das Land sozial gesinnte und konstruktive Leistungen an, und es mag keine Neinsager, die vor allem darum bemüht sind, die Leistungen anderer schlecht zu machen und ihr Glück zu verderben. Sterbend wünscht sich Hamilton eine Zukunft, in der andere sein „Lied“ singen – und wir hören es natürlich. In der Originalbesetzung singt Miranda es selbst. Hamilton hat sich durchgesetzt, da er als Waise und Einwanderer kreative Leistungen vollbracht hat, die Miranda (und viele vor ihm) als inspirierend empfunden, beschrieben und gefeiert haben. Auf vielerlei Weise sind sie bereits Teil unserer Nation und unseres Lebens: die Verfassung der USA mit all ihren Fehlern, das Finanzsystem, die Notenbank der USA – scheinbar alltägliche Dinge, die das Rückgrat unserer fehlerbehafteten, aber immer noch funktionierenden Demokratie bilden. Am Ende macht das Musical eine sehr optimistische Aussage zur amerikanischen Politik. Wir werden von einer auf Neid basierenden Rivalität und von zerstörerischer Aggression geplagt, aber am Ende wissen wir, wo das wahre Gute liegt: in der Liebe zu unserer fehlerhaften Nation, im hingebungsvollen Dienst so vieler bekannter und unbekannter Menschen, die sogar bereit sind, ihr Leben für die Demokratie zu geben, in der Entschlossenheit, zu zeigen, dass Brüderlichkeit, konstruktive Arbeit und das Einbeziehen von Minderheiten und Einwanderern heller leuchten als Hass. Doch ist das als Ratschlag für junge Leute in den USA von heute nicht zu naiv?

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Neid in unserer gegenwärtigen politischen Situation Miranda ist Optimist. Doch die Zunahme der Angst in unserer gegenwärtigen Politik macht es schwer, hinsichtlich der Rolle des Neids optimistisch zu sein. Der Geist Aaron Burrs ist in Amerika heute weit verbreitet. Im Kongress beobachten wir häufig eine Rivalität, die von der Bosheit des Neides motiviert ist: Die eine Gruppe will die Politik der anderen nur deshalb kleinreden, weil diese eine hervorragende Rolle spielt oder gespielt hat, statt eine gemeinsame Anstrengung zu unternehmen, um die beste Lösung zu finden. Generell treffen wir in unserem Leben als Staatsbürger allzu häufig auf Eigenschaften von Burr: auf Menschen, die vom Ruf, zu den Insidern zu gehören, von Macht und Status besessen sind und erfolgreiche Gruppierungen hassen, die „am Ort des Geschehens“ zu sein scheinen. Wir duellieren uns nicht mit Leuten, die uns beleidigen, aber wir tun auf andere Weise mehr oder weniger dasselbe, indem wir Einzelpersonen und Gruppen beleidigen, die scheinbar unsere Rivalen sind, statt auf ihre Argumente zu hören. Und das denkwürdige Bild unseres Präsidenten, wie er auf CNN eindrischt, ist ein Bild, das direkt dem manischen Neid auf das Ansehen anderer aus der Zeit der Gründungsväter entstammt, einem Geist, der guten politischen Überlegungen nicht förderlich ist. Neidische Boshaftigkeit ist, wie ich bereits sagte, nicht nur auf der rechten Seite des politischen Spektrums zu finden – obwohl sie dort mit Sicherheit vorhanden ist. Aufseiten der politschen Linken finden wir ähnliche Themen – den Hass auf „Eliten“, „Bankiers“ und „Großunternehmen“, gelegentlich sogar auf den „Kapitalismus“ selbst, häufig den Wunsch, nicht nur die guten Dinge des Lebens für alle zugänglich zu machen, sondern auch den Privilegierten die Lebensfreude zu verderben oder sie ihnen zu nehmen. Es ist sicher-

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lich möglich, die Macht der Eliten in unserem System ohne Neid zu kritisieren. Aber wir finden allzu oft statt rationaler Kritik den rein negativen Wunsch, Menschen zu zerstören, anstatt dass wir uns alle zusammenschließen, um eine bessere Gesellschaft aufzubauen. Wir finden sogar an Burr erinnernde Gesinnungen, die zu Gewalt und Zerstörung bereit sind. Auch ansonsten bewundernswerte Menschen sind von diesem Problem nicht ausgenommen. Am 18. August 2017 gab der Ökonom und Kolumnist Paul Krugman – inmitten von zahlreichen exzellenten und treffend formulierten Protesterklärungen gegen Präsident Trumps entsetzlich schwache Reaktion auf den Aufmarsch weißer Rassisten in Charlottesville – hässliche und unangemessene Worte von sich.7 Nachdem er Donald Trump mit dem römischen Kaiser Caligula verglichen hat (ein Vergleich, der sicherlich weit hergeholt ist, da Caligula viele seiner Feinde ermorden ließ, manchmal verbunden mit schrecklichen Folterungen)8, kommt Krugman zu folgendem Schluss: „Schließlich, als sein Verhalten wahrhaft unerträglich wurde, tat Roms Elite, was die Partei, die jetzt den Kongress kontrolliert, nicht einmal zu erwägen scheint: Sie fand einen Weg, ihn loszuwerden.“ Es ist wohlbekannt, dass Caligula von der Prätorianergarde (deren Gegenstück unser Geheimdienst wäre) ermordet wurde. Paul Krugman ist ein äußerst intelligenter und gelehrter Mann. Da diese Informationen auf Wikipedia leicht zugänglich sind, ist die Andeutung der Ermor7

Paul Krugman, „Trump Makes Caligula Look Pretty Good“, in: The New York Times, 18. August 2017, www.nytimes.com/2017/08/18/opinion/trump-caligula-republican-congress.html?action=click&pgtype=Homepage&clickSource=story-heading&module=opinion-c-col-right-region®ion=opinion-c-col-right-region&WT.nav=opinion-c-col-right-region (abgerufen am 11.10.2018). 

8 Der Vergleich erinnert an das erfolgreiche Offbroadway-Stück MacBird! von 1967, in dem die über den Vietnamkrieg verärgerten Linken Lyndon B. Johnson mit Macbeth verglichen, was darauf hindeutete, dass er angeblich hinter dem Mord an Präsident Kennedy steckte.

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dung entweder ungeheuer nachlässig oder absichtlich formuliert worden. In keinem Fall ist im demokratischen Diskurs für so etwas Platz. Krugman reagierte auf Neid mit Neid. Die weißen Rassisten, die in Charlottesville marschierten (der unmittelbare Kontext seiner Kolumne), waren Musterbeispiele neidischer Menschen. Sie drückten ihren Wunsch aus, das Leben derer zu verderben, von denen sie sich vertrieben fühlen (Juden, Afroamerikaner): „Ihr werdet uns nicht ersetzen; Juden werden uns nicht ersetzen“, lautete ihr Ruf. Aber es ist grundverkehrt, diesem Geist des Neides mit weiteren neidischen Angriffen zu begegnen, selbst wenn dies aus Unachtsamkeit oder Versehen geschieht. Der Wunsch, andere zu ruinieren, ist immer abstoßend, und noch abstoßender ist es, wenn dabei über Gewalt fantasiert oder sie nahegelegt wird. Gleichzeitig finden sich unter unseren Politikern auch viele Hamiltons – Stimmen der Hoffnung und der konstruktiven Bemühung, Stimmen, die mit echter Liebe zur Nation und zu ihren Menschen sprechen. Manchmal ist es schwierig, diese Stimmen in der Kakophonie der Beleidigungen und Herabsetzungen zu hören. Vielleicht hat Miranda uns alle wachgerüttelt: Gute Ideen können von überallher kommen – von Einwanderern (Hamilton) und sogar von Bankern (ebenfalls Hamilton). Im Gefolge der Erforschung des nationalen Gewissens, die im August 2017 auf die Gewalt der weißen Rassisten in Charlottesville folgte, haben wir viele wortgewandte Erklärungen über Amerika gehört, die uns tatsächlich helfen, nach vorne zu denken – einschließlich vieler eindringlicher Worte von Politikern beider Parteien, die Rassismus ablehnen, zu Brüderlichkeit und Inklusivität ermahnen. Es ist ermutigend, dass ein Tweet des ehemaligen Präsidenten Obama heute der beliebteste Tweet aller Zeiten ist: „Von Geburt an hasst niemand einen anderen Menschen aufgrund seiner Hautfarbe, seiner Herkunft oder seiner Reli-

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gion. Die Menschen müssen lernen zu hassen, und wenn sie lernen können zu hassen, können sie auch lernen zu lieben, denn die Liebe ist dem Herzen des Menschen natürlicher als ihr Gegenteil.“ Das sind gute Worte – jetzt müssen wir sie in die Tat umsetzen.

Für eine Politik der Freiheit vom Neid Wie kann meine Analyse des Neides uns helfen, unseren Weg in die Zukunft zu durchdenken? Sie hilft uns bei der Konzentration auf eine Herausforderung: die Frage, wie unsere Gesellschaft mehr Hamiltons und weniger Burrs hervorbringen könnte – ebenso wie eher hamiltonianische politische Parteien und Institutionen, die versuchen, Probleme konstruktiv zu lösen, statt Burr zu folgen und zu versuchen, andere, die sie bedrohen, niederzuschlagen und zu ruinieren. In einer Nation ist es wie in einer Highschool möglich, sich auf hilfreiche und sozial gesinnte Anstrengungen zu konzentrieren und so Hamiltons kreative Arbeit zu würdigen, zu loben und zu belohnen, statt die Art von Nullsummenspiel zu betreiben, von dem Burr besessen war. Unsere Kultur der kurzlebigen Berühmtheit und des Narzissmus der sozialen Medien trägt zu einer Kultur des Neides bei. Stattdessen benötigen wir eine Kultur der Tugendhaftigkeit und ein Konzept von Staatsbürgerschaft, das sich an der Tugendhaftigkeit im Sinne Hamiltons orientiert: eine hochgesinnte, dabei aber realistische Suche nach politischen Lösungen, die uns zusammenbringen. Diese Suche umfasst drei Ebenen: die persönliche, die gesellschaftliche und die institutionelle. Sie stehen in Wechselwirkung miteinander, da die Gefühle der Menschen auf die Institutionen reagieren, in denen sie leben. Und die politischen Institutionen spielen auch eine große Rolle, wenn es darum geht, die Menschen dazu zu bringen, sich für den Pfad Hamiltons zu entscheiden und Neid abzulehnen. Ein

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Teil ihrer Rolle besteht darin, Inklusion zu fördern: durch das Verbot der Diskriminierung, durch respektvolle Aufmerksamkeit für bislang ausgegrenzte Gruppen kann eine Nation ihnen das Gefühl vermitteln, dass sie über kreative und konstruktive Möglichkeiten verfügen, ihre Talente auszuleben. (Auf einer Ebene ist es das, worum es in dem Musical Hamilton geht, in dem die Rollen der Gründungsväter allein mit Angehörigen von Minderheiten besetzt wurden: Wenn ihr uns unsere Chance gebt, werden wir sie nicht vergeuden.) Ein Großteil der Aufgabe einer Regierung besteht jedoch im Wesentlichen im Aufbau von Strukturen. Denken wir an die Zeit der Weltwirtschaftskrise am Ende der 1920er-Jahre zurück: Es war eine Zeit, in der Angst und Unsicherheit das Leben der Menschen unseres Landes in einer Weise beherrschten, die alles übertrifft, was wir heute erleben. Die Armut, die der wirtschaftliche Zusammenbruch mit sich brachte, die brennende Not in den Prärien östlich der Rocky Mountains, hungernde Familien im gesamten Land – das ist wirklich schlimmer als alles, was heute geschieht. Warum sollen wir daran denken? Wegen des New Deal und seines umfassenden Angriffs auf die Angst.9 Ich glaube, dass Franklin D. Roosevelt ins Schwarze traf, als er sagte, dass wir Angst vor der Angst selbst haben müssen und dass das beste Gegenmittel gegen die peinigende Angst, die er überall um sich herum sah, der Aufbau eines grundlegenden sozialen Sicherheitssystems sei, welches die Menschen in Zeiten der Not in die Lage versetzen würde, sich auf eine soziale Mindestsicherung zu verlassen. Die „zweite Freiheitsurkunde“ (Bill of Rights), die er den bestehenden bürgerlichen und politischen Rechten hinzufügen wollte, umfasste folgende Punkte: 9 Zwei wichtige Darstellungen von Roosevelts Angriff auf die Angst sind Ira Katznelson, Fear Itself: The New Deal and the Origins of Our Time, New York 2013, und Michele Landis Dauber, The Sympathetic State: Disaster Relief and the Origins of the American Welfare State, Chicago 2013.

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– das Recht auf einen nützlichen und einträglichen Arbeitsplatz in der Industrie, in Geschäften, auf Bauernhöfen oder in Bergwerken der Nation – das Recht, genug zu verdienen, um sich angemessene Nahrung, Kleidung und Erholung leisten zu können – das Recht eines jeden Landwirts, seine Produkte gewinnbringend zu erzeugen und zu verkaufen, damit er und seine Familie menschenwürdig leben können – das Recht eines jeden Unternehmers, ob groß oder klein, in einer Atmosphäre der Freiheit von unlauterem Wettbewerb und der Dominanz von Monopolen im In- oder Ausland Handel zu treiben – das Recht jeder Familie auf ein angemessenes Zuhause – das Recht auf angemessene medizinische Versorgung und die Möglichkeit, gesund zu werden und zu bleiben – das Recht auf angemessenen Schutz vor den wirtschaftlichen Ängsten vor Alter, Krankheit, Unfall und Arbeitslosigkeit Der New Deal wird heute heftig kritisiert, da viele Menschen ihn vage für eine linke Bewegung halten, die durch den Neid auf Eliten motiviert war. Aber diese Leute haben vergessen, wie es während der Weltwirtschaftskrise zuging und wie die hier aufgezählten einfachen Dinge jeden von uns vor dem Elend von Hunger und Hilflosigkeit geschützt haben. Sie wurden verwirklicht durch politische Richtlinien wie unter anderem die Bundeseinlagenversicherung (Federal Deposit Insurance), Gesetze gegen Monopole, Arbeitslosenversicherung, Sozialversicherung, Medicare, Medicaid und irgendeine Art von Gesundheitspolitik, sei es ein revidierter Affordable Care Act (Gesetz zur bezahlbaren Pflege) oder eine brauchbare Alternative. Diese Dinge existierten nicht, bevor der Kongress sie erließ. Sie könnten in naher Zukunft nicht mehr existieren. Wir sollten, wenn

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wir fragen, was den amerikanischen Traum und ein angemessenes Maß an Vertrauen in die eigenen Perspektiven plausibel macht, diese Dinge ins Auge fassen und sodann die noch vor uns liegende Arbeit in Angriff nehmen. Roosevelt erkannte, dass Rechte die Demokratie vor Neid schützen. Um das, was jedem einzelnen Menschen von Rechts wegen zusteht, kann niemand seinen Mitmenschen beneiden. Indem man für einige wichtige wirtschaftliche Güter einen gesetzlichen Anspruch festlegt, untergräbt man den Neid zumindest in einem gewissen Umfang. Ein Grund, aus dem wir so viel Neid beobachten, besteht darin, dass die Menschen wirtschaftlich verunsichert sind. Alexander Hamilton würde dem zustimmen. Weit davon entfernt, führende Banker anzuprangern, wie es linke Politiker heute so häufig tun, wusste er, dass die Schaffung einer stabilen Wirtschaft, einschließlich einer erstklassigen Nationalbank, einen entscheidenden Teil zur Beruhigung der Menschen und zur Begrenzung der Instabilität beitragen würde und zudem erforderlich wäre, um die neue Nation auf einen stabilen Kurs zu führen. Das heißt nicht, dass ein solches System nicht ungerecht werden kann, und wir müssen stets nach den Wurzeln von Ungerechtigkeit und Ungleichheit in unserem Wirtschaftssystem suchen. Es ist jedoch eine andere Sache, Banker als solche zu hassen. So ist es eine erfreuliche Überraschung zu sehen, wie junge Leute den Bankier anfeuern, und wir sollten Miranda unseren Beifall dafür zollen, dass er die Politik des Neides durch seine überraschende Wahl des Helden untergraben hat. Neid wird niemals ganz verschwinden. Er ist tief in der Unsicherheit des menschlichen Lebens selbst verwurzelt. Absolute Freiheit von Neid anzustreben – sei es in der Bevölkerung oder unter Politikern – ist ein sicheres Rezept für Selbsthass und Hass auf andere. Stattdessen können wir den Neid zügeln, indem wir Bedingungen schaffen, unter denen er nicht aus dem Ruder läuft – Bedingungen,

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unter denen Liebe und kreative Arbeit (im Musical veranschaulicht durch Washington und Hamilton) den Werdegang der Nation bestimmen. Unsere Nation begann (zumindest ihrem Mythos nach) mit solch einem Sieg. Können wir in diesem Geist weitermachen, oder werden wir bald in einem Reich des Neides leben wie die Menschen im antiken Rom?

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Eine Darstellung der aktuellen politischen Situation kommt nicht umhin, sich mit der Gender-Thematik auseinanderzusetzen. Kein Beobachter des letzten Wahlkampfes konnte die beträchtliche Frauenfeindlichkeit übersehen, die in seinem Verlauf an die Oberfläche kam. Die Tatsache, dass die USA beinahe eine weibliche Präsidentin gewählt hätten, dies dann aber doch nicht taten, war kein zufälliges Faktum bei der Wahl des Jahres 2016, unabhängig davon, ob das Ergebnis nun von Genderfragen bestimmt wurde oder nicht. (Angesichts des knappen Ergebnisses ist es unmöglich, dies mit Sicherheit zu sagen.) Die USA sind wohl kaum die einzige Nation, die sich mit Fragen geschlechtsspezifischer Vorurteile und Feindseligkeit konfrontiert sieht. In allen Ländern wurden Frauen jahrhundertelang unterdrückt, und wahrscheinlich gibt es kein Land ohne Vorurteile gegen Frauen in der Politik – und dies, obwohl in Ländern mit einem parlamentarischen System anstelle einer Direktwahl des Präsidenten Frauen regelmäßig in die höchsten Ämter aufgestiegen sind (zum Beispiel Indira Gandhi, Golda Meir, Margaret Thatcher, Angela Merkel und Theresa May).

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Trotzdem gibt dieses Thema Anlass zum Nachdenken. Beginnen wir mit einer Liste von Dingen, die unser Präsident über Frauen gesagt hat, vermutlich um seiner „Wählerbasis“ zu gefallen. 1. Blut: Am 7. August 2015 kommentierte Trump anscheinend die Menstruation von Megyn Kelly: „Man konnte sehen, dass Blut aus ihren Augen kam, Blut, das sonst woher aus ihr kam.“1 (Trump sagte später, er habe ihre Nase gemeint.) Am 29. Juni 2017 griff Trump die Reporterin Mika Brzezinski an und sagte, dass sie bei einem Besuch in seinem Klub „Mar-a-Lago“ darauf bestand, sich zu ihm zu setzen. Er aber habe „nein gesagt“, da sie „nach einem Facelift stark blutete“.2 2. Gewicht: Am 27. September 2016 verspottete Trump die Miss Universe Alicia Machado, indem er sie „Miss Piggy“ und „Miss Essmaschine“ nannte, weil sie nach ihrem Sieg angeblich zugenommen hatte.3 Im Laufe der Jahre hat er die Komikerin Rosie O’Donnell als „ekelhaft“, als „Schlampe“ und „Schwein“ verunglimpft.4 3. Besuch von Toiletten. Am 21. Dezember 2015 kommentierte Trump eine Unterbrechung, die Hillary Clinton einlegte, um das 1 Philip Rucker, „Trump says Fox’s Megyn Kelly had ,blood coming out of her wherever‘“, in: The Washington Post, 8. August 2015, www.washingtonpost.com/news/ post-politics/wp/2015/08/07/trump-says-foxs-megyn-kelly-had-blood-comingout-of-her-wherever/?utm_term=.e9badd71dab7 (abgerufen am 15.10.2018). 2 Brian Stelter, „Trump tweets shocking assault on Brzezinski, Scarborough“, in: CNN Business, 29. Juni 2017, money.cnn.com/2017/06/29/media/mika-brzezinski-donald-trump-tweet/index.html (abgerufen am 15.10.2018). 3 Janell Ross, „Alicia Machado, the woman Trump called Miss Housekeeping, is ready to vote against Donald Trump“, in: The Washington Post, 27. September 2016, www.washingtonpost.com/news/the-fix/wp/2016/09/27/alicia-machadothe-woman-trump-called-miss-housekeeping-is-ready-to-vote-against-donaldtrump/?utm_term=.b50f5686820d (abgerufen am 15.10.2018). 4 Madeleine Sheehan Perkins, „A complete timeline of Trump’s years-long feud with Rosie O’Donnell“, in: Business Insider, 12. Mai 2017, www.businessinsider.com/ trump-rosie-odonnell-history-2017-5/?r=AU&IR=T (abgerufen am 15.10.2018).

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WC aufzusuchen: „Ich weiß, wo sie hingegangen ist … Es ist ekelhaft. Ich will nicht darüber reden. Nein, es ist zu ekelhaft.“5 4. Abpumpen von Muttermilch. Im Jahr 2011 bat die Rechtsanwältin Elizabeth Beck während einer eidesstattlichen Aussage um eine Pause, damit sie Milch abpumpen könne. „Er stand auf, sein Gesicht wurde rot, er drohte mir mit dem Finger und schrie: ‚Sie sind ekelhaft, sie sind ekelhaft‘, und er rannte aus dem Raum.“ (Beck erinnerte sich am 29. Juli 2015 in einem Interview auf CNN an den Vorfall.)6 5. Attraktivität: Am 28. Oktober 2012 nannte Trump Bette Midler „eine äußerst unattraktive Frau“.7 Am 28. August 2012 bezeichnete er Ariana Huffington als „von innen und außen unattraktiv“.8 Als Frauen ihn am 13. Oktober 2016 nach der Veröffentlichung eines Videos, in dem er sich unangemessenen sexuellen Verhaltens rühmte, anklagten, beleidigte Trump eine der Anklägerinnen und sagte: „Schauen Sie sich die an … Wohl kaum.“9 Im September 2015, während einer früheren Wahlkampfphase, verspottete er das Gesicht der Kandidatin Carly Fiorina 5 Jenna Johnson, „Donald Trump calls Hillary Clinton disgusting for using the restroom during a debate“, in: The Washington Post, 21. Dezember 2015, www.washingtonpost.com/news/post-politics/wp/2015/12/21/donald-trump-calls-hillary-clinton-disgusting-for-using-the-restroom-during-a-debate/?utm_term=. dfae51490c16 (abgerufen am 15.10.2018). 6 Jeremy Diamond, „Lawyer: Donald Trump called me ,disgusting‘ for request to pump breast milk“, in: CNN Politics, 29. Juli 2015, edition.cnn.com/2015/07/29/ politics/trump-breast-pump-statement/index.html (abgerufen am 15.10.2018). 7 Andrew Kaczynski and Nathan McDermott, „Donald Trump’s long history of disparaging women’s appearances“, in: CNN Politics, 29. Juni 2017, edition.cnn. com/2017/06/29/politics/kfile-trump-long-history-disparaging-comments/index.html (abgerufen am 15.10.2018). 8 Ebd. Die Geschichte enthält zahlreiche weitere ähnliche Beispiele. 9 www.washingtonpost.com/video/politics/trump-responds-to-allegations-fromreporter-look-at-her-look-at-her-words/2016/10/13/0e266b8a-9175-11e6-bc001a9756d4111b_video.html?utm_term=.65d2877360ae (abgerufen am 15.10.2018).

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mit einem Gesichtsausdruck des Ekels und sagte: „Sehen Sie sich das Gesicht an! Würde dem jemand seine Stimme geben? Können Sie sich das vorstellen: das als das Gesicht unseres nächsten Präsidenten? Ich meine, sie ist eine Frau, und ich soll eigentlich keine schlechten Dinge sagen, aber wirklich, Leute, kommt schon: Meinen wir das ernst?“ 10 Im Jahr 2011 schrieb Gail Collins eine Kolumne, in der sie sich über Trumps Angeberei über seinen großen Reichtum lustig machte. Er schickte ihr eine Kopie ihrer eigenen Kolumne mit einem eingekreisten Bild und der Aufschrift „Gesicht einer Hündin“.11 Im Oktober 2016 kommentierte er Hillary Clintons Rückansicht, als sie zu Beginn der Präsidentschaftsdebatte auf die Bühne stieg: „Ich stehe an meinem Podium, und sie geht vor mir her, okay. Sie geht vor mir her. Und als sie vor mir herging – glauben Sie mir –, da war ich nicht beeindruckt.“ 12 Solche Äußerungen könnten lediglich Beispiele für die Eigenheiten von Donald Trump sein, wenn sie nicht unter großem Beifall während des Wahlkampfs gefallen wären. Ich bin weit weniger an den scheinbaren Ansichten Trumps interessiert als daran, was die Begeisterung für diese Äußerungen in Trumps „Wählerbasis“ – und die Tatsache, dass er sich durch sie bei der großen Gruppe der Amerikaner, die für ihn gestimmt haben, nicht disqualifiziert 10 Brian Stelter, „Trump insults Fiorina in Rolling Stone: ,Look at that face!‘“, in: CNN Business, 10. September 2015, money.cnn.com/2015/09/09/media/donald-trump-rolling-stone-carly-fiorina/index.html (abgerufen am 15.10.2018). 11 Gail Collins, „Donald Trump Gets Weirder“, in: The New York Times, 1. April 2011, www.nytimes.com/2011/04/02/opinion/02collins.html (abgerufen am 18.10.2018). 12 Daniella Diaz, „Trump: I ,wasn’t impressed‘ when Clinton walked in front of me at debate“, in: CNN Politics, 15. Oktober 2016, edition.cnn.com/2016/10/14/politics/donald-trump-hillary-clinton-appearance-debate/index.html (abgerufen am 15.10.2018).

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hat – über die Einstellung zu Frauen in unserem Land sagt. Die den Präsidenten beherrschenden Gedanken sind offensichtlich die Gedanken eines großen Teils der Amerikaner (von denen die meisten, aber nicht alle männlich sind). Zu solchen von Ekel bestimmten Angriffen können wir noch weitere sonderbare Anzeichen von Feindseligkeit hinzufügen, die während des gesamten Wahlkampfes gegen Hillary Clinton gerichtet wurde: die wiederholten Gerüchte und Spekulationen über ihre Gesundheit, das groteske „PizzaGate“-Gerücht, dass Clinton über eine Pizzeria in Washington, D.C. einen Kinderprostitutionsring betrieben habe, und natürlich der allgegenwärtige unterschwellige Zweifel, ob Clinton der Aufgabe auch wirklich gewachsen sei. Das alles wirkt ziemlich boshaft, aber es klingt nicht wirklich nach Angst. Dennoch werde ich behaupten, dass Feindlichkeit gegenüber Frauen, die versuchen, Führungsrollen zu übernehmen, ihre Wurzeln in der Angst hat – allerdings auf drei verschiedene Arten, die mit drei verschiedenen Gefühlen verbunden sind, welche wir bereits untersucht haben. Ein Teil dieser Feindseligkeit speist sich aus der Dynamik aus Angst und Schuldzuweisung: Frauen haben ihre Grenzen überschritten, sie nehmen sich Dinge, die uns gehören, und weigern sich, die Helferrolle zu übernehmen, was ihre eigentliche Aufgabe wäre. Sie müssen daher diszipliniert und zurück an „ihren Platz“ verwiesen werden. Manche Feindseligkeit beruht auf Ekelangst – der Angst vor Körperflüssigkeiten, Geburt und Körperlichkeit im Allgemeinen. Sie bringt (manche) Männer dazu, (manche) Frauen als „ekelhaft“ zu schmähen. Und schließlich wird ein Großteil der Feindseligkeit von Neid-Angst angetrieben – was wir weniger an diesen speziellen Beispielen erkennen als an anderen, mit denen wir uns später noch beschäftigen werden: Frauen sind in unserem gesellschaftlichen Leben beispiellos erfolgreich – sie haben die Zulassungsbehörden von Universitäten und berufs-

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bildenden Schulen mehr oder weniger besetzt und dominieren die anschließende Vergabe von beruflichen Positionen, sodass sich viele Männer (und ihre Familien) ausgegrenzt und herabgesetzt fühlen, abgeschnitten von den guten Dingen des Lebens. Wie wir noch sehen werden, sind diese drei Dynamiken alle miteinander vereinbar: Wir müssen nicht zwischen ihnen wählen. Alle drei kommen vor, und sie verstärken sich gegenseitig. Darüber hinaus entsprechen die drei Dynamiken in etwa drei verschiedenen Darstellungen „des Kerns der Sache“ oder der tieferen Probleme, um die es geht: Sie stehen hinter dem Widerstand gegen die volle Gleichstellung der Frauen, insbesondere im öffentlichen Leben. Nennen wir die erste Darstellung die Geschichte von der ungehorsamen Gehilfin. Was Männer von Frauen vor allem wollen, so lautet diese Geschichte, ist treuer Dienst und selbstloses Mitgefühl. Während er der Ernährer ist, ist sie die Hausfrau. Sie erzieht die Kinder und kümmert sich um das Heim, während er in die Welt hinausgeht. Ihre Großzügigkeit und Selbstlosigkeit machen sein spannungsreiches Leben ruhiger und gemächlicher. Doch siehe da: Viele Frauen wollen nicht mehr dienen. Sie wollen ihre eigene Karriere, sogar in der Politik! Und sie besitzen die Dreistigkeit, Männer um Hilfe bei der Hausarbeit und der Kindererziehung zu bitten. Das verstößt gegen einen ursprünglichen natürlichen Vertrag. Wenig überraschend also machen sich Männer immer mehr Sorgen darüber, dass ihre Lebenserwartung zurückgeht und sich ihre Gesundheit verschlechtert. Den Frauen muss gezeigt werden, dass ihre Pflichtvergessenheit Konsequenzen hat. (Zugegebenermaßen begrüßt es eine Minderheit der Männer, dass Frauen die Rolle der Ernährerin übernehmen, da sie dies von der Angst befreit, der alleinige Ernährer zu sein.) Die zweite Darstellung ist die Geschichte der leibverhafteten Frau. Im Zusammenhang mit dem uralten menschlichen Wunsch, die

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bloße Animalität zu transzendieren, wurden Frauen oft als in ihrem Wesen körperlicher als Männer dargestellt. Weil Frauen gebären, weil sie menstruieren, weil sie die männliche Samenflüssigkeit aufnehmen und weil sie „wesensmäßig“ mit Geburt und Sexualität verbunden zu sein scheinen, wird die Angst davor, mit einem Leib verbunden zu sein, und die Angst vor der Sterblichkeit auf Frauen projiziert. Sie werden mit Schmutz, Flüssigkeit und dem Tod in Verbindung gebracht. Aufgrund dieser symbolischen Verbindung mit den gefürchteten Aspekten des männlichen Selbst muss man Frauen in das Heim verbannen und gut auf sie aufpassen. Aus diesem Grund müssen ihre Körperfunktionen ängstlich überwacht werden. Dies sind natürlich unterschiedliche Geschichten über den „Kern der Sache“; dennoch können beide wahr sein, und sie können sich gegenseitig verstärken und den Einsatz gewissermaßen noch erhöhen, indem die Sexualität der Frauen kontrolliert und sie zusätzlich noch aufgefordert werden, sich auf das häusliche Umfeld zu beschränken. Wie wir sehen werden, hängen beide „Bestrebungen“ mit Ängsten in Bezug auf die Vaterschaft zusammen. Und dann gibt es da noch eine weitere Darstellung, eine neue „Bestrebung“ unserer Zeit, obwohl ihre Anzeichen schon lange existieren. Dies ist die Geschichte von der Frau als erfolgreicher Konkurrentin. Die Angst vor dem Wettbewerbserfolg anderer ist eine sehr alte Geschichte im menschlichen Leben und sehr weit verbreitet. Sie hat allerdings eine ausgeprägte geschlechtsspezifische Seite. Männer wachsen mit der Vorstellung auf, Erfolg sei in Bezug auf eine im Wettbewerb erbrachte Leistung zu definieren – in Bezug auf Geld, Status, Bewunderung und auf berufliche Positionen, die alle drei symbolisieren. Wie schlimm ist es dann, festzustellen, dass man statt all der Männer, die man überrunden muss, jetzt eine doppelte Konkurrenz vor sich hat, da Frauen von überallher auftauchen und äußerst erfolgreich sind, möglicherweise sogar erfolgreicher

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als Männer? Bei dieser „Geschichte“ scheint es weniger spezifisch um Genderfragen zu gehen – dieselbe Dynamik spielt bei der Feindseligkeit gegenüber Einwanderern eine Rolle. Oft wird ihr jedoch durch die Kombination mit einer der anderen „Geschichten“ eine geschlechtsspezifische Schärfe verliehen: Warum bleiben sie nicht zu Hause und kümmern sich um uns, wie es die Natur vorschreibt? Warum müssen sie ihre runden, weichen Körper, ihre Brustpumpen und ihre Monatsblutungen an unsere Arbeitsplätze bringen? Für viele Männer hat diese „Geschichte“ tiefe Wurzeln in der eigenen Familie, etwa in Form der früheren Sprachentwicklung einer Schwester oder der gefühlten Überlegenheit einer Mutter. Und vielleicht ist da irgendwo auch Gebärmutterneid mit im Spiel: Sie hat gute Dinge, die ich nicht haben kann. Ich bin von diesem Bereich glücklicher Fruchtbarkeit ausgeschlossen.

Sexismus und Frauenfeindlichkeit Bevor wir unsere Überlegungen fortsetzen, muss zunächst eine Unterscheidung getroffen werden. Es wird über Sexismus und auch über Frauenfeindlichkeit geredet, wobei beide Wörter häufig synonym verwendet werden. Aber in Wirklichkeit sind sie nicht austauschbar. Zumindest gibt es zwei sehr unterschiedliche Phänomene, die wir unterscheiden sollten, obwohl die beiden Wörter möglicherweise nicht perfekt auf diese beiden Phänomene zutreffen. In diesem Punkt habe ich von dem neuen Buch der Philosophin Kate Manne dazugelernt, obwohl ich ihrer Darstellung nicht in jeder Hinsicht zustimmen werde.13 13 Kate Manne, Down Girl: The Logic of Misogyny, New York 2016. Mein Widerspruch zu Manne besteht hauptsächlich darin, dass sie sich mehr oder weniger ausschließlich auf das Szenario der ungehorsamen Gehilfin konzentriert und Ekel nur kurz, Neid jedoch gar nicht erwähnt.

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In Mannes nützlicher Darstellung besteht Sexismus aus einer Reihe von Überzeugungen. Der Sexist glaubt, dass Frauen Männern unterlegen sind, für eine Vielzahl von wichtigen Aufgaben weniger geeignet als sie. Der Sexist glaubt möglicherweise, „die Natur“ schreibe vor, dass Männer für die Arbeit und für politische Aufgaben, Frauen hingegen für eine häusliche Rolle geeignet sind. In der amerikanischen Geschichte (wie in der Geschichte jeder Nation) ist Sexismus weit verbreitet. Ein typisches und berühmtes Beispiel für die Geschichte von den „beiden Naturen“ ist das Urteil des Richters Joseph Bradley in dem Fall „Bradwell vs. Illinois“ (83 US 130 [1873]), der im Jahr 1873 vor dem Obersten Gerichtshof verhandelt wurde. Bradwell bestätigte ein Gesetz in Illinois, das es Frauen verbot, dort als Anwälte zu praktizieren: Die natürliche und angemessene Ängstlichkeit und Zartheit, die das weibliche Geschlecht auszeichnen, macht sie für viele Berufe des zivilen Lebens offensichtlich ungeeignet. Die Institution der Familie, die sowohl in der göttlichen Vorsehung als auch in der Natur der Dinge begründet ist, weist der Frau die häusliche Sphäre als diejenige Domäne an, die den Funktionen der Weiblichkeit am besten entspricht. Die Harmonie, um nicht zu sagen: die Identität von Interessen und Ansichten, die zur Institution der Familie gehören oder gehören sollten, steht im schroffen Gegensatz zu der Vorstellung, dass eine Frau eine eigene Karriere unabhängig von der ihr Mannes einschlagen sollte.

Nun sieht sich Bradleys Behauptung der weiblichen Inkompetenz allerdings mit einem unmittelbaren Hindernis konfrontiert: Myra Bradwell war bereits seit einigen Jahren erfolgreich als Rechtsanwältin tätig. Als Herausgeberin der Chicago Legal News setzte sie sich unermüdlich für höhere Standards im Beruf und für eine Verbesserung der juristischen Ausbildung ein. Im Jahr 1873 war sie eine der Gründe-

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rinnen der Chicago Bar Association (einer freiwilligen Anwaltskammer), in die sie natürlich nicht eintreten konnte. Darüber hinaus hatte der Staat Iowa 1869 eine Frau als Rechtsanwältin zugelassen, und im Jahr 1870 hatte eine Frau ein Studium an der juristischen Fakultät von Illinois (aus der die Pritzker School of Law der Northwestern University hervorging) abgeschlossen. Ohio hatte 1873 eine Frau als Anwältin zugelassen. Doch Richter Bradley war vorbereitet: Es stimmt zwar, dass viele Frauen unverheiratet sind und von den Pflichten, Komplikationen und Behinderungen, die sich aus dem Ehestand ergeben, nicht betroffen sind; doch das sind Ausnahmen von der allgemeinen Regel. Die vorrangige Bestimmung und Mission der Frau ist es, die edlen und gütigen Ämter einer Frau und Mutter zu erfüllen. Das ist das Gesetz des Schöpfers. Und die Regeln der Zivilgesellschaft müssen an die allgemeine Verfassung der Dinge angepasst werden und dürfen nicht auf Ausnahmefällen beruhen.

Dieses „Argument“ beinhaltet ein eklatantes Problem: Myra Bradwell war verheiratet. Sexismus hat allerdings häufig wenig Interesse an Fakten. Tatsächlich zeichnet er sich durch einen recht seltsamen Mangel an Logik aus, auf den bereits der bedeutende John Stuart Mill in seiner Abhandlung Die Unterdrückung der Frauen (veröffentlicht im Jahr 1869) hingewiesen hat. Mill, der als Mitglied des Parlaments 1872 die erste britische Gesetzesvorlage für das Frauenwahlrecht einbrachte,14 wies darauf hin, dass Sexisten offenbar kein Vertrauen in 14 Die Vorlage wurde natürlich abgelehnt. Großbritannien erhielt erst 1928 das volle Frauenwahlrecht (die USA 1920). Ausgerechnet Aaron Burr reichte in den 1790er-Jahren im Parlament des Bundesstaates New York eine Gesetzesvorlage für ein Frauenwahlrecht ein. Burr, der ein überzeugter Feminist war, hatte ein Porträt von Mary Wollstonecraft an der Wand seines Studierzimmers hängen. Seine Tochter Theodosia war eine der gebildetsten Frauen ihrer Zeit.

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ihre eigenen Urteile bezüglich der Unfähigkeit von Frauen haben, da sie so hart daran arbeiten, Frauen daran zu hindern, Dinge zu tun, die sie nach ihren eigenen Angaben gar nicht tun können. „Die Angst der Menschheit, sich in die Natur einzumischen, aus Angst, es könne der Natur nicht gelingen, ihren Zweck zu erfüllen, ist eine vollkommen unnötige Sorge. Es ist völlig überflüssig, Frauen etwas zu verbieten, wozu sie von Natur aus nicht in der Lage sind.“ In der Tat, so fährt Mill fort, müssten wir, wenn wir alle Verbote und Forderungen untersuchten, welche die Gesellschaft eingerichtet und gestellt hat, vernünftigerweise zu dem Schluss kommen, dass Männer nicht glaubten, „die natürliche Bestimmung einer Frau sei die einer Gattin und Mutter“. Vielmehr scheint es, als müssten sie glauben, diese Berufung sei für Frauen nicht attraktiv, „sodass es, wenn sie frei wären, irgendetwas anderes zu tun – wenn ihnen irgendwelche anderen Formen des Unterhalts oder des Einsatzes ihrer Zeit und ihrer Fähigkeiten offen stünden – […] nicht genug von ihnen geben würde, die bereit wären, den Zustand zu akzeptieren, der ihnen angeblich natürlich sein soll“.15 Der Sexismus besteht demnach aus einer Reihe zweifelhafter Überzeugungen, voll versteckter Ungewissheit. Dieselben Überzeugungen, verbunden mit derselben unterschwelligen Unsicherheit, bestanden in den USA noch bis vor Kurzem fort. Nancy Weiss Malkiels ausgezeichnete Studie über den Kampf um Koedukation an den Eliteuniversitäten der USA enthält eine Vielzahl von Beispielen.16 Sie konzentriert sich zwar auf die Eliteuniverstäten im Nordosten der USA und die WASP-Kultur protestantischer Amerikaner englischer Herkunft, doch die Einstellungen, die sie dort fand, sind 15 John Stuart Mill, The Subjection of Women, Indianapolis 1869 (dt. Die Hörigkeit der Frau, Berlin 1869), Kap. 1, hier eigene Übersetzung. 16 Nancy Weiss Malkiel, „Keep the Damned Women Out“: The Struggle for Coeducation, Princeton 2016. Die Seitenzahlen sind im Text angegeben.

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für ganz Amerika weitgehend typisch, auch wenn man sie an diesen Universitäten in übersteigerter Form findet. (Es wäre ein Fehler zu glauben, Frauenfeindlichkeit sei in erster Linie ein Phänomen der Arbeiterklasse!) Noch in den 1960er- und 1970er-Jahren waren viele führende Verwaltungsmitarbeiter, Fakultätsmitglieder, Kuratoren und sogar Studenten rein männlicher Hochschulen (der Bericht konzentriert sich auf Yale, Princeton und Harvard/Radcliffe, einen Fall sui generis)17 bereit zu erklären, dass Frauen nicht so gut lernen könnten wie Männer, dass sie nicht in Institutionen gehörten, die „führende Persönlichkeiten“ des Landes ausbildeten, und dass ihre Hauptfunktion die einer Frau und Mutter sei. „Oh, bewahre uns vor der kichernden Menge, der Vorlesung über Hauswirtschaft und dem Hauswirtschaftsunterricht einer weiblichen Infiltration“, hieß es in einer Ausgabe der Yale Daily News aus dem Jahr 1956.18 Ein führender Verwaltungsbeamter der Princeton University meinte, Princeton sei einfach „zu intellektuell“ für Frauen, die dazu ausgebildet werden sollten, „eine gute Ehefrau, Mutter und ein Familienmensch zu werden“ und nicht eine Überfliegerin.19 Nicht nur Frauen waren von diesen Institutionen ausgeschlossen, es gab in Yale und Princeton auch so gut wie gar keine Vertreter ethnischer Minderheiten oder Juden. Ein neuer Zulassungsdekan der Universität Yale nahm sich vor, sich sowohl für die Koedukation einzusetzen, als auch den Kreis der zugelassenen Männer zu 17 Ein Fall sui generis, weil Radcliffe Frauen aufnahm, die (nach einer kurzen Zeit in getrennten Klassen) zusammen mit Männern in Harvard unterrichtet wurden und sogar Harvard-Abschlüsse erhielten; dennoch sorgte die Illusion eines unabhängigen Radcliffe College dafür, dass eine obligatorische Aufnahmequote bestehen blieb. 18 Weiss Malkiel 2016, S. 56. 19 Ebd., S. 112.

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erweitern, wobei er auf das übliche Argument bezüglich der „Führungspersönlichkeiten“ einging und sagte, die Zeiten hätten sich geändert, und führende Persönlichkeiten kämen nun aus vielen verschiedenen Gruppen, darunter auch Juden, Minderheiten, Frauen und Absolventen öffentlicher Schulen. Im Jahr 1966 antwortete ihm einer der Kuratoren mit bemerkenswerten Worten: Sein Gesprächspartner schoss zurück: „Sie sprechen von Juden und den Absolventen öffentlicher Schulen als führenden Persönlichkeiten. Schauen Sie an diesem Tisch in die Runde“ – er machte eine Geste in die Richtung von Brewster, [John] Lindsay, [Paul] Moore, Bill Bundy […]. „Dies sind Amerikas Führungspersönlichkeiten. Hier gibt es keine Juden. Es gibt hier keine Absolventen öffentlicher Schulen.“

Hatte der Redner so wenig Selbsterkenntnis, dass er wirklich glaubte, „natürliche“ Verdienste und Führungsqualitäten hätten das vollständig weiße, männliche, protestantische, teuer gekleidete Kuratorium hervorgebracht? Oder verkündete er trotzig seine Entschlossenheit, den „Klub“ so zu erhalten, wie er war, nämlich Außenstehende ausschließend? Diese Frage hilft uns dabei, vom Sexismus zur „Frauenfeindlichkeit“ überzugehen. Die etymologische Bedeutung des Wortes Misogynie lautet „Hass auf Frauen“, doch seine gegenwärtige Verwendung ist breiter. Manne zum Beispiel definiert es als einen Durchsetzungsmechanismus, eine Reihe von Verhaltensweisen, die dazu bestimmt sind, Frauen in der ihnen vorgegebenen Rolle festzuhalten. Der Kurator hätte Sexismus gepredigt, hätte er behauptet, dass Frauen (und Juden und Minderheiten) im Allgemeinen nicht in der Lage seien, in Yale mitzuhalten. Es ist jedoch einfacher, seine Bemerkungen als Ausdruck der Entschlossenheit, Privilegien durchzusetzen, zu lesen: Wir sitzen hier an diesem

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Tisch, und wir werden „unseren“ Platz nicht an eine neue Gruppe abtreten. Betrachten wir demnach Frauenfeindlichkeit als ein entschlossenes Durchsetzen geschlechtsspezifischer Privilegien, das manchmal durch Hass motiviert sein kann, häufiger aber auch mit wohlmeinenden paternalistischen Gefühlen verbunden ist. Ihre Hauptwurzel ist Eigeninteresse, verbunden mit der Angst vor einem möglichen Verlust. (Sie ist daher keine symmetrische Entsprechung zum weiblichen Hass auf Männer, soweit dieser existiert: Dabei handelt es sich um Zorn, der von Missständen und dem Wunsch nach Vergeltung motiviert ist.) Frauenfeindlichkeit wird häufig durch Sexismus „gerechtfertigt“: Frauen wird der Zugang zur Universität, zu politischen Ämtern und anderem verweigert, weil ihr „Wesen“ sie für die Rolle der Ehefrau und Mutter prädestiniert. Sexismus lässt sich jedoch mit Beweisen nur schwer verteidigen. Wie Mill hervorhebt, macht es der Mangel an alternativen Optionen für Frauen unmöglich zu wissen, was sie tatsächlich können und ob sie wirklich die Rolle der Frau und Mutter anstreben. Und die Tatsache, dass sie nur durch strenge Verbote in dieser Rolle festgehalten werden können, deutet darauf hin, dass sie in Wirklichkeit sehr daran interessiert sind, über mehr Optionen zu verfügen. Also: Frauenfeindlichkeit schwenkt häufig eine sexistische Fahne, aber im Grunde geht es nur um die Verteidigung von tief verwurzelten Privilegien: So, wie die Dinge sind, gefallen sie uns, und wir werden nicht zulassen, dass sie sich ändern. Welche Haltung lassen Trumps Bemerkungen vermuten? Im Großen und Ganzen lässt sich sein Sexismus schwer belegen, da sich seine Bemerkungen über weibliche Inkompetenz vor allem auf den speziellen Fall von Hillary Clinton konzentrieren. Häufiger scheint er Frauen gegenüber eine Haltung an den Tag zu legen, die wir als „demütigende Herabsetzung“ bezeichnen könnten, und zwar gegenüber Frauen, die in ehemals rein männlichen

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Berufen erfolgreich sind (und die die Dreistigkeit besitzen, ihn in irgendeinem Punkt herauszufordern) – dies geschieht mit Hohn, Beleidigungen oder der Äußerung von Ekel. Er sagt nicht, dass eine stillende oder menstruierende Frau keine gute Anwältin oder Journalistin sein kann: Er versucht lediglich, diesen Frauen das Leben in diesen Berufen durch öffentliche Demütigungen zu erschweren. Also passt das Etikett des Frauenfeindes besser zu ihm als das des Sexisten. An dieser Stelle mag auch der Hinweis seinen Platz finden, dass – obwohl sich die Kritik dieses Kapitels auf Trump-Anhänger konzentriert – Frauenfeindlichkeit unter den amerikanischen Linken ebenfalls eine lange Tradition hat. Die radikalen Bewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre, darunter vor allem SDS (Students for a Democratic Society) und SNCC (Student Nonviolent Coordinating Committee), schlossen Frauen aus Führungspositionen aus und gingen auf ihre Forderung nach einem Umdenken bezüglich der Rollenverteilung innerhalb der Familie nicht ein. Wie Malkiel hervorhebt, waren diese Organisationen diesbezüglich so schlimm wie die alte Garde in Yale und Princeton.20 Wir Frauen mussten unsere eigene Bewegung ins Leben rufen, auch wenn diese Bewegung heute viel Unterstützung von Männern bekommt. Kehren wir noch einmal zurück zu Richter Bradley. Auf den ersten Blick scheint er ein Sexist zu sein, doch bei näherer Betrachtung ist seine primäre Einstellung die eines Frauenfeindes. Nachdem er über natürliche Schicksale und anderes gesprochen hat, kommt er zum eigentlichen Punkt: Wir können zugeben, dass einige unverheiratete Frauen versuchen, als Anwältin zu praktizieren, aber wir werden es verheirateten Frauen nicht erlauben, dies zu tun. Er sagt auch nicht, dass eine verheiratete Frau unfähig ist, 20 S. 18 f.

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als Anwältin zu praktizieren. Er sagt, dass diese Frauen andere „Pflichten“ haben, die sie erledigen müssen und von denen einige (vor allem die Erziehung von Kindern) „Behinderungen“ darstellen, wenn es darum geht, als Anwältin praktizieren zu wollen. Richter Bradley sehr ähnlich ist in unserer Zeit Pastor Ralph Drollinger, ein evangelikaler Prediger, der Mitgliedern des Kabinetts von Präsident Trump Bibelstunden anbietet. Drollinger schreibt, dass Frauen mit Kindern, die fern ihres Zuhauses im Parlament arbeiten, „Sünderinnen“ sind. Ebenso wie Richter Bradley sagt er nicht, dass sie inkompetent sind, sondern dass sie eine Regel verletzen.21 In ähnlicher Weise verwendeten die Konservativen in Yale und Princeton, die sich der Zulassung von Frauen widersetzten, sexistische Argumente; diese Argumente waren zu ihrer Zeit allerdings bereits nicht mehr überzeugend, da die meisten Universitäten des Landes schon lange Frauen zuließen und diese dort mit Erfolg studierten. Ihre eigentliche Sorge war es, wie es der Kurator zum Ausdruck brachte, den Führungs-„Klub“ männlich (und weiß und christlich) zu erhalten. Der Sexismus sagt: „Arme Frauen, ihre Leistungen werden immer zweitrangig sein.“ Die Frauenfeindlichkeit sagt: „Haltet uns die verdammten Frauen vom Leib.“ Die Spannung zwischen Sexismus und Frauenfeindlichkeit ist beträchtlich, wie Mill hervorhebt. Wenn Frauen tatsächlich schwach und in einem bestimmten Bereich nicht leistungsfähig sind, dann werden sich die Dinge durch Wettbewerb von selbst regeln. Sehen wir also energische Bemühungen, Barrieren zu errichten, so deutet dies darauf hin, dass diejenigen, die sie errichten, in Wahrheit nicht meinen, die Dinge würden sich von selbst regeln. Die Geschichte der Koedukation an den Universitäten der USA 21 www.latimes.com/politics/la-na-la-pol-trump-cabinet-pastor-20170803-story. html (zum Zeitpunkt der Übersetzung von Europa aus nicht einsehbar).

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zeigt diese Spannung deutlich: Denn gerade wenn Frauen wirklich gut abschneiden und mehr Plätze in den Seminarräumen einnehmen, als „ihr Anteil“ umfasst, wächst der Wunsch, sie fernzuhalten. An meiner eigenen Universität, die 1892 gegründet wurde und an der Frauen von Anfang an zugelassen waren, befanden sich die Frauen bei einer leistungsbasierten Zulassungsregelung schnell in der Mehrheit; zwischen 1892 und 1902 machten Frauen mehr als 56 Prozent der in die Gesellschaft der akademisch Begabten (Phi Beta Kappa) gewählten Personen aus. An diesem Punkt schuf Präsident William Rainey Harper ein Nebengleis für Frauen mit separaten Klassen in den Einführungskursen. Sein Argument dafür lautete zwar, dass ansonsten die Spendenbereitschaft der Ehemaligen zurückgehen werde, doch die Angst um die Zukunft des „Klubs“ war deutlich zu spüren. Es ist der Universität hoch anzurechnen, dass Harpers Experiment nur von kurzer Dauer war. Es wurde niemals vollständig umgesetzt und nach seinem Tod im Jahr 1906 beendet. Weniger kurzlebig war die Abneigung von Harvard, Yale und Princeton, Männern und Frauen gleichberechtigten Zugang zu erlauben. Für lange Zeit wurde das Verhältnis von Männern und Frauen bei den Neuzugängen in Harvard künstlich bei vier zu eins gehalten, indem die Fiktion eines separaten Radcliffe College verwendet wurde (es verfügte nie über einen eigenen Lehrkörper). In ähnlicher Weise versuchte auch Yale in den ersten Jahren, jeweils 250 Frauen und 1000 Männer neu aufzunehmen, damit kein männlicher Student das Gefühl bekam, „sein Platz“ sei gefährdet. Wie Malkiel hervorhebt, übertrafen die ersten weiblichen Studenten in Yale, die direkt auf der Grundlage von Noten und Testergebnissen zugelassen worden waren, in der Regel die Männer, die nach allen möglichen Kriterien zugelassen worden waren, einschließlich Verbindungen zu Ehemaligen, sportlichen Leistungen und der nebulösen Eigenschaft, „vielversprechend“ zu sein.

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Frauenfeindlichkeit, wie ich sie hier definiere, ist eine Entschlossenheit, tief verwurzelte Interessen zu schützen. Sie kann sich sexistische Überzeugungen zunutze machen, aber das „Werkzeug“ des Sexismus verwandelt sich manchmal in ein zweischneidiges Schwert, sodass sich der Frauenfeind normalerweise nicht zu sehr darauf stützt. (So versuchte man im Parallelfall des Antisemitismus selten zu argumentieren, dass Juden die intellektuellen Leistungen von Anwälten in führenden Anwaltskanzleien oder in Yale nicht erbringen könnten. Antisemiten verwendeten daher stattdessen andere „Argumente“, wie zum Beispiel die verbreitete Behauptung, Juden seien vulgär und im Umgang unausstehlich – eine Behauptung, die praktisch nicht zu widerlegen ist.)22 Auf ähnliche Weise kann jemand dazu entschlossen sein, (die meisten) Frauen in den Rollen von Ehefrau, Mutter und Sexobjekt festzuhalten, ohne von weiblicher Unterlegenheit wirklich überzeugt zu sein. Tatsächlich scheint unser Freund Rousseau – rätselhaft und widersprüchlich wie immer – viel mehr ein Frauenfeind als ein Sexist gewesen zu sein. In Buch V von Émile, seinem bedeutenden Buch über die Erziehung, entsteht auf den ersten Blick der Eindruck, er stelle Sophie, die für Émile bestimmte Ehepartnerin, so dar, als neige sie von Natur aus dazu, Männern zu gefallen und sie zu unterstützen. Liest man den Text jedoch sehr sorgfältig und genau, dann sieht man, dass Rousseau seinen Leser an jeder Stelle erkennen lässt, wie Sophies starke natürliche Neigungen zu körperlichen und geistigen Leistungen gewaltsam unterdrückt wurden. Sie darf nicht dieselben Bücher lesen, sie muss einen Wettlauf mit hohen

22 Vgl. meinen Aufsatz „Jewish Men, Jewish Lawyers: Roth’s ,Eli, the Fanatic‘ and the Question of Jewish Masculinity in American Law“, in: Saul Levmore und Martha C. Nussbaum (Hrsg.), American Guy: Masculinity in American Law and Literature, New York 2014, S. 165–201.

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Absätzen absolvieren (und besiegt dabei Émile beinahe dennoch).23 Die eigentlich treibende Kraft innerhalb des Textes ist der Gedanke, dass die Stabilität und Ordnung der Gesellschaft die Beschränkung der Frauen auf eine häusliche Rolle erforderlich mache. In einer aufschlussreichen Fußnote sagt Rousseau, dass in einigen Gesellschaften Frauen zwei Kinder haben und dennoch einer Beschäftigung außerhalb des Hauses nachgehen könnten. Aber in Europa mit seinen von zahllosen Krankheiten heimgesuchten Städten müssten Frauen mindestens vier Kinder haben, damit wenigstens zwei von ihnen überleben, und dies bedeute, dass die Frauen Vollzeitmütter werden müssen.24 Das ist ein Argument für erzwungene Häuslichkeit – Sexismus im eigentlichen Sinne ist es nicht.

Angst und Schuldzuweisung Beginnen wir nun damit, die verschiedenen Aspekte von Frauenfeindlichkeit zu unterscheiden, und fragen wir uns, was es mit dem Wunsch, die Frauen an „ihrem Platz“ festzuhalten, letztlich auf sich hat. Ein Aspekt der Frauenfeindlichkeit (derjenige, auf den sich das Buch von Manne konzentriert) ist der männliche Wunsch, Frauen zur Befriedigung eigener Bedürfnisse zur Verfügung zu haben und ihnen vorzuschreiben, wie sie zu leben haben. Dabei mag es zu einem Teil um sexuelle Verfügbarkeit, zu einem anderen Teil um Kinderbetreuung gehen. Beginnen wir jedoch mit der bloßen Vorstellung, dass die Dienstbarkeit für Männer das ist, wofür Frauen da 23 Dieses Verständnis des Textes wird von Susan Moller Okin im dritten Teil ihres Buches Women in Western Political Thought, Princeton 1979, Neuauflage mit Einführung von Debra Satz 2013, auf überzeugende Weise dargelegt. 24 Jean-Jacques Rousseau, Émile: or On Education, herausgegeben und übersetzt von Allan Bloom, New York 1979, S. 362. Eine deutsche Übersetzung des Textes ist zugänglich unter: http://www.zeno.org/Philosophie/M/Rousseau,+Jan-Jacques/ Emil+oder+Ueber+die+Erziehung (abgerufen am 29.11.2018).

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sind. Betrachten wir Shel Silversteins Gedicht The Giving Tree, das früher kleinen Kindern als rührende, schöne Geschichte über Mutter und Kind vorgelesen wurde.25 Dieses Gedicht handelt von einem (weiblich dargestellten) Baum, welcher einen kleinen Jungen liebt. Der Junge verlässt sich beim Spielen, Essen und Schlafen auf den Baum. Beide sind glücklich. Als der Junge älter wird, bittet er den Baum um Geld und dann um ein Haus für seine Frau und seine Kinder; und der Baum gibt ihm seine Äste, die der Junge wegträgt, um ein Haus damit zu bauen. Er bleibt lange fort und kehrt dann zurück. Dieses Mal bittet er um ein Boot. Der Baum gibt ihm seinen Stamm, und der Junge fällt ihn, baut ein Boot und segelt davon. Schließlich kommt der Junge wieder, und der Baum entschuldigt sich: Er hat nichts mehr, was er ihm geben könnte. Sein Stamm, seine Zweige und seine Äpfel wurden alle verschenkt. Er ist nur noch ein Stumpf. Der Junge sagt, er wolle sitzen und sich ausruhen, also sagt der Baum, ein alter Stumpf sei schön zum Sitzen und Ausruhen. Der Junge setzt sich. „Und der Baum war glücklich.“ Diese alarmierende Erzählung scheint in der Erziehung von Kindern völlig fehl am Platz zu sein, und dennoch wurde sie früher häufig verwendet.26 Der „Baum“, die Mutter, gibt und gibt und gibt, bis sie nur noch ein Stumpf ist. Und der Junge ist zu keiner Zeit daran interessiert, etwas zurückzugeben. Er zieht lediglich auf verschiedene Weise seinen Nutzen aus dem Baum. Aber irgendwie soll es so sein, und der Baum ist glücklich, weil der Junge ihn immer noch benutzen will. (Es gibt noch andere Themen in 25 Shel Silverstein, The Giving Tree, New York 1964 (dt. Der freigebige Baum, München 1988). Das Gedicht wird von Manne sehr zutreffend interpretiert. 26 Mein Forschungsassistent Nethanel Lipshitz aus Israel las das Buch in hebräischer Übersetzung und wusste nicht, dass der Baum weiblich war: Auf Hebräisch sind sowohl Junge als auch Baum männlich. Anm. d. Übers.: Dies ist im Deutschen ebenso der Fall, was die Wiedergabe des Eindrucks, den das englische Original vermittelt, schwierig gestaltet.

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dem Gedicht, Altern und Verlust, aber die Geschlechterdynamik macht es unmöglich, sich auf diese menschlich interessanten Aspekte zu konzentrieren.) Die Kernfamilie wurde in vielen Epochen und mit Sicherheit in den 1950er-Jahren, kurz bevor die Protestwelle ausbrach, auf diese Weise romantisiert, und die Rollen der Geschlechter waren auf die dargestellte Weise geprägt. Der Preis, den Frauen für ihre dienende Existenz zahlten, wurde vage anerkannt, aber irgendwie war man der Meinung, dies mache sie glücklich. Die Männer glaubten, nicht in die Welt hinausgehen, Abenteuer bestehen und etwas erreichen zu können, ohne sich darauf verlassen zu können, zu diesem Baum, der immer zu Hause war, zurückkehren zu können. Die romantische Vorstellung von Frauen als den Gebenden hat mehrere unterschiedliche Aspekte. Einige Versionen dieser Geschichte konzentrieren sich auf die Führung des Haushalts und die Häuslichkeit, andere auf das Gebären und die Erziehung von Kindern. Einige Versionen (wenn auch nicht Silversteins) konzentrieren sich auf die Verfügbarkeit der Frau als Sexualpartnerin und ihre Pflicht, sich selbst attraktiv zu halten, damit der Mann eine schöne Partnerin hat, zu der er nach Hause kommen kann. Zu diesem eher bürgerlichen Punkt bezüglich der Sexualität fügt unser Freund Rousseau noch drei weitere hinzu: 1. Männer werden keine Kinder großziehen wollen, wenn nicht durch die Gefangenschaft der Frau im Heim sichergestellt ist, dass es wirklich ihre eigenen Kinder sind. 2. Die Leidenschaft der Männer kann nachlassen, wenn sie nicht ständig durch die weibliche „Schüchternheit“ entfacht wird, welche die Frauen als Verlobte und dann als Ehefrauen einsetzen. 3. Andererseits könnte die männliche Leidenschaft abgelenkt und überwältigend groß werden, wenn sie nicht von den Frauen unter Kontrolle gehalten wird, indem diese darauf bestehen, dass Männer ihre sexuelle Aktivität auf die

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Ehe beschränken, was auf vorhersehbare Weise zur Abnahme des Verlangens führen wird. Wie man sieht, betrachtet Rousseau diese Frage von vielen Seiten, allerdings stets mit Einsicht. Alle drei Punkte mögen auf einige Männer zutreffen, obwohl es schwierig ist, sich einen einzelnen Mann vorzustellen – vielleicht mit Ausnahme von Rousseau selbst –, auf den alle drei gleichzeitig zutreffen.27 Thomas Jefferson folgte Rousseau und wiederholte dessen ersten und dritten Punkt: „Auch wenn unser Staat eine reine Demokratie wäre […], so würden Frauen dennoch von [unseren] Beratungen ausgeschlossen sein. […] Um das Verkommen der Moral und eine Zweifelhaftigkeit der Nachkommenschaft zu verhindern, könnten sich Frauen nicht auf promiske Weise frei in den öffentlichen Versammlungen der Männer bewegen.“28 Die Geschichte von der „Frau als gebendem Baum“ ist oft mit Angst befrachtet – nicht zuletzt in unserer heutigen Zeit. Betrachten wir den Jungen in der Geschichte: Jetzt ist er erwachsen und will Kinder großziehen. Aber Frauen gehorchen den Regeln nicht mehr. Sie bleiben nicht zu Hause – sie finden Arbeit, sie haben ein eigenes Einkommen, und sie bitten die erwachsenen Jungen, die Aufgaben der Hausarbeit und der Kinderbetreuung mit ihnen zu teilen. Darauf hat mich das Leben nicht vorbereitet, denkt er sich. Das ist unfair. Ich will, dass alles so bleibt, wie es war. Vielleicht hat er auch eine Chefin. Er sieht Frauen, die für ein politisches Amt kandidieren. Wieder denkt er: Das ist einfach nicht fair. Sie sollten mich unterstützen, doch stattdessen richten sie Forderun27 Der erste und dritte Punkt werden in Jean-Jacques Rousseau, Émile oder Über die Erziehung, Leipzig o. J., dargelegt, der dritte ist dort nur implizit enthalten, wird aber im Brief an d’Alembert explizit gemacht. 28 Thomas Jefferson, Brief an Samuel Kercheval vom 5. September 1816. Jefferson schließt auch „Säuglinge“ und Sklaven aus. Dieser Satz wird oft falsch zitiert und besagt dann „Zweifelhaftigkeit der Themen“ (issues) statt „Nachkommenschaft“ (issue).

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gen an mich und geben mir Befehle. Zu gegenseitiger Liebe nicht erzogen, erwartet er, dass die Frau ihm dient. Und siehe da: Sie tut es nicht. Dieser Junge könnte auf Sexismus zurückgreifen und sagen, der natürliche Platz der Frau sei im Heim. Aber das wirkliche Problem ist die Frauenfeindlichkeit: Geh dorthin zurück, wo du hingehörst. Eine tiefe Angst vermischt sich mit Wut: Sie sind es, die mein Leben so unsicher gemacht haben. Manchmal richtet sich die Schuldzuweisung aus Angst gegen alle Frauen. Häufiger nimmt sie jedoch gefügigere und traditionell ausgerichtete Frauen, die das alte Spiel ziemlich gut spielen, davon aus. (Und natürlich gibt es auch Frauen, die dieses Spiel mitmachen wollen: Von einem Ernährer versorgt zu werden, ist für einige attraktiv.) Angst und Beschuldigungen (einschließlich der Beschuldigungen durch die eher konventionellen Frauen) zielen auf die „aufmüpfigen“ Frauen, die das Spiel ändern wollen. Daher der Titel von Kate Mannes Buch: Down Girl (Sitz, Mädchen!). Zu dem netten Hündchen muss man nicht „Sitz!“ sagen. Das sagt man zu einem ungehorsamen Hund, der nicht gelernt hat, sich zu benehmen. Hier sehen wir einen der Gründe, aus denen so viele Frauen für Donald Trump gestimmt haben. Es gibt natürlich zahlreiche: Viele Frauen stimmten einfach mit Trumps Positionen bei anderen Themen überein und beschlossen, seine Bemerkungen über Frauen zu ignorieren. Aber zumindest einige wandten sich aus moralischen oder religiösen Gründen gegen Frauen, die persönliche Unabhängigkeit und beruflichen Erfolg anstreben, statt die Sorge für Heim und Familie zu ihrem Hauptanliegen zu machen. Sie machten den „Regelbrecherinnen“ Vorwürfe, wegen ihrer angeblichen Selbstsucht – und manchmal wird diese Beschuldigung noch durch das Gefühl angefacht, selbst etwas versäumt zu

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haben, indem sie die traditionellen Pflichten an die erste Stelle setzen. Solche Klagen werfen ein wirklich schwieriges Thema auf. Viele Kinder in unserer Gesellschaft erhalten zu wenig elterliche Fürsorge, und die Eltern verbringen zu wenig Zeit mit ihnen. Dieses Problem wird jedoch am häufigsten durch Armut verursacht, die lange Arbeitszeiten erforderlich macht und eine qualitativ hochwertige Kinderbetreuung ausschließt. Hinzu kommt noch die hohe Zahl von Inhaftierten, die viele arme Familien eines männlichen Elternteils beraubt. Unsere Probleme der vernachlässigten Kinder sind also nicht sehr eng mit dem vermeintlichen Problem der „aufmüpfigen“ Frauen verbunden. Doch selbst in den Fällen, in denen Egoismus ein Teil des Problems ist, sollte die Schuld für die Verantwortungslosigkeit nicht allein den Frauen zugeschoben werden: Was ist mit den Männern, die sich immer noch nicht zu gleichen Teilen an der Sorge für die Kinder und an der Hausarbeit beteiligen? Und was ist mit den Arbeitsplätzen, die das Leben von Familien mit zwei Einkommen immer noch nicht ausreichend berücksichtigen? Während wir jedem Ehepartner – egal ob männlich oder weiblich –, der sich entscheidet, zu Hause zu bleiben und sich um Kinder (und manchmal alternde Eltern) zu kümmern, Anerkennung zollen sollten, ist das traditionelle Modell, das den Männern die freie Wahl ließ und den Frauen sagte, sie hätten diese Wahl nicht, in einer Gesellschaft von Gleichberechtigten sicherlich falsch. Die Antwort „Sitz, Mädchen!“ lenkt, kurz gesagt, die Aufmerksamkeit ab von den wirklichen sozialen Problemen, die gelöst werden müssen: von Problemen der Armut, der massenhaften Inhaftierung, der Unflexibilität am Arbeitsplatz sowie mangelnden Wahlmöglichkeiten und mangelnder Gleichheit.

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Angstneid Der Sexismus bot den ängstlichen Frauenfeinden einen Trost: Frauen können sowieso nicht so erfolgreich sein wie wir. Sobald eine Gruppe eine überragende Leistung zeigt, fällt die Stütze dieses Arguments weg, und die Angst breitet sich aus. Der Antisemitismus hatte in diesem Argument nie eine echte Stütze, da die überlegenen Leistungen der Juden bekannt waren. Daher wurde eine gefälschte Stütze in Form von Verunglimpfungen jüdischen Verhaltens und der jüdischen Kultur erfunden. Wie verhalten sich die Dinge bei Frauen? Bereits in dem Zeitraum, den Malkiels Buch abdeckt, konnte man sehen, dass Frauen Männer an vielen Universitäten übertreffen und „zu viele“ Plätze beanspruchen würden, wenn sie nach den Grundsätzen der Gleichberechtigung zugelassen würden. Heute ist der Bereich der Hochschulausbildung für Männer, die das Gefühl haben, dass sie auf bestimmte Plätze als „ihre“ Plätze einen Anspruch haben, sogar noch alarmierender. Frauen schneiden als Bewerberinnen fast überall besser ab als Männer. Ja, ich höre immer wieder von Colleges, die großen Wert auf ihre athletischen Programme für männliche Studenten legen, dass sie die Zahl der Frauen künstlich zurückhalten, damit sie nicht durch „Title IX“29 dazu gezwungen werden, ihre Ausgaben für den männlichen Sport zu kürzen. („Title IX“ verlangt, dass der Anteil der Ausgaben für männlichen und weiblichen Sport dem Anteil der männlichen und weiblichen Personen unter den Studierenden entspricht.) Von einem 29 Anm. d. Übers.: Teil eines Gesetzes der USA aus dem Jahr 1972, nach dem niemand wegen seines Geschlechts von Erziehungsprogrammen ausgeschlossen werden darf beziehungsweise niemandem die Vorteile solcher Programme vorenthalten werden dürfen, wenn das Programm finanziell von der Regierung unterstützt wird. Das Gesetz hat zu einem bedeutenden Aufschwung des amerikanischen Frauensports geführt.

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College, das viel Wert auf American Football legt, erfuhr ich, dass das Verhältnis von weiblichen und männlichen Studenten aufgrund von Noten und Punktzahlen mindestens 60 zu 40 betragen würde. Wegen des Football-Programms halten sie dieses Verhältnis jedoch bei 55 (Frauen) zu 45 (Männer). Andere Colleges verzerren das Verhältnis künstlich, um eine ausgeglichene soziale Atmosphäre zu erreichen. Dort wird behauptet, dass sowohl Männer als auch Frauen ein College ablehnen würden, dessen Geschlechterverhältnis zu ungleich ist. (Am Sarah Lawrence College, wo keine solche Verzerrung vorgenommen wird, beträgt der Frauenanteil 71 Prozent.)30 Die Erfolgsgeschichte der Frauen ist eine internationale. In Ländern, in denen die Ergebnisse der Abschlussprüfungen eine größere Rolle spielen als bei uns und in denen es weniger auf Beziehungen zu Ehemaligen, auf sportliche Leistungen oder auf Hobbys ankommt, stellen Frauen Männer praktisch überall in den Schatten. Obwohl die Amerikaner zum Beispiel eine Klischeevorstellung von der arabischen Welt haben, nach der diese den Leistungen von Frauen feindlich gesonnen wäre, war im Jahr 2012 in Algerien, Bahrain, Kuwait, im Libanon, Marokko, Tunesien, Katar, Oman, Syrien, Saudi-Arabien und in den Vereinigten Arabischen Emiraten die Zahl der weiblichen Studenten größer als die der männlichen.31 In Jordanien liegt der Anteil von Frauen nicht nur allgemein mit 52 zu 30 www.sarahlawrence.edu/about (abgerufen am 16.10.2018). 31

Catriona Davis, „Mideast women beat men in education, lose out at work“, in: Inside the Middle East, 6. Juni 2012, edition.cnn.com/2012/06/01/world/meast/ middle-east-women-education/index.html (abgerufen am 16.10.2018). Die Daten wurden von der UN zusammengestellt. Vgl. auch ICEF Monitor, Education enrolment trends of women in the Middle East, monitor.icef.com/2014/07/ increasing-participation-by-women-in-middle-east-education (abgerufen am 16.10.2018) sowie die umfassenderen Daten unter ICEF Monitor, Women increasingly outpacing men’s higher education participation in many world markets, monitor.icef.com/2014/10/women-increasingly-outpacing-mens-higher-education-participation-many-world-markets (abgerufen am 16.10.2018).



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48 Prozent vor den Männern, sondern sie sind ihnen auch an der Spitzenuniversität, der Universität von Jordanien in Amman, zahlenmäßig deutlich überlegen; dort wurde mir bei einem Besuch im Jahr 2007 gesagt, dass Frauen 75 Prozent der Studentenschaft ausmachen. In all diesen Ländern sind Frauen immer noch mit hohen Beschäftigungsbarrieren konfrontiert. Doch wie lange wird es noch möglich sein, sie aus dem Führungsklub herauszuhalten, wenn ihre Leistungen im Hochschulbereich so beeindruckend sind? Was geschieht mit Männern, wenn Frauen Erfolg haben? Die Geschichte von Harvard, Princeton und Yale zeigt einen Mikrokosmos in Bezug auf eine Frage, die in unserer gesamten Nation auftaucht (besonders angesichts der sich ändernden Anforderungen der Wirtschaft, die für die meisten Stellen einen Hochschulabschluss als unerlässlich voraussetzen). Eine Zeit lang versuchten die Leiter dieser Eliteuniversitäten, so zu tun, als gäbe es kein Nullsummenspiel: Die Plätze für Frauen würden lediglich hinzugefügt, die Zahl der Männer würde dabei konstant bleiben. Diese Strategie hat auf lange Sicht natürlich nicht funktioniert. Keine dieser Institutionen hat jemals daran gedacht, die Anzahl der von ihnen angebotenen Plätze zu verdoppeln – eine finanziell und logistisch nicht realisierbare Idee, da dies eine Verdoppelung der Unterkünfte, eine starke Vergrößerung des Lehrkörpers und vieles mehr bedeuten würde. Da der Druck stieg, eine annähernd gleiche Anzahl von Frauen aufzunehmen, und die Zulassungsentscheidungen immer mehr die Qualifikation berücksichtigten, statt eine starre Frauenquote anzustreben, musste die Zahl der Männer früher oder später zurückgehen. Die drei Universitäten haben sich dem gleichberechtigten Zugang lange Zeit widersetzt. In Harvard diente die Fiktion der Autonomie von Radcliffe College dazu, die Aufnahmequote von vier zu eins bis in die 1970er-Jahre hinein aufrechtzuerhalten. Erst 1999 erfolgte die vollständige Zusammenlegung der beiden Hochschulen.

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Überraschenderweise hat die Tatsache, dass es in Harvard, Yale und Princeton jetzt mit Sicherheit weniger Plätze für Männer als früher gibt, gegenwärtig kaum zu einem Rückschlag geführt. Reiche Ehemalige haben sowohl Töchter als auch Söhne, weibliche Ehemalige gehören mittlerweile zur Gruppe der Spender, und eine Vergrößerung der Klassen hat den Schock des eingeschränkten Zugangs abgemildert. Vor allem aber war man davon überzeugt, die Koedukation sei unerlässlich, um die besten Studenten zu gewinnen, und die Sorgen darüber, wie die Koedukation in der Praxis funktionieren würde, nahmen allmählich ab. In der amerikanischen Gesellschaft insgesamt gibt es kein solches Happy End. Auch wenn man glaubt, dass alle Menschen ihre Talente entfalten können sollten und dass jeder das Recht hat, an Bildung, Arbeitswelt und Politik teilzunehmen, so ist es doch unvermeidlich, dass die Verdoppelung des Bewerberpools in all diesen Bereichen für viele Männer zahlreiche Enttäuschungen mit sich bringt. Es bedeutet auch andere Veränderungen, auf die amerikanische Männer meiner Generation auf keine Weise vorbereitet waren: Vor allem bedeutet es, dass mehr Männer mehr Hausarbeit, Kinderbetreuung und Altenpflege leisten. Wie ich bereits erwähnt habe, waren die politisch linken Bewegungen meiner Generation stark von Männern dominiert, sodass kein Interesse an einer gleichberechtigten Verteilung der Hausarbeit bestand. Dieses Problem wurde hauptsächlich von Frauen in die Diskussion gebracht, und es ist in Familien im ganzen Land nach wie vor ein äußerst schwieriges Thema – zumal unser Land im Gegensatz zu vielen anderen Ländern die Kinderbetreuung für Vorschulkinder oder gar eine allgemeine Vorschulbildung finanziell nicht unterstützt und nur über ein vergleichsweise schwach entwickeltes Programm zur Beurlaubung im Krankheitsfall oder für Unterstützung innerhalb der Familie verfügt.

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Neid entsteht, so habe ich gesagt, wenn sich eine bestimmte Gruppe von wichtigen wertvollen Dingen, über die andere Menschen verfügen (Geld, Status, Ämter, Beschäftigungsmöglichkeiten), ausgeschlossen fühlt. Es kann kein Zweifel bestehen, dass weiße Männer, besonders diejenigen aus der unteren Mittelschicht, tatsächlich zu den Verlierern gehören. Die verfügbaren Arbeitsplätze setzen in der Regel einen Hochschulabschluss voraus. Selbst Männer, die erwerbstätig sind, sehen sich mit Einkommensstagnation und sinkender Kaufkraft konfrontiert. Die eklatanten Gesundheitsprobleme in dieser Gruppe, vor allem die Abhängigkeit von Opiaten, sind Zeichen von Elend und Hoffnungslosigkeit. Der Nobelpreisträger Angus Deaton und seine Frau und Co-Autorin Anne Case sehen ein „Meer der Verzweiflung“ unter nicht-hispanischen weißen Männern der Arbeiterklasse.32 Die Sterblichkeit von Männern und Frauen ohne Hochschulabschluss ist in die Höhe geschnellt, bei den Männern jedoch stärker. Deaton und Case führen den Anstieg auf schlechte Beschäftigungsaussichten und auf die nachteiligen Auswirkungen eines Zusammentreffens von Übergewicht, Drogenkonsum und Stress zurück, denn Verhaltensweisen, die man sich zunächst zu eigen gemacht hat, um sich über Enttäuschungen hinwegzutrösten, verschlechtern die Lebenschancen noch weiter. Was mich interessiert, ist die Wechselwirkung zwischen dem Stress und der Angst, die durch schlechte Aussichten und eine Art verzweifelten Neid hervorgerufen wird, der sich an denjenigen entzündet, die als die Verdränger gesehen werden. 32 Eine gute Zusammenfassung ihrer Arbeit findet man bei Joel Achenbach und Dan Keating, „New research identifies a sea of despair among white working class Americans“, in: The Washington Post, 23. März 2017, www.washingtonpost.com/national/health-science/new-research-identifies-a-sea-of-despairamong-white-working-class-americans/2017/03/22/c777ab6e-0da6-11e7-9b0dd27c98455440_story.html?utm_term=.8e053e1e6b88 (abgerufen am 16.10.2018).

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Diese besondere Neiddynamik setzt den Glauben an den eigenen privilegierten Anspruch voraus: „Sie“ haben „unseren“ Platz eingenommen. Immigranten haben die Hauptlast dieses Neides zu tragen, doch auch Frauen bekommen einen sehr großen Anteil davon ab – was leicht zu verstehen ist, da Frauen in allen Bereichen des amerikanischen Lebens plötzlich aufgestiegen sind. Der unterschiedliche Bildungserfolg ist besonders bedeutend, da viele Frauen die Beschäftigungsprobleme von Männern mit ähnlichem Hintergrund bis zu einem gewissen Grad nicht haben. Jedenfalls ist es angesichts der bedeutsamen Rolle von Frauen in der Bildung und in Berufen, die eine höhere Bildung voraussetzen, leicht, sie für die Probleme der Männer verantwortlich zu machen. Ein kleines, aber aufschlussreiches Beispiel für eine von Neid getriebene Frauenfeindlichkeit ist der Skandal um eine Website namens AutoAdmit, auf der vorgeblich Ratschläge für die Zulassung zu einem Jurastudium zu finden waren. Die Seite verkam jedoch schnell zu einer vor allem pornografischen Plattform, auf der anonyme männliche Jurastudenten fiktive obszöne Geschichten über namentlich genannte Jurastudentinnen verbreiteten. Auch wenn Arbeitgeber den formelhaft wiederholten pornografischen Geschichten keinen Glauben schenkten, wirkten sie sich dennoch negativ aus, und die Frauen hatten das Gefühl, dass die Geschichten bei ihrer Stellensuche wirklichen Schaden anrichteten – abgesehen von dem Psychostress in den Lehrveranstaltungen, der dadurch entstand, dass die Verleumder die Frauen offensichtlich persönlich kannten, die Frauen die Identität ihrer Verleumder jedoch nicht ermitteln konnten. Als zwei Frauen – hervorragende Studentinnen der juristischen Fakultät der Universität Yale – eine Verleumdungsklage anstrengten, konnten sie nur einige Männer identifizieren, die die Geschichten veröffentlicht hatten. Sie ließen sich schließlich mit einigen der Beteiligten auf einen Vergleich ein; die Bedingungen

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des Rechtsstreits bleiben jedoch vertraulich. Die juristische Fakultät nahm diesen Fall sehr ernst, und auf einer Konferenz über Onlinerecht im Jahr 2008 war er ein zentrales Beispiel. Die Beiträge wurden später in einem Sammelband herausgegeben.33 In meinem eigenen Beitrag ging es um die Zusammenhänge zwischen der auf der Website vorherrschenden Stimmung und der Theorie des Philosophen Friedrich Nietzsche über Ressentiments. Ein Ressentiment ist für Nietzsche ein Neidgefühl, das die Machtlosen gegenüber den Mächtigen empfinden, das dann jedoch kreativ wird: Es veranlasst die Machtlosen, eine Gegenwelt zu erfinden, in der sie mächtig, ihre Konkurrenten aber erbärmlich sind. Die Pornografie im Internet, so lautete meine These, ermöglichte es, eine Gegenwelt zu schaffen, in der die Frau nicht erfolgreich ist, sondern einfach eine Schlampe; und diese Gegenwelt hat Auswirkungen auf die reale Welt. Glücklicherweise ist diese Art von Mobbing, die im Internet immer noch üblich ist, nicht typisch für die heutigen juristischen Fakultäten, in denen Frauen immer mehr Gleichberechtigung erlangen. Dies ist es, was ich gegenwärtig in Bezug auf die Frauenfeindlichkeit in Amerika generell beobachte: In der Wirklichkeit erzielen Frauen immer mehr Erfolge – im alternativen Universum der Frauenfeinde (der Leute, die zu Trumps Bemerkungen Beifall klatschen) sind Frauen erbärmlich, ekelhaft, träge, schwach, hässlich. In der realen Welt weigern sich immer mehr Frauen, die Rolle der charmanten Helferin zu spielen. Sie bestehen auf anderen Erfolgskriterien. In der Parallelwelt der Frauenfeindlichkeit werden diejenigen, die diese Rolle nicht spielen, als abgrundtiefe Verliererinnen verhöhnt. Leider ist die Frauenfeindlichkeit in ganz Amerika weitaus einflussreicher als an den juristischen Fakultäten. 33 Saul Levmore und Martha C. Nussbaum (Hrsg.), The Offensive Internet: Speech, Privacy, and Reputation, Cambridge 2010.

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Die Geschichte von Angst, Neid und Frauenfeindlichkeit passt gut zur Geschichte von Angst und Schuldzuweisung: Männer fühlen sich von Frauen in einem Nullsummenspiel besiegt und finden gleichzeitig nicht mehr die eindeutige Unterstützung und Bequemlichkeit, die ihnen Frauen einst als „Hausfrauen“ ohne Gegenforderungen boten. Auch wenn sie sie in ihren eigenen vier Wänden noch finden, wissen sie doch, dass die Institution des „freigebigen Baumes“ sehr bald aussterben wird.

Angstekel Trumps Bemerkungen appellieren aber vor allem an den Ekel. Manchmal richten sie sich gegen Frauen, die einer eng gefassten männlichen Attraktivitätsnorm nicht entsprechen: Frauen, die übergewichtig oder bereits älter sind. Doch viele seiner Bemerkungen zeugen von einem allgemeineren Ekel vor den Körperflüssigkeiten der Frauen: vor Muttermilch, Menstruationsblut, Blut als Folge eines Faceliftings (wobei er gewiss kein Blut gesehen haben wird, sondern höchstens blutunterlaufene Stellen oder vielleicht Nähte), der eingebildete Urin oder Kot von Hillary Clintons Besuch auf der Toilette. Und sein Publikum macht bei all diesen Anspielungen mit und findet es wunderbar, dass Frauen (auch konventionell attraktive Frauen) mit ekligen Flüssigkeiten in Verbindung gebracht werden. Warum? Frauenfeindlicher Ekel hat eine lange Geschichte und wurde intensiv untersucht. Aus irgendeinem seltsamen Grund (da alle Menschen Ausscheidungen haben und bluten) wurden Frauen von Männern oft als irgendwie körperverhafteter, animalischer, stärker mit Gestank und Verfall verbunden als Männer eingestuft. Liegt es daran, dass Frauen Kinder gebären und damit unumgänglich mit einer verletzlichen Leiblichkeit assoziiert werden? Oder liegt

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es, wie der Rechtstheoretiker William Ian Miller vorschlägt, an der Tatsache, dass Männer ihre eigenen Flüssigkeiten in der Frau zurücklassen und sie deshalb als Behältnis für das klebrige Ejakulat betrachten, das sie produzieren?34 (Das würde zu der Art und Weise passen, wie sich der Ekel vor schwulen Männern zwanghaft auf den Analverkehr konzentriert.) Wer kann das sagen? Diese Dinge sind wohl kaum logisch. Fest steht, dass ganze Kulturen Frauen als irgendwie körperlicher und tierischer als Männer betrachtet haben und dass sie Männer nur unter der Bedingung, dass sie die Frauen gefangen halten und deren Körperfunktionen kontrollieren, als fähig ansahen, ihr bloßes Menschsein zu transzendieren. Tabus rund um die Menstruation, den Geburtsvorgang und den Geschlechtsverkehr sind allgegenwärtig. Und das ist eine Form der Frauenfeindlichkeit, wenn wir damit meinen, was ich mit diesem Wort verbinde: das Erzwingen einer niedrigeren gesellschaftlichen Stellung für Frauen. Offensichtlich ist diese Art von Frauenfeindlichkeit mit sexuellem Begehren vereinbar. Oft folgt auf befriedigtes Verlangen Ekel. So sagt Adam Smith über das sexuelle Verlangen der Männer: „Wenn wir gegessen haben, lassen wir die Tischdecke entfernen.“35 (Von Smith, der ein Hypochonder war und bis zum Tod seiner Mutter kurz vor ihrem neunzigsten Geburtstag mit ihr zusammenlebte, ist nicht bekannt, ob er über sexuelle Erfahrungen verfügte. Statt eine persönliche Anmerkung zu machen, spricht er also wahrscheinlich eher von seiner Kultur im Allgemeinen.) Allerdings sind Verlangen und Ekel häufig eng miteinander verbunden: Die Frau ist gerade deshalb verführerisch, weil sie ekelhaft ist; sie steht für die Leib34 William Ian Miller, The Anatomy of Disgust, Cambridge 1997. 35 Adam Smith, The Theory of Moral Sentiments, hrsg. Von D. D. Raphael und A. L. Macfie, Indianapolis 1982, I.ii, 1.2, S. 28 (dt.: Theorie der ethischen Gefühle. Übers. u. hrsg. v. Walther Eckstein, Hamburg 2004), hier eigene Übersetzung.

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verhaftung, die einerseits zwar gefürchtet, andererseits jedoch auch begehrt wird. Sigmund Freud glaubte, dass jedes sexuelle Verlangen aus diesem Grund unweigerlich mit Ekel vermischt ist. Ich bin sicher, dass er sich irrt; doch die Tatsache, dass er dies sagte, zeigt, wie weitverbreitet die Verbindung war oder noch ist. Von Ekel motivierte Frauenfeindlichkeit ist, wie jeder projizierte Ekel, eindeutig angstgetrieben: Was man fürchtet, sind der Tod und die Verbindung mit einem sterblichen Leib. Wenn Frauen aber diesen gefürchteten (und doch oft begehrten) Zustand repräsentieren, dann repräsentieren sie Schmutz und Tod, werden aus genau diesem Grund gefürchtet und daher diszipliniert und kontrolliert. Die Geschichte von Ekel und Frauenfeindlichkeit ist eine völlig andere Geschichte über den „Ursprung der Sache“ als die Geschichte vom freigebigen Baum oder die Geschichte von Neid und Konkurrenz. Sie ist reizvoll, weil sie bis zu etwas tief im Menschen Verwurzelten vordringt, das über die reine Gestaltung eines einzelnen politischen Augenblicks weit hinausgeht. Doch wir müssen uns nicht entscheiden. Die Geschichten sind nicht unvereinbar; sie ergänzen und verstärken sich sogar gegenseitig. Ich bin geneigt zu sagen, dass die Geschichte über den Ekel den Ausbruch der Frauenfeindlichkeit, wie wir ihn heute in Amerika beobachten, nicht ohne die beiden anderen Geschichten erklären könnte. Angst und Unsicherheit verschwinden nie ganz, und menschliche Ängste richten sich beharrlich auf den Körper und die Sterblichkeit. Angst kann jedoch durch gesellschaftliche Veränderungen auf dramatische Weise verstärkt werden, wenn sie scheinbar eine Quelle des Trostes und der bedingungslosen Liebe beseitigen und sich in kurzer Zeit ereignen. Und sie kann durch wirtschaftliche Bedingungen, die zu einer Zunahme des Wettbewerbsneides führen, noch weiter verstärkt werden, besonders, wenn der Neid ein

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offensichtliches Ziel hat: eine Konkurrentin, die einem früher geholfen hat und einem jetzt die Stelle nimmt. Sexismus ist ein Problem. Sexistische Überzeugungen können allerdings durch Beweise widerlegt werden. Im Großen und Ganzen sind sie widerlegt worden. Das eigentliche Problem ist die Entschlossenheit vieler Männer, die alte Ordnung aufrechtzuerhalten, und zwar mit allen möglichen Mitteln: durch Spott, den Ausdruck von Ekel, die Weigerung, Frauen einzustellen, zu wählen, als Gleichberechtigte zu respektieren. Frauenfeindlichkeit ist keine sehr intelligente Strategie, da sie rein negativ ist: „Haltet uns die verdammten Weiber vom Leib!“ Es ist, als ob ein Kind mit dem Fuß auf den Boden stampft und „Nein, nein, nein!“ schreit. Die Ablehnung von Veränderungen löst die Gesundheitsprobleme der Arbeiterklasse nicht und hilft uns nicht dabei, mehr Menschen zu einem Hochschulstudium und den damit verbundenen Chancen zu verhelfen – dies sind Probleme, die auch die Frauenfeinde lösen wollen. Die Ablehnung von Veränderungen löst auch nicht das Problem, dem die Männer sich bisher noch kaum gestellt haben: der Frage, wie man Liebe, Fürsorge und die Kernfamilie in einer Zeit zunehmenden weiblichen Erfolgs und zunehmender Beteiligung von Frauen an der Arbeitswelt neu erfinden kann. Frauenfeindlichkeit mag einen Moment lang tröstlich sein, letztlich erreicht sie jedoch gar nichts. Noch einmal: Was wir brauchen, ist nicht mehr von diesem giftigen Gebräu, sondern es sind Strategien, die uns über das hinausbringen, was wir als „Familie der Angst“ bezeichnen könnten, und zu kooperativer Arbeit an einer vielversprechenden Zukunft für uns alle führen.

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Ihr den Segen sag ich gern, Ihr verkünd ich gnadenmild: In stetem Blühn des Lebens Wohl, ein reich Gedeihn, Aus mächtigem Erdschoße soll Schmeicheln heiter Sonnenschein!1 Lasst uns hier in Ruhe leben und unsere Herzen weich werden lassen. Lasst uns eine Brücke über den Abgrund bauen, der sich zwischen uns geöffnet hat. Lasst uns unseren Bruder, unsere Freunde lieben, ohne jeden Grund. Lass ein Lächeln aus ihren Augen leuchten wie die Sonne auf dem Meer.2

Es ist der 15. Juni 2017, ein schlechter Tag. Der republikanische Kongressabgeordnete Steve Scalise und andere Menschen wurden bei einem Baseballspiel von einem geistesgestörten Mann 1 Aischylos, Die Tragödien, übertragen von J. G. Droysen, durchgesehen von W. Nestle. Neu herausgegeben und eingeleitet von B. Zimmermann, Stuttgart 72016, S. 292. 2  Danny Maseng (zeitgenössischer israelisch-amerikanischer Songwriter), Sim Shalom, eigene Übersetzung.

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erschossen, dessen Tatmotiv offenbar Hass auf Donald Trump und die Republikaner war. Doch irgendwie ist aktuell mehr oder weniger jeder Tag ein schlechter Tag. Alle sprechen davon, dass unsere Gesellschaft auseinanderbricht, zerrissen von Angst, Zorn, Ekel und Neid. Wo ist Hoffnung? Wie können wir sie noch haben? Wie finden wir in dieser Zeit der Angst und Raserei den Antrieb zu konstruktivem Handeln? Nun gut: An welche Gründe zur Hoffnung denke ich selbst, wenn ich auf meine jüngst in Chicago verbrachte Zeit zurückblicke? Die Suche nach Hoffnung ist immer persönlich. Ich möchte daher zunächst davon erzählen, wie ich am 15. Juni mit meiner eigenen Suche begann. Ich denke zuerst an meine Freunde und meine Familie, an meine Kollegen, daran, dass unsere universitäre Gemeinschaft dem Austausch vernünftiger Überzeugungen verpflichtet ist, an die Art und Weise, wie wir so häufig zusammenkommen, um kontrovers zu diskutieren und uns in einer von gleichem Respekt für Jung und Alt und von staatsbürgerlichem Engagement zwischen links und rechts geprägten Atmosphäre gegenseitig zu kritisieren. Ich bin mir dessen bewusst, dass sich akademisches Leben nicht überall auf der Welt so gestaltet. Ich kehre soeben aus einem Land zurück, in dem akademische Lehrer durch ein Dokument der Regierung erfahren haben, dass sie ihre politischen Ansichten im Unterricht nicht einmal erwähnen dürfen; und ich schreibe zurzeit einen Aufsatz über ein anderes Land, in dem Studierenden die Gefahr droht, willkürlich festgenommen und zeitlich unbegrenzt inhaftiert zu werden, wenn sie sich zum friedlichen Protest versammeln.3 Also: Wenn meine 3 Das erste Land ist Israel (wo das Positionspapier der Regierung, ein „Moralkodex“ für Akademiker, heftig umstritten war und nicht umgesetzt wurde); das zweite Land ist Indien, wo die Situation wesentlich besorgniserregender ist. Dennoch gibt es auch hier mutigen Widerstand von Menschen, die sich für die lange Tradition der Meinungsfreiheit einsetzen.

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eigene kleine Ecke der USA (nicht ohne Probleme, aber grundsätzlich) noch ein solides politisches Klima hat, dann hat das seinen Wert. Außerdem denke ich, dass die grundlegenden Institutionen unserer Regierung bisher einigermaßen funktionsfähig sind. Unsere Gerichte sind keine ideal abwägenden Organe, aber sie sind auch keine korrupten Machtmittel, wie dies in einigen anderen Ländern der Fall ist, und die Gewaltenteilung funktioniert alles in allem gut. Ich denke an das schwer gestörte Verhältnis der verschiedenen ethnischen Gruppen in meiner Stadt, mit einer Eskalation von Waffengewalt im vergangenen Jahr. Doch ich denke auch an einige positive Dinge, etwa an die Tatsache, dass unser neuer Polizeichef das Vertrauen sowohl der afroamerikanischen Mitbürger als auch der Polizei zu haben scheint. Man kann also zu hoffen beginnen, dass im Laufe der Zeit vernünftige Reformen durchgesetzt werden. (Obwohl sich nur schwer abschätzen lässt, wie viel ohne umfangreichere Waffenkontrollgesetze erreicht werden kann.) Hoffnungen müssen sich jedoch auch von Einzelheiten nähren. Von welchen konkreten Ereignissen nähren sich meine eigenen? Wie schaffe ich es, am Donnerstag, dem 15. Juni 2017, von dunklen Gedanken an Waffengewalt und sozialen Verfall sozusagen „umzuschalten“ auf Aussichten auf Frieden, Versöhnung und Fortschritt? Ich denke, es ist kein Zufall, dass meine Gedanken mein eigenes unwiderstehliches Verlangen widerspiegeln, der Frage nachzugehen, wie wir mithilfe der Geisteswissenschaften und einer respektvollen Auseinandersetzung Frieden und Fortschritt fördern können. Ich denke an das Friedenskonzert, das am 11. Juni in der Kirche Saint Sabina im Süden von Chicago von dem Cellisten Yo-Yo Ma in Zusammenarbeit mit dem Pfarrer Michael Pfleger veranstaltet wurde. Pfleger ist der führende Aktivist, wenn es um die Beziehungen zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen geht.

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Außerdem ist er der leitende Priester der größten afroamerikanischen katholischen Gemeinde Chicagos. An dem Konzert war auch der ethnisch gemischte Kinderchor von Chicago beteiligt, der ein großes, leidenschaftliches Publikum anzog, das 70000 Dollar für Pflegers Programme für afroamerikanische Jugendliche spendete.4 Niemand kann ruhen, sagte Pfleger, „bis Frieden in der Stadt Chicago Wirklichkeit geworden ist“. Hoffnung geben mir das lebenslange Engagement von Pfleger und das neue Engagement des berühmten Chicago Symphony Orchestra für den Süden der Stadt. (Zusammen haben sie die Teilnahme von Yo-Yo Ma arrangiert. Das Konzert ist Teil einer Reihe von Veranstaltungen in den verschiedenen Stadtbezirken.) Ich las noch einmal eine Rede, die Ro Khanna, ein neu gewählter Kongressabgeordneter aus Kalifornien und ehemaliger Student von mir, anlässlich des Abschlussjahrgangstreffens der Universität Chicago am 9. Juni gehalten hat. Er rief zur Selbstprüfung und zu „leiseren Stimmen“ auf und plädierte dafür, von einem lauten und übertrieben selbstgewissen Politikstil Abstand zu nehmen und ihn durch einen nachdenklicheren Stil zu ersetzen. „Wir brauchen Denker. Wir brauchen Zuhörer. Wir brauchen Menschen, die intensiv genug Geschichte studiert haben, um gegenüber einfachen Slogans oder einfachen Versprechungen skeptisch zu sein.“5 Das ist leicht gesagt, aber ich weiß, dass Ro diese Forderungen und Werte in seine Arbeit in Washington einbringen wird. Das gibt mir Hoffnung. Ich war zwar nicht in Saint Sabina, nahm jedoch etwa um dieselbe Zeit ebenfalls an einer musikalischen und religiösen Veranstaltung für Frieden und Versöhnung teil – in meiner reformierten Synagoge 4 www.chicagotribune.com/entertainment/music/vonrhein/ct-classical-yo-yoma-ent-0614-20170613-column.html (zum Zeitpunkt der Übersetzung von Europa aus nicht einsehbar). 5

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Der Text wurde mir vom Autor zugesandt und liegt mir als Datei vor. 

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KAM Isaiah Israel im Süden Chicagos. Diese Synagoge hat eine lange Tradition des Bürgerrechtsaktivismus sowie des Engagements für Einwanderer und andere Minderheiten. Unser Kantor David Berger – ein begabter Musiker, der viel von der Musik aus deutschen und französischen Synagogen der 1920er- und 1930er-Jahre vor dem Vergessen bewahrt hat – stellte mit mir ein Programm aus Texten und Musik zum Thema Zorn und Versöhnung zusammen: Ich las eine Weile, und er sang anschließend. Wir wechselten uns eine Stunde lang ab und beantworteten dann Fragen aus dem Publikum. Berger, ein schwuler Mann, der mit einem konservativen Rabbiner verheiratet ist, mit dem er einen afroamerikanischen Jungen adoptiert hat, strahlte Freude und Optimismus aus, während er aus einem Repertoire von jiddischen Volksliedern bis zu einem Lied aus Kurt Weills Lost in the Stars (einem Musical über die Versöhnung in Südafrika) und einem Auszug aus Leonard Bernsteins Mass vortrug. Zum Schluss sang er das Lied Sim Shalom des zeitgenössischen Musikers Danny Maseng („Schenke Frieden“, ein Lied über Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern wie auch zwischen allen anderen Menschen). Gemeinsam versuchen Berger und ich, zwei Dinge zu verkörpern, die, wie ich in diesem Kapitel darlegen werde, für eine Politik der Hoffnung zentral sind: liebe- und fantasievolle Bilder der Zukunft (durch Gedichte, Musik und andere Kunstformen) sowie einen Geist der Reflexion und vernünftigen Kritik, wie er in der Philosophie, aber auch in jedem guten politischen Diskurs verkörpert wird. (Diese Aufteilung der Rollen ist etwas künstlich, da ich im Chor der Synagoge singe und Berger häufig an Einsichten reiche, philosophische Predigten hält.) Und in diesem Fall denke ich nicht nur über diese Dinge nach, sondern ich versuche auch, sie in die Tat umzusetzen. Hoffnung ist nicht träge, kann es nicht sein. Sie verlangt tätiges Engagement. Diese Veranstaltungen hatten ein kleines Format, und sie

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haben wohl kaum die Welt bewegt. Doch wir alle verdanken kleinen konkreten Dingen des Alltags mehr emotionale Unterstützung als großen abstrakten Ideen. Und diese emotionale Nahrung scheint entscheidend dafür zu sein, dass wir in unserem Leben im Allgemeinen etwas Gutes und Hilfreiches bewirken. Es war diese emotionale Unterstützung, die ich suchte, als ich am 15. Juni meinen Gedanken eine Richtung zu geben versuchte.

Die Definition von Hoffnung Was ist also Hoffnung? Sie ist ein rätselhaftes Gefühl. Und seltsamerweise wird sie, trotz ihrer Bedeutung, von Philosophen nur selten umfassend erörtert. Eine weitverbreitete Auffassung ist offensichtlich unzureichend: Hoffnung beinhalte den Wunsch nach einem Ergebnis, verbunden mit der Einschätzung, dass dieses Ergebnis sehr wahrscheinlich ist.6 Dies scheint aus drei Gründen falsch zu sein. Erstens hängt die Hoffnung nicht von unserer Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten ab. Menschen hoffen im Krankheitsfall für sich und die ihnen nahestehenden Personen auch dann auf einen guten Ausgang, wenn die Prognose düster ist. Tatsächlich verhält es sich so, dass die Hoffnung, wenn die Wahrscheinlichkeit eines guten Ausgangs zunimmt, überflüssig erscheint und häufig durch eine frohe Erwartung ersetzt wird. (Ebenso verhält es sich mit der Angst: Wenn der schlechte Ausgang fast zur Gewissheit wird, verwandelt sich die Angst in Verzweiflung oder Fatalismus oder in ein zu seelischer Erstarrung führendes Entsetzen.) Außerdem scheint diese Neigung zur Hoffnung in schlechten Zeiten irgendwie etwas mit dem letztlich guten Ausgang einer Sache zu 6 Die Geschichte solcher philosophischen Diskussionen wird von Adrienne Martin in How We Hope: A Moral Psychology, Princeton 2013, übersichtlich zusammengefasst. Meine Argumente gegen die „übliche Ansicht“ sind ihren ähnlich.

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tun zu haben, wenn es denn dazu kommt. Gibt der Patient oder die Familie die Hoffnung auf (oder bläht er die Hoffnung zu Unrecht zu einer übertriebenen Erwartung auf ), bedeutet das möglicherweise, dass neue Behandlungsmöglichkeiten nicht ausprobiert werden, und gibt eine Nation die Hoffnung auf, wenn sie von einem mächtigen Feind angegriffen wird, dann wird sie keine mutigen Anstrengungen unternehmen, die sich letztendlich doch als erfolgreich erweisen könnten. Wie wir noch sehen werden, ist der Zusammenhang zwischen Hoffnung und Handeln von entscheidender Bedeutung. Das zweite Problem einer Definition der Hoffnung in Bezug auf Wünsche und Wahrscheinlichkeiten besteht darin, dass Hoffnung nicht nur einen Wunsch nach etwas Gutem beinhaltet, sondern auch eine Bewertung dieses Guten als etwas ernsthaft Wertvollem, als etwas Erstrebenswertem. (Diese Bewertung könnte sich als falsch erweisen. Wir reden daher nur davon, was die Person denkt.) Ich wünsche mir in diesem Moment eine Eistüte, aber ich hoffe nicht auf eine: Dafür ist sie (meiner Meinung nach) etwas zu Triviales. (Als ich fünf Jahre alt war, habe ich darauf gehofft, eine Eistüte zu bekommen, denn in meiner kindlichen Welt war das etwas wirklich Wichtiges! Selbst Erwachsene hoffen manchmal auf Dinge, die eigentlich trivial sind – im Sport zum Beispiel hoffen die Fans von Mannschaften auf deren Sieg –, die sie aber subjektiv für so wichtig halten wie das Kind sein Eis.) Mein Eiscreme-Beispiel bringt mich zu einem weiteren Punkt: Hoffnung ist, wie die Angst, immer mit erheblicher Ohnmacht verbunden. Im Moment wünsche ich mir eine Flasche Wasser. Wenn ich Lust hätte, ins Erdgeschoss zu gehen, wo sich die Automaten befinden, könnte ich eine kaufen. Früher oder später werde ich es tun. Doch ich hoffe nicht auf eine Flasche Wasser: Das würde bedeuten, dass ich selbst nicht in der Lage bin, mir eine zu besorgen, oder dass ich es gewohnt bin, von ziemlich unzuverlässigen Leuten bedient zu wer-

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den. Die Griechen und Römer der Antike haben alle drei Punkte verstanden, sodass sie nicht den Fehler begingen, Hoffnung in Bezug auf Begehren und Wahrscheinlichkeiten zu definieren. Stattdessen sagten sie, die Hoffnung sei die Kehrseite der Angst. Zu beiden gehört die Bewertung des Ausgangs einer Sache als sehr wichtig, zu beiden gehört ferner eine beträchtliche Ungewissheit bezüglich des Ausgangs, und beide beinhalten ein hohes Maß an Passivität beziehungsweise fehlender Kontrolle. Daher mochten sie die Hoffnung nicht, so angenehm sie auch war: Die Hoffnung wirkt trügerisch auf einen Geist, der zu stark von glücklichen oder unglücklichen Umständen abhängig ist. „Du hörst auf zu fürchten, wenn du zu hoffen aufgehört hast“, schreibt Seneca. „Beides ist Eigenart einer schwankenden Seele, beides einer der durch der Zukunft Erwartung beunruhigten.“7 Die stoische Position, dass wir uns vor schmerzhaften Überraschungen schützen sollten, indem wir uns um nichts außerhalb unser selbst sorgen, habe ich bereits abgelehnt. Die stoische Sicht der Dinge nimmt uns zu viel und lässt keinen Raum für die Liebe zur Familie oder zum eigenen Land, also für nichts, was das Leben wirklich lebenswert macht. Wenn wir uns dagegen tiefe Liebe bewahren, dann müssen wir auch mit Ängsten und Hoffnungen leben – und manchmal sogar mit tiefer Trauer. Wir sollten daher den Verzicht der Stoiker auf Hoffnung und Angst ablehnen. Allerdings sollten wir ihnen dahingehend recht geben, dass die beiden verschwistert sind. Wo man Angst hat, da wird man auch hoffen. Worin aber besteht denn dann der Unterschied zwischen den beiden? Die Stoiker nennen Hoffnungen „süße Freuden“, und sie wis7 Seneca, Briefe über Ethik an Lucilius, Buch 5, Brief 7–8, zitiert nach: Seneca, Philosophische Schriften, übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Manfred Rosenbach, Darmstadt 2010, III, S. 27 f. Zahlreiche weitere Beispiele für diese Ansicht von Seneca und anderen analysiere ich in: The Therapy of Desire: Theory and Practice in Hellenistic Ethics, Princeton 1994, aktualisierte Ausgabe 2009.

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sen, dass sich Angst schrecklich anfühlt. Sie verwenden im Zusammenhang mit der Hoffnung auch Metaphern wie „Erweiterung“ und „Erhebung“, während Angst mit „Verengung“ und „Schrumpfung“ einhergeht. Auch wir verwenden solche sprachlichen Bilder: Die Hoffnung hat Flügel, sie hat Federn wie ein Vogel, sie schwingt sich in die Höhe. Die Macher von Horrorfilm-Soundtracks wissen, wie man Angst auf musikalische Weise erzeugt. Die Musik der Hoffnung klingt völlig anders. (Ich denke an das zarte und schöne Musikstück The Lark Ascending [Die aufsteigende Lerche, 1914] von Vaughan Williams, das in den risikoreichen Tagen vor dem Ersten Weltkrieg Hoffnung für Europa zum Ausdruck brachte. Hoffnung gibt es in jeder Gattung der Musik.) Die beiden Emotionen unterscheiden sich also hinsichtlich der charakteristischen Gefühle, die sie begleiten, und hinsichtlich des Verhaltens der davon Betroffenen deutlich. Hoffnung wächst nach außen, Angst schreckt zurück. Aber wenn ihnen im Prinzip die gleiche Idee zugrunde liegt – nämlich, dass der ersehnte Ausgang einer Sache ungewiss ist – und wenn es nicht Wahrscheinlichkeiten sind, die den Unterschied ausmachen: Worin besteht dann der Unterschied in den Gedanken und Einstellungen einer Person, der zu diesem Unterschied des Gefühls führt (oder von ihm begleitet wird)? Es scheint, als läge ein Unterschied im Schwerpunkt der Aufmerksamkeit vor, ähnlich wie bei einem Glas, das man als halb leer oder halb voll betrachten kann. Es handelt sich um dasselbe Glas, das unterschiedlich gesehen wird. Bei der Angst liegt der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit auf dem schlechten Ausgang, der sich ergeben kann, bei der Hoffnung liegt er auf dem guten Ausgang. Ein kürzlich erschienenes Buch der Philosophin Adrienne Martin mit dem Titel How We Hope: A Moral Psychology,8 fügt dem ei8 Adrienne Martin: How We Hope: A Moral Psychology, Princeton 2013.

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nen sehr wichtigen Aspekt hinzu: Hoffnung ist laut Martin eher ein „Syndrom“ als lediglich eine Haltung oder eine Emotion: Sie umfasst Gedanken, Vorstellungen, Vorbereitungen auf Handlungen, ja sogar Handlungen selbst. Ich sehe das nicht als eine Besonderheit der Hoffnung; die Angst ist ebenfalls mit der Vorstellungskraft und dem Handeln verbunden. Welche Handlungen und Gedanken aber sind für die Hoffnung charakteristisch? Ich würde sagen, dass zur Hoffnung die Vision einer besseren Welt, die möglich wäre, gehört sowie – jedenfalls häufig – Handlungen, die sich auf das Erreichen dieses Ziels ausrichten. Einige von ihnen könnten Handlungen gleichen, die durch Angst ausgelöst werden, da die Abwehr einer schlechten Möglichkeit der Förderung einer guten ähnlich sehen kann. Wenn die Angst vor einer Gefahr verhältnismäßig und angebracht ist, führt sie zu Ausweichstrategien, die Sicherheit und Gesundheit wahrscheinlicher machen können. Doch gibt es einen Unterschied: Ein Patient, der voller Angst steckt, kann dadurch gelähmt werden; ein hoffnungsvoller Patient kann bei der Suche nach Lösungen möglicherweise über mehr Kraft verfügen. Und vielleicht entfaltet auch die Hoffnung selbst Kräfte – obwohl wir noch zu wenig darüber wissen. Der Placebo-Effekt beweist jedenfalls, dass es viele Beispiele gibt, in denen eine reale Besserung eintritt, wenn man denkt, dass es einem besser gehen wird. Die Hoffnung beruht zwar, wie ich gesagt habe, nicht auf solchen probabilistischen Annahmen, aber sie könnte ähnlich wirksam sein. Martins Gedanken über den Zusammenhang von Hoffnung und positivem Handeln sind überzeugend, doch hat Hoffnung nicht immer solch eine Wirkung. Es gibt auch eine träge und kraftlose Hoffnung, die einen sogar von nützlicher Arbeit ablenken kann. Wir alle kennen Akademiker, die in Hoffnung leben: Sie hoffen, dass sie eines Tages etwas Gutes schreiben werden; sie stellen sich vor, einen ausgezeichneten Aufsatz zu lesen, den sie verfasst haben; sie sehen ihn

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auf den Seiten des Journal of Philosophy abgedruckt und so weiter. Aber dies kann lediglich eine ausschweifende Fantasie oder sogar ein Ersatz dafür sein, tatsächlich mit der Arbeit zu beginnen. In solchen Fällen hat man recht, wenn man die Person, die ohne besondere emotionale Einstellung arbeitet, derjenigen vorzieht, die sich, statt zu arbeiten, Gefühlen und Fantasien hingibt. Wir müssen demnach etwas tun, was Martin unterlässt: Wir müssen unterscheiden zwischen dem, was man „untätige Hoffnung“ nennt, und dem, was wir als „praktische Hoffnung“ bezeichnen könnten – eine Hoffnung, die mit dem Handeln fest verbunden ist und die der Verpflichtung zum Handeln Kraft verleiht. Doch auch wenn es untätiges Hoffen tatsächlich gibt, so kann Hoffnung doch häufig äußerst tatkräftig sein: Die schönen Vorstellungsbilder und Fantasien, die mit der Hoffnung verbunden sind, können Energie freisetzen, um etwas zur Realisierung des wertvollen Ziels zu tun. Ohne solche anregenden Gedanken und Gefühle ist es schwer, das Engagement in einem schwierigen Kampf aufrechtzuerhalten. Der Unterschied zwischen Bangen und Hoffen ist klein. Es ist so, als würde man einen Schalter umlegen: Jetzt sieht das Glas halb voll aus. Diese Bilder vor unserem geistigen Auge leisten – jedenfalls häufig – wichtige praktische Arbeit; sie bereiten uns auf das Handeln zur Verwirklichung des wertvollen Ziels vor und lassen uns davon überzeugt sein, dass wir es erreichen können. Ich vermute, dass ich genau das am 15. Juni 2017 getan habe: Ich habe mir angesichts von schlechten Nachrichten, die mich wie bedrohliche Paukenschläge trafen, schöne und gute Dinge ins Bewusstsein gerufen, die mit den wertvollen Zielen konstruktiver Arbeit und der Versöhnung verbunden waren. So wurde ich gelassener und unerschütterlicher in meinem ständigen Streben nach diesen Zielen.

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Hoffnung als „praktisches Postulat“ Warum, um alles in der Welt, sollten wir hoffen? Die Welt gibt uns keinen Anlass für diese Haltung. Doch ich habe bereits gesagt, dass Hoffnung keine Frage des Abschätzens von Wahrscheinlichkeiten ist. Man hat immer die Wahl: Auf welche Bilder soll ich mich konzentrieren? Mit welchen Gedanken soll ich mich in meinem Inneren beschäftigen? Ein Grund für die Hoffnung ist der Placebo-Effekt, der sich voraussichtlich einstellen wird: Manchmal kann Hoffnung für sich allein das gute Ergebnis wahrscheinlicher machen. In der Politik gibt es allerdings keinen Placebo-Effekt: Allein die Hoffnung, dass die Person P oder die Gesetzgebung G Amerika wieder groß machen oder die eigene Beschäftigungs- oder Gesundheitssituation verbessern wird, macht diese Ergebnisse nicht wahrscheinlicher. Warum also sich nicht einfach schwarzen Gedanken überlassen, zynisch sein und mit dem Schlimmsten rechnen? So wird man weniger enttäuscht werden. Das klingt verdächtig nach der stoischen Grundhaltung: Sorge dich nicht zu sehr um ungewisse Dinge. Wir haben bereits gesagt, dass diese Haltung schlecht ist, da sie bedeutet, auf Liebe zu verzichten – sei es zu Menschen oder zu einem bestimmten Land. Konzentrierte man sich im Voraus ängstlich auf das mögliche Scheitern seiner Ehe, welche Art von Ehe würde man dann wohl führen? Ein erster Grund für Hoffnung ist also, dass sie die Liebe und das Vertrauen am Leben erhält, und Liebe ist wertvoll. Ein weiteres Argument stammt von Immanuel Kant. Kant glaubte, dass wir in diesem Leben die Pflicht haben, so zu handeln, dass wertvolle gesellschaftliche Ziele realisiert werden – Handlungen auszuführen, die es wahrscheinlicher machen, dass Menschen einander als Zwecke an sich und nicht als bloße Mittel behandeln. (Im Mittelpunkt

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seines Denkens stand das Ziel, den Weltfrieden herbeizuführen.)9 Aber Kant verstand auch und fühlte es offenbar in seinem Herzen, dass es schwierig ist, unsere Bemühungen aufrechtzuerhalten, wenn wir uns in der Welt umschauen: Wir sehen so viel schlechtes Verhalten, so viel Hass, überall Menschen, die so weit hinter dem zurückbleiben, was Menschen nach unseren Wünschen sein und tun könnten. „Ist das menschliche Geschlecht im ganzen zu lieben; oder ist es ein Gegenstand, den man mit Unwillen betrachten muss?“10 Kant sagte, dass wir nicht wissen, wie wir diese Frage beantworten sollen. (Zu den anderen Übeln, gegen die sich Kant wendet, gehören willkürliche Monarchie, der Sklavenhandel, selbstherrlicher Nationalismus sowie das Fehlen von Religions- und Redefreiheit.)11 Wenn wir jedoch wertvolle gesellschaftliche Ziele anstreben sollen, dann müssen wir uns dazu motivieren, sie zu verfolgen – und das bedeutet, uns die Hoffnung zu eigen zu machen. Daher gelangt Kant zu dem Schluss, dass wir die Hoffnung als „praktisches Postulat“ übernehmen sollten, als eine Haltung, die wir ohne ausreichende 9  Der Titel seiner letzten veröffentlichten Schrift lautet Zum ewigen Frieden (Königsberg 1795), doch er hat dieses Ziel auch in früheren Arbeiten ausführlich diskutiert. 10 Zitiert nach: Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1975, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, VI, S. 165. 11 Die Schrift Zum ewigen Frieden kritisiert den Sklavenhandel, die Kolonialherrschaft und den aggressiven Nationalismus; Kant äußert sich außerdem so eindringlich, wie es ihm zu seiner Zeit möglich war, über die große Bedeutung einer weitgehenden Rede- und Diskussionsfreiheit: Der „geheime Artikel“ eines ewigen Friedensvertrags unter den Nationen ist die Erlaubnis, dass Philosophen Werke veröffentlichen dürfen, die ihn propagieren! Seine Ideen über die Religion hat er am ausführlichsten in Über die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Königsberg 1793) dargestellt (vgl. dazu Kap. 5). Darin vertritt Kant eine rationalistische Aufklärungsreligion deistischer Prägung (die auch einem rationalistischen Judentum ähnelt, worauf sein Freund Moses Mendelssohn hingewiesen hat), aber er besteht auf völliger Freiheit in Fragen des Glaubens und der Religionsausübung.

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Gründe annehmen, um der guten Handlungen willen, welche sie möglich macht. [S]o ungewiß ich immer sein und bleiben mag, ob für das menschliche Geschlecht das Bessere zu hoffen sei, so kann dieses doch nicht der Maxime, mithin auch nicht der notwendigen Voraussetzung derselben in praktischer Absicht, daß es tunlich sei, Abbruch tun. Diese Hoffnung besserer Zeiten, ohne welche eine ernstliche Begierde, etwas dem allgemeinen Wohl Ersprießliches zu tun, nie das menschliche Herz erwärmt hätte, hat auch jederzeit auf die Bearbeitung der Wohldenkenden Einfluß gehabt […].12

Kant hat recht: Gute Werke brauchen Hoffnung. Wenn man ein Kind hat, hat man tatsächlich keinerlei Vorstellung davon, was für ein Mensch es sein oder was für ein Leben es haben wird. Aber man weiß, dass man eine gute Mutter oder ein guter Vater sein will: Folglich macht man sich die Hoffnung zu eigen – eine praktische, keine untätige Hoffnung, da man sich an die Arbeit macht, um eine gute Zukunft für sein Kind herbeizuführen. Könnte man das ohne Hoffnung tun? Kants plausible Antwort lautet, dass wir es nicht tun könnten. Auch wenn einem eine bestimmte Sache am Herzen liegt oder wenn man ein Land liebt, muss man eine Haltung der Hoffnung einnehmen, um in den Bemühungen zum Besten dieser Sache oder dieses Landes nicht nachzulassen. Denken wir an Martin Luther King, an Gandhi, an die Gründer der Vereinigten Staaten, an Nelson Mandela – sie alle waren Menschen mit Hoffnung und Weitblick, die eine herrliche Zukunft sahen und kraftvoll daran arbeiteten, sie zu verwirkli12 Immanuel Kant, a.a.O., Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, VI, S. 276.

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Hoffnung als „praktisches Postulat“

chen. Verzweiflung oder gar ein zynischer Rückzug sind Haltungen, die mit mutigem Handeln und engagierter Arbeit unvereinbar sind. Wir reden hier über Menschen, die sich für wirklich gute Zwecke engagieren. Die Hoffnung selbst ist neutral: Auch Kriminelle, Diktatoren, Steuerhinterzieher und Fanatiker jeglicher Art haben Hoffnung. Allerdings wünschen wir uns, diese Leute wären nicht so voll guter Hoffnung, da sie ihre schlechten Ziele dann möglicherweise weniger kraftvoll verfolgen würden. Ein müder, ängstlicher Hitler hätte der Welt wahrscheinlich wenig Schaden zugefügt, während der hoffnungsvolle Visionär Hitler unermesslichen Schaden angerichtet hat. Ich will sagen, dass Hoffnung für das energische Verfolgen eines schwer zu erreichenden Ziels von entscheidender Bedeutung ist. Und wenn das Ziel wirklich erstrebenswert ist und wenn wir Kant darin zustimmen, dass wir so leben sollten, dass dadurch wirklich wertvolle Ziele erreichbar werden, dann haben wir einen sehr triftigen Grund, uns die Hoffnung zu eigen zu machen. Tatsächlich ist Hoffnung eine Wahl, die man trifft, und sie ist eine praktische Gewohnheit. Jede menschliche Situation, jede Ehe, jeder berufliche Alltag und jede Freundschaft bestehen immer aus einer Mischung von guten und schlechten Dingen. Wie wir mit ihnen umgehen, hängt häufig von unserer gefühlsmäßigen Verfassung ab. Wir können uns immer sagen: „Das ist furchtbar und ich fühle mich elend“, wobei wir uns dann darauf konzentrieren, in welcher Weise dieser Teil unseres Lebens hinter unseren Idealvorstellungen zurückbleibt. Wir können jedoch auch sagen: „Das ist ziemlich gut“ und uns auf das konzentrieren, was wirklich gelungen ist. Ebenso können wir mit Blick auf die Zukunft sagen: „Das wird wahrscheinlich schiefgehen“ und der Zukunft mit Angst begegnen. Oder wir können uns sagen: „Das kann wirklich wunderbar werden.“ Dann nimmt man zur Zukunft dieser Freundschaft oder beruflichen Position eine hoffnungsvolle Haltung ein.

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Hoffnung, Liebe und die Vision einer besseren Zukunft

Hoffnung, das Gegenteil von Angst Wir haben anfangs gesagt, Hoffnung sei das Gegenteil oder die Kehrseite der Angst. Beide reagieren auf Ungewissheit, jedoch auf entgegengesetzte Weise. Die von ihnen nahegelegten Handlungen sind daher sehr unterschiedlich. Die Hoffnung dehnt sich aus und schreitet nach vorn, die Angst schreckt zurück. Hoffnung ist verletzlich, Angst schützt sich selbst. Es ist natürlich wahrscheinlich, dass alle Menschen hier und da Angst empfinden, auch inmitten der Hoffnung: Ich kann in Bezug auf meine Kinder, meine Freunde, meine Familie hoffnungsvoll sein und dennoch Angst um meine Gesundheit oder die Gesundheit eines Freundes haben. Wir reden hier also über den Unterschied zwischen Hoffnung und Angst, die auf dasselbe Ziel gerichtet sind, in diesem Fall auf die Zukunft meines Landes in seinen Bemühungen um Gerechtigkeit und Gedeihen. Auf den gleichen Ausgang der Dinge gerichtet, sind Hoffnung und Angst extrem verschieden, und der Wechsel zwischen ihnen ist wirklich wie das Umlegen eines Schalters: Man kann nicht gleichzeitig dasselbe erhoffen und befürchten (obwohl man sicherlich zwischen Zeiten der Hoffnung und der Angst hin- und herschwanken kann). Ich habe von Anfang an gesagt, dass Angst mit dem monarchischen Wunsch verbunden ist, andere zu kontrollieren, statt darauf zu vertrauen, dass sie unabhängig und sie selbst sein werden. Ebenso ist eine Person, die sich weigert, etwas für die Zukunft zu erhoffen, wahrscheinlich eine kontrollierende Person oder, wie ich es genannt habe, eine monarchische Person: Gut ist etwas nur, wenn es vollständig mit meinen Wünschen übereinstimmt, ohne Reste von Ungewissheit und Verletzlichkeit. Es gibt hier keine Hoffnung, denn ich werde niemals alles haben, was ich haben will, und ich möchte nicht von anderen unzuverlässigen Menschen oder vom Zufall abhängig sein. Der Geist der Hoffnung ist also auf geheime Weise

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Hoffnung, das Gegenteil von Angst

mit einem Geist der Achtung vor der Unabhängigkeit der anderen verbunden, mit einem Verzicht auf monarchische Ambitionen, mit einer Art Entspannung und Erweiterung des Herzens. Die Stoiker sagten, Hoffnung sei „Erweiterung“ und „Aufschwung“. Dichter verbinden Hoffnung mit einem Aufstieg in die Höhe und mit dem Fliegen. Der indische Dichterphilosoph Rabindranath Tagore sagte einmal von einer jungen Frau, die heiratete, dass sie „in das Wasser des Zufalls tritt, ohne Angst zu haben“.13 Genau das ist es, was die Hoffnung ausmacht. Wendet man diese Gedanken ins Politische, so gehört Angst sicherlich zur Demokratie, und in vielen Bereichen des demokratischen Lebens kann Angst eine nützliche Richtschnur sein, wenn ihr die richtigen Fakten zugrunde liegen. Angst vor Terrorismus, Angst vor unsicheren Autobahnen und Brücken, Angst vor dem Verlust der Freiheit selbst – all diese Ängste können nützliche Schutzmaßnahmen zur Folge haben. Eine auf die Zukunft des demokratischen Systems selbst gerichtete Angst ist allerdings wahrscheinlich gefährlich, da eine ängstliche Einstellung Menschen dazu bringt, nach einem Autokraten zu rufen, der ungewisse Ausgänge für sie kontrolliert und sie beschützt. Martin Luther King wusste, dass eine ängstliche Vorgehensweise bei Fragen, welche die Zukunft der Beziehungen zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft betreffen, genau denjenigen in die Hände spielen würde, die auf Gewalt, auf eine Art Präventivschlag setzten. Seine Betonung der Hoffnung war ein Versuch, den Schalter umzulegen und die Menschen dazu zu bewegen, sich an Bilder des guten Ausgangs zu halten, die durch friedliche Arbeit und Kooperation verwirklicht werden könnten. 13 Teil eines Gedichts, das er für seine ehemalige Schülerin Amita Sen (die verstorbene Mutter des Ökonomen Amartya Sen) geschrieben hat und das noch immer in ihrem Haus in Shantiniketan in Westbengalen hängt.

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Hoffnung, Liebe und die Vision einer besseren Zukunft

Am 15. Juni warf ich mich in das Wasser des Zufalls, indem ich mein Engagement für einige vollkommen ungewisse Dinge verstärkte und mich ihnen ganz verschrieb. Ich hatte ein Bild davon, wie die Welt sein könnte, „eine Welt, in der Männer und Frauen zusammenleben können“, wie Martin Luther King sagte. Wir müssen das jeden Tag aufs Neue tun, wenn es uns wirklich ernst ist mit den schwer zu realisierenden, hohen Zielen, die wir verfolgen. Das scheint verrückt, ist jedoch notwendig, wie Kant sagt.

Die Schwestern der Hoffnung: Glaube und Liebe Die Hoffnung ist eng mit zwei anderen emotionalen Einstellungen verknüpft: mit dem Glauben und der Liebe. Traditionellerweise denkt das Christentum diese drei zusammen, und Paulus fügt hinzu, die größte unter ihnen sei die Liebe. Martin Luther King folgt der christlichen Lehre, indem er die drei Haltungen miteinander verbindet, wenn auch nicht auf eine theistische und theologische, sondern auf eine säkulare Weise, die alle Amerikaner einbezieht.14 Warum aber soll man einen Glauben haben? Und was könnte King mit einem solchen säkularen Glauben gemeint haben, was können wir heute damit meinen? Ich habe gesagt, dass Hoffnung nicht auf Wahrscheinlichkeiten basiert und ziemlich unabhängig von einer bestimmten Auffassung davon ist, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein erhofftes Ergebnis tatsächlich eintritt. Allerdings ist sie nicht völlig unabhängig davon. Wir müssen glauben, dass eine realistische Chance besteht, die guten Dinge, die wir erhoffen, durch die Bemühungen fehlerhafter Menschen zu verwirklichen. Wenn wir glauben, 14 Hunderte von Beispielen für diese Verbindung finden sich in: Martin Luther King, Testament der Hoffnung. Letzte Reden, Aufsätze und Predigten, Gütersloh 1989 (siehe Kapitel 3).

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Die Schwestern der Hoffnung: Glaube und Liebe

es gäbe Gerechtigkeit nur im Himmel, dann hemmt das unsere Anstrengungen in diesem Leben. Martin Luther King musste sich daher gegen eine bestimmte Richtung in der christlichen Tradition wenden und seine Anhänger ermutigen, den säkularen Glauben zu haben, dass das, was sie taten – Protestmärsche abhalten –, tatsächlich Früchte tragen konnte, und zwar vorzugsweise noch zu ihren Lebzeiten. Ansonsten scheinen harte Arbeit und risikoreiches Handeln sich nicht zu lohnen. Entsprechendes gilt heute auch für uns. Wenn wir glauben, dass die demokratische Politik jegliche Kraft verloren hat und unsere Bemühungen Zeitverschwendung sind, werden wir uns die Hoffnung nicht zu eigen machen. Ein solcher Glaube muss und darf nicht utopisch oder unrealistisch sein. Wir glauben möglicherweise nicht daran, dass unser Ziel schnell erreicht werden kann, und wir denken vielleicht noch nicht einmal, dass es zu unseren Lebzeiten vollständig verwirklicht werden kann. Doch wir müssen wahrscheinlich schon davon ausgehen, dass sinnvolle Fortschritte eine plausible Möglichkeit darstellen, wenn wir hart daran arbeiten. Allerdings darf die Vorstellung des Ziels selbst nicht unrealistisch sein, etwa als eine Art vollkommene Gerechtigkeit, die Menschen gar nicht aufrechterhalten können. Solche Hoffnungen enden allzu oft in Zynismus oder Verzweiflung. Reale Menschen und echtes menschliches Leben sind das, woran wir glauben müssen; und das bedeutet, dass die durch den Glauben gestärkte Hoffnung sich auf etwas richten muss, zu dem fehlerhafte Menschen tatsächlich fähig sind und das sie wirklich erreichen können. Denken wir noch einmal an Martin Luther Kings Rede. Die Rede „Ich habe einen Traum“ ist hochfliegend, idealistisch und poetisch. Sie drückt den Glauben an ein wunderbares Ziel aus, und sie fordert jeden von uns dazu auf, sich dieses Ziel hoffnungsvoll zu eigen zu machen. Doch was sollen wir uns nach Martin Luther King eigentlich vorstellen? Nur dies: dass sich in Georgia „die Söhne ehemaliger

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Hoffnung, Liebe und die Vision einer besseren Zukunft

Sklaven und die Söhne ehemaliger Sklavenhalter als Brüder an einen Tisch setzen können“ – nicht, dass sie sich in jeder Beziehung einig sind, nicht, dass systematischer Rassismus der Vergangenheit angehören wird, nur dass sich die Menschen zusammensetzen, um zu reden. Das ist in unserer Gegenwart eine Realität geworden. Nur dies sollen wir uns vorstellen: dass in Alabama „kleine schwarze Jungen und schwarze Mädchen sich mit kleinen weißen Jungen und weißen Mädchen als Schwestern und Brüder die Hand reichen können“. Das geschieht offenbar nicht immer und überall, doch es kann geschehen und geschieht häufig, genau dort in Alabama. Und es wurde in jüngster Zeit auf dramatische Weise realisiert, als im Dezember 2017 der weiße Demokrat Doug Jones den rassistischen Kandidaten Roy Moore besiegte und in den Senat gewählt wurde – zu einem großen Teil dank der kraftvollen Unterstützung der afroamerikanischen Wähler, die erst kurz zuvor dazu ermächtig worden waren. King fordert uns dazu auf, an die Möglichkeit unscheinbarer Handlungen der Brüderlichkeit im Alltag der Menschen zu glauben, nicht an eine perfekte Welt. Die Wirklichkeit wird verschönert: Das ist es, worauf die Hoffnung setzt. Utopismus geht häufig der Verzweiflung voraus; deshalb müssen Glaube und Hoffnung Schönheit in den kleinen Dingen des Alltags finden. Ähnliches gilt für meine Gedanken vom 15. Juni. Meine Hoffnung und der damit verbundene Glaube bleiben unbestimmt, wie es für sie angemessen ist; doch die Dinge, auf die sie sich richten – ein besseres Leben für afroamerikanische Jugendliche im Süden von Chicago, zumindest einige gute Diskussionen der Gesetzgeber über das Gemeinwohl –, sind gewiss ebenso möglich wie die Veränderungen, die Martin Luther King für die Südstaaten der USA erhoffte. Das Lied von Danny Maseng bittet um einen neuen, liebevollen Geist, der dem Bau von Brücken verpflichtet ist. Das ist sicher schwierig, doch wir müssen nicht glauben, dass jeder jeden immer lieben muss –

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Die Schwestern der Hoffnung: Glaube und Liebe

nur so oft, dass sich überhaupt etwas verändert. Also: Die Hoffnung braucht den Glauben, aber der Glaube darf auf gar keinen Fall auf einem unrealistischen Menschbild basieren. Es gibt subtilere Formen des Glaubens, auf die wir in menschlichen Beziehungen angewiesen sind. Wenn der Glaube, wie Paulus sagte, „ein Nichtzweifeln an dem“ ist, „was man nicht sieht“, dann brauchen wir den Glauben jedes Mal, wenn wir uns mit einer anderen Person auf nicht gleichgültige Weise einlassen. Wir müssen diese andere Person als eine Person behandeln, die ein ebenso tiefes Innenleben, eine eigene Sicht der Dinge und ähnliche Gefühle hat wie wir selbst. Was wir streng genommen sehen, ist lediglich eine Gestalt, die sich bewegt und Laute von sich gibt. Noch bevor Automaten Wirklichkeit wurden, dachten sich Menschen Geschichten über sie aus – sie kommen sogar in der Ilias Homers vor. Man war von der Unergründlichkeit anderer Menschen fasziniert und fragte sich, wie man einen echten Menschen von einer solchen Maschine unterscheiden könnte. Die Antwort lautet, dass es keine Möglichkeit gibt, diesen Unterschied mit Sicherheit zu erkennen: Wir sind auf Glauben angewiesen. Durch Geschichten, Romane und Gedichte lernen wir, wie man einer menschlichen Gestalt wahres Menschsein zuschreibt, und wir bilden schnell die Gewohnheit aus, dies auch zu tun. Aber es geschieht nicht automatisch, und es erfordert immer eine Art Vertrauensvorschuss, der über das hinausgeht, was sich beweisen lässt. Diese Art von Glauben, der für Liebe und Freundschaft von entscheidender Bedeutung ist, benötigen wir auch im politischen Leben: Wir müssen davon ausgehen, dass unsere Gegner über die Fähigkeit zu rationaler Argumentation und eine Reihe von menschlichen Gefühlen verfügen, ob sie nun schlecht entwickelt sind und genutzt werden, oder nicht. Und was ist mit der Liebe? Liebe gibt es in zahlreichen Formen; wir müssen für unsere politischen Gegner gewiss keine romantische

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Liebe empfinden, ja noch nicht einmal die gegenseitige Sympathie, die für die Liebe unter Freunden charakteristisch ist. (Martin Luther King wiederholte das unzählige Male, um nicht missverstanden zu werden.) Doch es gibt eine Form der Liebe, die eng mit dem Glauben verbunden ist, den ich soeben beschrieben habe: Sie besteht lediglich darin, die andere Person als vollkommen menschlich anzusehen, als ein Wesen, das auf irgendeine Weise zum Guten und zur Veränderung fähig ist. Wenn man keine Liebe zu anderen Menschen hat, wird ein Leben in stoischer Distanz zur Welt oder gar in zynischer Verzweiflung mehr Sinn ergeben als ein Leben der Hoffnung mit den zahlreichen Anforderungen, die es an uns stellt. Es gibt daher so etwas wie ein Fundament der Liebe, das vorhanden sein muss, und zwar noch bevor sich Menschen für die Hoffnung interessieren. Doch wenn sich dann allmählich Gewohnheiten der Hoffnung ausbilden, so werden sie von Gewohnheiten der Liebe und einer Großzügigkeit des Geistes aufrechterhalten und erhalten diese ihrerseits aufrecht. Diese Großzügigkeit des Geistes übt sich darin, das Gute in anderen zu sehen und gute Dinge zu erwarten, statt mit dem Schlimmsten zu rechnen. Martin Luther King wies häufig darauf hin, dass diese Art der Liebe dadurch gefördert wird, dass man lernt, den Täter von der Tat zu unterscheiden. Taten können in aller Deutlichkeit verurteilt werden; doch Menschen sind immer größer als ihre Taten, fähig zu wachsen und sich zu ändern. Es dürfte schwer sein, einen politisch aktiven Menschen zu finden, der mehr menschliche Bösartigkeit erlebt hat, als Nelson Mandela. Die meiste Zeit seines Lebens wurde er durch den brutalen Rassismus des südafrikanischen Apartheid-Regimes unterdrückt; er wurde für 27 Jahre inhaftiert und verbrachte einen Großteil dieser Haftzeit unter schmachvollen Bedingungen auf Robben Island. Er erlebte viel menschliche Verderbtheit, und dennoch blieb Mandela

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Die Schwestern der Hoffnung: Glaube und Liebe

sein ganzes Leben lang ein Mann der Hoffnung, des Glaubens und der Liebe. Im Gefängnis kämpfte er gegen die Verbitterung an und für die Hoffnung, indem er über die Frage nachdachte, wie Menschen in der Lage sein könnten, für das Erreichen guter Ziele zusammenzuarbeiten. Das Nachdenken darüber wurde ihm zu einer Gewohnheit. Er vertiefte das Verständnis für seine Unterdrücker, indem er Afrikaans lernte.15 All dies führte zu einer bemerkenswerten Haltung in der Politik, die den Täter immer von der Tat unterschied und zeigte, dass Mandela an die in allen Menschen vorhandenen guten Möglichkeiten glaubte. Die Ausstrahlung seines großherzigen und hoffnungsvollen Auftretens war so groß, dass er den Menschen tatsächlich eine ähnliche Haltung entlockte, zumindest in der Mehrzahl der Fälle. Als sein Trauerzug seinen Weg durch die Straßen nahm, erinnerte sich ein weißer Polizist mit Tränen im Gesicht daran, wie Mandela bei seiner Amtseinführung 1994 durch die Straßen gefahren worden war. Sein Wagen war an einer Gruppe junger Polizisten vorbeigefahren, zu der auch der Sprecher gehörte, der sagte, dass er nur Hass und Verachtung erwartet hatte. Aber Mandela war ausgestiegen und hatte allen jungen Männern die Hand gegeben, hatte gelächelt und gesagt: „Wir vertrauen euch.“ 16 Seine Warmherzigkeit bewegte die Menschen immer wieder bis ins Innerste: den Trainer und die Spieler der Rugby-Nationalmannschaft (hervorragend dargestellt in dem Film Invictus – Unbezwungen), den Chef des südafrikanischen Sicherheitsdienstes, ja sogar den Gefängniswärter, der für ihn in seinem letzten Gefängnis, das eher 15 Zwei unverzichtbare Quellen für Mandelas Gedanken sind seine Autobiografie Der lange Weg zur Freiheit, Frankfurt am Main 1994, und ein Buch mit Interviews und Briefen, das er (nach dem stoischen Philosophen Mark Aurel) Conversations with Myself nannte (London 2010, dt. Bekenntnisse, München 2010). 16 CNN-Berichterstattung anlässlich von Mandelas Beerdigung.

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wie ein Hotel war (da mittlerweile klar war, dass er Präsident werden würde), kochen musste.17 Wenn sie spüren, dass man ihnen das Gute zutraut, versuchen die meisten Leute, dieser Erwartung gerecht zu werden. Mandelas Grundhaltung verband unsere drei Einstellungen miteinander. Während einer langen, dunklen Zeit mit ungewisser Zukunft machte er sich die Hoffnung zu eigen. Er tat dies, so scheint es, aufgrund eines unerschütterlichen Glaubens an die Vorstellung, dass sein leidgeprüftes Volk zwar keine vollkommene Gerechtigkeit verwirklichen, jedoch fähig sein würde, das Apartheid-System letztlich zu überwinden und eine auf der Beteiligung aller Menschen sämtlicher ethnischer Herkunft gegründete Demokratie zu schaffen. Im Innersten seines Wesens wurden dieser Glaube und diese Hoffnung jedoch von Mandelas beinahe heldenhafter Liebesfähigkeit getragen: davon, dass er in seinen Landsleuten, ob weiß oder schwarz, die Möglichkeiten für das Gute sehen konnte und sie im Licht dieser Möglichkeiten umarmte. Mandela ist eine heroische Figur, aber wir müssen nicht nach solch außergewöhnlicher Großherzigkeit inmitten widriger Umstände streben. Wir müssen uns nur in diese Richtung bewegen, und das können wir jetzt tun, heute – indem wir uns daran gewöhnen, Menschen, die uns unterdrücken, nicht als Monster, sondern als reale Menschen mit Gedanken und Gefühlen zu sehen, die nicht von Grund auf boshaft sind. Ich beobachte das im Kreis meiner Verwandten, in dem es große politische Unterschiede gibt. Ich mache hier eine spezielle Erfah17 Der Film basiert auf John Carlins Buch Invictus: Nelson Mandela and the Game That Made a Nation, New York 2008, mit dem ursprünglichen Titel Playing the Enemy und dem gleichen Untertitel (dt. Der Sieg des Nelson Mandela: Wie aus Feinden Freunde wurden, Freiburg i. Br. 2008). Es enthält allerdings viel mehr Material als der Film, darunter viele dieser Anekdoten; andere werden von Mandela selbst in seinen beiden autobiografischen Büchern beschrieben.

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rung: Die Tatsache, dass meine Verwandten mich im Grunde lieben, führt dazu, dass sie meine Argumente nicht auf die gleiche Weise verwerfen, wie sie üblicherweise die Argumente von anderen Anhängern der politischen Linken verwerfen. Nun ist dieser Übergang von einer liebenden Annahme zum Zuhören und Gedankenaustausch eine zerbrechliche Sache: Etwas Giftiges könnte sich in die familiäre Liebe einschleichen, sie verderben und untergraben. Ich bin sicher, dass das häufig geschieht. Doch es gibt auch die entgegengesetzte Möglichkeit, und wir können sie kultivieren: Wenn wir einen Menschen als real und potenziell liebenswert sehen, können wir zur Hoffnung auf echten Dialog gelangen. Kommen wir noch einmal auf das Thema Ekel zurück. Mandela scheint ungewöhnlich frei von körperlichem Ekel gewesen zu sein. So entsorgte er beispielsweise im Gefängnis von Robben Island freiwillig Exkremente, als einer seiner Mitgefangenen dies unerträglich fand. Diese Akzeptanz des Körpers mag ihm dabei geholfen haben, die Projektion von Ekel auf andere Menschen oder Gruppen – auch auf rassistische Weiße – zu vermeiden. Projizierter Ekel entspricht der Weigerung zu lieben und zu glauben. Er besagt: „Dies ist ein Tier, kein vollwertiger Mensch.“ Rassistische Südafrikaner sagten das ständig, und es wäre für Mandela leicht gewesen, das zu erwidern. Doch er bewahrte sich stets den Glauben, dass sich hinter den bedrohlichen Gestalten seiner Unterdrücker echte menschliche Gefühle und viele gute Absichten verbargen, trotz der schlechten Taten. Politische Hoffnung macht es erforderlich, Ekel hinter sich zu lassen. Es ist einfach, das theoretisch festzustellen, aber schwierig, es auch zu erreichen. Viele meiner Studenten empfinden für Trump und seine Anhänger lauter Abscheu, viele meiner akademischen Kollegen ebenfalls. Sie stellen sich nicht vor, dass dies Menschen mit voller Menschlichkeit sind, und sie trennen ihre Taten nicht von den Personen dahinter. Wie uns Mandela und Martin Luther King

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zeigten, können wir Rassismus absolut verurteilen, ohne Rassisten als unkorrigierbar schlechte Menschen anzusehen. Solange wir uns gegenseitig auf diese Weise betrachten, werden wir kein Vertrauen auf eine künftige positive Entwicklung haben, und wir werden nicht die Art von Liebe empfinden, die Möglichkeiten der Zusammenarbeit und Brüderlichkeit sieht. Und das bedeutet, dass wir Kants Ratschlag, uns die Hoffnung zu eigen zu machen, nicht annehmen. Welche für eine gute Staatsbürgerschaft relevanten Verhaltensweisen könnten wir bei dem Versuch fördern, den Schalter von der Angst auf die Hoffnung umzulegen – insbesondere auf eine Hoffnung, die mit konstruktiver Arbeit und dem Bauen von Brücken zwischen Menschen verbunden ist? An einer früheren Stelle dieses Kapitels habe ich mich gefragt, welche Institutionen unserer Gesellschaft mir persönlich Anlass zur Hoffnung geben. Hier stelle ich eine andere, aber verwandte Frage: Welches sind sozusagen die „Schulen“ der Hoffnung – jene Bereiche unseres gemeinschaftlichen Lebens, die wir fördern und stärken sollten, weil sie Menschen helfen, die Hoffnung zu bewahren oder sie sich zu eigen zu machen? Ein Großteil der Arbeit, die Hoffnung zu bewahren oder zu fördern, wird in Familien und in persönlichen Freundschaften vielfältiger Art geleistet. Es gibt allerdings mindestens fünf solcher „Schulen“ oder „Praktiken“, auf die wir bei unserem Versuch, die Hoffnung auf eine menschenwürdige Zukunft aufrechtzuerhalten, bauen können: die Dichtung, die Musik und die anderen Künste; das kritische Denken (in Schulen, Universitäten und vielfältigen Diskussionsgruppen von Erwachsenen); religiöse Gruppen, sofern sie Liebe und Respekt für andere Menschen praktizieren; Solidaritätsgruppen, die in gewaltfreier und dialogischer Form für Gerechtigkeit eintreten; und schließlich (oft in enger Verbindung mit letzteren Gruppen) Theorien der Gerechtigkeit, Beschreibungen des Ziels, auf das wir uns ausrichten können, um unsere Bemühungen zu verstärken. Für jede Form von

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Praktiken der Hoffnung: Die Künste

„Praxis“ gibt es sowohl schlechte als auch gute Vorbilder; sie bergen jedoch immer ein großes Potenzial für eine hoffnungsvolle Zukunft. Ich werde allerdings behaupten, dass all dies durch eine sechste „Praxis“ der Staatsbürgerschaft ergänzt werden sollte: einen nationalen Dienst, der von allen jungen Menschen zu leisten ist und sie im Rahmen einer sinnvollen Tätigkeit in engen Kontakt zu Menschen bringt, die sich von ihnen in ihrem Alter, ihrer ethnischen Zugehörigkeit und ihren wirtschaftlichen Verhältnissen unterscheiden. Ich halte diesen Dienst, so politisch unbeliebt er zweifellos ist, für ein dringendes Erfordernis.

Praktiken der Hoffnung: Die Künste Zunächst möchte ich ein Thema vertiefen, das Teil von Donald Winnicotts Beschreibung einer reifen Fürsorge und meines eigenen, gegen Ekelgefühle gerichteten Vorschlags war. Walt Whitman, den man als unseren Nationaldichter bezeichnen könnte, sagte, dass „diese Staaten“ Dichter brauchen, weil der Dichter „der Schiedsrichter des Divergierenden“ sei, „der in seinem Zeitalter und seinem Land Ausgleich schafft“ („By Blue Ontario’s Shore“, Abschnitt 10). Was Whitman damit sagen wollte, ist, dass Dichtern von Berufs wegen die Gewohnheit der Liebe zu eigen ist, und zwar in dem Sinne, wie ich sie beschrieben habe: Was immer sie sehen, sie sehen es als vollständig, real, unendlich komplex und von ihrem eigenen Ego getrennt an. Liebe in diesem Sinne ist gegen jeden Narzissmus gerichtet, entschlossen, jedem „anderen“ einen Bereich des Geheimnisses und der unendlichen Komplexität zuzugestehen, und darauf verpflichtet, alle „anderen“ selbst sprechen, handeln und sein zu lassen. Der Dichter „sieht die Ewigkeit in Männern und Frauen, er sieht Männer und Frauen nicht als Träume oder Punkte“, sagt Whitman und setzt seine Gedichte über Amerika so implizit in

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Kontrast zu anderen, bürokratischeren Formen der Praxis. Ein entlaufener Sklave ist als reale und komplex fühlende Person voll präsent. Auch der Wunsch einer Frau nach Freiheit ist präsent, ebenso wie die Sehnsucht des schwulen Mannes nach Erfüllung. Andere, für den politischen Alltag nützliche Diskurse umfassen nicht diesen Sinn für grenzenlosen Reichtum, so meint Whitman, weshalb wir, wenn wir beispielsweise nur Bücher über Wirtschaft lesen, Gefahr laufen, etwas für die Menschlichkeit der Menschen überaus Kostbares zu verlieren. Es ist natürlich möglich, dass Künstler eine verblendete oder falsche politische Vision haben. Manche von ihnen waren sexistisch, manche antisemitisch, manche rassistisch. Whitman behauptet nicht, dass sich die Kunst nicht irren kann. Er sagt stattdessen, dass der Dichter, wenn er sich auf poetische Weise mit einem Menschen auseinandersetzt, dieses geheimnisvolle Innenleben erforscht und uns dazu einlädt, dasselbe zu tun, dass es dann ein Beispiel dafür bietet, was es heißt, Bürger eines demokratischen Staates zu sein. Diesem Thema haben sich zahlreiche Schriftsteller gewidmet. Der afroamerikanische Autor Ralph Ellison hat in einem späteren einleitenden Essay zu seinem bedeutenden Roman Invisible Man diesen als „ein Floß aus Hoffnung, Beobachtung und Unterhaltung“ beschrieben, mit dem die Demokratie Amerikas „über die Hindernisse und Strudel“ hinweggleiten könne, die zwischen uns und „dem demokratischen Ideal“ lägen.18 Das Bild des Floßes ist bedeutungsschwer. Es ist eine Anspielung auf die Mississippi-Reise von Huckleberry Finn und dem Sklaven Jim, bei der jeder der beiden etwas darüber lernt, wie die Welt durch die Augen des anderen aussieht, und schließlich dahin gelangt, den anderen nicht als eine 18  Ralph Waldo Ellison, „Einführung“ zu Invisible Man, New York 1995, S. XX–XXI (dt. Der unsichtbare Mann), hier eigene Übersetzung.

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bedrohliche Figur oder einen unbelebten Körper zu sehen, sondern als ein menschliches Wesen mit Gedanken und Gefühlen. Im Wesentlichen geht es in Ellisons Roman um Sehvermögen und Blindheit. Seine Hauptfigur, ein namenloser Afroamerikaner, spricht zu Beginn des Romans die Worte: „Ich bin ein unsichtbarer Mann.“ Sodann erklärt er, dass er kein Gespenst ist. Er hat einen Körper, und man „könnte sogar sagen“, dass er „eine Seele hat“. Unsichtbar ist er einfach deshalb, „weil die Leute sich weigern, mich zu sehen“. Es ist, als sei er von Spiegeln umgeben, in denen die Menschen nur „meine Umgebung, sich selbst oder Einbildungen ihrer Fantasie sehen – alles und jedes, nur mich nicht“. Warum das so ist? „Diese Unsichtbarkeit, von der ich rede, entsteht durch eine besondere Eigenschaft der Augen derer, mit denen ich in Kontakt komme. Es ist eine Frage der Verfassung ihrer inneren Augen, jener Augen, mit denen sie durch ihre leiblichen Augen die Wirklichkeit betrachten.“ 19 Ellisons Roman spricht die inneren Augen seiner hauptsächlich weißen Leserschaft an, nicht mit Sentimentalität oder billiger Empathie, sondern mit beißender Satire und fantastisch übertriebenem Humor und all dies im Dienste eines tieferen und anspruchsvolleren Einfühlungsvermögens. Ellisons späterer Aufsatz legt nahe, dass diese Einsicht vom Handwerk des Autors nicht zu trennen ist. Lassen Sie mich nur noch ein weiteres Beispiel für dieses Thema anführen. Der israelische Schriftsteller David Grossman, Gewinner des internationalen Man Booker Prize des Jahres 2017, hielt am 11. Juni 2017 bei der Abschlussfeier der Hebräischen Universität von Jerusalem eine Rede über die Rolle des Schriftstellers in einer tief gespaltenen Gesellschaft. (Ihm wurde wie mir die Ehrendoktorwürde verliehen, und er war eingeladen worden, im Namen aller Preisträger zu sprechen. Er sprach auf Hebräisch, und seine Rede wurde 19 Ebd., S. 3.

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simultan ins Englische übersetzt.) Grossman sagte, der kreative Beruf des Schriftstellers biete „die Möglichkeit, die Unendlichkeit zu berühren“ – nicht irgendeine himmlische Unendlichkeit, sondern die unendliche Komplexität, jene „Ganzheit, die aus unendlichen Fehlern zusammengesetzt ist, mit Ecken und Kanten der Seele und des Körpers“, jenen „unendlichen Möglichkeiten und Arten des Seins, die das Leben enthält“, die jeden einzelnen Menschen charakterisieren. Er beschrieb daraufhin seinen schmerzlichen Kampf, eine seiner berühmtesten Figuren zu verstehen und darzustellen (Ora, die Heldin von Grossmans hoch gelobtem Roman Eine Frau flieht vor einer Nachricht).20 Er hatte das Gefühl, er versuchte, an ihre Seele heranzukommen, aber es gab da eine Blockade. Schließlich begriff er, dass das Problem sein eigener Wunsch nach vollständiger Kontrolle war, sein Wunsch, einem anderen Leben einen Sinn aufzuzwingen. Schließlich verstand er: „Es war nicht Ora, die sich mir unterwerfen musste, sondern ich musste mich ihr unterwerfen. Mit anderen Worten: Ich musste aufhören, der Möglichkeit zu widerstehen, dass Ora in mir war.“ Dieser Sinn für Offenheit und Verletzlichkeit angesichts der unendlichen Komplexität des Menschen ist nach Grossman ein Geschenk des Autors an seine Nation. (Sein preisgekrönter neuer Roman, Kommt ein Pferd in die Bar, ist eine weitere Tour de force der fantasievollen Kapitulation. Sein Erzähler, ein mit Schuldgefühlen beladener, zynischer Stand-up-Comedian, spricht darin mit einer vernichtenden, unerbittlichen, fast unerträglichen Stimme aus dem Inneren Grossmans – eine Satire, die noch düsterer ist als die von Ellison). 20  Eine Frau flieht vor einer Nachricht (2008) gilt allgemein als sein wichtigstes Buch. Alle Zitate aus seiner Rede stammen aus einer offiziellen englischen Übersetzung, die mir der Autor freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat; neben der englischen Fassung verfüge ich auch über die hebräische Originalversion. Eigene deutsche Übersetzung.

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An diesem Punkt wurde seine Rede politisch: Grossman verlieh seinem Gefühl Ausdruck, dass diese Offenheit für die volle Menschlichkeit eines jeden Menschen in großer Gefahr ist, im geteilten Israel unterzugehen, einem Land, das voller Angst und Furcht ist und voller Gefühle, die dieser Vision und dieser Verletzlichkeit im Weg stehen. Er setzte seine Rede in diesem Stil fort, während viele im Publikum zu buhen anfingen. Zum Schluss leistete ihm lediglich eine Handvoll Zuhörer stehende Ovationen – etwa zehn der einhundert Doktoranden, zwei der anderen elf Ehrendoktoren (ein belgischer Physiker und ich) und fast niemand aus dem übrigen Publikum. Diese Reaktion beweist jedoch nicht, dass Grossmans Werk und das Werk anderer Künstler keine Schule der Hoffnung sind. Die Hoffnung muss oft mit wenigen beginnen. Hoffen wir, dass Angst und Schuldzuweisungen in unserem eigenen Land die Hoffnung nicht so sehr in Bedrängnis gebracht haben wie im heutigen Israel. Hoffen wir es. Was wir brauchen, sind natürlich keine seichten sprachlichen Kunstwerke oder lediglich intelligente, letztlich aber simple, mitfühlende Romane wie etwa Wer die Nachtigall stört. Ellison hatte recht: Das „Floß“ muss über „Hindernisse und Strudel“ hinweggleiten, sodass es schwierig wird, oft dunkel, und es muss Protest und Unbehagen ebenso wie Tränen und Dankbarkeit provozieren. Und der Autor muss sich der Gefahr bewusst sein, von Zielen vereinnahmt zu werden, die seine Stimme verfälschen können. Ellison wurde – meines Erachtens zu Unrecht – beschuldigt, er habe sich zu einem Aushängeschild der liberalen Weißen machen lassen. Grossman wird aufpassen müssen, dass er nicht (vor allem in Europa) zum Aushängeschild derjenigen wird, die Israel nur hassen und für das Land eher das Schlimmste als das Beste wollen. Ich habe über Dichtung und Romane gesprochen. Diese wirken auf unsere inneren Augen, wenn wir uns der zurückgezogenen Lektüre widmen. Doch wir brauchen auch Erfahrungen von Kunst, bei

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denen wir uns bewegen, aktiv sind und etwas gemeinsam tun. Wenn Menschen zusammenkommen, um zu singen oder zu tanzen, um gemeinsam ein Stück aufzuführen oder auch nur, um zusammen zur CD des Musicals Hamilton zu singen, wie so viele Kinder es tun, dann atmen sie im Gleichklang und haben Körperkontakt, wodurch das Gefühl gemeinsamer Arbeit und Freude gefördert wird. Auch öffentliche Skulpturen und Werke der bildenden Kunst können uns dazu bringen, gemeinsam etwas Schönes zu erschaffen oder gemeinsam ein Gefühl für die komische Verletzlichkeit von Körpern zu entwickeln. Menschen, die den Millennium Park in Chicago besuchen, können durch das Wasser des Pools zwischen den beiden großen Bildschirmen von Jaume Plensas Crown Fountain laufen. Auf den Bildschirmen sind die riesigen Gesichter von Chicagoer Bürgern verschiedenen Alters und unterschiedlicher ethnischer Herkunft zu sehen, die sich auf komische Weise in Zeitlupe bewegen – und man wartet gespannt auf den Moment, in dem ein kühler Wasserstrahl scheinbar aus dem Mund eines jeden Gesichts spritzt und die Menschen im Pool nass macht. Wasser ist in unserer Geschichte der Trennung von Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft eine kraftvolle Metapher. Die Einladung, Spaß daran zu haben, aus dem Gesicht eines Menschen anderer ethnischer Zugehörigkeit oder eines anderen Geschlechts mit einem Wasserstrahl bespritzt zu werden, schließt uns alle in die Vermischung von Menschen verschiedener ethnischer Herkunft mit ein, und sie schafft Bilder davon, wie unsere erbitterten Spaltungen vielleicht überwunden werden können. Einige Nationen finden durch ein Gefühl der ethnischen Homogenität zusammen. In einer Ära der Migration ist dies eine gefährliche Art und Weise, in einem Land das Gefühl von Verbundenheit herzustellen. Unsere Nation hat sich stets als ein Land verstanden, dessen Bevölkerung aus vielen verschiedenen Gruppen besteht. Doch es war noch nie einfach, Angst und Misstrauen zu überwinden, um

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Praktiken der Hoffnung: Der Geist des Sokrates

zu echter Zusammenarbeit zu kommen; die Künste geben uns die Möglichkeit, die Vielfalt von Menschen als etwas Freudiges, Lustiges, Tragisches und Entzückendes sehen zu können und nicht als ein furchtbares Schicksal, vor dem man fliehen sollte.

Praktiken der Hoffnung: Der Geist des Sokrates Sokrates sagte, die Demokratie sei ein edles, aber träges „Ross“ und er sei wie eine „Hornisse“, die es mit seinem Stachel aufwecke.21 Sein Stachel war die Forderung nach einer rigorosen Selbstkritik. Wie heute hatten die meisten Menschen auch damals viele im Prinzip gute Überzeugungen; darauf stützte sich die gesamte Methode von Sokrates. Doch die Demokraten in Athen waren – ebenso wie die modernen Amerikaner – nachlässig, voreilig und anfällig für übertriebene Prahlerei, und außerdem setzten sie Beschimpfungen an die Stelle von Argumenten. Das Ergebnis war und ist bis heute, dass die Menschen nicht wirklich wissen, was sie eigentlich glauben: Sie haben sich einfach nicht die Zeit genommen, das zu klären. Die von Sokrates befragten Menschen zeichneten sich außerdem durch schlechte Formen der Beziehungspflege aus, die mit ihrer beschränkten Selbsterkenntnis zu tun hatten. Sie ließen sich aufeinander ein wie auf einen Wettkampf mit Prahlerei und versuchten, Prestige zu erlangen, indem sie ihre „Gegner“ in der Debatte be21 Platon, Apologie des Sokrates, 30e. (Diese Randnummern aus einer in der Renaissance erstellten Ausgabe erscheinen in nahezu allen Übersetzungen und geben den Referenzen Einheitlichkeit.) Wie in Kapitel 1 beziehe ich mich mit „Sokrates“ auf die Figur in einer Sammlung von Platons Dialogen, die man als die „frühen“ bezeichnet. Man geht davon aus, dass diese Dialoge die historische Praxis von Sokrates wiedergeben, der im Gegensatz zu Platon ein Demokrat war, allerdings dem kritischen Denken eine größere Rolle zugestehen wollte, als es den Athenern damals lieb war. (Alle Ämter, mit Ausnahme von Generalsposten, wurden durch das Los besetzt.)

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siegten. Sie redeten viel und hörten wenig zu. Ihre Stimmen waren laut, wütend, übertrieben selbstbewusst. Es ist kein Zufall, dass der spätere stoische Philosoph Mark Aurel den politischen Diskurs mit einem sportlichen Wettkampf verglich, bei dem die Leute ihre eigene Mannschaft anfeuerten, aber niemand an der Wahrheit interessiert war. Sokratisches Denken ist eine Praxis der Hoffnung, weil es eine Welt des Zuhörens, der leisen Stimmen und des gemeinsamen Respekts vor der Vernunft schafft. Die Teilnehmer haben bereits ein gemeinsames Ziel: Sie wollen die besten Argumente finden. Laches und Nicias wollen wirklich verstehen, was Mut ist und sich nicht nur eine reißerische Story über Mut ausdenken. Ich muss immer wieder an einen jungen Studenten denken, den ich Anfang der 1990er-Jahre über obligatorische geisteswissenschaftliche Seminare befragte, als ich mein Buch Cultivating Humanity schrieb. Dieser Student – den ich kennenlernte, weil er an der Rezeption in meinem Fitnessstudio arbeitete – besuchte eine örtliche Hochschule für Wirtschaft, die von allen Studenten verlangte, einige Seminare in Philosophie zu besuchen. Er sagte mir, er finde es wirklich faszinierend, dass man ihn auffordere, die Argumente von politischen Reden und Zeitungsartikeln zu rekonstruieren, um Fehlschlüsse und mehrdeutige oder falsche Prämissen aufzudecken. Aber die größte Überraschung war es für ihn, dass im Kurs Streitgespräche über aktuelle Themen abgehalten wurden und er die Aufgabe bekam, gegen die Todesstrafe zu argumentieren, obwohl er sie eigentlich befürwortete. Er erklärte mir, er habe bis dahin keine Ahnung gehabt, dass man Argumente für eine Position vorbringen kann, die man nicht vertritt. (Was für ein schlechtes Zeugnis für unsere Medienkultur, dass ihm diese Idee niemals gekommen war, obwohl er ein sehr kluger junger Mann ist!) Außerdem ergänzte er, dass dieser Versuch, zu sagen, was die andere Seite sagen würde, seine gesamte Einstellung zu politischen

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Diskussionen verändert habe. Jetzt ist es viel wahrscheinlicher, dass er die „andere Seite“ respektiert und auf ihre Argumente neugierig ist. Wenn die Argumente analysiert werden, kann sich herausstellen, dass beide Seiten einige Prämissen teilen, und wir können verstehen, wo genau die Unterschiede liegen. Unsere derzeitige Medienkultur ist dem sokratischen Denken gegenüber noch feindseliger gesonnen als die Talk-Radio-Kultur von 1994. In sozialen Medien werden knappe Meinungsäußerungen ausgearbeiteten komplexen Argumenten vorgezogen. Der Ton ist oft schrill, als ob die Leute schreien, um überhaupt gehört zu werden. Man hört einander nicht mehr zu: Alles dreht sich nur noch um das aufgeblähte Ego des Sprechers. Die Aufmerksamkeitsspanne, die bereits durch viele Aspekte moderner Technologie (das ständige Überprüfen des Smartphones auf neueste Meldungen, das Abgelenktsein beim Gehen und Fahren) verkürzt ist, wird noch kürzer, da die sozialen Medien den Gedanken nahelegen, dass alles, was erwähnenswert ist, sofort gesagt und in einem Akt der Selbstdarstellung herausposaunt werden kann. Wo also finden wir dann noch sokratische Praktiken der Hoffnung? Sie gedeihen in der Regel noch in den kultur- und geisteswissenschaftlichen Fächern unserer höheren Schulen und Universitäten. Ich befürchte allerdings, dass man nicht mehr auf unbequeme Fragestellungen eingehen und die Seminarräume vom Leben der restlichen Gesellschaft isolieren will, sodass es im Unterricht nur noch um die Bestätigung von Ideen geht, die den Studierenden bereits vertraut sind. Diese Forderung nach Vertrautheit statt Herausforderung und Kritik kommt in erster Linie von den Studierenden, und man sollte sich ihr widersetzen. Ich unterrichte gemeinsam mit meinem äußerst konservativen Kollegen, dem bekannten Blogger Will Baude, einem der besten jungen Verfassungsrechtler, um ein Beispiel für ein sokratisches Modell der Auseinandersetzung

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zu geben, bei dem politische Gegensätze wirklich überbrückt werden. Natürlich sollte es im Seminar zivilisiert zugehen und in der Diskussion darf niemand verunglimpft oder schlecht gemacht werden. Aber das bedeutet nicht, dass unbequeme Ideen zum Schweigen gebracht werden. Die philosophischen Fakultäten praktizieren im Großen und Ganzen nach wie vor die sokratischen Tugenden, und einige unserer führenden Philosophieverlage haben die Herausgabe von Büchern angeregt, in denen die verschiedenen Seiten schwieriger Themen für Studierende auf attraktive und zivilisierte Weise dargestellt werden. Neben anderen derartigen Büchern findet man etwa eine wertvolle Diskussion über den Klimawandel in Debating Climate Ethics von Stephen M. Gardiner und (meinem Kollegen) David A. Weisbach (New York 2016); um die Grenzen religiöser Ausnahmen von Nichtdiskriminierungsgesetzen geht es in Debating Religious Liberty and Discrimination von Ryan T. Anderson, John Corvino und Sherif Girgis (New York 2017); weitere Beispiele sind Debating Same-Sex Marriage von John Corvino und Maggie Gallagher (New York 2012) und Libertarianism: For and Against von Craig Duncan und Tibor Machan (Lanham 2005). Wir sollten diesen Autoren dafür dankbar sein, dass sie ihre Zeit und oft auch ihr Streben nach beruflichem Prestige (das man durch das Zusammenstellen von Lehrbüchern nicht erhöht) geopfert haben, um der Gesellschaft diesen Dienst zu erweisen. Zwei Personen, die (als Beispiele unter vielen anderen) besondere Erwähnung verdienen, sind der Philosoph John Corvino und sein Pendant David Novak. Corvino ist ein schwuler Mann und hervorragender Philosoph, der durch das ganze Land reist und mit ausgezeichnetem Humor, Witz und erstklassigen Argumenten mit konservativen Gegnern diskutiert; sein Gegenspieler ist Novak, ein bedeutender Gelehrter und Fachmann für jüdisches Denken, der gegen gleichgeschlechtliche Ehen und andere liberale Ziele fröhlich

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in den Kampf zieht, und dies häufig in Kontexten, in denen er äußerst isoliert und beim Publikum unbeliebt ist – dies tut er ebenfalls mit großem Humor, Höflichkeit und Freundlichkeit. Akademiker mit fester Stelle müssen so etwas nicht tun, und sie werden dafür nur durch die Befriedigung belohnt, etwas für die Hoffnung getan zu haben. Wo können Amerikaner dem sokratischen Denken außerhalb der Universitäten begegnen? In Europa zieht es viele Erwachsene in philosophische Cafés und zu öffentlichen Vorträgen. Es überrascht mich immer wieder, dass ich in den USA bei einem Gespräch über ein Buch etwa 30 Zuhörer habe, in den Niederlanden jedoch regelmäßig 400 oder 500 – und in den Niederlanden zahlen die Leute Eintritt! Amerikanische Erwachsene suchen begierig nach Weiterbildungskursen in den Geisteswissenschaften, und öffentliche Bibliotheken und Buchhandlungen (die sich in Zeiten von Amazon neu erfinden) befriedigen zunehmend unser Verlangen nach persönlichen Gesprächen. Aber Amerika ist ein weitläufiges Land, was es schwer macht, in direkten Kontakt zu treten, und ich wünsche mir, dass wir Strategien entwickeln können, mit denen auch Menschen außerhalb der Großstädte in Dialoge einbezogen werden. (Die Isolation alternder Menschen, die nicht mehr selbst Auto fahren können, ist ein großer Teil dieses Problems. Hoffen wir, dass in der Ära der selbstfahrenden Autos diese Isolation bald überwunden werden kann.) Die besten Versuche, diesem Problem zu begegnen, haben Universitäten und Hochschulen selbst unternommen, indem sie Vorlesungsreihen und Seminare für ihre jeweiligen Gemeinden ausgearbeitet haben. Die Grand Valley State University in Michigan bietet zum Beispiel eine hervorragende, auf Diskussionen angelegte Vortragsreihe an, in der man gegen einen bescheidenen Beitrag außerdem die Möglichkeit hat, den Redner persönlich kennenzulernen und mit ihm zu sprechen. Viele staatliche Universitäten haben

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ähnliche Programme entwickelt, um die „Stadt“ auf den Campus zu holen. Dies ist kein Luxus, sondern ein Teil der Aufgabe, eine verantwortungsvolle Bildungsinstitution in einer Demokratie zu sein. Ich möchte hinzufügen, dass zu den vielen Veranstaltungen, die von Kirchen und Synagogen angeboten werden, auch philosophische und auf Diskussionen ausgerichtete Veranstaltungen gehören. Im Mai hielt ich einen Vortrag in der Old St. Patrick’s Church in Chicago, einem schönen romanischen Bauwerk, eines der wenigen Chicagoer Gebäude aus der Zeit vor dem Großfeuer von 1871. Die 1846 gegründete Kirche, eine Bastion der irisch-amerikanischen Kultur, bietet heute Veranstaltungen aller Art einen Ort, darunter auch einer aktiven Gruppe schwuler und lesbischer Katholiken sowie einer Gruppe für Menschen in jüdisch-katholischen Ehen. Unter anderem ist diese Kirche auch der Philosophie verpflichtet, und sie zieht mit philosophischen Diskussionen ein breites Publikum an. Meine Synagoge tut dasselbe mit Veranstaltungen, bei denen abwechselnd Texte vorgelesen werden und musiziert wird und mit anderen philosophischen Veranstaltungen. Dies bringt mich zu meinem nächsten Thema.

Praktiken der Hoffnung: Religion Religionen unterstützen die Menschen in vielerlei Hinsicht in den Krisen des Lebens und sind oft Quellen der Hoffnung – nicht nur der Hoffnung auf Erlösung, soweit die Religion von Erlösung spricht, sondern auch der Hoffnung für das diesseitige gemeinschaftliche Leben der Menschen. Ich möchte noch einmal auf Immanuel Kant zurückkommen, der sagte, dass wir alle die Pflicht haben, uns die Hoffnung zu eigen zu machen, damit unser an der Liebe zu anderen, der Moral und der Gerechtigkeit orientiertes Handeln nicht zum Erliegen kommt. Ferner hielt es Kant für schwirig, das Engagement

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für diese Ziele allein aufrechtzuerhalten; in einer Gruppe mit Gleichgesinnten ist es einfacher. Daher erklärte er auch, dass jeder die Pflicht habe, einer solchen Gruppe beizutreten. Er nahm an, diese Gruppe müsse eine Kirche sein, die durch irgendeine Art von Glauben an eine höhere Macht vereint sei. Als Mann des 18. Jahrhunderts war Kant kein Freund der traditionellen Religion. Seiner Ansicht nach führte sie allzu oft zu Zerwürfnissen unter den Menschen und zu unmoralischem Handeln. Daher dachte er, dass zu einer angemessenen Form von Kirche ein ausreichendes Maß an sokratisch-kritischer Diskussion gehören müsse, um Menschen davon abzuhalten, Autoritätspersonen blind zu folgen, und sie dazu zu bringen, selbst zu denken. Aber er war auch der Meinung, dass Hoffnung am besten durch eine angemessene Form von Kirche gefördert würde und nicht etwa durch staatsbürgerliche oder gesellschaftliche Organisationen. Kant vertrat meines Erachtens einige falsche Auffassungen. Er bestand zu sehr auf religiösem Rationalismus und verachtete die vielen Möglichkeiten, wie Menschen über Intuition, Gefühl und Glaube guten Prinzipien verpflichtet sein können. Und obwohl er zu Recht die großen Gefahren erkannte, die von religiösen Autoritäten ausgehen können, war es falsch, sie vollkommen abzulehnen. Es gibt Situationen in dieser Welt, in denen Menschen religiöse Oberhäupter brauchen. Auch hinsichtlich der Verbindung von Kirche und Staat irrte er sich: Er war der Ansicht, die Regierung sollte zwar vollständige Religionsfreiheit zugestehen, jedoch nur ebenjene Art von Religion unterstützen, die ihr selbst zusagte, was in unserer Demokratie inakzeptabel wäre. Dennoch scheint Kants Grundthese richtig zu sein. Hoffnung und engagiertes Handeln sind für den Einzelnen schwer durchzuhalten, und religiöse Gruppierungen sind ein vorrangiger Weg, auf dem Menschen zu hoffnungsvoller Gemeinschaft finden. Es ist kein Zu-

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fall, dass meine Schilderung des Lebens in unserer Stadt sich auf die Rolle der afroamerikanischen Kirchen konzentrierte, als es um die Aufrechterhaltung von Hoffnung in Zeiten der konfliktreichen ethnischen Spaltung ging. Ja, könnten wir uns überhaupt die liebevolle, nicht auf Vergeltung sinnende Reaktion jener Mitglieder der Kirche von South Carolina auf die Morde des weißen Rassisten Dylan Roof überhaupt vorstellen, ohne dass wir an Menschen denken, die regelmäßig gemeinsam den Gottesdienst besuchen und deren Streben nach bedingungsloser Liebe durch die Predigten eines Pfarrers unterstützt wird? In meiner eigenen Synagoge – einer demografisch zwar ganz anders gearteten, privilegierteren Gruppe, die jedoch mit all den Konflikten und Kämpfen des menschlichen Lebens, des Lebens in Chicago und des Lebens in Amerika konfrontiert ist – spielte für viele ihrer Mitglieder der Zusammenhalt in der Gruppe eine Schlüsselrolle, um Hoffnung aufrechterhalten zu können. So weit sollten wir Kant folgen: Wir sollten uns immer fragen, wohin uns unsere Religion führt und ob dieses Ziel mit der Liebe zu allen Menschen und mit einer annehmbaren Zukunft unseres Landes vereinbar ist. Doch die Liebe folgt häufig rituellen Pfaden, die in der Erinnerung ein tiefes Echo finden, daher sollten wir nur bis zu einem gewissen Grad sokratisch und skeptisch sein. Philosophen verachten manchmal die Religion und religiöse Menschen. Das ist einer der Gründe, aus denen sie in unserem zutiefst religiösen Land nur wenig öffentlichen Einfluss haben. Unsere Mitbürger, die sich einer Religion anschließen, sind aber deshalb weder dumm noch schlecht. Wir müssen uns wünschen – und dies scheint ebenso wahrscheinlich zu sein wie alles erwünschte Gute sonst auch –, dass jeder Mensch, der eine Religion praktiziert, dort die Elemente einer Hoffnung findet, die umfassend und voller Liebe ist, und nicht einer Hoffnung, die spaltet und nach Vergeltung ruft. Die Philosophie zeigt uns, wie wir unsere Feinde respektieren

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können; sie zeigt uns jedoch nicht, wie wir sie lieben können. Dafür brauchen wir die Künste, und viele von uns brauchen ihre Religion.

Praktiken der Hoffnung: Protestbewegungen Menschen, die auf Gerechtigkeit hoffen und wünschen, dass diese Hoffnung ihnen bei ihrem Streben nach Gerechtigkeit Kraft verleiht, brauchen in der Regel etwas Praxisbezogeneres als Religion (auch wenn es eine Folge ihrer Religion sein kann). Sie brauchen diesseitige politische Bewegungen, die ihnen ein Gefühl der Solidarität beim Kämpfen für eine gute Sache geben. Martin Luther King wusste, dass eine der großen Gefahren für die Afroamerikaner im rassistischen Amerika die Verzweiflung war. Seine Bewegung rief diesen Menschen zu: Schließt euch uns an, um unseren Traum zu verwirklichen. Die Frauenbewegung, die Schwulenbewegung: Sie alle haben Menschen, die vorher isoliert waren, im Namen einer Reihe von Zielen zusammengeführt und auf diese Weise Hoffnung geweckt. Martin Luther King wusste genau, dass politische Bewegungen viele Formen annehmen können. Seine hoffnungsvolle und gewaltfreie Bewegung kämpfte gegen die auf Vergeltung sinnende und potenziell gewalttätige Bewegung von Malcolm X. In ähnlicher Weise kämpfte Gandhi gegen die von der hinduistischen Rechten vertretenen Ideen gewalttätiger Vergeltung. Er wurde von einem Mitglied dieser Bewegung ermordet. Der Attentäter glaubte, Gandhi habe die männlichen Hindus durch seinen Widerstand gegen vergeltende Gewalt ihrer Männlichkeit beraubt. Ähnliche Auseinandersetzungen gab es in den meisten großen Protestbewegungen. Wie im Fall der Religion gilt auch hier: Wir sollten nicht die Gattung unterstützen, sondern die hoffnungs- und versöhnungsorientierte Spezies. Ich denke, dass die „Black Lives Matter“-Bewegung größtenteils Martin Luther King gefolgt ist; es gibt jedoch Teile, die eher

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zu Malcolm X tendieren, und diese fördern weder Hoffnung noch Versöhnung. Ebenso finden sich in der Frauenbewegung neben eher sokratischen und integrativen Stimmen auch solche, die andere Feministinnen verteufeln und ihnen die Möglichkeit nehmen wollen, ihre Position darzulegen. In der Lesben- und Schwulenbewegung gab es Momente des Hasses, aber im Großen und Ganzen war sie beispielhaft in Bezug auf ihre unerschütterliche Verteidigung der Liebe gegen den Hass. Die öffentliche Feier der Liebe nach dem Massaker von Orlando, als Hunderte von Schwulen, Lesben, Freunden und Unterstützern in Orlando auf die Straße gingen, um der Toten zu gedenken und um zu zeigen, dass Liebe stärker ist als Hass, ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie die Zugehörigkeit zu einer Gruppe die Hoffnung stärken kann. Einige Bewegungen setzen sich landesweit dafür ein, Gerechtigkeit zu verwirklichen; viele andere sind lokal begrenzt. Das Organisieren von Basisbewegungen ist vielleicht eine der größten und umfassendsten politischen Ressourcen unseres Landes, wenn es darum geht, Angst und Verzweiflung zu bekämpfen und der Hoffnung Nahrung zu geben.

Praktiken der Hoffnung: Theorien der Gerechtigkeit Menschen, deren Hoffnung der Zukunft ihres Landes gilt, bedürfen einer Vision ihres angestrebten Ziels. Es ist jedoch sinnvoll, über mehr als eine rein poetische Vision zu verfügen. Dies ist ein weiterer Kontext, in dem die Philosophie dem Leben in einer Demokratie dienen kann. Seit Platon die Politeia verfasst hat, haben Philosophen Theorien über die gerechte Gesellschaft aufgestellt. Darin liefern sie detaillierte Argumente für diese Theorien und zeigen, wie sich aus Annahmen, welche die meisten Menschen zu akzeptieren scheinen,

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ein bestimmtes Bild der guten oder gerechten Gesellschaft und ihrer Gesetze ergibt. Mittlerweise gibt es eine große Vielfalt solcher Theorien, die zahlreichen verschiedenen Typen angehören: kommunitaristische, marxistische, autoritäre sowie liberal-sozialdemokratische und liberalistische. Obwohl es immer viel von Theorien zu lernen gibt, die radikal anders sind, brauchen wir gegenwärtig eine Theorie, die eine Form von freiheitlicher Demokratie unterstützt – „freiheitlich“ im Sinne von Rede-, Presse- und Religionsfreiheit und „Demokratie“ im Sinne einer Herrschaft des Volkes, obwohl dies natürlich eine bedeutende Rolle der Gerichte und der Verwaltungsorgane des Staates nicht ausschließt, die dem Volk eher indirekt Rechenschaft schuldig sind. Nun gibt es allerdings viele verschiedene Visionen eines gerechten, freiheitlich-demokratischen Staates, und eine der Möglichkeiten, die eine geisteswissenschaftliche Bildung bietet, besteht darin, diese Theorien zu verstehen, zu analysieren und mit anderen Studierenden zu debattieren. Wir sollten mehr öffentliche Räume schaffen, in denen auch Erwachsene solche Diskussionen führen können. Die verschiedenen Theorien unterscheiden sich in Bezug auf viele Fragen erheblich: Welche Rechte kommen allen Bürgern zu? (Gehören hierzu auch soziale und wirtschaftliche Rechte wie das Recht auf eine Gesundheitsfürsorge?) Welches ist die richtige Auffassung von Eigentum und Umverteilung? (Welche Steuerforderungen sind zum Beispiel mit der angemessenen Achtung vor dem Eigentum vereinbar?) Und wie genau sind Religions-, Rede- und Pressefreiheit zu definieren? (Fragen, die unser oberster Gerichtshof ständig diskutiert.) Eine von mehreren Theorien zur Definition von Gerechtigkeit ist der „Fähigkeitenansatz“, an dem ich seit Jahren arbeite und zu dessen Förderung und weiterer Erforschung ich eine internationale Vereinigung mitgegründet habe. Die Kernidee dieses Ansatzes besteht darin, grundlegende menschliche Rechte im Sinne von „Fähig-

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keiten“ oder realen Möglichkeiten zu definieren, über die alle Bürger bis zu einem akzeptablen Schwellenwert verfügen können müssen, wenn die betreffende Gesellschaft als minimal gerecht gelten soll. Ich versuche, eine Liste von zehn zentralen „Fähigkeiten“ zu rechtfertigen, die in jeder Gesellschaft konkreter definiert werden können. Dies ist der aktuelle Stand der Liste:

Die zentralen Fähigkeiten 1. Leben: In der Lage sein, ein Menschenleben normaler Länge zu führen; nicht vorzeitig sterben müssen oder nicht, bevor das Leben so eingeschränkt ist, dass es nicht mehr lebenswert ist. 2. Körperliche Gesundheit: In der Lage sein, sich guter Gesundheit zu erfreuen, einschließlich der mit Sexualität und Fortpflanzung zusammenhängenden Aspekte; angemessen ernährt sein; eine angemessene Unterkunft haben. 3. Körperliche Integrität: Sich von einem Ort zu einem anderen frei bewegen können; vor gewalttätigen Übergriffen einschließlich sexueller Übergriffe und häuslicher Gewalt geschützt sein; Möglichkeiten zur sexuellen Befriedigung und zur Wahl in Fragen der Fortpflanzung haben. 4. Sinne, Fantasie und Denken: In der Lage sein, die Sinne zu benutzen, sich Dinge vorzustellen, zu denken und zu argumentieren – und dies auf eine „wahrhaft menschliche“ Weise, die durch eine angemessene Bildung gegeben ist, welche die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben sowie mathematische und naturwissenschaftliche Grundkenntnisse einschließt, aber auch darüber hinausgeht. In der Lage sein, Fantasie und Den-

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Die zentralen Fähigkeiten

ken selbstbestimmt anzuwenden, um religiöse, literarische, musikalische und andere Werke und Ereignisse zu erleben und selbst gestalten zu können. In der Lage sein, seinen Verstand auf eine Weise zu gebrauchen, die durch die Garantie der Meinungsfreiheit in Bezug auf politische und künstlerische Sprache sowie der Freiheit der Religionsausübung geschützt wird. In der Lage sein, angenehme Erfahrungen zu machen und unnötige Schmerzen zu vermeiden. 5. Emotionen: In der Lage sein, Beziehungen zu Dingen und Personen außerhalb unserer selbst zu haben, diejenigen zu lieben, die uns lieben und sich um sie zu sorgen, ihre Abwesenheit zu betrauern, ganz allgemein zu lieben, zu trauern, Sehnsucht, Dankbarkeit und berechtigten Ärger zu empfinden; keine Beeinträchtigung der eigenen emotionalen Entwicklung durch Furcht und Angst erleiden müssen. (Diese Fähigkeit zu unterstützen, bedeutet, Formen der menschlichen Zusammenkunft zu unterstützen, von denen sich zeigen lässt, dass sie für die Entwicklung des Einzelnen bedeutend sind.) 6. Praktische Vernunft: In der Lage sein, sich eine Vorstellung vom Guten zu machen und die Planung des eigenen Lebens kritisch zu hinterfragen. (Dies umfasst den Schutz der Gewissens- und Religionsfreiheit.) 7. Zugehörigkeit: a. In der Lage sein, mit anderen zu leben und in Beziehung zu ihnen zu treten, andere Menschen anzuerkennen und Sorge für sie zu tragen sowie sich an verschiedenen Formen sozialer Interaktion zu beteiligen; sich die Situation eines anderen vorstellen können. (Der Schutz dieser Fähigkeit bedeutet, In-

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stitutionen zu schützen, die solche Formen der Zugehörigkeit entstehen lassen und fördern, sowie außerdem die Freiheit zu schützen, sich zu versammeln und die eigene politische Meinung zum Ausdruck zu bringen.) b. Über die sozialen Grundlagen von Selbstachtung verfügen und nicht gedemütigt werden; als ein Wesen mit eigener Würde behandelt werden, dessen Wert dem der anderen entspricht. (Dies beinhaltet Bestimmungen gegen die Diskriminierung aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, sexueller Orientierung, Kaste, Religion oder nationaler Herkunft.) 8. Andere Arten: Mit Sorge für und in Beziehung zu Tieren, Pflanzen und der Welt der Natur leben können. 9.  Spielen: In der Lage sein zu lachen, zu spielen oder Freizeitaktivitäten zu genießen. 10. Kontrolle über die eigene Umwelt: a. Politisch: In der Lage sein, effektiv an politischen Entscheidungen teilzunehmen, die das eigene Leben betreffen; das Recht auf politische Partizipation haben; den Schutz der Rede- und Versammlungsfreiheit genießen. b. Materiell: In der Lage sein, Eigentum (sowohl Land als auch bewegliche Güter) zu besitzen und Eigentumsrechte auf der gleichen Grundlage wie andere zu haben; das Recht haben, sich gleichberechtigt mit anderen um einen Arbeitsplatz zu bewerben; vor ungerechtfertigter Durchsuchung und Festnahme geschützt sein. In der Arbeitswelt als Mensch arbeiten, praktische Vernunft ausüben und mit anderen Arbeitnehmern sinnvolle Beziehungen in gegenseitiger Anerkennung eingehen können.

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Die zentralen Fähigkeiten

Der Schwerpunkt liegt eher auf Fähigkeiten als auf deren Ausübung, da diese Theorie der Wahlfreiheit große Bedeutung beimisst. Menschen können aus religiösen Gründen fasten, wenn reichlich Nahrung vorhanden ist, aber es gibt einen großen Unterschied zwischen Fasten und Verhungern. Ich denke, diese Theorie ist ein guter Ausgangspunkt für Verfassungsgrundsätze. Bei einigen Themen – insbesondere in Bezug auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen –, so habe ich argumentiert, ist sie brauchbarer als die berühmte und äußerst einflussreiche Theorie von John Rawls, die in den meisten Bereichen der Justiz Beachtung findet.22 Wenn ich also hoffe, so hoffe ich nicht einfach auf Gerechtigkeit, sondern ich konzentriere mich dabei auf eine Theorie, die ich im Laufe der Jahre ausgearbeitet habe und die konkrete Implikationen für das hat, was wir tun sollten. Und ich arbeite daran, sie auch zu verwirklichen. Auch wenn die meisten Menschen offensichtlich keine Berufsphilosophen sind, sind alle Menschen meines Erachtens gut beraten, die theoretischen Alternativen zu studieren und zu diskutieren, welches Ziel der Politik sie für das beste halten. Viele Amerikaner stimmen meiner Ansicht gegenwärtig nicht zu, da sie der Form europäischer Sozialdemokratie zu ähnlich erscheint, zum Beispiel in der Auffassung, dass die Gesundheitsversorgung ein gesellschaftliches Grundrecht ist. Es ist bemerkenswert, dass in Deutschland, wo ich öfters zu Besuch bin, sogar führende konservative Politiker 22 Vergleiche hierzu mein Buch Die Grenzen der Gerechtigkeit: Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit, Frankfurt am Main 2010. Zuvor hatte ich den Ansatz in dem Buch Women and Human Development: The Capabilities Approach, New York 2000, entwickelt. Eine kurze allgemeine Einführung in diesen Komplex, die auch die Beiträge anderer Philosophen beschreibt, enthält mein Buch Creating Capabilities: The Human Development Approach, Cambridge 2012. Zu der Ansicht von Rawls vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1979.

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eine großzügige Unterstützung nicht nur in der Gesundheitsversorgung, sondern auch in der Betreuung von Behinderten und im Bereich der Bildung fordern. Es gehört zu ihrem Selbstverständnis als Christdemokraten, sich für Schwache und für Familien einzusetzen. Als ich einmal gebeten wurde, einen Unterausschuss des deutschen Bundestages in Fragen der Entwicklungspolitik zu beraten, stellte ich fest, dass sowohl die politische Linke als auch die Konservativen auf einem hohen Niveau und sehr differenziert über soziale Normen nachgedacht hatten. Den Konservativen ging es womöglich stärker um eine tiefere philosophische Orientierung, und man stellte mir Fragen zu Thomas von Aquin und anderen Texten zur normativen politischen Theorie. Wenn Deutschland heute zu den stärker gegen Angst resistenten und politisch ausgewogeneren Nationen in Europa gehört, wie ich glaube, dann ist der Grund dafür vielleicht, dass sich die Politiker beider Seiten tatsächlich zusammensetzen und gemeinsam nachdenken, statt sich höhnisch zu verleumden. Ich meine, es wäre eine gute Sache, wenn alle Amerikaner – nicht nur Amtsträger, sondern auch Wähler – selbstkritisch für sich herausfinden würden, was sie tatsächlich über bestimmte Dinge denken, bevor sie sich in eine konfliktreiche und schwierige politische Debatte begeben. Richtet sich die Hoffnung auf ein einigermaßen konkretes Bild einer gerechten Gesellschaft, das man bereit ist, mit guten Argumenten gegen alternative Auffassungen zu verteidigen, so ist es leichter, sich auf vernünftige Weise für Maßnahmen zu engagieren, die dieses Ziel herbeiführen sollen; und es ist dann auch leichter zu erkennen, wann Kompromisse mit der Opposition vernünftig sind und wann sie etwas gefährden, das für die Gerechtigkeit unverzichtbar ist.

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Die Forderung nach einer nationalen Dienstpflicht

Die Forderung nach einer nationalen Dienstpflicht Bisher habe ich über verschiedene Möglichkeiten des Lebens in Amerika gesprochen, wie es sie gegenwärtig schon gibt, obwohl sie widerstandsfähiger werden könnten und sollten. Doch es gibt ein großes Problem in den USA, auf das diese „Lösungen“ nicht eingehen: Wir leben voneinander getrennt. Die meisten Amerikaner – zumindest außerhalb der großen urbanen Zentren und oft selbst dort – wachsen in Vierteln auf, die nach ethnischer Herkunft und sozialer Schicht getrennt sind. Schwule und Lesben sind jetzt tatsächlich überall im amerikanischen Leben sichtbar, weil diese Identität die Grenzen überschreitet; dasselbe gilt für Menschen mit Behinderungen. Ich bin überzeugt davon, dass der tägliche Kontakt mit Menschen verschiedener ethnischer und sozialer Gruppen ein wichtiger Grund für die Fortschritte ist, die beide Bewegungen gemacht haben. Bei der Trennung nach ethnischer Zugehörigkeit und sozialer Schicht lässt sich hingegen kein vergleichbarer Fortschritt feststellen. (Die die sexuelle Orientierung betreffenden Probleme sind einzigartig komplex, da es hier um intimen Kontakt geht, doch erfordert die volle Gleichberechtigung eine Veränderung in den Familien, welche einen großen Platz im Leben der meisten Menschen einnehmen.) Ein zweites großes Problem ist, dass es den Amerikanern an einem Sinn für das Gemeinwohl fehlt. Sie denken allzu oft narzisstisch: Was ist gut für mich und meine Familie? Das ist nichts Neues: Jede Demokratie, ob in der Antike oder der Gegenwart, musste gegen das beschränkte Vorstellungsvermögen und die Selbstzentriertheit der Menschen kämpfen, um zu einer sinnvollen Vorstellung von ihrem gemeinschaftlichen Ziel zu gelangen. Einige haben dies durch Kriege getan, aber offensichtlich ist das nicht

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der attraktivste Weg, um zusammenzukommen oder das Gefühl zu entwickeln, dass wir alle voneinander abhängen. Die beiden Probleme gehören zusammen: Weil die Menschen sich nicht über die Grenzen der großen Trennungsgräben hinweg begegnen, fällt es ihnen schwer, über ihre jeweilige soziale und ethnische Gruppe hinauszudenken und ein gemeinsames Ziel vor Augen zu haben. Ich glaube, dass eine nationale Dienstpflicht für alle Jugendlichen diese beiden Probleme auf attraktive Weise lösen würde und sogar notwendig ist. Nach dem Vorbild der Wehr- oder alternativen Zivildienstpflicht in Deutschland,23 jedoch rein zivil und für alle jungen Menschen, würde mein Programm junge Menschen vorzugsweise für drei Jahre verpflichten und ihnen Aufgaben übertragen, die in ganz Amerika dringend übernommen werden müssen: in der Altenpflege, der Kinderbetreuung, beim Erhalt der Infrastruktur. Hierbei sollten sie stets in Regionen entsendet werden, die von ihren eigenen in geografischer und wirtschaftlicher Hinsicht verschieden sind. Ich habe keinen detaillierten Plan hierfür. Irgendein geeignetes Unternehmen müsste einen solchen Plan ausarbeiten, und da er zurzeit politisch nicht gewollt ist, besteht die erste Aufgabe zunächst darin, die Menschen dafür zu begeistern. Der Grundgedanke, dass wir unserem Land einen Teil unserer Arbeit und unserer Zeit schulden, ist sehr überzeugend, wenn er auf anschauliche Weise ausformuliert wird. Dieser Gedanke hat seine Wurzeln in allen großen Religionen und in der säkularen Ethik. In einer Zeit schrumpfender staatlicher Organe fehlt es uns schlichtweg an Arbeitskräften, um viele wichtige Dienstleistungen erbringen zu können. 23 Der Zivildienst in Deutschland wurde 2011 zusammen mit der Wehrpflicht abgeschafft; er wurde stets als Alternative zum Wehrdienst gesehen und war daher nur für Männer obligatorisch.

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Warum soll man sich um Hoffnung bemühen?

Den Hintergrund meines Vorschlags bildet die Idee, dass junge Leute die Vielfalt der Menschen in ihrem Land kennenlernen würden, ähnlich wie Soldaten im Zweiten Weltkrieg während ihres Dienstes in anderen Ländern menschliche Vielfalt kennengelernt haben – nur würden die jungen Leute in dem von mir vorgeschlagenen Fall versuchen zu helfen und nicht zu töten. Wenn sie diese wertvollen Aufgaben übernehmen würden, würden sie ihr Land auch auf neue Art und Weise kennenlernen. Stigmatisierungen basieren in der Regel auf mangelndem Zusammenhalt; deshalb ist die Stigmatisierung von Schwulen und Lesben mit dem öffentlichen Bekenntnis junger Menschen im ganzen Land zu ihrer sexuellen Orientierung so stark zurückgegangen. Nun müssen auf gleiche Weise auch noch diejenigen Stigmatisierungen überwunden werden, die sich auf die ethnische Herkunft, die soziale Schicht oder gar auf das Alter beziehen. Eine nationale Dienstpflicht wird normalerweise nicht diskutiert, weil man annimmt, dass sie politisch nicht durchsetzbar ist. Wird aber nicht darüber geredet, dann kann sie gewiss nicht verwirklicht werden. Daher habe ich hier meine Karten offengelegt.

Warum soll man sich um Hoffnung bemühen? Hoffnungsvolle Menschen sind ständig von Stoizismus und Zynismus bedroht. Der Zyniker spottet über die romantischen Träume der Hoffenden.24 Der Stoiker ist zwar weniger offen feindselig, zieht sich aber aus dem Wasser des Lebens auf eine abgeschottete Insel zurück. Stoiker versprechen uns inneren Frieden, eine stolze Unabhängigkeit und Überlegenheit gegenüber den Schicksals24 Hier verstehe ich das Wort Zyniker im heutigen Sinne. Die Zyniker der griechischen und römischen Antike standen den Stoikern in ihren philosophischen Ideen nahe.

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schlägen des Lebens. Zyniker sagen, die Welt ist ohnehin nicht viel wert. An dieser Stelle komme ich noch einmal auf Cicero zurück. Sein letztes Werk, De officiis (dt. Von den Pflichten), verfasste er, während er auf dem Land von Haus zu Haus zog und versuchte, den von Marcus Antonius geschickten Attentätern auszuweichen, da bekannt war, dass er die prorepublikanische, antikaiserliche Verschwörung von Brutus und Cassius unterstützt hatte. (Die Attentäter fanden ihn kurz darauf und schnitten ihm die Kehle durch.) In diesem Werk, das sich an seinen Sohn richtet (der kein sonderlich beeindruckender junger Mann war; Ciceros intelligentere Tochter war kurz zuvor im Wochenbett gestorben), verteidigt er das Leben eines engagierten Staatsdieners mit seinen Hoffnungen und seinen energischen Bemühungen für die Zukunft. Er räumt ein, dass ein abgeklärtes Leben ohne Hoffnung von „den edelsten und angesehensten Philosophen gewählt wurde, aber auch von bestimmten strengen und ernsten Männern, die das Verhalten des Volkes oder seiner Anführer unerträglich fanden“ (I, 69). (Das klingt mir allzu vertraut.) Was sie anstrebten, so fährt er fort, ist eindeutig attraktiv: „Sie wünschten sich, was Könige sich wünschen: nichts zu bedürfen, niemandem gehorchen zu müssen und ihre Freiheit genießen zu können – die sie definieren als ‚tun können, was man will.‘“ Cicero ist nachsichtig gegenüber diesen Leuten. Er sagt, dass es verständlich ist, wenn Menschen, die krank sind oder die sich auch nur einem wichtigen intellektuellen Projekt verschrieben haben, sich von der Politik abwenden. (Sein bester Freund Atticus war ein solcher Mensch, der zu den Dingen der Welt auf Distanz ging, sodass Cicero eine Möglichkeit schaffen musste, seine Liebe zu seinem Freund zum Ausdruck zu bringen.) Und Cicero kennt den Schmerz, der entstehen kann, wenn man aus Verbundenheit mit einer Sache hofft und bangt: In seinen Briefen schildert er immer wieder seine

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Warum soll man sich um Hoffnung bemühen?

große Verärgerung und tiefe Trauer über das, was vor seinen Augen mit der Römischen Republik geschieht. Ein distanziertes Leben ist „einfacher und sicherer“. Dennoch, so fährt Cicero fort, machen solche Menschen sich dessen schuldig, was man als „passive Ungerechtigkeit“ bezeichnen könnte: eine Ungerechtigkeit, die darin besteht, nicht mit aller Kraft nach Gerechtigkeit zu streben, selbst wenn das sehr schwer ist. Außerdem mangele es ihnen an Edelmut und Geistesgröße, und sie würden nicht dem Gemeinwohl dienen. Tatsächlich stimmt Cicero mit Kant überein: Wir sollten dem Gemeinwohl dienen. Daher sollten wir Menschen werden, die die Kraft dazu haben, keine Mimosen oder Philosophen der empfindlichen, weltfremden Art. Während seines gesamten, allzu kurzen Lebens25 rang Cicero immer wieder mit eigener Angst, Müdigkeit, Magenbeschwerden und der Versuchung, der Verzweiflung zu erliegen – doch aus solchem Ringen ging er immer wieder mit neuer Hoffnung für den engagierten Einsatz für das Gemeinwohl hervor. Das hat zum Teil mit Gerechtigkeit zu tun, doch wenn wir lesen, was er über Rom zu sagen hat, dann verstehen wir, dass es dabei vor allem um Liebe geht.

25 Als er getötet wurde, war er 63 Jahre alt, doch sein Werk Über das Alter macht deutlich, dass der Prototyp des alternden Menschen aus seiner Sicht etwa 80 Jahre alt ist. Zu Atticus (der drei Jahre älter war) bemerkte er, dass sie zwar beide noch nicht alt seien, das Alter allerdings bald erreichen würden. Vgl. den Abschnitt über Cicero in: Martha Nussbaum und Saul Levmore, Älter werden, Darmstadt 2018.

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Danksagung

An erster Stelle möchte ich meinen Kollegen an der juristischen Fakultät der Universität Chicago danken, die so großzügig waren und für einen Workshop der Fakultät Teile dieses Manuskripts gelesen haben. In ihren Kommentaren haben sie mir herausfordernde Fragen gestellt. Außer Saul Levmore, dem ich dieses Buch widme, möchte ich Douglas Baird, LaToya Baldwin Clark, Nicolas Delon, Dhammika Dharmapala, Justin Driver, Tom Ginsburg, Todd Henderson, Aziz Huq, Alison LaCroix, Brian Leiter, Richard McAdams, David Weisbach und Laura Weinrib meinen Dank sagen. Von den Diskussionen über Neid und das Musical Hamilton, die ich mit meinem Kollegen Will Baude geführt habe, habe ich enorm profitiert. (Er ist einige Tage vor dem genannten Fakultäts-Workshop erstmals Vater geworden; anderenfalls hätte er sicher auch auf dieser Liste gestanden.) Ich habe zurzeit drei Forschungsassistenten; alle sind Doktoranden des philosophischen Instituts (einer von ihnen studiert auch Jura), und sie haben mir mit wunderbaren Kommentaren weitergeholfen: Molly Brown, Emily Dupree und Nethanel Lipshitz. Zuvor hatte ich zwei ausgezeichnete Forschungsassistenten von der juristischen Fakultät: Scott Henney und Sophia Schloen. Dank

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Danksagung

gebührt auch den Studierenden in meinen Seminaren der letzten Jahre – insbesondere zu den Themen Emotionen, Vernunft und Recht –, in denen wir viele lebhafte Diskussionen über all die hier diskutierten Emotionen geführt haben, sowie den Studierenden der Seminare über feministische Philosophie, in denen ich regelmäßig meine Interpretation von Rousseaus Émile vorstelle und in diesem Jahr einige der Ideen aus dem Kapitel über Frauenfeindlichkeit erprobt habe. Das Kapitel über Neid, dessen Entwurf ich als Erstes geschrieben habe, habe ich bei einem Workshop für die Dozenten und Studierenden der Brown University vorgestellt, und ich erhielt bei dieser Gelegenheit hilfreiche Kommentare von David Estlund, Sharon Krause und Charles Larmore. Kapitel 3 entspricht in etwa meiner Jefferson-Vorlesung, die ich im Mai 2017 für das National Endowment for the Humanities (Nationale Stiftung für die Geisteswissenschaften) gehalten habe, und ich danke dieser Stiftung sowie William Adams, ihrem damaligen Vorsitzenden, für herausfordernde Gespräche (auch wenn angesichts der Formalitäten und der zeitlichen Einschränkungen im Kennedy Center, wo die Veranstaltung stattfand, nach dem Vortrag selbst leider keine Fragen gestattet waren). Zusätzlich zu einigen der oben genannten Kollegen haben Ro Khanna und Charles Nussbaum einen Entwurf der Jefferson-Vorlesung gelesen und kommentiert. Nathaniel Levmore war in vielen Gesprächen über Angst, Zorn und Neid ein hervorragender Partner ohne jegliche falsche Ehrerbietung. Eliot Levmore ermöglichte es mir, auf einem Treffen der Studentenvereinigung von Yale Zorn und Schuldgefühle zu diskutieren; dort traf ich auf eine politisch vielfältige, freundliche Versammlung intellektueller Provokateure von herausragender Intelligenz. Meine Tochter Rachel Nussbaum Wichert mit ihrem charakteristischen Witz und ihrer Scharfsinnigkeit erörterte mit mir die Situation unseres Landes. Ihr Mann Gerd Wichert ergänzte die-

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se Gespräche um die Perspektive eines Immigranten, der sich dem Leben in den USA trotz aller Probleme mit Liebe verschrieben hat. Der Weg zum Schreiben dieses Buches begann in Australien, auf Scott Stephens’ Blog über Religion und Kultur. Er veröffentlichte meine anfänglichen Gedanken, während ich noch in Japan war. Meine Agentin Sydelle Kramer hat mich während des gesamten Publikationsprozesses auf vielfältige Weise unterstützt, und Jon Karp war ein äußerst kenntnisreicher und zugänglicher Lektor.

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Ich freue mich sehr, dass die deutsche Ausgabe von The Monarchy of Fear erscheinen kann. Ich bin der wbg äußerst dankbar für ihre langjährige Unterstützung meiner Arbeit und für die ausgezeichnete Qualität ihrer Übersetzungen und ihres Lektorats. In nicht allzu ferner Vergangenheit fand ich, wann immer mir die Verrücktheit der Politik in den USA keine Ruhe ließ, Trost im Blick auf Europa, wo eine vernünftige und humane Sorge um die Bevölkerung sicher verankert schien. Die europäische Sozialdemokratie schien mir in der Tat beispielhaft für die politischen Ziele zu sein, für die ich in der Arbeit an meinem Fähigkeitenansatz eingetreten bin (oder ihnen zumindest nahe zu kommen). Die USA hat sich hingegen selbst von dem viel weniger umfassenden sozialen Sicherheitsnetz, das während des New Deal aufgebaut wurde, in kurzer Zeit verabschiedet. Dass im Grunde anständige Menschen (so möchte ich zumindest über meine Mitbürger denken können) auch noch stolz darauf waren, selbst das bescheidene nationale Gesundheitsprogramm zu demontieren, das Präsident Obama aufgebaut hat, schien mir sowohl irrational als auch falsch zu sein. In Europa schien

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ein solcher Rückzug aus einem Programm der staatlichen Gesundheitsversorgung undenkbar – und das ist bis heute so geblieben. Vor allem Nachkriegsdeutschland erscheint mir seit Langem als eine von Vernunft geleitete und anständige Nation, in der die Unterstützung menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten eine nationale Verpflichtung darstellt, sowohl unter Konservativen als auch unter Sozialdemokraten. Dieses Urteil trifft, selbst im heutigen Deutschland, auch in Bezug auf die Einrichtungen der Sozialfürsorge zu. Bei einem kürzlichen Besuch in Würzburg, wo ich einen Vortrag auf einer Konferenz über Bildung und Behinderung hielt, hat es mich beeindruckt, dass die Landtagspräsidentin und auch der bayerische Kultusminister an dieser akademischen Konferenz teilnahmen. Beide stellten, unter Hinweis auf sorgfältig ausgearbeitete Regierungsprogramme, dar, wie in Bayern das Leben von Kindern und Erwachsenen mit Behinderungen unterstützt wird. Ich sagte dem Kultusminister, seine Einstellung scheine eine ganz andere zu sein als die der Republikaner in meinem Land. Er antwortete mit einem Lachen und sagte: „Oh, das sind ja auch keine Konservativen.“ Es ist immer noch spürbar, dass konservativ zu sein in Deutschland bedeutet, dass man etwas bewahren, d. h. schützen will. Doch die gegenwärtige europäische Politik zeigt alarmierende Anzeichen eines Rückzugs von den Positionen humaner Sozialdemokratie und eines Rückgangs der Anzahl von Politikern, die sich als menschenfreundliche Konservative verstehen – und zwar unter dem Einfluss von Angst und der politischen Mobilisierung von Angst. In beinahe allen europäischen Ländern hat eine populistische extreme Rechte bedeutende Fortschritte erzielt. Ungarn und Polen gleiten vielleicht am gefährlichsten in eine rechtspopulistische, autoritäre

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Politik ab, doch man sieht, dass ähnliche rechtspopulistische Bewegungen in Italien, Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Schweden, Dänemark und Finnland an Boden gewinnen oder sich zumindest behaupten können – und nunmehr auch in Deutschland, seit den besorgniserregenden Ereignissen des vergangenen Jahres, dem Vormarsch der Alternative für Deutschland und der Schwächung der Koalition. Großbritannien hat unter einem ähnlichen populistischen Einfluss zwischenzeitlich den weiteren Schritt unternommen, der EU gänzlich den Rücken zu kehren, wenn auch mit einem höchst ungewissen Ausgang. In all diesen Fällen hat die Angst vor Einwanderern, insbesondere vor muslimischen Einwanderern, eine große Rolle gespielt und wurde von populistischen Politikern, die die Angst der Menschen vor Veränderungen ausnutzen, für ihre Ziele instrumentalisiert. Es ist die Republik Irland mit ihren jüngsten Volksabstimmungen über Abtreibung und die Ehe für alle und mit ihrem homosexuellen Regierungschef Leo Varadkar, Sohn eines hinduistischen Vaters, die diesem Trend am stärksten trotzt und einen Ton des Pluralismus und der Toleranz angeschlagen hat, was manchen überrascht haben mag. Bei diesen Abstimmungen wurde die Politik der Angst mit überwältigenden Mehrheiten in die Schranken verwiesen. Wie im Vorwort beschrieben ist, ist mein Buch aus Anlass der amerikanischen Präsidentschaftswahl des Jahres 2016 entstanden. Aber sein Ziel war stets viel weiter gefasst: Es ging mir darum, über die emotionalen Kräfte nachzudenken, die die Demokratie in der Gegenwart und in früheren Epochen destabilisieren bzw. destabilisierten, und eine Zeit der Selbstprüfung einzufordern, die sich auf die Rolle und Struktur der politischen Emotionen konzentriert. Auch wenn ich gelegentlich auf aktuelle Beispiele aus den USA zurückgreife, wende ich mich häufiger dem antiken Griechenland und Rom

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zu, da ich davon überzeugt bin, dass wir über die uns bedrängenden Probleme besser nachdenken können, wenn wir von unserer eigenen politischen Situation einen Schritt zurücktreten. Meine Kernthese lautet, dass Angst ein Gefühl ist, das die Demokratie mehr als jedes andere bedroht. Die Angst ist eine in evolutionärer Hinsicht primitive Emotion, und sie spielt bereits in der frühen Entwicklung des Einzelnen eine Rolle. Sie behält ihre mächtige archaische Struktur bis in das Erwachsenenalter hinein bei und wird noch mächtiger, wenn sie durch das wachsende Bewusstsein unserer Sterblichkeit verstärkt wird. Angst ist kein Gefühl, das wir unterdrücken sollten, da sie uns zu vielen sinnvollen Entscheidungen führen kann. Sie ist jedoch durch politische Rhetorik sehr leicht manipulierbar und neigt dazu, Verhältnisse, in denen es um Vertrauen und Gegenseitigkeit geht – und diese machen den Kern demokratischer Selbstverwaltung aus – zu destabilisieren. Ich behaupte, dass Angst zu einem Königreich passt, in dem ein absoluter Herrscher sie wach halten muss. Für die Demokratie stellt sie jedoch eine große Gefahr dar. Außerdem durchdringt und verdirbt die Angst auch andere Gefühle wie Zorn, Ekel und Neid und macht sie zu einem politischen Gift. Ich habe diesen anderen Emotionen je ein eigenes Kapitel gewidmet und anschließend gezeigt, wie sie eine Verbindung miteinander eingehen und so eine Politik der Frauenfeindlichkeit nähren. Im letzten Kapitel habe ich die entgegengesetzte Emotion der Hoffnung untersucht und nach ihren Quellen geforscht. Mein Argument bezieht sich auf alle Demokratien, doch es gibt zahlreiche Unterschiede zwischen Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika, die darauf hindeuten, dass die europäischen Natio-

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nen noch größere Schwierigkeiten als die Vereinigten Staaten haben könnten, die Politik der Angst und des Zorns zu besiegen, obwohl sich die USA gegenwärtig in ernsthaften Schwierigkeiten befinden. Ein Unterschied ist bereits die reine Größe. Die Vereinigten Staaten mit ihrer enormen Landmasse und ihren erheblichen geografischen Unterschieden sind nie homogen, und es wäre überraschend, sie von einer einzigen Stimmungslage erfasst zu sehen. (Natürlich ist Europa als Ganzes keineswegs homogen, jedes Land hat jedoch ein gewisses Maß an innerer Homogenität, und die politischen Entwicklungen, die ich verfolge, finden auf der nationalen Ebene statt.) In der Tat wurde Amerika nicht, zumindest noch nicht, von einer einheitlichen Stimmungslage erfasst, und im Vorfeld der Zwischenwahlen des Jahres 2018, bei denen wir ein hohes Maß an neuer politischer Energie aus den verschiedensten Quellen beobachten können, scheint es unwahrscheinlich, dass dies geschehen wird – zumindest im Moment. Mit der Größe hängt ein noch wichtigeres Bollwerk zusammen: der Föderalismus. Was die Regierung der USA unternimmt, ist wichtig, aber es ist nur ein Teil dessen, was das Alltagsklima der meisten Menschen beeinflusst. Die Bundesstaaten und Städte haben eine große Macht. Der größte Teil unseres Strafrechts wird von den Parlamenten der einzelnen Bundesstaaten festgelegt und variiert von Staat zu Staat. Auch die Einwanderungspolitik wird häufig auf bundesstaatlicher oder sogar lokaler Ebene geregelt, wie die Verärgerung unseres Präsidenten angesichts der „Zufluchtsstädte“ (zu denen auch meine Heimatstadt Chicago gehört) beweist. (Eine Zufluchtsstadt ist eine Stadt, deren örtliche Regierung mit den Einwanderungsbehörden des Bundes nur begrenzt zusammenarbeitet.) Auch die Umweltpolitik wird häufig von den Bundesstaaten festgelegt. Sie können Vorschriften erlassen, die über die von der

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Bundesregierung geforderten hinausgehen. So zeichnet sich Kalifornien beispielsweise zurzeit als ökologisch fortschrittlicher Staat aus, der aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke einen erheblichen Einfluss auf andere Staaten hat. Bis zu einem gewissen Grad führt Kalifornien sogar eigene Verhandlungen mit ausländischen Staaten. Es ist bekannt, dass die Drogenpolitik auf bundesstaatlicher Ebene festgelegt wird. Von einer Gruppe von Staaten, allen voran Washington und Colorado, wird Marihuana nach und nach entkriminalisiert. Andere Staaten können sich auf die Erfahrungen aus diesen Experimenten beziehen. Es gibt noch viele weitere Beispiele für Föderalismus. Eine weitere Form von geteilter Souveränität ist ebenfalls bedeutsam: die Gewaltenteilung. Im politischen System der USA muss die Exekutive nicht derselben Partei angehören wie die Legislative, und auch in den beiden Häusern des Kongresses können verschiedene Parteien die Mehrheit haben. Viele Demokraten hoffen, dass sie nach den Zwischenwahlen im November 2018 die Kontrolle über zumindest eines der Häuser des Kongresses übernehmen können, um einige Initiativen des Weißen Hauses zu stoppen. Und da die politischen Repräsentanten wirklich ihre lokalen Bezirke oder Bundesstaaten vertreten und nicht von der Parteiorganisation in diesen Bezirk entsandt werden, weichen sie ohnehin häufig von der landesweiten Parteilinie ab, so dass selbst eine Mehrheitspartei ihren Willen nicht immer durchsetzen kann; dies zeigt sich beispielsweise daran, dass es den Republikanern nicht gelungen ist, das Gesetz zur bezahlbaren Pflege wieder aufzuheben. (In Europa bestehen ähnliche Spaltungen aufgrund der gängigen Praxis von Koalitionsregierungen.) Und dann gibt es noch die unabhängige Justiz, die in Verbindung mit einer geschriebenen Verfassung, den Grundsätzen der Bindung an

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Vorentscheidungen und der gerichtlichen Überprüfung der Gesetze häufig die Gesetze, die eine herrschende Partei vorschlägt, blockiert. Die gegenwärtige Regierung hat es mehrfach erlebt, dass ihre Initiativen zurückgenommen wurden, sowohl auf der Ebene der Berufung als auch auf der des Obersten Gerichtshofs. Dies geschah in Zusammenhängen, die von der Einwanderung (bei der das „Muslimverbot“ erheblich umformuliert werden musste, ehe es akzeptiert wurde, und das dann nur dank des ungewöhnlichen Respekts, der jedem Präsidenten in Fragen der nationalen Sicherheit gezollt wird), bis zu dem Versuch reichen, „Zufluchtsstädten“ Bundesmittel vorzuenthalten, der sich bislang als erfolglos erwiesen hat. Alle Bundesrichter werden auf Lebenszeit berufen, so dass sie normalerweise keine vorübergehenden politischen Stimmungen widerspiegeln. Die Justiz ist nur so unabhängig wie ihre Mitglieder, und gegenwärtig drohen massive Bemühungen um die schnelle Ernennung und Bestätigung sowohl von Berufungsrichtern als auch eines zweiten Richters für den Obersten Gerichtshof angesichts der Berufung der Bundesrichter auf Lebenszeit den Republikanern eine enorme Macht in diesem Bereich zu verschaffen, die sich für viele Jahre in die Zukunft erstrecken wird. (Hiermit ließen sich die derzeitigen Bemühungen der polnischen Regierung um die Entmachtung des Verfassungsgerichts vergleichen.) Diese Gefahr hat einige Rechtsgelehrte veranlasst, ein Ruhestandsalter für Bundesrichter zu empfehlen, andere haben diesbezüglich beklagt, dass ein Richter am Obersten Gerichtshof nunmehr von einer einfachen Mehrheit der Senatoren bestätigt werden kann, was bislang nicht der Fall war. (Früher waren sechzig von hundert Stimmen hierzu erforderlich). Dennoch war diese Beratungsinstanz in der Vergangenheit eine recht gute, wenn auch unvollkommene Verteidigung der Bürgerrechte und ein Bollwerk gegen unkluge Veränderungen.

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In den Ländern Europas ist die Souveränität normalerweise nur in einem begrenzteren Umfang aufgeteilt, so dass sie sich als anfälliger für Strömungen der Angst als die USA erweisen können. Wachsamkeit und ein tieferes Verständnis politischer Emotionen, wie sie dieses Buch bietet, sind daher in Europa noch dringender notwendig. Ein großer politischer Unterschied ist schwieriger zu beurteilen: das parlamentarische System im Gegensatz zu einer direkt gewählten Exekutive. Gewiss nutzte Trump, um die Macht zu erlangen, die Angst auf eine Weise aus, die sich auf unser System stützte, bei dem die Bevölkerung für den Kandidaten stimmt, nicht für seine Partei. Das legt die Vermutung nahe, dass wir mit der Rhetorik der Angst ein größeres Problem haben könnten als Europa. Anderseits haben wir keine oder nur wenige kleine Parteien: Unser Wahlsystem hat zur Dominanz von zwei großen Parteien geführt, die beide große interne Unterschiede aufweisen – auch weil die Wähler, selbst bei Kongresswahlen, für eine Person und nicht für eine Partei stimmen, so dass Unterschiede, die ansonsten zur Bildung einer kleineren Partei hätten führen können, häufig zu regionalen und individuellen Unterschieden innerhalb einer großen Partei werden. Es besteht kein Zweifel daran, dass die europäische Politik zurzeit durch das Eintreten rechtsextremer Kandidaten in Koalitionsregierungen stark belastet wird: Kandidaten, die in einer der größeren Parteien nur schwer einen Platz hätten erobern können. Sie können sich erlauben, eine grenzenlos schrille und lautstarke Politik zu betreiben, weil sie nicht an eine inklusivere Parteiplattform gebunden sind. Und wenn sie einmal genug Unterstützung bekommen, um Teil einer Regierungskoalition zu werden, können sie am Ende einen großen Einfluss ausüben, vor allem in einer nur knapp gespaltenen Wählerschaft. Die beiden Systeme sind den Gefahren, die durch Angst und Zorn entstehen, demnach auf unterschiedliche Weise ausgesetzt;

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doch ist Europa durch die extreme Politik eines kleinen Teils der Wählerschaft gegenwärtig sicherlich ernsthaft bedroht. Schließlich komme ich auf einen Unterschied zwischen den USA und Europa zurück, den ich bereits 2011 in meinem Buch Die neue religiöse Intoleranz erörtert habe. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren von Anfang an eine Nation von Dissidenten und Außenseitern. Die meisten der frühen Kolonisten flohen auf der Suche nach Religionsfreiheit aus Europa. Sie waren Puritaner, Katholiken, Presbyterianer, Quäker, Juden, Baptisten, Mennoniten usw. und sie fanden auf dem neuen Kontinent zahlreiche indianische Ureinwohner mit einer Vielzahl von Bräuchen und Religionen vor. Außerdem war der Protestantismus der Siedler oft recht antinomistisch, und statt um überkommene Autorität ging es ihnen eher um Authentizität. Zur Zeit der Staatsgründung gehörten nur siebzehn Prozent der Bürger einer anerkannten Kirche an, obwohl die meisten tief religiös waren. Das bedeutete, dass sich von Anfang an nicht plausibel behaupten ließ, die Grundlage der neuen Nation sei ein gemeinsames religiöses Erbe. Stattdessen versuchte man, die Zugehörigkeit unter Berufung auf die politischen Gründungsprinzipien zu definieren. Ähnliches ließe sich über Kanada, Australien, Neuseeland und Indien sagen. Die Länder Europas, die aufgrund ihrer stärkeren Homogenität (wie sehr dies auch erfordern mochte, die Präsenz von Minderheiten zu ignorieren) leichter die Fiktion eines gemeinsamen religiösen Erbes aufrechterhalten konnten, tendierten dazu, die nationale Identität eher im Sinne dieser vermeintlichen moralisch-religiösen Gemeinsamkeit als im Sinne politischer Prinzipien zu definieren. Immigration stellte für alle Nationen schon immer eine Herausforderung dar. Doch die USA haben sich zumindest ein (teilweise der Wahrheit entsprechendes) Selbstbild zu eigen gemacht, nach dem wir eine Nation von Einwanderern sind, die allen eine Hoffnung gibt, die

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zu uns kommen und bereit sind, für unsere politischen Prinzipien einzutreten. (Natürlich ignoriert dieses Selbstbild völlig die Existenz der indianischen Ureinwohner, die mit großer Grausamkeit behandelt wurden.) Besonders umstritten war die Einwanderung, wenn rassistische Emotionen am Werk waren: So wurden etwa Menschen afrikanischer, asiatischer, lateinamerikanischer und sogar südeuropäischer Herkunft unentschuldbar als weniger erwünscht behandelt als „weiße“ Menschen aus Nordeuropa. Doch immerhin konnte eindringlich dargelegt werden, dass derartige Ausgrenzungen und Stigmatisierungen gegen zentrale politische Ideale verstoßen. Unsere Identität als Amerikaner kann alle diese stigmatisierten Gruppen umfassen, und so sollte es auch sein. Und sie sollte keine Homogenität erzwingen. Wie unser erster Präsident, George Washington, in seiner Ansprache an die Quäker sagte: „Die Gewissensbedenken aller Menschen sollten mit großer Zartheit und Empfindlichkeit behandelt werden.“ (Er kam ihrer Bitte nach, keinen Wehrdienst leisten zu müssen.) Europa war stets etwas anders. Die Vorstellung, eine große Anzahl von Menschen aus Afrika oder Asien aufzunehmen, scheint den Kern dessen zu bedrohen, was es bedeutet, Deutscher (oder Franzose oder Italiener usw.) zu sein. Die Spannungen können abgeschwächt werden, wenn Immigranten die Sprache des neuen Landes lernen – eine sinnvolle und nicht allzu belastende Forderung. Doch haben die Länder Europas es damit nicht gut sein lassen, weder jetzt noch in der Vergangenheit (als Juden Bürgerrechte nur durch Konversion und kulturelle Assimilation erlangen konnten). Auch heute fordern die europäischen Nationen neben dem Erlernen der Sprache erneut die Anpassung an die Leitkultur. Es ist eine Sache, von Menschen zu verlangen, sich spezifische politische Prinzipien und Werte anzueignen; es ist eine ganz andere, von ihnen zu erwarten, nichtpolitische

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Aspekte der Kultur zu übernehmen und sich von ihren eigenen zu verabschieden. Solche Forderungen verraten Angst vor dem anderen, und sie führen gewiss zu einer Verarmung der Kultur als Ganzer. Das Essen, die Kunst, der Tanz und die Musik eines Landes – all das wird durch die Kulturen der Einwanderer umfassend bereichert. (Deutsche Städte mit einem hohen Anteil an Einwanderern, wie etwa Köln, bieten ganz andere gastronomische Reichtümer als kleinere oder stärker traditionell geprägte deutsche Städte! Entsprechendes gilt anderswo: Angesichts der monotonen und allgemein erbärmlichen Qualität der traditionellen englischen Küche überrascht es nicht, dass Chicken Tikka Masala zum britischen Nationalgericht erkoren wurde.) Wenn Religion und Kultur in Debatten über die nationale Identität eine stumpfsinnige Rolle spielen, entstehen große Probleme für menschliches Gedeihen, für Gegenseitigkeit und Respekt. Ich habe 2011 den vorgeschlagenen Verboten der muslimischen Burka und des Kopftuchs ein ganzes Kapitel gewidmet, und diese Fragen haben sich nicht erledigt. (In den USA wurden keine solchen Verbote vorgeschlagen; und wenn, so wären sie mit Sicherheit verfassungswidrig.) Noch grotesker war der jüngste französische Aufruhr um die muslimischen Burkinis (islamischen Sitten angepasste Badeanzüge) am Strand. Die Vorstellung, dass Feminismus durch das Tragen eines Bikinis definiert und durch die weniger enthüllende muslimische Kleidung bedroht wird, ist unglaublich absurd. Seit Jahrzehnten klagen Feministinnen zu Recht darüber, dass Frauen oft als bloße Sexobjekte behandelt werden, und die Vorstellung, dass das Tragen eines Bikinis eine feministische Entscheidung darstellt (und keine männliche Forderung), ist selbst zutiefst problematisch. Ein Burkini kann von schöner Form, modisch, bequem und attraktiv sein. In meinem Fitnessstudio ziehen die meisten Frauen lange Yogahosen

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kurzen Hosen vor. Warum sollte also die gleiche Kleidung an einem Strand den Zorn des Gesetzes auf sich ziehen? Ich habe einen Burkini auf der muslimischen Mode-Website East Essence bestellt, deren Besuch ich den Lesern dringend empfehlen möchte. Meiner sieht so aus wie die Kleidung, die die meisten Frauen in einem Fitnessstudio tragen, bloß ohne die eng anliegende Kopf- und Halsbedeckung. Und das bringt mich zum Thema Gesundheit. Frankreich hat eine der höchsten Hautkrebsraten weltweit. All diese Bikiniträgerinnen sollten am Strand keinen Bikini tragen. Wenn ich in kurzer Hose im Freien laufe, trage ich einen Hut und creme meine Arme und Beine und mein Gesicht dick mit einer Titanoxidsalbe ein. Es ist offensichtlich, dass die durchschnittliche Bikini-Trägerin dies nicht tut. (Wirklich wirksame Sonnenschutzmittel überziehen die Haut mit einer weißen Schicht und müssen nach jedem Schwimmen erneut aufgetragen werden.) Wenn ich also jemals an den Strand gehen sollte, würde ich meinen vollen Burkini tragen, was den zusätzlichen Vorteil hat, dass der Stoff so behandelt wurde, dass er mich vor UVA- und -B-Strahlen schützt. Es ist lächerlich, dass französische Feministinnen es als Tugend reklamieren, ihr Leben zu riskieren – und das alles, um ihren Körper im Einklang mit männlichen Normen zum Objekt zu machen. (Gute Schwimmerinnen wissen, dass ein Bikini beim Schwimmen sehr unangenehm ist.) Es heißt oft, dass eine Haltung der Toleranz nötig ist. Doch ich glaube, diese Idee ist zu schwach. Sie impliziert eine herablassende Erlaubnis der herrschenden Gruppe und keine Haltung des gleichen Respekts vor Personen und ihrer Freiheit, sich auf ihre eigene Weise auszudrücken. Wie schon im Jahr 2011 empfehle ich daher weiterhin gleichen Respekt als Norm, die wir benötigen. Um nochmals George Washington zu zitieren, aus einer Ansprache vor den Juden von Newport:

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Es ist jetzt nicht mehr der Fall, dass von Toleranz so gesprochen wird, als beruhe es auf der Nachgiebigkeit einer Klasse von Menschen, dass eine andere die Ausübung ihrer natürlichen Rechte genießen kann, denn glücklicherweise verlangt die Regierung der Vereinigten Staaten, die keinen Fanatismus duldet, die keinerlei Verfolgung unterstützt, lediglich, dass diejenigen, die unter ihrem Schutz leben, sich als gute Bürger verhalten, indem sie ihr bei jeder Gelegenheit ihre wirksame Unterstützung geben.

Gewiss, diese weisen Worte haben in der Geschichte meiner Nation nicht ausreichend Beachtung gefunden. Sie drücken jedoch eine Norm aus, nach der alle auch weiterhin streben können. Ich denke, dass sich in Deutschland – schließlich eines der Ursprungsländer dieser Werte der Aufklärung – heute viel von diesem Geist findet, und ich hoffe, dass nicht Angst die ausgezeichneten politischen Normen und Bestrebungen Deutschlands besiegt.

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Wissen verbindet uns Die wbg ist eine Gemeinschaft für Entdeckungsreisen in die Welt des Wissens. Wir fördern und publizieren Wissenschaft und Bildung im Bereich der Geisteswissenschaften. So bringen wir Gleichgesinnte zusammen und bieten unseren Mitgliedern ein Forum, um sich an wissenschaftlichen und öffentlichen Debatten zu beteiligen. Als Verein erlaubt uns unser gemeinnütziger Fokus, Themen sichtbar zu machen, die Wissenschaft und Gesellschaft bereichern. In unseren Verlagen erscheinen jährlich über 120 Bücher. Als Vereinsmitglied fördern Sie wichtige Publikationen sowie den Austausch unter Akademikern, Journalisten, Professoren, Wissenschaftlern und Künstlern. Jetzt Mitglied werden und ein Buch aus unserem Sortiment im Wert von 25,- € auswählen Mehr Info unter www.wbg-wissenverbindet.de oder rufen Sie uns an unter 06151/3308-330

Über den Inhalt Die Globalisierung hat in westlichen Gesellschaften ein Gefühl der Machtlosigkeit hervorgerufen, das zu Ressentiments und Schuldzuweisungen führt: Schuld an der Misere sind wahlweise die Immigranten, die Muslime, andere „Rassen“, die kulturellen Eliten ... Die Wahl Donald Trumps ist ein prominentes Beispiel dafür. Dieselben Mechanismen wirken aber auf allen Seiten des politischen Spektrums − links ebenso wie rechts. Und das auch in Europa, wie Nussbaum deutlich macht.

Über den Autor Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie gilt als eine der profiliertesten Philosophinnen der Gegenwart und hat für ihr umfangreiches Werk unter anderem den KyotoPreis und den Berggruen-Preis für Philosophie erhalten. Bei der wbg sind von ihr erschienen: Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst (2014), Zorn und Vergebung. Plädoyer für eine Kultur der Gelassenheit (2017), Älter werden. Gespräche über die Liebe, das Leben und das Loslassen (mit Saul Levmore, 2018).