Ordnungen in der Krise: Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900-1933 9783486707274, 9783486581775

Ungleichzeitigkeit als Signet einer Epoche Deutschland 1900 bis 1933 – zwischen den Euphorien des machtpolitischen Auf

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German Pages 566 [572] Year 2007

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Ordnungen in der Krise: Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900-1933
 9783486707274, 9783486581775

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Ordnungen in der Krise

Ordnungssysteme Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit

Herausgegeben von Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael Band 2 2

R. Oldenbourg Verlag München 2007

Wolfgang Hardtwig (Hrsg.)

Ordnungen in der Krise Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900-1933

R. Oldenbourg Verlag München 2007

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2007 R. Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Umschlagbild: Roman Clemens: Spiel aus Form, Farbe, Licht und Ton (1929) © Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universität zu Köln Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza ISBN 978-3-486-58177-5

Inhalt

Wolfgang Hardtwig Vorwort

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Wolfgang Hardtwig Einleitung

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I.

Menschen und ihr Raum: Grenzraum, Naturraum, kolonialer Raum Vanessa Conze „Unverheilte Brandwunden in der Außenhaut des Volkskörpers". Der deutsche Grenz-Diskurs der Zwischenkriegszeit (1919-1939) .... 21 Thomas Rohkrämer Bewahrung, Neugestaltung, Restauration? Konservative Raum- und Heimatvorstellungen in Deutschland 1900-1933

49

Willi Oberkrome Stamm und Landschaft. Heimatlicher Tribalismus und die Projektionen einer „völkischen Neuordnung" Deutschlands 1920-1950

69

Dirk van Laak Afrika vor den Toren. Deutsche Raum- und Ordnungsvorstellungen nach der erzwungenen „Dekolonisation"

95

II. Zeiterfahrungen und Zeitkonzepte Rüdiger Graf Optimismus und Pessimismus in der Krise - der politisch-kulturelle Diskurs in der Weimarer Republik

115

Peter Fritzsche Historical Time and Future Experience in Post war Germany

141

Martin H. Geyer „Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen". Zeitsemantik und die Suche nach Gegenwart in der Weimarer Republik

165

Inhalt

6 III. Geschlecht - Körper - Emotion

Ute Planert Kulturkritik und Geschlechterverhältnis. Zur Krise der Geschlechterordnung zwischen Jahrhundertwende und „Drittem Reich"

191

Kathleen Canning Between Crisis and Order: The Imaginary of Citizenship in the Aftermath of War

215

Martina Kessel Gewalt schreiben. „Deutscher Humor" in den Weltkriegen

229

IV. Massengesellschaft und Individualität Per Leo Der „fremde Andere". Zur Sichtbarkeit des Einzelnen in den Inszenierungen der modernen Großstadt

261

Moritz Föllmer Die Berliner Boulevardpresse und die Politik der Individualität in der Zwischenkriegszeit

293

Daniel Siemens „Vom Leben getötet". Die Gerichtsreportage in der liberaldemokratischen Presse im Berlin der 1920er Jahre

327

V. Gewalterfahrungen und Gewaltstrategien Martin Baumeister Kampf ohne Front? Theatralische Kriegsdarstellungen in der Weimarer Republik

357

Sven Reichardt Totalitäre Gewaltpolitik? Überlegungen zum Verhältnis von nationalsozialistischer und kommunistischer Gewalt in der Weimarer Republik

377

Inhalt

Thomas Hippler Krieg aus der Luft: Konzeptuelle Vorüberlegungen zur Entstehungsgeschichte des Bombenkriegs

7

403

VI. Die Krise der Ordnungen und das Bild Doris Kaufmann „Primitivismus": Zur Geschichte eines semantischen Feldes 1900-1930

425

Jost Philipp Klenner Der Duce ist nicht aus Email. Aby Warburg, politisch?

449

Bernd Roeck „Von Bismarck bis Picasso". Wilhelm Uhde und die Geburt der Avantgarde

481

Alexander Schug Das Ende der Hochkultur? Ästhetische Strategien der Werbung 1900-1933

501

Thomas Mergel Propaganda in der Kultur des Schauens. Visuelle Politik in der Weimarer Republik

531

Abkürzungen

561

Autorenbiographien

563

Vorwort Der vorliegende Band entstand aus einer Tagung, die vom 23.-25. November 2004 an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand. Absicht der Konferenz war es, Forschungsbeiträge, die im Kontext eines größeren Forschungsvorhabens „Politische Kulturgeschichte Deutschlands 1900-1936" an der Humboldt-Universität entstanden sind, im Kreis von Fachkollegen zur Diskussion zu stellen und darüber hinaus Probleme der Gegenstandsbestimmung und der Methode von „politischer Kulturgeschichte" vor dem Hintergrund der aktuellen Forschungssituation zu erörtern. Ich danke allen Kolleginnen, die sich zu Referaten auf der Konferenz und zu Beiträgen zur Publikation bereiterklärt haben und die damit zu einer intensiven Diskussion beigetragen haben. Zu danken ist auch den Kommentatoren, die die einzelnen Beiträge vorgestellt und kommentiert, die Diskussion strukturiert und vertieft und damit dazu beigetragen haben, dass die Manuskripte den aktuellen Erkenntnisstand zu den einzelnen Themenkomplexen so weit wie möglich widerspiegeln (Andreas Daum, Roger Chickering, Dieter Langewiesche, Lutz Raphael, Andreas Wirsching). Finanziert wurde die Tagung von der Fritz-Thyssen-Stiftung, die auch die Druckkosten übernahm. Für beides ist der Stiftung sehr zu danken. Dank schulde ich auch Frau Kerstin Brudnachowski für die Tagungsvorbereitung und für die Erstellung des satzfertigen Manuskriptes. Michael Lück habe ich für die Korrektur der Manuskripte zu danken. Berlin, 9. Dezember 2006 Wolfgang Hardtwig

Einleitung

Seit 1890/1900 vollzogen sich in Deutschland unterschiedlich beschleunigte Modernisierungsvorgänge, die sowohl die Industrie- wie die agrarwirtschaftliche Gesellschaft wie auch die Politisierungsprozesse erfassten. Vor allem durchliefen die intellektuellen und künstlerischen Deutungskulturen eine tiefgreifende Transformation. Die zwei Jahrzehnte vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs gelten als Epoche des Durchbruchs der Moderne, auf die dann zwischen 1918 und 1933 die „Krisenjahre der klassischen Moderne" (D.J. Peukert) folgten. Wahrgenommen wurden diese Modernisierungsprozesse vielfach in einer Euphorie des Fortschritts, verknüpft mit imperialen Machtwünschen, andererseits aber auch als dramatische Bedrohung von Statusansprüchen, altgewohnten Gewissheiten, der vertrauten räumlichen Umwelt wie der eigenen kulturellen Milieus. Die Deutungsspezialisten reagierten darauf teils mit neuen Formen optimistischer Zukunftsaneignung, teils mit politisch-gesellschaftlicher und weltanschaulicher Verunsicherung und mit Entwürfen einer alternativen Moderne. In der Perspektive einer politischen Kulturgeschichte erweist sich dabei die Zäsur um die Jahrhundertwende als so tiefgreifend, dass eine Periodisierung mit einem „kurzen 19. Jahrhundert", das mit der Jahrhundertwende endet, näher liegt als das Fortschreiben des Konzepts vom „langen 19. Jahrhundert", das sich an der politischen Geschichte orientiert. Selbstverständlich bleibt der Erste Weltkrieg auch aus dieser Sicht die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts", die insbesondere in Deutschland die weitreichendsten Rückwirkungen auf das politische System, aber auch auf die lebensprägenden Grundorientierungen hatte. Gleichwohl - blickt man auf die fundamentalanthropologischen Kategorien, mit denen sich diese Grundorientierungen erschließen lassen wie etwa die Orientierung in der Zeit und im Raum, das Verhältnis der Menschen zu ihrem eigenen Körper, ihrer Geschlechtlichkeit und ihren Emotionen, und das Verhältnis zur Gewalt und auf das Verhältnis zu den Ordnungen, in denen sich die Einzelnen bewegen, von denen ihr Verhalten und Handeln geprägt wird und auf die sie ihrerseits zurückwirken, so setzen viele Transformationen, die für die 20er und 30er Jahre prägend geworden sind, schon um die Jahrhundertwende ein. Der Krieg verstärkte sie oder gab ihnen eine andere Richtung, er gestaltet als Krieg - und also als lang anhaltender Gewaltexzess - die Vorstellungen über die legitimen Formen von Konfliktaustrag und Politik um, er verändert die zuvor gültigen Maßstäbe von Humanität und Inhumanität. Aber gerade wenn man sich klarmacht, wie tief einschneidend die unmittelbare und vermittelte Kriegserfahrung gewesen ist, fällt die (zum Teil durchaus sanfte) Wucht ins Auge, mit der trotz oder gerade angesichts einer zunehmenden materiellen Entlastung der Menschen durch

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Wolfgang Hardtwig

Wirtschaftswachstum und anhaltende Hochkonjunktur die elementare Verunsicherung und die Reaktionen darauf in der Suche nach Neuem wie in der Verhärtung im Alten seit der Jahrhundertwende Platz griffen. Analog könnte man nun Argumente vorbringen, die die gängige Zäsur von 1933 in der Perspektive der politischen Kulturgeschichte ein Stück weit suspendieren. Für die Zwecke der Tagung, die der vorliegenden Publikation zugrunde lag, erschien es allerdings sinnvoll, sich zumindest grundsätzlich an die - pragmatisch gehandhabte - geläufige Periodisierung mit 1933 als Ende des Untersuchungszeitraums zu halten. Das Gefühl einer umfassenden Krise, das von großen Teilen der Bevölkerung wie von den Deutungsspezialisten insbesondere seit 1918 geteilt und in den verschiedensten Formen zum Ausdruck gebracht wurde, verlor sich seit der Machtübernahme Adolf Hitlers und der Etablierung des NS-Regimes entweder sehr rasch, oder es wurde mit denen, die es artikulierten, gewaltsam unterdrückt. Nach wie vor befanden sich die Ordnungen in der Krise, aber diese Krisen wurden jetzt systematisch gemanagt, geleugnet, in aktivistische Programme überführt und vor allem vom Postulat einer absoluten Ordnung überwölbt, zu deren Durchsetzung die neuen Machthaber ein zum Teil erstaunlich differenziertes, in der skrupellosen Anwendung jedenfalls höchst erfolgreiches Instrumentarium entwickelten. Wenn in den folgenden Beiträgen häufig von „Krise" die Rede ist, so muss zwischen realen Krisenprozessen wie etwa den ökonomischen und politischen Ereignissen des „Krisenjahres" 1923, den Ereignissen und Folgen der „Weltwirtschaftskrise" seit 1929, oder, auf der Deutungsebene, der Krise etwa von Geschichtsdenken und Theologie auf der einen Seite, der Krisensemantik und ihrer eigenen strukturellen und rhetorischen Logik auf der anderen Seite unterschieden werden. Die Allgegenwart des Redens von „Krise" zwischen 1918 und 1933, aber auch schon in den beiden Jahrzehnten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, spiegelt nicht einfach nur faktische Krisen und deren Wahrnehmung wider, sie reflektiert vielmehr ein Wahrnehmungsund Deutungsmuster, das sich vielfach verselbständigte und gerade in seiner rhetorischen und argumentativen Funktion für die Selbstwahrnehmung und politisch-gesellschaftlich-kulturelle Ortsbestimmung wichtiger Gruppen der deutschen Gesellschaft überaus aufschlussreich ist. Die Beiträge des Sammelbands sprechen von „Krise" in beiden hier angesprochenen Bedeutungen und halten gerade damit die spannungsreiche Differenz, aber auch den inneren Zusammenhang von realen, materiellen und kulturellen Existenzbedingungen und ihren intellektuellen Ausdeutungen offen. Die kulturellen Sinnsysteme und die Handlungen sind ineinander verwoben und beeinflussen sich gegenseitig. Eben diese Verwobenheit will die politische Kulturgeschichte artikulieren und ihre Erkenntnischancen nutzen. Dass die Krise von Ordnungsvorstellungen und der Rekurs auf das Ideal einer absoluten Ordnung in

Einleitung

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einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen (freilich nur solange, als der absoluten Ordnung nicht gewaltsam zur Herrschaft verholfen ist), ist im Ganzen offenkundig, muss aber im Einzelnen von den jeweils unterschiedlichen Ausgangsbedingungen, Akteuren, Zielsetzungen und Ergebnissen her differenzierend rekonstruiert werden. Raum und Zeit sind die jeweils fundamentalsten Determinanten sozialer Existenz in historisch konkreten Lebenswelten. Seit der Industrialisierung, der Urbanisierung und den dadurch bedingten Wanderungsbewegungen einerseits, den daraus folgenden Umschichtungen in den politischen Ansprüchen und Mitwirkungsrechten andererseits, erfuhren viele Menschen ihre räumliche Umwelt als gefährdet oder gefährdend, versuchten, ihren Platz in ihr neu zu bestimmen und kulturelle und politische Handlungsrezepte dafür zu gewinnen. Seit der Kriegsniederlage von 1918 und den territorialen Verlusten des Deutschen Reiches gewann das Denken über das Verhältnis des Menschen zu dem ihn umgebenden Raum auch aus territorial- und nationalpolitischen Gründen eine ganz neuartige Rasanz und Brisanz. Thomas Rohkrämer zeigt, unter welchen Bedingungen sich Natur- und Heimatschutz in den verschiedenen Ländern des Deutschen Reiches entfaltete, wie und warum er politisch von ganz rechts bis links anschlussfähig war und wie es zur völkischen Überformung des Heimatschutzes kam. Willi Oberkrome verficht gegenüber dem gängigen Narrativ von einer nahtlosen Fortsetzung und Steigerung heimatideologischer Vorstellungen nach 1933 die These, dass die Heimatschützer im nationalsozialistischen System an Einfluss eher verloren, weil in den sich überschneidenden Kompetenzen des NS-Regimes eine klare Zuständigkeit für Volkstums- und Kulturpolitik verloren ging, die Breitenwirksamkeit der Heimat- und Stammesideologie noch einmal nachließ und weil sich schließlich der ausgreifende imperiale Rassismus des Regimes über die regionale Orientierung der Heimatschützer hinwegsetzte. Vanessa Conze arbeitet heraus, wie sich gerade die Erfahrung von politischem Machtverlust und Demütigung durch die Niederlage so verschärfte, dass sich Grenzfragen als nationale Identitätsfragen darstellten und dass sich insgesamt ein Grenzdiskurs etablierte, der auf die Delegitimierung der Grenzen des Versailler Vertrags zielte. Dabei entwertete der Diskurs die herkömmliche Vorstellung von nationaler Territorialität; die Idee internationaler Zusammenarbeit verlor in der deutschen politischen Kultur zu Gunsten vielfach irrealer alternativer Grenzvorstellungen entschieden an Rückhalt. Dirk van Laak schließlich kann zeigen, wie gerade nach 1918 die Verfechter einer Wiederherstellung deutscher Kolonialherrschaft Afrika als Projektions- und als notwendigen ökonomischen und demographischen Ergänzungsraum konzipierten - nicht zuletzt als Folge eines wiederum auf die Grenzziehungen des Versailler Vertrags zurückgeführten klaustrophoben Bedrohungsgefühls.

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Der Zeithorizont der Weimarer Bürger hingegen scheint, so jedenfalls die Befunde und Argumente von Peter Fritzsche und Rüdiger Graf, viel weniger verfinstert gewesen zu sein, als die Katastrophenrhetorik der konservativen Revolutionäre vermuten lässt. Kein Zweifel - die Gegenwart erschien als düster. Aber mittel- und langfristig dominierte ein Selbstbehauptungswille, der notwendigerweise auf eine Besserung der aktuellen Notlage setzte. Allerdings gab es hierbei erhebliche Unterschiede. Republikanhänger verwiesen auf Mühe und Arbeit als notwendige Tugenden für eine bessere, gleichwohl realistisch eingeschätzte nationale Zukunft, die radikalen Parteien links und rechts hingegen verkürzten die Zeitperspektive und gewannen gegen Ende der Republik gerade mit der Vision einer sozialen oder nationalen Revolution Resonanz, die alles vermeintlich Störende beiseite fegen würde. Die Grundlage der Kommunikation, so Graf, blieb ein Gestaltungsoptimismus, für den Fritzsche zeigt, dass er sich auch auf das Subjekt „Nation" bezog und auf der Seite der radikalen Rechten das Modell des gestählten Athleten und Arbeiters entwarf. Indessen litten viele unter der Erfahrung, dass die Zeitsemantiken der Moderne vielfältig und widersprüchlich waren. Der Verlust von „Ordnung" wurde auch, wie Martin Geyer zeigt, als Verlust einer gemeinsamen sozialen Zeit - oder anders - als fundamentale Ungleichzeitigkeit innerhalb der Gesellschaft erlebt. Die Antwort darauf konnte die Suche nach einer Vergemeinschaftung durch gleichzeitige Emotionen sein, wie sie die Idee der „Volksgemeinschaft" zu versprechen schien. Vergemeinschaftung bedeutete, wie Geyer zeigt, gerade auch Vergemeinschaftung in gemeinsamer Zeit, und wenn es sie im NS-System real so wenig gab wie zuvor, so wurde sie doch von den Nationalsozialisten permanent inszeniert. Während die Politisierung von Raum und Zeit schon vor 1914 in neue Dimensionen vorstieß, stellte der Erste Weltkrieg selbstverständlich für die Körpererfahrung, die immer an den Körper gebundene Emotionalität und die Deutung der Geschlechterrollen einen entscheidenden Einschnitt dar. Dass die Geschlechterordnung des bürgerlichen Zeitalters schon seit der Jahrhundertwende in die Krise geriet, ist seit langem unstrittig. Im konservativen Denken wurde sie als Symptom für eine durchgängige Entmännlichung interpretiert, der am besten durch das Stahlbad eines Krieges begegnet werden könne (Ute Planert). Wurde so der Krieg als Krisenlösung für die fundamental-anthropologische Frage der Geschlechterbeziehungen gerechtfertigt, so bewirkte er zunächst tatsächlich vor allem eine Ausweitung und Intensivierung weiblicher Politisierung. Ute Planert zeigt, wie die Rechte darauf mit einer neuen Vermännlichungsrhetorik reagierte, die den Kult des Kriegerisch-Maskulinen im Dritten Reich unmittelbar vorbereitete. Als Strategien der Vermännlichung diente auch das, was seit dem Ersten Weltkrieg als „deutscher Humor" (Martina Kessel) galt. Er präsentierte auf eher unsubtile, aber mit Gelächter aufgenommene, Weise Gewalt als Ordnungsangebot, das

Einleitung

15

gerade in der SA alle diejenigen systematisch ausschloss, die dann nicht mehr der NS-„Volksgemeinschaft" angehörten. Martina Kessel weist die traurige Kontinuität dieses „deutschen Humors" zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg nach und trägt damit nicht nur zu einem besseren Verständnis des „deutschen Manns" sondern auch auf die Situation der deutschen Frau in diesem Zeitraum bei. Viele Frauen waren indessen in der Weimarer Republik nicht so defensiv, wie es die Perspektive von rechts her nahe legen könnte. Kathleen Canning zeichnet vor dem Hintergrund der Frauenbewegung im frühen 20. Jahrhundert die tatsächliche Durchsetzung neuer Gleichheitsansprüche der Frauen sowohl in der politischen Verfassung wie in der Konsumkultur 1918-1933 nach. Die Konsumkultur erschien den bildungsbürgerlichen und rechtsintellektuellen Kritikern der Massengesellschaft als Anfang vom Ende der unverwechselbaren, scharf umrissenen individuellen Persönlichkeit. Doch machen die Beiträge von Per Leo, Moritz Föllmer

und Daniel

Siemens

die ideologisch-

defensive Fundierung des ganzen „Massen"diskurses deutlich und argumentieren dafür, diesen Diskurs endlich wirklich zu historisieren. Die Jahre zwischen 1900 und 1933 sind nicht wirklich eine Krisengeschichte der Individualität (Moritz Föllmer), eher zeigt sich in ihnen das Bestreben, persönliche Selbstbestimmung unter den Bedingungen der modernen Lebensformen und der Konsumgesellschaft neu zu bestimmen und vielfach durchaus offensiv zu vertreten. Föllmer trägt zur Erklärung für die tiefe Verwurzelung des NSSystems in der deutschen Gesellschaft bei, indem er zeigt, dass sich auch nach 1933 aufrechterhaltene Ansprüche auf persönliche Lebensgestaltung und NS-Herrschaftssystem keineswegs radikal ausschlossen. Per Leo analysiert, wie herausragende Intellektuelle der 20er Jahre zwar die semantische Opposition von Individuum und Masse nicht einfach über Bord warfen, aber doch Individuum und Masse keineswegs als sich ausschließende Formen des Menschseins interpretierten. Individualität, so Leo, löste sich in der Masse nicht einfach auf, andererseits wurde Masse nicht per se als irrational und Ort systematischen Ich-Verlusts zu verstehen. Die von Leo analysierten Texte von Karl Jaspers und Ernst Jünger finden einen Ausweg aus der bloßen Dichotomie, von Individuum und Masse, indem sie dem Einzelnen als Reaktion auf die Existenz in der Masse gesteigerte Selbsterfahrung und gesteigerte Aufmerksamkeit nahe legen. Zudem wurde der Kategorie des Sichtbaren die Potenz zugewiesen, die Erkenntnis von Besonderheit zu ermöglichen. Von dieser Sichtbarkeit des Besonderen hin zur Typisierung des Auszuschließenden ist dann freilich nur ein kurzer Weg. Daniel Siemens schließlich zeigt, wie in den Gerichtsreportagen der liberaldemokratischen Presse Berlins in den 20er Jahren die überlieferten Vorstellungen von individueller Schuld und Verantwortung angesichts der Heterogenität von Menschen- und Gesellschaftsbildern in der pluralisierten und

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demokratisierten Gesellschaft nicht verschwanden, aber fraglicher wurden, wie die Gerichtsreporter dazu tendierten, den einzelnen Täter von individueller Schuld zu Gunsten der Gewichtung von sozialer Umwelt und familiärem Erbe zu entlasten, ohne dabei die liberale Vorstellung von der ordnungspolitischen Kraft der Justiz in Frage zu stellen. Eben damit, so Siemens, geriet die fortschrittliche Gerichtsreportage gegenüber einem rechten Radikalismus in die Defensive, der auf die vermeintliche moralische Krise der Gesellschaft mit dem Verzicht auf jede Nachsicht zu reagieren empfahl. Geschlechterrollen profilierten sich seit Ausbruch des Ersten Weltkriegs naturgemäß verstärkt durch die im Krieg universell gewordene männliche Gewaltausübung. Der Beitrag von Thomas Hippler macht indessen deutlich, dass die Radikalisierung der militärischen Auseinandersetzung durch den Luftkrieg nicht erst das Ergebnis von Kriegsführung im Ersten Weltkrieg oder in den Kriegen des 19. Jahrhunderts ist, die bereits den Weg zum totalen Krieg anbahnten (Krim-Krieg, Amerikanischer Bürgerkrieg, DeutschFranzösischer Krieg), sondern dass in die Geschichte dieser Radikalisierung die koloniale Auseinandersetzung wesentlich hineingehört. Der Bombenkrieg begann prinzipiell 1911, als italienische Piloten die ersten Bomben auf libysche Dörfer warfen. Entstanden in der europäischen Expansion gegen das nichteuropäische „Andere", ermöglichte die Luftkriegstrategie zunehmend, die ökonomischen Ressourcen und den politischen und sozialen Zusammenhalt des Feindes zu zerstören und gewann schon deshalb an Attraktivität, weil er Möglichkeiten bereitstellte, den Stellungskrieg zu vermeiden. Die Verwischung der Grenze zwischen Militärischem und Nichtmilitärischem vollzog sich aber auch in der politischen Auseinandersetzung mit der Gewaltpolitik der extremen Parteien am Ende der Weimarer Republik. Sven Reichardt behandelt die Verabsolutierung des Freund-Feindgegensatzes, wägt die Vorund Nachteile von totalitarismus- und faschismustheoretischen Konzepten bei der Analyse dieser Gewaltpolitik ab, sieht die Termini mehr als komplementär denn als sich ausschließende Konkurrenzbegriffe und präzisiert mit dem offenen Instrumentarium Ursachen und Erscheinungsformen des von der SA kultivierten nationalistischen Militarismus. Wie sehr die Kriegserfahrung das Bedürfnis stärkte, die Geschlechterpolarität zu vertiefen, zeigt auch Martin Baumeister an der Verarbeitung des Krieges in der theatralischen Kriegsdarstellung der Weimarer Republik. Gerade als gegen Ende der 20er Jahre das Bild vom äußeren Feind eher verblasste, zielten die Versuche, dem Krieg doch einen Sinn zu verleihen, vor allem darauf ab, die beschädigte Männlichkeit wieder herzustellen. Selbst ein von einer weiblichen Autorin verfasstes und kurzfristig erfolgreiches kriegskritisches Drama stellt Männer und Frauen am Ende als Feinde gegenüber. Für die Perspektive einer politischen Kulturgeschichte spielt die Frage nach der medialen Vermittlung von Ideen, Mentalitäten und politischen Ab-

Einleitung

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sichten eine zentrale Rolle. Doris Kaufmann fragt nach dem Deutungsmodell des „Primitivismus", das sich als Antwort auf die Erfahrung einer Krise der Moderne sowohl in den Kulturwissenschaften wie in der Medizin wie in anderen Disziplinen facherübergreifend etablierte. Es verknüpfte ein spezifisch modernes Erkenntnisinteresse mit einem zeitlichen Entwicklungsmodell, das „frühe" Bewusstseinsstrukturen mit Formen einer derangierten modernen Subjektivität zusammendachte. Kaufmann zeigt, dass eine ideologiekritische Bewertung des Primitivismus-Modells zu kurz greift, sowohl wenn es um die Eigenart des Ästhetischen wie wenn es um die Eigenart des Pathologischen geht und dass es ihm prinzipiell um eine durchaus innovative Ganzheitserkenntnis geht. Jost Philipp Klenner untersucht, wie der Kulturhistoriker Aby Warburg, ausgehend von Beobachtungen zu Mussolini und seiner Propaganda, die Performanz als Strukturmerkmal seiner Gegenwart entdeckt und seine bildwissenschaftliche Methode als ein Stück „Geistespolitik" (Warburg) konzipiert, das die ikonographischen Kunststücke der mussolinischen Bildpropaganda subversiv entlarven soll. Bernd Roeck diskutiert am Beispiel des Kunstkritikers Wilhelm Uhde das breite Spektrum und die prinzipielle Offenheit der ästhetischen Urteilskriterien im deutschen Bildungsbürgertum des Kaiserreichs. Alexander Schug hebt die Bedeutung der Werbung für die Neuorientierung ästhetischer Normen im Aufstieg der ehemals „niederen Künste" des Designs hervor und untersucht, wie die Werbeästhetik schon seit Beginn des Jahrhunderts die Ästhetik der traditionellen bürgerlichen Hochkultur zu unterlaufen begann. Dieser Prozess bezieht seine politische Pointe nicht zuletzt daraus, dass die Bildpropaganda der NSDAP bei der Stilisierung des Hitler-Mythos gerade diese kommerziellen Strategien systematisch nutzte. Und Thomas Mergel stellt der liberalen politischen Kultur des Bürgertums mit ihren auf vernünftige Überzeugung setzenden Methoden gerade die ästhetischen Qualitäten der kommerziellen Werber gegenüber und erklärt das Scheitern bürgerlich-liberaler Politik in der Weimarer Republik ein Stück weit auch aus ihrem bildpropagandistischen Traditionalismus. Insgesamt zeigen die Beiträge, dass eine moderne Kulturgeschichte keineswegs primär antiquarisch orientiert ist, dass die polemische Gegenüberstellung von Kulturgeschichte und politischer Geschichte obsolet geworden ist, dass die Arbeit mit Theorien zum selbstverständlichen Handwerkszeug kulturgeschichtlicher Arbeit gehört und dass eine moderne politische Kulturgeschichte in einer Weise den Bogen von der mikrologischen Untersuchung zu den weitreichenden und tiefgreifenden Strukturen und Prozessen schlagen kann, die die historischen Erkenntnismöglichkeiten zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert wesentlich erweitert.

I. Menschen und ihr Raum: Grenzraum, Naturraum, kolonialer Raum

„Unverheilte Brandwunden in der Außenhaut des Volkskörpers"1) Der deutsche Grenz-Diskurs der Zwischenkriegszeit (1919-1939) Von Vanessa Conze Das Ende des Ersten Weltkrieges brachte für das Deutsche Reich den Verlust von 70 000 km2 Land und ca. 7,3 Millionen Einwohnern. Durch die in den Pariser Vorortverträgen festgelegten Grenzveränderungen gingen ElsaßLothringen, Danzig, das Memelland, Westpreußen und das Hultschiner Ländchen sowie die Kolonien verloren. Nach (teils manipulierten) Abstimmungen gehörte Eupen-Malmedy fortan zu Belgien, Nord-Schleswig zu Dänemark, Teile Oberschlesiens zu Polen. Nach einem mit weitausgreifenden territorialen Ambitionen geführten Krieg bedeuteten diese Grenzkorrekturen für beinahe alle Deutschen eine kaum zu akzeptierende Schmach, und so haben nur wenige außenpolitische Themen die deutsche Politik und die deutsche Öffentlichkeit in der Zwischenkriegszeit in solchem Maße beschäftigt. In Grenzfragen schienen sich alle Folgen der Niederlage zu spiegeln: (außen-)politischer Machtverlust, Demütigung durch die ehemaligen Kriegsgegner, wirtschaftliche und militärische Schwächung. Da man die (territorialen) Regelungen des Versailler Vertrages als ungerecht empfand, war (territorialer) Revisionismus, die Veränderung der neu gezogenen Grenzverläufe, das Ziel aller politischen Parteien und einhellige Forderung der öffentlichen Meinung. 2 ) Der politische Kampf um die „verlorenen" Gebiete, der Kampf um veränderte Grenzen wurde zwar von unterschiedlichen politischen Parteien, Gruppierungen und in der Öffentlichkeit auf j e unterschiedliche Weise geführt, und auch der jeweils angestrebte Grad des territorialen Revisionismus konnte sich erheblich voneinander unterscheiden. In der Überzeugung jedoch, dass Deutschland seit 1919 ein „verstümmelter, aus tausend Wunden blutender Körper" geworden sei, 3 ) den es zu heilen galt, war man sich über ') Karl Haushofer: Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, Berlin 1927, S. XIV. 2 ) Zum „Revisions-Syndrom" siehe: Michael Salewskv. Das Weimarer Revisionssyndrom, in: ApuZ B 2 / 8 0 , 12.1.1980, S. 1 4 - 2 5 ; vgl. auch: Hagen Schulze: Versailles, in: Etienne FrangoisfHugen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2001, S. 4 0 7 421, insb. S. 4 1 4 - ^ 2 1 . 3 ) Die Anlehnung an die Kriegsversehrten-Metaphorik ist im Zusammenhang mit Grenzdebatten kaum übersehbar: Wie die deutschen Soldaten versehrt aus dem Krieg heimkehrten, so war auch der deutsche Volkskörper versehrt. Dass die Metaphorik des Versehrten indes auch immer auf eine bessere Zukunft hinzielte, zeigen nicht nur die Debatten um territoria-

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Vanessa Conze

(fast) alle politischen Gräben und Klassenschranken hinweg einig. So entfaltete sich um Deutschlands Grenzen in der Zwischenkriegszeit ein umfassender Diskurs. Die Flut der Publikationen zu Grenzfragen ist kaum überschaubar: Wissenschaftliche Abhandlungen verschiedenster Disziplinen bemühten sich, vermeintlich unanfechtbare - weil wissenschaftlich legitimierte - Argumente für „ideale" (sprich: veränderte) Grenzen zu liefern. Pseudowissenschaftliche Schmähschriften, Romane und Erzählungen erschienen in Massen und die Printmedien berichteten immer wieder über die deutschen Grenzprobleme. Auf die zentrale Bedeutung von Grenzen (und die mit ihnen verbundene Abgrenzung vom „Fremden") für die nationale Identitätsbildung wurde durch die Forschung in den letzten Jahre immer wieder verwiesen. 4 ) Im Zuge der Nationalstaatsbildung des 19. Jahrhunderts waren es vor allem die nationalen Grenzen, die im Zentrum der Diskussion standen. Diese fanden in der Frankfurter Nationalversammlung ihren ersten Höhepunkt,5) wurden aber auch in späteren Jahrzehnten mit großem Einsatz von Politikern, Publizisten und Wissenschaftlern geführt.6) Selbst die Reichsgründung setzte diesem Bedürfnis, die eigene Identität durch die Abgrenzung von den europäischen Nachbarn zu stärken, kein Ende: Grenzen wurden zum Teil des nationalen Mythos.7) Diese stets potentiell expansive Entwicklung verstärkte sich im Ersten Weltkrieg und vor allem nach Bekanntwerden der territorialen Regelungen le Grenzen, die es zu verändern galt, um den Volkskörper zu heilen, sondern auch die Debatten um die Kriegsinvaliden. Vgl. Sabine Kienitz: Beschädigte Helden. Zur Politisierung des kriegsinvaliden Soldatenkörpers in der Weimarer Republik, in: Jost Diilffer/Gerd Krummeich (Hrsg.): Der verlorene Frieden. Politik und Kriegskultur nach 1918, Essen 2002, S. 199-214. Zum Bild der Nation als „Körper" grundsätzlich vgl. auch: Svenja Goltermann: Körper der Nation. Habitusformierung und die Politik des Turnens 18601890, Göttingen 1998. 4 ) In Auswahl: Wilfried Heller: Grenzen und ihre Erforschung. Gegenstände, Fragestellungen, Zielsetzungen, in: Irene Diekmann/Peter KrügerlJulius H. Schoeps (Hrsg.): Geopolitik. Grenzgänge im Zeitgeist, 2 Bde., Potsdam 2000, S. 325-350; Hans Medick: Zur politischen Sozialgeschichte der Grenzen in der Neuzeit Europas, in: Sowi. Sozialwissenschaftliche Informationen 20/1991, S. 157-163; Daniel Nordman: Des limites d'Etat aux frontieres nationales, in: Les lieux de memoire, sous la direction de Pierre Nora, Bd. Π: La nation, Paris 1986, S. 35-61; Jürgen Osterhammel: Die Wiederkehr des Raumes. Geopolitik, Geohistoire und historische Geographie, in: NPL 45/1998, S. 374-397; Peter Weichhart: Territorialität, Identität und Grenzerfahrung, in: Peter Haslinger (Hrsg.): Grenze im Kopf. Beiträge zur Geschichte der Grenze in Ostmitteleuropa, Frankfurt a.M. 1999, S. 19-30. 5 ) Manfred Kittel: Abschied vom Völkerfrühling? National- und außenpolitische Vorstellungen im constitutionellen Liberalismus 1848/48, in: HZ 275/2002, S. 333-383; Günter Wollstein: Das Großdeutschland der Paulskirche. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/49, Düsseldorf 1977. 6 ) Vgl. z.B. zu den geographische Diskussionen: Hans Dietrich Schultz: Deutschlands .natürliche Grenzen'. ,Mittellage' und .Mitteleuropa' in der Diskussion der Geographen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, in: GG 15/1989, S. 248-281. 7 ) Peter Krüger: Der Wandel der Funktion von Grenzen im internationalen System Ostmitteleuropas im 20. Jahrhundert, in: Hans Lemberg (Hrsg.): Grenzen in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Aktuelle Forschungsprobleme, Marburg 2000, S. 39-56.

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des Versailler Vertrages erheblich und prägte die Zwischenkriegszeit. Ein regelrechtes „Grenz-Syndrom" formierte sich, welches Grenzen zu einem der zentralen Themen in der politischen Öffentlichkeit werden ließ und damit die politische Kultur der Zwischenkriegszeit prägen sollte. Neben dieser eminenten Bedeutung von Grenzen für die Nation sind Grenzen aber gleichzeitig auch Teil der internationalen Ordnung: Nur „gut geregelte" Grenzen, Grenzen, die unstrittig und mit Zustimmung aller beteiligten Staaten klar festgelegt sind, fördern das friedliche Zusammenleben der Staaten. Um sie zu sichern, bedarf es „eines weitreichenden internationalen Einvernehmens, also eines gut geordneten Staatensystems".8) In der Zwischenkriegszeit war jene Bedingung gerade nicht gegeben: Die (durch die Nationalstaatsbildungen in Ostmitteleuropa gegenüber der Landkarte Europas von 1914 enorm vervielfältigten) Grenzen des Versailler Systems wurden zu dem Instabilitätsfaktor für das europäische System der Zwischenkriegszeit schlechthin. Gleichzeitig wurden sie zum nationalistischen Sprengsatz innerhalb nationaler Gesellschaften. Grenzen hatten somit immense Rückwirkungen sowohl auf internationale wie auf nationale Stabilität und stehen an der Schnittstelle zwischen Internationalem System und nationaler Gesellschaft. Trotz der enormen Bedeutung, die Grenzfragen für die Zwischenkriegszeit (und darüber hinaus) hatten, fehlt bisher eine systematische Analyse in diesem „ganzheitlichen", nationale wie internationale Ebene betrachtenden Verständnis. Die intensiven Forschungen zur Geschichte der Weimarer Republik und den sogenannten „Friedensjahren" des ,.Dritten Reiches" hat Grenzfragen natürlich thematisiert, wobei sich die vorliegende Literatur in zwei Gruppen unterteilen lässt: Entweder findet man klassisch außenpolitikgeschichtliche Arbeiten, die Grenzfragen vor allem im Regierungshandeln (oder aber im Agieren regierungsnaher Lobbygruppen) und im Hinblick auf die internationalen Spannungen der zwanziger und dreißiger Jahre thematisieren, dabei aber gesellschaftliche Zusammenhänge und Rückwirkungen dieser Grenzdebatten außer Acht lassen.9) Andererseits liegen Arbeiten vor, die sich eher kultur-, ideen- oder wissenschaftsgeschichtlich orientiert der „Raumfixierung" der deutschen Gesellschaft - häufig mit einem Schwerpunkt auf 8

) Krüger. Der Wandel der Funktion von Grenzen, S. 39. ) Dabei gilt es zu bemerken, dass selbst auf dieser klassisch außenpolitikgeschichtlichen Ebene eine systematisierende Darstellung der Grenzkonflikte in der Zwischenkriegszeit bisher fehlt. In Ansätzen: Marc Lengereau: Les frontiferes allemandes (1919-1989). Frontieres d~AUemagne et en Allemagne. Aspects territoriaux de la question allemande, Bern 1990. Neben den allgemeinen Darstellungen zur Weimarer Außenpolitik vgl. zu speziellen Grenzfragen in Auswahl: Christian Baechler. Stresemann, Locarno et la frontiere rhenane en 1925, in: Ders./Carole Fink (Hrsg.): L'Etablissement des frontieres en Europe apres les deux guerres mondiales, Bern u.a., S. 181-198; Manfred J. Enssle: Stresemann's territorial revisionism. Germany, Belgium, and the Eupen-Malmedy Question 1919-1929, Wiesbaden 1980; Michael-Olaf Maxelon: Stresemann und Frankreich 1914-1929. Deutsche Politik der Ost-West-Balance, Düsseldorf 1972; Bastian Schot·. Stresemann, der Deutsche Osten und der Völkerbund, Wiesbaden 1984. 9

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dem Raumdenken in den Human- und Geisteswissenschaften - zuwenden.10) Diese Studien fragen meist nach dem Anteil der wissenschaftlichen Vorbereitung von rassistischer Vernichtungspolitik, außenpolitische Aspekte bleiben demgegenüber weitgehend unberücksichtigt. Diese unterschiedlichen Komplexe von innerer und äußerer Ordnung zusammenzubinden und damit die Verknüpfung verschiedener gesellschaftlicher Bereiche aufzuzeigen, dazu will der vorliegende Beitrag anregen. Damit gerät ein Aspekt politischer Kultur der Zwischenkriegszeit in den Blick, der bisher kaum fokussiert wurde: Denn aiißen-politische Kultur, verstanden als die Art und Weise, wie in Politik und Öffentlichkeit über außenpolitische Fragen gestritten wird, welche Argumentationsmuster den Diskurs konstituieren, hat bisher nur wenig Aufmerksamkeit (im Vergleich mit der Analyse „klassischer" Elemente politischer Kulturforschung wie Wahlkämpfe oder Gedenktage usw.) gefunden.11) Und die Rückwirkung der Problemlagen des internationalen Systems der Zwischenkriegszeit auf die politische Kultur in Deutschland blieben bisher mehr oder weniger unberücksichtigt, was sicherlich nicht zuletzt mit der in der deutschen Forschungstradition lange praktizierten Trennung zwischen Diplomatie- und Außenpolitikgeschichte einerseits und eher sozial- oder kulturwissenschaftlichen Ansätzen andererseits zusammenhängt. Die alte Frage nach dem „Primat" der Innen- oder der Außenpolitik scheint mittlerweile überwunden,12) doch eine „kulturwissenschaftliche" Erweiterung der Geschichte der Internationalen Beziehungen steht noch in den Anfängen. Gerade aber ein Thema wie die deutschen Grenzdebatten der Zwischenkriegszeit zeigt, in welchem Maße Innen- und Außenpolitik, Politik und Gesellschaft, nationales und internationales System zusammenhängen und die 10

) Vgl. etwa: Frank Ebeling: Geopolitik. Karl Haushofer und seine Raumwissenschaft 1919-1945, Berlin 1994; Werner Köster. Die Rede über den „Raum". Zur semanüschen Karriere eines deutschen Konzepts, Heidelberg 2002; Michel Korinman: Quand TAllemagne pensait le monde. Grandeur et decadence d'une geopolitique, Paris 1990; Mechthild Rössler: „Wissenschaft und Lebensraum". Geographische Ostforschung im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zur Disziplinengeschichte der Geographie, Berlin/Hamburg 1990. Vgl. auch das GG-Heft „Mental Maps", insb.: Hans-Dietrich Schultz: Raumkonstrukte der klassischen deutschsprachigen Geographie des 19. und 20. Jahrhunderts im Kontext ihrer Zeit. Ein Überblick, in: GG 28/2002, S. 343-377. Auf die umfangreichen Neuerscheinungen der letzten Jahre zum Thema „Volks- und Kulturbodenforschung" wird weiter unten einzugehen sein. n ) Eine der wenigen Ausnahmen: Klaus Megerle: Element nationaler Integration und politischer Konsensstiftung? Zum Stellenwert der Außenpolitik für die politische Kultur der Weimarer Republik, in: Detlef LehnertlKlaus Megerle (Hrsg.): Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung. S. 219-249; Sabine Zimmer: Elemente deutscher Politischer Kultur im Kaiserreich, in der Zeit des I. Weltkriegs, in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Tübingen 1995, geht äußerst knapp auf den Einfluss „außersystemischer Einflussfaktoren" ein. Vgl. ebd. S. 212-216,418^21. •2) Eckart Conze: Zwischen Staatenwelt und Gesellschaftswelt. Die gesellschaftliche Dimension in der Internationalen Geschichte, in: Wilfried Loth/Jürgen Osterhammel (Hrsg.): Internationale Geschichte: Themen - Ergebnisse - Aussichten, München 2000, S. 1 Π Ι 40.

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politische Kultur eines Landes prägen: „Grenzfragen" stellten gewissermaßen ein „Scharnier" dar, das das internationale System, die deutsche Politik und die deutsche Öffentlichkeit zusammenband.13) Der Text gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil wendet sich der Außenpolitik der zwanziger Jahre zu, um sie daraufhin zu befragen, wie hier mit spezifischen Grenzproblemen, vor allem aber mit „Grenzen" im allgemeinen umgangen wurde. Nur langsam gelang es den Reichsregierungen im Verlauf der zwanziger Jahre, eine konstruktive Politik im Hinblick auf die angestrebte Revision der durch den Versailler Vertrag festgelegten Grenzen zu entwickeln. Erst im Rahmen der „Verständigungspolitik" setzte sich dabei in der deutschen Außenpolitik ein neues Grenzverständnis durch. Dieses Verständnis von Grenzen als völkerrechtlich legitimierten Elementen, die das internationale System stabilisierten, verwurzelte sich indes nicht in der Gesellschaft. Stattdessen entwickelte sich - mehr oder weniger abgekoppelt von der Außenpolitik des Reiches - in der deutschen Öffentlichkeit ein „paralleler" Grenzdiskurs, der Grenzen nach anderen, nicht völkerrechtlichen, Argumenten zu legitimieren versuchte. Der zweite Teil des Textes wird sich diesen alternativen Grenzkonzepten zuwenden, die die Bedeutung völkerrechtlicher Grenzen in der politischen Kultur der Weimarer Republik zunehmend verblassen ließen. Dabei wird ein besonderer Fokus auf wissenschaftlichen Grenzkonzepten liegen, waren es doch gerade die Wissenschaften, die diesen „parallelen" Grenzdiskurs initiativ mitgestalteten. Der dritte und letzte Teil schließlich nimmt mit den dreißiger Jahren jene Phase in den Bück, in welcher sich der gesellschaftliche Grenzdiskurs und das außenpolitische Handeln annäherten. Die bereits seit den zwanziger Jahren entwickelten alternativen Grenzlegitimationen wurden nun in die Politik übersetzt: Die nationalsozialistische Außenpolitik respektierte die völkerrechtlich legitimierten Grenzen von Versailles nicht mehr, eine nationalistische statt einer multilateralen Politik schien die erhofften Grenzkorrekturen zugunsten des „Großdeutschen Reiches" garantieren zu können. Doch wurde bald klar, dass die in der Außenpolitik des Deutschen Reiches seit 1933 dominierenden Grenzideen in ihren Zielvorstellungen über eine Revision der Ordnung von 1919 hinausgingen. Ebenso klar wurde damit, dass eine solche außenpolitische Zielvorgabe sich nicht auf friedlichem Wege würde durchsetzen lassen. So sollte 1939 der Krieg neue Grenzen in Europa schaffen, Grenzen, die nicht im internationalen Völkerrecht ihre Legitimation fanden, sondern allein in nationalistischen, rassistischen Paradigmen.

13 ) Zum Begriff des „Scharniers": Gustav Schmidt: England in der Krise. Grundzüge und Grundlagen der britischen Appeasement-Politik (1930-1937), Opladen 1981, S. 30-47; Ders.: Politisches System und Appeasement-Politik, 1930-1937. Zur Scharnierfunktion der Rüstungspolitik für die britische Innen- und Außenpolitik, in: MGM 26/1979, S. 37-53.

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Der Sturm der Empörung, der ausbrach, als die Bedingungen des Versailler Vertrages im Deutschen Reich bekannt wurden, ist häufig genug beschrieben worden.14) Das Entsetzen über das „Schanddiktat" von Versailles einte die politischen Parteien über alle Lagergrenzen hinweg (dies galt auch für die Weimarer Koalition, die den Vertrag unterzeichnete) ebenso wie die Öffentlichkeit. „Revision" - das war das Band, das die recht unterschiedlichen Vorstellungen zur deutschen Außenpolitik einte.15) Da die Reparationsbestimmungen bis zur Londoner Konferenz 1921 noch nicht festgelegt waren, konzentrierte sich die nationale Empörung über konkrete Vertragsbestimmungen ganz überwiegend auf die territorialen Bestimmungen: den Verlust Elsaß-Lothringens, die Korridor-Regelung, das Anschlussverbot, die Bestimmungen zur Rheinlandbesetzung und zum Saargebiet. Dabei vermischten sich unmittelbar nach Kriegsende die Klagen über die veränderten deutschen Grenzen grundsätzlich mit jenen über die Gesamtrahmenbedingungen des Friedens, und die deutschen Gebietsverluste wurden in der ersten Zeit nach Friedensschluss immer wieder in den Gesamtkontext des „Schanddiktats" von Versailles gestellt. Wir finden verhältnismäßig wenige Zeugnisse, die sich ausschließlich mit einzelnen Grenzfragen beschäftigen. Selbst wenn Texte bestimmte territoriale Fragen zum Ausgangspunkt nahmen, so blieben sie doch insgesamt recht unspezifisch. Es ging vor allem darum, das umfassende Unrecht, das man durch Versailles meinte erlitten zu haben, in grellsten Farben zu zeichnen. Die „Amputationen" am deutschen „Volkskörper" waren kurz nach dem Krieg nur Teil jener Amputationen, die man dem deutschen Volk insgesamt vermeintlich zugemutet hatte, indem man ihm seine Wirtschaftskraft, seine Militärmacht und seine „Ehre" raubte. Dabei blieben die heftigen Proteste grundsätzlich und unabhängig von parteipolitischen Verortungen „durchgehend [...] mit einer gewissen Ratlosigkeit behaftet, wenn es um exaktere Angaben über Mittel und Wege [zur Durchsetzung einer Revisionspolitik] ging."16) Schon bald nach Kriegsende jedoch konkretisierte sich das Nachdenken über die neuen Grenzregelungen deutlich. Nachdem der erste Schock überwunden war, der nur einen Blick auf den Versailler Vertrag als ganzen zugelassen hatte, entwickelte sich in der deutschen Gesellschaft über diesen allgemeinen „Niederlagendiskurs" der allerersten Nachkriegszeit hinaus ein 14 ) Vgl. z.B.: Andreas Hillgruber. Unter dem Schatten von Versailles - Die außenpolitische Belastung der Weimarer Republik. Realität und Perzeption bei den Deutschen, in: Karl Dietrich Erdmann/Hagen Schulze (Hrsg.): Weimar. Selbstpreisgabe einer Republik. Eine Bilanz heute, Düsseldorf 1980, S. 51-67. ,5 ) Megerle: Element nationaler Integration, S. 220; Michael Salewski: „Revisionssyndrom". 16 ) Krüger: Die Außenpolitik der Republik von Weimar, S. 91 f.

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spezifischer „Grenzdiskurs". Nun ging es verstärkt und ausschließlich um konkrete Grenzverläufe, um Versuche, die aktuellen Regelungen zu diskreditieren und veränderte Grenzen zu legitimieren. Er wurde in Politik und Öffentlichkeit ebenso geführt wie in unterschiedlichen Wissenschaften, und er bildete den Ausgangspunkt jener „Grenzmanie", die die politische Kultur der Zwischenkriegszeit insgesamt auszeichnen sollte. Entscheidenden Anteil an der Entwicklung dieses spezifischen Grenzdiskurses hatten vor allem jene Bestimmungen des Versailler Vertrages, die in Schleswig-Holstein, Eupen-Malmedy und Unter- und Oberschlesien Volksabstimmungen vorsahen, die über die Zugehörigkeit der Gebiete zum Deutschen Reich entscheiden sollten. Dies eröffnete den Deutschen vermeintlich die Chance, weitere territoriale Verluste zu verhindern. So konzentrierte sich vor allem die Politik darauf, die Abstimmungen vorzubereiten: Das Beispiel Oberschlesiens zeigt, mit welchem finanziellen,17) ideologischen und (im Rahmen der Selbstschutzverbände) auch militärischen Einsatz hier um die zukünftige Grenze gestritten wurde.18) Dabei leisteten vor allem Wissenschaftler gezielt Zuarbeit.19) Gleiches gilt für die Medien, die sich - nicht nur in den Abstimmungsgebieten, sondern auch reichsweit - eine Mobilisierung der öffentlichen Meinung zur Aufgabe machten.20) In diesen Aktivitäten finden wir die Grundlagen der „Deutschtumspolitik" späterer Jahre. Erstmals entwickelte sich hier jene für die zwanziger Jahre typische Doppelstruktur deutscher Außenpolitik:21) Einerseits die Politik gegenüber einzelnen Sien ) Vgl. zur Finanzierung des Abstimmungskampfes: Peter-Christian Witt: Zur Finanzierung des Abstimmungskampfes und der Selbstschutzorganisationen in Oberschlesien 1920-1922, in: MGM 13/1973, S. 59-76. 18 ) Vgl. vor allem die Studie von T. Hunt Tooley: National Identity and Weimar Germany. Upper Silesia and the eastern border 1918-1922, Lincoln u.a. 1997, sowie die neue Arbeit Waldemar Groschs: Deutsche und polnische Propaganda während der Volksabstimmung in Oberschlesien 1919-1921, Dortmund 2003. Siehe auch: F. Gregory Campel: The struggle for Upper Silesia, in: JMH 42/1970, S. 361-385; Peter Nische: Der Reichstag und die Festlegung der deutsch-polnischen Grenze nach dem Ersten Weltkrieg, in: HZ 116/1973, S. 335-361; Harry K. Rosenthal: National Self-Determination. The Example of Upper Silesia, in: JCH 7/1972, S. 231-241. Ahnliches gilt auch für die Volksabstimmung in Schleswig. Vgl.: Jürgen Heuer. Zur politischen, sozialen und ökonomischen Problematik der Volksabstimmungen in Schleswig 1920, MUhlau 1973. ") Vgl. etwa die Karten Albrecht Pencks: Karte der Verbreitung von Deutschen und Polen längs der Warthe-Netze-Linie und der unteren Weichsel sowie an der Westgrenze Polens, Berlin 1919; Ders.: Verteilung der Deutschen und Polen in Westpreußen und Polen, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde, Berlin 1921. 20 ) Vgl. die Dissertation Rudolf Vogels: Deutsche Presse und Propaganda des Abstimmungskampfes in Oberschlesien, Beuthen 1931; Tooley: National Identity and Weimar Germany, S. 243. Vgl. auch: Bernhard von Hülsen: Der Kampf um Oberschlesien. Oberschlesien und sein Selbstschutz, Stuttgart 1922. Zur Bedeutung der Publizistik insgesamt siehe: Peter Fischer: Die deutsche Publizistik als Faktor der deutsch-polnischen Beziehungen 1919-1939, Wiesbaden 1991. 21 ) Innere Behörden versuchten immer wieder, die „Deutschtumspolitik" als Teil deutscher Innenpolitik an sich zu ziehen. Das Auswärtige Amt indes proklamierte die „Deutschtumspolitik" für sich. Vgl. Norbert Krekeler: Revisionsanspruch und geheime Ostpolitik der

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germächten und dem Völkerbund, die Versuche also, Grenzfragen auf internationaler Ebene im deutschen Sinne zu lösen. Andererseits aber auch der „Grenzkampf' vor Ort als aktiver Teil deutscher Außenpolitik.22) Insofern waren die ersten Jahre nach Kriegsende Jahre, in denen man sich im Hinblick auf die deutschen Grenzen - notgedrungen - auf die Regelungen des Versailler Vertrages einließ. Zwar ließ keine gesellschaftliche deutsche Gruppe Zweifel an der grundsätzlichen Ablehnung der Regelungen von Versailles. Dennoch aber akzeptierte man das Vorgehen, nach dem Prinzip des „Selbstbestimmungsrechts" Volksabstimmungen durchzuführen. Hier sah man die Chance, das Selbstbestimmungsrecht im eigenen Interesse nutzen zu können, das an anderer Stelle geschehene Unrecht hier verhindern und auf diese Weise „mit Versailles" die Grenzen des Reiches bestimmen zu können, indem man die „Erfüllungspolitik" gezielt auch auf territoriale Fragen anwandte. Das Scheitern dieser Politik in territorialer Hinsicht ließ die deutsche Politik und Öffentlichkeit empört, jedoch in tiefer Ratlosigkeit zurück, wie die Grenzprobleme denn überhaupt lösbar seien. Fortan konzentrierte sich die deutsche Politik auf jenen Bereich, in dem eine aktive Politik noch möglich schien. Sie versuchte, in der Reparationsfrage durch die „Erfüllungspolitik" weiter zu kommen, letztlich jedoch auch hier ohne Erfolg. Die Besetzung des Ruhrgebietes als „produktivem Pfand" durch die Franzosen und Belgier aufgrund nicht erfüllter Reparationsleistungen hatte schließlich auch für den deutschen Grenzdiskurs erhebliche Bedeutung: Mit ihr kam, nachdem vorübergehend vor allem die Abstimmungsgrenzen im Zentrum des öffentlichen Interesses gestanden hatten, nun auch die Westgrenze insgesamt wieder reichsweit ins Gespräch. Der „Ausgriff' der Franzosen auf die Ruhr, die Bildung einer Zollgrenze, die das Ruhrgebiet vom Reichsgebiet trennte, machte den „Grenzkampf' im Westen nun zu einem dauerhaften Thema in der öffentlichen Meinung des Deutschen Reichs. Ein propagandistischer „Abwehrkampf' entbrannte.23) Nach dem Scheitern des passiven Widerstandes begann mit der Stresemannschen „Verständigungspolitik" eine Phase deutscher Außenpolitik, die sich auch im Hinblick auf ein neues Grenzverständnis auszeichnete. Die Weimarer Republik. Die Subvention der deutschen Minderheit in Polen 1919-1933, Stuttgart 1973, S. 149. Vgl. auch: Helmut Pieper. Die Minderheitenfrage und das Deutsche Reich 1919-1933/34, Hamburg u.a. 1974; Karl-Heinz Grundmann: Deutschtumspolitik zur Zeit der Weimarer Republik. Eine Studie am Beispiel der deutsch-baltischen Minderheit in Estland und Lettland, Hannover 1977; John W. Hiden: The Weimar Republik and the Problem of the Auslandsdeutsche, in: JCH 12/1977, S. 273-289. 22 ) Krekeler: Revisionsanspruch und geheime Ostpolitik, S. 149. 23 ) Franziska Wein: Der Rhein - Frankreichs Strom, Deutschlands Grenze, Essen 1992. Zum rheinischen Separatismus vgl.: Klaus Reimer: Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918-1933). Ein Beitrag zur Geschichte der regionalistischen Bestrebungen in Deutschland, Frankfurt a.M. 1979.

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Konferenz von Locarno brachte die Garantie der deutschen Westgrenze und entwickelte gleichzeitig erstmals nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eine neue Form internationaler Politik, die auch ein neues Grenzverständnis in Deutschland nach sich zog - zumindest bei Teilen des politischen Lagers und Teilen der deutschen Öffentlichkeit. Zwar war bereits relativ bald nach dem Ende des Krieges klar gewesen, „dass territoriale Veränderungen im modernen Zeitalter des Nationalismus und der Massendemokratie ohne Gefährdung des internationalen Systems und möglicherweise schreckliche Opfer kaum mehr durchzuführen sind."24) Wie also die territorialen Revisionsziele, die man vertrat, durchgesetzt werden sollten, dazu hatte man in der unmittelbaren Nachkriegszeit kaum Ideen. Man beharrte stattdessen in allen Bereichen von Politik und Gesellschaft auf deutschen Ansprüchen, den Blick über den nationalen Tellerrand hinaus auf das europäische System richtete man kaum. Erst mit Stresemann kam ein multilateraler Aspekt in der deutschen Außenpolitik wieder zum Tragen. Damit einher ging der Versuch, nationale Grenzen nicht mehr allein als nationales Problem, sondern als Teil eines europäischen Systems zu betrachten. Ein stabiles europäisches System mit Grenzen, die Sicherheit für alle Länder boten, konnte letztlich auch die Sicherheit Deutschlands garantieren - und gleichzeitig war zu hoffen, dass Veränderungen im territorialen Status Quo auf Dauer in einem stabilen europäischen System leichter und vor allem risikoärmer zu verwirklichen sein würden. Voraussetzung dafür war indes, dass das Deutsche Reich in die Position einer gleichberechtigten Großmacht auf das internationale Parkett zurückkehrte und wieder den nötigen außenpolitischen Spielraum erhielt. Diese Entwicklung zeigte auch Rückwirkungen auf den Umgang der Politik mit Grenzen: Die zentralen Streitpunkte der Friedensordnung von Versailles wurden zwar keinesfalls vergessen, doch wurden sie vorerst ausgeklammert. Allen Beteiligten war deutlich geworden, dass Forderungen wie jene nach dem Ende der wirtschaftlichen Restriktionen und Kontrollen oder sogar der Reparationsfrage von den Siegermächten eher zu erfüllen sein würden als Grenzveränderungen. Es war deutlich geworden, dass territoriale Revisionsforderungen für die gesamte Nachkriegsordnung unübersehbare Folgen haben mussten. Schließlich war Deutschland nicht das einzige Land gewesen, das Grenzveränderungen zu eigenen Lasten hinnehmen musste. Begann man an einer Stelle die Grenzen von Versailles zu verändern, so drohte das ganze System zu implodieren. Insofern war die vollständige Anerkennung zumindest der Grenze im Westen und die Betonung, Grenzveränderungen im Osten nur noch in friedlicher, sprich gegenseitiger Abstimmung durchzuführen, unabdingbare Voraussetzung, um die Stabilität des Systems insgesamt zu garantieren.

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) Krüger: Die Außenpolitik der Republik von Weimar, S. 92.

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Mit der Akzeptanz des Versailler Vertrages als legitimem System, das man zwar revidieren wollte, dessen völkerrechtliche Bedeutung man dennoch anerkannte, vertrat die deutsche Politik der Ära Stresemann auch ein spezifisches - völkerrechtliches - Grenzverständnis: Grenzen erschienen hier ausschließlich als „aufgrund politischer Maßnahmen im weitesten Sinne in ihrer präzisen Festlegung und völkerrechtlichen Gültigkeit" entstandene Elemente des internationalen Systems.25) Die Unverletzlichkeit von Grenzen wurde als völkerrechtliches Prinzip akzeptiert. Alternative Grenzkonzepte, die ihre Legitimation nicht aus völkerrechtlichen, sondern anderen Zusammenhängen - wie etwa der Geschichte, der Geographie oder Ethnographie bezogen verloren damit in der deutschen Politik an Relevanz. Während der Phase der Volksabstimmungen hatte man sich noch stark auf solche alternativen Modelle bezogen. Nun aber, mit der „Verständigungspolitik", akzeptierte die deutsche Politik Grenzen als völkerrechtliche Linien, die nur im Rahmen des internationalen Systems zu verändern seien. Dies war angesichts der angespannten internationalen Situation der einzig gangbare Weg: Jeder Versuch, Grenzen nach anderen Legitimationsmustern zu definieren, musste zum Konflikt mit den deutschen Nachbarn führen. Während diese Akzeptanz von völkerrechtlichen Grenzen in der Ära Stresemann der Öffentlichkeit und dem Ausland gegenüber vertreten wurde, heißt dies nicht, dass damit alternative Grenzlegitimationen für die Politik keine Rolle mehr gespielt hätten. Vielmehr förderte insbesondere das Auswärtige Amt wissenschaftliche Studien zum deutschen „Volksboden" außerhalb der Reichsgrenzen, es betrieb, über die auslandsdeutschen Verbände, massive „Deutschtumspolitik" außerhalb der Reichsgrenzen. Wir haben es hier mit einem janusgesichtigen Grenzverständnis zu tun. Während man offiziell die existierenden völkerrechtlich legitimierten Grenzen akzeptierte, also das internationale System multilateral zu gestalten bereit war, arbeitete man im Geheimen an unilateralen, allein an deutschen Normen entwickelten Legitimationsmustern, die eben diese Grenzen wieder in Frage stellten. Hier zeichnete sich bereits ein unaufhebbarer Widerspruch ab: Es war schlicht undenkbar, dass die deutschen Nachbarn Grenzverläufe akzeptieren würden, die sich allein auf deutsche Kriterien beriefen. Weder Kriterien wie der deutsche „Volks"- oder der deutsche „Kulturboden" noch deutsche „Wehrgrenzen" taugten letztlich als Prinzipien konsensualer internationaler Grenzordnung. Insofern waren diese alternativen Grenzkonzepte erst in jenem Moment annähernd realisierbar, in denen sich die deutsche Politik von multilateralen Grundsätzen entfernte, wie es nach 1933 dann geschehen sollte. Während Stresemann in anderen Bereichen, vor allem der Reparationsfrage, mit seiner Verständigungspolitik Erfolge erzielte, war dies in den Grenzfragen nur schwer zu erreichen, wie etwa das Scheitern des „Testfalls" Eu25

) Krüger: Der Wandel der Funktion von Grenzen, S. 43.

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pen-Malmedy zeigt. 2 6 ) Selbst die vorzeitige Räumung des Rheinlandes ließ viel länger auf sich warten, als sich Stresemann erhofft hatte. Insofern gelang es ihm auch nicht, mit spektakulären Erfolgen in der deutschen Öffentlichkeit für seine Politik zu werben. Dabei wäre dies dringend nötig gewesen. D e n n es zeigte sich, dass die Deutschen die Verständigungspolitik kaum mittrugen: Vor allem in Hinblick auf die Grenzfragen fand die von der Reichsregierung vertretene Position der Akzeptanz der durch Versailles völkerrechtlich legitimierten Grenzen keine Mehrheit. Jene Stimmen, die die Verständigungspolitik guthießen, bildeten deutlich die Minderheit. Ihre Vertreter sammelten sich, neben den pazifistischen Verbänden, 2 7 ) in den Reihen der i m U m f e l d der Locamo-Verträge entstehenden Grüppchen, die, wie etwa das DeutschFranzösische Studienkomitee, nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Interessen eine Verständigung mit Frankreich vorantreiben wollten. 2 8 ) Ferner bildeten sich Europaorganisationen, die ebenfalls die Verständigung als Vehikel benutzen wollten. Entweder blieben diese j e d o c h w i e etwa der Verband für Europäische Verständigung i m Zwiespalt z w i s c h e n deutschen Revisionsinteressen und französischem Sicherheitsbedürfnis gefangen. 2 9 ) Oder aber sie 26

) Zu Eupen-Malmedy vgl.: Enssle: Stresemann's territorial revisionism; Günter Ullrich: „Ein Zeichen der Versöhnung im Geiste von Locamo" - Gustav Stresemann 1926. Ein Beitrag zur Geschichte der Eupen-Malmedy Rückgabeverhandlungen in der Locarno-Ära 1924-1926, Lünen 2001. 27 ) Karl Holl: Pazifismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S. 138-204; Ders. (Hrsg.): Pazifismus in der Weimarer Republik. Beiträge zur historischen Friedensforschung, Paderborn 1981; Friedrich-Karl Scheer: Die Deutsche Friedensgesellschaft (1892-1933). Organisation, Ideologie, politische Ziele. Ein Beitrag zur Geschichte des Pazifismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1981. 28 ) Zu deutsch-französischen Verständigungsinitiativen vgl.: Ina Belitz: Befreundung mit dem Fremden. Die deutsch-französische Gesellschaft in den deutsch-französischen Kulturbeziehungen der Locamo-Ära. Programme und Protagonisten der transnationalen Verständigung zwischen Pragmatismus und Idealismus, Frankfurt a.M. u.a. 1997; Hans-Manfred Bock: Kulturelle Eliten in den deutsch-französischen Gesellschaftsbeziehungen der Zwischenkriegszeit, in: Rainer Hudemann/Geoiges-Ham Soutou (Hrsg.): Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert. Strukturen und Beziehungen, München 1994, S. 73-91; Ders.: Zwischen Locamo und Vichy. Die deutsch-französischen Kulturbeziehungen der 30er Jahre als Forschungsfeld, in: Reinhard Meyer-Kalkus/Michel Trebitsch (Hrsg.): Entre Locamo et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les annees 1930, Bd. 1, Paris 1994, S. 25-61. Zum deutsch-französischen Verständigungskomitee in Auswahl: Jacques Bariety: Le role dvEmile Mayrisch entre les siderugies allemande et fran^ais apres la premiere guerre mondiale, in: Revue d'Allemagne 7/1974, S. 123-134; Hans Manfred Bock: Emile Mayrisch und die Anfänge des Deutsch-Französischen Studienkomitees, in: Galerie 10/1992, S. 560-585. 29 ) Zum Verband für Europäische Verständigung: Vanessa Conze: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920-1970), München 2005, S. 232-242; Reinhart Frommelt: Paneuropa oder Mitteleuropa. Einigungsbestrebungen im Kalkül deutscher Wirtschaft und Politik 1925-1933, Stuttgart 1977; Jürgen C. Heß: Europagedanke und nationaler Revisionismus. Überlegungen zu ihrer Verknüpfung in der Weimarer Republik am Beispiel Wilhelm Heiles, in: HZ 225/1977, S. 572-622; Karl Holl: Europapolitik im Vorfeld der deutschen Regierungspolitik. Zur Tätigkeit proeuropäischer Organisationen in der Weimarer Republik, in: HZ 219/1974, S. 3-93.

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zogen vor allem Kritik auf sich, wie etwa Richard Coudenhove-Kalergi mit seiner Paneuropa-Union, der explizit versuchte, nationale Standpunkte in Grenzfragen hinter sich zu lassen.30) Zu den Stimmen, die die Stresemannsche Verständigungspolitik unterstützten, kamen katholische Intellektuelle aus dem Rheinland, die dem Gebiet um den Strom als „Kernland des Abendlandes"31) eine völkerverständigende Funktion zusprachen. Von diesen Stimmen wurde die Grenze weniger zu etwas Trennendem als zu etwas Verbindendem, zu einem „Gelenk"32) erklärt. Der „Grenzraum" sollte hier den Austausch fördern und damit zugleich die Nationen einander näher bringen.33) Doch selbst in diesen verständigungsbereiten Kreisen kam es zunehmend zu Kritik an Frankreich, als die Räumung des Rheinlands auf sich warten ließ. Ende der zwanziger Jahre wurde der Rhein auch hier von einem „abendländischen" wieder zu einem „deutschen" Strom: „Frankreich bedient sich des Rheins um zu herrschen, Deutschland bedarf des Rheins um zu leben."34) Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung jedoch hielt am traditionellen Bild des „Schanddiktats" unverändert fest, und das Scheitern etwa der Verhandlungen um Eupen-Malmedy bestärkte die deutsche Öffentlichkeit nur in ihrer festverwurzelten Überzeugung, dass die Grenzführungen von Versailles ausschließlich dazu dienten, das deutsche Volk klein zu halten und daher auf keinen Fall anzuerkennen seien. Multilaterales Denken, das Verständnis dafür, dass Grenzen als Teil des internationalen Systems nicht allein nationale Probleme darstellten, sondern nur im völkerrechtlich fundierten Miteinander zu bestimmen waren, fand in das Denken breiter Schichten keinen Eingang.35)

30 ) Vanessa Conze: Richard Coudenhove-Kalergi. Umstrittener Visionär Europas, Göttingen 2004. 31 ) Hermann Platz: Abendländische Vorerinnerung, in: Abendland 1/1925/26, Heft 1, S. 6. 32 ) Carl Oskar von Soden: Deutschland, Polen und Locarno, in: Abendland 1/1925/26, Heft 3, S. 72. 33 ) Zu Europaideen der Zwischenkriegszeit, auch in ihrer Kontinuität über das Jahr 1945 hinaus vgl: Conze: Das Europa der Deutschen. Speziell zum „Abendland"-Gedanken: Dies. (unter dem Namen Plichta)/Gmdo Müller. Zwischen Rhein und Donau. Abendländisches Denken zwischen deutsch-französischen Verständigungsinitiativen und konservativkatholischen Integrationsmodellen 1923-1957, in: Journal of European Integration History 5/1999, S. 2, 17-47. 34 ) Konrad W. Andree: Freier Rhein und entwaffnetes Deutschland?, in: Abendland 5/1930, Heft 10, S. 313-323. 35 ) Krüger: Die Außenpolitik der Republik von Weimar, S. 213.

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II. Je weniger man die völkerrechtlich legitimierten Grenzen von Versailles akzeptierte, desto stärker entfaltete sich in der deutschen Öffentlichkeit ein breiter Diskurs darüber, wie und auf welche Weise Grenzen denn in anderer Form zu legitimieren seien. Bei der Entwicklung dieser alternativen Prinzipien und Normen, auf die sich Forderungen nach Grenzkorrekturen stützen ließen, tat sich vor allem eine Gruppe hervor: die Geistes- und Sozialwissenschaften. Sie waren es, die die zum Teil weit über die nationalstaatlichen Grenzen des Deutschen Reiches der Zwischenkriegszeit hinausgehenden Grenzforderungen wissenschaftlich zu legitimieren versuchten und ihnen damit einen Anstrich von „Wahrhaftigkeit" gaben: „Wie aber soll sich auf gerechte, naturwissenschaftlich begründbare, wahrhaft soziale Weise jemals [...] die Verteilung des Lebensraumes auf der zusehends [...] enger und kleiner werdenden Erde [verwirklichen lassen], wenn nicht wieder und wieder von der Wissenschaft für die Staatskunst gesammelt und bereitgestellt wird, was sich an unverrückbaren Grundlagen, an festen Anhaltspunkten für die gerechte Abgrenzung der einzelnen Teilräume und Staatszellen unseres Planeten erarbeiten läßt?"36) Dabei wurden Wissenschaftler, das ist bereits angeklungen, von der Politik - trotz aller Verständigungspolitik - finanziell und organisatorisch unterstützt, ja als Berater zurate gezogen. Die theoretische Fundierung alternativer Grenzkonzepte, die ein multilaterales, völkerrechtliches Grenzverständnis zugunsten nationaler Problemlagen aufhob, verlief parallel zur Verständigungspolitik der Ära Stresemann. Dabei griff man in vielen Argumentationsmustern auf Theoreme zurück, die bereits im Kaiserreich entwickelt worden waren - vor allem im Bereich geographischer und geopolitischer Vorstellungen.37) Dennoch entstanden wichtige theoretische Werke zu Grenzfragen just in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre: Karl Haushofers Arbeit über „Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung" etwa erschien 1927.38) Hier standen bereits unterschiedlichste „Grenzformen" gleichberechtigt nebeneinander. Multilateral36

) Haushofer: Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. ΧΠΙ. ) Vgl. den „Klassiker": Friedrich Ratzel·. Politische Geographie oder die Geographie der Staaten, des Verkehrs und des Krieges, München 1897, v.a. den sechsten Abschnitt über Grenzen, S. 535-620. Siehe auch: Michael Fahlbusch: Grundlegung, Kontext und Erfolg der Geo- und Ethnopolitik vor 1933, in: Irene Diekmann/Peter Krüger/Julius H. Schoeps (Hrsg.): Geopolitik. Grenzgänge im Zeitgeist, Bd. 1, 1890-1945, S. 103-146, v.a. 106126; Heinz Gollwitzer. Geschichte des weltpolitischen Denkens, Bd. Π.: Zeitalter des Imperialismus und der Weltkriege, Göttingen 1982, S. 52-71; Michel Kronman: Quand TAllemagne pensait le monde; Hans-Dietrich Schultz: Deutschlands „natürliche Grenzen"; Oers.: „Was ist des Deutschen Vaterland?" Geographie und Nationalstaat vor dem Ersten Weltkrieg, in: Geographische Rundschau 47/1995, S. 492-497; Ders.: Land - Volk - Staat. Der geographische Anteil an der .Erfindung' der Nation, in: GWU 51/2000, S. 4-16. 38 ) Haushofer. Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung. Vgl. auch: Norbert Krebs: Deutschland und Deutschlands Grenzen, Berlin 1929. 37

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völkerrechtlich vereinbarte Grenzen spielten jedoch nur noch eine untergeordnete Rolle: „Rechtsbuchstabe und Lebensdrang" wurden antagonistisch gegenübergestellt - nicht selten mit Verweis auf „romanische" und „germanische" Grenzauffassungen: Die völkerrechtliche „Grenzlinie" als „blut- und körperlose, möglichst mathematische Abstraktion" einerseits, der „Grenzsaum" als „dreidimensionaler, durchbluteter Grenzkörper" andererseits.39) Jene Gruppe von Wissenschaftlern, die sich einer solchen Delegitimierung völkerrechtlicher Grenzen hätte entgegenstellen müssen, die Völkerrechtler selbst, hielt sich in den Grenzdebatten bedeckt. Sie blieben gefangen in dem Konflikt, der sich ergab aus dem zunehmenden Auseinandertreten ihrer professionellen „mental map", welche die völkerrechtlich legitimierten Grenzen von 1919 als unantastbar begriff, und der kollektiven „mental map" der Deutschen, die diese völkerrechtlichen Grenzen als unakzeptabel verurteilte. So hielten sich Völkerrechtler bedeckt, in dem sie betonten, dass es nicht Aufgabe des Völkerrechts sei, über konkrete Grenzverläufe Aussagen zu treffen,40) oder sie beschränkten sich auf allgemeinere Untersuchungen etwa zur Stellung der Freien Stadt Danzig unter Völkerbundsmandat.41) Doch selbst innerhalb der Völkerrechtswissenschaft wurde - vor allem nach 1933 - die Bedeutung völkerrechtlich legitimierter Grenzen grundsätzlich in Frage gestellt, ja schließlich in der Tradition der Völkerrechtsleugner die Existenz einer internationalen Völkerrechtsordnung insgesamt bestritten.42) Nach Carl Schmitts „Großraum"-Konzepten am Beginn des Zweiten Weltkrieges, der nationalstaatliche Grenzen innerhalb von Großräumen bereits in ihrer Bedeutung relativierte zugunsten der Außengrenzen dieses von einem „Reich" dominierten Gebietes,43) fand diese Entwicklung ihren Höhepunkt bei den SS-nahen Völkerrechtswissenschaftlern wie Reinhard Höhn während des Zweiten Weltkrieges. Diese lehnten die Völkerrechtsinterpretation Carl Schmitts als „etatistisch" ab und erhoben allein die Rasse zum Kriterium internationaler Ordnung.44) So lautete die Definition der SS: „Unsere Grenze ist das Blut".45) 39

) Haushof er: Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. 21. ) Julius Hatschek/Ksul Strupp: Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, Aachen 1924, Art.: Grenze. 41 ) Vgl. etwa: Otto Loenig: Die Rechtsstellung der Freien Stadt Danzig, Berlin 1928; Rudolf Pfeuffer: Die völkerrechtliche Stellung der freien Stadt Danzig, Danzig 1921; KarlLudwig Schroeder: Die völkerrechtliche Stellung Danzigs, Breslau 1927. 42 ) Gustav Adolf Walz: Wesen des Völkerrechts und Kritik der Völkerrechtsleugner, Stuttgart 1930. 43 ) Felix Blindow: Carl Schmitts Reichsordnung. Strategie für einen europäischen Großraum, Berlin 1999; Lothar Gruchmann: Nationalsozialistische Großraumordnung. Die Konstruktion einer „deutschen Monroe-Doktrin", Stuttgart 1962; Mathias Schmöckel: Die Großraumtheorie. Ein Beitrag zur Geschichte der Völkerrechtswissenschaft im Dritten Reich, insbesondere der Kriegszeit, Berlin 1994. M ) Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903-1989, Bonn 1996, S. 271-298. 45 ) SS-Leitheft 2 vom 22.2.1936, S. 13. 40

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Die Entwicklung eines (zur außenpolitischen Ebene) alternativen Grenzdiskurses im Verlauf der zwanziger Jahre war also für den Umgang der Deutschen mit ihren Grenzen entscheidend. Zunehmend sollte es in weiten Kreisen der deutschen Bevölkerung zu einem „Verblassen der tatsächlichen völkerrechtlichen Grenzen und ihrer stabilisierenden Funktion"46) kommen eine Entwicklung, die dann in den dreißiger Jahren auch offiziell in die Politik übersetzt wurde. Bevor jedoch dieser Schritt näher in den Blick zu nehmen sein wird, sollen im Folgenden die Argumente beschrieben werden, die insbesondere von Wissenschaftlern in die Grenzdiskussion eingebracht wurden, aber schnell Verbreitung in weiten Teilen der deutschen Publizistik und damit wohl auch in weiten Kreisen der deutschen Bevölkerung fanden. Trotz aller Vereinfachung lassen sich acht Kategorien unterscheiden, die ein weitaus breiteres Spektrum umfassen als es die aktuelle Konzentration der Forschung auf geo- bzw. ethnopolitische Fragen nahelegt.47) Zentral waren in diesem Diskurs natürlich politische Argumente gegen die Grenzregelungen des Versailler Systems. Diese bildeten die immer wieder explizit ausgeführte Motivation, konkrete Grenzfuhrungen zu analysieren und zu kommentieren, um auf diese Weise das vermeintlich geschehene politische Unrecht nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.48) Generell kamen bei den politischen Argumenten immer wieder die „Ungerechtigkeiten" des Friedensschlusses sowie der Politik der unmittelbaren Nachkriegsjahre zur Sprache. Im Zentrum stand dabei der Verweis auf Wilsons 14 Punkte, die sich als „eitel Lug und Trug" erwiesen hätten und durch welche die Deutschen über die „wahre" Natur des Friedensschlusses „getäuscht" worden seien.49) Das „Selbstbestimmungsrecht" sei „wider alle Gerechtigkeit und alle politische Vernunft" entweder verweigert oder manipuliert worden.50) Nur selten wurde dabei allerdings der Vorwurf der Abstimmungsmanipulation durch die Alli46

) Krüger. Der Wandel der Funktion von Grenzen, S. 50. ) Ahnliche Argumentationsformen macht Roland Gehrke für die polnischen Westansprüche aus: Roland Gehrke: Der polnische Westgedanke bis zur Wiedererrichtung des polnischen Staates nach Ende des Ersten Weltkrieges. Genese und Begründung polnischer Gebietsansprüche gegenüber Deutschland im Zeitalter des europäischen Nationalismus, Marburg 2001. 4S ) Bei einem Blick auf die Literatur lässt sich eine grobe Gliederung erkennen: In den zwanziger Jahren, als die Rheinlandbesetzung noch bestand, widmete sich ein Großteil der „Grenzschriften" der Grenze im Westen. Erst in den dreißiger Jahren, als einerseits die Westgrenze (auch militärisch wieder) gesichert, andererseits die nationalsozialistische Außenpolitik vermeintlich neue außenpolitische Spielräume zu schaffen schien, trat auch der Korridor wieder stärker in den Blick. 49 ) Alfred Hettner. Der Friede und die Politische Geographie, in: Geographische Zeitschrift 25/1919, S. 233-235, 233; vgl. z.B. auch die Erläuterungen zu der Karte: Wie der Versailler Vertrag Wilsons Grundsätze mißachtet und den deutschen Westen verstümmelt hat, in: Karl Linnebach: Die gerechte Grenze im deutschen Westen - ein lOOOjähriger Kampf, Berlin 1926, S.61. 50 ) Paul Blunk: Ostpreußen und der Korridor. Vortrag gehalten am 16. März 1933, Berlin 1933, S. 3. 47

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ierten erhoben. Vielmehr hoffte man - gerade i m Hinblick auf die „KorridorGefahr" 5 1 ) - immer wieder auf die Unterstützung des Auslands, w o vermeintlich „viel klarer als bei uns die Unhaltbarkeit der politischen Lösungen i m Osten erkannt" wurde. 5 2 ) Ausländische Texte, die die Korridorlösung kritisierten, wurden ausführlich zitiert, verbunden mit d e m Hinweis, dass der „Korridor" die europäische Sicherheit und damit den Weltfrieden gefährde. 5 3 ) Ein weiterer politischer Argumentationsstrang b e z o g sich auf die Rheinlandbesetzung bzw. den „Ruhrkampf'. 5 4 ) D i e Politik der Franzosen wurde dabei als annexionistisch beschrieben; es ginge ihr letztlich nur darum, den Rhein als französische Ostgrenze durchzusetzen. 5 5 ) A u f die in diesem Zusammenhang immer wieder konstatierte historische Kontinuität französischer Ostpolitik wird i m Zusammenhang mit historischen Argumentationsweisen noch einmal zurückzukommen sein. D i e zeitgenössische Literatur zur Rheinlandfrage oder z u m polnischen Korridor ist kaum zu übersehen. 5 6 ) Darunter

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) Die Korridor-Gefahr. Das Problem des deutschen Ostens, der europäischen Verständigung, des Weltfriedens von *** (anonym), München 1930. 52 ) Die Korridor-Gefahr, Geleitwort. 53 ) Dabei handelte es sich überwiegend um Publikationen aus den 30er Jahren: Zeugnisse der Wahrheit. Danzig und der Korridor im Urteil des Auslands, Berlin 1939; Erich Murawski: Das Korridorproblem in der internationalen Diskussion, in: Friedrich HeisslA. Hillen Ziegfeld (Hrsg.): Deutschland und der Korridor, Berlin 1933, S. 221-260; (im Versuch, Polens annexionistische Ziele nachzuweisen:) Axel Schmidt: Gegen den Korridor. Polnische Zeugnisse und Tatsachen, Berlin 1939; Ulrich Wendland: Das Korridorproblem in der internationalen Diskussion, in: Friedrich Heiss (Hrsg.): Deutschland und der Korridor, Berlin 1939, S. 277-290; Polnische und andere ausländische Stimmen zum Korridor- und Danzig-Problem, Auslandsstimmen über Danzigs Deutschtum, Welche Vorschläge hat das Ausland im Laufe der Nachkriegsjahre gemacht?, in: *** (anonym), Korridor und Danzig, Breslau 1939, S. 11-33. 54 ) Vgl. z.B.: Franz Rodens: Der Sieg am Rhein. Frankreich und der Separatismus, Bonn 1933; Um Rhein und Ruhr und deutsches Sein. Des deutschen Volkes Kampf um seine Freiheit, sein Recht, seine Arbeit und sein Vaterland, unter Mitarbeit deutscher Männer und Frauen herausgegeben, Berlin 1923; Ders. : Zehn Jahre Fremdherrschaft am deutschen Rhein. Eine Geschichte der Rheinlandbesetzung, Berlin 1928 (mit ausführlichen Literaturangaben). 55 ) Hermann Coblenz: Frankreichs Ringen um Rhein und Ruhr. Eine Schriftenreihe zur Abwehr, Berlin o.J.; Keetmann: Frankreichs Kampf um den Rhein. Eine politische Studie zum Versailler Friedensdiktat, Völkerrechtsfragen, Heft 9, Berlin 1925; Walter Platzhoff: Rhein und Osteuropa in der französischen Außenpolitik, in: Elsaß-Lothringisches Jahrbuch 7/1928, S. 1-8. Zur Bedeutung des Rheins für Frankreich: Fernand L'Huillier. Le mythe franfais du Rhin 1918-1923, in: Baechler/Fink (Hrsg.): L'Etablissement des frontieres en Europe, S. 263-279. Siehe zum „Rhein"-Problem insgesamt: Nikolaus Flüeler: Der mißbrauchte Rhein. Untersuchung zu einem problematischen Thema der Geschichte deutschfranzösischer Beziehungen, Phil.Diss, Zürich 1966; Aram Mattioli: .Volksgrenzen' oder Staatsgrenzen? Wissenschaft und Ideologie in der Debatte um die Hochrheingrenze (19251947), in: G. Marchai (Hrsg.): Grenzen und Raumvorstellungen (11.-20. Jahrhundert), Zürich 1996, S. 285-311; Peter Schüttler. Le Rhin comme enjeu historiographique dans rentre-deux-guerre, in: Genese 14/1994, S. 63-82. 56 ) Vgl. die Verzeichnisse: Güntzel: Das Schrifttum über das Recht der abgetretenen und besetzen Gebiete. Juristische Wochenschrift 1926, S. 1377; Reismüller-Hofmann: Zehn Jahre Rheinlandbesetzung. Ein beschreibendes Verzeichnis des Schrifttums über die West-

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finden sich natürlich auch zahlreiche Schmäh- und Hetzschriften; die große Menge der Texte jedoch versucht - trotz aller politischen Argumentationsweisen - auf weniger plumpe Weise vorzugehen, indem man betonte, eine „vollkommen überparteiliche Haltung" anzunehmen.57) Diese im Kern höchst politische „unpolitische" Grundhaltung - ein zentrales Element der politischen Kultur der Zwischenkriegszeit nicht nur in konservativen Kreisen findet sich in einem Großteil aller Werke zu Grenzfragen in der Zwischenkriegszeit.58) Diese politische Fundierung der Kritik an den bestehenden Grenzen wurde mit Argumenten verknüpft, die sie inhaltlich unterfüttern sollten. Damit einhergehend entwickelten sich - und das ist zentral - auch Legitimationsstrategien für „bessere" und „gerechtere" Grenzen. So fühlten sich zum Beispiel die sich in der Zwischenkriegszeit, besonders aber nach der nationalsozialistischen „Machtübernahme" etablierenden „Wehrwissenschaften" in besonderem Maße berufen, die deutschen Grenzen im Hinblick auf militärische Argumente zu analysieren.59) Sie verknüpften die bekannten politischen Argumente mit Hinweisen zur militärischen Entwicklung aufgrund der Grenzziehungen des Versailler Vertrages. Für Wehrwissenschaftler bedeuteten die Grenzen von 1919 alles andere als militärisch sinnvolle „Wehrgrenzen". Auf zahlreichen Karten versuchten sie ihren Lesern zu verdeutlichen, wie wehrlos das Deutsche Reich durch seine Grenzführung sei: Sowohl die deutschen wirtschaftlichen Ballungsräume wie auch die großen Städte lägen in grenznahen Gebieten, also nicht im „deutschen Restschutzraum",60) und hätten damit keinerlei Sicherheit vor einem möglichen Angriff. Dies entsprach der Überzeugung, dass Deutschland „die wohl schlechtesten militärischen Grenzen in Europa" besäße,61) ja durch die Bestimmungen des Versailler Vertrages eigentlich „keine Grenzwehr und vollends keine Form der Wehrgrenze" mehr innehabe und damit vollständig „entwehrt" (das hieß gleichzeitig auch: „entehrt") sei.62) Dafür waren nach Auffassung aller Autofragen mit Einschluß des Saargebietes und Eupen-Malmedy, Leipzig 1928; Rühlmantr. Fragen des besetzten Westens. Ein Literaturnachweis, 2. Aufl. Berlin 1925. 57 ) So z.B. das Vorwort zu der Reihe „Rheinische Schicksalsfragen". Hier zitiert nach Helmut Göring: Die Großmächte und die Rheinfrage in den letzten Jahrhunderten, Berlin 1926, Vorbemerkung des Herausgebers. 58 ) Raimund von dem Bussche: Konservatismus in der Weimarer Republik. Die Politisierung des Unpolitischen, Heidelberg 1998, vor allem S. 21-53. 59 ) Zu den „Wehrwissenschaften" vgl.: Christoph Jahr. Die .geistige Verbindung von Wehrmacht, Wissenschaft und Politik': Wehrlehre und Heimatforschung an der FriedrichWilhelms-Universität zu Berlin 1933-1934, in: Jahrbuch fur Universitätsgeschichte 4/2001, S. 161-176. Am Seminar für Zeitgeschichte der Universität Tübingen entsteht eine Dissertation zur Geschichte und Entwicklung der „Wehrwissenschaften" zwischen Erstem Weltkrieg und Kaltem Krieg. 60 ) Haushofer: Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. 218. 61 ) Ewald Banse·. Wehrwissenschaft. Einführung in eine neue nationale Wissenschaft, Leipzig 1933, S. 7. 62 ) Haushofer: Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. 218.

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ren die Ergebnisse des Versailler Vertrages verantwortlich zu machen. Doch kamen in wehrwissenschaftlicher Perspektive weitere Argumente hinzu: Im Zentrum der Argumentation stand dabei die sogenannte deutsche „Mittellage". Dieser Topos hatte bereits seit dem 19. Jahrhundert dazu gedient, die angestrebte Vormachtstellung des Deutschen Reiches über „Mitteleuropa" zu begründen. Im Verständnis der Wehrwissenschaften jedoch verstärkte diese „Mittellage" nach dem verlorenen Weltkrieg und angesichts der geopolitischen Situation der Zwischenkriegszeit Deutschlands Grenzprobleme:63) „Je mehr fremde Völker an einen Staat grenzen, wie es bei der Mittellage der Fall ist", desto größer sei die Gefahr eines militärischen Angriffs, aber auch einer ideologischen Beeinflussung der Bevölkerung im Grenzland.64) Gleichzeitig war man überzeugt, dass es „für die Sicherheit eines Staates [...] nicht nur entscheidend [ist], wie er zu seinen Nachbarn liegt, sondern auch wie seine Grenzen beschaffen sind"65). Damit ist die nach wehrwissenschaftlicher Überzeugung negative äußere Gestalt Deutschlands angesprochen, denn ,je mehr sich ein Staat der Kreisform nähert, um so kürzer werden seine Grenzen, und um so leichter kann er verteidigt werden."66) Die deutschen Grenzen jedoch seien nicht nur „3,1 mal länger als der Umfang des flächengleichen Kreises", sondern sie zeigten - etwa an der deutschpolnischen und der böhmischen Grenze - auch noch Ausbuchtungen, die insbesondere Berlin gefährlich nah an die Grenze heranrücken lasse. Argumente, nach denen dem Deutschen Reich an seinen Grenzen auch der nötige Schutz durch geographische Hindernisse fehlte, kamen hinzu. So finden sich zum Beispiel Texte, in denen der Rhein als die eigentliche militärische Grenze im Westen beschrieben wird: In diesem Verständnis waren die linksrheinischen Gebiete ein „Glacis", das im Falle eines Krieges notwendigerweise zu opfern war, weil es nicht zu verteidigen war.67) Die in der öffentlichen Diskussion der Zwischenkriegszeit weitverbreitete Vorstellung, das deutsche Volk müsse „wehrhaft" gemacht werden, fand ihren Niederschlag auch in den Debatten über die militärischen Grenzen des Reiches. „Grenzwehr und Wehrgrenze" sollten solange nicht „als Idee aus der öffentlichen Meinung des deutschen Volksbodens, aus der Schule und Erziehung, besonders aus den Hochschulen verschwinden, bis alle anderen Völker Europas auch mindestens die Entwehrung ihrer Grenzen [...] zugestanden haben."68) Hier verknüpfte sich der Grenzdiskurs wiederum mit tagespolitischen Argumenten: den Debatten um Sicherheit und Abrüstung der 63

) Zur „Mittellage" und „Mitteleuropa" vgl. den Abschnitt zu geographischen Argumentationsweisen. M ) Friedrich Papenhusen: Wehrwissenschaft und Wehrgeographie, in: Geographische Wochenschrift 1/1933, S. 797-804, 798. 65 ) Ebd., S. 802. 66 ) Ebd., S. 801. 67 ) Oskar von Niedermayer: Wehrgeographie, Berlin 1942. 68 ) Haushofer. Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. 218.

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zweiten Hälfte der zwanziger Jahre. Pazifistisch waren diese Vorstellungen indes selten. Es ging um Deutschlands Sicherheit angesichts der eigenen militärischen Machtlosigkeit. Während pazifistische Stimmen sich insgesamt wenig in die Debatten über Deutschlands Grenzen einschalteten, lassen sich demgegenüber nicht selten Positionen ausmachen, die hofften, die nötige Sicherheit des Friedens in Europa ließe sich nicht durch Abrüstung, sondern durch die Überwindung wirtschaftlicher Grenzen verwirklichen. Die Forderung etwa des österreichischen Grafen Richard Coudenhove-Kalergi oder auch des DeutschFranzösischen Studienkomitees nach verbesserten Kontakten zwischen deutschen und französischen Industriellen, einem geeinten europäischen Wirtschaftsraum oder gar einer Währungsunion waren immer auch zu verstehen als Teil eines weitergreifenden Verständigungsprojektes innerhalb Europas. Dieses sollte den Frieden nicht zuletzt dadurch sichern, dass es die Bedeutung umstrittener (wirtschaftlicher) Grenzen zurücktreten lassen sollte. Demgegenüber standen jedoch auch zahlreiche Stimmen, die gegen die Grenzziehung des Versailler Vertrages wirtschaftliche Argumente anführten, ohne daraus notwendigerweise verständigungsbereite Konsequenzen zu ziehen. So stecke zum Beispiel das Saargebiet in einer „wirtschaftsgeographischen Schlinge, es steckfe] in einem Sack, es [sei] von drei Seiten von der Frankenund der Zollgrenze umzingelt mit der notwendigen Wirkung der fast vollständigen Abtrennung von den seit Jahrhunderten eingespielten Bezugs- und Absatzgebieten."69) Ähnliche Argumente lassen sich auch für das Rheinland finden, welches durch die Grenzregelungen der Friedensverträge und die französische Besatzung einen erheblichen wirtschaftlichen Niedergang erlebe, den die Franzosen gezielt herbeiführten.70) Diese Texte verstanden Grenzen vorwiegend als Zollgrenzen, deren Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft mit genauen statistischen Angaben ausgeführt wurden. Beispielhaft verwies man auf die eminent politische Bedeutung der um das Rheinland bzw. das Ruhrgebiet errichteten Zollgrenzen: Zwar habe die französische Regierung bei den Friedensverhandlungen in Versailles den Begriff „Annektion" vermieden, doch wenn „Frankreichs militärische Grenze der Rhein ist, Frankreichs Zollgrenze der Rhein ist, Deutschlands politische Westgrenze der Rhein ist, worin unterscheiden sich diese Konstruktionen von einer An69

) Hermann van Harn: Die Wirtschaftsnöte des Westens durch Kriegsausgang und Grenzziehung mit besonderer Berücksichtigung der Rheinprovinz, Berlin 1928. 70 ) Vgl. in Auswahl: Peter Härtel: Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem besetzten und unbesetzten Gebiet, Diss., Köln 1925; Karl H. Henco: Frankreichs Wirtschaftsziele während der Besatzung, in: Kampf um den Rhein. Beiträge zur Geschichte des Rheinlandes und seiner Fremdherrschaft 1918-1930, Mainz 1930, S. 70-80; Reinhold Georg Quaatz: Der Franzoseneinbruch. Frankreichs Angriff und Deutschlands Verteidigung. Ihre wirtschaftliche und politische Bedeutung, Berlin 1923; Rudolf Strobel: Sanktionen und Rheinzollinie. Eine politisch-wirtschaftliche Studie, München 1922; van Ham: Wirtschaftsnöte des Westens.

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nektion der linksrheinischen Gebiete"?71) Es erschien zahlreichen Publizisten und Wissenschaftler daher als zentral, auf die Grenzveränderungen im Rheinland hinzuweisen, waren diese doch, gerade im Vergleich mit dem polnischen „Korridor", nicht offensichtlich genug: „Die heutige Ostgrenze des Reiches schreit [...] ihre Unvernunft heraus, die neue deutsche Westgrenze dagegen sieht auf der Karte nicht ganz so den deutschen Volkskörper zerfetzend aus."72) Die „Zerstückelung" des Reiches durch den „Korridor" und die Abtrennung des oberschlesischen Industriegebietes war jedoch nach ökonomischer Argumentation die wichtigste Grenzproblematik der zwanziger Jahre überhaupt, habe das Deutsche Reich mit dem Verlust Oberschlesiens doch einen Großteil seiner Industriekapazität und Rohstoffvorräte eingebüßt. Hier bemühten die Autoren sich, immer wieder den Beweis einer seit Jahrhunderten schicksalhaft verbundenen einheitlichen Wirtschaftslandschaft im Osten „als Teilgebiet des Gesamtorganismus des Deutschen Reiches" zu erbringen.73) Diese sei durch polnische Zoll- und Abschottungsmaßnahmen zerstört und werde zu einer „wirtschaftlich toten Zone", in welcher das Hinterland von Kreisstädten abgetrennt sei, Verkehrswege und Eisenbahnlinien durchschnitten würden.74) Dabei wurden nicht selten auch geographische und geopolitische Argumente angeführt, was uns zu einem weiteren entscheidenden Argumentationsstrang innerhalb der Debatten um deutsche Grenzen führt. In diesem Bereich engagierten sich verständlicherweise vorwiegend Geographen, für die Grenzen traditionell ein zentrales Untersuchungsfeld darstellten.75) Bereits seit dem Ersten Weltkrieg politisierte sich diese geographische Beschäftigung mit Grenzen erheblich.76) Geographen sahen sich selbst als prädestiniert an, der Politik in Grenzfragen beratend zur Seite zu stehen. Neben den anthropogeographischen Grenzen wie Siedlungs-, Verkehrs oder Kulturgrenzen stand dabei die alte Idee der „natürlichen" Grenze immer wieder im Zentrum: Idea71

) Henco: Frankreichs Wirtschaftsziele, S. 71. ) Van Ham·. Die Wirtschaftsnöte, S. 5. 73 ) Walter Geisler. Die ostdeutsche Wirtschaftslandschaft und ihre Zerstörung durch das Diktat von Versailles, in: Heiss (Hrsg.): Deutschland und der Korridor, S. 153- 170, 157; Carl Budding: Der polnische Korridor als europäisches Problem, Danzig 1932. 74 ) Geisler: Die ostdeutsche Wirtschaftslandschaft, S. 168, 169. 75 ) Vor allem Hans-Dietrich Schultz hat sich diesen Zusammenhängen gewidmet, siehe Anm. 37. Vgl. auch: Korinman: Quand TAllemagne pensait le monde. 76 ) Vgl. z.B.: Albrecht Penck: Über politische Grenzen. Rede zum Antritt des Rektorates der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 25. Sept. 1917, Berlin 1917; Wilhelm Sievers: Die geographischen Grenzen Mitteleuropas. Akademische Rede zur Jahresfeier der Großherzoglich Hessischen Ludwigs-Universität am 1. Juli 1916, Glessen 1916; Alfred Hettner: Der Friede und die Politische Geographie, in: Geographische Zeitschrift 25/1919, S. 233-235; Otto Maull: Geographische Staatsstraktur und Staatsgrenzen, in: Kartographische und schulgeographische Zeitschrift, Heft 9/10/1919, S. 129-136. Siehe auch: Astrid Mehmet Deutsche Revisionspolitik in der Geographie nach dem Ersten Weltkrieg, in: Geographische Rundschau 47/1995, Heft 9, S. 498-505. 72

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le Grenzen seien jene Grenzen, die von der Natur, etwa in Form morphologischer oder Klima- und Vegetationsgrenzen, vorgegeben seien. Solche geographischen Grenzkonzepte kannte man bereits seit Jahrhunderten.77) Die „Raumorientierung" der Zwischenkriegszeit bildete zusätzlich einen idealen Nährboden für die politische Relevanz geographischer Argumentationsmuster angesichts der existierenden Grenzprobleme. Das angestrengte Suchen der Zeitgenossen nach „richtigen" Grenzen, die nach „überzeitlichen" Kriterien festgelegt seien, zeigt seine Janusgesichtigkeit jedoch gerade an diesem Konzept der „natürlichen" Grenzen. Denn es gab einige natürliche Grenzen, die keineswegs in die politische Landkarte der Deutschen passten: Der Rhein etwa sollte - im Anschluss an Ernst Moritz Arndt - ganz selbstverständlich „Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze" sein.78) Daher wurde die Auffassung, dass Flüsse die „natürlichen" Grenzen zwischen Gebieten darstellten, im Falle des Rheins vehement abgestritten: „Der Rhein ist nicht die Grenze einer Naturlandschaft, sondern nur ein Glied der natürlichen Einheit [einer] rechts und links des Stroms gleichmäßig und symmetrisch aufgebauten Landschaft,"79) deren Grenze erst am westlichen Ende dieser Symmetrieachse - also westlich der Vogesen - verlaufe. Auch im Osten konnte die Idee der „natürlichen" Grenze nicht im eigenen Interesse genutzt werden, und so sahen es viele Geographen als erwiesen an, dass der deutsche Raum „nach Osten offen" sei und sich dort „keine feste Naturgrenze, [...] die sich als günstige politische Grenze" eignen würde, fände.80) Dieser Zwiespalt zwischen dem Bedürfnis, verbindliche Definitionskriterien für Grenzen festzulegen, und dem politischen Interesse, dem diese Definitionen letztlich dienen sollten, zeichnet die Debatten über Grenzen über die gesamte Zwischenkriegszeit hinweg aus. Widersprachen „natürliche" Grenzen den eigenen territorialen Ansprüchen, so verwarf man das Konzept. Waren „natürliche" Grenze hingegen im eigenen Sinne zu verwenden, so verstand man sie als allgemeingültige Regel idealer Grenzziehung. Bedeutung erlangte die Idee der „natürlichen" Grenze dabei etwa im Hinblick auf eine europäische Ordnung: Dabei wurde die Stärkung des vermeintlich natürlich vorgegebenen Raumes „Mitteleuropa" - mehr oder weniger unter deutscher Hegemonie gedacht - vielfach als die einzige Möglichkeit gesehen, die

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) Vgl. etwa: Peter Sahlins: Boundaries. The making of France and Spain in the Pyrenees, Berkeley 1989; Ders.: Natural frontiers revisited. France"s boundaries since the 17th century, in: AHR 95/1990, S. 1423-1481. 78 ) Alexander Graf zu Dohna: Der Rhein. Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze. Vortrag, gehalten am 19.2.1925 an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg im Rahmen des Vortragszyklus „Der Deutsche Rhein", Heidelberg 1925. 79 ) Karl Linnebach: Die gerechte Grenze im deutschen Westen - ein lOOOjähriger Kampf (= Rheinische Schicksalsfragen 13/14), Berlin 1926. 80 ) W. Volz: Lebensraum und Lebensrecht des deutschen Volkes, in: Deutsche Arbeit 24/1925, S. 159-174.

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als verhängnisvoll interpretierte „Mittellage" Deutschlands zu überwinden.81) Dass sich die Grenzen des „natürlich" gegebenen Raumes „Mitteleuropa" dabei je nach Anschauung erheblich unterscheiden konnte, bestätigt nur, wie relativ die Idee der „natürlichen" Grenze war. Das Konzept der „natürlichen" Grenze war indes nur ein Teil eines umfassenden Systems geographischer Grenzlegitimationen, deren Verwendung in engem Zusammenhang stand mit dem breiten Durchbruch, den die Geopolitik in der Zwischenkriegszeit erlebte. Die deutsche Geopolitik, die in ihren Wurzeln bis an die Jahrhundertwende zurückreichte, entwickelte sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges explosionsartig und wurde zu einer der, ja vielleicht zu der zentralen „Leitwissenschaft" der Zwischenkriegszeit. Der „Raum" wurde zur zentralen Kategorie, welche die als chaotisch empfundene Gegenwart wieder ordnen sollte. Während der gesamten zwanziger Jahre war es der „Raum", der die politische Kultur Deutschlands prägte, bis ihm in den dreißiger Jahren zunehmend die „Rasse" zur Seite gestellt wurde. Für die bewusst politisch motivierte Geopolitik mit ihrem „elementaren Drang nach besserem wissenschaftlichen Schutz der politischen Lebensform wie des Volks- und Kulturbodens"82) stellte das Nachdenken über Grenzen einen entscheidenden Bestandteil ihrer Wissenschaft dar: „Das Wissen von der Grenze [bedarf] gemeinsamer politisch-geographischer wie geopolitischer Vertiefung. Die Forderung eines viel bewussteren Verhältnisses zum Saum der staatlichen Lebensform und Volkheit richtet sich hier auf, mit der weiteren nach suggestiver Kartographie und geopolitischer Werbekraft." 83 ) Hier zeigt sich, neben der politikberatenden Funktion der Geopolitik und anderer „Grenzwissenschaften", erneut der Anspruch, auch weitere Bevölkerungskreise anzusprechen. Es ging nicht nur darum, dass die Politik endlich „lernen [müsse], sich wenigstens aller erreichbaren wissenschaftlichen Hilfsmittel zu bedienen",84) die Wissenschaftler an sie herantrugen. Vielmehr sah man die Erziehung der Deutschen zu einem lebendigen „Grenzgefühl" als selbstgestellte und wichtigste Aufgabe. Zentrales Hilfsmittel dazu waren Karten, die man bewusst als „suggestiv" kennzeichnete: Dem „fast kleinlichen Zug zur Treue" in der Darstellung setzten Geopolitiker die „betont politische Leistung [des suggestiven Kartenbildes] in dem, was es an Untergeordnetem oder Unerwünschtem typisiert, zurücktreten lässt oder verschweigt

81 ) Hans-Dieter Schultz: Deutschlands .natürliche Grenzen'; Oers:. Deutschlands „natürliche Grenzen", in: Alexander Demandt (Hrsg.): Deutschlands Grenzen in der Geschichte, München 1993, S. 32-93. 82 ) Karl Haushofer: Grundlagen, Wesen und Ziele der Geopolitik, in: Deri ./Erich Obsi/Hermann LautensachlOtto Maul (Hrsg.): Bausteine zur Geopolitik, Berlin 1928, S. 29-48, 29. 83 ) Ebd., S. 69. st) Ebd., S. 60.

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[...]" entgegen.85) So kam beinahe kein Text über deutsche Grenzen ohne Karten aus. Man schien sich in seinem Kampf gegen die völkerrechtlichen „toten Linien" über eine bildliche Darstellung geradezu absichern zu müssen. Zu diesen geopolitischen Legitimationen von Grenzen trat schließlich ein weiterer Argumentationsstrang hinzu: Historische Argumente, ergänzt um im weitesten Sinne kulturelle und sprachliche Aspekte, bildeten ebenfalls eine zentrale Kategorie, wenn es um die Definition „idealer" und „richtiger" Grenzen ging. Dabei gehörten vor allem historische Argumentationslinien zu den wichtigsten überhaupt bei der Rechtfertigung veränderter Grenzverläufe. Wichtigste Vertreterin war hier die sich in den zwanziger Jahren etablierende „Volksgeschichte", die sich vor allem die Erforschung der deutschen Geschichte in den Grenzräumen des Westens und Ostens zur vornehmlichen Aufgabe machte.86) Das (durch die Geographen Albrecht Penck und Wilhelm Volz eingeführte) Konzept des „Volksbodens" als jenem Raum, den das deutsche Volk durch Besiedlung bis in die Gegenwart der Zwischenkriegszeit hinein präge, entwickelte erstaunliche Überzeugungskraft. Dabei handelte es sich, das ist zu betonen, um ein historisch-kulturelles Legitimationsmuster, nicht um ein rassisch argumentierendes.87) Es galt, den Nachweis tausendjähriger „deutscher" Siedlungskontinuität, „deutschen" Kulturschaffens und deutscher Sprachtradition in jenen Gebieten zu erbringen, die auf eine geschlossen deutsch-besiedelte Tradition zurückblicken konnten. Im Hinblick auf die deutschen Grenzen fand dieses Konzept vor allem für die linksrheinischen Gebiete Verwendung. Das Motiv des „Kulturbodens", ebenfalls ursprünglich von Albrecht Penck eingeführt, hingegen bezog sich auf die umstrittenen Gebiete mit gemischt-ethnischer Bevölkerung, also vor allem Schlesien, aber auch den „Korridor" oder Schleswig. Die deutsche Bevölkerung als überlegener Kulturträger präge das Land, die Sprache und die Kultur 85

) Karl Haushofer. Die suggestive Karte, in: Ders./Obst/Lautensack/Maul (Hrsg.): Bausteine zur Geopolitik, S. 343-348, 343, 346. Siehe auch: Otto Maull·. Über politischgeographische-geopolitische Karten, in: Ebd., S. 325-342. Vgl.: Geoffrey Herb: Persuasiv Cartography in ,Geopolitik' an National Socialism, in: Political Geography Quarterly 8/1989, S. 298-303; Ders.: Under the map of Germany. Nationalism and propaganda 1918-1945, London 1997. 86 ) Vgl. in Auswahl: Ingo Haar: Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf" im Osten, Göttingen 2000; Willi Oberkrome: Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen 1993; Winfried Schulze/Otto G. Oexle (Hrsg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1999; Hans-Erich Volkmann: Historiker im Banne der Vergangenheit. Volksgeschichte und Kulturbodenforschung zwischen Versailles und Kaltem Krieg. Versuch eines thematischen Aufrisses, in: ZfG 49/2001, S. 5-12. Siehe neuerdings auch die ausführlichen Sammelbände zur „Westforschung": Burkhard Dietz u.a. (Hrsg.): Griff nach dem Westen. Die „Westforschung" der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919-1960), 2 Bde., Münster u.a. 2003. 87 ) Andreas Kossert: ,Grenzlandpolitik' und Ostforschung an der Peripherie des Reiches. Das ostpreußische Masuren 1919-1945, in: VfZ 51/2003, S. 117-146, 124.

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auch dort, „wo die deutsche Bevölkerung gegenüber der anderssprachigen zurücktritt".88) Mit dieser fragwürdigen Argumentation konnte man potentiell auch Gebiete beanspruchen, die weit außerhalb der nationalstaatlichen Grenzen des Deutschen Reiches lagen und gleichzeitig die durch Volksabstimmung „verlorenen" Gebiete als „deutsch" zurückfordern. Die „Volks- und Kulturboden"-Forscher entfalteten eine rege Aktivität: Literatur wurde gesammelt, Architektur und Bauformen dokumentiert, religiöse Praktiken beschrieben, Bevölkerungsverhältnisse ausgezählt oder Dialekte verglichen, um den deutschen Einfluss in den umstrittenen Gebieten nachzuweisen. 89 ) Gleichzeitig sah man es als Aufgabe an, die vermeintliche aktuelle Bedrohung des „Volksbodens" durch die Machtansprüche fremder Nationen in eine historische Traditionslinie zu stellen. Dies galt vor allem am Rhein, wo man einen seit Julius Cäsar existierenden „französischen Drang nach Westen" ausmachte, der die französische Außenpolitik über Jahrhunderte hinweg bestimmt habe.90) Diese Überzeugungen ließen sich gut über den engeren wissenschaftlichen Raum hinaus einem breiteren bildungsbürgerlichen Publikum vermitteln. Wissenschaftler beteiligten sich vor allem mit öffentlichen Vorträgen und Tagungen aktiv an der „Grenzlandpolitik" im „Deutschtumskampf'.91) Dabei ging es, ähnlich wie in der geopolitischen Auseinandersetzung um Grenzen, auch den historisch-kulturell argumentierenden Vertretern ,.richtiger" Grenzen nicht nur um einen fachwissenschaftlichen Beitrag: Die erarbeiteten Legitimationsmuster fur Grenzen sollten vielmehr möglichst weit in die deutsche Bevölkerung hineingetragen werden. 88

) Albrecht Penck: Deutscher Volks- und Kulturboden, in: Karl Christian von Loesch (Hrsg.): Volk unter Völkern, Breslau 1925, S. 62-73, 68. ) Vgl. in Auswahl: Fedor Schneider. Zur Entstehung der etschländischen Sprachgrenze, in: Elsaß-Lothringisches Jahrbuch 8/1929, S. 40-68; Aloys Schulte (Hrsg.): Tausend Jahre deutscher Geschichte und deutscher Kultur am Rhein. Im Auftrage des Provinzialausschusses der Rheinprovinz, Düsseldorf 1925; Heiss/Ziegfeld (Hrsg.): Deutschland und der Korridor; Paul Wentzcke: Der Anteil des rechtsrheinischen Deutschland am Kultur- und Geistesleben Elsaß-Lothringens, in: Elsaß-Lothringisches Jahrbuch 6/1927, S. 116-135. 90 ) Vgl. z.B.: Friedrich von Boetticher: Frankreich. Der Kampf um den Rhein und die Weltherrschaft, Leipzig 1922; Friedrich Grimm: Frankreich am Rhein. Rheinlandbesetzung und Separatismus im Lichte der historischen französischen Rheinpolitik, Hamburg/Berlin o.J. (1931); Rudolf Kautsch u.a. (Hrsg.): Frankreich und der Rhein. Beiträge zur Geschichte und geistigen Kultur des Rheinlandes, Frankfurt a.M. 1925; Hermann Oncken: Napoleon ΠΙ. and the Rhine. The Origins of the War of 1870-71, New York 1928; Walter Platzhoff: Der Kampf um den Rhein in zwei Jahrtausenden, in: Kampf um den Rhein. Beiträge zur Geschichte des Rheinlandes und seiner Fremdherrschaft 1918-1930, Mainz 1930, S. 5-12; Franz Rodens·. Der Sieg am Rhein. Frankreich und der Separatismus, Bonn o.J. (1933), S. 7-14; Hermann Stegemann: Der Kampf um den Rhein. Das Stromgebiet des Rheins im Rahmen der großen Politik und im Wandel der Kriegsgeschichte. Neue, bis zur Gegenwart fortgeführte Ausgabe, Stuttgart/Berlin 1924; Edmund Stengel: Deutschland, Frankreich und der Rhein. Eine geschichtliche Parallele, Langensalza 1926, vor allem S. 12-29; 91 ) Als Beispiele: Lothar Kettenacker: Nationalsozialistische Volkstumspolitik im Elsaß, Stuttgart 1973; Kossert: „Grenzlandpolitik". 89

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Gerade in diesen nicht-wissenschaftlichen Beiträgen konnte sich die ursprünglich historisch-kulturell definierte Idee des „Volks- und Kulturbodens" jedoch leicht mit einer Grenzkonzeption anderer Art vermischen: Der Begriff des „Volkes" öffnete das Grenzdenken der Zwischenkriegszeit letztlich für das Konzept der „Rasse". Damit ist der Komplex der rassisch-biologischethnischen Argumentationsmuster zur Legitimierung von Grenzverläufen angesprochen, der sich vor allem seit den dreißiger Jahren entwickelte und nach der „Machtübernahme" der Nationalsozialisten an Bedeutung gewann. Eine jüngere Wissenschaftlergeneration machte sich nach 1933 die Neuorganisation der rassisch fundierten Grenzforschung zur Aufgabe, finanziell und organisatorisch unterstützt vom nationalsozialistischen Regime. Zum „Raum", der Grenzen bis dahin ganz überwiegend bestimmt hatte, trat nun das rassisch definierte „Volk". Die territoriale Neugliederung Europas entwickelte langsam ein anderes Gesicht: Grenzen sollten nach rassischen Kriterien gezogen werden, sie sollten fortan ,.reinrassige" Gebiete umschließen. Für ethnische Minderheiten oder „ Z w i s c h e n v ö l k e r " war in diesem Konzept im Wortsinne kein Raum mehr. Die Umorientierung dieser Grenzkonzeption erstreckte sich über die gesamten dreißiger Jahre, verdrängte indes niemals die älteren Grenzlegitimationen. Geographische, kulturelle, politische, militärische, wirtschaftliche oder historische Argumente blieben während der gesamten Jahre des „Dritten Reiches" innerhalb des Grenzdiskurses relevant. Nicht alle Wissenschaftler übernahmen rassistische Grenzdefinitionen, vielmehr erhielt sich das alte, traditionelle „Raum"-Denken bis weit in die Nachkriegszeit hinein.92) Dennoch ist die zunehmende Radikalisierung rassistischer Grenzmodelle und die gezielte politische Unterstützung, die diese Konzepte fanden, entscheidend nicht allein für den Grenzdiskurs in Deutschland, sondern sie bildeten die Voraussetzung fiir die Vernichtungspolitik während des Zweiten Weltkrieges. Verschwanden ethnische Minderheiten anfangs „nur" von den Karten, aus den wissenschaftlichen Publikationen und der öffentlichen Berichterstattung, so wurde die „Eliminierung" mit Beginn des Zweiten Weltkrieges zur brutalen Realität.

in. Während die deutsche Außenpolitik mit der „Verständigungspolitik" in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre Ansätze zu einer Akzeptanz völkerrechtlich legitimierter Grenzen zeigte, entfaltete sich parallel dazu in der Öffent92

) Ein ähnliches Nebeneinander von „traditionellen" und rassistisch aufgeladenen Konzepten findet sich im Nationalsozialismus beispielsweise im Hinblick auf Europaideen, vgl. Conze: Das Europa der Deutschen. Vgl. auch: Jürgen Elvert: Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918-1945), Stuttgart 1999; Birgit Kletzin: Europa aus Rasse und Raum. Die nationalsozialistische Idee der neuen Ordnung, Münster 2000.

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lichkeit des Deutschen Reiches also ein Grenzdiskurs, der mittels unterschiedlichster Argumentationsmuster die durch den Versailler Vertrag entstandenen Grenzen zu delegitimieren versuchte. Auffällig ist dabei, dass ein Großteil der Grenzliteratur kaum Vorschläge machte, wo denn nun konkret eine veränderte Grenzführung laufen sollte. Vielmehr wurde die „Grenze" zu einem „offenen" Konzept, das potentiell „grenzenlos" expansiv aufgeladen werden konnte (wenn auch nicht unbedingt musste). Es ging vor allem darum, die völkerrechtlichen Grenzen in ihrer Bedeutung zurücktreten zu lassen - mit unterschiedlichsten Legitimationsmustern, die in sich durchaus nicht immer konsistent oder aufeinander abgestimmt waren. Wichtig an dieser Entwicklung war, dass Grenzen in der Zwischenkriegszeit nicht als Garanten eines friedlichen internationalen Systems verstanden wurden, die es multilateral zu regeln galt. Vielmehr erschienen Grenzen in der politischen Kultur der Weimarer Republik als ausschließlich nationale Elemente. Während die Politik der „Verständigungsära" sich noch bemühte, ein völkerrechtliches Verständnis von Grenzen zumindest offiziell zu unterstützen (wenn sie auch im geheimen eine „Deutschtumspolitik" betrieb, die die völkerrechtlichen Grenzen gerade nicht anerkannte), so schlug diese Politik in breiten Gesellschaftsschichten keine Wurzeln. Multilaterale Kriterien zur Grenzfindung im internationalen „Miteinander" schienen in der politischen Kultur der zwanziger Jahre keine attraktiven politischen Kriterien. Dies hing natürlich damit zusammen, dass sich die Deutschen vom internationalen System nach 1919 und seinen territorialen Regelungen mehr als benachteiligt fühlten. Es schien, als ließen sich die deutschen Vorstellungen von Grenzrevisionen mit multilateralen Grundsätzen nicht verwirklichen. Die Ergebnisse, die die „Verständigungspolitik" brachte, führten nicht zum Umdenken. Stresemann hatte eben keine spektakulären Grenzrevisionen erreicht. Gerade solcher außenpolitischer Erfolge aber hätte es bedurft, um die politische Kultur in Deutschland langsam aber sicher zu verändern.93) So verwurzelten sich in der deutschen politischen Kultur alternative Grenzvorstellungen, die sich immer weiter von der Idee eines internationalen Miteinanders entfernten. Dies wiederum hatte erhebliche Auswirkungen auf das internationale System selbst. Mit dem Tod Stresemanns und dem Ende der „Verständigungspolitik" sowie der Weltwirtschaftskrise zog sich die deutsche Außenpolitik unter Curtius und seinen Nachfolgern, unterstützt durch eine nationalistisch aufgeheizte öffentliche Stimmung, zunehmend aus der internationalen Ebene zurück bzw. isolierte sich etwa beim Völkerbund:94) Der Versuch, das Anschlussverbot 1931 mit Hilfe der deutschösterreichischen Zollunion im Geheimen, gewissermaßen am Internationalen 93

) Krüger. Die Außenpolitik der Republik von Weimar, S. 554. ) Andreas Rödder: Stresemanns Erbe. Julius Curtius und die deutsche Außenpolitik 1929-1931, Paderborn 1996; Hermann Graml: Zwischen Stresemann und Hitler. Die Außenpolitik der Präsidialkabinette Brüning, Papen und Schleicher, München 2001. 94

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System vorbei, zu verwirklichen, scheiterte - im Verständnis der Deutschen gerade am Internationalen System, versinnbildlicht im Internationalen Gerichtshof. Einen Ausweg aus diesem Dilemma schien es für die deutsche Politik nicht zu geben: Wie sollten Grenzveränderungen durchgesetzt werden, wenn man völkerrechtliche Prinzipien zwar generell akzeptierte, für die eigenen Positionen jedoch im multinationalen Verhandlungsrahmen keinen Spielraum sah? Eine Lösung dieses Problems brachte erst die „Machtübernahme" der Nationalsozialisten. Mit dem Austritt aus dem Völkerbund vollzogen sie die Abwendung von einer auf multilaterale Kooperation angelegten Außenpolitik und setzten damit ein öffentlichkeitswirksames Zeichen. Zwar betonte Hitler nach außen hin, „keine Politik der Grenzkorrekturen auf Kosten fremder Länder" machen zu wollen, und unterstrich, dass „Vernunft und Logik, Verständnis und gegenseitige Rücksichtnahme" das internationale System prägen sollten.95) Dass diese Friedensrethorik die Nachbarn des Deutschen Reiches über die wahren Ziele der nationalsozialistischen Außenpolitik hinwegtäuschte, ist bekannt. Die nationalsozialistische Propaganda im Deutschen Reich machte gleichzeitig klar, dass sich die Außenpolitik des Deutschen Reiches fortan allein an den deutschen Interessen, nicht mehr an internationalen Vorgaben orientieren würde. Die Revision des Vertrages von Versailles sollte nun aktiv angestrebt werden. Dabei zog die nationalsozialistische Ideologie eben nicht mehr die völkerrechtlichen Grenzen als Maßstab heran, sondern legitimierte Grenzen allein an unumschränkt geopolitisch, „völkisch" und rassistisch definierten Interessen. Da dieses Denken jedoch in der deutschen Debatte über Grenzen bereits seit Jahren angelegt war - wenn auch in gemäßigterer Form - stellte die Veränderung im außenpolitischen Grenzverständnis kaum einen Bruch dar. Vielmehr hatten weite Teile der Bevölkerung das Gefühl, dass sich breite Überzeugungen nun erstmals auch wieder effektiv in Politik zurückübersetzen ließen. Die breite Unterstützung für die nationalsozialistische Revisionspolitik seit Mitte der dreißiger Jahre zeigt dies. Dass sich - wie etwa in der Saarfrage 1935, aber auch dem „Anschluss" oder der sudetendeutschen Frage - mit dieser Politik gleichzeitig die „Erfolge" erzielen ließen, die der Weimarer Republik gefehlt hatten, verstärkte den Zuspruch, den die nationalsozialistische Außenpolitik in der deutschen Bevölkerung hatte, weiter. Ganz offenkundig, so die Einschätzung, ließ sich mit einer radikal nationalistischen Außenpolitik im internationalen System mehr erreichen als im multilateralen Miteinander der Verständigungspolitik. Dass Hitler den „Anschluss" Österreichs mit einer Abstimmung nachträglich zu legitimieren plante, war allein ein Element der rhetorischen Absicherung gegenüber dem Ausland. Mit den 95

) Zitiert nach: Hans-Adolf Jacobsen: Frankfurt a.M./Berlin 1968, S. 337

Nationalsozialistische Außenpolitik 1933-1938,

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multilateralen „Grenzfindungsversuchen" des Versailler Systems hatte diese Abstimmung nichts zu tun - ein ähnlicher „Multilateralismus zum Schein" zeigte sicher erneut bei der Münchener Konferenz von 1938. Die Grenzkorrekturen der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre lösten im Deutschen Reich Begeisterung aus. Die Revision von Versailles schien erreicht, der deutsche „Grenzkampf' schien erfolgreich gewesen zu sein. Dass die nationalsozialistische Außenpolitik viel weiter strebte, danach strebte, die deutschen Grenzen in ganz anderem Maße zu verschieben, als es der Begriff „Revision" nahelegte, wurde vielen Zeitgenossen erst mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges bewusst. Die Tatsache, dass das Bewusstsein für völkerrechtliche Grenzen als friedenssicherndem Element des internationalen Systems bereits seit der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre im Deutschen Reich zu verblassen begann, dass alternative Grenzkonzepte in der deutschen politischen Kultur tief verwurzelt waren, machte vielen Deutschen diesen neuen Krieg akzeptabel. Denn wenn sich die „richtigen" Grenzen Deutschlands wissenschaftlich eindeutig feststellen ließen, wenn diese ,gichtigen" Grenzen jedoch mit den Nachbarn nicht umzusetzen waren, musste dann nicht im Verständnis vieler Deutscher der Krieg zum Vater neuer Grenzen werden? Hatte man einmal Grenzen nicht als völkerrechtliches System, sondern als Ausdruck nationaler Politik verstanden, so akzeptierte man leichter, dass Veränderungen dieser Grenzen nur national - im Alleingang und gegen andere - durchgesetzt werden konnten. Ein weiterer Schritt kam hinzu: Hatte man einmal rassistische, geopolitische oder historische Legitimationslinien für Grenzen akzeptiert, so konnten auch Forderungen wie jene Himmlers, dass die deutsche Grenze 500 km nach Osten verlegt werden müsse, Gehör finden.96) Hatte man einmal ethnographische Elemente in die Debatte um Grenzen aufgenommen, so konnten sich auch Vorstellungen von „rassereinen" Gebieten durchsetzen. Damit wiederum war der Weg zu Umsiedlungen und Vernichtung beschritten. Auch wenn im Zweiten Weltkrieg eine völlig neue Dimension im Hinblick auf die Grenzen von „Raum" und „Volk" erreicht wurde - der Weg dahin war schon in der politischen Kultur der Zwischenkriegszeit angelegt gewesen.

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) Heinrich Himmler: Rede vor dem Offizierskorps einer Grenadierdivision am 27. Juni 1944, in: Bradley Smith (Hrsg.): Heinrich Himmler, Geheimreden 1933-1945 und andere Ansprachen, München 1974, S. 236-237. Hier heißt es: „Der Sinn des Krieges besteht [...] in einem soliden Hinausschieben der deutschen Volkstumsgrenze um mindestens 500 km nach Osten, von der Grenze des Jahres 1939 aus gesehen. Es gilt, die Besiedlung dieses Raumes mit deutschen Söhnen und deutschen Familien, mit germanischen Söhnen und germanischen Familien, so dass er ein Pflanzgarten germanischen Blutes wird [...]. Es geht um das Hinausschieben einer Wehrgrenze bis an die Grenze unseres militärischen Interessengebietes, mit einem ständigen Hineinfressen in den Osten [...]."

Bewahrung, Neugestaltung, Restauration? Konservative Raum- und Heimatvorstellungen in Deutschland 1900-1933 Von Thomas Rohkrämer

In einem Vortrag vor dem Deutschen Historischen Institut in London nannte David Blackbourn Raum zu Recht „a hidden dimension of history", wobei er mit seiner Kritik vor allem die derzeitige deutsche Geschichtswissenschaft und ihre verhaltene Reaktion auf einen möglichen „spacial turn" im Visier hatte.1) Dagegen stellte für die historischen Akteure im 19. und frühen 20. Jahrhundert Raum eine Kategorie dar, der wie selbstverständlich eine fundamentale, oft sogar eine determinierende Bedeutung zugeschrieben wurde. Raum galt als zentraler Bestandteil der individuellen Existenz, der staatlichen Macht, der nationalen Identität. Gerade während einer historischen Epoche der Modernisierung, in welcher die natürlichen Gegebenheiten gegenüber der vom Menschen geschaffenen künstlichen Welt zunehmend an Bedeutung verloren, hatte das Denken über das Verhältnis von Mensch und Raum Konjunktur. Eine Vielzahl von Gedanken, Konzepten und Theorien kamen auf, die in vieler Hinsicht verbunden waren, sich überlappten, aufeinander aufbauten, aber doch auch in Spannung standen oder sich widersprachen. Während die damalige Wissenschaft in vielen Bereichen verschiedene Ideen und Vorstellungen zunehmend zueinander in Beziehung setzte, systematisierte und schematisierte, gab es in Bezug auf Raumvorstellungen kaum Reflektionen über Gemeinsamkeiten und Unterschiede, Zusammengehörigkeiten und Inkompatibilitäten, historische Kontinuitäten und Veränderungen. Daran hat sich, trotz aller Zunahme des historischen Wissens gerade über den Naturund Heimatschutz sowie die Landschaftsplanung und -gestaltung, bis heute nur wenig geändert. Um gegen zu geradlinige historische Erklärungen die Vielfalt deutlich zu machen, erscheint es sinnvoll, verschiedene Formen und Entwicklungsstränge idealtypisch zu unterscheiden. Viele von ihnen konnten in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen auftreten, aber die historischen Spannungen und Konflikte sind deutlich genug, um historisch relevante Dif') David Blackbourn: Α Sense of Place. New Directions in German History, German Historical Insitute London, The 1998 Annual Lecture, London 1999. Siehe jetzt auch Blackboums Buch: The Conquest of Nature. Water, landscape and the Making of Modern Germany (London 2006), das in diesem Aufsatz nicht mehr berücksichtig werden konnte, und die Beiträge im Bulletin of the German Historical Institute Washington 35, Fall 2004, S. 57-71, die anlässlich eines Symposiums zum spatial turn im Februar 2004 entstanden sind.

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ferenzen hervortreten zu lassen. Meiner Darstellung wird sich darauf konzentrieren, was diese Gedanken motivierte und welche Funktion sie erfüllten. Zudem soll besonders das Verhältnis von Bewahrung, Neugestaltung und Restauration im Auge behalten werden. Am meisten Beachtung fand das Raumdenken wohl stets in der Machtpolitik.2) Auch wenn sich die Verbindung in der Industrialisierung lockerte, so stand doch die Größe und Beschaffenheit des Territoriums weiterhin in engem Verhältnis zur internationalen Bedeutung eines Staates. Der starke, ja übersteigerte Glaube an diesen Zusammenhang war für die damalige Zeit noch fast selbstverständlich. Der vorhandene Raum sollte möglichst intensiv genutzt werden, um die Wirtschaftsmacht und Bevölkerungszahl zu mehren. Die expansive Aneignung von Gebieten inner- und außerhalb von Europa galt als zentrales Mittel der Machtsteigerung. In der Epoche des Hochimperialismus vor dem Ersten Weltkrieg führte der Sozialdarwinismus zu einer fatalen Verschärfung dieses Denkens: Nicht Stabilität und Friede, sondern ständiger Konflikt galt dieser Überzeugung zufolge als Grundprinzip der politischen Existenz. Ein Staat musste sich ständig um Machtsteigerung bemühen, da jeder Stillstand angeblich Dekadenz und schließlich Untergang bedeute.3) Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs mit dem allseitigen Bemühen um eine totale Mobilmachung aller Ressourcen4) verfestigte diese Überzeugung und verband sich zudem mit geopolitischem Gedankengut. Schon im Kaiserreich hatte der einflussreiche Geograph Friedrich Ratzel zu einem geographischen Determinismus geneigt, wobei der Raum die Entwicklung von Nation und Bevölkerung bestimme.5) Politisch gewendet hieß dies, dass Deutschland wegen der angeblich besonders gefährdeten Mittellage eine autoritäre Militärmonarchie benötige. Nach dem Ersten Weltkrieg verbreiteten dann vor allem Karl Haushofer und sein Kreis in der „Zeitschrift für Geopoli-

2

) Einen guten Überblick zur Bewusstseinsgeschichte des machtpolitischen Denkens bietet Heinz Gollwitzer: Die Geschichte des weltpolitischen Denkens, 2. Bde., Göttingen 1972 u. 1982. Siehe auch zur gesamten Thematik Werner Köster: Die Rede über den „Raum". Zur semantischen Karriere eines deutschen Konzepts, Heidelberg 2002. 3 ) Besonders deutlich tritt dies hervor in Friedrich von Bernhardt: Deutschland und der nächste Krieg, Stuttgart/Berlin 1912; zur allgemeinen Verbreitung siehe Thomas Rohkrämer: Heroes and Would-Be Heroes - Veterans' and Reservists' Associations in Imperial Germany, in: Manfred F. Boemeke/Roger Chickering/Stig Förster (Hrsg.): Anticipating Total War? The German and American Experiences, 1871-1914, Cambridge Press 1999, S. 189-215. Sönke Neitzel: Weltmacht oder Untergang. Die Weltreichslehre im Zeitalter des Imperialismus, Paderborn 2000 zeigt deutlich den Zusammenhang von Sozialdarwinismus und dem Glauben, dass nur eine Weltmacht auf Dauer überlebensfähig sei. Siehe auch den Beitrag von Dirk van Laak in diesem Band sowie Böge Wiebeke: Die Einteilung der Erde in Großräume. Zum Weltbild der deutschsprachigen Geographie seit 1871, Hamburg 1997. 4 ) Roger Chickering/Süg Förster (Hrsg.): Great War, Total War. Combat and Mobilization on the Western Front, 1914-1918, Cambridge 2000. 5 ) Besonders deutlichen Ausdruck findet dies in Friedrich Ratzel: Der Lebensraum. Eine biogeographische Studie, Tübingen 1901.

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tik" und der Schriftenreihe „Macht und Erde" die Überzeugung, dass alle politischen Vorgänge raumgebunden seien. In seiner Interpretation der Niederlage von 1918, die weite Resonanz bei rechtsradikalen Nationalisten fand, argumentierte Haushofer, dass Deutschland auf eine Ausweitung seines Lebensraums angewiesen sei, wenn es nicht zum Untergang verdammt sein wolle. Die Nähe zwischen Sozialdarwinismus und Geopolitik ist offensichtlich, und beide durchdrangen sich folgerichtig auch im rechtsradikalen Denken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.6) Diese gesamte Denkrichtung zielte offensichtlich auf revisionistische Machterweiterung und Expansion mit militärischen Mitteln. Hier ging es nicht um Restauration oder Bewahrung, sondern um den „Griff nach der Weltmacht". Völlig andere Ziele verfolgte zumindest zunächst eine Tradition, die eine tiefe Verbindung zwischen dem überkommenen Raum und einem angeblichen „Nationalcharakter" betonte. Schon Herder und Romantiker wie die Brüder Grimm waren überzeugt, dass jedes Volk, abhängig auch vom Raum, seine ganz eigene Gestalt, seinen „Genius" besitze,7) und der einflussreiche konservative Journalist und Professor für Kulturgeschichte Wilhelm Heinrich Riehl postulierte in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine enge Verbindung der Bevölkerung und ihrer sozialen Ordnung mit der überkommenen Landschaft. Im scharfen Gegensatz zum machtstaatlichen Denken ignorierte dieser politisierende Wissenschaftler mit beachtlichem kommunikativem Erfolg weithin Fragen der Außenpolitik und der militärischen Stärke; ihm ging es vor allem um die sozialpolitischen Ziele von nationaler Solidarität, politischer Stabilität und Akzeptanz einer überkommenen sozialen Hierarchie. Während das Machtstaatsdenken immer auch an einer starken Wirtschaft Interesse haben musste (und deshalb trotz der häufigen Betonung der Notwendigkeit einer starken Landwirtschaft zu einer Akzeptanz der Industrialisierung neigte), strich Riehl die begrenzte Gültigkeit von rein nationalökonomischen Erwägungen heraus. In Reaktion auf die Revolution von 1848/49 vertrat er einen

6 ) Zur Geopolitik siehe vor allem David Thomas Murphy: The Heroic Earth. Geopolitical Thought in Weimar Germany, 1918-1933, Kent/Ohio 1997; Jürgen Osterhammel: Die Wiederkehr des Raumes. Geohistorie und historische Geographie, in: NPL 43/1998, S. 374-397; I. Diekmann u.a. (Hrsg.): Geopolitik, 2 Bde., Potsdam 2000; Frank Ebeling: Geopolitik. Karl Haushofer und seine Raumwissenschaft 1919-1945, Berlin 1994. Siehe auch allgemeiner: Hans-Dietrich Schultz: Raumkonstrukte der klassischen deutschsprachigen Geographie des 19. und 20. Jahrhunderts im Kontext ihrer Zeit. Ein Überblick, in: GG 28/2002, S. 343-377. 7 ) So meinte Johann Gottfried Herder: „Was ist das Hauptgesetz, das wir bei allen großen Erscheinungen der Geschichte bemerkten? Mich dünkt dies, daß allenthalben auf unsrer Erde werde, was auf ihr werden kann, teils nach Lage und Bedürfnis des Ortes, teils nach Umständen und Gelegenheiten der Zeit, teils nach dem angebornen oder sich erzeugenden Charakter der Völker. [...] Nur Zeiten, nur Örter und Nationalcharaktere, kurz das ganze Zusammenwirken lebendiger Kräfte in ihrer bestimmtesten Individualität entscheidet, wie über alle Erzeugungen der Natur, so über alle Ereignisse im Menschenreiche" (Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Bodenheim 1995, S. 325).

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„social-politischen Conservativismus",8) der für die Bewahrung einer Ständeordnung von Bauern, Aristokraten, Bürgern und viertem Stand, in dem die beiden letzteren „neuen" und angeblich ruhelos-umstürzlerischen „Stände" kein Übergewicht gewinnen sollten, auch einen ökonomischen Preis zu zahlen bereit war. Die Bedeutung, die Riehl innerhalb dieses Programms der traditionellen Landschaft zuschrieb, zeigt sich schon daran, dass sein wichtiges Buch „Land und Leute" mit den Kapiteln „Feld und Wald" und „Wege und Stege" einsetzte. Hier findet sich bereits ein Großteil der Themen, die auch spätere Zivilisationskritiker als Gefahren einer unkontrollierten Landschaftsveränderung hervorhoben. Während Riehl traditionelle Städte zu schätzen wusste, waren ihm Großstädte gefährliche Orte von Zersetzung und antinationaler Uniformität.9) Wenn er auch die unausweichliche Notwendigkeit der Industrialisierung zugestand, betonte er doch die Bedeutung eines starken Bauernstandes als Element der Bewahrung. Gegen eine möglichst intensive ökonomische Nutzung der gesamten Landschaft vertrat er das so genannte „Recht der Wildnis".10) Gegen viele spätere Interpretationen ist zu betonen, dass es Riehl im letzten nicht um Natur oder Landschaft ging.11) Konstruktivistisch argumentierend meinte er, dass sich die Bedeutung von Landschaft immer nur daraus ergebe, was der betrachtende Mensch in sie hineinlege.12) Es ging ihm auch nicht um ein Zurück zu einem angeblich ursprünglichen Naturzustand, sondern um die Wahrung des Volkscharakters in einer Zeit des schnellen Wandels. Der Vielgestaltigkeit des Bodens entsprach seiner Meinung nach die komplexe soziale Gliederung des Volkes und die „Biegsamkeit, Vielgestaltigkeit und Empfänglichkeit deutscher Geisteskultur und Gesittung".13) Die „Wildnis", worunter er schlicht einen allein als Jagdgebiet genutzten Wald verstand, korrespondierte beispielsweise mit einer starken Aristokratie, die Felder mit dem Bauerntum, die Städte mit den neuen Ständen von Bürgertum und Proletariat. Wälder und Felder mussten seiner Meinung nach nicht der Schönheit oder der ökologischen Bedeutung wegen gewahrt werden, sondern weil die von ihnen abhängige Aristokratie und Bauernschaft als sozialpolitische Kräfte der 8

) Wilhelm Heinrich Riehl: Land und Leute, Stuttgart u.a. 1854, VII. ) Zur Tradition dieser Angst vor der Großstadt siehe etwa Clemens Zimmermann/Jürgen Reulecke (Hrsg.): Die Stadt als Moloch? Das Land als Kraftquell? Wahrnehmungen und Wirkungen der Großstädte um 1900, Basel u.a. 1999. Zum internationalen Vergleich Andrew Lees\ Cities Perceived. Urban Society in European and American Thought, 18201940, Manchester 1985. 10 ) Riehl: Land und Leute, S. 40. ") Konrad Ott/Thomas Potthast/Marlin Görke/Patricia Nevers: Über die Anfänge des Naturschutzgedankens in Deutschland und den USA im 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Europäische Verwaltungsgeschichte 11/1999, S. 1-55. 12 ) Wilhelm Heinrich Riehl: Das landschaftliche Auge [1850], in: Oers.: Culturstudien aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1873, S. 57-79. 13 ) Riehl: Land und Leute, S. 37. 9

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Beharrung die nötige Stabilität in einer Zeit beschleunigten Wandels garantieren sollten. Gerade weil sich Riehl klar war über die Unausweichlichkeit vieler Veränderungen,14) betonte er die Bedeutung von konservativen sozialen Kräften zur Förderung von Kontinuität im Wandel. Er akzeptierte die Vorzüge ökonomischen Wachstums, aber nicht auf Kosten sozialer Desintegration. Deshalb forderte er einen sorgfältigen Balance-Akt zwischen Bewahrung und Veränderung bzw. ein sorgsames Management des Wandels zur Vermeidung unerwünschter sozialer Nebenwirkungen. In der Folgezeit bezogen sich verschiedene ideologische Gruppierungen auf Riehl. Wohl am einflussreichsten war die Agrarromantik, die sich in Bauernromanen und anderer Volkskunst als nostalgischer Ausdruck einer angeblich heilen Welt entfaltete, dann aber auch schnell von der mächtigen landwirtschaftlichen Interessenvertretung „Bund deutscher Landwirte" und der eng mit ihr verbundenen konservativen Partei als Ideologie zur Vertretung materieller Interessen genutzt wurde. Während die Landwirtschaft graduell an ökonomischer Bedeutung verlor und seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von Schutzzöllen abhängig war, betonte sie immer deutlicher ihre angebliche sozialpolitische Funktion als Kraft der Bewahrung und des Ausgleichs zwischen den Klassen. Riehls sozialpolitische Überlegungen verschärfend stilisierte sie sich als „völkische Bastion gegen die .zersetzenden' Folgeerscheinungen des Industrialismus".15) Während sich Riehl aber ganz, unter Missachtung außenpolitischer Stärke, auf den innenpolitischen Frieden konzentriert hatte, suchte die Agrarromantik darüber hinaus auch die Anknüpfung an das Machtstaatsdenken, indem sie die Rolle der ländlichen Gebiete für die Wehrkraft betonte. Nur bei einer Bewahrung des primären Wirtschaftssektors sei eine hohe Geburtenrate, gesunder Nachwuchs und NahrungsSicherheit gewährleistet. Während diese Form der Agrarromantik vor allem der Besitzstandswahrung eines auf staatliche Hilfe angewiesenen Wirtschaftszweiges diente, konnte die konsequente Betonung einer gesunden und wachsenden Bevölkerung aber auch eine dynamischere Richtung einschlagen, die entgegen der landwirtschaftlichen Interessenpolitik auf eine grundsätzliche Umstrukturierung des Landes abzielte. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ertönte der Ruf nach neuen agrarischen Siedlungen. War es nicht schlicht folgerichtig, dass mehr Menschen das Land bearbeiten sollten, wenn diese Bevölkerungsgrup14

) So sah er durchaus die wachsende Bedeutung des Bürgertums und des vierten Standes. ) Jens Flemming: Landwirtschaftliche Interessen und Demokratie. Landliche Gesellschaft, Agrarverbände und Staat 1890-1925, Bonn 1978, S. 38. Vgl. auch Hans-Jürgen Puhle: Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich (1893-1914), Hannover 1967; Kenneth D. Barkin: The Controversy over German Industrialization 1890-1902, Chicago 1970, und Klaus Bergmann: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim 1970. Einen nützlichen Überblick bietet Rita Aldenhoff: Agriculture, in: Roger Chickering (Hrsg.): Imperial Germany. A Historiographical Companion, Westport 1996, S. 33-61. 15

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pe so wichtig war für das Gesamtwohl der Nation? Sollten nicht die oft überschuldeten Güter im Osten aufgebrochen werden, um viele unabhängige Bauern zu schaffen, die doch viel eher dem romantischen Ideal entsprachen und mehr Kinder zeugen würden? Würde die Verteilung des ländlichen Besitzes nicht einen unabhängigen Mittelstand stärken, von dem schon Riehl eine stabilisierende Wirkung auf die sozialen Verhältnisse erwartet hatte? Aus dieser Perspektive konnte bei der Rechten von den Alldeutschen bis hin zu völkisch-rassistischen Gruppierungen die Forderung eines grundlegenden Wandels der ländlichen Welt aufkommen, mit der nicht nur die Interessen der adligen Großagrarier verletzt wurden. Seit dem Kaiserreich gab es viele Pläne zur inneren Kolonisation und zur ländlichen Siedlung, vor allem motiviert durch die Sorge über eine verstärkte Abwanderung in die Städte und eine angebliche polnische Unterwanderung der östlichen Grenzgebiete. Siedlungen sollten durch die Steigerung der Landbevölkerung einen „Schutzwall" gegen andere Völker errichten, durch hohe Geburtenraten als „Jungbrunnen" den „notwendigen" Bevölkerungsüberschuss für die Städte liefern, durch gesunde Lebensumstände einer „rassischen Degeneration" entgegenwirken und in einer zerstrittenen Gesellschaft als starker Mittelstand zur Bastion einer gesunden Volksgemeinschaft werden. Vor und nach dem Ersten Weltkrieg förderten staatliche Stellen ebenso die innere Kolonisation, wie sie auch von politisch sehr unterschiedlich orientierten gesellschaftlichen Reformbewegungen propagiert und gefördert wurde. Diese Bemühungen, die zu weiten Teilen daran scheiterten, dass die Aufbrechung der großen Güter im Osten zur Bereitstellung von Siedlungsraum politisch nicht durchsetzbar war, konnten großstadtfeindlich sein. In ihrer Mehrheit suchten sie jedoch im durchaus bejahten Prozess der Industrialisierung den prozentualen Anteil der Landbevölkerung zumindest zu wahren, um die Nahrungsproduktion und Bevölkerungswachstum sicherzustellen.16) Die Vorstellung Riehls, dass die Landwirtschaft stets eine beharrende Kraft darstelle, war zumindest in der Moderne fern von jeder Realität. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts steigerte sich die Agrarproduktion um 95%, im Kaiserreich noch einmal um 73%. Neue Anbaumethoden, Pflanzenzüchtungen und künstliche Düngemittel führten ebenso zu einer rasanten Produktionssteigerung wie Flurbereinigungen und die Urbarmachung von Ödland. Mit dieser „grünen Revolution", mit der die Landwirtschaft zunehmend für den Markt produzierte und eine stetig wachsende Stadtbevölkerung mit Nahrungsmitteln versorgte, nahm der erste Sektor ebenso am wissenschaftlich-

l6 ) Uwe Mai: „Rasse und Raum". Agrarpolitik, Sozial- und Raumplanung im NS-Staat, Paderborn 2002, S. 16-47; Thomas Rohkrämer. Eine andere Moderne. Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880-1933, Paderborn 1999, S. 40-45.

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technischen Fortschritt teil wie mit einer langsam einsetzenden Mechanisierung und der Gründung von agrarökonomisehen Ausbildungsstätten.17) Wenn man Riehl folgend glaubte, dass Landschaft nicht allein der Profitmaximierung, sondern auch einer konservativen sozialen Beharrung dienen sollte, dann musste die Modernisierung des Agrarsektors als gefährliche Neugestaltung erscheinen. Schon in den frühen Anfängen der Industrialisierung und Urbanisierung hatte mit der Romantik ein nostalgischer Kult von unberührter Natur und traditioneller Landschaften eingesetzt; nun aber wandelte sich das überkommene Landschaftsbild zunehmend durch die Urbarmachung von Feuchtgebieten, durch Flurbereinigungen und Bachbegradigungen, durch Stallhaltung und Intensivierung des Anbaus. Die kritische Antwort auf den beschleunigten Wandel des Raums war der Natur- und Heimatschutz, der sich um die Wende zum 20. Jahrhundert in reichsweiten Organisationen formierte.18) Der Naturschutz konzentrierte sich vor allem auf die Erhaltung möglichst ursprünglicher Teile der Landschaft. Wohl war er auch von dem Vorbild der großen Nationalparks in den USA inspiriert, aber in Deutschland beschränkte man sich pragmatisch weithin auf die Forderung nach Bewahrung von räumlich eng begrenzten „Naturdenkmälern". Der Naturschutz wollte damit bewusst nicht der Modernisierung der Landschaft im Wege stehen, sondern nur eine materielle Repräsentation von älterer und ökonomisch obsolet gewordener Natur wahren. Der Heimatschutz operierte in enger Verschränkung mit dem Naturschutz, hatte aber weitere Ziele: Zum einen ging es ihm im Prinzip um die Bewahrung der gesamten Landschaft, die für ästhetisches Empfinden und Heimatgefühl von Bedeutung war, zum anderen wollte man nicht nur die natürliche Landschaft, sondern darüber hinaus auch überkommene Sitten und Gebräuche, die Volkskultur und einen traditionellen Baustil wahren. Gerade bei der Förderung eines regional angepassten Bauens, zunächst gegen den Historismus, dann gegen modernistische Bewegungen wie das Bauhaus, spielte der Heimatschutz eine einflussreiche Rolle.19) 17

) Hans-Ulrich Wehler. Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: 1849-1914, München 1996, S. 1266 u. 685 ff. 18 ) Vgl. vor allem die drei wichtigen neuen Veröffentlichungen zu diesem Thema mit Verweisen auf die ältere Literatur: Thomas M. Lekan: Imagining the Nation in Nature. Landscape Preservation and German Identity, 1885-1945, Cambridge (Mass.) 2004; Willi Oberkrome: „Deutsche Heimat". Nationale Konzeption und regionale Praxis von Naturschutz, Landschaftsgestaltung und Kulturpolitik in Westfalen-Lippe und Thüringen (1900-1960), Paderborn 2004; Friedemann Schmoll·. Erinnerung an die Natur. Die Geschichte des Naturschutzes im deutschen Kaiserreich, Frankfurt a.M. 2004. Siehe auch Willi Oberkromes Beitrag in diesem Band. 19 ) Matthew Jefferies: Heimatschutz. Environmental Activism in Wilhelmine Germany, in: Colin Riordan (Hrsg.): Green Thoughts in German Culture. Historical and Contemporary Perspectives, Cardiff 1997, S. 42-54. Jetzt auch allg. Ders.: Imperial Culture in Germany, 1871-1918, Basingstroke 2003. Andreas Knauf. Zurück zur Natur! Die Wurzeln der Ökologiebewegung. Supplement 1 zum Jahrbuch für Naturschutz und Landschaftspflege, 1993. William Rollins: A Greener Vision of Home. Cultural Politics and Environmental Reform in the German Heimatschutz Movement, 1904—1918, Michigan 1997.

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Die Forderung nach Naturdenkmälern passte sich weithin konfliktfrei in die moderne Gesellschaft ein und fand schnell Akzeptanz, denn der Naturschutz bewahrte nicht nur Naturgeschichte für die Wissenschaften, sondern entsprach auch der gesamten musealen Erinnerungskultur des 19. Jahrhunderts.20) Er leistete im neu gegründeten Deutschen Kaiserreich, das in vielem nicht den Idealen der progressiven Nationalbewegung entsprach, einen wichtigen und kostengünstigen Beitrag zur Verortung in der Zeit sowie der regionalen und nationalen Identitätsstiftung.21) Er bot eine gewisse Kompensation für die psychologischen Anforderungen einer Moderne, welche die Vergangenheit in wachsender Geschwindigkeit verschlang. Gegen die unverdeckte Herrschaft einer rein zweckrationalen Produktivitätssteigerung betonte er nicht ohne Grund die Bedeutung einer anheimelnden oder grandiosen Schönheit in der menschlichen Umwelt. Der Heimatschutz bot potentiell ein größeres Konfliktpotential, weil er im Prinzip ein Mitspracherecht bei der gesamten Landschafts- und Baugestaltung forderte, doch auch hier setzte sich zumindest bei seinen führenden Vertretern schnell eine pragmatische Beschränkung auf das Machbare durch. Wenn der Bund Heimatschutz in Konflikt mit gewichtigen ökonomischen Interessen geriet, forderte er zumeist keine völlige Bewahrung des Bestandes oder Replica der Vergangenheit, sondern eine Neugestaltung, die sich harmonisch in das Bestehende einfügen und ästhetisch ansprechend sein sollte. So verständlich, ja unvermeidlich eine solche Abstrahierung von einer konkreten Wahrung der Vergangenheit auch war, wenn man nicht mit dem Ruf nach einer Musealisierung Deutschlands von vornherein ins Abseits geraten wollte, so drohte bei diesem Weg doch das Verirren in ideologische Abwege. Wenn die neue Gestaltung dem Charakter des Überkommenen entsprechen sollte, so wurde ein solcher Stil im Zeitalter des Nationalismus zunehmend völkisch bestimmt. Die Gestaltung sollte einem angeblich nationalen oder regionalen Charakter des Volkes angepasst werden, wobei die jeweiligen Vorurteile der Zeit kaum kontrolliert einfließen konnten. Der Heimatschutz bot somit Raum für Reaktionen auf Überfremdungsängste und Reinheitsphantasien, selbstredend auch rassistischer Art. Im wilhelminischen Gefühl nationaler Stärke herrschte noch ein selbstbewusstes Heimatgefühl vor, das eine internationale Vielfalt schätzen konnte, aber in Krisenzeiten verstärkten sich die xenophobischen Tendenzen. Die Glorifizierung einer deutschen Heimat konnte sich einfügen in die „Ideen von 1914", die im Ersten Weltkrieg den „westlichen" politischen Grundsätzen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit den Glauben an einen überlegenen deutschen Sonderweg entgegensetzten, der angeblich autoritär, milita-

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) Alon ConfinofPcter Fritzsche (Hrsg.): The Works of Memory. New Directions in the Study of German Society and Culture, Urbana 2002; Rudy Koshar: From Monuments to Traces. Artifacts of German Memory, 1870-1990, Berkeley 2000. 21 ) Lekart: Imagining the Nation.

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ristisch-heroisch und gemeinschaftsorientiert ausgerichtet war.22) Das Idealbild einer traditionellen, typisch deutschen Kultur richtete sich vor allem auch gegen internationale Kunststile, Moden und eine moderne Massenkultur, deren Einflüsse oft als gefährliche „Amerikanisierung" diffamiert wurden.23) Es konnte sich schließlich auch mit rassistischen Verurteilungen verbinden, sei es gegen angeblich jüdische Einflüsse innerhalb Deutschlands oder einer „polnischen Mißwirtschaft" im Umgang mit der Landschaft im Osten. Die kulturellen und politischen Zielvorstellungen des Natur- und Heimatschutzes lassen sich nicht auf einen Nenner bringen, da es sich um „eine diffuse Gemengelage aus nationalistischen Überhöhungen, romantischen Naturbildern, prä-ökologischen Gleichgewichtsvorstellungen und ethischen Idealismen" handelt.24) Neuere geschichtswissenschaftliche Veröffentlichungen haben zu Recht betont, dass Verbindungen zu nationaler bzw. völkischer Identität vorhanden waren. Natur symbolisierte die Nation oder eine Region, sie stand für ein gemeinsames Gut, das die gesamte Bevölkerung verbinden sollte. Die Betonung dieser Gemeinsamkeiten stellte sich damit auch gegen die Realität von unversöhnlichen politischen Gegensätzen, bitteren religiösen Konflikten und gegensätzlichen sozialen Interessenlagen in der tief gespaltenen deutschen Gesellschaft, indem sie vermeintlich universale Werte der gesamten Nation über Zeiten und Regionen, Klassen und Milieus hinweg hervorhob. Wohl handelte es sich um einen Rückgriff auf Vergangenes und Vergehendes, jedoch nicht zur Unterstützung von atavistischen politischen Zielen, sondern zur Schaffung einer konservativen nationalen Identität für den neu gebildeten Nationalstaat. Wohl versuchte man, Aspekte der Vergangenheit zu bewahren, aber Traditionen wurden auch erfunden, umgeformt, als „deutsches Kulturgut" ins Bewusstsein gerückt und fixiert, um in einem veränderten Funktionszusammenhang völlig neue Aufgaben zu übernehmen. Dies ist ein Vorgang, der für den Nationalismus über Ländergrenzen hinweg charakteristisch ist.25) Während sich der bürgerliche Natur- und Heimatschutz vorbehaltlos in den Dienst des Nationalismus stellte, ging er darin nicht auf. Schließlich sind die Möglichkeiten zur Wahl von nationalen Symbolen praktisch unbegrenzt; deshalb kann es kein Zufall sein, wenn gerade Natur, Landschaft und alte 22

) Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914" und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003; Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Berlin 2000; Wolfgang Mommsen (Hrsg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996. 23 ) Einen guten Überblick bietet Alf Lüdtke (Hrsg.): Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1996. Siehe auch Rohkrämer. Eine andere Moderne, S. 252-260. 24 ) Schmoll: Erinnerung an die Natur, S. 51. 25 ) Zum Forschungsstand und zu weiterführender Literatur vgl. Anthony D. Smith, National Identity, London 2001.

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Gemäuer zum Zentrum einflussreicher sozialer Bewegungen werden. Erst in einer Zeit gesteigerter technischer Machtmittel konnte die Natur nicht mehr nur als lebensnotwendige Ressource oder existenzbedrohende Gefahr erscheinen, sondern auch als bewahrenswertes Gut für nicht-utilitaristische Zwecke. Nun erst konnte die ästhetische Qualität von Landschaft an gesellschaftlicher Bedeutung gewinnen und ihre identitätsstiftenden Qualitäten als scheinbarer Garant für Dauerhaftigkeit in Zeiten des schnellen Wandels erhalten. Erst in der Moderne konnte es dazu kommen, dass Natur und Tradition nicht mehr als übermächtig oder selbstverständlich erschienen, sondern als durch den Menschen gefährdete Güter. Und tatsächlich hatten auch alle diese Aspekte Bedeutung für den Natur- und Heimatschutz: Die Freiheit von existentieller Not öffnete die Möglichkeit, auch die Schönheit der Natur und unzeitgemäße Gebäude genießen zu wollen. Die Angst vor dem menschlichen Zerstörungspotential26) ließ den Ruf nach Schutzmaßnahmen und einem ethischen Umgang mit der Natur aufkommen. Die Sorge über die Folgen einer kurzsichtigen Profitmaximierung führte zur Propagierung einer vernünftignachhaltigen Nutzung. Der rasante Wandel provozierte den Wunsch, in der Veränderung eine gewisse nationale oder ethnische Stabilität zu bewahren, um sich nicht im Strudel der Zeit zu verlieren. All dies wurde zusammen mit der Betonung einer Verbindung von Land und Leuten in solch enger Mischung thematisiert, dass es schwierig ist, klare Priorisierungen zu erkennen. Diese Vielfalt an Motiven und Funktionen erklärt, warum sich der Naturund Heimatschutz in verschiedenen Ländern entfalten konnte, warum er sich mit verschiedenen politischen Richtungen von den sozialistischen Naturfreunden bis hin zu völkischen Gruppierungen verband und warum er in so wechselhaften Zeiten vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik seine Popularität wahren konnte. Auch wenn er im Ersten Weltkrieg einen Radikalisierungsschub nach Rechts vollzog, so sollte das nicht den offeneren Anfang verdecken. Die nationalistische Betonung von einer alle Deutschen verbindenden natürlichen Landschaft enthielt sicherlich ein wertkonservatives Element, aber dies konnte sich durchaus mit liberalen und demokratischen Orientierungen verbinden.27) Die Staatsorientiertheit von Natur- und 26

) Ludwig Klages, der Mitglied im Bund Heimatschutz war, formulierte diese Sorge mit besonderer Prägnanz in einem Sammelband zur Feier der Freideutschen Jugend auf dem Hohen Meissner: Der moderne Mensch habe „Mord gesät". „Unter den Vorwänden von ,Nutzen', .wirtschaftlicher Entwicklung',,Kultur' geht er in Wahrheit auf Vernichtung des Lebens aus. Er trifft es in allen seinen Erscheinungsformen, rodet Wälder, streicht die Tiergeschlechter, löscht die ursprünglichen Völker aus, überklebt und verunstaltet mit dem Firnis der Gewerblichkeit die Landschaft und entwürdigt, was er vom Lebewesen noch übrigläßt, gleich dem .Schlachtvieh' zur bloßen Ware, zum vogelfreien Gegenstande eines schrankenlosen Beutehungers" (Ludwig Klages, Mensch und Erde, in: Ders: Sämtliche Werke, Bd. 3, Bonn 1974, S. 614-636, hier S. 614 u. 621). 27 ) So etwa Lekan: Imagining the Nation, S. 74-76 und passim; Celia Applegate: Question of Heimat in the Weimar Republic, in: New Formations 17/1992, S. 69; Dies.: Α Nation of Provincials. The German Idea of Heimat, Berkeley 1990, S. 109, 148 ff., 165 ff. u. 193.

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Heimatschutzorganisationen war zunächst vor allem dadurch motiviert, dass eine kleine bürgerliche Bewegung nur so auf Erfolg hoffen konnte, auch wenn diese Prägung schließlich dazu beitrug, dass der größte Teil des Naturund Heimatschutzes gegen die Demokratie die nationalsozialistische „Machtergreifung" begrüßte. Natur- und Heimatschutz, der an sich auch eine Kritik am ungezügelten Kapitalismus impliziert, konnte auch deshalb lange vor allem von konservativen Kräften besetzt werden, weil, um ein Bild von Ernst Bloch zu gebrauchen, die fortschrittlichen Kräfte nicht die Freude am Sonntagsausflug ins Grüne zu verstehen suchten.28) Auch wenn der Natur- und Heimatschutz nicht antimodern und rückwärtsgewandt war, so erschien er manchen doch als altbacken und steril, weil sie ein ungleich dynamischeres Verständnis von Natur besaßen. Während die Natur fur Naturschützer schwach und hilfsbedürftig war, kritisierten andere ein solches Verständnis als paternalistisch und naiv. Gegen den Glauben, eine idyllische Natur gezähmt in Naturschutzparks zum ästhetischen Genuss halten zu können, setzten sie ein sozialdarwinistisches oder vitalistisch-evolutionäres Verständnis von Leben.29) Inspiriert von Nietzsche galt Leben als Wille zur Macht, als steter Wandel zu neuen Formen, als schöpferische Schaffensfreude. In dieser Perspektive erschien der „faustische Wille" zur technischen Beherrschung der Welt bei Oswald Spengler (und später bei Arthur Rosenberg) als zentrales Charakteristikum des europäischen Kulturkreises bzw. des arischen Menschen, konnte der Krieg im soldatischen Nationalismus der Weimarer Republik als Ausdruck elementarer Kräfte gelten oder sogar die totalitaristische technokratische Mobilmachung bei Ernst Jünger als zeitgemäßer Ausdruck eines natürlichen Willens zur Macht stilisiert werden. Eine solche Einstellung von Teilen der extremen Rechten in der Weimarer Republik beinhaltete eine Verherrlichung der technischen Welt inklusive der von vielen so gehassten Großstädte. Romantiker würden nur deshalb der Nostalgie verfallen, weil ihnen die Stärke zur Akzeptanz und produktiven Nutzung der neuen Welt fehle, aber einer neuen Generation seien die Großstädte Heimat. Für sie sei jeder Aspekt der Technik so selbstverständlich wie für einen australischen Ureinwohner sein „Bumerang".30) Der Rückgriff auf eine Situierung der modernen Existenz in einem Glauben an Naturgesetze schloss offensichtlich eine futuristische Freude an einer hochtechnisierten Welt nicht aus. Wie in dem Film „Metropolis" galt hier nicht die Veränderung des sozia-

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) Über Ungleichzeitigkeit, Provinz und Propaganda. Ein Gespräch mit Rainer Traub und Harald Wieser, in: Gespräche mit Ernst Bloch, Frankfurt a.M. 1975, S. 200 f. 29 ) Vgl. etwa Ernst Jünger: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Berlin 1932, S. 52; Friedrich Georg Jünger: Die Perfektion der Technik, Frankfurt 1993 (7), S. 129 u. 141. 30 ) Emst Jünger: Das Wäldchen 1925. Eine Chronik aus den Grabenkämpfen 1918, Berlin 1925, S. 78 f.; Vgl. etwa auch Günther Gründet: Die Sendung der jungen Generation. Versuch einer umfassenden revolutionären Sinndeutung der Krise, München 1933, S. 144, 147 f. u. 308 f.

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len Raums als Problem, sondern eine der noch nicht gewachsenen soziopolitische Ordnung. Die Lebensphilosophie konnte etwa bei Ludwig Klages ein kontemplatives Hören und Folgen der Natur verherrlichen, sie konnte aber auch im Menschen das „Raubtier" sehen, welches „aus dem Willen zur Macht, grausam, unerbittlich" den Raum als Umwelt beherrscht und nutzt.31) Eine deutliche Traditionslinie verband den Natur- und Heimatschutz mit der Landschaftspflege und Landschaftsgestaltung, die seit der Weimarer Republik immer mehr an Bedeutung gewann. Führende Heimat- und Naturschützer hatten sich schon vor dem Ersten Weltkrieg dazu durchgerungen, nicht das Bestehende kompromisslos zu verteidigen, sondern den Wandel zu gestalten, aber sie hatten zumindest noch Elemente der Vergangenheit bewahren und den Geist der Tradition wach halten wollen. Die Idee der Landschaftsgestaltung ging darüber hinaus: Sie wollte durch rationale Planung eine ideale Landschaft schaffen. Sie setzte sich vom traditionellen Heimatschutz ab, weil sie sich nicht länger durch das Bestehende gebunden fühlte, aber sie distanzierte sich auch von einer freien kapitalistischen Wirtschaft, der es im Umgang mit dem Raum vor allem um schnellen Profit ging. Das Ziel war eine technokratische Planung, die nicht nur ökonomische, sondern auch politische, soziale und ökologische Werte der Landschaft berücksichtigen sollte.32) Eine korrekte ganzheitliche Planung sei in der Lage, so der optimistische Anspruch der neuen Experten, eine Landschaft zu schaffen, die allen menschlichen Anforderungen dauerhaft gerecht werde. Selbst ein so professioneller Landschaftsgestalter wie Alwin Seifert, der für die landschaftliche Einbindung der Autobahnen zuständig war, gab sich auch die Aura des intuitiven Sehers mit einem unmittelbaren Zugang zum „Geist" einer Landschaft. Aber solche Selbst-Stilisierungen sollten nicht den ehrgeizigen wissenschaftlichen Anspruch verbergen: Landschaftsgestalter glaubten, dass ihr Expertenwissen sie dazu prädestiniere, die Landschaft richtig zu gestalten oder zumindest die politischen und gesellschaftlichen Zielvorgaben adäquat umzusetzen.33) Ihr Können werde die Nation befähigen, den Raum so zu gestalten, dass alle Bedürfnisse auch langfristig befriedigt würden. In 31 ) Oswald Spengler. Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens, München 1932, S. 13 f. Zu Klages siehe Rohkrämer: Eine andere Moderne, S. 162215. 32 ) Vgl. vor allem Lekan: Imagining the Nation, S. 121 ff.; Thomas Zeller. Straße, Bahn, Panorama. Verkehrswege und Landschaftsveränderung in Deutschland von 1930 bis 1990, Frankfurt a.M. 2002. Von Anfang an hatte Landschaftsplanung aber auch mit der Gestaltung eroberter Gebiete zu tun: Schon im Ersten Weltkrieg gab es Überlegungen, im Osten Bauern anzusiedeln und die Landschaft umzugestalten. Siehe dazu Gert G'rönmg/Joachim Wolschke-Buhlmann: Die Liebe zur Landschaft, Teil ΙΠ: Der Drang nach Osten. Zur Entwicklung der Landschaftspflege im Nationalsozialismus und während des Zweiten Weltkriegs in den „eingegliederten" Ostgebieten, München 1987, S. 3-9. 33 ) Thomas Zeller: „Ganz Deutschland sein Garten". Alwin Seifert und die Landschaft des Nationalsozialismus, in: Joachim Radkau/Frank Uekötter (Hrsg.): Naturschutz und Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2003, S. 273-308.

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Weimarer Republik und Nationalsozialismus bedeutete dies, dass die Landschaft folgenden Ansprüchen gerecht werden sollte: Sie sollte so gestaltet werden, dass sie erstens nachhaltig hohen wirtschaftlichen Nutzen liefern konnte (was die Vermeidung von Umweltzerstörung als Zerstörung der produktiven Substanz beinhaltete), zweitens die Volksgesundheit fördere und drittens das Bedürfnis nach Heimat befriedige, um eine Identifikation der Bevölkerung mit ihrer Nation zu fördern. Das Ziel war somit eine nachhaltig produktive Landschaft, hygienisch und mit genug Grün als Voraussetzung für ein gesundes Leben und ästhetisch ansprechend zur Förderung der Liebe zur Heimat. Vor allem vom Staat als dem idealen Vertreter des Allgemeinwohls erwartete man den Einsatz für eine unabhängige und professionelle Landschaftsgestaltung. Mit dem Selbstverständnis als zweckrationale Planungsexperten auf der Suche nach einem mächtigen Auftraggeber stellten sich die Landschaftsgestalter jedem interventionsbereiten Regime freudig zur Verfügung. So argumentierten sie in der Weimarer Republik, dass gerade der Landverlust und die ökonomischen Schwierigkeiten nach 1918 eine effektive Raumplanung erzwinge. Sie entwickelten Raumnutzungspläne, in denen alles seinen angemessenen Platz zugewiesen bekommen sollte, von Industrie- und Wohngebieten über Verkehrsverbindungen bis hin zu Naturschutzgebieten. Während sich der Heimatschutz vor allem auf die „schönen" Regionen konzentriert hatte, die für die nationale Identität von Bedeutung waren, entwickelten Raumplaner beispielsweise auch Pläne für „grüne Lungen" im Ruhrgebiet, um bei aller industriellen Produktion Umweltprobleme zu überwinden, die Volksgesundheit zu verbessern und das Heimatgefühl zu steigern. Während eine hässliche Landschaft das Gefühl der Distanz und Entfremdung provoziere und damit ein revolutionäres Bewusstsein fördere, werde eine ästhetisch ansprechende Umwelt die Identifikation mit der gesamten Nation und damit das Gemeinschaftsgefühl stärken.34) In der Weimarer Republik entstanden viele Pläne, die zumeist auch vom Heimat- und Naturschutz begrüßt wurden, doch die Umsetzung scheiterte weithin an dem engen Finanzspielraum der krisengeschüttelten Republik. Dagegen war für viele Landschaftsplaner das „Dritte Reich" eine Zeit fieberhafter Aktivität, und sie leisteten freudig ihren Beitrag bei zentralen Projekten des neuen Regimes. Die Autobahnen als sogenannte „Straßen des Führers" erfüllten weniger ökonomische oder militärische Funktionen, sondern waren vor allem Prestigeobjekte des neuen Regimes. Hier sollte gezeigt werden, dass eine ultra-fortschrittliche „deutsche Technik" mit der Natur ökologisch harmonieren, die Landschaft ästhetisch bereichern und der Bevölkerung den

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) Lekan·. Imagining the Nation, S. 126 ff.

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Weg zu den Schönheiten der Heimat eröffnen könne.35) Auch wenn die so genannten „Landschaftsanwälte" die schwächsten Glieder in der Entscheidungshierarchie darstellten und über wenig Gelder verfügten, so konnten sie doch ihre ästhetischen und ökologischen Vorstellungen von einer Einpassung der Autobahnen in die Landschaft und einer angeblich standortgerechten und ursprünglichen Bepflanzung einbringen. Bei der Agrarstrukturreform im Reich leisteten sie ihren Beitrag bei der Flurbereinigung und der Schaffung von Bauernhöfen mit der ökonomisch und rassenpolitisch gewünschten Mittelgröße. Und schließlich waren Raumplaner Teil der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, indem sie die Besiedlung der eroberten Ostgebiete planten. Während sie in Deutschland immer wieder zur Rücksichtnahme gegenüber der Bevölkerung gezwungen waren, sahen sie, wie das gesamte NSRegime, der Osten als leeren Raum, in dem sie erwarteten, ihre „Wunschbildpläne" (Konrad Meyer)36) ungehemmt umsetzen zu können. Die einheimische Bevölkerung und ihre Landschaft waren ihnen frei verfügbares Material zur Realisierung ihrer wissenschaftlichen Theorien. Bei der Landschaft galt ihnen nichts als bewahrenswert, da diese angeblich über Jahrhunderte „vernachlässigt, verödet und durch Raubbau verwüstet" worden sei, und die „minderwertige" ansässige Bevölkerung sollte durch Germanen ersetzt werden, was offensichtlich Vertreibung und Vernichtung bedeutete. Aus dem leeren Raum glaubte man dann eine ideale „deutsche" Landschaft schaffen zu können. Das harmonische Verhältnis von „Hof, Stadt und Garten, Siedlung, Feldflur und Landschaft", die Begrünung durch „Wald, Waldstreifen, Hecken, Gebüsche und Bäume", die planvolle und naturnahe Wasserwirtschaft und eine rationale verkehrsmäßige Erschließung, all das sollte eine blühende Landschaft schaffen: Ökologisch nachhaltig genutzt, profitabel für das Reich und ästhetisch so gestaltet, dass „der germanisch-deutsche Mensch sich heimisch fühlt, dort sesshaft wird und bereit ist, diese seine neue Heimat zu lieben und zu verteidigen".37) Schließlich sollte dann der vorbildlich gestaltete Osten zum Muster für das „Altreich" werden, und damit der Raumplanung weitere große Aufgaben eröffnen.

35 ) Zeller. Straße, Bahn, Panorama; Thomas Rohkrämer: Die Vision einer deutschen Technik. Ingenieure und das „Dritte Reich", in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 287-308. 36 ) Zitiert in: Gert Grabing/Joachim Wolschke-Bulmahn: Die Liebe zur Landschaft, Teil ΙΠ, S. 49. 37 ) Erhard Mäding: Regeln für die Gestaltung der Landschaft. Einführung in die Allgemeine Anordnung Nr. 20/VI/42 des Reichsführers SS (1943), zitiert in: Klaus Fehn: „Lebensgemeinschaft von Volk und Raum." Zur nationalsozialistischen Raum- und Landschaftsplanung in den eroberten Ostgebieten, in: RadkauAJekötter (Hrsg.): Naturschutz und Nationalsozialismus, S. 207-224, 207; Uwe Mai: „Rasse und Raum". Agrarpolitik, Sozialund Raumplanung im NS-Staat, Paderborn 2002. Beide Publikationen sind auch vorbildliche Wegweiser zur vorhergehenden Literatur.

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Diese Skizze verschiedener Raumvorstellungen könnte sicherlich noch erweitert und differenziert werden, aber sie macht hoffentlich auch so die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der verschiedenen Richtungen deutlich. Eine reine Konzentration auf das Machtstaatsdenken konnte revolutionäre Folgen für die gesellschaftliche Ordnung haben, während eine einseitige Betonung der sozialen Stabilität im Sinne von Riehl die Nation im Zeitalter der Industrialisierung international hätte zurückfallen lassen. Nostalgische romantische Vorstellungen von vorindustriellen Arbeitsmethoden auf kleinen Bauernhöfen in traditioneller Landschaft mit kleinteiligen Wiesen und Feldern, vielen Hecken, frei fließenden Bächen und Ödland standen in scharfem Widerspruch zu einer Landwirtschaft, die für die Versorgung der wachsenden Bevölkerung ihre Produktion rasant steigerte. Die Agrarromantik als Ideologie der Agrarverbände betonte die Bedeutung der Landwirtschaft für die Gesundheit und Stärke der Nation, aber diese Interessenvertretung stellte sich dennoch gegen eine radikale Siedlungspolitik, welche die Besitzverhältnisse auf dem Land aufgerüttelt hätte. Eine Verherrlichung traditionellen Bauerntums gehörte zur romantischen Naturbetrachtung, aber die Vertreter der Landwirtschaft stimmten im Kaiserreich im Unterschied zur Sozialdemokratie gegen ein reichsweites Naturschutzgesetz,38) weil es bei einer immer intensiveren Nutzung des Bodens hätte stören können. Bei allen Musealisierungsehnsüchten war der Natur- und Heimatschutz bereit, ein vorwärtsweisendes Konzept für Bewahrung und Wandel zu entwickeln, um der Industrialisierung Raum zu schaffen, aber wenn Landschaftsgestalter einen vorhandenen Wald für eine Autobahn fällen wollten, weil sie der Überzeugung waren, in wenigen Jahren einen viel standortgerechteren neu entstehen lassen zu können, kam es doch zwangsläufig zu Konflikten. Der Ruf zum Schutz einer gefährdeten Natur stand im Gegensatz zu einer Verherrlichung eines sozialdarwinistisch geprägten Vitalismus, dem das rücksichtslose Durchsetzen eines schöpferischen Willens zur Macht im ständigen gewalttätigen Kampf gegen andere Menschen und die Umwelt als natürlich erschien. Alle diese ideologischen Orientierungen befürworteten ein zeitgemäßes und starkes Deutschland. Sie sahen sich nicht als atavistische Reaktionäre, sondern wollten, zum Teil auch durch Wahrung von Aspekten der Vergangenheit, eine bessere Zukunft schaffen. Sie konnten durchaus Verständnis für die Zielsetzung der anderen ideologischen Richtungen haben, aber wenn sich die Vorstellungen bei der Umsetzung im Raum stießen, zeigten sich doch zwangsläufig Konfliktlinien. Trotz dieser Differenzen gelang es dem Nationalsozialismus, alle diese Gruppierungen anzusprechen. Er versprach nationale Stärke durch eine Mobilisierung der Kräfte von Stadt und Land, aber auch soziale Stabilität in einer harmonischen Volksgemeinschaft mit traditionellen Werten. Er betonte 3S

) Schmoll: Erinnerung an die Natur, S. 159.

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die Bedeutung der Landwirtschaft für ihre Bevölkerungspolitik und ein wirtschaftlich wie militärisch begründetes Autarkiestreben, unterstützte aber im Zweifelsfall eine rückhaltlose Industrialisierung und Technisierung. Führende Nazis wie Himmler und Darre betonten die Bedeutung von ländlichen Siedlungen für die Förderung der arischen Rasse. Große Teile des Natur- und Heimatschutzes wie auch der Landschaftsplaner hörten begeistert das Versprechen, Deutschland wieder wahrhaft „deutsch" zu machen.39) Sie teilten die Ängste vor einer Überfremdung Deutschlands und bejahten den Versuch, aus der Tradition heraus eine nationale Identität zu formulieren. Naturschützer wie Nationalsozialisten vertraten den Glauben an die therapeutische Kraft der Natur; beide betonten gegen die Herrschaft eines ungebremsten kapitalistischen Utilitarismus die Bedeutung einer schönen Heimat. Die Verabschiedung des lange geforderten reichsweiten Naturschutzgesetzes wie auch die Betonung einer naturnahen deutschen Technik bestärkte Naturschützer in dem Glauben, dass nun tatsächlich der Staat für ihre Belange eintreten würde. Aber nicht nur der Natur- und Heimatschutz konnte sich im Nationalsozialismus wiederfinden, sondern auch vitalistische Sozialdarwinisten, die sich nach einer willensstarken und machtbewussten Führung, nach Heroik, Kampf und dramatisch-großartiger Politik sehnten. Untersuchungen zur Mitgliedschaft und Wahlforschungen haben ergeben, dass man die NSDAP rein soziologisch als Deutschlands erste Volkspartei bezeichnen kann. Auch wenn das Bürger- und Kleinbürgertum etwas überrepräsentiert und Industriearbeiter unterrepräsentiert waren, so hatte die Partei doch eine vergleichsweise breite Anziehungskraft. Ähnliches gilt auch auf ideologischer Ebene. Der Nationalsozialismus stieß besonders bei überzeugten Kommunisten und Katholiken, in geringerem Maße auch bei Sozialdemokraten, auf starke Barrieren, aber bei den anderen Parteien der Mitte und Rechten konnte er viele Anhänger gewinnen.40) Er erschien Zeitgenossen nicht unbedingt als eine besonders extremistische Partei, sondern oft auch als eine neue nationalistische Kraft der Rechten, die, frei von überkommenen konservativen Standesdünkeln, eine völkische Regeneration versprach. Unter dem Dach eines extremen und scheinbar kompromisslos verfolgten Nationalismus schien die NSDAP endlich einen Weg über erstarrte ideologische Fronten hinaus zu weisen: Eine Politik der nationalen Stärke sollte sich, so das unbestimmt-attraktive Versprechen, mit sozialem Verantwortungsgefühl verbinden, eine mächtige autoritäre Führung mit einem offenen Ohr für populäre Belange, die Achtung vor der deutschen Tradition mit der Bereitschaft 39

) Oberkrome: „Deutsche Heimat", S. 243 f. ) Zum Wahl verhalten siehe Jürgen Falter: Hitlers Wähler, München 1991. Eine ausgewogene Darstellung zur Mitgliedschaft bieten Sven Reichardt: Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln u.a. 2002, S. 254 ff. und Detlef Mühlberger. The Social Bases of Nazism 1919-1933, Cambridge 2003.

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zur begeisterten Akzeptanz der technischen Moderne. Wie eine sozial gerechte Volksgemeinschaft, in der jeder vom nationalen Aufstieg profitieren sollte, sowohl die konservative Verachtung der Massen wie den marxistischen Ruf nach einem internationalen Klassenkampf zu transzendieren versprach, so entwarf der Nationalsozialismus auch die Vision einer Überwindung der alten Gegensätze von Industrie und Landwirtschaft, Modernisierung und romantischer Nostalgie, vitalistischem Willen zur Macht und Naturgenuss. Der politische Glaube, dass diese neue und unverbrauchte politische Kraft die einzige Hoffnung in der krisengerüttelten Spätphase der Weimarer Republik sei, war zumindest für einen Großteil des protestantischen Bürgertums so groß, dass Ingenieure wie Naturschützer, romantische Liebhaber einer traditionellen Heimat wie Befürworter einer rückhaltlosen Produktionssteigerung in der Landwirtschaft und militaristische Verfechter einer totalen Mobilmachung in der großsprecherischen, unbestimmten und oft wenig realistischen Propaganda dieser „catch-all" Partei vor allem das hörten, was ihren Vorstellungen entsprach. Führer-Mythos, das Bild dynamischer Entschlossenheit und die Hoffnung auf nationale Regeneration vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise und taumelnder Präsidialregime ließ vielen Menschen von durchaus unterschiedlichen Überzeugungen den Nationalsozialismus als beste Option sehen.41) So konnte auch ein Großteil der Vertreter von all den hier skizzierten Raumvorstellungen ihre Hoffnung auf das ,.Dritte Reich" setzen. Die nationalsozialistische Bewegung war ein Sammelbecken verschiedener und zumindest partiell widersprüchlicher Strömungen, die alle unter dem Dach eines radikalen nationalistischen Glaubens zusammenfanden. Alle Raumvorstellungen konnten in der nationalsozialistischen Ideologie und Propaganda Aspekte ihrer eigenen Überzeugungen wiederfinden. Aber wenn es zu Spannungen und Konflikten innerhalb dieses Flickenteppichs von großmundigen Versprechungen kam, dann setzten sich unweigerlich die sozialdarwinistischen, expansionistischen und rassistischen Orientierungen, die zum Kernbereich der nationalsozialistischen Überzeugungen gehörten, durch. Schon Raymond H. Dominick hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Naturschützer Schwierigkeiten hatten, ein Hitler-Zitat zur Unterstützung ihrer Belange zu finden.42) Wenn Hitler von der Natur und ihren Gesetzen sprach, so meinte er eine sozialdarwinistische Natur, in der vor allem ein Kampf zwischen Rassen und Völkern tobte. Zwar nahm er ein Topoi der Zivilisationskritik auf, wenn er in „Mein Kampf die Großstädte in düsteren Farben schil41

) Vgl. etwa Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914—1949, München 2003, S. 546 ff. Dieses Thema wird in meinem nächsten Buch „One Communal Faith? The German Right from Conservatism to National Socialism" eine zentrale Rolle spielen. 42 ) Raymond H. Dominick: The Environmental Movement in Germany. Prophets and Pioneers 1871-1971, Bloomington 1992.

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derte, aber auch hier ging es ihm vor allem um ihre gesündere Gestaltung, damit sie nicht zum „Rasengrab" würden und Unzufriedenheit schürten. Wenn es für Hitler ein Problem mit einer Übernutzung der deutschen Landschaft gab, so sah er die einzige angemessene Antwort darauf in der Gewinnung von Lebensraum im Osten.43) Auch wenn er durchaus die Bedeutung des „schönen Scheins"44) auch in der Landschaftsgestaltung für die Förderung von Heimatverbundenheit und starker nationalistischer Gefühle erkannte, standen bei ihm doch der Rassismus und die Gewinnung von Lebensraum im Vordergrund.45) Statt Bewahrung von angeblich typisch deutscher Natur soll er sogar negativ über den NS-Film „Der ewige Wald" geurteilt haben, denn der Wald sei nur für schwache Völker, während dem Starken die offene Steppe entspreche.46) Auch die Förderung der Landwirtschaft begründete sich aus einer rassistischen und machtpolitischen Perspektive: Es ging nicht um die Bewahrung von Traditionen auf dem Lande, sondern um die Steigerung der Geburtenrate mit rassisch hochwertigem Nachwuchs und der Unabhängigkeit von Nahrungsimporten im Kriegsfall. Insgesamt herrscht heute weithin Einigkeit darüber, dass es keinen „grünen Flügel" der NSDAP gegeben hat.47) In dem von Richard Walther Darre propagierten Slogan „Blut und Boden" und der nationalsozialistischen Agrarpolitik ging es weder um eine romantische Naturverherrlichung noch um eine sentimentale Liebe zur traditionellen Landwirtschaft. Nicht „Boden" stand im Zentrum von Darres Denken, sondern „Blut", d.h. „eine völkische politische Anthropologie".48) In der Tradition von rechtsextremen Siedlungsbewegungen wie den „Artamanen" erstrebte man vor allem eine „Hochzucht der Rasse" unter angeblich idealen ländlichen Bedingungen. Der NS-Staat dachte deshalb nicht daran, die überkommenen Strukturen auf dem Lande zu respek43

) Vgl. etwa Adolf Hitler. Hitlers zweites Buch, eingeleitet und kommentiert von G.L. Weinberg, Stuttgart 1961, S. 58. Diese Überzeugung findet sich an vielen Stellen in Hitlers Reden, Schriften und Gesprächen. 44 ) Peter Reichel: Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, Frankfurt a.M. 1993. 45 ) Vgl. zuletzt Lekan: Imagining the Nation, S. 158-160. 46 ) Ulrich Linse: Der Film „Ewiger Wald" - oder: Die Überwindung der Zeit durch den Raum. Eine filmische Umsetzung von Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts", in: Zeitschrift für Pädagogik, 1993, Beiheft 31, S. 57-75. 47 ) Zu diesem überholten Argument vgl. Anna Bramwell: Blood and Soil. Waither Darre and Hitler's Green Party, Abbotsbrook 1985; Jost Hermand: Grüne Utopie in Deutschland. Zur Geschichte des ökologischen Bewußtseins, Frankfurt a.M. 1991, S. 112-119. Zur Widerlegung vgl. vor allem Gustavo Corni/Horst Gies: Blut und Boden. Rassenideologie und Agrarpolitik im Staat Hitlers, Idstein 1994; Mathias Eidenbenz: „Blut und Boden". Zu Funktion und Genese der Metaphern des Agrarismus und Biologismus in der nationalsozialistischen Bauernpropaganda R.W. Darres, Bern 1992; Gesine Gerhard: Richard Walther Darre - Naturschützer oder „Rassenzüchter"?, in: Radkau/Uekötter (Hrsg.): Naturschutz und Nationalsozialismus, S. 257-272. 4S ) Mathias Eidenbenz, ,Blut und Boden'. Zu Funktion und Genese der Metaphern des Agrarismus und Biologismus in der nationalsozialistischen Bauernpropaganda R.W. Darres, Bern u.a. 1993, S. 11.

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tieren, sondern änderte sie mit Reichserbhofgesetz, Besitzveränderungen, Produktionskartellen und Festpreisen ganz dramatisch. Auch wenn die Propaganda das Bauerntum mit agrarromantischen Tönen pries, so zielte das Regime doch vor allem auf eine landwirtschaftliche Selbstversorgung (auch durch eine Förderung von Maschineneinsatz und Dünger), um im Kriegsfall in diesem essentiellen Produktionsbereich nicht von Importen abhängig zu sein, und auf die Förderung von rassisch angeblich wertvollem Nachwuchs. Mit dem Scheitern der Hoffnung auf ,,Nahrungsfreiheit" innerhalb der bestehenden Grenzen und den Kriegsvorbereitungen ging die Bedeutung der Landwirtschaft noch weiter zurück, weil die Lösung aller Fragen nun durch Aufrüstung und imperialistische Bereicherung angestrebt wurde. Der Ausgleich zwischen den verschiedenen Raumvorstellungen erforderte letztendlich neues Land auf Kosten anderer Völker. Auch wenn sich die hier dargestellten Raumvorstellungen alle, oft begeistert, in den NS-Staat einpassten, gab es doch ein größeres Konfliktpotential bei den Überzeugungen, für welche die nationalsozialistischen Kernpunkte von Rassismus und Expansionismus nicht im Zentrum standen. Während ein sozialdarwinistisches Machtstaatsdenken und ein rassistischer Siedlungsgedanke als integrale Bestanteile des Nationalsozialismus zu gelten haben, kann bei den anderen Richtungen keine völlige Identität konstatiert werden. So gab es im „Dritten Reich" Konflikte mit einem Agrarbereich, der sich zunehmend gegängelt, vernachlässigt und ausgebeutet fühlte,49) und auch der Natur- und Heimatschutz ging nicht restlos im Nationalsozialismus auf. Während einige führende Vertreter, allen voran Paul Schultze-Naumburg, sich schon vor 1933 ganz der neuen Bewegung und ihrem Rassismus verschrieben, fanden sich doch auch weiterhin ästhetische und kulturalistische Argumentationen, welche vor allem die Bewahrung der überkommenen Landschaft beschworen. Während die Landschaftspflege sich begeistert allen neuen Planungsaufgaben zuwandte und höchstens bedauerte, dass das Geld für die nichtutilitaristischen Komponenten der Entwicklung nur spärlich floss, störten sich Natur- und Heimatschützer bei aller allgemeinen Sympathie für das Regime zunehmend an einem rücksichtslosen Wandel, der sich gerade bei der Urbarmachung von Ödland und den vielen militärischen Bauten, allen voran dem Westwall, aber auch beim Autobahnbau über natur- und heimatschützerische Sensibilitäten hinwegsetzte.50) Zwar konnte man sich, vom Erfolg verführt, auch der Hoffnung hingeben, in dem weiten Raum des Ostens große Naturschutzgebiete zu schaffen, aber die Betonung von Bewahrung passte nicht bruchlos in die Politik der rücksichtslosen Mobilisierung für den Krieg.

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) Gustavo Corni: Hitler and the Peasants, Oxford 1990. ) Karl-Heinz Ludwig: Technik und Ingenieure im Dritten Reich, Düsseldorf 1974, S. 343. Zellen Straße, Bahn, Panorama, S. 128 ff., Lekan: Imagining the Nation, S. 155 ff. 50

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Die fatale Attraktion des Nationalsozialismus wirkte in der ersten Hälfte der 30er Jahre so breit, dass sie alle hier betrachteten ideologischen Orientierungen erreichte, aber je größer die Bedeutung von Rassismus und Expansionismus war und je stärker sie einen praktischen Beitrag zur Mobilisierung der nationalen Kräfte leisten konnten, um so mehr konnten sie zu einem zentralen Bestandteil des NS-Staates werden. Auch die Förderung von Heimatgefühl und einer gemeinsamen nationalen Identität waren dem Nationalsozialismus wichtig, aber sie sollten nicht kontemplativ und bewahrend, sondern mobilisierend wirken und dem Willen zur Macht und Übermacht dienen.

Stamm und Landschaft Heimatlicher Tribalismus und die Projektionen einer „völkischen Neuordnung" Deutschlands 1920-1950 Von Willi Oberkrome Wahrscheinlich könnte man eine Wette eingehen. Würden die von Konrad Meyer, dem Amtsleiter .Planung und Boden' im Stabshauptamt des .Reichskommissars für die Festigung des deutschen Volkstums' (RKF), Heinrich Himmler, im März 1941 vor prominenten Nationalsozialisten ausgebreiteten Miniaturmodelle deutscher Siedlungen und Gehöfte in den .eingegliederten Ostgebieten' - unter Ausblendung ihres genozidalen Entstehungskontexts heutzutage öffentlich präsentiert, dürfte ihnen, zumal in ökologischlandbaulich interessierten Kreisen, eine wohlwollende Aufmerksamkeit gewiss sein. Die bäuerlichen Betriebe aus dem Generalplan-Ost-Baukasten wirken geradezu als Gegenbeispiele für die Agrarfabriken unserer Gegenwart. Mit Nitratverseuchung, Genmanipulation, Massentierhaltung, MKS und BSEEpidemien hatten sie augenscheinlich nichts zu tun. Meyer renommierte mit Anlagen, deren bauliche Struktur niederdeutschen Vollbauernhöfen nachempfunden war. Die fachwerklich gehaltenen Hauptgebäude mit dem emblematischen Satteldach verwiesen auf den Traditionsstolz ihrer Besitzer. Sie symbolisierten eine über lange ,Ahnenreihen' generierte Solidität. Im Einklang mit den stilistisch sicher platzierten Scheunen und Stallungen signalisierten sie ein einträgliches, dabei nachhaltiges, gleichsam symbiotisches Verhältnis zwischen dem bäuerlichen ,Wirt' und der von ihm bestellten Feldflur. Dieser Befund gilt auch für die weniger bekannten Hofmodelle süddeutsch-alpinen bzw. norddeutsch-friesischen Gepräges, die ebenfalls das agrarökonomische Antlitz des neuen deutschen Osten prägen sollten.1) Entsprechende regionale Bündelungen, d.h. kulturräumlich differenzierte Typisierungen waren auch im Hinblick auf die agrarischen, „naturnahen Leistungslandschaften" des Ostens vorgesehen. Ihre Planung antizipierte verschiedene Prämissen des aktuellen landschaftsökologischen Know-hows. Sie verknüpfte beispielsweise die vorgesehene Schaffung landsmannschaftlich zuzuordnender Gebietsphysiognomien mit Auflagen zur pflanzlichen

') Dazu reich illustriert Michael A. Hartenstein: Neue Dorflandschaften. Nationalsozialistische Siedlungsplanung in den „eingegliederten Ostgebieten" 1939 bis 1944, Berlin 1998.

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Erosionsprophylaxe, zu natürlicher Schädlingsbekämpfung, zur Renaturierung mäandrierender Fließgewässer usw.2) Der Grund dafür, dass die von dem agrarwissenschaftlich habilitierten SSOberführer Meyer projektierte „Aufrichtung einer neuen Ordnung in Europa" traditionelle hofbäuerliche Siedlungsareale und natural stabilisierte landschaftliche Systeme zu errichten beabsichtigte, ist leicht auszumachen. Die zunächst im , neuen Osten', später auch für das sogenannte Altreich und das weitere Besatzungsgebiet in Aussicht gestellte „politische, wirtschaftliche und soziale Umwälzung von einzigartigem, historischem Ausmaß" verwies auf verbindliche Komponenten der RKF-Rassen- und Volkstumsideologie.3) Für Meyer und seine Mitarbeiter Heinrich Wiepking-Jürgensmann, Erhard Mäding, Hans Schwenkel u.a. galt es als ausgemacht, dass die mit allen Kräften anzusteuernde .Neubildung' eines rassisch werthaften und autarkiewirtschaftlich effizienten .deutschen Bauerntums' nicht lediglich auf dem züchterischen Weg rassentheoretisch normierter ,Gattungsabläufe' zu erreichen war. Sie musste darüber hinaus von ,artgerechten' Umweltbedingungen flankiert sein. Um das Bauerntum oder sogar das gesamte .Landvolk' als „Blutsquell des deutschen Volkes" zum Sprudeln zu bringen und damit die ethnische wie soziale Essenz der .Volksgemeinschaft' sicherzustellen, bedurfte es eines intakten räumlichen Ambientes aus baulich sorgfältig errichteten, eingegrünten Höfen und Veredelungsstätten, aus heckendurchzogenen Feldern, trutzigen Laub- und Mischwäldern, blühenden Wiesen, hydrologisch einwandfreien Fließgewässern usw.4) Dass die Agrararchitektur und die gestalterischen Plausibilitätskriterien der Ostplanung auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts - wie erwähnt, unter unzu2

) Vgl. Willi Oberkrome: „Deutsche Heimat". Nationale Konzeption und regionale Praxis von Naturschutz, Landschaftsgestaltung und Kulturpolitik in Westfalen-Lippe und Thüringen (1900-1960), Paderborn 2004, S. 3 ff., 236 ff. Die folgenden Ausführungen stützen sich weithin auf diese mit weiterführenden Literatur- und Quellenangeben versehene Studie. 3 ) Konrad Meyer: Unsere Aufgabe, in: Forschungsdienst 8/1939, S. 463-467, 463; zusammenfassend zur nationalsozialistischen Ostplanung Sabine Schleiermacher. Sozialbiologische Kriegführung? Der .Generalplan Ost', in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 19/1996, S. 145-156; über die politischen „Gestaltungsziele" und „Wunschbilder" zeitgenössischer, humanwissenschaftlich unterlegter Planung vgl. Lutz Raphael: Sozialexperten in Deutschland zwischen konservativem Ordnungsdenken und rassistischer Utopie (19181945), in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 327-346. 4 ) Heinrich Wiepking-Jürgensmann·. Deutsche Landschaft als deutsche Ostaufgabe, in: Neues Bauerntum 32/1940, S. 132-135, 133; Oers.·. Aufgaben und Ziele der deutschen Landschaftspolitik, in: Raumforschung und Raumordnung 3/1939, S. 365-368; Schlüsseltexte über den Zusammenhang von .Rasse und Umwelt' liefern Martin Staemmer. Rassenkunde und Rassenpflege, in: Heinz Woltereck (Hrsg.): Erbkunde, Rassenpflege, Bevölkerungspolitik. Schicksalsfragen des deutschen Volkes, Leipzig 5/1940, S. 97-206, bes. 99; Ernst Lehmann: Biologischer Wille. Wege und Ziele biologischer Arbeit im neuen Reich, München 1934, S. 44.

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lässiger Vernachlässigung ihres per se gegebenen völkermörderischen Zusammenhangs - wenigstens in Teilen einzuleuchten vermögen, spricht für die Reichweite und den Tiefgang weltbildlich einschlägiger Stereotypenbildungen. Ihre Anfänge reichen bekanntermaßen bis weit in das 19. Jahrhundert zurück. Erste national wirkungsmächtige und gesellschaftlich breit ausgreifende Höhepunkte erlangten die von den GPO-Verantwortlichen später berücksichtigten Vorstellungen über die originäre Beschaffenheit deutscher Hurformen, Hofkomplexe und landschaftlicher Erscheinungsbilder in den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Die Bewahrung einer angemessenen bäuerlichen Art und einer stimmigen territorialen Eigenheit wurde sukzessive zum Garanten des .volkstümlich Wesenhaften' und ,völkisch Authentischen' erklärt. Ihre Aufwertung sollte einer dramatisch fortschreitenden .Verfremdung' des Deutschtums Einhalt gebieten. Entsprechende Auffassungen konvergierten in dieser Zeit mit denkmal- und baukonservatorischen Bemühungen, volkstumsgeschichtlichen und volkskundlichen Interessen, mundart-, brauchtums- und trachtenpflegerischen Ambitionen. Im Windschatten der rasanten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen, erstmals lebensweltlich durchschlagenden Entwicklungsdynamik des späten Kaiserreichs verschafften sich somit kritische Stimmen Gehör,5) deren erkennbar im rechten .politischen Lager' (Karl Rohe) angesiedelten soziokulturellen Alternativkonzepte - nicht nur, aber auch - auf die Leitbegriffe Volkstum und Landschaft, Natur und Kulturraum, Heimat und Stammestum festgelegt waren. In ihnen kündigte sich ein nationalistisch akzentuierter, d.h. von älteren kleinstaatlichen Sentiments befreiter, raumkulturell verstrebter Regionalismus an, der über einzelne Sektionen der Lebensreform- und der Jugendbewegung, über den Kunstwart und den Dürerbund, über die allerorten vertretenen Geschichts- und Altertumsvereine, die Ortsgruppen des Vereins für das Deutschtum im Ausland, die Bewunderer der Heimat- und Bauernkunst usw. zu einer manchmal forcierten, manchmal unspektakulären Ethnisierung der politischen Sphäre beitrug. Vor allem auf dem flachen Land sowie in den Mittel- und Kleinstädten trat der 1904 organisatorisch abgerundete Deutsche Bund Heimatschutz (DBH, seit 1936 Deutscher Heimatbund: DHB) als einziger regional flächendeckend präsenter und auf vielen kulturellen Themenfeldern rühriger Sachwalter landsmannschaftlich-räumlicher Selbstvergewis-

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) Dazu etwa Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998, bes. S. 190; Volker Ullrich: Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871-1918, Frankfurt a.M. 1997, S. 347, 581; Paul Nolle: 1900: Das Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: GWU 47/1996, S. 281-300.

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serung in Erscheinung.6) Teile seiner schlechterdings nicht zu quantifizierenden Mitgüederbasis kultivierten - nach eigenem Ermessen - eine beschauliche, bildungsbeflissene Liebhaber- und Kennerschaft alles Heimatlichen und Volkstümlichen. Dennoch waren sie von Anfang an in den Sog einer kontinuierlich verschärften Politisierung geraten. Sie zeichnete sich u.a. darin ab, dass der DBH nach 1918 oftmals als semioffizielle Körperschaft in die Kultur- und Bildungsadministrationen der Bundesstaaten, der preußischen Provinzen und - aufgrund geschickter personeller Kooptationen - der Kommunen integriert worden ist.7) Dadurch erlangte er eine erstaunlich zählebige, bildungsbürokratische Akzeptanz seiner Projektionen des spezifisch Deutschen - namentlich im Bereich der ,Volkskultur' und des kulturräumlich intendierten amtlichen Natur- bzw. Landschaftsschutzes. Die Gestaltungskoryphäen des RKF trugen den landschaftlichen Idealen des Heimatschutzes ausdrücklich und bereitwillig Rechnung.8) In Absprache mit DHB-Spezialisten für Bau- und Landschaftsfragen machten sich Meyers Fachleute daran, den im , Altreich' zu rekrutierenden Ostsiedlern ,stammesterritoriaP vertraute Kolonisationsräume zu schaffen. In ihnen sollte sich ihre ethnische und rassische Substanz optimal entfalten, in ihnen sollte die überfällige ,Festigung des deutschen Volkstums' ihren Ausgang nehmen.9) Das im Rahmen der Ostplanung unverkennbare Zusammengehen von akademischen Eliten des .Schwarzen Korps' und ausgewiesenen Funktionären des Heimatschutzes, scheint etliche fest gefügte Lehrmeinungen über die Geschichte der .heimatlichen' Ideologiebildung und ihrer Exponenten zu bestätigen. Nicht nur nach Ansicht mäßig informierter Feuilletons erfuhr der heimatideologische Wertekanon während des .Dritten Reiches' außerordentlichen Auftrieb, wurde er doch von großdeutschen Feiertagsreden, von Wo6

) Edeltraud Klueting: Antimodemismus und Reform. Beiträge zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung, Dannstadt 1991; Andreas Knauf. Zurück zur Natur! Die Wurzeln der Ökologiebewegung, veröffentlicht als: Supplement 1/1993 zum Jahrbuch für Naturschutz und Landschaftspflege; William H. Rollins: Aesthetic environmentalism. The Heimatschutz movement in Germany 1904-1918, Phil. Diss. University of Wisconsin, Madison 1994. 7 ) Vgl. Karl Ditt: Die deutsche Heimatbewegung 1871-1945, in: Will Cremerl Ansgar Klein (Hrsg.): Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven, Bonn 1990, S. 135-154. 8 ) Grundlegend Wolfram Pyta: ,Menschenökonomie'. Das Ineinandergreifen von ländlicher Sozialraumgestaltung und rassenbiologischer Bevölkerungspolitik im NS-Staat, in: HZ 273/2001, S. 31-94; Uwe Mai: ,Rasse und Raum'. Agrarpolitik, Sozial- und Raumplanung im NS-Staat, Paderborn 2002. 9 ) Julius Schulte-Frohlinde: Die landschaftlichen Grundlagen des deutschen Bauschaffens. Bd. ΠΙ: Der Osten, München o.J. (1940); Werner Lindner: Pflege und Verbesserung des Ortsbildes im deutschen Osten. Richtlinien, aufgestellt vom Deutschen Heimatbund, auf Veranlassung des Reichsführers SS, Reichskommissar fur die Festigung des deutschen Volkstums, sowie im Einvernehmen mit dem Reichsarbeitsministerium, dem Reichsernährungsministerium, Reichserziehungsministerium, Reichsinnenministerium und dem Generalbevollmächtigten für die Regelung der Bauwirtschaft, in: Heimatleben, Jg. 1940, S. 198-209; Paul Schultze-Naumburg: Das Bauernhaus als lebendige Bauaufgabe, in: Odal 10/1941, S. 645-650.

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chenschau- und Rundfunkdarstellungen, von völkischen Benimmfibeln u.a. monoton beschworen.10) Was nach ,Blut-und-Boden' anmutete, was mit den Etiketten ,artgerecht' und ,deutschtumsgemäß' versehen werden konnte, was auf Heimattreue und Schollenhaftung hindeutete, das alles markierte offenkundig die kulturpolitischen Ziellinien des Nationalsozialismus. Demzufolge versteht es sich geradezu von selber, dass die Heimatschützer als selbsternannte Treuhänder essentiell deutscher Daseinsweisen und echten deutschen Kunstschaffens nach 1933 zum Höhenflug ansetzten. In Sprache und Schrift, Bau und Bild, Sonntagsbrauch und Alltagskomment, Natur und Landschaft schienen sie auf,ganzer Linie' zu reüssieren. Diese Interpretation mag plastisch, populär und eingängig sein, zutreffend ist sie nicht. Wenn man ihr die tatsächlichen - nicht lediglich die rhetorischen - Durchsetzungschancen heimatlicher Anliegen in der NS-Zeit als Prüfungskriterien zugrunde legt, erweist sie sich als äußerst fadenscheinig. Eine Revision drängt sich somit auf und soll im Folgenden vorgenommen werden. Die für sich genommen wenig originelle Annahme, dass primär nach 1918 unterschiedliche, nicht selten divergierende und mitunter konfligierende Konzepte von ,Volkwerdung' und ,Volksordnung' innerhalb des rechten Lagers zu Einfluss gelangten, dient dabei als heuristische Richtschnur. Mit ihrer Hilfe soll der Nachweis erbracht werden, dass die unverhofften Hochkonjunkturen des Heimatschutzes - im klaren Gegensatz zu allen anders lautenden , Befunden' - in die frühen Jahre der beiden deutschen Nachkriegszeiten des 20. Jahrhunderts fielen. Demgegenüber mutet die Verlaufskurve heimatideologischer Impulsgebung innerhalb des .Führerstaates' eher flach und bescheiden an. Das auf Regionalität und Stammesart fußende Modell einer Renovation des Deutschtums unterlag zunehmend alternativen ethnoradikalen Entwürfen, teils, weil diese von zuständigen nationalsozialistischen Machtinstanzen privilegiert wurden, teils, weil sie sich unter den spezifischen Bedingungen der totalen Rüstungswirtschaft und der expansiven Kriegspolitik - pragmatisch gewendet - ,bewährt' hatten. Um diesen Behauptungen einen wenigstens partiell tragfahigen empirischen Unterbau zu verleihen, sind die inhaltlich-ideellen Parameter der Heimatbewegung nachstehend zu skizzieren und um eine knappe Betrachtung der .Weimarer' Ausgangssituation zu ergänzen (I.). Anschließend wird anhand von fünf kardinalen heimatlichen Themenschwerpunkten die Wirkungsgeschichte des räum- und stammesideologisch grundierten Ethnoradikalismus nach 1933 überprüft (II.). Daran anknüpfend ist die frühe bundesdeutsche Reaktion auf klassische Ansätze des Heimatschutzes stichwortartig zu diskutieren (III.).11) 10

) Vgl. Hans Kratzer: Versuchs mal mit Gemütlichkeit, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 215, 16. September 2004, S. 15. ") Zur ostdeutschen Entwicklung nach 1945 Oberkrome: Heimat, S. 289-388.

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I. Axiome des Heimatschutzes in der inneren und äußeren Revisionspolitik Zwei Ereignisse haben dem Heimatschutz im Raum von Politik und Verwaltung anhaltende intellektuelle Geltung und bisweilen generöse materielle Förderung verschafft: Der in heimatbündischer Regie vonstatten gegangene Wiederaufbau kriegsverwüsteter Dörfer und Agrarlandschaften in Ostpreußen 1914 sowie die von Reichskanzler Cuno und den Oberpräsidenten des Rheinlands und Westfalens verfugte Spitzenstellung des westdeutschen Heimatschutzes im antifranzösischen .Volkstumskampf' an der Ruhr 1923. Beide Betätigungsfelder waren publizitätsträchtig. Aber vor allem das Engagement der westlichen Heimatschutzdependancen bei der , volkskulturellen' Delegitimierung des französischen Oktroys im „industriellen Hexenkessel" des Ruhrgebiets, wo sich der „Feind" anschickte zu ernten, „wo er nicht säte", wo er „die Ehre deutscher Frauen und Mädchen den geilen Gelüsten seiner Söldner" preisgab, zahlte sich für den DBH in bemerkenswerter Weise aus.12) 1.

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Sein nationales Prestige wuchs zusehends. Der ,Ruhrkampf' verschaffte dem Heimatschutz das Renommee eines schlagkräftigen Kombattanten in den nahezu ununterbrochenen, gegen das .System von Versailles' gerichteten ,Grenzkämpfen' der Weimarer Republik.13) Der grenz- und volkstumskämpferische ,Einsatz' begründete eine über Jahrzehnte beständige Allianz zwischen den deutschen Heimatbünden und einer ihnen vielfach kongenialen wissenschaftlichen Richtung, die in den frühen 1920er Jahren als völkisch-interdisziplinäre Kulturraumforschung oder Historische Landeskunde institutionell aus der Taufe gehoben wurde. Die historisch angelegten Fachgruppen der Heimatbünde popularisierten landeskundliche Forschungen, die ihrerseits auch Anregungen des Heimatschutzes aufnahmen.14)

) Karl Wagenfeld: Westfalen in Not, in: Werner Lindner. Das Land an der Ruhr, Berlin 1923, S. 12; vgl. Verein Heimatschutz in Brandenburg (Hrsg.): Ostpreußen und sein Wiederaufbau, Berlin-Charlottenburg 1915, S. 17-25. 13 ) Exemplarisch dazu Armin Flender: Vom Saargebiet zum Saarland. Zum Gebrauch kollektiver Erinnerung in einer Grenzregion nach dem Ersten Weltkrieg, in: Detlef Briesen u.a.: Regionalbewußtsein in Montanregionen im 19. und 20. Jahrhundert. Saarland - Siegerland - Ruhrgebiet, Bochum 1994, S. 107-143. 14 ) Zu der wohl bekanntesten, zwischen 1931 und 1996 erschienen Publikation dieser akademischen Richtung vgl. Alfred Hartlieb von Wallthor: Entstehung, Entwicklung und Inhalt des Werkes ,Der Raum Westfalen', in: Ders. (Hrsg.): Der Raum Westfalen, Bd. VI/2, Münster 1996, S. 327-380; kritisch zu diesen Ausführungen Karl Ditt: Der Volkstumsansatz in der Westfalenhistoriographie des 20. Jahrhunderts, in: Jürgen Büschenfeld u.a. (Hrsg.): Wissenschaftsgeschichte heute. Festschrift für Peter Lundgreen, Bielefeld 2001, S. 11-37.

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Das 1923 jäh gewachsene Ansehen erleichterte den Heimatbünden die Mobilisierung und Anwerbung von Bürgermeistern, Kultusbeamten sowie kommunalen und regionalen Amts- und Mandatsträgern, unter denen sich durchaus auch Sozialdemokraten befinden konnten, wie das Beispiel Carl Severings illustriert.15) Solche personellen Verzahnungen mit der lokalen Politik und der Bürokratie begünstigten eine informelle Implementierung des Heimatschutzes in das Gehäuse örtlicher Kulturpolitik, was z.B. die Gründung ungezählter Heimatmuseen und Heimatstuben zur Folge hatte. Die ohnehin stark von Pädagogen und Geistlichen frequentierten Heimatbünde unterhielten regen Kontakt zu Schulen, Kirchengemeinden und Einrichtungen der Erwachsenenbildung in ihrem Einzugsbereich. Ähnliches gilt für das Vereinswesen jenseits des Arbeitermilieus. Der DBH setzte sich ferner bei den jungen Rundfunkanstalten für seine Belange ein.16) Als Triumph des organisierten Heimatgedankens musste der Entschluss der Länderregierungen gelten, die Heimatkunde als „staatsbürgerliche Erziehung" im Unterricht der Elementarschulen behandeln zu lassen.17) Er basierte u.a. auf der einschlägig lancierten Mutmaßung, dass heimatlich vorgebildete Jugendliche gegen die zivilisatorischen Verlockungen einer, wie man meinte, westlich-undeutschen Gegenwartskultur ebenso zu immunisieren seien wie gegen die ruchlosen Einflüsterungen internationalistischer Revolutionsprediger.

Diverse in Wissenschaft, Kunst, Architektur und Verwaltung maßgebliche Persönlichkeiten sowie richtungsweisende Bürokratien, vornehmlich abseits der Metropolen und industriellen Ballungszentren, sympathisierten mit der Heimatbewegung. Ihre Weltanschauung sollte sowohl als Schutzwall vor das angeblich eindeutig identifizierbare Wesen des deutschen Volkes gezogen als auch zum Instrument einer völkischen Erneuerung, d.h. zum Werkzeug der Befreiung aus kulturellen Fremdüberlagerungen und ethnogenetischen Sackgassen gemacht werden. Diese qualitativ variierenden, zuweilen bloß unterschwellig vorgenommenen Zweckzuschreibungen deckten sich nahtlos mit dem Selbstverständnis der aktiven Heimatschützer. Ihre Konzeption einer Regeneration des Volkstums stand, vereinfacht formuliert, in der Tradition organologischer, körperfixierter Gesellschafts- bzw. Gemeinschaftstheorien, die, sei es explizit, oder sei es subkutan, in den gesellschaftspolitischen Debatten des frühen 20. Jahrhunderts breiten Platz

15

) überkronte: Heimat, S. 159. ) Ebd., S. 100; Martin Roth: Heimatmuseum. Zur Geschichte einer deutschen Institution, Berlin 1990, S. 32 ff. 17 ) Vgl. etwa Erlaß des Preußischen Kulturministers vom 4. Februar 1924, in: Die Heimat 6/1924, S. 95. 16

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beanspruchten.18) Der vom Kriegsausgang bestätigte Eindruck drastischer soziokultureller Defizite und struktureller Mängel des Wilhelminischen Deutschlands verlieh ihnen Resonanz. Daher lag es nahe, das artifizielle Aufbauprinzip des zerstobenen Reiches inklusive seines dynastisch-willkürlich vorgegebenen Föderalismus mit einem Gegenentwurf zu konfrontieren, der vermeintlich natürlichen, raumhistorisch überlieferungsechten und deswegen somatisch vitalen Gestaltungskomponenten gerecht werden würde. Um dem durch Versailles' in Ketten gelegten deutschen ,Volksleib' neue, „unüberwindliche" (Paul Schultze-Naumburg) Kraft einzuspeisen, schien es erforderlich, die einzelnen Organe des völkischen Torsos zunächst punktgenau zu konturieren. Daraufhin seien Symptome ihrer Deformation zu diagnostizieren, bevor die einzelnen, mehr oder weniger lädierten Körperteile einer kulturell induzierten Therapie unterzogen werden könnten. Als Glieder des Volkskörpers galten die deutschen Stämme in ihrer Verbundenheit mit den ihnen unverwechselbar zugehörigen Kulturräumen. Dem seinerzeit auch geschichtswissenschaftlich widerlegten Trugschluss, dass diese Stämme aus der germanischen Vorzeit weitgehend originalgetreu hervorgegangen seien,19) erlagen lediglich einige völkische Sektierer und Obskuranten. Nach der im Heimatschutz geltenden Auffassung waren die Stämme ebenso wie die von ihnen erschlossenen Räume kontinuierlichen Prozessen kultureller, sozialer, auch wirtschaftlicher Inklusion und Exklusion ausgesetzt, vollzogen also einen steten, historischer Entwicklung geschuldeten Wandel, der sich allerdings um einen letztlich beständigen und rational kaum fassbaren Wesenskern jeder einzelnen Landsmannschaft rankte. Nach seinen essentialistischen Maßgaben war zu entscheiden, welche der Transformationen und Adaptionen als gesund oder als schädlich eingestuft werden mussten. Zur umfassenden, langfristigen Wiedergenesung des republikanisch kränkelnden und außerdem zivilisatorisch geschwächten Deutschtums war die Reanimierung der Volksgruppen- und kulturraumkohäsiven Kernpotentiale unerlässlich. Von heftigen, ,stammesegoistischen' Auseinandersetzungen über binnendeutsche Grenzverläufe begleitet, gingen die Heimatbünde daran, die kulturell spezifizierbaren Raumeinheiten abzustecken. Unter erheblichem intellektuellen Aufwand bemühten sie sich sodann, die landsmannschaftlich opportune Volkskultur - als den Schlüssel zum tribalen Nukleus - aus unangemessen, verfälschenden Überlagerungen herauszudestillieren und für die sittlich-mentale ,Wiederbeheimatung' der Betroffenen fruchtbar zu machen. Damit glaubten sie, den Königsweg zur physischen Heilung der Nation beschritten zu haben. Der Leib des Volkes war nur so robust wie der Zustand

18 ) Allgemein dazu Ute Planert: Der dreifache Körper des Volkes: Sexualität, Biopolitik und die Wissenschaften vom Leben, in: GG 26/2000, S. 539-576. ,9 ) Franz Steinbach: Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte, Jena 1926.

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seiner singulären Gliederungen. Die Sanierung selbst des geringsten Organs wurde so gesehen zur vaterländischen Pflicht.20) Der Facettenreichtum der heimatideologisch eingefärbten Politik wird vor dem Hintergrund dieser Aufgabenstellung evident. Ihre intentionalen Fluchtpunkte berührten offenbar einen Nerv der deutschen Gesellschaft - vorrangig des gebildeten Bürgertums und des älteren Mittelstandes - in den frühen zwanziger Jahren. Die Begriffe ,Stamm' und .Heimat' waren in der politischen Semantik der Epoche etabliert. Die Präambel der Weimarer Reichsverfassung sah das deutsche Volk nicht von Ungefähr „einig in seinen Stämmen". Kulturraumkategorien prosperierten in der geisteswissenschaftlichen Forschungslandschaft. Von dort aus traten sie mit öffentlichem Beistand zum akademischen , Grenzkampf' an. Sie entfalteten sich fast gleichrangig auf der innenpolitischen Agenda. Die antiunitarischen, gegen zentralstaatliche Regierungskompetenz gelenkten Effekte der in ihrer Intensität gelegentlich unterschätzen Reichsreformdebatte gründeten partiell auf .heimatfesten' Ideen. Dafür trugen hauptsächlich jene Regionen die Verantwortung, die, wie etwa Sachsen, Bayern und Westfalen, - zu den Verlierern von 1813/15 und 1866 zählend, zudem oft ,ultramontaner' Konfession - in dem stammesorganologisch egalitären Volkskörpertheorem ein geeignetes Mittel zu ihrer endgültigen Rehabilitierung im Projekt der deutschen , Volkwerdung' entdeckten.21) In diesen Bundesstaaten und Provinzen war die Verbindung zwischen Heimatschutz und Kulturadministration besonders dicht gekittet. Der heimatbündische Versuch, authentische landsmannschaftliche Tugenden, Verhaltensstile und Wertempfindungen durch volkskulturelle Betreuung und Erziehung zu beleben, fand deshalb in seiner ganzen inhaltlichen Bandbreite Unterstützung. Zu den herausragenden, in aller Regel durch spezielle Fachgruppen nach außen vertretenen Segmenten des heimatideologischen Engagements zählten die Bereiche: 1.

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Bauerntum, in dem groteske agrarromantische Verklärungen und , erbhygienische' Familienberatung mit ernsthaften Reflexionen zur Eindämmung der grassierenden - allgemein als sozial und ethnisch bedrohlich eingestuften - ,Landflucht' Hand in Hand gehen konnten.22) Geschichte, in heimatlicher Grundausrichtung nach den Vorgaben der lokalen Geschichtsvereine. Daraus resultierte eine oft anekdotenlastige, scheinbar bieder-deskriptive, bei Licht besehen jedoch entschieden völ-

) Vgl. generell Oberkrome: Heimat, S. 79 ff. ) Ebd.; Jürgen John·. ,Unitarischer Bundesstaat', .Reichsreform' und .ReichsNeugliederung' in der Weimarer Republik, in: Ders. (Hrsg.): .Mitteldeutschland'. Begriff Geschichte - Konstrukt, Rudolstadt 2001, S. 297-375. 22 ) Dass die Landwirtschaft in „ein Joch abstrakter Nutzungssysteme" gezwängt sei, dass sie in Analogie zu den USA ideell unterminiere, beklagte bereits Emst Rudorjf. Heimatschutz, im Auftrag des DBH bearbeitet von Paul Schultze-Naumburg, Berlin 1926, S. 84. 21

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kisch-tribalistische Laienhistoriographie, die in erster Linie durch die allerorten verlegten Heimatbeilagen der regionalen Tageszeitungen einen nennenswerten Bekanntheitsgrad erlangen konnte.23) Volkskunde mit den Sektionen Volkstanz, Laienspiel und Volksmusik. Diese Fachgruppen verstanden sich aufgrund ihrer unmittelbaren Tuchfühlung mit den freizeitlich relevanten Hervorbringungen der stammesräumlichen Kulturproduktion als Speerspitze eines gegen die „Amerikanisierung" deutscher Lebensgewohnheiten und Alltagvergnügen gerichteten nationalen Aufbegehrens.24) Naturkunde und Naturschutz, die einerseits naturwissenschaftliche Einsichten in die Geologie, die Flora und Fauna der Heimatareale ermöglichen wollten und andererseits einer konservatorisch-musealen Naturdenkmalpflege das Wort redeten. Die archivarische, passive Version des Naturschutzes machte sich für die Unterschutzstellung markanter landschaftlicher Phänomene stark. Naturmonumente wie Solitärbäume, Findlingsgruppen, einsame Moore usw. wurden als zeitlose regional- und ethnokulturelle Andachtsstätten, als gemeinschaftsstiftende, sinnlichkontemplativ erfahrbare Memorabilien eines gleichermaßen tribalistischen wie gesamtvölkischen Kults ausgewiesen.25) Geographische Landeskunde, die allgemein topographisches Wissen über die nähre Heimat zu vermitteln suchte.26) Baupflege, die - von heimatkonformen Architekten inspiriert - Einfluss auf städtische und außerstädtische Siedlungsbildungen, Stadtteil- und Gebäudesanierungen, bauliche Denkmalpflege, lokale Parkgestaltung usf. zu nehmen hatte. Ihr oblag die Beratung von Bauhandwerkerinnungen sowie von Bauherren, die beide - mit größter Energie - zur Verwendung , gebietstypischer' Materialien, Farben und Formen angehalten wurden. Für letztere waren in Sonderheit die Dächer ausschlaggebend. Der Heimatschutz favorisierte Sattel-, Walm- und Krüppelwalmdächer, während die modischen, indessen als „asiatisch" diskreditierten Flachdächer seine notorische Feindschaft provozierten. Das traf auch auf die ,kulturbolschewistische' Bauhausarchitektur mit ihrem Faible für Glas, Stahl und Beton zu. Das Bauressort des Heimatschutzes trat darüber hinaus zu einem obsessiven Kampf gegen Plakat- und Leuchtreklamen an.

) Exemplarisch Willy Hoppe: Heimatkunde und Staat, in: Naturschutz 14/1932/33, S. 141-145; zur Vorgeschichte Georg Kunz: Verortete Geschichte. Regionales Geschichtsbewußtsein in den deutschen Historischen Vereinen des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000. 24 ) Dazu illustrativ Werner Lindner: Die zukünftigen Aufgaben der Heimatgestaltung im Geiste Ernst Rudorffs, in: Heimatleben, Jg. 1940, S. 20-23; allgemein Georg Bollenbeck: Tradition - Avantgarde - Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880-1945, Frankfurt 1999. 25 ) Walther Schoenichen: Bemerkungen über Organisation und Aufgaben der Naturdenkmalpflege, in: Oers. (Hrsg.): Wege zum Naturschutz, Breslau 1926, S. 120-136. 26 ) Vgl. die repräsentative Übersicht in: Westfalenspiegel 5/1956, Η. 1, S. 14-17.

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Sie wurden als Wahrzeichen einer konsumgesellschaftlichen Verirrung angeprangert.27) Heim und Werk, eine Fachsparte, die sich mit ähnlicher Kompromisslosigkeit gegen den Vertrieb sogenannten „Warenkitsches" einsetzte. Als solcher wurde nicht allein erkennbarer Nippes abqualifiziert, sondern die überwiegende Mehrzahl seriell gefertigter Gebrauchsgüter, vom einheitlich montierten Wohnzimmerschrank, über die von Rügen bis Ruhpolding standardisierte Suppenkonserve bis zum maschinell vernähten Anzug von der Stange. Der Heimatschutz privilegierte handgearbeitete Haushaltswaren, Konfektionen und Lebensmittel, denen regionale Merkmale den Stempel aufgedrückt haben sollten. Zahlreiche Heimatschützer befassten sich mit der korrekten Einrichtung von Wohnungen. Sie insistierten auf die allgemeine Erschwinglichkeit manuell oder wenigstens traditionsgerecht hergestellter Waren.28) Sprache und Schrifttum, in deren Zentrum die Pflege und Wiederverbreitung der mehr und mehr in Vergessenheit geratenen regionalen Mundarten, primär in ihren plattdeutschen Versionen standen. In diesem Sinne bemühten sich die Heimatenthusiasten um Sendeplätze im Rundfunk, sodann auch um die Berücksichtigung des Mundartlichen im Repertoire der regionalen Bühnen, im Zeitungswesen und im Amtsdeutsch. Sie regten die Gründung von Volks- und Heimatbibliotheken mit inhaltlich konformen Beständen an. Das Augenmerk der Heimatbünde richtete sich weiterhin auf die Verlage und die Druckereien, denen der Gebrauch der vorgeblich urdeutschen Frakturschrift apodiktisch nahegelegt wurde.29) Vorgeschichte, die, von wenigen seriösen archäologischen Unternehmungen abgesehen, den Tummelplatz germanenbesessener Schwarmgeister bildete. Mit ihrer beharrlichen Verachtung für die römische Zivilisation und die fränkische Schwertmission, mit ihrer Verehrung für Hermanns Cherusker und Wittekinds Sattelmeier, fungierten die vorgeschichtlichen Fachgruppen als Scharnier zwischen dem Heimatschutz und dem kryptischen Geflecht germanomaner Deutschtumsbünde u.ä. Vereinigungen am äußersten, skurril ausgefransten Rand der politischen Rechten. Die Behauptung, die heimatbündischen Vorgeschichtler seien

) Barbara Miller-Lane: Architektur und Politik in Deutschland 1918-1945, Braunschweig 1986; Gerhard Fehl·. Kleinstadt, Steildach, Volksgemeinschaft. Zum .reaktionären Modernismus' in Bau- und Stadtbaukunst, Braunschweig 1995; Theda Behme: Reklame und Heimatbild, Neudamm 1931. 28 ) Dazu mehrbändig, mit zahlreichen Dlustrationen Paul Schultze-Naumburg: Kulturarbeiten, Berlin 3/1928. 29 ) Karl Wehrhan: Vom Hoch- und Plattdeutschen, in: Vaterländische Blätter 9/1930, S. 40; Karl Wagenfeld: Unser Platt, in: Heimat und Reich 2/1935, S. 464.

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in den eigenen Reihen grundsätzlich ernst genommen worden, erscheint freilich zweifelhaft. 30 ) Gleichwohl sind die Kontaktstellen zwischen dem bürgerlich-honorigen, honorationell getragenen Heimatschutz und den radikalvölkischen, deutschtumszentrierten Gruppierungen, aber auch zu anderen tendenziell sinnverwandten Strömungen des zeitgenössischen Ethnoradikalismus in aller Schärfe zu registrieren. Sie bildeten eine schillernde, bei aller Divergenz letztlich jedoch homogene Phalanx völkischer Opposition gegen die pluralistischen, parlamentarischen, vergnügungskulturellen, liberalen, oft als jüdisch' denunzierten Verhältnisse und Tendenzen der eigenen Gegenwart. In dieser ,Abwehrfront' nahm die Heimatbewegung eine herausgehobene Position ein. Sie war offiziell respektiert, administrativ verankert und bildungs- bzw. freizeitpolitisch in wichtigen Sparten des Vereinslebens, des Wanderwesens, der Medien, der Volksfestgestaltung, obendrein in Schule und Kirche tatkräftig vertreten. Dadurch waren ihr durchaus Erfolge beschieden. Zwischen 1920 und 1933 erließen alle deutschen Bundesstaaten mit Ausnahme Thüringens Heimatschutzgesetze. Von ihrem kommunalen Niederschlag kann man sich bis zur Stunde überzeugen: Die Naturdenkmalpflege hat zwar ihre semisakralen Volkstumsbekenntnisse abgestreift, verläuft aber innerörtlich nach den seit 1920 festgelegten Richtlinien. Die Prachtalleen älterer Verwaltungs- und Residenzstädte weisen ganze Häuserzeilen im Heimatstil, d.h. unter strikter Berücksichtigung seiner Dachkonstruktionsvorschriften auf. Vor allem aber sind in den meisten Städten Reklameschutz- und Verunstaltungsverordnungen in Kraft, die ihre heimatbewegten Ursprünge in den zwanziger Jahren kaum verleugnen können.31) Wenn innerhalb des organisierten Heimatschutzes zu Beginn der dreißiger Jahre dennoch eine abgründige Unzufriedenheit mit der eigenen legislativen wie administrativen Leistungsbilanz laut wurde, dann lag das nicht allein daran, dass ihm die Weltwirtschaftskrise die Handlungsspielräume beschnitt. Eher verwies die rasant um sich greifende Missstimmung auf das Unvermögen der vergleichsweise gut aufgestellten' Heimatschützer, aus dem eigenen Binnenmilieu in das gesellschaftliche Ganze vorzustoßen. Ihr Manko zeichnete sich darin ab, dass die Bevölkerung der Metropolen, aber auch die Angestellten, Arbeiter und Unternehmer des flachen Landes, genuin heimatpolitischen Aspirationen für gewöhnlich die kalte Schulter zeigten. Hinzu kam, dass sich ihnen die Mehrheit der Jugend beiderlei Geschlechts versagte und 30

) Ingo Wiwjorra: Die deutsche Vorgeschichtsforschung und ihr Verhältnis zu Nationalismus und Rassismus, in: Uwe Puschner u.a. (Hrsg.): Handbuch der Völkischen Bewegung' 1871-1918, München 1996, S. 186-207; ferner die Fallstudie von Uta Halle: Detmold und die deutsche Vorgeschichtsforschung, in: Stadt Detmold (Hrsg.): Detmold im Nationalsozialismus, Bielefeld 1998, S. 528-555. 31 ) Oberkrome·. Heimat, S. 98 ff., 123 ff.

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dass sogar die normative Referenzgruppe der Bauern und Landarbeiter wenig Neigung zeigte, im Windschatten stammes- und raumideologisch diktierter Vorgaben zu manövrieren. Das schränkte die Anwendung des heimatbewegten Maßnahmenkatalogs selbst in wohlwollenden Verwaltungsbezirken massiv ein.32) Unter diesen Umständen lag es für die Heimatbünde 1933 nahe, den Regierungsantritt jenes Regimes zu begrüßen, von dem sie wegen seiner offiziösen kulturpolitischen Deklarationen sicher glaubten, es werde den Heimatschutz als „Eugenik" einer „Kultur" betreiben, die „die heiligen Feuer unseres Volkstums" endlich überall auflodern lassen werde.33)

Π. Im Schatten nationalsozialistischer ,Volks- und Raumordnung' Die Kriegstagung des DHB im Oktober 1943 in Weimar beendete die formelle Selbständigkeit des Deutschen Heimatbundes. Mit Billigung seines Vorsitzenden, des rheinischen Landeshauptmanns Heinz Haake, wurde der knapp vierzigjährige Verband dem nationalsozialistischen Volkskulturwerk angeschlossen. Den Heimatschutztraditionalisten war die Fusion mit dieser dem Hauptkulturamt der Reichspropagandaleitung der NSDAP zugehörigen Organisation alles andere als willkommen. Ihre Skepsis fand in einer längeren Rede des westfälischen Heimatbund-Leiters Karl Friedrich Kolbow Ausdruck, der sich gegen jedweden Versuch verwahrte, den Heimatbund in extern festgelegter „Richtung auf Vordermann" zu bringen. Den altgedienten Verteidigern von Heimat und Volkstum widerstrebe es grundsätzlich, sich fremder Regie zu fügen. Die gleichsam .parteiamtliche' Oberaufsicht sei gänzlich überflüssig. Indem sich der ehemaüge Bund Heimatschutz seit 1936 unter Verzicht auf die frühere Attribuierung als ,Schutzvereinigung' in .Deutscher Heimatbund' umbenannt habe, sei er als eine unbedingt handlungsbereite ,3ewegung" hervorgetreten. Diese sei zu einem geschmeidigen Transmissionsriemen der wahren nationalsozialistischen Kulturpolitik geworden. „Vom bloßen Schutz der durch Technik und Industrie bedrohten 32

) Wichtige, deutschlandweit vernommene Beiträge zur reflexiven Einordnung und Überwindung dieses Krisenphänomens leistete der WHB-Geschäftsführer Karl Wagenfeld: Heimatschutz Volkssache, in: Heimatblätter der Roten Erde 5/1926, S. 1-4; Oers.: Industrie und Volkstum, in: Die Heimat 9/1927, S. 230-233; Ders.: Heimatfreunde, .solche und solche', in: Niedersachsen 33/1928, S. 57-60; Ders.: Gegenwerts- und Zukunftsaufgaben der Heimatbewegung, in: Westfälische Heimat 12/1930, S. 341-344. 33 ) Hans Schwenket Heimatschutz im nationalen Deutschland, in: Mein Heimatland, Jg. 1933, H. 7/8, S. 227-242, 232, 241; vgl. Werner Lindner: Heimatschutz im neuen Reich, Leipzig 1934; Waither Schoenichen: Naturschutz im Dritten Reich. Einführung in Wesen und Grundlagen zeitgemäßer Naturschutz-Arbeit, Berlin 1934.

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Güter der Heimat, von der nur musealen Sammlung, vom Konservieren ... der Bau- und Kunstdenkmäler, und von der Erhaltung des Landschaftsbildes, von der bloßen Pflege der Sachgüter, die zumeist nur geschichtlich betrachtet oder ästhetisch ausgerichtet war, kam man durch diese neue Ausrichtung dahin, den Menschen zum Bewußtsein seiner Heimat in allen ihren Ausdrucksformen zu erziehen." Auf diese Weise werde das allseitige Verständnis für regionale Eigenheiten geschärft, die das gültige Richtmaß für sämtliche Varianten einer zielstrebigen, regimekonformen Raumordnung und Kulturpflege lieferten.34) Kolbows Eintreten für die Prinzipien eines systemgerecht aktivierten völkischen Regionalismus sollte drohenden Gängelungsabsichten des Volkskulturwerks von vornherein den Wind aus den Segeln nehmen. Deshalb bleibt es erstaunlich, dass der WHB-Delegierte die von ihm selber mit angestoßene, prestigeträchtige Zusammenarbeit zwischen Heimatbund und RKF-Planungsamt bei der Gestaltung des ,neuen deutschen Ostens' nicht einmal zwischen den Zeilen durchblicken ließ. Dieser Verzicht resultierte nicht etwa aus Geheimhaltungspflichten - die nationalsozialistische Ostplanung vollzog sich, wie man weiß, vor den Augen der Öffentlichkeit.35) Er folgte dagegen einer ungeschönten Einsicht in die tatsächliche Stimmungslage des deutschen Heimatschutzes, die sich keineswegs - nicht einmal bezüglich der Gestaltung des ,Ostraums' - als so gestaltungs-, aktions- und bewegungsaffirmativ erwies, wie Kolbows Ausführungen suggerierten. Die Weimarer Ansprache des westfälischen Landeshauptmanns entpuppte sich bei Licht besehen als eine Gratwanderung zwischen übertrieben resoluter Außendarstellung und unausgesprochenen internen Rücksichtnahmen. Diese rhetorische Strategie zeugte - ebenso wie die letztlich hilfloslos hingenommene Überführung des DHB in eine Parteigliederung - davon, dass es um den Zustand des Heimatschutzes sowie um die Gültigkeit seines Alleinvertretungsanspruches in Sachen .korrekter' Volkskultur und räumlicher Identität während des .Dritten Reiches' nicht unbedingt zum Besten bestellt war. In der Nahschau lassen sich drei Faktoren ausmachen, die die Tragfähigkeit des heimatideologischen Ansatzes nach 1933 in der Tat erodierten: Erstens die beschleunigte Gründung verschiedener Sonderbehörden und parastaatlicher Einrichtungen, die eine autonome Richtlinienkompetenz in Fragen der Volkstums- und Kulturpolitik reklamierten, zweitens die nach wie

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) Vgl. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Ministerium des Innern Abt. A, Nr. 942; ferner der unvollständige Bericht von G. Loescher. Kriegswichtige Aufgaben des Deutschen Heimatbundes. Bericht über die Arbeitstagung in Weimar im Oktober 1943, in: Heimatleben, Jg. 1943, S. 92-95; Kolbows eigene Beurteilung der Weimarer Arbeitstagung, in: WHB-Archiv, D 1 1943-1951, Bl. 140 ff. 35 ) Uber ihre Etappen und Schwerpunkte konnten sich Bibliotheksbenutzer in Zeitschriften wie .Neues Bauerntum', .Raumforschung und Raumordnung', ,Odal\ .Heimatdienst' und .Reich-Volk-Lebensraum' umstandslos informieren.

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vor beständige regional- und stammeskulturelle Indifferenz der gesellschaftlichen Mehrheit und drittens ein kontinental ausgreifender, rassistisch grundierter Ordnungswille, der sich auf zentralistische Herrschaftstechniken ohne regionale Rücksichtnahmen berief. Wie sich diese Gegenströmungen auf das Engagement der Heimatschützer auswirkten, wurde bereits in der Konsolidierungsphase des .Dritten Reiches' sichtbar. Die Hoffnung zahlreicher Heimatschützer als prädestinierte Initiatoren deutscher volkskultureller .Erneuerung' in den Dienst des NS-Systems gestellt zu werden, zerstoben unversehens. Den DBH-Sektionen wurde schmerzlich vor Augen geführt, dass eine Fülle mächtiger Konkurrenzorganisationen zur - modern gewendet - nationalsozialistischen .Kolonisation der Lebenswelten' antraten. Diese Institutionen, die sich der Protektion der Minister und/oder Reichsleiter Goebbels, Heß, Rosenberg, Ley, später auch namhafter Gauleiter gewiss sein konnten, dachten nicht im Traum daran, vor den Heimatbünden zurückzustecken. Im Gegenteil ließen sie nichts unversucht, die nunmehr als ,altväterlich-behäbig' geschmähten Heimatfreunde an den Rand des alltagskulturell-freizeitlichen Geschehens zu drängen. Der DBH reagierte irritiert, bevor er sich schließlich daran machte, im Geflecht rivalisierender Kulturinstanzen nach möglichst kongenialen Bündnispartnern Ausschau zu halten. Seine Koalitionsangebote stießen aber lediglich bei der ,NS-Kulturgemeinde\ der schwächsten Unterabteilung der nach allen Seiten hin aus wuchernden ,Kraft-durch-Freude'-Fachämter (KdF) der Deutschen Arbeitsfront (DAF) auf einige Resonanz. SA, Reichsarbeitsdienst, HJ und andere Adressaten heimatlicher Belehrungsofferten signalisierten im Großen und Ganzen Desinteresse, so dass alternative Wege zur Fundierung der eigenen Position eingeschlagen werden mussten.36) An der DHB-Spitze besann man sich auf die Tradition einer möglichst bürokratienahen Praxis. Durch die Vermittlung regionalistisch orientierter Verwaltungsspitzen kam im Dezember 1936 ein Vertrag zwischen dem Deutschen Heimatbund und den preußischen Provinzialverbänden zustande. Darin vereinbarten Haake und der Reichsleiter Karl Fiehler, der Vorsitzende des Deutschen Gemeindetages als Vertreter der preußischen Kommunalverbände, dass die „Durchführung" der provinziellen „Volkstums- und Heimatpflege" zukünftig in die Hand der jeweiligen landschaftlichen Heimatbünde zu legen sei. Die regionalen Heimatvereinigungen verschmolzen auf diese Weise mit den Kulturabteilungen der Provinzialbehörden. Dadurch gewann der DHB einen wenigstens halboffiziellen Charakter. Sein formalrechtlicher Status konnte auch außerhalb Preußens zunächst kaum mehr angetastet werden. Das Abkommen zwischen Haake und Fiehler trug in der Lesart der Beteiligten einer Entwicklung Rechnung, die „die deutsche Heimatbewegung von dem 36

) Oberkrome: Heimat, S. 160 ff.

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Heimatschutz der Jahrhundertwende zur Heimatpflege der letzten Jahre" geführt und die „Heimatarbeit ... als eine im Völkischen und Sozialen begründete Aufgabe erkannt" habe.37) Doch so sehr die bilaterale Übereinkunft zur organisatorischen Bestandsicherung des Heimatschutzes beitragen mochte, so wenig änderte sie an der Höhe und Breite jener Hürden, die den gesamtgesellschaftlichen Erfolgslauf seiner ethnokulturellen Anstrengungen seit langem behinderten. Die ,vor Ort' tätigen Fachstellen der Heimatbünde mussten nämlich auch nach 1933 deprimierende Erfahrungen auf nahezu allen Arbeitsgebieten machen. Die volkskundlichen Sektionen glaubten sich nur kurzfristig im Aufwind. Singspiele, gleichgeschlechtliche Gruppentänze, Trachtenumzüge und ,volksmusikalische' Darbietungen waren zwar ein fester Bestandteil nationalsozialistischer Kulturpflege. Allerdings zeigte sich zum Leidwesen der Heimatfreunde bald, dass diese Kunstformen die Richtung und die Strömungsgeschwindigkeit des alltagskulturellen mainstreams nicht zu korrigieren vermochten. Sie sollten es nicht einmal. Die Gauleitungen unternahmen zum Beispiel keinerlei Anstalten, die hegemoniale Stellung von Kirmes, Kneipe und Kino im Feierabend der Volksgenossen und -genossinnen zu brechen. Sofern er nicht Jüdisch' oder weltanschaulich affiziert war, schien ihnen jeder freizeitliche ,Mumpitz' förderungswert. Aus ,heimattreuer' Perspektive behaupteten triviale Vergnügungen und amerikanisch anmutende Gewohnheiten das Feld der Abend- und Feiertagsgestaltung. Fraglos gaben sich Mitarbeiter der Gauleitungen auf den regionalen , Heimat- und Naturschutztagen' die Ehre; ihre Chefs feuerten aber währenddessen von den Tribünen dicht besetzter Sportstadien die medial hofierten und gaupolitisch geschickt vermarkteten Fußballmannschaften an.38) Im Verständnis des Heimatschutzes kam das einem Affront gleich. Auch die Kulturpolitik des Goebbelsministeriums verlief unter heimatideologischen Gesichtspunkten durchweg unglücklich. Weder in Revue-Filmen noch beim Genuss cineastischer Feuerzangenbowlen, nicht einmal auf den 37 ) Dazu Archiv des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (ALWL), C 70, Nr. 213; NRW-Staatsarchiv Detmold (STAD), D 100 Detmold, Nr. 735; vgl. Heinz Haake: Zum Geleit, in: Heimatleben, Jg. 1939, o.S.; Wilhelm Frick: Grußwort, in: Ebd., o.S. 38 ) Dies ist vor allem am Beispiel des Ruhrgebiets untersucht worden, dessen kulturpolitisch .fatale' Strahlkraft im ländlichen Raum von Heimatschützern einmütig beklagt wurde; vgl. Matthias Uecker: Heimatbewußtsein im Industriegebiet? Das bürgerliche HeimatKonzept im Ruhgebiet der Weimarer Republik: Inhalte, Funktionen und Probleme, in: Westfälische Forschungen 47/1997, S. 137-151; Stefan Goch: ,Der Ruhrgebietler'. Überlegungen zur Entstehung und Entwicklung regionalen Bewußtseins im Ruhrgebiet, in: Ebd., S. 585-620; Siegfried Gehrmann: Fußball in einer Industrieregion. Das Beispiel F.C. Schalke 04, in: Jürgen ReuleckefWoifhaid Weber: Fabrik, Familie, Feierabend, Wuppertal 1978, S. 377-398; allgemein zur Vorgeschichte Dagmar Kift (Hrsg.): Kirmes-KneipeKino. Arbeiterkultur im Ruhrgebiet zwischen Kommerz und Kontrolle (1850-1904), Paderborn 1992.

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,Bergen in Flammen' rückten genuin stammestümliche Angelegenheiten ins Bild. Die Zeitschriften und Illustrierten steuerten dieser Ausblendung kaum entgegen, selbst wenn ihnen Heimatbeilagen hinzugefügt waren. Die Idolisierung von Rennfahrern, Piloten, Tennisprofis, Film- und Schlagerstars war insbesondere den großen Redaktionen wichtiger. Darüber konnte die Literaturproduktion schwerlich hinwegtrösten. Der kommerzielle Erfolg von Trygve Gulbranssens antiurbanem, rural-heroisierendem Roman ,Und ewig singen die Wälder' wurde von Margaret Mitchells ,Vom Winde verweht' und Foresters ziemlich heimatfremdem ,Hornblower-Zyklus' leichthin in den Schatten gestellt. Auf der musikalischen Beliebtheitsskala verzeichnete der Heimatschutz ebenfalls meist Fehlanzeige oder Schlimmeres. Wütenden Polemiken gegen die verderbliche Negermusik' zum Trotz intonierten viele Tanzorchester weiterhin ,beswingt'. Heimatfreunde registrierten zähneknirschend, dass die Wunschkonzerte der Rundfunksender eher Liebesleidgesänge mondäner Damen als heimfestes Liedgut mit Lautenbegleitung ausstrahlten. Die selteneren Gassenhauer mit regionalen Bezügen muteten ihnen bis zum Überdruss verkitscht an. Denn, dass „das Wasser im Rhein goldner Wein war'", wie ein musikalischer Dauerbrenner der zweiten Nachkriegszeit ersehnte, wünschten die Advokaten der deutschen Heimat eben nicht.39) Das unterschied sie ersichtlich von ihrer regional und kommunal wahrscheinlich hartnäckigsten Widersacherin, der KdF-Organisation der Arbeitsfront. Die beiderseitige Abneigung ging in erster Linie darauf zurück, dass die nominellen Vorbehalte der KdF-Fachamtsleitungen gegen kommerzielle, konsumkulturelle Neigungen ihrer Klientel faktisch selten zum Tragen kamen. Die Heimatschützer schäumten vor Entrüstung, wenn sie die .Entgleisungen' von KdF-Ausflugs- und Urlaubergruppen in den deutschen Landschaften protokollierten. Statt sich mit dem gebotenen Ernst auf die natürliche Schönheit und das kulturelle Erbe der Heimat einzulassen, fielen die Reisenden der Arbeitsfront bierkrug- und bockwurstschwenkend in die deutschen Kulturräume ein. Von deren ideellen Botschaften gänzlich unbeeindruckt, eilten sie zielstrebig in bunt ausstaffierte Lokale, die Gelegenheit zu enthemmter Zechfreude und - wie unzählige Heimatbundarchivalien entrüstet überliefern - anzüglichen Tanzvergnügen boten. Dieses Gebaren leistete einer ,Verrummelung' der Landschaften Vorschub, die sich allmählich zum Menetekel eines Heimatschutzes auswuchs, der im Unterschied zu man-

39 ) Dazu generell Jeffrey Herf. Reactionary modernism. Technology, culture, and politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1984, S. 194; Peter Reichel: Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, München 1992; Gudrun Brockhaus: Schauder und Idylle. Faschismus als Erlebnisangebot, München 1997, bes. S. 78 ff.; Hans Dieter Schäfer. Das gespaltene Bewußtsein. Über deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933 - 1944, 2. Aufl. München 1982, S. 114 ff.; Georg Halbe·. Rezension: Gulbranssen, Und ewig singen die Wälder; Das Erbe von Björndal, in: Odal 5/1936/37, S. 857 f.

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chen weisungsbefugten NS-Größen nicht einzusehen bereit war, dass „sinnliche und körperbetonte Entspannung, farbige und gefühlvolle Unterhaltung", sogar „rauschhafte Vergnügen",40) unter den ansonsten vielseitig belastenden Bedingungen des .Dritten Reiches' unveräußerliche Werkstoffe zur Errichtung und zum Erhalt der „Zustimmungsdiktatur" (Götz Aly) bildeten. Dass die Durchsetzung einer rassistischen Gesellschaft mit einer deutlichen „Schwächung des völkischen Traditionalismus" Hand in Hand gehen konnte,41) erlebten auch die heimatbewegten Streiter gegen die „Auswüchse der Außenreklame". Ihre Vorstöße gingen während der NS-Zeit fast ausnahmslos ins Leere. Errungenschaften der Weimarer Republik wurden vom entscheidungsrelevanten ,Werberat der deutschen Wirtschaft' kaltschnäuzig zurückgeschraubt. In Übereinstimmung mit den Ortsgruppenleitern der NSDAP, denen an augenfälligen Plakatflächen für Parteipropaganda gelegen war, überzog der Werberat sogar die agrarischen Territorien, Dörfer und Kleinstädte mit grell beklebten Litfaßsäulen. Er spannte sogar „Schiffe, Boote, Flugzeuge, Luftschiffe und Bergbahnen" ein.42) Zornige Proteste der Heimatschützer gegen reklamebedingte Verschandelungen hat der durch Goebbels protegierte Rat lapidar abgefertigt. Auf eine Resolution der Heimatbünde gegen die von Konzernfahnen umwehten - und notorisch mit Flachdächern ausgestatteten - Tankstellen antwortete sein Vorstand, dass sämtliche Einwände „im Widerspruch zum Reichsrecht" ständen. Obendrein machte der Werberat auf die politische Berechtigung der beanstandeten Produktinformation über Motorräder, Automobile und Kraftstoffe aufmerksam. Sie befände sich im Einklang mit „der vom Führer geforderten Motorisierung". Somit stehe der Fahnenschmuck der Tankstellen im Dienst der neuen „Volksordnung".43) Eine Ahnung davon, dass die offiziellen Richtwerte der ,Volksordnung' von heimatlich eingefärbten Normen abweichen konnte, beschlich die Heimatschützer auch in Anbetracht des Wohn- und Wirtschaftsbauwesens vor allem im ,Altreich'. Im Gegensatz zu den ,Neubauzonen' des Ostens, in denen es seit 1940 zu einer relativ reibungslosen planerischen Zusammenarbeit zwischen dem Siedlungsamt der DAF, den RKF-Spezialisten, den Reichsnährstandsbevollmächtigten und diversen Heimatschutzexperten gekommen war, wurden heimatliche Bauempfehlungen im Innern Deutschlands Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, Frankfurt a.M. 1997, S. 222 f. 41 ) Reichel: Schein, S. 43. 42 ) So erinnerten sie z.B. die Reklamegegner Wilhelm Münker: Landschaft und Außenreklame, in: Natur und Landschaft 26/1951, S. 35 f.; Georg Grabenhorst: Über den Wert und Unwert der Außenwerbung, in: Ebd. 28/1953 o.S. 43 ) Theda Behme: Stellungnahme der deutschen Industrie zur Außenreklame, in: Naturschutz 14/1932/33, S. 225; generell Uwe Westphal: Werbung im Dritten Reich, Berlin 1989, bes. S. 30; zum Werberat auch Hans-Ulrich Thamer: Geschichte und Propaganda. Kulturhistorische Ausstellungen in der NS-Zeit, in: GG 24/1998, S. 349-381, 361.

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sukzessive ad acta gelegt. Das zeichnete sich vornehmlich in Industrialisierungsgebieten ab, die im Zeichen der Rüstungs- und Kriegswirtschaft auf einen raschen Ausbau von Produktionsanlagen und Arbeiterwohnquartieren, d.h. auf beschleunigten Betonbau unter Verzicht auf aufwendige Dachkonstruktionen, setzten. Daneben stand auch Hitlers persönlicher Architekturgeschmack den heimatnahen Ansinnen im Weg. Der .Führer' bevorzugte Monumentalbauten mit imperialer Strahlkraft. Regionalistische Attribute lagen ihm fern.44) Ähnlich deplorabel entwickelten sich die Margen der Fachgruppe ,Heim und Werk'. Ihre Initiativen zur .Verbesserung' der familiären Wohnqualität fanden ein allenfalls leises gesellschaftliches Echo. Die Deutschen sparten lieber auf einen Volksempfänger als auf einen handgearbeiteten Eichentisch im heimatlichen Dekor. Für viele der dennoch an soliden handwerklichen Wohnaccessoires interessierten Zeitgenossen blieben diese unerschwinglich. Deshalb hielt der Trend zu preiswerten, seriell gefertigten, furnierten Gebrauchsmöbeln an.45) Resignative Bitterkeit beschlich die Heimatschützer angesichts der nationalsozialistischen Sprachpolitik. Von einer Wiederbelebung der Mundarten und vergessenen Idiome im Wort- und Schriftverkehr konnte keine Rede sein. Die braune Elite setzte auf die Omnipräsenz des Hochdeutschen. Die uniformierte und hochgradig mobilisierte Gesellschaft des .Dritten Reichs' sollte unbedingt kommunikationsfähig sein und dazu vor allem problemlos lesen können. Deshalb wurde die Frakturschrift zugunsten lateinischer Lettern in den Hintergrund gerückt. In europäischer Herrschaftsperspektive war dieser Vorgang ohnehin unausweichlich.46) Darüber, ob nach 1933 „die hohe Zeit" des Naturschutzes angebrochen sei, oder ob die Naturliebhaber Anlass hatten, „blutige Tränen zu weinen", haben heimatloyale Naturschutzbeauftragte in der zweiten Nachkriegszeit keine Einigung erzielen können.47) Er dürfte jedoch feststehen, dass der passive, archivierende, volkskulturell aufgeladene Naturschutz infolge der Autarkieund Rüstungsökonomie dramatische Einschränkungen erlebte. Unter den Spatenstichen des Reichsarbeitsdienstes und der Organisation Todt veränderte sich das Antlitz der deutschen Heimatgebiete unablässig. Trotz einer for44

) Vgl etwa Miller-Lane: Architektur und Politik in Deutschland 1918-1945; Joachim Petsch: Baukunst und Stadtplanung im Dritten Reich. Herleitung, Bestandsaufnahme, Entwicklung, Nachfolge, München 1976. 45 ) Grundlegend dazu Gert Kahler (Hrsg.): Geschichte des Wohnens, Bd. 4: 1918-1945. Reform, Reaktion, Zerstörung, Stuttgart 1996. Vgl. Jan Wirrer. Dialekt und Standartsprache im Nationalsozialismus am Beispiel des Niederdeutschen, in: Konrad Ehrlich (Hrsg.): Sprache im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1989, S. 87-103. 47 ) Hans Klose: Der Weg des deutschen Naturschutzes, Egestorf 1949, S. 15 ff.; vgl. Joachim ßad&au/Frank Uekötter (Hrsg.): Naturschutz und Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2003.

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eierten Landschaftsschutzgesetzgebung, verloren auch die mit heimatbewegtem Impetus umhegten Naturschutzgebiete den Status von Tabuzonen der wirtschaftlichen Nutzung. Dieser Prozess bildete, wie hier nur angedeutet werden kann, den Ausgangspunkt einer gestaltungsaktiven, landschaftskreativen Wende in der Naturschutzpolitik. Mit ihrer Hilfe versuchte eine kleine, aber wirkungsmächtige Avantgarde um Kolbow, Schwenkel, Wiepking u.a. dem Heimatschutz insgesamt neue Geltung zu verschaffen. Sie fand in den .eingegliederten Ostgebieten' mühelos Zuspruch. Die anschließend vorgesehene, plangenaue Schaffung ebenso deutschtumsgemäßer wie leistungsstarker Landschaftstypen im , Altreich' stieß hingegen auf erhebliche Widerstände und Bedenken, auch bei kommunalen Heimatschützern. Die konventionellen Sachwalter heimatlicher Anliegen misstrauten dem Planungseifer nationalsozialistischer Funktionseliten, selbst wenn sich diese den Heimatgedanken leuchtend und subjektiv glaubwürdig auf die Fahnen geschrieben hatten. Der auf allen Feldern sichtbare Erzregionalismus der konventionellen Heimatschützer hatte, wie ausdrücklich hervorgehoben werden muss, nichts mit einer grundsätzlichen Opposition gegen das NS-System zu tun. Das geben ganz verschiedene Indizien zu erkennen. So lag z.B. der Antisemitismus vieler Heimatschützer auf der Hand. Der expansiven Kriegs- und Raubpolitik applaudierten sie obligatorisch. Ein ausgeprägtes Vertrauen auf Hitlers späteres Einlenken in Fragen von Volkstum und Heimat legten etliche Natur- und Heimatfreunde bis mindestens 1944 an den Tag. Aber dennoch ist ihr Unbehagen an der Kultur- und Gesellschaftspolitik des .Dritten Reiches' ernst zu nehmen. In ihm äußerte sich die Ohnmacht eines marginalisierten Konzepts von .Volkwerdung' gegenüber ethnogenetischen Entwürfen, die eine rassistische Vernichtungspolitik mit sozialer Mobilität und Uniformität, mit Massenkult und Vergnügungskultur absichtlich verquickten. Ihre Überlegenheit wurde vor allem während des Krieges unterstrichen, der gleichzeitig die zentralistischen ,Zumutungen' des Regimes anschwellen ließ. - Die Generalsiedungsplanung für das sowjetische Annexionsgebiet nahm auf tribalistische und kulturräumliche Interessenlagen keine Rücksicht mehr. Der östliche Machtbereich sollte - nach .rassen- und siedlungskundlichen' Erwägungen - von .germanischen' Kolonisten aus dem gesamten Mittel-, Nord- und Westeuropa in Besitz genommen werden. Reminiszenzen an deutsche Stammeskulturen waren dabei nicht vorgesehen. - Gleiches gilt für die immer weiter gespannten Projektionen einer .Neubildung deutschen Bauerntums' und einer .Neuordnung des ländlichen Raumes', die in den vierziger Jahren auf das Gestaltungstapet gebracht wurden.48) Dass der angepeilte ,.innere Neubau des Reiches" von SD-nahen, 48

) Ludolf Herbst·. Nationalsozialistische Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, in: Bernd Sösemann (Hrsg.): Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft. Einführung und

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radikalvölkischen Theoretikern primär unter dem Gesichtspunkt seiner Tauglichkeit für die „Neuordnung Europas" bewertet wurde, verhieß einen Abgesang auf alle heimatbewegten Ambitionen. - Die Auslandsforscher der SS haben ihn angestimmt, als sie die Errichtung des „starken, geschlossenen, völkischen Einheitsstaates, der jedem Föderalismus oder Separatismus den Riegel vorschiebt", 1942 als Nahziel großdeutscher Innenpolitik ausriefen.49) Unter solchen Rahmenbedingungen verblasste der heimatideologische Ethnozentrismus bis zur Unkenntlichkeit. Dass sich die unablässige Auflösung seiner Konturen bald schon als Glücksfall entpuppen sollte, war in den frühen vierziger Jahren nicht vorauszusehen.

ΠΙ. Renaissance und abermalige Marginalisierung des Heimatschutzes in der frühen Bundesrepublik Die Reanimierung der deutschen regionalen Heimatbünde und des DHB erfolgte nach einer kurzen Verbotsphase 1945/46 unter expliziter Beteiligung der Länderregierungen. Ihr kulturpolitisches Vertrauensvotum hatte im Wesentlichen zwei Gründe: Einerseits war die Stimmungslage der notleidenden Nachkriegsgesellschaft unverkennbar heimataffirmativ. Andererseits gelang es den Heimatschützern, sich als probate Vermittler einer volkstumsadäquaten Pädagogik in Erinnerung zu rufen, die man auf den neuralgischen Feldern der Vertriebenenintegration und der Jugendbetreuung für unverzichtbar hielt. Ein, wenn man so will, posttotalitäres Bedürfnis zur Identifikation mit vertrauten Nahräumen verlieh der deutschen Nachkriegsgesellschaft eine unverwechselbare Signatur. Scharfsichtige Historiker haben sie augenblicklich erkannt. Im November 1946 berichtete Siegfried Kaehler seinem Kollegen Hans Rothfels von virulenten oldenburgischen und braunschweigischen Unabhängigkeitsbestrebungen. Sie äußerten sich, wie der Göttinger Biograph Wilhelm von Humboldts mit mokantem Unterton bemerkte, „in der Beschuldigung des Annexionismus, die man hier wie dort gegen die Pleonexie des Landes Niedersachsen erhebt." Eine Erklärung für diese „Hochblüte partikularistischer Tendenzen" lieferte Kaehler mit. Sie markierten, woran er keinen Zweifel ließ, einen „Rückschlag auf den nazistischen Unitarismus", der in

Überblick, Stuttgart 2003, S. 172-187, bes. 186; vgl. Mai: .Rasse und Raum'; Pyta: ,Menschenökonomie'; Ders.: Das Dorf im Fadenkreuz der Politik. Politische Willensbildung und Milieuwandel im ländlichen Lebenskreis 1918 bis 1945, in: Daniela Münkel (Hrsg.): Der lange Abschied vom Agrarland. Agrarpolitik, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft zwischen Weimar und Bonn, Göttingen 2000, S. 209-226. 49 ) Werner Frauendienst·. Der innere Neubau des Reiches als Beitrag zur europäischen Neuordnung, in: Jahrbuch der Weltpolitik, Jg. 1942, S. 112-139,121.

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den letzten Jahren des ,Dritten Reiches' immer unverblümter zum Ausdruck gelangt war.50) Spätere Kenner des deutschen Föderalismus und der Staatsverdrossenheit der frühen Ära Adenauer haben dieser Interpretation zugestimmt. Die materiell und ideell depossedierten Deutschen begriffen sich mit einer bemerkenswerten .vergangenheitspolitischen' Verve als Opfer eines zentralistischen Maßnahmenstaates, der sie in den Strudel des Niedergangs gerissen habe. Infolgedessen beargwöhnten viele Zeitgenossen die neu entstehenden Parteien, die überkommunalen Parlamente, die transzonal agierenden Politiker. Das politische und soziale Interesse der designierten Bundesbürger beiderlei Geschlechts - konzentrierte sich daher auf die unmittelbar eigene Lebenssphäre, in der die Subsistenzkämpfe der Hungeqahre mit einigem Erfolg ausgetragen werden konnten. Lediglich der bekannte, überschaubare Nahraum vermittelte ein Minimum materieller Sicherheit, emotionaler Geborgenheit und darüber hinaus eine partielle Chance, sich fremder Verfügungsmacht zu entziehen.51) Über diesen eigensinnigen Regionalismus konnte die Landes- und Bundespolitik schwerlich hinwegsehen. Sie bediente die aktuelle Gemütsverfassung der Bevölkerung mit eloquenten Verbeugungen vor den , ewigen Werten' der Heimat und des bodenständigen Volkstums. Daneben bemühte sie sich um eine vor allem landespolitisch angemessene Kanalisierung der heimatlichen Neigungen. Als geeignetes Instrument kam nach Lage der Dinge allein der organisierte Heimatschutz in Frage, dem es ohne weiteres gelang, seine Konflikte mit der DAF, dem Goebbelsministerium, dem Arbeitsdienst usw. als aktive, prinzipienfeste Opposition gegen den NS-Staat umzudeuten und das eigene Ostengagement vergessen zu machen. Abstriche an der stammesorganologischen Deutschtumsideologie erschienen den Heimatschützern auch deswegen weder sinnvoll noch erforderlich. Darin wurden sie von den Promotoren einer gleichfalls neubelebten Historischen Kulturraumforschung bestärkt. Mit ihrer Rückendeckung verlief die Reintegration des Heimatschutzes in die Kultusbehörden der Kreise und Gemeinden sowie der Regierungspräsidien und Bildungsministerien ohne Komplikationen.52)

5») Siegfried A. Kaehler: Briefe 1900-1963, Boppard a.Rh. 1993, S. 351 f. 51 ) Vgl. Thomas Nipperdey: Der Föderalismus in der deutschen Geschichte, in: Oers.·. Nachdenken Uber deutsche Geschichte, München 1986, S. 60-109, bes. 99; Axel Schildt: Sind die Westdeutschen amerikanisiert worden? Zur zeitgeschichtlichen Erforschung kulturellen Transfers und seiner gesellschaftlichen Folgen nach dem Zweiten Weltkrieg, in: ApuZ B50/2000, S. 3-19, bes. 7; ein stupendes Lamento über den „braunen Kollektivismus" des NS-Systems formulierte Hitlers Finanzminister Lutz Graf Schwerin von Krosigk: Es geschah in Deutschland. Menschenbilder unseres Jahrhunderts, Tübingen 1951, S. 268 ff. 52 ) Dazu exemplarisch Theodor Heuss: Wes bedeutet uns Heimat? in: Jahrbuch des Lippischen Heimatbundes 1954, S. 5 f.; sowie die aussagekräftige Rede des Bundesinnenministers Schröder vom März 1954, in: STAD, D 107 Β, ΙΠ, Nr. 2.

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Institutionell bestärkt und von lästigen Konkurrenten befreit nahmen die deutschen Heimatbünde ihr kulturpflegerisches Mandat im gesamten Bundesgebiet auf. Sie kamen dem politischen Auftrag, Kontakte zu den Landsmannschaften der Vertriebenen herzustellen, umgehend nach. Aus der beiderseitigen Begegnung in Königswinter im September 1951 erwuchs eine langjährige Zusammenarbeit, der aufs Ganze gesehen große Verdienste für die Einbindung der Ostmigranten in die westdeutsche Gesellschaft zukommen, die aber zugleich demonstrierte, dass der Liberalisierungsweg der Bundesrepublik mit althergebrachten Stolpersteinen ausgelegt war. Diese Bemerkung lässt sich mit den in Königswinter vorgetragenen Überlegungen der westdeutschen Heimatschützer Wilhelm Schulte und Ernst Kühl pars pro toto belegen. Schultes Rede begann mit einer flamboyanten Absage an die Staats- und Gesellschaftsphilosophie der westeuropäischen Aufklärung. Sie habe den Fehler begangen, Bürger lediglich als „mechanische Zahlenreihen" zu bewerten. Auf diesen Irrtum führte der westfälische Studienrat und Archivar das Scheitern der deutschen Revolution von 1848 zurück, welches er der Versammlung als aktuellen .Denkzettel' in Erinnerung rief. Wie damals „verschleiert das Schlagwort Demokratie auch heute das Ziel der echten Entwicklung: man verwechselt den nach politischen Theorien gewollten MaschinenBeamten-Staat der rationalistischen Aufklärung mit der aus organischer Wurzel (Bauernschaft, Nachbarschaft, Gemeinde, Kreis, Landschaft) aufwachsenden Staatsgemeinschaft ... Der Pragmatismus mißversteht (das Wesen des Staates überschätzend) Volkstum als eine .niedere Stufe' der Nation, d.h. als eine auf dem Wege zur Nation zu überwindende Schicht... Man unterschätzt die Bedeutung der irrationalen Sozialgefuhle (Liebe und Treue) der Stammesgemeinschaft." Mit diesen Behauptungen hatte Schulte den angeblichen Königsweg benannt, der aus dem Dilemma einer abstrakt-mechanistischen Staatstheorie herausführte. Im Schulterschluss mit Kühl verwies er auf die unverbrüchlichen, gemeinschaftsstiftenden Qualitäten eines seiner Stammesart bewussten .Volkstums', dem elementaren Unterpfand des nationalen Gemeinwohls. Da die Heimatbünde ebenso wie die Landsmannschaften an der Reanimation seiner Potenzen und Potentiale arbeiteten, seien beide Organisationen dazu bestimmt, Seite an Seite „die Wiederbelebung echter Volksgemeinschaft" zu betreiben.53) Die Utopie einer Volksordnung aus dem Geist von ,Stamm und Heimat' beflügelte den beiderseitigen Annäherungswillen tatsächlich in unvorhergesehenem Ausmaß. Heimatschützer und Vertriebene versicherten sich ihrer jeweiligen „Bedeutung für die deutsche Volkwerdung" (Kühl), die sie von nun an einmütig auf ihr Panier schreiben wollten. Das geschah durch die Einrichtung ostdeutscher Fachstellen in den Heimatbünden, durch die ge») Die Vorträge Schultes und Kühls, in: ALWL, Ν 3, Nr. 140.

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meinsame Pflege ostdeutschen Brauchtums, durch die einvernehmliche Zurschaustellung von Trachten und regionalemblematischen Kulturgütern, durch die Ausschmückung von schulischen Klassenzimmern mit Bildern des .deutschen Ostens', hauptsächlich aber durch die einträchtige Inszenierung des in jährlichem Turnus durchgeführten ,Tages der Heimat'. Dieses Großereignis war wie kein anderes dazu ausersehen, örtliche Amts- und Mandatsträger, Vereine und Körperschaften auf die Marschroute einer gesamtdeutschen Heimat- und Volkstumspolitik einzuschwören. Gemäß seiner Wichtigkeit folgte der Ablauf des heimatlichen Festakts strengen Vorschriften. Die beteiligten Ortschaften wurden zunächst feierlich - d.h. mit Fahnen und Blumengebinden an den Gebäudefronten - hergerichtet, bevor das eigentliche Geschehen mit einem Festgottesdienst einsetzte. Nach der Mittagspause sollte Glockengeläut eine „würdige Kundgebung möglichst im Freien und möglichst am frühen Nachmittag" ankündigen. Die nachmittägliche Zentralveranstaltung erfuhr ihren Auftakt im gemeinsamen Singen eines „allgemein bekannten Volksliedes"; anschließend erfolgten die Begrüßungsansprachen lokaler Honoratioren und die Hauptrede eines ortsbekannten Referenten. Dem nochmaligen „Gesang einer Strophe eines Heimatliedes" und des Deutschlandliedes folgte schließlich ein „Fest- und Trachtenumzug", der „das Zusammengehörigkeitsgefühl" ganz besonders „stärken und dem Tag einen festlichen Charakter ... geben" sollte. Der Abend blieb geselligen Heimatveranstaltungen vorbehalten. Innerhalb der westdeutschen Heimatbünde war man zuversichtlich, dass die periodische Feier eines stimmungsvollen Tages der Heimat dazu beitragen werde, „das Volk" nicht zuletzt für eine zukünftige „Rückgewinnung der Ostgebiete gesund zu erhalten".54) Die rituelle Praxis des gesamtdeutschen Festtages, dem die Aufmerksamkeit der Lokalzeitungen sicher war, schien den Erfolg heimatideologischer Avancen gegenüber der indigenen wie der zugezogenen Bevölkerung Westdeutschlands in den fünfziger Jahren einwandfrei widerzuspiegeln. Ein Gefühl, dass ihre Effekte nur punktuell griffen, dass ihre Wirksamkeit mehr und mehr verpuffte, beschlich selbstkritische Heimatschützer dennoch unnachgiebig. Diese Empfindungen wurden in erster Linie durch die Jugendpolitik' der Heimatbünde geschürt. Die - neben den Vertriebenen - zweite Zielgruppe ihrer volkspädagogischen Anstrengungen entzog sich den heimatlichen Ansinnen nämlich fast vollständig. Das intellektuelle und nicht minder das kul54 ) Westfälischer Heimatbund, Richtlinien für den Tag der deutschen Heimat am 12. September 1954, in: STAD, D 107 Β, IV, Nr. 5; Bund der Vertriebenen - Kulturreferat Empfehlungen, Anregungen und Arbeitsunterlagen zum Tag der Heimat 1959, in: Ebd.; vgl. O.A., Westfalentag in Bielefeld 1950, in: Rundschreiben des WHB Nr. 3/1950, o.S.; O.A., Tag der deutschen Heimat in Heiden, in Mitteilungsblatt des Lippischen Heimatbundes Nr. 9/1956, S. 51 f.; Heinrich Röhr. Ansprache zum Tag der Heimat in Lippe, in: Ebd. Nr. 4/1954, S. 1.

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turelle Kapital der Heimatbewegung wurde unter Ausschluss einer Jugend angespart, die unbeirrt auf autonome, durchaus westlich gepflasterte Wege einschwenkte. Die zeitgeschichtlichen Studien Axel Schiidts, Anselm Doering-Manteuffels, Ulrich Herberts und ihrer Mitarbeiter haben prägnant belegt, dass die junge Generation damit Verhaltensmuster antizipierte und kulturelle Präferenzen zum Ausdruck brachte, die einen bald schon gesellschaftlich durchgängigen Trend einleiteten.55) Weder der elementarschulische Heimatkundeunterricht noch die heimatbündischen Freizeitangebote aus Volkstanz, Mundartabenden, Lehrwanderungen und Diavorträgen konnten ihm entgegenwirken. Der allmählich greifbare .Wohlstand für alle', der erstmals auch Arbeiter, untere Angestellte, Kleingewerbetreibende und nicht zu vergessen - Rentner erreichte, brachte eine Entwicklung in Gang, die die heimatbewegten Warnungen vor amerikanisierten Lebensführungen und konsumgesellschaftlicher Heimatvergessenheit antiquiert erscheinen ließ. Die Deutschen gaben ihre kriegsbedingten regionalen Fixierungen auf. Die allmähliche Motorisierung, die Gewöhnung an .lässigere', zivile Umgangsformen, die Akzeptanz von amerikanischen TV-Produktionen, die schichtenübergreifende Begeisterung für den Massensport, die sogar beim ,Wunder von Bern' 1954 überhaupt nichts mit einem auftrumpfenden , Wir sind wieder wer', sondern mit einem - im besseren Wortsinn - .gemeinschaftlichen' Freudenausbruch zu tun hatte,56) das alles und vieles mehr, schlug dem Heimatschutz seit den späten fünfziger Jahren als scharfer Gegenwind ins Gesicht. Die Fachstellen Bauernhof, Heim und Werk u.a. mussten infolgedessen aufgegeben werden. In den sechziger Jahren wurde Heimatpflege zur rezenten Domäne einer rapide abnehmenden Anzahl bildungsbürgerlicher Traditionalisten. Sie hätten wahrscheinlich vor den Widrigkeiten der Zeitläufte kapitulieren müssen, wenn es ihnen nicht gelungen wäre, die Heimatbünde zum Sprachrohr gegen die kommunale Gebietsreform der sechziger Jahre zu machen. Der vielerorts aufflammende Protest gegen diese bürokratische Zwangsmaßnahme hat die personelle Basis der Heimatvereinigungen immens verbreitert. Deren neue, mit Trenchcoat und Aktenmappe, statt mit Lodenmantel und Rucksack ausgestattete Klientel hat eine interne Reform angestoßen, in deren Folge sich der Ideenhaushalt und die Semantik des Heimatschutzes drastisch verändert haben. Natürlich spricht man auch heute noch

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) Ulrich Herbert (Hrsg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung (1945-1980), Göttingen 2002; Axel Schildt: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und .Zeitgeist' in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995; Anselm Doering-Manteuffek Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999; vgl. auch Winfried Speitkamp: Jugend in der Neuzeit. Deutschland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Göttingen 1998. 36 ) Vgl. die empirisch sorgfaltig erbrachten Nachweise von Franz-Josef Brüggemeier. Zurück auf dem Platz. Deutschland und die Fußballweltmeisterschaft 1954, Stuttgart 2004.

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von Heimat, aber die Termini Kulturraum, Volkstum und Stammesart haben ihre Plausibilität - im westlichen Deutschland - wohl unwiederbringlich verloren. Einen zeitgemäßen begrifflichen Ersatz, mit dem ggf. auch der Beheimatung türkischer und sonstiger Migranten das Wort geredet werden könnte, hat man bisher augenscheinlich nicht gefunden. Vielleicht liegt es also nicht nur am rückblickenden Befremden über die eigenen, ehemals mit Elan beschworenen völkischen Ordnungsmodelle, sondern auch an einem defizitären sprachlichen Arsenal, dass dem hundertjährigen Jubiläum des Deutschen Heimatbundes im Jahr 2004 mit keiner vernehmbaren Silbe gedacht worden ist.

Afrika vor den Toren Deutsche Raum- und Ordnungsvorstellungen nach der erzwungenen„Dekolonisation" Von Dirk van Laak

Während seiner knapp dreißig Jahre dauernden Existenz war das Projekt „Kolonien" zu keinem Zeitpunkt von der ungeteilten Begeisterung der deutschen Öffentlichkeit getragen. Nach 1918 sollte sich diese Ambivalenz noch einmal steigern. Auf der einen Seite wurden im kolonialen Revisionismus der Wert der Kolonien für Deutschland, aber auch die Zustimmung zu ihnen, nachträglich überhöht. Auf der anderen Seite war Afrika im Gesichtskreis vieler Deutscher bedrohlich nahegerückt. Denn nicht ohne Kalkulation hatten seit 1920 Franzosen und Belgier im besetzten Rheinland und im Ruhrgebiet auch ihre afrikanischen Hilfstruppen stationiert. Die deutschen Reaktionen auf die Präsenz farbiger Soldaten waren auffallend heftig: In der Wahrnehmung deutscher Nationalisten und Kolonialisten konnte kaum sinnfälliger demonstriert werden, dass ihr Land nun selbst zu einer Kolonie herabgewürdigt werden sollte.1) Die Deutsche Kolonialgesellschaft, der bedeutendste Vertreter der These von der „kolonialen Schuldlüge" der Alliierten, sah 1921 in den farbigen Truppen „eine schwere Gefahr für die rheinische Bevölkerung und die ganze weiße Rasse. Die militärische Verwendung Farbiger gegenüber einem hochstehenden Kulturvolk schlägt allen kulturellen und sittlichen Forderungen sowie aller kolonialen Erfahrung ins Gesicht. Die Deutsche Kolonialgesellschaft erhebt daher im Namen der Menschlichkeit [...] Protest."2) Auch Reichspräsident Friedrich Ebert meinte im Februar 1923, „daß die Verwendung farbiger Truppen niederster Kultur als Aufseher über eine Bevölkerung von der hohen geistigen und wirtschaftlichen Bedeutung der Rheinländer eine herausfordernde Verletzung der Gesetze europäi-

') So meinte etwa Gerhard Ritter 1919, Deutschland werde zu einer „brutal ausgebeuteten Kolonie herabgestuft", nach Christoph Cornelißen: „Schuld am Weltfrieden". Politische Kommentare und Deutungsversuche deutscher Historiker zum Versailler Vertrag 19191933, in: Gerd Krumeich (Hrsg.): Versailles 1919, Essen 2001, S. 237-258, hier S. 237. 2 ) Nach Edgar Hartwig: Deutsche Kolonialgesellschaft (DKG) 1887-1936, in: Dieter Fricke u.a. (Hrsg.): Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789-1945), Bd. 1, Leipzig 1983, S. 724748, hier S. 740. Über die „schwarze Schmach" vgl. auch Keith L. Nelson: The „Black Horror on the Rhine". Race as a Factor in Post-World War I Diplomacy, in: The JMH 42/1970, Heft 1, S. 606-627. Gisela Lebzelter. Die „Schwarze Schmach". Vorurteile, Propaganda, Mythos, in: GG 11/1985, Heft 1, S. 37-58.

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scher Zivilisation darstellt."3) Zahllose Äußerungen gingen in ähnliche Richtungen. Am heftigsten reagierten die völkischen Rassisten: In Adolf Hitlers Raumwahrnehmung standen seit 1920 französische „Negerhorden" am Rhein, drohte sogar von Frankreich her „ein gewaltiges, geschlossenes Siedlungsgebiet vom Rhein bis zum Kongo [...], erfüllt von einer aus dauernder Bastardisierung langsam sich bildenden niederen Rasse."4) Und Alfred Rosenberg sekundierte, Frankreich stehe „heute an der Spitze der Verköterung Europas durch die Schwarzen" und sei somit kaum noch als ein europäischer Staat zu betrachten, „vielmehr als ein Ausläufer Afrikas, geführt von den Juden."5) Die Präsenz der früheren kolonialen Subjekte als Besatzer verstärkte in Deutschland ein klaustrophobes Bedrohungsgefühl, das für das Revisionsund Neuordnungs-Syndrom in der Zwischenkriegszeit von zentraler Bedeutung war. In den folgenden Jahren konzentrierte es sich immer stärker auf die Faktoren „Raum" und „Rasse", lud sich dabei immer „weltanschaulicher" auf und verschob sich zunehmend auf die Präsenz und das „Treiben" der Juden im Reich selbst. Dabei war eine der Fragen, die in den Kolonien bereits heftig diskutiert worden war, nun lediglich nach Europa selbst zurückverlagert worden: Die als Problem wahrgenommene Vermischung der Rassen. Die Debatten um die „schwarze Schmach" entfalteten für die Rassendiskussionen in Deutschland eine katalytische Wirkung. Gerade in Gestalt der Mischlingskinder, die völkische Rassisten später als „Rheinlandbastarde" denunzierten, wurde in Deutschland selbst sichtbar, was an allen kolonialen Grenzen in Übersee längst zum Alltag zählte.6) Mit dem Ersten Weltkrieg geriet die in den Kolonien herausgebildete rassische Ordnung ebenso in eine Krise, wie die Raumbilder des imperialistischen Zeitalters.7)

3 ) Nach Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 63. 4 ) Wolfe W. Schmokel: Der Traum vom Reich. Der deutsche Kolonialismus zwischen 1919 und 1945, Gütersloh 1967, S. 30 (mit Bezug auf „Mein K a m p f ) . 5 ) Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelischgeistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, 9. Aufl. München 1943, S. 647. 6 ) Vgl. Pascal Grosse: Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland 1850-1918, Frankfurt a.M./New York 2000, S. 10 f. Vgl. auch Rainer Pommerin: „Sterilisierung der Rheinland-Bastarde". Das Schicksal einer farbigen deutschen Minderheit 1918-1937, Düsseldorf 1979; Fatima El-Tayeb: Schwarze Deutsche. Der Diskurs um .Rasse' und nationale Identität 1890-1933, Frankfurt a.M. 2001. Die Diskussionen wiederholten sich - unter anderen Vorzeichen - nach 1945 wegen der „afrodeutschen" Kinder farbiger Besatzungssoldaten, vgl. Yara-Colette Lemke Muniz de Faria: Zwischen Fürsorge und Ausgrenzung. Afrodeutsche „Besatzungskinder" im Nachkriegsdeutschland, Berlin 2002. 7 ) Christian Koller: „Von Wilden aller Rassen niedergemetzelt". Die Diskussion um die Verwendung von Kolonialtruppen in Europa zwischen Rassismus, Kolonial- und Militärpolitik (1914-1930), Stuttgart 2001; Michael Schubert: Der schwarze Fremde. Das Bild des Schwarzafrikaners in der parlamentarischen und publizistischen Kolonialdiskussion in Deutschland von den 1870er bis in die 1930er Jahre, Stuttgart 2003.

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I. Die koloniale Ordnung Die hysterisierten deutschen Reaktionen der Nachkriegszeit sind nur verständlich vor dem Hintergrund geopolitischer und rassischer Alarmiertheit, die dem Zeitalter des Imperialismus seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert unterlag. Sie basierte auf der - durch den modernen Kolonialismus forcierten - Konfrontation mit dem „Fremden", das europäisches Selbstverständnis in vielfältiger Weise herausforderte und sich vornehmlich auf das auszeichnende Merkmal der „Produktivität" bezog.8) Aufbauende, die Zukunft gestaltende Arbeit galt den Europäern geradezu als „heilige Pflicht". Aus den Vorerfahrungen mit der eigenen nationalstaatlichen Geschichte, aber auch mit der überstaatlichen Verflechtung erwuchs hieraus geradezu eine Ideologie der erschließenden Entwicklung. Deren Impulse beruhten auf der Effektivität der neuen, für das Industriezeitalter entworfenen Mittel des Verkehrs, der Kommunikation und der Kriegführung, aber auch auf der Wahrnehmung sich schließender Grenzen. Die „mental maps" der Europäer waren vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein geprägt von dem Bedürfnis, die nun im wesentlichen bekannten Räume und Ressourcen der Erde unter den führenden, zu einer technisch effizienten Erschließung fähigen „Kulturnationen" aufzuteilen. Dieser Imperialismus war nicht ausschließlich offensiv orientiert. Vor den Problemhorizonten seiner Zeit verstand er sich auch als eine defensive Maßnahme zur Selbstbehauptung. Die Weltordnung der Zukunft schien im Entstehen begriffen, und angesichts der dynamisierten Erfahrungshorizonte wurde allenthalben darüber spekuliert, welche zukünftige Position eine Nation in räumlicher, aber auch in geschichtlicher Hinsicht einnehmen werde.9) Dies bewirkte ein spezifisches Spannungsverhältnis zwischen internationalistischen Visionen einer künftigen, kooperativ strukturierten Weltwirtschaft bzw. Weltgesellschaft auf der einen Seite, imperialistischen Bestrebungen auf der anderen Seite, die den Primat der eigenen politischen Einheit postulierten, sei dies ein Volk, eine Nation, ein Kulturkreis oder eine „Rasse".10) Die buchstäblich großzügigen Spekulationen der Jahrhundertwende über die zukünftige - natürlich europäisch gedachte - Ordnung des Erdraums gingen häufig davon aus, dass die Welt in Großreiche, Großräume oder He8

) Vgl. Johannes Burkhardt·. Das Verhaltensleitbild „Produktivität" und seine historischanthropologische Voraussetzung, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 25/1974, S. 277-289. 9 ) Hanno Kesting: Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg. Deutungen der Geschichte von der Französischen Revolution bis zum Ost-West-Konflikt, Heidelberg 1959, bes. S. 90-118; Heinz Gollwitzer·. Geschichte des weltpolitischen Denkens, 2 Bde., Göttingen 1972/82; Ernst Nolte: Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert. Von Max Weber bis Hans Jonas, Berlin/Frankfurt a.M. 1991, bes. S. 33-86. 10 ) Hierzu Dirk van Laak: „Über alles in der Welt". Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005.

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misphären eingeteilt sein werde.11) Damit verband sich eine Geschichtsphilosophie, die meist von einer sozialdarwinistisch überformten Konkurrenz zwischen den Staaten und Völkern um die Beherrschung von „Lebensräumen" ausging.12) Die europäischen Raumbilder wurden zu einer „politischen Geographie" geformt, die natürliche Gegebenheiten, humane Bedürfnisse und ihre politische Organisation miteinander in Übereinstimmung zu bringen versuchte.13) Namentlich die hieraus erwachsene Geopolitik wurde zu einer Suche nach „empirischen" statt legalistischen Gründen für Außenbeziehungen, indem das Natürliche und Organische gegen das geschichtlich Gewordene und machtpolitisch Gesetzte ins Feld geführt wurde.14) Eine ungemein mobil gewordene Welt sollte hierdurch an Bewegungsgesetze rückgebunden und oft ein nur erst empfundenes Bedürfnis nach Statusänderung rationalisiert werden. Geopolitik war eine permanent dynamisierte statt in der Zielvorgabe statische, nämlich auf einen „ewigen Frieden" hinauslaufende Erdkunde.15) Der südlich gelegene Erdteil bildete für Europa eine naheliegende frontier der Erschließung. Von ihm versprachen sich die Europäer Reichtümer und Erfahrungen, aber auch manches von dem, was ihnen selbst zu fehlen schien. Die Erforschung und Erschließung der „jungfräulichen" Gebiete in Afrika wurde seit dem frühen 19. Jahrhundert zunehmend als gemeineuropäische Zivilisationsaufgabe verstanden. In der Anti-Sklaverei-Bewegung, auf der Brüsseler Konferenz „zur Berathung der Mittel für die Erforschung und Erschliessung von Centrai-Afrika" des Jahres 1876 und schließlich der Berliner Kongo-Konferenz der Jahre 1884/85 bildete sich - zumindest rhetorisch eine gemeinsame „Kulturmission" heraus, um Afrika aus Schlaf, Selbstgenügsamkeit und Geschichtslosigkeit zu erwecken.16) Afrika war zugleich Projektionsraum und stand als eines der Synonyme für das kollektive Unterbewusste, es diente als Spiegel, in dem Europa Stärken und Schwächen des Eigenen und des Fremden miteinander abglich.17) Nach dem Weltkrieg stand ") Vgl. Wiebeke Böge'. Die Einteilung der Erde in Großräume. Zum Weltbild der deutschsprachigen Geographie seit 1871, Hamburg 1997; Sönke Neitzel: Weltmacht oder Untergang. Die Weltreichslehre im Zeitalter des Imperialismus, Paderborn 2000. 12 ) Hierzu Friedrich Ratzel·. Der Lebensraum. Eine biogeographische Studie, Tübingen 1901. 13 ) Vgl. Hans-Dietrich Schultz'· Pax Geographica. Räumliche Konzepte für Krieg und Frieden in der geographischen Tradition, in: Geographische Zeitschrift, 75/1987, Heft 1, S. 1-22. 14 ) David Thomas Murphy: The Heroic Earth. Geopolitical Thought in Weimar Germany, 1918-1933, Kent, Ohio/London 1997, S. 30-32,46. ls ) Hans-Dietrich Schultz: Die .Ordnung der Dinge' in der deutschen Geographie des 19. Jahrhunderts (mit Ausblick ins 20. Jhd.), in: Die Erde 131/2000, S. 221-240. 16 ) Sanford H. Bederman: The 1876 Brussels Geographical Conference and the Charade of European Cooperation in African Exploitation, in: Terra Incognitae 21/1989, S. 63-73; Stig FörsterfWolfgang J. MommsenfRonM E. Robinson (Hrsg.): Bismarck, Europe, and Africa. The Berlin Conference and the Onset of Partition, Oxford 1988. 17 ) Jean Paul etwa hatte sinnbildlich vom „wahren inneren Afrika" gesprochen, in: Ders.: Seiina oder über die Unsterblichkeit der Seele. Werke, Bd. 6, München 1963, S. 1118 f.

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das Unterbewusste gleichsam vor den Toren. Auch die exotischen und erotischen Komponenten des Afrika-Diskurses, die nicht zum wenigsten zur imperialistischen Expansion beigetragen hatten, sollten nach 1918 auf Europa zurückwirken. Denn nicht nur deutsches „Herrenmenschentum" wurde durch die farbigen Besatzer herausgefordert. Auch die deutsche „Männlichkeit" reagierte auf die Präsenz der „Primitiven" und „Wilden" im Land der „Dichter und Denker" mit äußerster Empfindlichkeit.18) Der europäische Kolonialismus verstand sich als nationales und internationales Projekt zugleich. Obwohl in Hintergrund und Praxis immer auch englische, französische, belgische oder deutsche Nationalismen durchschlugen, gab es bei der Erschließung Afrikas zahlreiche Übereinstimmungen. Die europäischen „Kulturpioniere" bildeten vergleichbare Institutionen aus und etablierten in enger Absprache technische Normen oder Grenz Verläufe. Die Afrika-Lobbyisten, die sich in allen europäischen Ländern quer durch die politischen Fraktionen zogen, verwiesen auf ein christliches Verantwortungsgefühl, auf ökonomische oder sozialimperialistische Motive, aber auch darauf, dass es gelte, in einer zusammenwachsenden Welt frühzeitig europäische Einflusssphären abzustecken, etwa gegen den Islam oder später gegen den Kommunismus. Der unaufhaltsame Fortschritt von Wissenschaft, Technik und westlicher Kultur bildete dabei die wesentliche „Meistererzählung", die den religiösen Missionsgedanken immer stärker an den Rand drängte. Ihm, so die allgemeine Erwartung, würde sich auch Afrika nicht länger entziehen können. Tatsächlich wurden der Kontinent und seine Bewohner auch als „Laboratorium" genutzt, etwa für unerprobte Verfahren in Technik, Wissenschaft und Medizin, als Testfeld für Raumplanungsmodelle, Völkerverschiebungen und schließlich sogar für Genozide.19) Auch vollzogen die Kolonialmächte seit der Jahrhundertwende eine gemeinsame Wendung von der reinen Ausbeutung der afrikanischen Reichtümer zu einer komplexeren und nachhaltigeren Form der Erschließung, die begann, in den Afrikanern zukünftige Teilnehmer des Weltmarktes, aber Vgl. auch Ludger Lütkehaus (Hrsg.): Dieses wahre innere Afrika. Texte zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud, Frankfurt a.M. 1989; Bernd Nitzschke: Aufbruch nach InnerAfrika. Essays über Sigmund Freud und die Wurzeln der Psychoanalyse, Göttingen 1998. ,8 ) Sandra Mass: Weiße Helden, schwarze Krieger. Zur Geschichte kolonialer Männlichkeit in Deutschland 1918-1964, Köln 2006. ") Vgl. schon Hannah Arendt. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. 5. Aufl. München/Zürich 1996. In ihrem Gefolge Helmut Bley: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika, 1884-1914, Hamburg 1968; Wolfgang Uwe Eckart: Medizin und Kolonialimperialismus. Deutschland 1884-1945, Paderborn u.a. 1997; Jürgen Zimmerer/Joachim Zeller (Hrsg.): Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904-1908) in Namibia und seine Folgen, Berlin 2003. Relativierend zum „Laboratoriums"-Theorem jedoch Dirk van Laak: Kolonien als „Laboratorien der Moderne"?, in: Sebastian Conrad/Jürgen Osterhammel (Hrsg.): Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, Göttingen 2004, S. 257-279.

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auch der Weltpolitik zu sehen. Zugleich forcierten fast alle Kolonialländer eine rassische Dissimilation. Sie war aus der gestiegenen Furcht vor Proletarisierungstendenzen in den Kolonien und damit vor Aufständen, politischer Radikalisierung und Partizipationsbestrebungen der Kolonialvölker erwachsen. Parallel zum Umgang mit der „sozialen Frage" durch die bürgerliche Sozialreform in den Industrieländern sollte die „Eingeborenenfrage" durch eine - hier freilich anthropologisch, nicht sozial - gegliederte Ständegesellschaft mit wohlfahrtsstaatlichen Elementen überwunden werden. Dieser Abbau sozialer Spannungen, sei es zwischen den „Klassen" in Europa oder den „Rassen" in den Kolonien, zielte letztlich auf eine Steigerung ökonomischer Effizienz und galt der Durchsetzung des Prinzips der Produktivität.20) Deutschland, das sich schon vor 1914 ein mittelafrikanisches Reich erobern und sich dort neben den Briten und Franzosen als dritte Großmacht etablieren wollte, wurde freilich während des Ersten Weltkriegs aus Afrika wieder „hinausgeworfen".21) In den ebenso heftigen wie dauerhaften Protesten wurden die Deutschen anschließend zu Promotoren der Prognose, dass die verbliebenen Kolonialmächte mit einer „effektiven" Erschließung des afrikanischen Kontinents allein überfordert sein würden.22) Tatsächlich sollte der langsame Übergang von der Raubbauwirtschaft zu einem investiv anspruchsvollen „colonial development" die Möglichkeiten der in Afrika verbliebenen Kolonialmächte schon sehr bald überdehnen.23) Doch waren sich die meisten Beobachter in der Perspektive auf eine möglicherweise noch Jahrhunderte dauernde Anwesenheit der Europäer in Afrika auch nach dem Ersten Weltkrieg noch immer einig. Gegenüber den anderen Kolonialnationen, hieß es daher bei den Kolonialen, würden die Deutschen nun unfehlbar in einen Rückstand geraten und sehr wahrscheinlich bald selbst „wie die Hottentotten" leben - ein Argument, das in der Variante, man werde bald „auf das Niveau eines Entwicklungslandes zurückfallen", bis heute dazu dient, staatliche Forschungsgelder freizusetzen.24) Dabei reagierte die deutsche Industrie in ihrer Weise auf den Verlust der Kolonien und forcierte nach 1918 die Entwicklung von Ersatzstoffen für solche Kolonialwaren, die im 20

) Vgl. dazu Grosse: Kolonialismus. ) Beatrix Wedi-Pascha: Die deutsche Mittelafrika-Politik, 1871-1914, Pfaffenweiler 1992. 22 ) Vgl. Schmokel: Traum vom Reich; Jan Esche: Koloniales Anspruchsdenken in Deutschland im Ersten Weltkrieg, während der Versailler Friedensverhandlungen und in der Weimarer Republik (1914-1933), Diss, masch. Hamburg 1989. 23 ) Vgl. Dietmar Rothermund: Delhi, 15. August 1947. Das Ende kolonialer Herrschaft, München 1998. 24 ) Diese Entwicklung mußte aber von staatlichen Großforschungseinrichtungen gestützt werden, sie rekurrierte eher auf die Erfahrungen mit der Kriegsökonomie des Ersten Weltkriegs, als auf den Verlust der Kolonien, die auch vor dem Krieg mit nicht einmal einem Prozent Anteil an der Außenhandelsbilanz des Deutschen Reiches zu Buche geschlagen hatten, vgl. Francesca Schinzinger: Die Kolonien und das Deutsche Reich. Die wirtschaftliche Bedeutung der deutschen Besitzungen in Übersee, Stuttgart 1984. 21

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Konfliktfall von strategischer Bedeutung waren. Hier wurde Deutschland bald führend und demonstrierte - anders als gewollt - durchaus erneut seine Leistungsfähigkeit.

Π. Raum und Rasse Dass der frühzeitige Ausstieg aus der Kolonialpolitik auch von Vorteil sein und aus der kolonialen Not durchaus eine Tugend werden könne, dies zu behaupten getrauten sich im Klima chauvinistischer Revisions-Rhetorik nach 1918 nur wenige. Dazu gehörte Carl von Ossietzky, der 1928 in der „Weltbühne" schrieb: „Deutschland ist unter allen Ländern des Krieges das einzige, das mit Fug und Recht behaupten kann, der Friedensvertrag habe ihm Nutzen gebracht. Es hat zwar Gebiete verloren, es muß schwere Reparationen leisten, und noch ist ein Stück Rheinufer besetzt. Dafür aber ist es aus der Sphäre des Imperialismus heraus, und es hat kein Deutschland in Übersee zu verteidigen. Es kann ruhig schlafen, wenn in China oder Marokko die Gewehre losgehen."25) Weniger „defaitistisch" äußerte sich Hjalmar Schacht, der Zeit seines Lebens ein Propagandist deutscher Kolonien blieb. Es werde sich möglicherweise, schrieb er 1926 vorsichtig, noch einmal „als handelsund kulturpolitisches Aktivum für Deutschland erweisen", dass es nicht mehr zu den imperialistischen Mächten gehöre, „denen der Kampf mit dem erwachenden Volksbewußtsein der farbigen Rassen" bevorstehe.26) Selbst Reichskanzler Hermann Müller deutete an, dass Deutschland als nichtkoloniale Macht bei den Kolonialvölkem vielleicht sogar besondere Achtung genieße.27) Und Rudolf Jardon meinte sogar: „Der Vertrag von Versailles hat Deutschland ungewollt in eine Überlegenheitsstellung gedrängt, die vor dem erwachenden Weltgewissen nicht zu umgehen und zu übersehen ist. Das Vorwegnehmen des Kommenden, das man unserer staatlichen Existenz vorläufig als Strafe auferlegt hat, sichert unserer Stimme einen Widerhall in der oppositionellen Jugend aller imperialistischen Staaten, der uns nicht nur ein Mitdabeisein, sondern eine Führerrolle sichern könnte."28) Der Versuch Otto Strassers jedoch, Deutschland als Teil der kolonialen Befreiungsbewegung zu sehen und in den frühen 1930er Jahren auf eine Zusammenarbeit mit den sich nationalisierenden Kolonialvölkern zu setzen, fand in der NSDAP - und zumal bei Hitler - kaum Widerhall.29) 25

) Carl von Ossietzky: Deutschland ist..., in: Die Weltbühne, 24. Jg., Nr. 45 vom 6. November 1928, S. 689-691, hier S. 689. 26 ) Hjalmar Schacht: Neue Kolonialpolitik. Vortrag, gehalten in der Abteilung BerlinCharlottenburg der Deutschen Kolonial-Gesellschaft am 24. März 1926, Berlin 1926, S. 5. 27 ) Schmokel: Traum vom Reich, S. 28. 28 ) Rudolf Jardon: Deutsche Kolonien? in: Die Tat 21/1929/30, S. 49-55, hier S. 54. 29 ) Otto Strasser: Aufbau des deutschen Sozialismus, Leipzig 1932, S. 76 f.

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Vielmehr sollten die Vertreter der klassischen Kolonialpolitik von den Nationalsozialisten später eingebunden und zunehmend marginalisiert werden.30) Dass sich Hitlers Schlussfolgerung, den - wie er es in „Mein Kampf' ausdrückte - „ewigen Germanenzug nach dem Süden" in den Osten umzuleiten, schließlich durchsetzen würde, war zunächst aber nicht abzusehen.31 Für die Haltung der moderaten - und das hieß für ihn: nicht genügend „rassebewußten" - Kolonisatoren hatte der „Führer" nur Verachtung übrig: „Wir kommen kaum in eine Kolonie," äußerte er am 19. Februar 1942 in einem seiner Tischgespräche, „und haben schon Kindergärten angelegt und Krankenhäuser für die Eingeborenen. Da kann ich die Wut kriegen! Jede weiße Frau wird zum Dienstmädchen degradiert für Schwarze."32) Noch immer klang hier das Entsetzen über die Umkehrung der kolonialen Ordnung nach dem Krieg an. Hinter dem Konflikt zwischen klassischer Kolonial- und nationalsozialistischer Lebensraumpolitik standen sich anthropologische Grundannahmen über die Bedeutung von Anlage und Umwelt für die menschliche Sozialisation gegenüber, die mal als unversöhnlicher Gegensatz zwischen „Rasse" und „Raum", mal als komplementäre Faktoren auftraten, so etwa in der „Volksund Kulturbodenforschung". Unter Rückgriff auf die Erkenntnisse der modernen Biologie und Vererbungslehre prägte sich eine eugenische bzw. ,/assehygienische" Matrix heraus, die von der bloßen Beschreibung rassischer Unterschiede zu einer prognose- und anwendungsorientierten Wissenschaft überging, um sich schließlich als eine Sozialtechnologie zu verstehen, die auf die künftige anthropologische Zusammensetzung des deutschen Volkes bzw. der Menschheit insgesamt Einfluss zu nehmen versuchte. Während der 1920er Jahre prägten sich verstärkt Denkansätze aus, die sich eine „Gesundung" bzw. Homogenisierung der scheinbar so fragmentierten modernen Gesellschaft versprachen. Sie zielten zunächst auf eine innere Neuordnung, die auf der Bevölkerungswissenschaft, der Raumordnung, der Sozialstatistik, der Sozialhygiene und Eugenik basieren sollte und sich in den radikalisierten Erwartungshorizonten der „autoritären Hochmoderne" bis zu visionären „Endlösungen" emporschwang.33)

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) Hierzu nach wie vor Klaus Hildebrand: Vom Reich zum Weltreich. Hitler, NSDAP und koloniale Frage 1919-1945, München 1969. 31 ) Adolf Hitler. Mein Kampf, 200.-224. Tausend, Berlin 1936, S. 742. 32 ) Henry Picker: Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941^42, Bonn 1951, S. 50. 33 ) Zur „autoritären Hochmoderne" vgl. James C. Scott: Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition have Failed, New Haven/London 1998. Carsten Klingemann (Hrsg.): Rassenmythos und Sozialwissenschaften in Deutschland. Ein verdrängtes Kapitel sozialwissenschaftlicher Wirkungsgeschichte, Opladen 1987; Lutz Raphael: Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft. Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in: GG 27/2001, Heft 1, S. 5-40; Wolfram Pyta: „Menschenökonomie". Das Ineinandergreifen von ländlicher

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Tatsächlich waren Eugenik und Rassehygiene internationale Erscheinungen, die aufgrund des Zusammentreffens von dynamischen Entwicklungsparadigmata mit globalisierten Sozialbeziehungen entstanden waren und hierauf mit einer Systematisierung und Neuordnung „homogenisierter" völkischer Einheiten zu reagieren versuchten.34) Nach dem Verlust der Kolonien schlug diese Option in Deutschland stärker als in den noch verbliebenen Kolonialländern durch, um schließlich in die Etablierung eines „Rassenstaates" zu münden, der vorgab, nach außen gegen die rasch anwachsende „farbige Front", nach innen gegen die „Durchmischung" mit „Gemeinschaftsfremden" vorzugehen. Im Schnittfeld zwischen „Rasse" und „Raum" - bzw. ,31ut" und „Boden" - wurde nach 1918 zunächst weniger über eine „Erschließung" neuer Territorien nachgedacht, als vielmehr über eine „Neuordnung" von bereits erschlossenen und „deutsch" geprägten Gebieten sowie eine „raumpolitisch gesunde Neugliederung" Europas.35) Bei dieser „Ethnopolitik" handelte es sich um einen völkischen Irredentismus, der „Mitteleuropa"Vorstellungen der Vor- und Kriegszeit versammelte und neue Raumbilder prägte.36) Hieran fiel vor allem die invers gesetzte frontier-Situation auf: Man sah sich nun in Deutschland gleichsam als Grenzergesellschaft in der Defensive. Namentlich die Wohngebiete der „Grenz- und Auslandsdeutschen" mutierten in der zeitgenössischen Wahrnehmung von „Brückenköpfen" des deutschen Einflusses in der Fremde (wie im Verständnis deutscher „Imperialisten" vor 1914) zu gefährdeten Inseln des Deutschtums.37) Es wäre in diesem Zusammenhang eine lohnende Fragestellung der kontrafaktischen Geschichte, ob sich völkische, eugenische und rassistische Gedankenwelten weniger ausgeprägt hätten, wenn Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg weiterhin eine Kolonialmacht geblieben wäre.

Sozialraumgestaltung und rassenbiologischer Bevölkerungspolitik im NS-Staat, in: HZ 273/2001, S. 31-94. 34 ) Vgl. Stefan Kühl: Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung fur Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt/New York 1997. 35 ) Vgl. Max Hildebert Boehm: Europa Irredenta. Eine Einführung in das Nationalitätenproblem der Gegenwart, Berlin 1923. Mark Bassin: Race contra Space. The Conflict between German Geopolitik and National Socialism, in: Political Geography Quarterly 6/1987, S. 115-134; Jürgen Elvert: Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918-1945), Stuttgart 1999; Birgit Kletzin: Europa aus Rasse und Raum. Die nationalsozialistische Idee der Neuen Ordnung, Münster 2000. 36 ) Vgl. Michael Fahlbusch: „Wo der deutsche ... ist, ist Deutschland." Die Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig 1920-1933, Bochum 1994; Ders.: Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften" von 1931-1945, Baden-Baden 1999. 37 ) Vgl. zur Visualisierung in der geopolitischen Kardiographie Guntram Henrik Herb: Under the Map of Germany. Nationalism and Propaganda 1918-1945, London/New York 1997.

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ΠΙ. Der eurafrikanische Großraum Im Gefolge des Versailler Friedens, mit dem die politische Raumordnung des kolonialen Zeitalters nach Europa zurückkehrte, bekamen auch geopolitische Theorien zunächst zusätzliche Evidenz. Darin wurde Afrika meist noch immer wie selbstverständlich zur europäischen Einflusssphäre gerechnet. 38 ) Drängender denn je wurde argumentiert, man bedürfe dieses kolonialen „Ergänzungsraums", um sich in Zukunft gegen Großräume wie Amerika oder Asien behaupten zu können. Als Projektionsfläche einer europäischen „Tropensehnsucht" und als Komplementär-Kontinent in diesem Sinne blieb Afrika in der Zwischenkriegszeit weiterhin für die Europäer und auch für die Deutschen virulent. Boden und Menschenkraft Afrikas wurden von ihnen noch immer als brachliegende Potentiale wahrgenommen. In den Beschreibungen erschien Europa meist als übervölkerter, Afrika als untervölkerter Raum, Europa als industriell, Afrika als rohstoffreich, Europa als ingeniös und tatendurstig, Afrika dagegen als instinktgeleitet und „erweckungsbedürftig". Entgegen dem Eindruck manch Hellsichtiger wie dem Nationalökonomen Moritz Julius Bonn, der die Peripetie des europäischen Kolonialismus längst bemerkt und sogar den Begriff „Dekolonisation" geprägt hatte,39) gelang es dem kolonialen Revisionismus nach 1918, ein ganzes Tableau von Gründen anzuführen, warum Deutschland seiner Kolonien weiterhin bedürfe. 40 ) Zugleich sahen die Deutschen, die ihre durch Versailles erzwungene „Dekolonisation" als ausgesprochen ungerechtfertigt empfanden, sich nun unausgesetzt dazu genötigt, ihre - auch kolonisatorische - Leistungsfähigkeit zu betonen. Als integrative mainstream-Position gewann dabei eine gleichsam transnationale Sozialimperialismus-These an Profil, die Europa als einen Großraum definierte, der nur über eine gemeinsame Erschließung der afrikanischen frontier wieder an innerer Geschlossenheit gewinnen könne. Schon 1910 38 ) Zur Geopolitik vgl. Klaus Kost: Die Einflüsse der Geopolitik auf Forschung und Theorie der Politischen Geographie von ihren Anfängen bis 1945. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Politischen Geographie und ihrer Terminologie unter besonderer Berücksichtigung von Militär- und Kolonialgeographie, Bonn 1988; Michel Korinman: Quand l'AUemagne pensait le Monde, Paris 1990 ; Ders.: Continents Perdus. Les Precurseurs de la Geopolitique Allemande, Paris 1991; Murphy: Heroic Earth; Rainer Sprengel: Kritik der Geopolitik. Ein deutscher Diskurs 1914-1944, Berlin 1996; Irene Diekmann/Petet KrügerlJulius H. Schoeps (Hrsg.): Geopolitik. Grenzgänge im Zeitgeist, Bd. 1.1: 1890 bis 1945, Potsdam 2000. 39 ) „All over the world a period of countercolonization began, and decolonization is rapidly proceeding." So Bonn 1932, vgl. Wolfgang Reinhard: Geschichte der europäischen Expansion, Bd 3., Stuttgart u.a., 1988, S. 187. 40 ) Neben Schmokel: Traum vom Reich, vgl. Hartmut Pogge von Strandmann: Deutscher Imperialismus nach 1918, in: Dirk Siegmann/Bernd-Jürgen Wendf/Peter-Christian Witt (Hrsg.): Deutscher Konservatismus im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Fritz Fischer zum 75. Geburtstag, Bonn 1983, S. 281-293.

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hatte Gerhard Hildebrand die gemeinsame Bemächtigung Afrikas als einen Weg hin zu den „Vereinigten Staaten von Westeuropa" empfohlen, auch um der weltwirtschaftlichen Konkurrenz anderer Großwirtschaftsräume eine gemeinsame, durch eine „westeuropäische Monroedoktrin" abgesicherte Politik entgegenzustellen.41) Der Gedanke war ohne das im europäischen Zentrum liegende Deutschland kaum auszuführen. Daher fragte schon 1919 der Kolonialgeograph Karl Dove in Bezug auf Afrika erneut: „Warum soll dieser Erdteil, an dessen gleichmäßiger Entwicklung die europäischen Industrievölker sämtlich in gleichem Grade interessiert sind, nicht in das gemeinsame Eigentum aller übergehen?"42) Die Vorstellung, dass sich die Leistungskraft Europas in Afrika bewähren müsse, wurde nach dem Ersten Weltkrieg zu einem dauerhaften Faktor der europäischen Gesellschaftspolitik. Gerade unter den Vorzeichen der Wirtschaftskrise häuften sich Projekte, die gemeinsame „öffentliche Arbeiten" in Afrika als einen möglichen Ausweg aus der steigenden Arbeitslosigkeit der wie es jetzt des öfteren hieß - „weißen Rasse" sahen.43) Selbst der Direktor des Internationalen Arbeitsamtes in Genf, Albert Thomas, wies 1932 auf die Möglichkeit einer gemeinsamen Erschließung Afrikas hin, wobei auch Prognosen eines künftigen Bedarfs an Energie- und Rohstoffvorräten eine Rolle spielten.44) Periodisch wurde immer wieder deren Erschöpfung beschworen, aber auch die Warnung ausgesprochen, dass die „Farbigen" bald selbst den Zugriff darauf beanspruchen könnten. Die Tropen wurden daher in der Nachkriegszeit von den Europäern vorsorglich als ein Erbe der Menschheit definiert, deren Früchte niemandem versagt werden könnten, der sie benötige.45) Gerade den Afrikanern, so eine verbreitete Ansicht, könne man nicht durchgehen lassen, dass sie ihr Land „ungenutzt" ließen.46) Noch deutlicher drückte diese Sichtweise 1935 der Architekt Herman Sörgel aus: „Die Jahrhunderte haben uns und unserer Technik Afrika gleichsam

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) Vgl. Gerhard Hildebrand: Die Erschütterung der Industrieherrschaft und des Industriesozialismus, Jena 1910. Vgl. dazu auch Gollwitzer: Geschichte des weltpolitischen Denkens, S. 301 f. 42 ) Karl Dove: Der Völkerbund und die Kolonialpolitik, in: Deri ./Emil Zimmermann: Völkerbund und Kolonialpolitik, Brandenburg 1919, S. 13-25, hier S. 23. 43 ) Oskar Karstedt: Internationale Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch Erschließung überseeischer Gebiete. Zugleich ein Beitrag zum Problem der Vergrößerung des Welthandelsvolumens, Berlin o.J. (1931). Ahnlich Rudolf von Zanthier. Neue Kolonisationspolitik. Die Lösung der Erwerbslosenfrage, Berlin 1927. 44 ) Vgl. Julius Kaliski: Deutscher Wirtschaftsjammer, und kein Ende?, in: Sozialistische Monatshefte, 38. Jg., Bd. 75/1932, S. 389-395. 45 ) So Frederick Lugard, der britische Gouverneur Nigerias, im Jahr 1922. Franz Ansprenger sieht hierin ein angemaßtes „Naturrecht" des Handels und des Verkehrs, Ders.: Auflösung der Kolonialreiche, München 1966, S. 9 f. 4i ) So jedenfalls Arthur Dix: Weltkrise und Kolonialpolitik. Die Zukunft zweier Erdteile, Berlin 1932, S. 224 f.

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wie eine gefüllte, unangetastete Sparkasse aufgehoben."47) Wie andere deutsche Autoren suggerierte er mit besonderer Eindringlichkeit, dass eine „Aufarbeitung Afrikas" zugleich die „Errettung Europas" bedeute.48) In einer Zeit, die gern in kosmischen oder geohistorischen Dimensionen dachte, verfolgte sein gewaltiger „Atlantropa-Plan" seit den späten 1920er Jahren das Ziel, einen „erdgeschichtlichen Irrtum" wie die Entstehung des Mittelmeers zu „korrigieren".49) Über eine Absenkung des Mittelmeer-Spiegels durch den Bau von Dämmen bei Gibraltar und Galipoli wollte der visionäre Baumeister innerhalb von hundert Jahren einen zusammenhängenden und infrastrukturell erschlossenen eurafrikanischen Kontinent schaffen. Damit erhielt Richard N. Coudenhove-Kalergis „Paneuropa-Union" gleichsam ein technisches Äquivalent.50) Mit dem Plan, der erst in den 1950er Jahren zu den Akten gelegt wurde, vermochte Sörgel europaweit eine technokratische Planungselite zu faszinieren. Als Pionier-Instanz der eurafrikanischen Integration bot sich vor allem die Infrastruktur an. Coudenhove-Kalergi etwa empfahl, die politische Technik der Verkehrstechnik anzugleichen und auch in Europa Staaten-Föderationen zu schaffen, wie sie in Rußland, Ostasien, Amerika und dem Britischen Empire längst bestünden. Nur unter Einschluss der nichtbritischen Teile Afrikas könne Europa autark und autonom werden.51) „Das Ideal wäre," meinte auch der Reiseschriftsteller Colin Ross, „Afrika zu einer gemeinsamen Kolonie eines künftigen Paneuropa zu machen."52) Die Begeisterung für solche Vorhaben war in der Sphäre professioneller Politik jedoch ungleich schwächer als bei technokratischen Planern und Publizisten. Wenn es in den 1920er Jahren diplomatische Bemühungen in Richtung Afrika gab, dann konzentrierten sie sich zunächst auf eine deutsch-französische Zusammenarbeit. Wie in Deutschland wurden auch in Frankreich eurafrikanische Konzepte entwickelt.53) So bemerkte ein französischer Senator 1932 über die mögliche He47

) Herman Sörgel/Bruno Siegwart·. Erschließung Afrikas durch Binnenmeere. Saharabewässerung durch Mittelmeerabsenkung, in: Beilage zum Baumeister, 33/März 1935, Heft 3, S. 37-39, hier S. 39. 48 ) Alfred Andreas Schubert'. Afrika, die Rettung Europas. Deutscher Kolonialbesitz - eine Lebensfrage für Industrie und Wirtschaft Europas, Berlin 1929. 49 ) Herman Sörgel: Europa-Afrika: ein Weltteil, in: Sozialistische Monatshefte, 37. Jg., Bd. 74/1931, S. 983-987. Ders.: Atlantropa, Zürich/München 1932. Vgl. auch Alexander Gall·. Das Atlantropa-Projekt. Die Geschichte einer gescheiterten Vision. Herman Sörgel und die Absenkung des Mittelmeers, Frankfurt a.M./New York 1998. 50 ) In seiner Zeitschrift Paneuropa, 5/Februar 1929, Heft 2: Sonderheft Afrika, S. 1-19, sprach sich Richard N. Coudenhove-Kalergi ebenfalls für eine gemeinsame Erschließung Afrikas unter Einbeziehung von Deutschland und Italien aus. 51 ) Richard N. Coudenhove-Kalergi: Pan-Europa, Wien 1923, S. 19. 52 ) Colin Ross: Erwachende Sphinx. Durch Afrika vom Kap nach Kairo, 2. Aufl. Leipzig 1927, S. 246. 53 ) Herman Kranold: Frankreich und die koloniale Aufgabe Europas, in: Sozialistische Monatshefte, 37. Jg., Bd. 74/1931, S. 975-983; Dix: Weltkrise und Kolonialpolitik, S. 15. Claude-Robert Ageron: L'idee d'Eurafrique et le debat colonial franco-allemand de l'entre-

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ranziehung deutscher Techniker zur Erschließung Afrikas: „Das ist genau das, was ich immer sage. Afrika kann auf solche Weise Europa retten. Kommt das rapprochement in Europa nicht zustande, so finden wir uns vielleicht in Afrika".54) Eine ähnliche Bereitschaft zu einem „colonial appeasement" war in gewissen Kreisen Großbritanniens zu konstatieren. Solche vom Geist der Verständigung getragenen Pläne waren im politischen Klima der Zwischenkriegszeit nicht zu verwirklichen. Schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch sprach man erneut von einer Verschmelzung Westeuropas mit dem südlichen Erdteil zu einer „Dritten Kraft".55) Im von Jean Monnet formulierten Schuman-Plan vom Mai 1950 hieß es: „Europa

wird dann mit vermehrten Mitteln die Verwirklichung eine seiner wesentlichsten Aufgaben verfolgen können: die Entwicklung des afrikanischen Erdteils".56) Afrika galt gelegentlich sogar als „ E u r o p a s Gemeinschaftsaufgabe Nr. I".57) Noch im Art. 131 des EWG-Vertrages von 1957 wurde die gemeinsame Förderung assoziierter afrikanischer Länder festgehalten. An Personen wie Monnet oder Ernest Bevin zeigt sich zudem, wie koloniale Vorerfahrungen jetzt in das europäische Aufbauwerk einfließen konnten. Noch bis etwa 1960 wurde die „eurafrikanische" Idee genährt, mit der die europäische Einigung auf dem „Umweg über Afrika" gefestigt werden sollte.58)

deux-guerres, in: Revue d'Histoire moderne et contemporaine 22/1975, S. 446-475; Etienne Deschamps: Quelle Afrique pour une Europe unie? L'idee d'Eurafrique ä 1'aube des annees trentes, in: Michel Dumoulin (Hrsg.): Penser l'Europe ä 1'aube des anndes trentes, Louvain-la-neuve/Brüssel 1995, S. 95-150. 54 ) Zit. in Max Cohen-Reuss: Der Weg ist frei, in: Sozialistische Monatshefte, 38. Jg., Bd. 76/1932, S. 660-666, hier S. 664. 55 ) So der britische Schatzkanzler Stafford Cripps im Zusammenhang mit dem Marshallplan 1948, vgl. Konrad Peters: Eurafrika - Wirtschaftsraum der Zukunft. Der .ReserveKontinent' wird mobilisiert - die dritte Kraft zwischen Sowjetunion und USA, in: Rheinische Post (Düsseldorf), 2. Jg., Nr. 13 vom 27. März 1948, S. 4. Ähnlich Volney D. Hurd: Der Atlantik als Kern einer Zivilisation. Afrika südlich der Sahara - eine neue wirtschaftliche Kraftquelle für Europa?, in: Die Neue Zeitung vom 13. Mai 1948, S. 5, sowie Erwin Richter. Afrika wird wichtig. Die Bedeutung des schwarzen Erdteils für Wirtschaft und Rüstung der Atlantikpaktmächte, in: Rheinischer Merkur, Nr. 17 vom 25. April 1952, S. 4. 56 ) Zit. in Ludolf Herbst: Option für den Westen, München 1989, S. 211. Vgl. auch Franz Obermeier: Die Bedeutung von Französisch-Afrika im Rahmen einer deutschfranzösischen Integration, München 1951. 57 ) Anton Zischka: Afrika, Europas Gemeinschaftsaufgabe Nr. 1, Oldenburg 1951. Vgl. auch Hans Ulrich von Wangenheim: Afrika - eine europäische Aufgabe, in: Der Volkswirt, Nr. 47/1950, S. 14-17; A.E. Johann: Groß ist Afrika. Europas dunkle Schwester, Gütersloh 1957. 58 ) Vgl.: Umweg über Afrika, in: Industriekurier, Nr. 73 vom 16. Mai 1950, S. 2; Thomas Oppermann: „Eurafrika" - Idee und Wirklichkeit, in: Europa-Archiv, Folge 23/1960, S. 695-706.

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IV. Die erwachende Sphinx Die generelle Zurückhaltung bei solchen Plänen, die in der Zwischenkriegszeit die professionelle Politik an den Tag legte, war durch den scheinbaren Verlust der „weißen Aura" durch die Einbeziehung von Farbigen in die Kriegshandlungen sowie die scheinbare ,/assische Bedrohung" durch Afrika zusätzlich bestärkt worden. Immer öfter wurde nach 1918 die - von außen bedrohte - „Gemeinsamkeit der weißen Rasse" beschworen. Kulturpessimisten und Krisenpropheten wie Oswald Spengler hielten es für fatal, dass die Europäer den „Farbigen" ihre - vor allem technischen - „Geheimnisse" verraten hätten. Das Erfindertum und die faustische Kultur der Europäer hätten sich die Welt weitgehend unterworfen: „Da beginnt am Ende des [19., V.L.] Jahrhunderts der blinde Wille zur Macht entscheidende Fehler zu begehen. Statt das technische Wissen geheim zu halten, den größten Schatz, den die ,weißen' Völker besaßen, wurde es auf allen Hochschulen, in Wort und Schrift prahlerisch aller Welt dargeboten, und man war stolz auf die Bewunderung von Indern und Japanern. [...] Alle ,Farbigen' sahen in das Geheimnis unserer Kraft hinein, begriffen es und nützten es aus."59) Infolge niedriger Löhne, so Spengler weiter, stellten diese Gebiete nun eine „tödliche Konkurrenz" dar, die „weiße" Arbeit nach und nach überflüssig mache. Zwei Jahre später wurden seine Warnungen noch drängender: „Die Gefahr pocht an die Tür. Die Farbigen sind nicht Pazifisten. Sie hängen nicht an einem Leben, dessen Länge sein einziger Wert ist. Sie nehmen das Schwert auf, wenn wir es niederlegen. Sie haben den Weißen einst gefürchtet, sie verachten ihn nun. [...] Aber die größte Gefahr ist noch gar nicht genannt worden: Wie, wenn sich eines Tages Klassenkampf und Rassenkampf zusammenschließen, um mit der weißen Welt ein Ende zu machen?"60) Solch eine fundamentale Irritation über frühere Gewissheiten der kolonialen Ordnung demonstrierten zahlreiche Analysen der Zwischenkriegszeit. Allenthalben wurde konstatiert, dass in den rückständigen Gebieten Asiens und Afrikas mittlerweile zahlreiche Elemente der Moderne Einzug hielten und in den traditionellen Gesellschaften zu schwer kalkulierbaren Verwerfungen führten. Dabei wurde aber nicht nur die europäische Überlegenheit in Frage gestellt. Oft wurden in der Tradition Rousseaus sentimentalisierte Blicke auf den Kontinent geworfen, und es wurde festgestellt, dass das alte Af59

) Oswald Spengler: Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens, München 1931, S. 59 f. Spengler hatte als Pennäler selbst einmal ein „afrikasisches" Traumreich ersonnen, der die Hauptstadt „Berlin" als Ausgangspunkt einer nahezu vollständigen Germanisierung dieses Großraums dachte, vgl. Hans-Peter Schwarz: Der Eroberer: Oswald Spenglers „AMkasien" (1894-1897), in: Oers:. Das Gesicht des Jahrhunderts. Monster, Retter und Mediokritäten, Berlin 1998, S. 51-54. β") Oswald Spengler. Jahre der Entscheidung. Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung, München 1933, S. 177.

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rika, seine vermeintlich zivilisatorisch noch „unverbildete" Kultur, nun wohl endgültig dahinsterbe.61) Die neuen Medien der Karthographierung und Speicherung sollten dem entgegenwirken und das, was vermeintlich „authentisch" war, für die Nachwelt festhalten.62) Damit wenigstens kehrten die Deutschen in die vordere Reihe derer zurück, die sich den südlichen Kontinent wissenschaftlich und ästhetisch aneigneten. Gerade diese Beobachter hatten sich freilich von der Arbeitshypothese, dass der Kontinent „unerschlossen" sei, längst verabschiedet. Vielmehr zeigten sie sich beeindruckt und irritiert von der gewaltigen Wandlungsenergie, welche die von Europäern bislang geleistete Erschließung der „erwachenden Sphinx" bereits freigesetzt hatte.63) Ferdinand Fried, der wirtschaftspolitische Sprecher des „Tat"-Kreises, sah in der schleichenden industriellen Emanzipation der Tropen bereits eine „weltwirtschaftliche Inversion" am Werk.64) Und über die „materielle und geistige Eigenbewegung" des südlichen Kontinents schrieb 1931 Hans Seligo: Wo man vor hundert Jahren noch Sklaverei getrieben habe, könne der Europäer heute „von einem dunkelhäutigen Askari zur Straßenordnung gerufen, ja, von ihm im Namen der Gerichtsbarkeit verhaftet werden. Diese Umstellung der Begriffe, vor allem aber die Geschwindigkeit der Anpassung der Neger an die äußerliche Zivilisationstechnik, übertrifft alles, was die Menschheitsgeschichte auf diesem Gebiet kennt."65) Wer von beiden, „Europa oder das Kolonialland, der europäische Ingenieur-Pionier oder der Eingeborene, der die Handarbeit mit der Spitzhacke geleistet hat", schließlich die Ernte des kolonialen Zeitalters einbringen werde, fragte sich auch der Ingenieur Georg Sinner, der 1932 sogar schon „Schlote im Urwald" rauchen sah: „Nichts berührt den Besucher südücher Länder so eigenartig wie die Synthese zwischen jungfräulicher Natur und

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) Leo Frobenius: Das sterbende Afrika. Die Seele eines Erdteils, Frankfurt a.M. 1928. Dazu Suzanne L. Marchand'. Leo Frobenius and the Revolt Against the West, in: The JCH 32/April 1997, Heft 2, S. 153-170. Für den weiteren Zusammenhang Manfred Gothsch: Die deutsche Völkerkunde und ihr Verhältnis zum Kolonialismus. Ein Beitrag zur kolonialideologischen und kolonialpraktischen Bedeutung der deutschen Völkerkunde in der Zeit von 1870 bis 1975, Baden-Baden 1983. 62 ) Vgl. Paul Graetz: Im Auto quer durch Afrika, Berlin 1926; Hans Schomburgk: Mein Afrika. Erlebtes und Erlauschtes aus dem Innern Afrikas, Berlin 1928. Vgl. auch die Filme Schomburgks; Afrika wurde sogar zu einem bestimmenden Topos des frühen deutschen Kinofilms, der die Tropen jedoch überwiegend trivialisieite, vgl. Triviale Tropen. Exotische Reise- und Abenteuerfilme aus Deutschland 1919-1939; Red. Jörg Schöning, München 1997. 63 ) Ross: Die erwachende Sphinx. M ) Nach Richard Busch-Zantner. Die koloniale Integration. Die Funktion überseeischen Eigenbesitzes in der sozialen und wirtschaftlichen Struktur der Gegenwart. Unter besonderer Berücksichtigung der Arbeiterschaft, in: Koloniale Rundschau 26/1934, Heft 1-2, S. 3-85, hier S. 43. 65 ) Hans Seligo: Afrika im Umbau, Jena 1931, S. 21 f.

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modernster Verkehrstechnik."66) Gerade solche, eher technisch geprägten Raumbilder der Zwischenkriegszeit beschrieben die zahlreichen Wechselund Rückwirkungen des Kolonialismus, die Gerhard Hildebrand schon 1910 an das Treiben von „Zauberlehrlingen" erinnert hatten:67) „Menschen, Güter und Nachrichten," meinte Kurt Wiedenfeld 1934, „gelangen ohne große Schwierigkeiten von überall her nach überall hin, wo nur die Eisenbahnen und Dampfschiffahrt, Telegraph und Kabel - neuerdings auch Autostraße, Luftschiffahrt und Funkdienst - eine Verbindung hergestellt haben. Selbst die entlegensten Gebiete, wenn sie erst vom modernen Transportapparat erreicht worden sind, haben gegeneinander keine Geheimnisse mehr. Die besonderen Nachrichtenmittel sorgen dafür, daß alle irgend wichtigen Ereignisse mit Augenblicksgeschwindigkeit über die ganze Erde weg bekannt werden, und sie tragen die darauf fußenden Dispositionen wiederum in die angeschlossenen Erdräume mit der gleichen Schnelligkeit hinein." Die in der Folge entstandene internationale Produktionsteilung sei letztlich unvermeidbar, der Wettbewerb habe nun alle Länder der erschlossenen Erde erfasst.68) Aber nicht nur in den Raumbildern der Wirtschaftsgeographie hatte sich der Kreis der Wettbewerber um künftige Marktanteile und Einflussgebiete stark vergrößert. Walther Pähl meinte 1937: „Gärung und Umbruch überall! Im Fernen und im Nahen Osten, in Afrika und Amerika, in der Welt des gelben, des schwarzen und des roten Mannes. Völker, die in die Geschichtslosigkeit versunken schienen, sprechen wieder zur ganzen Welt. Längst verstorben und erstarrt gewähnte Nationen recken sich wieder in die Höhe der Weltgeltung. Übervölkerte Länder drängen in leere Räume. Übersättigte Nationen, die in ihrer Raumfülle ersticken, sprechen von .Sicherheit'... Die rasenden Fortschritte von Technik und Verkehr haben die weiteste Ferne in nächste Nachbarschaft verwandelt."69) Ein besonderes Interesse hegte man in Deutschland für vermeintlich , junge Völker" wie Japan, Italien, die Balkanländer oder Vorderasien, an deren Entwicklung besonders die Art und Weise interessierte, wie diese Länder den Modernisierungsprozess adaptierten und in eine „autochtone Moderne" überführten.70)

Georg Sinner: Gefährdetes Europa. Schlote rauchen im Urwald. Ein Bild von der Zukunft Europas im Rahmen der Weltwirtschaft, Stuttgart 1932, S. 120, 26. 67 ) „Geht es nicht mit der internationalen Verkehrswirtschaft der alten Industriestaaten wie dem Zauberlehrling, dem die Kräfte, die er rief, schließlich über den Kopf wuchsen?" Hildebrand: Erschütterung der Industrieherrschaft, S. 5. 68 ) Kurt Wiedenfeld: Raumgebundene und raumunabhängige Wirtschaft, in: Karl Haushofer (Hrsg.): Raumüberwindende Mächte, Leipzig/Berlin 1934, S. 233-277, hier S. 247 f. 69 ) Walter Pähl: Wetterzonen der Weltpolitik, Leipzig 1937, S. 5. Vgl. auch Ders.: Das politische Antlitz der Erde. Ein weltpolitischer Atlas, Leipzig 1938. 70 ) Gregor Streim: Junge Völker und neue Technik. Zur Reisereportage im .Dritten Reich' am Beispiel von Friedrich Sieburg, Heinrich Hauser und Margret Boveri, in: ZfGerm 9/1999, Heft 2, S. 344-359; Sebastian Graeb-Könneker: Autochthone Modernität. Eine Untersuchung der vom Nationalsozialismus geförderten Literatur, Opladen 1996.

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Für die zunehmend auf Autarkie und völkische Homogenisierung setzenden völkischen Rassisten steigerten Weltwirtschaft und Weltverkehr jedoch die Gefahren der rassischen „Durchmischung" zusätzlich. Eine Kolonialpolitik, die nicht auf Verdrängung oder wenigstens strikte Segregation der einheimischen Bevölkerung setzte, kam für sie nicht mehr in Betracht. Gerade deswegen wurde Afrika in den 1930er Jahren langsam marginalisiert, wurden Projektionen einer „Neuordnung" wieder auf ein autarkes „großgermanisches" Europa zurückverlagert oder auf alternative „Ergänzungsräume" im Orient bzw. im Osten abgelenkt. Die „Vordenker" solcher Planungen hatten freilich andere und gerade in „völkischer" Hinsicht sehr viel radikalere Referenzhorizonte als die klassischen Kolonialisten. Im Zweiten Weltkrieg war Afrika vor allem Gegenstand von Befürchtungen, die USA als „raumfremde Macht" könne sich an Stelle Europas dort etablieren und insofern gegen seine eigene Monroedoktrin verstoßen.71) Nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es eine Weile, bis Afrika im Bewusstsein der Europäer erneut vor den Toren stand, diesmal drängender denn je, denn die europäische Intervention in Technologie, Medizin und Hygiene schienen nun vor allem eine „ M e n s c h e n lawine" losgetreten zu haben. Auf der Konferenz von Bandung, so meinte 1956 Giselher Wirsing, hätten sich „die Erdräume mit dem größten Bevölkerungsdruck zusammengefunden, um mit Macht an die Tore der hochindustrialisierten, der verhältnismäßig reichen Völker zu pochen."72) Diese Wahrnehmung hält sich bis zum heutigen Tag. Zusammenfassung: In der dynamisierten Raumerfahrung des imperialen Zeitalters war Afrika schwarzer Spiegel und weißer Fleck zugleich. Zwischen europäischer Fiktion und afrikanischer Realität entstand eine Fülle von Prognosen, Planungen und Projektionen, die sich auf diesen Kontinent der Zukunft richteten. Sie wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als ungemein drängend empfunden; daher ist die heutige Realität Afrikas nach wie vor tiefgreifend von der vorangegangenen Epoche europäischer Erwartungen geprägt.73) Diese gedanklich wie real prägende Ära europäischer Geschichte ist jedoch mit der Dekolonisation aus der europäischen Erinnerung aktiv verdrängt worden, zum einen, weil dies opportun erschien und zum anderen, weil sich die Denkhorizonte in der zweiten Jahrhunderthälfte radikal wandelten. Deutschland war hier 1918 in der Tat bereits einen Schritt voraus. Doch erwies sich, dass der koloniale Raum Afrika nicht nur dazu diente, europäi-

71 ) S o die Begrifflichkeit von Carl Schmitt, der vielleicht nicht am einflussreichsten, sicher aber am elaboriertesten die deutschen Großraum-Diskussion repräsentierte: Ders. : Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht, Berlin 1939. 72 ) Giselher Wirsing: Die Menschenlawine. Der Bevölkerungszuwachs als weltpolitisches Problem, Stuttgart 1956, S. 69. 73 ) Ausführlicher in Dirk van Laak: Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen für eine Erschließung Afrikas 1880 bis 1960, Paderborn u.a. 2004.

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sehe Probleme an die koloniale Peripherie zu exportieren, sondern auch dazu, periphere Kolonialprobleme, etwa die Rassenfrage, nach Europa zu importieren, um hier die Gesellschaftspolitik zu beeinflussen.74) Die Anwesenheit farbiger Soldaten in Deutschland nach 1918 ließ ein Gefühl der Zeitenwende entstehen, das neue Hierarchien heraufziehen und alte schwinden sah. „Raum" und „Rasse" erschienen nun endgültig als deutsche „Schicksalsfragen". Forderungen nach einer geopolitischen Neuordnung und rassischen „Gesundung" wurden nun nicht mehr für das exotisch Ferne, sondern für das europäische Zentrum selbst erhoben.

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) Vgl. Horst Gründer. Geschichte der deutschen Kolonien, 2. Aufl. Paderborn u.a. 1991, S. 237.

II. Zeiterfahrungen und Zeitkonzepte

Optimismus und Pessimismus in der Krise der politisch-kulturelle Diskurs in der Weimarer Republik1) Von Rüdiger Graf

I. „Optimismus" und „Pessimismus" als historische Kategorien Die Weimarer Republik wurde wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich von schweren Krisen beherrscht und mit der nationalsozialistischen Herrschaft und dem Zweiten Weltkrieg stand ihr eine düstere Zukunft bevor. Während diese „vergangene Zukunft" heute eine vergangene Gegenwart ist, die so und nicht anders war, war sie für die Zeitgenossen ein prinzipiell offener „Zukunftshorizont" oder Möglichkeitsraum.2) Wie sahen die Zeitgenossen ihre Zukunft angesichts der massiven Krisenprozesse, was erhofften und was befürchteten sie? Diese Frage lohnt schon allein deshalb, weil das Thema „Zukunft" nach dem Ersten Weltkrieg Konjunktur hatte: In der Tradition der Kriegszielvisionen verfassten Intellektuelle Pamphlete über „Deutschlands Zukunft", 3 ) Zeitungen, Zeitschriften und Verlage veranstalteten Umfragen über die Zukunft, Parteien stritten um politische Gestaltungskonzepte, Lebensreformer entwarfen unzählige Pläne zur Erneuerung des Menschen und der Welt, das literarische Genre des Zukunftsromans blühte, und Sozialwissenschaftler diskutierten die Rolle des Utopischen in der Geschichte. In der Forschungsliteratur finden sich sehr verschiedene Aussagen darüber, ob diese politisch-kulturellen Diskurse in der Weimarer Republik eher optimistisch oder pessimistisch waren und wie es sich mit der Stimmung in der ') Für wertvolle Anregungen und Hinweise danke ich Moritz Föllmer, Constantin Goschler, Philipp Müller und Matthias Pohlig. 2 ) Zur Untersuchung „vergangener Zukunft" siehe Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1995; Lucian Hölscher. Zukunft und historische Zukunftsforschung, in: Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1: Friedrich Jaeger (Hrsg.): Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart 2004, S. 401416. Zur Differenz „zwischen der Zukunft (oder: dem Zukunftshorizont) der Gegenwart als dem Reich des Wahrscheinlichen/Unwahrscheinlichen und den künftigen Gegenwarten, die immer genau so sein werden, wie sie sein werden, und nie anders", siehe Niklas Luhmann: Die Beschreibung der Zukunft, in: Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 129— 147, 140. 3 ) Den Zukunftsdiskurs während des Ersten Weltkriegs untersucht Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914" und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003.

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Bevölkerung überhaupt verhielt. A m weitesten verbreitet ist wohl noch immer die klassische Position, die die Struktur des Zukunftsdiskurses aus der wirtschaftlichen Lage ableitet. D a die Zeitgenossen angesichts der Krisenprozesse objektiv schlechte Zukunftsaussichten hatten, seien sie pessimistisch gestimmt g e w e s e n und hätten nur allzu bereitwillig an ihre „letzte Hoffnung: Hitler" geglaubt, w i e es ein Plakat der N S D A P zur Reichspräsidentenwahl 1 9 3 2 einprägsam visualisierte. 4 ) Auf der Basis dieser plausiblen Annahme nutzen viele Autoren mehr oder weniger en passant pessimistische Begriffe zur Charakterisierung der Stimmung in der Weimarer Republik, ohne diese j e d o c h selbst zu untersuchen. 5 ) Horst Möller geht sogar so weit zu erklären, mit der Niederlage i m Ersten Weltkrieg und d e m Zusammenbruch der alten Ordnung sei es „den meisten Deutschen" 1918 so erschienen, als o b „keine Zukunft mehr offen" stehe. 6 ) Unterstützt wird diese Deutung des öffentlichen Diskurses als pessimistisch durch die allgemein anerkannte Position der Kulturgeschichtsschreibung, der Erste Weltkrieg markiere den endgültigen Bruch mit d e m Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts. 7 ) Dieser habe sich, so formuliert Richard Bessel, unter d e m Eindruck von Krieg und R e v o lution in „panikartige Endzeitstimmung" verwandelt. 8 )

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) Die These des durch die Krisen ermöglichten Aufstiegs der Nationalsozialisten findet sich u.a. bei Eberhard Kolb\ Die Weimarer Republik, 4., durchges. und erg. Aufl. München 1998, S. 107-124. Ähnlich auch Wolfram Pyta: Gegen Hitler und für die Republik. Die Auseinandersetzung der deutschen Sozialdemokratie mit der NSDAP in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1989, S. 510; Hans-Ulrich Wehler. Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München 2003, S. 286, 291. 5 ) Eine pessimistische Stimmung konstatieren Bernd Sösemann: Periode des Übergangs oder ,Ende des Systems'? Liberale Publizistik im Weimar der Präsidialkabinette, in: Thomas Koebner (Hrsg.): Weimars Ende. Prognosen und Diagnosen in der deutschen Literatur und politischen Publizistik 1930-1933, Frankfurt a.M. 1982, S. 143-181, 155; Mary Nolan: Visions of Modernity. American Business and the Modernization of Germany, New York/Oxford 1994, S. 39; Hans Mommsen: Aufbruch zur Nation. Irrwege des Deutschen Nationalismus in der Zwischenkriegsepoche, in: Von Weimar nach Auschwitz. Zur Geschichte Deutschlands in der Weltkriegsepoche. Ausgewählte Aufsätze, Stuttgart 1999, S. 44-57, 49; Egbert Klautke: Unbegrenzte Möglichkeiten. „Amerikanisierung" in Deutschland und Frankreich (1900-1933), Wiesbaden 2003, S. 308. Speziell zur Hoffnungslosigkeit während der Inflation: Gerald D. Feldman: The Great Disorder. Politics, Economics, and Society in the German Inflation 1914-1924, New York/Oxford 1993, v.a. S. 513-560. 6 ) Horst Möller: Oswald Spengler. Geschichte im Dienst der Zeitkritik, in: Peter Christian Ludz (Hrsg.): Spengler heute, München 1980, S. 49-74, 50. 7 ) Siehe Ute Frevert (Hrsg.): Das Neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900 (= GG, Sonderheft 18), Göttingen 2000, S. 10; Hartmut Berghoff·. ,Dem Ziele der Menschheit entgegen.' Die Verheißungen der Technik an der Wende zum 20. Jahrhundert, in: Ebd., S. 47-78, 73; Michael Salewski: Technik als Vision der Zukunft um die Jahrhundertwende, in: Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 77-91, 90. 8 ) Richard Bessel: Die Krise der Weimarer Republik als Erblast des verlorenen Krieges, in: Frank Bajohr (Hrsg.): Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Detlev Peukert zum Gedenken, Hamburg 1991, S. 98-114.

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Ein solches lineares Modell fallt hinter die Position Detlev Peukerts zurück, d e m z u f o l g e die Deutungshoheit des Fortschrittsoptimismus nicht einfach von der des Kulturpessimismus abgelöst wurde: , 3 e i d e hatten schon vor d e m Krieg koexistiert und erneuerten ihre Konkurrenz um den Zeitgeist auch seitdem immer wieder." 9 ) Im Anschluss an Peukert betonen viele Arbeiten für das frühe 20. Jahrhundert und hier insbesondere für die sogenannten „Krisenjahre der klassischen Moderne" eine Ambivalenz von „Machbarkeitswahn" und „Untergangsangst", die oft als „Janusköpfigkeit" der Moderne bezeichnet wird. 1 0 ) Dabei ist der Befund einer zumindest temporär durchaus optimistischen Zukunftsorientierung vieler Zeitgenossen nicht neu. 1 1 ) Vor allem in jüngerer Zeit wurde darüber hinaus j e d o c h der Optimismus bestimmter gesellschaftlicher Gruppen herausgearbeitet, zumeist allerdings u m diese v o n der allgemeinen, angeblich kulturpessimistischen Zeitstimmung abzugrenzen. 1 2 ) 9

) Detlev J.K. Peukert: Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989, S. 57. ) Siehe zum Beispiel Volker DrehsenfWaither Sparn: Die Moderne. Kulturkrise und Konstruktionsgeist, in: Dies. (Hrsg.): Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900, Berlin 1996, S. 11-29, 12 f. Diethard Kerbs!Ulrich Linse: Gemeinschaft und Gesellschaft, in: Diethart Kerbs/iüigcn Reulecke (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, Wuppertal 1998, S. 155-159, 157; Peter Fritzsche: Landscape of Danger, Landscape of Design. Crisis and Modernism in Weimar Germany, in: Thomas W. ATm'eicAe/Stephen Brockmann (Hrsg.): Dancing on the Volcano. Essays on the Culture of the Weimar Republic, Columbia 1994, S. 29-46. ") Siehe Walter Bussmann: Politische Ideologien zwischen Monarchie und Weimarer Republik, in: HZ 190/1960, S. 55-77, 57. Ähnlich Peter Fritzsche: Breakdown or Breakthrough? Conservatives and the November Revolution, in: Larry Eugene Jones/lamts Retallack (Hrsg.): Between Reform, Reaction, and Resistance. Studies in the History of German Conservatism from 1789 to 1945, Providence/Oxford 1993, S. 299-328, 327. Rudolf Vierhaus sieht das Bild einer pessimistischen Zeit zumindest teilweise als ein Produkt der nationalsozialistischen Propaganda. Rudolf Vierhaus: Auswirkungen der Krise um 1930 in Deutschland. Beiträge zu einer historisch-psychologischen Analyse, in: Werner Conze!Hans Raupach (Hrsg.): Die Staats- und Wirtschaftskrise des Deutschen Reichs 1929/33, Stuttgart 1967, S. 155-175, 155 f. I2 ) Für die deutsche Soziologie stellt Paul Nolte fest, sie sei nicht vom „Spenglerschen Pessimismus" beherrscht gewesen, und Peter Fritzsche erklärt, Weimarer Reformpolitiker und nationalsozialistische Eugeniker hätten sich durch einen „genuine optimism" in bezug auf die Veränderungsmöglichkeiten der Gesellschaft ausgezeichnet. Paul Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 167; Peter Fritzsche: Did Weimar Fail?, in: JMH 68/1996, S. 629656, 652. Auch Jürgen Elvert meint, die Europavisionen seien in Abgrenzung von Spenglers Untergangsdeterminismus entstanden: Jürgen Elvert: Mitteleuropa! Deutsche Europapläne der Zwischenkriegszeit (1914-1945), Stuttgart 1999, S. 44, und Joan Campbell erklärt, dass von cultural despair und Spenglerian gloom beim Werkbund nichts zu bemerken gewesen sei. Joan Campbell: The German Werkbund. The Politics of Reform in the Applied Arts, Princeton 1978, S. 3. Beide sehen dies jedoch explizit als Spezifikum der jeweils von ihnen untersuchten Intellektuellen und nicht als allgemeineres Zeitgeistphänomen. Dietmar Schirmer sieht ein Distinktionsmerkmal der NSDAP in ihrem besonderen Optimismus; Dietmar Schirmer. Mythos, Heilshoffnung, Modernität. Politisch-kulturelle Deutungscodes in der Weimarer Republik (= Studien zur Sozialwissenschaft, 114), Opladen 1992, S. 237. 10

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Aus dem Forschungsüberblick ergibt sich also ein überaus uneinheitliches Bild: Einmal war die Weimarer Republik von Untergangsstimmung beherrscht, ein anderes Mal durch die spannungsreiche Koexistenz von Untergangsfurcht und Machbarkeitswahn gekennzeichnet und ein drittes Mal wesentlich von der optimistischen Einstellung verschiedener Gruppen geprägt. Angesichts dieses heterogenen Befundes soll im Folgenden die Frage nach dem Verhältnis von Optimismus und Pessimismus in der Weimarer Republik neu gestellt werden. Dabei gilt es auch zu überprüfen, inwiefern derart weiche und theoretisierungsunfähige Begriffe wie Optimismus, d.h. die Erwartung einer zukünftigen Verbesserung beziehungsweise der Glaube, eine Verbesserung selbst erreichen zu können, und Pessimismus, die Erwartung des Gegenteils, überhaupt gewinnbringend zur historischen Analyse eingesetzt werden können.13) Die Begriffe wegen ihrer Vagheit ganz abzulehnen, wäre schon deshalb falsch, weil die Zeitgenossen - wie im Folgenden gezeigt wird - intensiv um sie stritten. Die Untersuchung von Optimismus und Pessimismus kann sich nicht direkt auf die individuellen Zukunftserwartungen der Menschen und gesellschaftlichen Gruppen in der Weimarer Republik beziehen, sondern sie muß vielmehr von dem öffentlichen Diskurs, den Intellektuelle und Publizisten über die Zukunft des Kollektivs führten, ausgehen. Jenseits aller inhaltlichen Kontroversen über Gestalt und Gestaltung der Zukunft ging es in diesen Debatten immer auch um die formale Frage, welches die richtige Haltung gegenüber der Zukunft Deutschlands sei. Der Zukunftsdiskurs kreiste um die Probleme der Angemessenheit von Optimismus und Pessimismus, Evolution und Revolution, den zeitlichen Abstand zur „neuen Zeit" und die Handlungsstrategien, um sie zu realisieren. Er durchzog die verschiedenen Debatten zur wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklung des Deutschen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg. In Texten, die sich mit konkreten Fragen der Zukunftsgestaltung beschäftigten, wurde vor allem am Anfang und am Ende explizit auch die eigene Haltung der Zukunft gegenüber diskutiert. Daher kann man den Zukunftsdiskurs in Anlehnung an den Begriff der Intertextualität als „Interdiskurs" begreifen, der in thematisch und institutionell spezifischeren Diskursen auftaucht und seiner eigenen Logik folgend, eine diskursive Verbindung zwischen ihnen herstellt.14) Seine Analyse ermöglicht nicht nur genauere Aussagen über das Verhältnis der Zeitgenossen zu den

13 ) Als Versuch einer theoretischen Explizierung der Begriffe siehe Graham T.T. Molitor: Change. Optimistic and Pessimistic Perspectives, in: George Thomas fTwrian/Graham T.T. Molitor (Hrsg.): Encyclopedia of the Future, Bd. 2, New York 1996, S. 78 f. 14 ) Zum Begriff des Interdiskurses ausführlicher Jürgen Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik, in: Jürgen FohrmannfHarto Müller (Hrsg.): Diskurstheorien in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1988, S. 284-310.

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basalen Kategorien der Ordnung historischer Zeit, sondern liefert auch Einblicke in die Stimmungs- und Bewußtseinslagen der Bevölkerung.15) Die Analyse eines öffentlichen Diskurses ermöglicht zunächst Aussagen über die Haltungen der unmittelbar an ihm Beteiligten. Nichtsdestoweniger stellt er jedoch auch einen - und in diesem Falle den einzigen - Zugang zur Haltung breiterer Bevölkerungsschichten dar. Eine Untersuchung der Zeitstimmung über die unzähligen individuellen Optimismen und Pessimismen der Zeitgenossen wäre zwar erstrebenswert, aber sie ist aufgrund fehlender Quellen nicht möglich. 16 ) Diesen Mangel können auch die qualitativen Beschreibungen der Stimmungslage von zeitgenössischen Beobachtern nicht beheben, weil deren Analysen einander oft diametral widersprechen und deutlich von bestimmten Interessen geleitet sind. Angesichts dieser Quellenlage wird häufig aus den objektiv schlechten ökonomischen Bedingungen auf die Vorherrschaft pessimistischer Haltungen in der Bevölkerung geschlossen. Eine solche Ableitungsbeziehung wurde jedoch bereits von den Zeitgenossen bezweifelt. 17 ) Wenn sie richtig wäre, müßte der kollektive Zukunftsdiskurs pessimistisch grundiert gewesen sein. Denn seine Träger gehörten mehrheitlich dem Bildungsbürgertum an, das in Inflation und Weltwirtschaftskrise schwere Statusverluste hinnehmen musste.18) Die folgende Analyse wird jedoch zeigen, dass der kollektive Zukunftsdiskurs alles andere als pessimistisch gestimmt war. Vielmehr zeichnete ihn eine einheitliche gestaltungsoptimistische Grundorientierung aus, die eine semantische Brücke zwischen verschiedenen intellektuellen Lagern bilden konnte.

,5

) Zur Relation von Zukunftsvorstellungen und Bewußtseinslagen siehe Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, 4. Aufl. [1. Aufl. 1929] Frankfurt a.M. 1965, S. 183: „Man kann die innerste Struktur eines Bewusstseins nirgends so klar erfassen, als wenn man sein Zeitbild von seinen Hoffnungen, Sehnsüchten und Sinnzielen her versteht. Denn von diesen Sinnzielen her gliedert es nicht nur sein zukünftiges Geschehen, sondern auch die vergangene Zeit." Eine ausführliche Analyse der verschiedenen Aspekte des Zukunftsdiskurses erfolgt in meiner Dissertation „Die Zukunft der Weimarer Republik. .Krisen' und Gestaltbarkeitsbewußtsein im politisch-kulturellen Diskurs 1918-1933". ,6 ) Wir verfügen über keine aussagekräftigen, sondern nur über sehr rudimentäre quantitative Umfragen aus der Weimarer Republik. Eine Ausnahme bildet die Untersuchung von Erich Fromm, die jedoch spezifische Probleme aufweist und zudem nur mit wenigen Fragen wie zum Beispiel „Wie kann nach ihrer Meinung ein neuer Weltkrieg verhindert werden?" oder „Wodurch kann nach ihrer Meinung die Welt verbessert werden?" im Zusammenhang der Fragestellung relevant ist. Erich Fromm: Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung, bearb. und hrsg. v. Wolfgang Bonß, Stuttgart 1980. 17 ) So von dem Herausgeber des Archiv fiir Kulturgeschichte Georg Steinhausen: Verfallsstimmung im kaiserlichen Deutschland, in: Preußische Jahrbücher 194/1923, S. 153-185; Ders.: Jenseits von Optimismus und Pessimismus, in: Die Tat 15.1/1923/24, S. 435-448. 18 ) Siehe Feldman: Great Disorder, S. 528: „Those groups excluded from the labor market by age or disability aside, none seemed more affected by this turn of events than the socalled geistige Arbeiter - the intellectual workers in the free professions, the arts and sciences, and all those who professed to be the .bearers' of Germany's cultural and intellectual traditions."

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Gerade wegen ihrer Konsensfähigkeit diente sie aber auch immer wieder zur Abgrenzung vom politischen Gegner. Diese Struktur lässt auch Schlussfolgerungen auf die Stimmungslage in der Bevölkerung zu. Denn der öffentliche Diskurs vollzieht sich nicht abgelöst von den Zukunftserwartungen der Bevölkerung, da er diese reflektiert und sie zudem durch seinen grundsätzlich öffentlichen Charakter wiederum beeinflusst. Mit Reinhart Koselleck gesprochen indiziert und induziert der kollektive Zukunftsdiskurs die Zukunftserwartungen der Bevölkerung, ohne diese jedoch einfach abzubilden oder zu determinieren.19) Damit bildet er vielleicht einen schlechten, aber doch den einzigen Zugang zur komplexen Struktur der Zukunftsaneignungen innerhalb der Bevölkerung. Zu seiner Analyse reicht es nicht, die Schriften weniger „großer Denker" zu behandeln, die angeblich dem Zeitgeist besonders nahe waren. Stattdessen muss versucht werden, ihn in seiner Vielstimmigkeit auf einem Niveau zu erfassen, das möglichst breiten gesellschaftlichen Schichten zugänglich war. Im Kern bestehen die Quellen der folgenden Untersuchung daher aus einem Sample von acht Tageszeitungen und sieben Zeitschriften, die verschiedenen politisch-kulturellen Milieus angehörten und so einen Überblick über das intellektuelle Spektrum der Weimarer Republik ermöglichen.20) Zur Klärung des Verhältnisses von Optimismus und Pessimismus im kollektiven Zukunftsdiskurs ist eine Unterscheidung notwendig, die an die sprachphilosophische Differenz von use und mention anschließt. Letztere bezeichnet den Unterschied zwischen dem Gebrauch eines Wortes zur Bezeichnung eines Phänomens oder Gegenstandes und der Erwähnung des Wortes, um Aussagen über seine Satzfunktion oder Bedeutung zu machen.21)

19 ) Genauso wie die Begriffe bei Koselleck stellen also auch die hier untersuchten Texte Indikatoren und Faktoren in historischen Prozessen dar. Siehe: Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: Ders.: Vergangene Zukunft, S. 107-129. 20 ) Vollständig durchgesehen wurden die politisch-kulturellen Zeitschriften Die Tat, Die Weltbühne, Die Neue Rundschau, Die Deutsche Rundschau, Die nationalsozialistischen Monatshefte, Die neue Zeit und Die Gesellschaft. Da Tageszeitungen insbesondere zu zeitlichen Einschnitten weitergehende Zukunftsreflexionen enthalten, habe ich jeweils die Ausgaben zu den Jahreswechseln in der Roten Fahne, dem Vorwärts, der Germania, dem Berliner Tageblatt, der Deutschen Allgemeinen Zeitung, der Neuen Preußischen Zeitung, dem Tag und dem Völkischen Beobachter analysiert. Damit besteht das engere Sample der Zukunftsreflexionen aus ca. 1 000 Artikeln von weit mehr als 300 Autoren. Hinzu kommen Artikel aus anderen Zeitschriften und selbständige Publikationen, die von diesen Artikeln ausgehend sowie über Sekundärliteratur und den systematischen Altbestandskatalog der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz erschlossen wurden, um einzelne Aspekte zu vertiefen. 21 ) Als klassische Texte zu dieser Unterscheidung siehe Willard Van Orman Quine: Mathematical Logic, Cambridge/Mass. 1951, S. 23-37 [1. Aufl. New York 1940]; Donald Davidson: Quotation, in: Inquiries into Truth and Interpretation, Oxford 1984, S. 79-92; sowie zur Einfuhrung Corey Washington: Use/mention distinction and quotation, in: Routledge Encyclopedia of Philosophy, Bd. 9, London/New York 1998, S. 548-551.

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In ähnlicher Weise kann man bei der Analyse des Zukunftsdiskurses zwei Ebenen unterscheiden: a)

b)

die optimistischen oder pessimistischen Zukunftsaneignungen, d.h. die Haltungen oder Erwartungen, die die konkreten Texte über die Zukunft zum Ausdruck bringen (use) die Aussagen über Optimismus und Pessimismus als Formen der Zukunftsaneignung, die in den Texten gemacht werden (mention).

Diese Trennung ist deshalb notwendig, weil die beiden Ebenen nicht deckungsgleich sein müssen: Man kann zum Beispiel den klassischen Fortschrittsoptimismus explizit ablehnen und doch zugleich optimistisch in die Zukunft sehen.22) Dass dies in der Weimarer Republik nicht nur möglich, sondern vielmehr die Regel war, soll hier gezeigt werden. Dazu sind die folgenden Fragen zu beantworten: Glaubten die Teilnehmer am politischkulturellen Diskurs der Weimarer Republik, dass sich die zukünftige Entwicklung zum Guten oder zum Schlechten vollziehen werde? Was dachten sie über die Angemessenheit von Hoffnungen und Befürchtungen, von optimistischen und pessimistischen Einstellungen bei ihnen selbst und ihren Kontrahenten? Wie schätzten sie schließlich ihre Chancen ein, die Entwicklungen und die Gestalt der Zukunft zu beeinflussen? Die Beantwortung dieser Fragen erfolgt in zwei Schritten: Zunächst werden die wesentlichen Indizien für eine Interpretation des öffentlichen Diskurses in der Weimarer Republik als pessimistisch vorgestellt und ihre einseitige Auslegung kritisiert. Daran anschließend soll gezeigt werden, dass das diskursive Basisphänomen in der Weimarer Republik eine überraschend aktiv-gestalterische und damit auch optimistische Form der Zukunftsaneignung war, die allerdings in verschiedenen Varianten auftrat.

Π. Indizien des Pessimismus: Schreckensszenarien und Optimismuskritik Sowohl auf der use- als auch auf der mention-Ebene lassen sich deutliche Anzeichen für eine pessimistische Orientierung des Zukunftsdiskurses in der Weimarer Republik finden. Zum einen entwarfen Autoren aus allen politischen Lagern in jeweils verschiedenen Zusammenhängen pessimistische Zukunftsperspektiven, und zum anderen war die Ablehnung eines häufig mit den Attributen „seicht" und „leichtfertig" versehenen Optimismus weit ver22

) Die Unterscheidung von use und mention fällt nicht mit der von implizit und explizit zusammen. Man kann eine explizit optimistische Aussage machen, ohne zugleich etwas über den Optimismus zu sagen.

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breitet. Ob diese Indizien jedoch den Schluss zulassen, die Autoren seien pessimistisch gestimmt gewesen, hätten eine langfristige Entwicklung zum Schlechteren oder gar Deutschlands Untergang erwartet und keine Chance gesehen, eine Besserung zu bewirken, gilt es zu überprüfen. Betrachtet man die pessimistischen Aussagen über die Zukunft in den führenden Tageszeitungen und Zeitschriften, so fällt auf, dass die geäußerten Niedergangserwartungen nie allumfassend gemeint waren. Vielmehr hatten sie immer den Status von Szenarien, die nur eine mögliche Entwicklung darstellten und deren Reichweite eingeschränkt war. Diese Einschränkungen erfolgten entweder zeitlich oder durch den Bezug des Pessimismus nur auf ein Teilsystem oder aber durch die Einbindung des Negativszenarios in eine Alternativstruktur, in der es die abzuwendende Option bildete. In zeitlicher Einschränkung diagnostizierte man zwar einen Niedergang Deutschlands, aber man betrachtete diesen nicht als Weg in den Untergang, sondern als ein temporäres Phänomen, an dessen Ende die Wende zum Guten stehen würde. Das gilt selbst noch für die konservative Neue Preußische Zeitung, die vor allem von realen und emotionalen Revolutionsverlierern gelesen wurde. Hier verfasste von 1919 bis 1926 der Berliner Pfarrer Paul Conrad Leitartikel zu den Jahreswechseln, in denen er die Gegenwart als schweren Leidensweg begriff. Mit hoher Gleichförmigkeit sah der protestantische Geistliche Jahr für Jahr „den Höhepunkt unserer Leiden, den Tiefpunkt unserer Erniedrigung noch nicht erreicht" und prognostizierte: „Wir werden weiter in den Abgrund gleiten."23) Nichtsdestoweniger forderte er, wie zunehmend auch andere Autoren der Neuen Preußischen Zeitung, trotz langfristig negativer Aussichten nicht verzagt und verzweifelt, sondern hoffnungsvoll in die Zukunft zu sehen. Denn wenn man dem gegenwärtigen Niedergang ein verzweifeltes „Dennoch!" aus der Gewissheit des Glaubens entgegenstelle, werde eines Tages auch die Erlösung kommen.24) 23

) [Paul] Conrad: Zum neuen Jahr, in: Neue Preußische Zeitung, Morgenausgabe, 31.12.1922. Auch Oers.·. Neujahr, in: Ebd., Abendausgabe, 31.12.1919; Ders.: Zum neuen Jahr, in: Ebd., 31.12.1920; Ders.: Zum neuen Jahr, in: Ebd., Abendausgabe, 31.12.1924. Conrads Leidensprophezeiungen waren in ihrer Drastik kaum zu überbieten. Siehe Ders.: Neujahr, in: Ebd., Abendausgabe, 31.12.1925: „Denn wie dunkel auch die Zukunft vor uns liegen mag; wie wenig wissen wir von dem, was uns das neue Jahr bringen und was es uns nehmen wird, - unter all den Ungewißheiten, die uns lahmen, ist uns eins ganz gewiß, so sicher wie der Tod: das ist das Leid. Riesengroß steigt es aus dem Nebel des neuen Jahres heraus: das Kreuz. Durch Mühe und Arbeit, durch Not und Jammer, durch Herzeleid und Herzbrechen wird es hindurchgehen. Die härtesten Kämpfe werden wir durchkämpfen müssen. Politisch, kirchlich, wirtschaftlich, sozial wird es ein bitteres Jahr werden. Unzählige Tränen werden geweint, viele Existenzen vernichtet, unser Vaterland und unsere Kirche von Wind und Wogen geschüttelt werden. Bis an die Seele werden uns die Wasser gehen. Mehr als einmal werden wir aufschreien wie die zu Tode erschreckten Jünger auf dem See Genezareth: Herr, hilf uns; wir verderben!" 24 ) Wie Anm. 23 sowie [Anonymus]: Dennoch, in: Ebd., Beilage, 5.1.1919. Selbst die Monarchisten gaben trotz aller widersprechenden Anzeichen die Hoffnung auf eine Restauration der Monarchie in der Weimarer Republik nicht auf. Arne Hofmann: „Wir sind das

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Ein ähnlicher, zeitlich noch begrenzterer Pessimismus sprach aus zwei Umfragen, die die rechtsliberale Deutsche Allgemeine Zeitung (DAZ) und die konservativen Süddeutschen Monatshefte Mitte der zwanziger Jahre durchführten. So freute sich die Redaktion der DAZ, dass die Antworten von 18 Personen aus verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens auf die Frage, ob in der Gegenwart „das Absterben von Altem oder der Anfang zu etwas Neuem" überwiege, „mehr positiv als negativ" ausfielen: Einhellig lehnten der ehemalige Pfarrer und Philosoph an der Technischen Hochschule in Stuttgart Christoph Schrempf, der konservative Münchener Romanist Karl Voßler, der Altphilologe Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, der Philosoph Hermann Graf Keyserling, der Theoretiker und Praktiker des „Neuen Bauens" Bruno Taut, der naturalistische Schriftsteller Hermann Sudermann, der Schauspieler Fritz Kortner und der nach seiner Beteiligung am Kapp-Putsch aus der SPD ausgeschlossene ehemalige Oberpräsident von Ostpreußen August Winnig die Perspektive des Untergangs ab.25) Deutschland befinde sich durch die Kriegsniederlage und den anschließenden Friedensschluss höchstens in einer Phase des Niedergangs, aber diese sei zeitlich begrenzt und führe keinesfalls in die Katastrophe. Genauso stimmten drei Jahre später die 51 Autoren in den Süddeutschen Monatsheften, „bei aller sonstigen Verschiedenheit, fast ausnahmslos darin überein, daß man von einem Rückgang der deutschen Leistungen in der Gegenwart im ganzen nicht reden kann; daß die natürlichen Rückschläge der ersten Nachkriegsjahre bereits überwunden sind oder überwunden werden."26) In der Anfangsphase der Republik gingen auch der Weimarer Koalition nahestehende Publizisten in den entsprechenden Periodika davon aus, dass es zunächst einige Zeit dauern werde, bis man den „Weg nach oben" wieder finde.27) Diese „schweren Jahre" wurden im Berliner Tageblatt und in der Germania allerdings bereits als Anfang des rauhen und steinigen Aufstiegs konzipiert. Demgegenüber spielten die politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten für die Argumentation der antirepublikanischen Kräfte eine alte Deutschland, wie es war ..." Der „Bund der Aufrechten" und der Monarchismus in der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. [u.a.] 1998, S. 77 f. Ahnlich urteilt auch Martin Kohlrausch: Der Monarch im Skandal, Berlin 2005, Kapitel 6. 25 ) Ende und Neubeginn. Eine Neujahrsumfrage, in: Beilage der Deutschen Allgemeinen Zeitung, 1.1.1924 und Untergang oder Neuaufstieg. Nachträge zu unserer Neujahrsumfrage, in: Ebd., 6.1.1924. 26 ) So die Zusammenfassung des Historikers und Herausgebers Karl Alexander von Müller. Deutsche Zukunft. Vorbemerkung, in: Süddeutsche Monatshefte 24/1926, S. 169 f. Eine umfassendere Zusammenstellung von Aussagen deutscher Intellektueller zur Zukunft mit gleicher Tendenz findet sich in Friedrich Koslowsky (Hrsg.): Deutschlands Köpfe der Gegenwart über Deutschlands Zukunft. Mit einem Geleitwort v. Graf Rüdiger von der Goltz, Berlin/Zürich 1928. 27 ) So die Überlegungen des Reichskanzlers Joseph Wirth: Zur Jahreswende, in: Germania, Abendausgabe, 31.12.1921; oder Hugo Preuß: Volksgemeinschaft?, in: Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, Morgen-Expreß-Ausgabe, 1.1.1924.

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grundsätzlich andere Rolle. Denn für sie bildete der temporäre Niedergang die notwendige Vorbereitung für die revolutionäre Erneuerung. Zu jedem Jahreswechsel, vor allem aber in der Anfangs- und der Endphase der Republik, erwartete die Rote Fahne eine Verschärfung der Klassengegensätze und der kapitalistischen Ausbeutung, die dann die akut revolutionäre Situation heranreifen lassen würde. 28 ) Auf der anderen Seite meinten die Nationalsozialisten in ihren Publikationsorganen, der Grad „der schon erreichten allgemeinen kulturellen Zersetzung, der Vernichtung von Glauben und Sitten, von Liebe und Verbundenheit, der Zerstörung unserer Auffassungen von Ehre, Gehorsam und Treue" sei bereits beängstigend weit fortgeschritten und der totale Zusammenbruch nur noch eine Frage der Zeit. 29 ) Diese Katastrophe war jedoch nicht als endgültiger Zusammenbrach Deutschlands gedacht, sondern vielmehr zugleich als Moment der „nationalen Wiedergeburt" beziehungsweise des deutschen „Erwachens". 30 ) Die Steigerung von Not und Elend in diesen pessimistischen Szenarien wurde somit im Rahmen einer revolutionären Zukunftserwartung optimistisch umgedeutet, weil sie die Begründung für das Kommen der revolutionären Transformation lieferte. Diese bereits von den Zeitgenossen diagnostizierte „Katastrophenhoffnung" 31 ) äußerte sich besonders deutlich in der in der Endphase der Republik immer einflußreicher werdenden rechtsrevolutionären Zeitschrift Die Tat, deren Chefredakteur Hans Zehrer schon 1929 forderte, man müsse „den Mut haben, in entscheidenden Dingen manchmal die Not zu wollen, um an die Not-Wendigkeit zu gelangen." 32 ) Aber auch die Rote Fahne begrüßte in religiös anmutender Sprache die Erwartung, die Bourgeoisie werde „das Elend ins Grauenhafte steigern", denn „dann wird kommen die große Welten-Jahreswende, da das Untere zu oberst gekehrt wird, da die Gedrückten und Niedrigen ihr Haupt erheben werden." 33 ) Während die pessimistischen Visionen von Deutschlands Untergang hier also eigentlich nur Deutschlands temporären Niedergang bezeichneten, der

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) Siehe zum Beispiel [Anonymus]: Jahreswende!, in: Die Rote Fahne, 31.12.1922. ) Adolf Hitler: Neujahrsbotschaft, in: Nationalsozialistische Parteikorrespondenz, 30.12.1932. 30 ) Siehe zum Beispiel [Kurt Bauer-Ose] Teja: Völker, hört die Signale!, in: Der S.A.Mann. Wochen-Beilage zum Völkischen Beobachter, 31.12.1930; Adolf Hitler. Nationalsozialisten vorwärts! Ein neues Kampfjahr beginnt!, in: Völkischer Beobachter, 1./2.1.1931. Siehe auch Ders.: Mein Kampf, Bd. 1: Eine Abrechnung, 3. Aufl. [1. Aufl. 1925] München 1928, S. 349. 31 ) So kritisch der sozialdemokratische Ordinarius für Philosophie Ernst von Aster. Die Krise der bürgerlichen Ideologie, in: Die Neue Rundschau 42.2/1931, S. 1-13, 13. 32 ) Hans Zehrer. Achtung, junge Front! Draußenbleiben, in: Die Tat 21.1/1929/30, S. 2540, 39. 33 ) [Anonymus]: Jahreswende, in: Tribüne der proletarischen Frau. Beilage der Roten Fahne, 1.1.1921. 29

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sich zum Wiederaufstieg wenden sollte,34) gab es auch wirkliche Untergangsvisionen. Diese bezogen sich jedoch nicht auf Deutschland oder die Welt als Ganzes, sondern vielmehr auf einzelne gesellschaftliche Subsysteme, die untergehen und durch andere ersetzt werden sollten. Vor allem die politisch rechts und links außen stehenden Kräfte prognostizierten immer wieder den nahe bevorstehenden Untergang des Parlamentarismus und der liberal-kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Wer auf der politischen Linken jedoch Pessimist in Bezug auf das Schicksal des Kapitalismus war, war damit eigentlich optimistisch gestimmt, denn „das Ende des Kapitalismus wird eben nicht das Ende der lebendigen Menschheitsgeschichte sein, sondern der Anfang einer neuen höheren Phase der lebendigen Menschheitsgeschichte."35) Auch auf der politischen Rechten, wo die Tat das Ende beziehungsweise den Zusammenbruch des Kapitalismus und das Ende der Parteien herbeirief,36) begriff man die Gegenwart als notwendige Systemtransformation. So hieß es 1930 nüchtern in einem Leitartikel: „Weltuntergang? Bolschewismus? Völliges Chaos? [...] Es wird in Deutschland um ein neues System gerungen, um weiter nichts."37) Dies galt auch noch dann, wenn die Analysten der Tat die „partiellen" Krisen zu einer „Krise des ganzen Systems" verdichteten, die nur durch die „Liquidierung des alten Deutschland" behoben werden könne.38) Diese radikale Haltung verband die Revolutionäre mit den Nationalsozialisten und allen anderen Kräften, die eine vollständige Ersetzung der republikanischen oder der kapitalistischen Ordnung forderten. Dadurch sollte Deutschland nicht geschwächt, sondern vielmehr gestärkt werden. Denn, wie Alfred Rosenberg 1930 erklärte, „die heutige Form der Republik hängt wie ein eitriger Schorf um den Körper der Nation, sie ist nicht reformfähig, sondern reif, abgeworfen zu werden."39) M ) Stellvertretend für diese Perspektive noch einmal Hans Zehrer. An der Wende, in: Die Tat 24/1932, S. 433-451, 433: „Jede Entwicklung, die sich ihrem Ende nähert, kündigt das dadurch an, daß sie sich beschleunigt und daß sie ihr Tempo steigert. Sie rollt ab wie ein abwärts fahrender Wagen, der in Mitte des Gefalles die Bremsen überwindet und nun seinem Ziel entgegendonnert, ohne daß er noch aufgehalten oder abgelenkt werden kann. Die deutsche Entwicklung hat die Mitte des Gefalles im Jahre 1930 hinter sich gelassen. Seitdem rollt sie in wachsender Beschleunigung ab. Sie hat in diesem Jahre ihre größte Beschleunigung erfahren. Wir sind heute vor dem Ziel. Die bisherige Entwicklung ist beendet. Der Weg ist bis zum Ende durchlaufen. Es geht nicht mehr darüber hinaus." 35 ) Alfred Braunthal: Das Ende des Kapitalismus und die bürgerliche Nationalökonomie, in: Die Gesellschaft 6.1/1929, S. 389-407, 407. Siehe auch die Artikel des marxistischen Wirtschaftsanalysten der Weltbühne Thomas Tarn [Pseud. v. Fritz Sternberg]: KrisenEnde?, in: Die Weltbühne 27.1/1931, S. 949-951. 36 ) So in Ferdinand Fried [Pseud. v. Ferdinand Friedrich Zimmermann]: Gestaltung des Zusammenbruchs, in: Die Tat 23.2./1931/32, S. 957-986; und Hans Zehrer: Das Ende der Parteien, in: ebd. 24/1932, S. 68-79; sowie Ferdinand Fried [Pseud. v. Ferdinand Friedrich Zimmermann]: Das Ende des Kapitalismus, Jena 1931. 37 ) [Anonymus]: Wohin treiben wir?, in: Die Tat 23.1/1930/31, S. 329-354, 354. 38 ) [Anonymus]: Deutschlands Weg aus der Einkreisung, in: ebd. 22.2/1930/31, S. 929956, 932. 3 ») Alfred Rosenberg: 1930, in: Völkischer Beobachter, 1./2.1.1930.

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Während die zeitlich und systemisch begrenzten Pessimismen insbesondere von systemkritischen Intellektuellen formuliert wurden, waren die pessimistischen Szenarien in einer anderen rhetorischen Funktion universal anschlussfähig: Republikaner wie Antirepublikaner konstruierten sie als abzuwendende Schreckensbilder in einem radikal dichotomischen Zukunftsmodell. Damit verfolgten sie vor allem den Zweck, die eigenen Anhänger zur Aktivität zu motivieren. So nutzte beispielsweise der linke Sozialdemokrat Heinrich Ströbel den totalen Untergang als Drohung, um die Notwendigkeit zum Zusammenschluss der Arbeiterklasse zu betonen, aus dem dann eine glorreiche Zukunft folgen sollte.40) Desgleichen muss die Erklärung des Verlegers Eugen Diederichs, der Volkskörper werde todkrank werden, als Versuch gelesen werden, genau diese Krankheit zum Tode abzuwenden.41) Während sich die katholische Germania und das liberale Berliner Tageblatt solcher Szenarien zunächst enthielten, dramatisierten auch sie spätestens ab 1930 ihre politische Rhetorik und malten eine mögliche Herrschaft des Nationalsozialismus oder des Bolschewismus als Drohung an die Wand, um zu ,besonnener' und .vernünftiger' politischer Aktivität zu motivieren.42) In ähnlicher Weise entwarfen auch Sozialdemokraten entweder das Schreckbild einer nationalsozialistischen Herrschaft, in der alle Menschenrechte abgeschafft und die Arbeiter versklavt würden, oder aber das eines ebenso unmenschlichen Sowjetdeutschland.43) Derart abschreckende Negativszenarien nutzten auch die Nationalsozialisten und die Kommunisten, um den eigenen Anhängern die Notwendigkeit des Kampfes zu verdeutlichen. So hatte schon Rosa Luxemburg während des Krieges im Anschluß an Engels' Formulierung „Sozialismus oder Barbarei" klargemacht, dass die Alternative zwischen dem „Untergang jeglicher Kultur" und dem durch den Kampf des Proletariats herbeizuführenden „Sieg des Sozialismus" bestehe.44) Analog dazu meinten die Nationalsozialisten, wenn die Entwicklung so weitergehe wie bisher, stehe „eine unabsehbare Zeit der

Siehe Heinrich Ströbel: Die Rettung!, in: Die Weltbühne 15/1919, S. 429-434. ) Siehe Eugen Diederichs: Zukunftsgedanken, in: Die Tat 15.1/1923/24, S. 209 f. ) Zum Beispiel Ε. B.: Das alte und das neue Jahr, in: Germania, 1.1.1931; T[heodor] W[olffj: Besseres neues Jahr! ,Salve!' mit Vorbehalt, in: Berliner Tageblatt und HandelsZeitung, Morgenausgabe, 1.1.1931; Felix Pinner: In dritter Potenz. Deutsche Sonderkrise Weltkrise - Politische Krise, in: Ebd., 9. Beiblatt, 1.1.1931. 43 ) Siehe zum Beispiel Wilhelm Hoegner: Der Volksbetrug der Nationalsozialisten. Auf dem Weg ins Dritte Reich, Berlin 1930; Peter Garwy: Sowjetdeutschland?, Düsseldorf 1932. Eine ähnliche Funktion erfüllte Kurt Tucholskys Szenario eines möglichen Rechtsputsches. Kurt Tucholsky: Was wäre wenn?, in: Die Weltbühne 18.1/1922, S. 615-620. 44 ) Junius [Pseud, v. Rosa Luxemburg]: Die Krise der Sozialdemokratie, 2. unveränd. Aufl. Zürich 1917, S. 13: „Wir stehen also heute, genau wie Friedrich Engels vor einem Menschenalter, vor vierzig Jahren voraussagte, vor der Wahl: entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur, wie im alten Rom, Entvölkerung, Verödung, Degeneration, ein großer Friedhof. Oder Sieg des Sozialismus, d.h. der bewußten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den Imperialismus und seine Methode: den Krieg."

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Barbarei, ja eine Rückentwicklung der Menschheit mit kaum faßbarem Elend, jahrhundertelanger Rückschritt" bevor. 45 ) Auch bei einem Sieg des Kommunismus drohe der Untergang der menschlichen Kultur in eine „barbarische Tyrannei auf der einen Seite und eine materialistische Vertierung des Menschen auf der anderen". 46 ) Ohne die nationalsozialistische Bewegung, so hatte Alfred Rosenberg schon 1929/30 erklärt, müsse die Bürger also „vollkommene Hoffnungslosigkeit ergreifen". 47 ) Links wie rechts stellten diese düsteren Szenarien jedoch nur eine mögliche Entwicklung dar und wurden von der eigenen Siegeszuversicht eingeschränkt, die im Folgenden noch deutlicher herausgearbeitet werden wird. Angesichts dieser optimistischen Grundorientierung liegt es näher, die Szenarien nicht als reale Befürchtungen, sondern vielmehr als rhetorische Konstruktionen zur Handlungsmotivation zu verstehen. Dafür sprechen vor allem die häufigen Konditionalformulierungen, die Katastrophe werde kommen, wenn man nicht dieses oder jenes tue. Wie eingangs erwähnt bilden neben den pessimistischen Szenarien auf der Kse-Ebene die Ablehnungen optimistischer Zukunftserwartungen auf der mention-Ebene das zweite wichtige Indiz für eine pessimistische Stimmung des politisch-kulturellen Diskurses in der Weimarer Republik. Intellektuelle aller politischen Lager übten auf verschiedenen Abstraktionsniveaus mit je verschiedenen Intentionen deutliche Kritik an optimistischen Zukunftsaneignungen. In der Anfangsphase der Republik bemühte man sich auf republikanischer Seite und hier insbesondere in der Germania, die Hoffnungen zu dämpfen und hielt es noch 1923/24 für gefahrlich, wenn die „kleinen Anzeichen einer Besserung einen Optimismus im deutschen Volke weckten, zu dem wahrhaftig keine Veranlassung" vorliege. 48 ) Darüber hinaus erwarteten die Anhänger der Republik eine langsame und evolutionäre Verbesserung und wandten sich daher gegen den Optimismus und Utopismus der radikalen Kräfte von rechts und links. So argumentierten Theodor Wolff und Karl Kautsky nach den Wahlerfolgen der NSDAP in metaphorischer Harmonie vehement gegen die „Goldmacherverheißungen" der Nationalsozialisten, aber auch der Kommunisten, und wiesen deren zu großen Umgestaltungsoptimismus mit dem Verweis auf Vernunft und Realismus zurück. 49 ) Vor allem innerhalb des rechten oder linken Lagers diente der Optimismus- oder Utopismusvorwurf den moderateren Kräften zur Abgrenzung gegenüber den radikalen. So wandten sich nicht nur die Sozialdemokraten gegen die revolu45

) Hitler. Neujahrsbotschaft. ) Ders:. Neujahrsaufruf, in: Völkischer Beobachter, 172.1.1932. ) Rosenberg: 1930. 48 ) Anton Höfle: Bringt das neue Jahr die Entscheidung? Neujahrsbeleuchtungen, in: Germania, 1.1.1924. 49 ) Wfolff]: Besseres neues Jahr; Karl Kautsky: Aufgaben 1932. Hitler darf nicht an die Macht! - Die Sozialdemokratie muß siegen!, in: Vorwärts, 1. Beilage, 1.1.1932. 4i

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tionäre Naherwartung der Kommunisten, sondern auch Konservative kritisierten den Umgestaltungsoptimismus der rechtsrevolutionären „Heißsporne".50) Dabei richteten sie sich jedoch nicht grundsätzlich gegen den Optimismus, sondern nur gegen bestimmte Ausprägungen, die von den ihrer Ansicht nach natürlichen Entwicklungsgesetzen absahen. Den Optimismusvorwurf ließen die Extremisten nicht auf sich sitzen, sondern gaben ihn mit anderer Akzentuierung an die republikanischen Intellektuellen und Parteien zurück. Während der Weltwirtschaftskrise warf beispielsweise die Rote Fahne den „bürgerlichen und sozialdemokratischen Propheten" vor, zu optimistische Annahmen über einen bevorstehenden Aufschwung zu unterhalten: Da dieser ausgeblieben sei, hätten sich die „hellseherischen Dunkelmänner" als „Scharlatane" erwiesen.51) Die Kritik der Kommunisten bezog sich auf die optimistische Annahme, die Lage werde sich ohne tiefgreifende Veränderungen verbessern. Den gleichen Vorwurf erhoben ihre rechtsrevolutionären Gegner: Die Nationalsozialisten stilisierten sich bereits zu Beginn der zwanziger Jahre als im Kampf gegen jene befindlich, „die durch trügerische Hoffnungen das Volk erneut einlullen wollen, die aus Liebe für den ruhigen Augenblick die Augen vor dem Chaos der Zukunft verschließen".52) Immer wieder warf Hitler den anderen Parteien ihre angeblich zu optimistischen Prognosen vor und triumphierte, wenn „das Schicksal und die Tatsachen auch dieses Mal unsere offiziellen politischen Propheten Lügen" gestraft hätten.53) Auch andere rechtsrevolutionäre Autoren wie Edgar Julius Jung und Rudolf Pechel in der Deutschen Rundschau verwarfen den „seichten Optimismus" und „Trost der Zagen: es wird schon nicht so schlimm werden" sowie den „selbstgefälligen Optimismus" der politisch Verantwortlichen.54) Es wäre jedoch falsch, die zitierten Autoren aufgrund ihrer expliziten Äußerungen gegen den Optimismus für Pessimisten zu hal50 ) Siehe zum Beispiel die Äußerungen der Chefredakteure des Vorwärts und der Neuen Preußischen Zeitung: Friedrich Stampfer: Zu neuen Ufern! Weltwirtschaft/Weltschicksal, in: Vorwärts, Morgenausgabe, 1.1.1931; Georg Foertsch: Zur Jahreswende, in: Neue Preußische Zeitung, Morgenausgabe, 1.1.1921. 51 ) [Anonymus]: Bahnt den sozialistischen Ausweg, in: Die Rote Fahne, 1.1.1933. Vgl. auch die Kritik von Friedrich Stemthal an Oskar Hergt, dieser habe sich schon im Ersten Weltkrieg zu optimistisch geäußert, so dass man ihm nicht trauen dürfe. Friedrich Sternthal: Jubiläum eines Propheten, in: Die Weltbühne 24.1/1928, S. 110 f. 52 ) [Anonymus]: Unsere Aufgabe für 1923, in: Völkischer Beobachter, 3.1.1923. 53 ) Hitler: Neujahrsaufruf. Konkreter wurde Alfred Rosenberg, indem er Jahre zurückliegende, optimistische Äußerungen demokratischer Reichstagsabgeordneter über die wirtschaftliche Entwicklung einer radikalen Kritik unterzog. Alfred Rosenberg: Die Krisis des Gesamtsystems von Weimar, in: Nationalsozialistische Monatshefte 2/1931, S. 385-399, 388; vgl. auch als Kritik des Brüningschen Optimismus: Hans Zehrer: Der Entscheidung entgegen, in: Die Tat 24/1932, S. 193-203, 193. 54 ) Rudolf Pechel: Und dennoch!, in: Die Deutsche Rundschau 182/1920, S. 457^63, 463 und Edgar Julius Jung: Reichsreform, in: ebd. 217/1928, S. 101-112, 110. Eine Ablehnung des „seichten" Optimismus und der „Hoffnungsseligkeit" findet sich auch bei E[wald] von Kleist-Schmenzin: Reformation oder Revolution? Berlin 1930, S. 24.

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ten. Denn sie kritisierten jeweils nur bestimmte Ausprägungen des Optimismus: Die Moderaten kritisierten einen realitätsfernen Optimismus, der von den Entwicklungsgesetzen absehe, und die Radikalen einen passiven Optimismus, der sich auf die notwendige Entwicklung verlasse, ohne über konkrete Handlungskonzepte zu verfügen. Dass dieser Kritik des Fortschrittsoptimismus letztlich eine gestaltungsoptimistische Zukunftsaneignung zugrunde lag, die zudem eine Konsensgrundlage jenseits der Versäulung der politischen Kultur der Weimarer Republik darstellte, kann ein Blick auf Auseinandersetzungen der Intellektuellen über die Angemessenheit des Optimismus verdeutlichen.55) Diese Debatte kristallisierte sich nach dem Ersten Weltkrieg unter anderem um Oswald Spenglers Ablehnung des Fortschrittsoptimismus. Spengler vertrat in seiner einflussreichen „geschichtsmorphologischen" Studie die Position, dass die Geschichte des Abendlandes nicht als „ein uferloses Hinauf und Vorwärts" begriffen werden könne, sondern der Raum für Hoffnungen und Gestaltungsmöglichkeiten eingeschränkt sei.56) An die Stelle des „so soll es sein", des trivialen und albernen Optimismus der Weltverbesserer wie Bebel und Bellamy wollte er „das unerbittliche: So ist es und so wird es sein" stellen.57) Mit dem Titel seines opus magnum Der Untergang des Abendlandes prägte Spengler ein Schlagwort, das in der Weimarer Republik eine ungeheure diskursive Wirkungsmacht entfaltete. Seine Omnipräsenz in den Debatten wurde sowohl von den Zeitgenossen als auch in der Forschungsliteratur als Indiz für einen weit verbreiteten Pessimismus verstanden.58) Diese Interpretation ist aus zwei Gründen nicht zutreffend. Erstens konzipierte Spengler den Untergang des Abendlandes als einen über mehrere Jahrhunderte dauernden Entwicklungsprozess und erwartete an dessen Beginn zunächst Deutschlands Aufstieg zur Weltmacht unter einem neuen Cäsar.59) Diese temporäre Aufstiegsvision verträgt sich genauso wenig mit einer pessimistischen oder gar fatalistischen Interpretation wie die akti55

) Als Beispiel für diese Debatte siehe die Kritik an H.G. Ernst Wells bei Troeltsch: Die Krise des Historismus, in: Die Neue Rundschau 33.1/1922, S. 572-590, 576. 56 ) Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes, 13. Aufl. München 1997 [1. Aufl. 1923], S. 54 f. 57 ) Ders.: Der Mensch und die Technik, München 1931, S. 4, 6. 58 ) Siehe zum Beispiel Steinhausen: Verfallsstimmung, S. 183; Kurt Nowak: Die antihistoristische Revolution. Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, in: Horst Äenz/Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Emst Troeltschs. Troeltsch-Studien 4/1987, S. 133-172, 154. 59 ) So bereits Michael Pauen: Pessimismus, Geschichtsphilosophie, Metaphysik und Moderne von Nietzsche bis Spengler, Berlin 1997, S. 182; und Barbara Beßlich: Faszination des Verfalls. Thomas Mann und Oswald Spengler, Berlin 2002, S. 8. Daher bezeichnet Walter Müller-Seidel Spenglers Pessimismus auch als vordergründig. Walter MüllerSeidel: Krisenjahre des Humanismus: Wissenschaften und Literatur in der Weimarer Republik, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 1998 (1999), S. 73134, 108.

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vistisch-gestalterischen Texte, die Spengler nach dem Untergang veröffentlichte.60) Darüber hinaus wehrte sich Spengler mit einem Artikel in den Preußischen Jahrbüchern explizit gegen das Label des „Pessimismus". Dort erklärte er, er habe den Titel Untergang des Abendlandes nur gewählt, um dem „platten Optimismus des darwinistischen Zeitalters" zu widersprechen und statt „Untergang" könne man ebenso gut „Vollendung" sagen: „Nein, ich bin kein Pessimist. Pessimismus heißt: keine Aufgaben mehr sehen. Ich sehe so viele noch ungelöst, daß ich fürchte, es wird uns an Zeit und Männern für sie fehlen."61) Zweitens ist die Wirkung des Untergang des Abendlandes kein Indiz für eine pessimistische Zeitstimmung, weil das Buch zwar zumeist gegen die Intention des Autors als pessimistisch und fatalistisch verstanden wurde, aber die Reaktion aus genau diesem Grund nahezu einhellig negativ ausfiel. In seiner Zusammenfassung der Rezensionen sah Manfred Schröter bereits 1922 eine wesentliche Ursache für die universale Spengler-Kritik in „dem allgemeinen Missverständnis jener peripheren, oberflächlichen Auffassung", die den „Zeitgehalt nur in ganz äußerlicher Reaktion auf die Ereignisse zu einer pessimistischen ,Untergangsprophezeiung' verflacht und vergröbert" habe.62) Um Spengler vor seinen Kritikern in Schutz zu nehmen, betonte er daher, dass dessen Zukunftsvision „keine Spur von pessimistischer, lähmender Schwäche oder Todesfurcht an sich" habe.63) Schröters Befund ist auch für die weitere Spengler-Rezeption in Weimar zu bestätigen. Egal wie nahe die Autoren Spengler politisch standen, wie sehr sie sich von seiner historischen Gesamtkonstruktion beeindruckt zeigten, und wie er den traditionellen Fortschrittsoptimismus ablehnten: Einhellig verurteilten sie den unterstellten Pessimismus und die daraus abgeleitete fatalistische Haltung. So betonten Arthur Moeller van den Bruck und Hans Freyer - trotz ihres allgemeinen Lobes - in Abgrenzung von Spengler die Chancen der , jungen Völker zum

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) In Preußentum und Sozialismus beispielsweise entwarf Spengler ein enthistorisiertes „Preußentum" als erfolgversprechende Geisteshaltung der Zukunft und propagierte einen „von Marx gereinigten" Sozialismus. Oswald Spengler: Preußentum und Sozialismus, München 1920. Siehe zum optimistischen Zukunftsversprechen des Preußentums auch Thomas Koebner: Die Erwartung der Katastrophe. Zur Geschichtsprophetie des ,neuen Konservatismus' (O. Spengler, E. Jünger), in: Weimars Ende, S. 350; Raimund von dem Bussche: Konservatismus in der Weimarer Republik. Die Politisierung des Unpolitischen, Heidelberg 1998, S. 123. Vier Jahre später verfasste Spengler zudem einen detaillierten Plan zum Neubau des Deutschen Reiches, der ebenso wie Spenglers Einmischung in konkrete Politik in den frühen 20er Jahren von einer gestalterisch-optimistischen Haltung zeugt. Oswald Spengler: Der Neubau des Deutschen Reiches, München 1924. Zu Spenglers politischem Engagement Paul Hoser: Ein Philosoph im Irrgarten der Politik. Oswald Spenglers Pläne für eine geheime Lenkung der nationalen Presse, in: VfZ 38/1990, S. 435458. 61 ) Oswald Spengler: Pessimismus?, in: Preußische Jahrbücher 184/1921, S. 73-84, 81 f. 62 ) Manfred Schröter: Der Streit um Spengler. Kritik seiner Kritiker, München 1922, S. 5. « ) Ebd., S. 11.

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Wiederaufstieg"64) beziehungsweise die Notwendigkeit, weiter zu hoffen und zu handeln: Denn „spätherbstliche Taten wollen ebenso getan sein wie frühlingshafte [...] Und keine Ahnung darum, wo wir stehen und wohin es mit uns geht, kann uns unsere Position als handelnde Gegenwart, kein Bewußtsein unserer Aufgabe kann uns das Wagnis der Tat ersparen oder verscherzen."65) Das zentrale Argument, das nicht nur radikale Aktivisten wie den sozialistischen Philosoph Otto Neurath und den konservativen Revolutionär Edgar Julius Jung, sondern selbst Thomas Mann zur Kritik an Spengler veranlasste, war die Überlegung, dass seine Geschichtskonstruktion zu einer fatalistischen und passiven Haltung führen könne.66) Damit richtete sich die Kritik gleichermaßen gegen den Pessimismus wie auch gegen den traditionellen Fortschrittsoptimismus, sofern dieser sich mit den Annahmen einer quasi naturgesetzlichen oder notwendigen Entwicklung verband. Weil die klassischen Formen des Optimismus und Pessimismus allgemein unter Passivitätsverdacht standen, suchte man überall nach Formen der gestaltenden Aktivität, die die Dichotomie überwinden sollten. So formulierte Friedrich Burgdörfer, der Direktor der Abteilung für Bevölkerungs-, Betriebs-, Landwirtschaftsund Kulturstatistik beim Statistischen Reichsamt, in der Endphase der Republik: „Unser Volk steht in Lebensgefahr. Untätiger Optimismus und lähmender Pessimismus wäre in dieser Lage gleich verhängnisvoll. Hoffnung auf Rettung kann nur im sittlich-ernsten Willen zur Tat gefunden werden."67) Auf der anderen Seite des politischen Spektrums hatte schon 1922 der literarische Aktivist und engagierte Pazifist Kurt Hiller die Überwindung von Optimismus und Pessimismus in der zukunftsgestaltenden Aktivität gefordert: „Folglich hat der Pessimismus so Unrecht wie der Optimismus; und zutreffend bleibt allein der Meliorismus - die Lehre, nein, nicht die Lehre, sondern der Vorsatz: die Welt besser zu machen als sie ist."68) Mit dieser Forderung und der Betonung des unbedingten Willens zur gestaltenden „Tat" formulierten diese beiden Autoren eine Position, die innerhalb des politischen Spektrums konsensfähig war.69) Sie bildete eine rhetorisch-semantische Brücke, über die M

) Arthur Moeller van den Bruck: Der Untergang des Abendlandes, in: Die Deutsche Rundschau 184/1920, S. 41-70, 70. «) Hans Freyer. Der Untergang des Abendlandes, in: Die Tat 11/1919, S. 304-308, 308. Otto Neurath: Der Anti-Spengler, München 1921, S. 8; Edgar Julius Jung: Die Herrschaft der Minderwertigen, 2. Aufl. Berlin 1930, S. 12; Thomas Mann: Von deutscher Republik. Gerhart Hauptmann zum 60. Geburtstag, in: Die Neue Rundschau 33.2/1922, S. 1072-1106, 1097. Zur anfänglichen Begeisterung und mühseligen Distanzierung Thomas Manns von Spengler siehe Beßlich: Faszination, S. 23-48. 67 ) Friedrich Burgdörfer: Volk ohne Jugend. Geburtenschwund und Überalterung des Volkskörpers. Ein Problem der Volkswirtschaft - der Sozialpolitik - der nationalen Zukunft, 2. Aufl. Berlin 1934, S. 490. 6S ) Kurt Hiller: Der Aufbruch zum Paradies, München 1922, S. 7. 69 ) Siehe zum Beispiel Steinhausen: Optimismus und Pessimismus; F. K.: Jahreswende, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 1.1.1926. Siehe auch: [Anonymus]: Zwischen zwei Notjah-

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man sich mit dem ideologischen Gegner verständigen konnte, und der Verweis auf sie konnte damit - wie oben gezeigt wurde - zugleich ein Mittel zur intellektuellen und politischen Abgrenzung werden. 1927 wurde in der Zeitschrift Die Tat, die nicht zufällig im Folgejahr ihren Untertitel von Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kultur zu Monatsschrift zur Gestaltung neuer Wirklichkeit veränderte, diese Haltung mit dem Slogan „Kulturbejahung gegen Untergangsprophetie und Fortschrittsoptimismus!" auf den Punkt gebracht.70)

III. Formen des aktiv-gestalterischen Optimismus in der Weimarer Republik Nach der bisherigen Untersuchung erscheinen die Begriffe Optimismus und Pessimismus zur Beschreibung der Zukunftsaneignungen in der Weimarer Republik als fragwürdig. Schließlich bestand für die Zeitgenossen die wesentliche Differenz nicht zwischen diesen beiden Begriffen, sondern vielmehr zwischen Aktivität und Passivität. Dennoch legt die Analyse der pessimistischen Äußerungen auf der use-Ebene und der expliziten Ablehnungen des Optimismus auf der mention-Ebene eine grundsätzlich optimistische und aktivistische Ausrichtung des politisch-kulturellen Diskurses in der Weimarer Republik nahe. Dabei bezog sich der Optimismus nur zum einen konkret auf das Kommen einer „neuen Zeit" beziehungsweise auf „Deutschlands Wiederaufstieg". Zum anderen äußerte er sich als grundsätzlicher Glaube an die Gestaltbarkeit menschlicher Lebensverhältnisse, politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Einrichtungen. Dieser Gestaltungsoptimismus zeigte sich eben vor allem in der doppelten Ablehnung von Fortschrittsoptimismus und Untergangsprophetie, die erfolgte, weil beide mit einer fatalistischen Haltung in Verbindung gebracht wurden. Innerhalb der optimistischen Grundstruktur des Diskurses, die man im gesamten politischen und intellek-

ren, in: Neue Preußische Zeitung, 1.1.1932; Otto Dibelius: Wir werden gefordert! Zum Jahreswechsel, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 1.1.1931; Hermann Wendel: Jahresende, Jahreswende, in: Vorwärts, Abendausgabe, 31.12.1926; Braunthal: Das Ende, S. 407; Karl Scheffler. Die Zukunft der Großstädte und die Großstädte der Zukunft, in: Die Neue Rundschau 37.2/1926, S. 521-536, 535. Ein wenig anders akzentuiert ist Adrien Turels Forderung nach einer Verschmelzung von Optimismus und Pessimismus, die er in kaum zu übertreffender gender-Metaphorik beschreibt. Es ging ihm darum, „wie auf den Geistesgebieten der Optimismus, dieses Aus-sich-heraus-aufjauchzend-Erobenide, und der Pessimismus, dieses Müd-demutsvoll-Ansaugende, wie die Virilität und die Feminität sich funktionell im Lebendigen notwendig versöhnen". Adrien Turel: Kurve der Menschheit, in: ebd. 30.2/1919, S. 912-934, 918 f. 70 ) Die Tat 19.1, Heft 6/1927, Innenumschlag.

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tuellen Spektrum findet,71) kann man jedoch verschiedene Formen und Intensitätsgrade des Optimismus unterscheiden, die von jeweils verschiedenen Begründungsstrategien abhingen. Protestantische und katholische Autoren stützen ihren optimistischen Glauben an Deutschlands Zukunft oder Wiederaufstieg häufig explizit auf das Vertrauen auf Gott. Aufgrund ihrer religiösen Heilsgewissheit benötigten sie zur Legitimation dieses Glaubens keine konkreten Indizien einer Besserung. So fragte der Vorsitzende des Zentrums Wilhelm Marx mit Verweis auf die enttäuschten Hoffnungen und die Inflation, was erst „das Jahr 1923 mit sich an Sorgen und Leid bringen" werde, um dann jedoch mehr Mut und Zuversicht zu fordern: „Weg also mit den lähmenden, hemmenden Grübeleien eines unfruchtbaren Pessimismus! Gott hat uns jetzt wunderbar geführt. Er wird uns auch künftig beschützen!"72) Genauso erklärte Reichspräsident v. Hindenburg 1932 in seiner ersten Rundfunkansprache seit 1925: „Möge keiner dem Kleinmut unterliegen, sondern jeder unerschütterlichen Glauben an des Vaterlandes Zukunft behalten. Gott hat Deutschland schon oft aus tiefster Not errettet; er wird uns auch jetzt nicht verlassen."73) Dementsprechend reagierte man in der Germania wie auch in der Neuen Preußischen Zeitung auf negative Entwicklungen oft mit einem trotzigen „Dennoch": „Aber es gibt ein Dennoch des Glaubens! Wir haben unser Volk dennoch lieb, wir glauben dennoch an seine Zukunft. Wir legen dennoch die Hände ans Werk, um auf den Trümmern des alten ein neues Haus zu bauen."74) Das Paradox dieses religiös fundierten Optimismus bestand darin, dass er höchste Zu71 ) Siehe als Beispiele Humboldt-Hochschule: Auf der Schwelle der neuen Zeit [Kundgebung der Humboldt-Hochschule (Berliner Volkshochschule) am Sonnabend, den 1. Februar 1919 im grossen Sitzungssaale des Abgeordnetenhauses in Berlin], Berlin 1919, S. 26; August Winnig: Editorial, in: Morgen. Ostpreußische Wochenschrift 1/1920, S. 1-7, 1; Friedrich von Bernhardt Vom Kriege der Zukunft. Nach den Erfahrungen des Weltkrieges, Berlin 1920, S. 236; Hermann Kranold: Was sollen wir denn tun? Betrachtungen über Deutschlands außenpolitische Lage, in: Die Neue Rundschau 30.1/1919, S. 405-419; Franz Oppenheimer. Der Staat und die Sünde, in: ebd. 37.1/1926, S. 1-18, 17; Erik Nölting: Der Sozialismus und die Kulturuntergangslehre, in: Die Gesellschaft 2.2/1925, S. 13-21, 21; Wilhelm von Kries: Politische Bilanz 1931, in: Die Deutsche Rundschau 230/1932, S. 1-6, 4; Fritz Stier-Somlo: Wege zur Neugestaltung des Reiches, in: ebd. 219/1929, S. 97-110 und 185-192, 191; Rudolf Hilferding: Unter der Drohung des Faschismus, in: Die Gesellschaft 9.1/1932, S. 1-12; Carl Stegmann/Hümai von Hinüber: Ein Jahrgang Entscheidung, in: Die Entscheidung 1/1929/39, S. 141 f.; Ludolf Haase: Die Auferstehung des Abendlandes, in: Die Nationalsozialistischen Monatshefte 2/1931, S. 135-139, 139. Dietmar Schirmers Unterscheidung der Nationalsozialisten von anderen politischen Gruppen durch „einen radikal und konkret auf den schließlichen Sieg bezogenen Optimismus" ist also fragwürdig. Die Unterschiede bezüglich des Optimismus waren gradueller Natur, und die entscheidenden Differenzen bestanden in Bezug auf die Frage, wie die Hoffnungen realisiert werden könnten. Vgl. Schirmer: Mythos, S. 237. 72 ) Wilhelm Marx: Mehr Mut! Eine Neujahrsbetrachtung, in: Germania, 31.12.1922. 73 ) Hindenburg an das deutsche Volk, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, Morgenausgabe, 1.1.1932. 74 ) [Anonymus]: Dennoch; siehe auch Peter Dörfler. 1919 [Gedicht], in: Germania, 1.1.1919.

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kunftsgewissheit mit gleichzeitiger Unkenntnis der konkreten Gestalt der Zukunft verband: Obwohl man sich der Rettung durch Gott sicher sein konnte, wusste man jedoch nicht, wie sie realisiert werden würde. Zudem resultierte aus dieser Rechtfertigung ein geringer Gestaltungsoptimismus, der weder revolutionäre noch reformerische Tätigkeit, sondern nur konkrete Arbeit in den jeweiligen Berufen nahe legte.75) Im Unterschied zur Neuen Preußischen Zeitung findet man aber in der katholischen Germania auch - wie in den anderen republikanischen Periodika den optimistischen Glauben, dass man sich bereits mit der Gründung der Republik auf dem richtigen, wenn auch schweren Weg nach oben befinde. 76 ) Dabei äußerten sich die Sozialdemokraten deutlich am optimistischsten. 77 ) Insgesamt spielte sich der Optimismus der Republikaner aber in verhältnismäßig langen Zeitdimensionen ab, da sie alle die „neue Zeit" als Produkt einer kontinuierlichen Entwicklung erwarteten, die höchstens durch Reformen zu beeinflussen sei und vor allen Dingen Zeit brauche. Zur Legitimation dieser Perspektive verwiesen sie immer wieder auf die bereits erreichten Erfolge der Republik. So erinnerte der Zentrumspolitiker Johannes Bell zum Jahreswechsel 1924/25 daran, dass die Aussichten 1923 noch viel schlechter gewesen seien und sich die Lage seitdem gebessert habe. 78 ) Auch 1926/27 sah man in der Germania „keinen Grund, mit Enttäuschung auf die innere Entwicklung zurückzuschauen und hinsichtlich der Zukunft in einen uferlosen Pessimismus zu verfallen." 79 ) Dieses Argumentationsschema wurde selbst nach dem Einsetzen der Weltwirtschaftskrise noch angewandt. So verwies der politische Leitartikler des Berliner Tageblatts Rudolf Olden auf die wesentlich schlechtere Situation vor sieben Jahren, um die positive Entwicklung der Republik zu unterstreichen und Hoffnungen für die Zukunft zu

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) Diese Haltung entsprach nicht nur der protestantischen Berufsidee, sondern auch einem katholischen Ethos von Dienst und Opfer. So warb das Zentrum zur Reichstagswahl am 1. Dezember 1924 mit dem Slogan „Durch Opfer und Arbeit zu Freiheit" auf einem Plakat, das einen überdimensionierten Arbeiter am Rhein bei Köln zeigt. Karsten Ruppert: Im Dienst am Staat von Weimar. Das Zentrum als regierende Partei in der Weimarer Demokratie 1923-1930, Düsseldorf 1992, Umschlaginnenseite. 76 ) Siehe Erich Dombrowski: Am Jahresende, in: Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, Abendausgabe, 31.12.1919; Hugo Preuß: Zum neuen Jahr. Politische Vernunft und vernünftige Politik, in: Ebd., Morgenausgabe, 1.1.1921; F.: Neujahrsglauben, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, Morgenausgabe, 1.1.1920. 77 ) Zum Beispiel Peter Behrens·. Neujahrsgruß allen Schaffenden!, in: Vorwärts, Morgenausgabe, 1.1.1919; Hans Gothmann: Wollen, bis unser Wollen siegt! [Gedicht], in: Ebd., Morgenausgabe, 1.1.1920; Parteivorstand [der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands]: An die Partei, in: Ebd., Morgenausgabe, 1.1.1921; Emile Vanderfelde: Neujahrswünsche aus Belgien, in: Ebd., Morgenausgabe, 1.1.1928. 78 ) Johannes Bell: Deutsche Regierung und Volksvertretung im neuen Jahr, in: Germania, Morgenausgabe, 1.1.1925. 79 ) [Anonymus]: An der Jahreswende, in: Ebd., Morgenausgabe, 1.1.1927.

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erzeugen. 8 0 ) Zur Unterstützung des Glaubens an eine kontinuierliche A u f wärtsentwicklung verwies man zudem auf die Fortschritte in Wissenschaft und Technik, die seit d e m Krieg erreicht worden seien. 8 1 ) N e b e n dieser an den klassischen Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts erinnernden Begründungsstrategie nahm man vor allem innerhalb der Sozialdemokratie historische Gesetzmäßigkeiten in Anspruch, um die Aufstiegserwartungen zu begründen. 8 2 ) Auch nach d e m Einsetzen der Weltwirtschaftskrise und den Wahlerfolgen der N S D A P behielten die moderaten Kräfte diesen Optimismus in ihren öffentlichen Stellungnahmen bei und argumentierten zugleich g e g e n den radikaleren Umgestaltungswillen der rechten und linken Extremisten. 8 3 ) Deren Optimismus nahm in der Endphase der Weimarer Republik zu, weil er in reziprokem Verhältnis zur ihrer Stabilität stand. N a c h d e m sich die revolutionäre Naherwartung in der Anfangsphase nicht erfüllt hatte, hatten sich die Kommunisten zwar während der relativen Stabilisierung der Republik auf ein längeres Warten eingestellt, aber nach d e m Einsetzen der Weltwirtschaftskrise schien die Weltrevolution wieder näher zu rücken: „Seit einem halben Jahrzehnt wurde eine revolutionäre B e w e g u n g nicht mehr mit so

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) Rudolf Olden: Zum neuen Jahr - Mut! Das Vermächtnis Stresemanns, in: Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, Abendausgabe, 31.12.1929. 81 ) Siehe zum Beispiel Bz.: Die neue Zeit. Länder der Zukunft, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, Morgenausgabe, 1.1.1928; H. St.: Das erste Vierteljahrhundert. Rückblicke und Ausblicke, in: Germania, 1.1.1926; oder Max Preis: Tagebuch aus dem Jahre 1921, in: Ebd., 1.1.1921. Der populäre Technikdiskurs war ohnehin von einem optimistischen Glauben an die kontinuierliche Aufwärtsentwicklung geprägt. Dies zeigt Hans Praesenv. Der Weg voran! Eine Bildschau deutscher Höchstleistungen. Mit einem Geleitwort von Hugo Eckener, Leipzig 1931; als weiteres Beispiel des Technikoptimismus siehe die Photographien deutscher technischer Leistungen in Koslowsky: Deutschlands Köpfe. Daneben mag es zwar auch rückwärtsgewandte Technikfeindschaft gegeben haben, aber der mainstream der Technikkritik stand auf dem Boden der Moderne und wollte sie lediglich anders gestalten. Siehe dazu Thomas Rohkrämer: Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880-1933, Paderborn u.a. 1999, v.a. S. 24-32. 82 ) Siehe z.B. [Anonymus]: Zum neuen Jahr. 1920, in: Vorwärts, Morgenausgabe, 1.1.1920; [Anonymus]: Der Weg zum Sieg. Die deutsche Arbeiterbewegung an der Jahreswende, in: Ebd., Morgenausgabe, 1.1.1925; Karl Kautsky: Was verspricht das neue Jahr?, in: Ebd., 1.1.1929. 83 ) So Otto Wels: Hier ist die Einheitsfront, in: Vorwärts, Morgenausgabe, 1.1.1932; Rudolf Hilferding: Unter der Drohung des Faschismus, in: Die Gesellschaft 9.1/1932, S. 1-12; Ludwig Kaas: 1932. Jahr der Not - Jahr der Sammlung!, in: Germania, 31.12.1931; Heinrich Brüning: Aufbau, nicht Zerstörung! Neujahrsgedanken 1931, in: Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, Abendausgabe, 31.12.1930; Heinrich Brüning: Zerstören? Nein, erhalten und verbessern! Neujahrsgedanken 1931, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, Abendausgabe, 31.12.1930. Wilhelm Groener: Zum Neuen Jahre, in: Ebd., Morgenausgabe, 1.1.1932; Oskar Stark: Die große Illusion, in: Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, Morgenausgabe, 2.1.1932. Selbst der DDP-Politiker Erich Koch-Weser, der angesichts der Entwicklung seiner Partei allen Grund zum Pessimismus gehabt hätte, erklärte, er „schwanke nach schwierigen Jahren zwischen dem Pessimismus der Erfahrung und dem Optimismus des Glaubens", wehrte sich aber gegen den Gedanken von Deutschlands Untergang. Erich Koch-Weser: Und dennoch aufwärts! Eine deutsche Nachkriegs-Bilanz, Berlin 1933, S.281.

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grandioser Ouvertüre eröffnet wie die revolutionäre Bewegung von 1930."84) Deutschland, so hieß es in der gleichen Ausgabe, habe „seit 1923 nicht vor einer so aussichtsreichen revolutionären Perspektive" gestanden.85) Die Gründe für den Optimismus der Kommunisten lagen zum einen in den ökonomischen und politischen Schwierigkeiten der Republik und zum anderen im Glauben an die geschichtsmächtige Kraft des Proletariats und die Macht der Partei.86) Diese Begründungsstruktur des Optimismus teilten die Nationalsozialisten. Auch ihre Zukunftshoffnung resultierte aus dem negativen Bezug auf die Entwicklung der Republik und dem positiven auf die Entwicklung der Bewegung: „Denn je mehr die heutigen Machthaber auf allen Gebieten versagen, um so schlagender wird dadurch nicht nur die Unfähigkeit ihrer Politik, sondern auch die Unrichtigkeit ihrer tragenden Ideen bewiesen. Und dann ergibt sich für uns eine weitere Zuversicht aus dem ersichtlichen Wachsen unserer eigenen Bewegung."87) So stilisierten die Nationalsozialisten die „Bewegung" als „Deutschlands letzte Kraft, letzte Hoffnung und letzte Zukunft", 88 ) die bereits in der Gegenwart die neue Zeit vorwegnehme und so einen realen Hoffnungsgrund bilde.89) Diese strukturelle Gemeinsamkeit im Begründungsschema des Optimismus soll jedoch weder die ideologischen Differenzen noch die unterschiedlichen Intensitätsgrade der Hoffnung von Nationalsozialisten und Kommunisten überdecken. Zwar gingen beide Parteien davon aus, geschichtsmächtige Kräfte zu sein, die Zukunft bereits in der Gegenwart vorwegzunehmen und sie aktiv gestalten zu können, aber in Bezug auf die Frage, wann die Realisierung der neuen Zeit erfolgen werde, zeigten sich die Nationalsozialisten deutlich sicherer. Bei den Kommunisten wurden schon Ende 1921 die Hoffnungen auf eine nahe Revolution angesichts der erlebten Rückschläge gedämpft. Da sich Sinowjews Prophezeiung von 1919, schon ein Jahr später werde 84

) Paul Braun: Die revolutionären Perspektiven des Jahres 1930, in: Die Rote Fahne, 1.1.1930. Schon in der Anfangsphase waren es gerade die negativen Anzeichen einer Schwäche der Republik, die die revolutionären Hoffnungen der Kommunisten bestärkten. [Anonymus]: Nach einem Jahre, in: Ebd., 30.12.1919. Zum Problem der Revolutionäre in nicht-revolutionärer Zeit siehe: Klaus-Michael Mallmann: Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Darmstadt 1996, S. 18 u. passim. 85 ) [Anonymus]: Das Jahr des großen Umschwungs, in: Die Rote Fahne, 1.1.1930. 86 ) [Anonymus]: Nach einem Jahre, in: Ebd., 30.12.1919; Was will der Spartakusbund, in: Ebd., 14.12.1918; [Anonymus]: 1921. Das Jahr der Entscheidung, in: Ebd., Morgenausgabe, 1.1.1921; [Anonymus]: Im neuen Jahr: Schließt die Einheitsfront, in: Ebd., Sonntagsausgabe, 31.12.1922. 87 ) Adolf Hitler: An alle Nationalsozialisten! Parteigenossen! Antisemiten!, in: Völkischer Beobachter, 1.,2.,3.1.1927. Siehe auch: [Anonymus]: Um die Zukunft, in: Der S.A.-Mann. Wochenbeilage zum Völkischen Beobachter, 31.12.1931. 88 ) Hitler: Neujahrsbotschaft; siehe auch: Rosenberg: 1930. 89 ) J. Berchtold: Kampfjahr 1931, in: Der S.A.-Mann. Wochen-Beilage zum Völkischen Beobachter, 31.12.1930.

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„ganz Europa kommunistisch sein", nicht bewahrheitet habe, hieß es in der Roten Fahne, müsse man sich wahrscheinlich auf die „ungünstige Möglichkeit" einer „langen Epoche schweren Ringens" einstellen.90) In Erinnerung an die erst gut zehn Jahre zurückliegenden Fehlprognosen wurde zu Beginn der 30er Jahre die revolutionäre Naherwartung der Kommunisten daher immer durch die Angabe notwendiger Bedingungen eingeschränkt. So werde die Revolution nur kommen, wenn das geeinte Proletariat den Kampf richtig führe,91) und auch noch in der Weltwirtschaftskrise erinnerte man häufig an Lenins Diktum, dass es für den Kapitalismus keine ausweglosen Situationen gebe. 92 ) Demgegenüber nahm sich der Optimismus der Nationalsozialisten deutlich sicherer aus. Hitlers Neujahrsansprachen waren nicht von Konditionalsätzen geprägt, sondern vielmehr von der Einnahme eines imaginären Standpunktes in der Zukunft - nach der Realisierung der nationalsozialistischen utopischen Erwartung - , von dem aus er dann die gegenwärtigen Entwicklungen analysierte und bewertete.93) So erklärte er 1927/28, dass die Nationalsozialisten zwar gegenwärtig von allen Seiten kritisiert würden, aber „daß dereinst wenigstens die Nachwelt wahrheitsgemäß gestehe, daß in der Zeit der allgemeinsten Verworfenheit, Korruption und Lüge eine Schar von Menschen ohne Rücksicht auf augenblicklichen Vorteil oder Nachteil fur die wirklichen Interessen unseres Volkes mutig eingetreten ist."94) Selbst nach den Verlusten der Nationalsozialisten bei den November-Wahlen 1932 versuchte Hitler nicht, diese in die nationalsozialistische Zukunftsaneignung zu integrieren, sondern behauptete schlicht vom Standpunkt der Zukunft mit großer Sieges90

) Der von Kurt Leinhardt gezeichnete Artikel war allerdings explizit als Diskussionsbeitrag gekennzeichnet. Kurt Leinhardt: Worum es geht, in: Die Rote Fahne, 30.12.1921. " ) [Anonymus]: 1925-1926, in: Ebd., 1.1.1926; [Anonymus]: 1931!, in: Ebd., 1.1.1931; Paul Braun: Am Vorabend weltgeschichtlicher Entscheidungen. Die internationalen Perspektiven des Jahres 1931, in: Ebd., 1.1.1931. 92 ) Siehe ebd.; sowie Ernst Thälmann: Volksrevolution über Deutschland. Rede auf dem Plenum des ZK. der KPD. 15.-17. Januar 1931, hrsg. v. ZK. der KPD, Düsseldorf 1931, S. 23; Fritz Sternberg: Der Niedergang des deutschen Kapitalismus, Berlin 1932, S. 399. 93 ) Siehe z.B. Adolf Hitler: An alle Parteigenossen!, in: Völkischer Beobachter, 1.1.1926. Auf diese Struktur der nationalsozialistischen Zukunftsaneignung weist schon Ekkehard Barsch hin im Rahmen seines Versuchs, den Nationalsozialismus als politische Religion zu interpretieren: „In der Antizipation einer spezifisch qualifizierten Zukunft wird die Gegenwart von der Position der Zukunft - geradezu aus der vorweggenommenen Zukunft zurückblickend - wahrgenommen." Claus-Ekkehard Barsch: Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiöse Dimension der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hiüer, München 1998, S. 329. 94 ) Adolf Hitler: Der Siegesmarsch des Nationalsozialismus 1927, in: Völkischer Beobachter, 1.1.1928. Auch in der Beilage Der S.A.-Mann wurde immer darauf verwiesen, dass die gegenwärtigen Leiden in der Zukunft mit Sicherheit belohnt und den Mitgliedern der S.A. als den „Trägern und Gestaltern deutscher Zukunft" ein Denkmal gesetzt werden würde. Berchtold: Kampfjahr; [Anonymus]: „Du sollst das Schicksal deines Volkes ändern helfen!", in: Der S.A.-Mann. Wochen-Beilage zum Völkischen Beobachter 5./6.1.1930.

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gewissheit: „Das Jahr 1932 wird einst in der Geschichte unserer Bewegung als ein großer und erfolgreicher Abschnitt unseres Kampfes gelten." 95 ) Dass dieses optimistische Versprechen einer baldigen fundamentalen Erneuerung die Nationalsozialisten attraktiv machte, bemerkten nicht nur republikanische Kräfte. 96 ) Auch die Kommunisten sahen darin einen wesentlichen Faktor für den Erfolg der NSDAP und versuchten daher, diesen Optimismus zu demontieren: „Aber hinter den starken Worten der Hitler und Goebbels verbirgt sich dort wirklich siegesgewisse Macht, die Sicherheit des Erfolges? Nationalsozialisten wissen, daß dies nicht der Fall ist." 97 ) Das begründete die Rote Fahne durch eine umständliche Analyse von Goebbels' Artikel zum Jahreswechsel im Angriff und wertete die Unsicherheit der Nationalsozialisten zugleich als Indiz für den bevorstehenden kommunistischen Sieg. An Stellen wie diesen, wo die Zukunftsaneignungen der politischen Gegner reflektiert und kritisiert wurden, 98 ) zeigt sich die hohe Relevanz, die der Einnahme der richtigen Haltung zur Zukunft in der Weimarer Republik zukam. Die Frage nach dem Verhältnis von Optimismus und Pessimismus erweist sich somit nicht nur deshalb als berechtigt, weil die Begriffe in der Forschung immer wieder zur Beschreibung von Stimmungslagen eingesetzt werden, sondern auch weil sie den Zeitgenossen wichtig waren. Denn diese glaubten nicht zu Unrecht, dass die Formen der Zukunftsaneignung und nicht nur die Inhalte der Zukunftsvorstellungen ihre Überzeugungskraft und Attraktivität beeinflussten.

IV. Fazit: Gestaltungsoptimismus als Kommunikationsgrundlage Die Analyse der Strukturen des politisch-kulturellen Zukunftsdiskurses in einflussreichen Zeitungen und Zeitschriften der Weimarer Republik stellt somit die Ableitung von Stimmungen aus den ökonomischen und politischen Begebenheiten im Allgemeinen sowie die eingangs zitierten Deutungen der Weimarer Republik im Besonderen in Frage. Den Zukunftsdiskurs kennzeichnete weder eine pessimistische Untergangsstimmung noch die Ambivalenz von Machbarkeitswahn und Kulturpessimismus, 99 ) sondern vielmehr 95

) Hitler: Neujahrsbotschaft. ) Siehe oben Anm. 49. ) [Anonymus]: Kommunismus oder Faschismus!, in: Die Rote Fahne, 1.1.1931. 9S ) Siehe zum Beispiel auch Fritz Borinski: Revolution des 20. Jahrhunderts - Revolution von rechts?, in: Neue Blätter für den Sozialismus 2/1932, S. 387-392; Thomas Murner [Pseud. v. Karl von Ossietzky]: Zehrer und Fried, in: Die Weltbühne 28.2/1932, S. 771775, 773. ") Dies gilt, wenn man „Kulturpessimismus" als die Position versteht, dass sich die Welt zwangsläufig zum Schlechten entwickeln wird. Bereits Fritz Stern weist jedoch in seiner 96

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eine in allen politischen Lagern und intellektuellen Milieus nachweisbare optimistische Grundhaltung. Diese bestand zum einen aus der Hoffnung auf Deutschlands Wiederaufstieg und seine große Zukunft und zum anderen aus dem Glauben an die grundsätzliche Veränderbarkeit der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Auf der use-Ebene zeigte sich der Optimismus zunächst in vielfältigen und intensiven Hoffnungsbekundungen. Daneben hatten die pessimistischen Visionen immer nur den Status von Szenarien, die zeitlich, systemisch oder in einer Alternativkonstruktion eingeschränkt waren. Auch die häufigen Ablehnungen des Optimismus auf der mention-Ebene dürfen nicht als Indikatoren einer pessimistischen Stimmung gelesen werden. Vielmehr kritisierten die Zeitgenossen optimistische Zukunftsaneignungen immer dann, wenn sie nicht durch realistische Handlungskonzepte abgestützt waren. Welche Konzepte zur Verbesserung führen würden, war zwischen moderaten und radikalen Publizisten jedoch umstritten. Während erstere ihren Gegnern vorwarfen, von den natürlichen Entwicklungsgesetzen abzusehen und utopischen Weltverbesserungsideen anzuhängen, konterten letztere, die moderaten Kräfte verließen sich auf eben diese gesetzmäßigen Entwicklungen, anstatt ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Beide Seiten nahmen dabei eine aktivgestalterische Haltung für sich in Anspruch, die sie gleichermaßen gegen Fortschrittsoptimismus und Pessimismus richteten. Diese Haltung bildete eine Konsensgrundlage jenseits der oft hervorgehobenen Versäulung der politischen Kultur in der Weimarer Republik. Um der negativen Konnotation von Detlev Peukerts Begriff „Machbarkeitswahn", den er vor allem auf die Tätigkeit der wissenschaftlichen Experten in der Zwischenkriegszeit bezog, zu entgehen, wurde der allgemeine Glaube an die Möglichkeit der Verbesserung der Welt hier als „Gestaltungsoptimismus" bezeichnet. Er sprach aus den Texten nahezu aller am politisch-kulturellen Diskurs beteiligten Gruppen und zeigte sich auch und gerade in der Inflation der Krisendiskurse, in denen nicht nur die allgemeine Verschlechterung der Situation beschworen, sondern vor deren Hintergrund vielmehr der eigene Weltverbesserungsplan präsentiert wurde.100) Das Herausarbeiten dieses weit verbreiteten Gestaltungsoptimismus, der konsensuellen Abgrenzung von Fatalismus und Passivität sowie der allgemeinen Inanspruchnahme der „wirklichen" und weltverändernden „Tat" soll

Studie zur germanic ideobgy darauf hin, dass auch Kulturpessimisten wie Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Arthur Moeller van den Bruck utopische Visionen entwickelten, wie der Untergang abgewendet werden könne. Fritz Stem: The Politics of Cultural Despair. A Study in the Rise of Germanic Ideology, Berkeley/Los Angeles/London 1961, S. xi-xiii, xx, 267-269. 10 °) Siehe dazu ausführlicher Rüdiger Graf. Die „Krise" im intellektuellen Zukunftsdiskurs der Weimarer Republik, in: Moritz FöWmer/Rüdiger Gra/(Hrsg.): Die „Krise" der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt a.M. 2005, S. 77-106.

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jedoch nicht über die wesentlichen Differenzen innerhalb des politischkulturellen Diskurses der Weimarer Republik hinwegtäuschen. Der Gestaltungsoptimismus bildete vielmehr die gemeinsame Grundlage, auf der dann Dissens überhaupt erst möglich wurde.101) Schon innerhalb des basalen Optimismus zeigten sich verschiedene Intensitätsgrade des Glaubens an „Deutschlands Wiederaufstieg" und an die Möglichkeit, ihn durch die eigene Aktivität herbeizuführen. Diese resultierten aus unterschiedlichen Begründungsstrategien. Während der religiös fundierte Optimismus eine hohe Zukunftsgewissheit mit gleichzeitiger Unsicherheit über ihre konkrete Gestalt verband, ging der republikanisch-evolutionäre Optimismus von einer längerfristigen Entwicklung zur neuen Zeit aus. Demgegenüber standen die revolutionären Naherwartungen auf der extremen Rechten und Linken, die in der Endphase der Republik vor allem auf der Rechten ein deutlich höheres Maß an Sicherheit aufwiesen. Hier deuten sich die wesentlichen Differenzen an, an denen sich die gestaltungsoptimistischen Geister schieden: Würde die „neue Zeit" das Produkt einer kontinuierlichen Entwicklung oder einer Revolution sein? Wie lange würde es bis zu ihrer Realisierung dauern? Welche Handlungsstrategie war am vielversprechendsten? Über diese Fragen stritten Intellektuelle und Publizisten aus allen politischen Lagern mit einer Vehemenz und Radikalität, die gerade in ihrem gemeinsamen Gestaltungsoptimismus gründete.

•οι) Die konstitutive Bedeutung der Übereinstimmung für die Entstehung von Meinungsunterschieden zeigt Donald Davidson: On the Very Idea of a Conceptual Scheme, in: Inquiries, S. 183-198, 196 f.: „meaningful disagreement [...] depends entirely on a foundation some foundation - in agreement". Eine ähnliche Position folgt auch aus Gadamers Hermeneutik. Siehe Hans-Georg Gadamer: Vom Zirkel des Verstehens (1959), in: Wahrheit und Methode, Bd. 2: Ergänzungen, Register, 2. Aufl. Tübingen 1993, S. 57-65.

Historical Time and Future Experience in Postwar Germany Von Peter Fritzsche

One of the defining features of the political culture of the Weimar Republic was the conviction that Germany's future depended on a fundamental replenishment of experience that would then be available for conversion into political and social capital. Germany's defeat in the war and the outbreak of the Revolution created a deep sense of crisis which at once invalidated the political and social guidelines of the past and reconfigured the future as an open terrain for national renewal. There was no agreement on what Germany's capacities might be, but postwar intellectuals repeatedly cast themselves as intrepid explorers of new dimensions of time and space to reorient and reconceive the national subject. Born in the five years on either side of 1900, they endeavored to open up unrealized sources of politically sustainable time to carry Germans forward to a regenerate future or else they attempted to divest themselves of outmoded practices and assumptions in order to maximize their ability to repudiate the past and adapt to changing times; they excavated depth or played on surface. Although the testimonies of observers in the 1920s are not accurate in any verifiable way, they reveal how widespread was the premise in Germany, as opposed to France and Britian, that the postwar world needed to be and indeed could be remapped. It is this effort, first at casting aside older cognitive templates, then at retooling and recalibrating new ones, that characterizes much of the diverse cultural activity of the Weimar period, and it structures what I think are illustrative autobiographical sketches such as the one Ernst von Salomon (born in 1902) recollects in 1930 in his semi-autobiographical novel, Die Geächteten, about the new year 1918/19. A precocious young man at the end of World War I, someone who had not fought on the battlefield, but did encounter first-hand in Berlin the hardships of the homefront, Salomon sets the scene carefully. He is reading Walther Rathenau's recently published essay, Von kommenden Dingen (1917), though „die schmale Hoffnung auf eine Beseelung der Mechanik durch den Geist, schien mir eine nur magere Antwort." Throughout the night he read and read, and then he looked out the window of his room. „Die Kerze verglomm, und die klobigen Umrisse bis unter das Dach mit Mensch vollbepackter Mietskasernen, das Gewirr der Schlote und Kamine, die brüchigen Linien der Dächer lösten sich gespenstisch vor samtenem Hintergrund. Da stand ich auf und lehnte mich hinaus und schaute in die Schluchten der Hinterhöfe, in denen der Lärm des nahenden

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Tages schon hallte, und fühlte mich siebzehnjährig genug, um zu wissen, dass dies hier gebändigt werden müsse und nicht beseelt." 1 ) Not only are Rathenau's answers inadequate but the hard social facts seen from the window are, to Salomon, unsatisfactory because they do not contain spiritual substance. Salomon ultimately abandons the city for a journey of discovery, joining the Freikorps in the Baltic and eventually conspiring in the 1922 assassination of Rathenau himself, stations in his search for a new nation to be founded in the future. The scene recreates an exemplary cartography of Weimar Germany. In the first place, Salomon admits to the solidity of the metropolis. The tenement building has sufficient visual and aural presence-„Gewirr," „Lärm" - to defy Salomon's effort to imagine its spirituality. With its „klobige Umrisse" and „brüchigen Linien," the city he observes is also strongly disorienting. While Salomon is unmistakably repelled by the metropolitan spectacle, he also recognizes its overwhelming power. At the same time, however, Salomon makes sure readers do not mistake the spectacular for the real. Not only is he, in the retrospective account of 1930, searching for ways of making sense of the things outside his window in 1918, in this case by reading Rathenau's essay, but twelve years later he is writing his own manuscript to appeal to an as yet unrealized völkisch community. This literary intervention introduces the subjunctive tense that does not take the appearances of the city or the situation of postwar Germany for granted. It realizes the possibility of persuasion, mobilization, conversion. The message of Salomon's reading and writing is that there can be movement from the apparent to the possible. For all its sensory distinctiveness, the city's layout is not permanent and might vanish in an instant to be replaced with another kind of living community, which in this case belongs to the nation. Like many „new conservative" intellectuals in the Weimar years, Hans Freyer, for example, Salomon assumed that the imaginative act of reconceiving the nation was both a manifestation and an affirmation of the political will necessary to reach into and reshape the future. 2 ) Salomon maps out two very different versions of the contemporary moment which rehearse the longings and vexations of Germans in the years after World War I. He contrasts the disenchanted business of civilization with the enchanted possibilities of community, the ahistorical surface of the metropolitan present with the historical depth of the imagined nation. He connects the two locations, one which is behind the other, by the most tenuous means, a ghostly vision. The two worlds Salomon identifies in Die Geächteten are difficult to map on to each other. The one cannot be seen clearly or readily from the vantage of the other and travel between the two places depends on idiosyncratic conviction. This lack ') Ernst von Salomon·. Die Geächteten, Berlin 1930, pp. 196-198. ) See Wolfgang Hardtwig: Einleitung, Rüdiger Graf. Der theoretische Utopiediskurs in Deutschland 1900-1933 and Lutz Raphael: Sozialexperten in Deutschland zwischen konservativem Ordnungsdenken und rassistischer Utopie (1918-1945), all in: Wolfgang Hardtwig (ed.): Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, Munich 2002. 2

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of calibration foregrounds an epistemological crisis that is resolved by the strenuous, always unfinished work of tearing up old maps and redrawing new ones. Of course, while Salomon searched for the hidden nation, there were many other observers, also located in Berlin, who used the material culture of the city to dispell the illusions of German grandeur and to build more modest, streamlined lifeways. Both efforts of reconstruction in the present, however, rested on a massive invalidation of the past, and on a sharp differentiation between surface, which was the evidence of the new, profane organization of social life, and depth, the potential affiliations with political and cultural communities that were more or less desirable. The two registers of „surface" and „depth" appear again and again in contemporary texts, and they have been picked up by scholars to make sense of the cultural innovation of the Weimar years. Janet Ward, for example, argues that ,,New Objectivity" „constitutes this century's most concentrated systematization of surface, and has become one of European modernism's best-known visual codes ... to describe the modem urban, commercial experience."3) Although she is fully aware of the over-fiinctionalization of social relations embedded in Weimar Sachlichkeit, Ward holds out for a partial recuperation of the emancipatory aspects of the new urban formations envisioned in the 1920s. At the same time, it was precisely the overwhelming presence of the mass media and „the cult of distraction" which spurred counterpunctual searches for more durable communities of belief. As Martin Lindner and Ulrike Haß have argued, Weimar cultural projects on both the Left and the Right operated in the subjunctive mode in an attempt to recreate social intimacy and historical depth.4) Each register implied the other, and even if contemporaries valorized the utility of depth in radically different ways, they upheld a common vision of recent history in which the constant iteration of the new severed lines of historical continuity and valorized the radical possibilities of the future. In the end, the „delinquency of history" served as a predicate for wholesale social and political reconfiguration.5) The past was transformed more and more into something that once was, ,£inst," a categorical otherness that obscured its own internal temporal differentiations or its long-term evolutionary development and thus denied the past's potential pertinence to the 3

) Janet Ward: Weimar Surfaces. Urban Visual Culture in 1920s Germany, Berkeley 2001, p. 9. See also Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt 1994; and Inka Mülder-Bach: Der Umschlag der Negativitat. Zur Verschränkung von Phänomenlogie, Geschichtsphilosophie und Filmästhetik in Siegfried Kracauers Metaphorikder .Oberfläche', in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61/1987, pp. 359-373. 4 ) Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne, Stuttgart 1994; Ulrike Haß: Militante Pastorale. Zur Literatur der antimodernen Bewegungen im frühren 20. Jahrhundert, Munich 1993. 5 ) On the „delinquency of history," Peter Fritzsche: Landscape of Danger, Landscape of Design. Crisis and Modernism in Weimar Germany, in: Thomas W. KnieschelStephen Brockmann (eds.): Dancing on the Volcano. Essays on the Culture of the Weimar Republic, Columbia, S.C. 1994, pp. 29-46.

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here and now.6) The present was no longer the familiar place where trends of the past culminated, but the unknowable site where the new and unexpected were encountered. That it was Weimar Germans and not their wartime foes who imagined both the invalidation of the past and the possibilities of new life is not surprising given the collective nature of the war effort and the subsequent collapse of the social and political order that had pursued the war. Zusammenbruch was an extremely democratic experience. Reinhart Koselleck has pointed to the new knowledge that military defeat made possible. Historical thought, he argues, is a mix of extrapolation, which systematically imposes order onto diachronic events according to broad, discernible patterns, and interpellation, which introduces new materials and new perspectives to account for surprise. For Koselleck, methodological innovation is the product of interpretive interpellation. To ask the question why events happened the unexpected way they did is to privilege interpellation over extrapolation. For this reason, Koselleck concludes, it is the losers rather than winners who are most likely to introduce innovation into historical narration. Insofar as they reflect on what has passed, it is the losers who face the more serious „scarcity of answers" (Beweisnot) and who search for new causes to explain the occasion of disaster.7) Without explicitly saying so, Koselleck suggests what the role of history writing might be: to create or rebuild an active subject in acknowledged conditions of displacement. If the surprise of defeat is to be explained at all, and the defeated subject is to be reactivated, a new economy of experience needs to be put in place in order to revise ideas that had been taken for granted and to revaluate notions of contingency, possibility, and necessity. This revisionist labor is the precondition for renewed historical activity. For the winners, by contrast, revisionism is not nearly so urgent because victory privileged the extrapolation of the seemingly self-evident lessons of the historical process rather than the interpellation of new, worrisome elements. In contrast to the almost obsessive inquests into the state of the new that characterizes the Weimar period, cultural production in interwar France and Britain was much more affirmative, conservationist, and even nostalgic, faithful to the idea that the postwar world could be righted to its prewar state.8) There was little of this faith in Weimar Germany, which along with the Soviet Union, was most

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) See Reinhart Koselleck: Futures Past. On the Semantics of Historical Time, Cambridge 1985. ) Reinhart Koselleck: Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historischanthropologische Skizze, in: Christian Meierliöm Rüsen (ed.): Historische Methode, Munich 1988, pp. 42, 52. 8 ) Charles L. Mowat: Britain between the Wars, 1918-1940, Chicago 1955; Christoper Sftaw/Malcolm Chase (eds): The Imagined Past. History and Nostalgia, Manchester 1989; Patrick Wright: On Living in an Old Country. The National Past in Contemporary Britain, London 1985; Romy Golan: Modernity and Nostalgia. Art and Politics in France Between the Wars, New Haven 1995; and more generally Modris Eksteins: Rites of Spring. The Great War and the Birth of the Modem Age, Boston 1989. 7

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clearly committed to „the discovery of the future." 9 ) Koselleck's notion of Beweisnot is a useful way to make sense of the cultural activity of the Weimar period. It captures both the suspicion that previous systems of apprehension had become invalid and also the effort to uncover new materials and new methods. These are two distinct operations, but they are both premised on recognizing the proximity of danger and surprise and the malleability of the material world so that it is possible for the report on Not or scarcity to open up imaginative spaces for newly authoritative Beweise. Much of this ground has been surveyed by Helmut Lethen in his rich literary account of the „new objectivity," Verhaltenslehre der Kälte.10) But Lethen's emphasis on the whirlwind of dispersion obscures other motions, particularly the extensive search for means to reinsert innovation into the stream of history. The evidence summoned up to describe the loss of history was always an attempt to rebuild the subject in a new regime of necessity and possibility.

I. Surface Ernst von Salomon's apprehension of the dark shapes and uneven lines of the tenement, and his shock at its profane, material immediacy, was commonplace in the 1920s. With the end of the war and over the course of the inflation, social commentators described German society in relentlessly urban terms. The contemporary city stood for a sometimes mournful, sometimes appreciative loss of Germany's historical heritage. „Der Krieg begann mit begeisterten völkischen, dynastischen, selbstbewusste Ideen," commented Eugen Diesel, and „er geriet in die Welt der Maschinen, der Massen, der entfesselten Organizationen, der unkontrollierbaren Abstraktion," from which there was no escaping. 11 ) Although Georg Simmel died in 1918, his 1904 analysis of „mental life" in the metropolis proved paradigmatic, and it was Weimar-era critics who developed his initial inquiries into the purely functional social relations that came with the intense circulation of goods and people in the city and the invasive extension of money as the measure of all things. Indeed, the postwar city, and particularly Berlin, provided the most vivid evidence for the abrading, dispersive forces of modern life which seemed to shatter the social bonds of community and obstruct the transmission of cultural and historical tradition. While much of this commentary took up conventional anti-urban themes that would have been familiar to Wilhelmine audiences, the point was not so much to argue for or against the city, but to dramatize the utterly new situation in which Germany found itself and to insist on the profound force of technological change and on the extensive reach of

') Lucian Hölscher. Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt 1999. 10 ) Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. ") Eugen Diesel: Der Weg durch das Wirrsal, Stuttgart 1932, p. 182.

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mass culture. Commenting that „the construction of life is at present in the power of facts far more than of convictions," Walter Benjamin took the measure of the power of city views in the 1920s.12) Reports from the city, themselves a distinctive Weimar-era genre developed by Joseph Roth, Bernhard von Brentano, and Siegfried Kracauer, as well as Benjmain, were attempts to reconsider the power of material facts, the organization of society, and the nature of historical change.13) The typical caricatures of „Einst und Jetzt" in the mass media, the zeal among authors to identify and classify new phenomena, and the introduction again and again of unprecedented social types to illustrate the contemporary moment indicates just how compelling the idea of the new was in the 1920s. What is striking about the reports on the crisis of inheritance is the epochal nature of the break that observers believed they were seeing. They rendered the specific aspects of Germany's military defeat, political revolution, and economic disarray in extremely hypostatized terms in order to reveal the brand new historical ground encompassed by the city. Siegfried Kracauer provides one of the most evocative accounts of this modern condition, in which he links total mobilization with the oblivion of history. In his acclaimed 1932 essay, „Street Without Memory," Kracauer described the Kurfürstendamm as a new place because it incorporated „emptily flowing time in which nothing endures." A continuous train of new shops, new fashions, and new facades effaced any memory of what had been: „The new enterprises are absolutely new and those that have been displaced by them are totally extinguished." The prewar sandstone ornaments, themselves once completely up-to-date, now already „a bridge to yesterday," were simply knocked down.14) Amidst ceaseless renovation, the Kurfurstendamm stood for a city that lived entirely without the past. As a sandstone city, both literally and imaginatively, Berlin was not so much newly modern as eternally new. Although prewar feuilletonists had already grabbed at the image of the sandstone facades to indicate the transitory nature of metropolitan Berlin, Kracauer read into the mundane facelifts on the Kurfurstendamm a much more general concept of modern time, characterized by emptiness. „I know of no other city that is capable of so promptly shaking off what has just occurred," he con-

12 ) Walter Benjamin: One Way Street (Einbahnstraße), in: Illuminations. Trans. Harry Zohn. Edited and with introduction by Hannah Arendt, New York 1969, p. 61 (first in: Die literarische Welt, vol. 3, no. 46, 18 November 1927). 13 ) Joseph Roth·. Berliner Saisonbericht. Unbekannte Reportagen und journalistische Arbeiten 1920-39, ed. Klaus Westermann, Cologne 1984; Bernhard von Brentano: Wo in Europa ist Berlin? Bilder aus den zwanziger Jahren, Frankfurt a.M. 1981; Siegfried Kracauer. Straßen in Berlin und anderswo, Berlin 1987. 14) Siegfried Kracauer. Straße ohne Erinnerung, in: Frankfurter Zeitung, 16 Dec. 1932, reprinted in: Straßen in Berlin, pp. 19-24. Bernhard von Brentano, Kracauer's predecessor at the Frankfurter Zeitung, made the same observation earlier. See his: Berlin - von Süddeutschland aus gesehen, in: Wo in Europa ist Berlin?, pp. 96-97.

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eluded.15) As a result, city space was filled with a fortuitous, unconnected succession of events. Events gave the city a luminous, spectatorial quality, but tore away its history. Kracauer recoiled from the idea of a present that lacked any traction to move into the future, but he acknowledged the fundamental importance of the process of desacralizing the past, which relentlessly stripped away the false virtues of Wilhelmine Germany's elite culture and depleted the reservoirs of its class-based experience. There was no turning back: „Der Prozess führt durch das Ornament der Masse mitten hindurch, nicht von ihm aus zurück."16) This was the political significance of popular culture. First in the tawdry terms of the inflation economy in the first postwar years and later amidst the functionalist operations of stabilization later in the 1920s, Kracauer's notions were widely retailed throughout the Weimar period. Again and again, observers dramatized the break with the past by referring to the spectacle of mass entertainments and the utter ahistoricity of daily life. In his 1931 survey of the inflation, Hans Ostwald regarded main streets reduced to little more than „money streets" in which a „ground-floor architecture" of Juice bars," „gin shops," and „cigarette and tobacco stands" flourished against a transitional backdrop of „posters and paper scraps."17) Exchange (money, shops) corresponded to ephemerality (scraps), denying the accumulation of meaning or the orientation of history. The inflation had cheapened life not only by forcing people to sell their heirlooms but by turning treasures into junk as a result of curbside exchanges. What is more, the postwar crisis had allegedly reduced countless city people to salesmen, what Theodor Geiger later called ,£uftexistenzen'' who lived buying and selling in the most public and unadorned way.18) Memories of the war were repeatedly debased into the terms of the market. The widespread belief that veterans in fact constituted the great majority of postwar street vendors and that war cripples were simply hustlers and fakes, a familiar theme in Weimar film and theater, indicated how the patriotic effort of the Great War had steadily been drained of social meaning.19) Heroism was reduced to hucksterism, history to a hoax. The onset of monetary stabilization in 1924 cleared the streets of paper scraps and itinerant vendors, but images of circulation and traffic persisted.20) The now voluminous literature on the so-called „Golden Twenties" remains conscipi15 ) Photography, in: Siegfried Kracauer. The Mass Ornament. Weimar Essays, ed. Thomas Y. Levin, Cambridge 1995, pp. 57-58. 16 ) Henri Band: Mittelschichten und Massenkultur. Siegfried Krakauers publizistische Auseinandersetzung mit der populären Kultur und der Kultur der Mittelschichten in der Weimarer Republik, Berlin 1999, p. 60. n ) Hans Ostwald: Sittengeschichte der Inflation, Berlin 1931, p. 231. 18 ) Theodor Geiger. Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage, Stuttgart 1932, p. 86. ") The cynical conviction that war cripples were mostly husüers still circulated in Hans Fallada's 1937 account of the inflation, Wolf unter Wölfen, Berlin 2001 [1937], p. 62. 20 ) Lethen: Verhaltenslehren der Kälte, pp. 44-45.

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cously centered on the city. Guided by the flat, functionalist representations of New Objectivity and the arguments of critics such as Kracauer, scholars emphasize the spread of mass culture which was relentlessly „modern, ahistorical, [and] respectless" and the calibration of everyday life to a regime of constant movement. 21 ) Texts and images in Weimar's mass media themselves reported on the profound impact of the new metropolitan world throughout the 1920s, gaining their authority not so much by virtue of their versimiltude but by their wide consumption. The very habit of reading the paper, something almost every Berliner did each day, confirmed the „Anteilnahme an dem Riesenprozess." 22 ) The cumulative „reality effect" of newspapers, illustrated weeklies, and films was the non-stop production of the new. Readers were presented with the seemingly self-evident facts of „das neue Leben," „das Leben von morgen," and „die neue Zeit" by a generation of media-savvy experts, including science-fiction writer Hans Dominik, architect Adolf Behne, and Eugen Diesel, son of the engineer. The unconditional form of the future tense they deployed is astonishing. However fantastic their visions of the future appear in retrospect, they depicted a totally reconstructed landscape dominated by huge cities, busy thoroughfares, and disciplined, serried masses all enlarged on a vertiginous scale by the magnifying lense of Americanization. In an early version of the „International Style" of the 1950s, the specter of Americanization in the 1920s indicated that the future would be governed by transformations in technology in ways that owed little to past traditions or to the separate cultural developments of individual nations: the new subjects were masses, not Völker, their places were cities, not nations; and they composed lifestyles rather than cultures. The „neuen Lebensformen sind ganz unabhängig von der Parteirichtung," informed Eugen Diesel in 1931; „aus dem Geiste der Technik heraus marschiert ein... Lebenstil, dem wir alle verfahren sind, ob wir nun Kommunisten sind oder Nationalsozialisten." 23 ) The implication was clear to Hannes Meyer: „The fatherland fades away. We learn Esperanto. We become citizens of the world."24) What made the representation of the technological future so convincing was the way it seemed to colonize the private sphere, a space previously considered traditional and unchanging. Throughout the 1920s, the new world was consumed as fashion. Bubiköpfe and sheer, trim dresses, the form and arrangement of furni21 ) Anton Kaes: Die ökonomische Dimension der Literatur. Zum Strukturwandel der Institution Literatur in der Inflationszeit (1918-1923), in: Gerald D. Feldman et al (eds.): Konsequenzen der Inflation - Consequences of Inflation, Berlin 1989, p. 318. n ) Walter Schönbrunn: Das Leben von morgen, in: Reclams Universum, no. 36, 6 June 1929, p. 788. 23 ) Eugen Diesel: Das Land der Deutschen, Leipzig 1931, p. 222. See also Kurt Pinthus: Die Überfülle des Erlebens. 10 Jahre ununterbrochener Sensationen, in: Berliner Illustrirte Zeitung, no. 9, 28 Feb. 1925; and Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit, Berlin 1949 [1931]), pp. 79-84. u ) Hannes Meyer. The New World, in: Anton Kaes et al (eds.): The Weimar Republic Sourcebook, Berkeley 1994, p. 446.

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ture, the management of social relations with the opposite sex, and urban lifestyle in general were inscribed with the signs of historical difference.25) The prominent place given over to women in these images is important: the feminine sphere no longer marked the persistence of natural or timeless formations, but rather the wholesale transformation of each and every aspect of life. Moreover, proponents of „das neue Wohnen" quite self-consciously encouraged the destruction of the keepsakes of the past. Appalled by what he called „ein Fetischismus mit den Gegenständen," the architect Bruno Taut called for a thorough house-cleaning to rid the homes not only of old-fashioned „Vorhängen ... Teppichen, Vorlegern" but also commemorative „Photos und Souvenirs" and other „Erinnerungsreste." („Erinnerungen" of the nineteenth century had become „Reste" in the twentieth.)26) It was clear that ,4ie neue Wohnung," the title of Taut's 1924 book, which sold twenty-six thousand copies in four years, „ist erstens kein Speicher, zweitens kein Trödelladen und drittens kein Museum."27) The new architects worked energetically to create „spaces in which it is not easy to leave behind a trace," as Benjamin noted.28) There was something liberating about living without the past.,,Nach so vielen Jahren des Sterbens und Trauens, des Hasses und Kummers haben die Volksmassen heute in allen Ländern vorläufig das entgegengesetzte Leitmotiv: Leben wollen und alles andere vergessen," reported the Berliner Illustrirte Zeitung in a revealing 1930 article entitled „Volkstümlichkeit von Heute:" „Man freut sich seines gesunden Körpers bei Tanz und Sport." Even without real economic security or political stability, observers believed that the young generation had found individual ways to manage the crisis. „Sie können sich anpassen, umstellen," conmmented Viktor Dohna; „aufgewachsen in Krieg und Inflation," „sie sind herzlich unverwöhnt." By casting off the inheritance of the past, „den jungen Leuten" had found a refreshing self-reliance: „Ein paar Vokabeln fehlen in ihrem Lebens-Wörtebuch," Dohna discovered to his delight: „Etwas beiseite legen," „An später denken," „Standesgemäss," „Mann muss doch," „Man kann doch nicht."29) Novelists Irgmard Keun and Vicki Baum incarnated just this independence in their breezy, likable characters. For the sociologist Hellmuth Plessner, the improvised lifestyles of the 1920s provided a glimpse onto a new, reha-

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) The theme of the household as a site of historical differentiation is developed by James Chandler. England in 1819. The Politics of Literary Culture and the Case of Romantic Historicism, Chicago 1998, pp. 148-50. 26 ) Bruno Taut: Die neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin, Leipzig 1924, pp. 10-11. See also Adolf Behne: Neues Wohnen - neues Bauen, Leipzig 1927; and Janet Ward: Weimar Surfaces. Urban Visual Culture in 1920s Germany, Berkeley 2001, pp. 76-80. 27 ) Bruno Taut: Die neue Wohnung, p. 60. 28 ) Quoted in Ward: Weimar Surfaces, p. 73. 29 ) Viktor Dohne: Bei den jungen Leuten, in: Berliner Illustrirte Zeitung, no. 12,23 March 1930. See also Moritz Föllmer. Die Berliner Boulevardpresse und die Politik der Individualität in der Zwischenkriegszeit, in: Wolfgang Hardtwig (ed.): Ordnungen in der Krise. Politische Kulturgeschichte Deutschlands 1900-1933, in this volume.

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bilitative individualism. He argued that the solvent potentials and restless mobility of modern life had not unhappily withdrawn the conditions for returning home. To attempt such a return would result in a fixation on a single identity, refurbish reactionary politics, and inhibit the development of the individual person, who could live fully only as a traveller, an explorer, or, in other words, a metropolitan. Here Plessner anticipated the figure of the postmodern fugitive, whose terrain is the brand-new, completely mobilized global cityscape.30) The imaginative finish to Weimar's surface is intellectual labor of an impressive sort because it poses so insistently the possibility of the loss of history in the administration of things. Putting aside the question of how accurate was the media simulation of the present, the authority invested in the „now" and the „new" in these years is remarkable. The representation of surface put into question the self-evident nature of historical, national, and other collective meanings. In many ways, surface mirrors the Beweisnot to which Koselleck refers; the invalidation of once authoritative historical narratives. It was this work of invalidation that Kracauer, for one, found to be the most positive consequence of the spread of mass culture. However, Kracauer was also alarmed at the nontransformative nature of constant motion. The big-city public of clerks and employees, whom he studied with care, remained entirely distracted by the present moment, their interests and commitments pressed into the same sandstone forms as the city's facades. For Kracauer this meant that metropolitans were not able to take their bearings or understand their historical condition, and thus could not act in politically liberating ways.31) By the onset of the Great Depression, the glamour of the surface had little connection with the misery of people's lives: the Lebenskünstler of the 1920s had run out of tricks as Hans Fallada shows in Little Man, What Now ? Suddenly, the new person, apparently freed from the ballast of the past and invited to take pleasure in her new nakedness, stood isolated and defenseless. It is at this point that Kracauer's analysis is brought up short because he could not detect the means by which the masses might move beyond the „cult of distraction." The rehabilitative aspects of the loss of the inheritance of prewar German history are thus unwittingly submerged in a much more vexing problem of the loss of historical memory and historical subjectivity.

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) Irmgard Keun: Gilgi - eine von uns, Berlin 1931, and Das kunstseidene Mädchen, Berlin 1932; Vicki Baum: Stud. Chem. Helene Willfüer, Berlin 1928; Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Bonn 1924. See also Lethen: Verhaltenslehre der Kälte; Zygmunt Bauman: Life in Fragments, London 1995. 31 ) See Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland, Frankfurt 1930; and Band: Mittelschichten und Massenkultur.

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Π. The Subjunctive Tense Although the main thrust of Siegfried Kracauer's essays was to report on the annihilation of history in the economic and technical rhythms of the city, he left some clues of new life at the scene of devastation. In his 1930 essay, „Screams of the Street," Kracauer surveyed the „terror that is without an object" permeating the prosperous „streets in the west" precincts of Berlin: „their populace do not belong together and the atmosphere in which communal actions emerge is completely lacking in them." „Without content," „screaming out their emptiness," streets and buildings expressed the ahistorical and solitary aspect to the city. And yet Kracauer sensed the existence of other places: the noise of a „National Socialist gang" and the „penetrating odor" of Communist riots in a proletarian district, „Neukölln perhaps or Wedding."32) However, Kracauer stays put on the Kurfurstendamm and ends up missing the gang and the riot and does not make politically meaningful different registers of noise or different kinds of smell. Kracauer does not turn the comer because for him the presence of the new was manifest in the overpowering forms of mass culture in the center of the city. Focused as he was on the metropolis, Kracauer had surprisingly little to say about the vividness of the body of the nation, the trauma of defeat, or the experience of the war. His shopgirls crowded Potsdamer Platz and flocked to Haus Vaterland, but did not seem connected to larger political or social entities. Indeed, one of the reasons why Kracauer is on Potsdamer Platz is to stage just this sort of escape from the oppressive political hierarchies of recent German history. Yet on streets perpendicular to the Kiirfurstendamm there is evidence of other ways of thinking about Jetztzeit. Kracauer's offhand references to political gangs and proletarian riots stand in for a much broader effort in the Weimar period to search for new sources of collective power, which is the point of departure for Ernst von Salomon when he leaves Berlin. Weimar echoed with the „tap, tap, tap" of the surveyor on uncertain ground: the effort to take bearings and discover historical potential. Ernst Jünger, for one, was thrilled by the seemingly unexplored terrain that lay at his feet: .After laying dry for a long time, the once-secure precincts of order explode like gunpowder, and the unknown, the extraordinary, the dangerous become not only familiar but also permanent features." It was precisely the vast evidence of the detonations of the present that made the effort to insert innovation into the stream of history and to rebuild the social body of the nation conceivable. „This condition remains," Jünger concluded: „catastrophe is now the precondition for thought."33) Jünger 32

) S iegfried Kracauer: Schreie auf der Straße, in: Frankfurter Zeitung, 19 July 1930, reprinted, in: Strassen in Berlin, pp. 27-29. 33 ) Cited in Martin Meyer. Ernst Jünger, Munich 1990, 165. See also Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1992, pp. 14, 45-47.

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dramatized the present as a moment completely disconnected from the past in order to search for hithero unacknowledged techniques of mobility - Koselleck's Beweise. This was the work of interpretive innovation, or interpellation, designed to create for Germany a new, active historical subjectivity. Although the revolution of November 1918 contributed to a more adventurous sense of historical possibility, and the idea of future revolution was deployed promiscuously by the political Right as well as the Left, leaving the new republic itself in an extended state of suspension as a mere Provisorium - Salomon, for example, hoped to „make good" [nachholen] the revolution, not roll it back34) it was the world war and not the revolution which provided the most usable resources for recreating the national subject. And here Germans parted company with the „lost generation" of western Europe. For veterans and other patriots, the war was at once the site of the invalidation of the past and the point of departure for the future; to paraphrase Kracauer, „der Prozess führt durch den Krieg mitten hindurch, nicht von ihm aus zurück." With its new social and political formations and vast technological productions, the war was, along with the city, the primary form that the present took in Weimar Germany. Insofar as it was experienced as the extreme and violent intrusion of the new, the war offered the nation what I refer to as „techniques of mobility," the means to imagine and propose new historical itineraries. Three aspects stand out. In the first place, the war released a wave of historical revisionism. History lessons were turned over and over again as contemporaries tried to figure out the direction to history. The war also introduced the Volk as opposed to the state as the proper subject of German history. And finally, the jeopardy of war and the rigors of technological change prompted an often anguished quest for experience to endow the new historical subject with comparative advantages of capacity and expertise. The achievement of what Wolfgang Schivelbusch refers to as the „culture of defeat" was to think through the alterity of the present in order to initiate radical social and political departures.35) To discern an alternative social reality beneath the surface of the city was to take an energetic interest in the work of history. The „task" of searching for the „sources of the new" had the potential for realizing new contours of individual freedom, as Gerhart Pohl, editor of the leftist journal Neue Bücherschau, indicated,36) and the intensive scrutiny of city life was an effort to find new modes of sociability, but historical revisionism itself remained largely contained by the idea of the nation and the goal of rehabilitating the Volk. Not only had the war 34 ) See, for example, Peter Fritzsche. Breakdown or Breakthrough? Conservatives and the November Revolution, in: Larry Eugene ./ones/James Retallack (eds.): Between Reform, Reaction, and Resistance. German Conservatism in Historical Perspective, Providence 1993, pp. 299-328; and Salomon: Geächteten, pp. 159, 190. 35 ) Wolfgang Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918, Berlin 2001. 36 ) Quoted in Lindner: Leben in der Krise, p. 164.

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drawn people out of parochial lifewords and personal time zones but it had placed them into a shared time of the German nation. Ernst Jünger somewhat melodramatically conjured up „Bauernburschen, die vom Land ins Schreckenskabinett der Weltgeschichte fallen" in the years 1914-1918. 37 ) This does not mean that there was a single, authoritative version of the experience of the war, but rather a common effort to remember the war and to tease out its significance, which was why Salomon found himself reading Rathenau. „Unmitttelbar nach dem Ende des großen Krieges," wrote Hermann Hesse in 1932, „war unser Land voll von Heilanden, Propheten und Jüngerschaften, von Ahnungen des Weltendes oder Hoffnungen auf den Anbruch des Dritten Reiches." 38 ) What Ulrich Linse refers to as „barefoot prophets" grabbed repeatedly at the collars of postwar passersby to provide redemptive answers to the national fate. The Treaty of Versailles, more than any other event, was endlessly discussed. To America's best reporter, H. R. Knickerbocker, who travelled across Germany in 1930 and 1931, Weimar's citizens talked constantly about the world war, the Treaty of Versailles, and the aggression of France. 39 ) Even twelve years later, Versailles provided „eine der allgemeinsten Formeln einer populären political science," as Martin Geyer summarizes. This study extended well beyond the resentments of the nationalist Right.40) Itinerant lecturers repeatedly addressed topics of economic, political, and historical interest in the „Deutsche Abende" sponsored by local patriotic societies across Germany. The antisemitism of hundreds of racial associations had dramatic success capturing at least the attention of middle-class readers; followers of the notorious racist Theodor Fritsch handed out as many as 2 million leaflets between November 1918 and March 1919, and in just the single year 1920, the Deutschvölkischer Schutz- und Trutzbund claimed it had distributed a total of 7 642 000 pieces of propaganda. 41 ) Social Democrats also acquired a large, if evanescent readership in the first years after the war. The independent study of the political parameters of the postwar years is conspicuous and suggests the ways in which individuals choreographed their autobiographies in terms of a new study of history, and particularly the history of Germany. One way of evaluating how the fate of the German people became the object of anguished personal concern is to consider the autobiographical recollections of old Nazi fighters gathered up by the American sociologist Theodor Abel in 1936. To be sure, Nazi narratives written after 1933 contaminate the recollections of what had happened before, and Nazi statements are hardly representative of German autobiographies generally. Nonetheless, they provide some illustra37

) Haß: Militante Pastorale, p. 80. ) Quoted in Haß: Militante Pastorale, p. 163. See also Salomon: Geächteten, pp. 210-211. 39 ) H. R. Knickerbocker: The German Crisis, New York 1932, pp. 42-43,76,94,97,206-209. 40 ) Martin Geyer. Verkehrte Welt. Revolution, Inflation, und Moderne, München 1914-1924, Göttingen 1998, p. 288. 41 ) Peter Fritzsche: Germans into Nazis, Cambridge 1998, p. 131. 38

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tion of the popular effort to rethink history. These activists strained to discern itineraries of history in the years after 1918 and described the profound unsettlement of their individual lives in the light of new social relations and new collective commitments. Again and again, recent history, Germany's Zusammenbruch, was visualized in terms of catastrophic endings, violent beginnings, and explosive uprisings in ways that recall Salomon's Die Geächteten. To account for his journey to National Socialism, an East Prussian farmer began his memoirs with the day „exactly twenty years ago, when I was only five years old. I first saw field-grey-clad soldiers with sabres and guns, and my own father dressed the same way. My mother watched, serious and worried. War! I heard this word then for the first time, but I soon understood it." 42 ) A sense that a previous life had been left behind prevailed: „My old world broke asunder in my experiences" in the war, recalled one Catholic National Socialist.43) By the fall of 1918, another Nazi reported, „everything in the fatherland had begun to stagger." 44 ) „Soon thereafter came the revolution," explained an activist in a breathless, telegraphic style for which the medium is the message: „it was something new, incomprehensible. For me, something unknown." 45 ) Future party members portrayed themselves as ravenous readers, fascinated with history already in school, as had been Hitler. They browsed among newspapers until they reported finally picking up a Nazi edition, or visiting political meetings until they found themselves in agreement with one or another Nazi orator. 46 ) This stock-taking is evidence of a remarkable visualization of the indeterminate, but unmistakable forces of history, which were alternatively imagined in Marxist, nationalist, or racial terms. Quite a few autobiographers had seriously considered Marxism and articulated its shortcomings. „Having thrown aside the Marxist idea long ago, I thought and thought," recalled one miner who eventually „in 1928-1929 ... read and heard about Adolf Hitler," whose „words went right to my marrow." 47 ) One future member of the Nazi party, a teacher from Vorsfelde, explained that in the 1920s two books stood on his desk: „Adolf Hitler's Mein Kampf and Karl Marx. Jawohl Karl Marx! ...

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) The Story of a Farmer, in: Theodore Abel: The Nazi Movement. Why Hitler Came to Power, New York 1966, p. 289. 43 ) Peter H. Merkt Political Violence under the Swastika, Princeton 1975, p. 53. M ) Ibid., p. 160. See also Heinrich Potz: folder 50, Box 1, Theodore Abel Papers, Hoover Institution Archives, Stanford, California; Martin Dries: Aus Meiner Kampfzeit, 31 Dec. 1936, Bundesarchiv, NS 26/529; and Josef Schimmel: Meine Kampferlebnisse, n.d. [1937], ibid, NS 26/532. 45 ) Hans Müller: folder 99, Box 2, Theodore Abel Papers, Hoover Institution Archives, Stanford, California. See also Fritz Schuck: folder 172, Box 3, ibid. 46 ) Hans Ρlath: folder 96, Box 2; Ernst Schmitt: folder 265, Box 5; Oskar Klinkusch: folder 349, Box 5, Theodore Abel Papers, Hoover Institution Archives, Stanford, California; Heinrich Wilkenloh: Meine Kampferlebnisse, 31 Dec. 1936, Bundesarchiv, NS 26/531. See also William Stern (ed.): Jugendliches Seelenleben und Krieg, Leipzig 1915, 12. Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung. 47 ) Merkl: Political Violence under the Swastika, p. 89.

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Learning, reading, comparing." Eventually, the teacher admitted that „Karl Marx disappeared" from his desk; Hitler did not.48) The image of books on desks should draw attention to the vast literature of popular history consumed in the 1920s. Oswald Spengler's Der Untergang des Abendlandes, which insistently questioned the self-sufficiency of European and especially French and British historical narratives, was a run-away best-seller in the 1920s and spawned a historiographical controversy that worked itself into everyday speech. And it was not only Spengler; a shelf of popular books appeared between 1918 and 1933, self-consciously seeking to diagnose the „crisis of the times" that had resisted the application of conventional historiographical paradigms: in addition to Rathenau's essay, Von kommenden Dingen, Moeller van den Bruck's Das Dritte Reich (1926), Hermann Graf Keyserling's Die neuentstehende Welt (1926), Adolf Behne's Neues Wohnen, Neues Bauen (1927), Frank Matzke's Jugend bekennt: so sind wir! (1930); Karl Jaspers' Die geistige Situation der Zeit (1931), Ernst Günther Gründel's Die Sendung der jungen Generation (1932) and Ernst Jünger's Der Arbeiter (1932). Salomon, for one, took note of his reading frenzy in the early 1920s: „Eine Zeitlang reizte mich die Nationalökonomie ... meine Taschen steckten voller Broschüren und Tabellen ... Dann hatte ich's mit der Religion," and then „Die Literatur," „von der Edda bis Spengler, gleich wie es kam" so that on his shelf,.Rathenau und Nietzsche, Stendhal und Dostojewskji, Langbehn und Marx wirr durcheinanderstanden."49) Simply the effort to read the signs of the times indicates the viability of popular historical revisionism, a genre premised on an acknowledgement of the instability of authoritative readings, a willingness to think in terms of discontinuity, and an intuition about the open-endedness of the future. The effort to discern the directions of history corresponded to the effort to envision and enable a new historical subject. Without overstating the argument, the hidden, imperiled, or incapacitated Volk was the central object of desire in German politics in the interwar years. The common effort of fighting the war and the distinctly national terms of military defeat and the political and economic ordeals that followed all worked to make the case for the nation. Whatever the political viewpoint of Germans, war snatched and killed and mutilated bodies because those bodies were German and therefore gave a living reality to the notion of the Volkskörper. Germany had changed profoundly since August 1914, testified Wilhelm Stapel, a young conservative at the end of the war: „The entire people had been cast in a new radiance."50) For him, as for many others, the Volk had come to life and finally recognized itself as the proper subject of German his48

) Rudolf Kahn: folder 31, Box 1, Theodore Abel Papers, Hoover Institution Archives, Stanford, California. See also Fritz Junghanss: folder 526, Box 7, ibid. 49 ) Salomon: Geächteten, pp. 208, 214-15. 50 ) St. [Stapel]: Wohin geht die Fahrt?, in: Deutsches Volkstum 12, no. 1 (January 1919): 1-3. See also Moeller van den Bruck: Der Revolutionsgewinn, in: Gewissen, 11 November 1919, no. 31.

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tory. However nebulous concepts as the „Volksstaat" or „Volksgemeinschaft" were, they had popular resonance that cannot be overlooked. However incomplete and unsatisfactory the Burgfrieden had been in the years 1914-1918, the ideal of national solidarity and the claims of collective social responsibility structured postwar political expectations. Social Democratic workers and nationalist burghers certainly collided in fundamental ways, but they claimed entitlements on the basis of the Volksgemeinschaft.51) The more populist connotations of nation, as opposed to state or Reich, also guided criticism of Wilhelmine Germany, which was widely condemned for its codes of deference and ranks of hierarchy, and for its inability to create a genuine German patriotism. The new wartime icons of generic heroes - the soldier, the worker, the peasant-remained in place throughout the Weimar period, confirming the authority of ordinary „ Volkstümlichkeit" in political culture. Indeed, no Weimar politician, except for a Communist, would dare approach the electorate without using the address of „Volk." What emerges during the Weimar years is a new sense of national space in which citizens actively sought to find or identify Germany. As a consequence, national events were staged in local arenas in a process of theatricalization, and local destinations were regarded as parts of the nation in a metaphorical or synecdochical operation of nationalization. Some of the biggest rallies held in local places during the Weimar Republic were those that assembled Germans of all political convictions onto market squares to protest of the terms of the Treaty of Versailles in spring 1919 and again to demonstrate against the plebiscites in Silesia two years later. These brought together on a single dais German Nationalists and Social Democrats and even Independent Socialists. But the breadth of political coalitions should not be taken as the prime indicator of the depth of national feeling. Throughout the 1920s, new patriotic and paramilitary formations choreographed the nation in homespun ceremonies, parades, and rallies that owed little to the conventions of Wilhelmine patriotic festivity, the formal initiatives of the republican state, or even the fraternal class culture of prewar Social Democracy. From Munich, one official observed, no Sunday passes „an dem man nicht sieht, wie morgens schon Musikkapellen die Strassen durchziehen, wie die Fahnen aus dem Armeemuseum geholt werden und wie überall Leute in den alten Uniformen oder wenigstens mit Orden und Ehrenzeichen umherlaufen."52) Throughout Germany, local sociability became more dense, more inclusive, and more politically salient. „Reiht man die Vielzahl von grossen und kleinen politischen Kundgebungen und Versammlungen seit Kriegsende aneinander, 51

) Belinda Davis: Home Fires Burning. Food, Politics, and Everyday Life in World War I, Chapel Hill 2000; Anne Roerkohl·. Hungerblockade und Heimatfront. Die kommunale Lebensmittelversorgung in Westfalen während des Ersten Weltkrieges, Stuttgart 1991. 52 ) Würrtemberg's ambassador to Bavaria quoted in Geyer. Verkehrte Welt, p. 123. See also Helge Matthiesen: Greifswald in Vorpommern. Konservatives Milieu im Kaiserreich, in Demokratie und Diktatur 1900-1990, Düsseldorf 2000.

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ergibt sich ein bemerkenswertes Bild patriotischer Massenkonsumkultur," concludes Martin Geyer. At larger rallies such as the 1923 Deutsches Turnfest in Munich or the 1927 Stahlhelm rally in Berlin, film producers arrived on scene with cameras to screen the patriotic spectacle to moviegoers across the nation. Focusing on the serried ranks of marchers, the camera eye provided compelling images of the power of mass movement. Long before Leni Riefenstahl, the mass media invited consumers to imagine the evidence of the Volk and to insert themselves in its body.53) Travel to other German places identified the vividness of the nation as well. At least until the Great Depression, when tourist activity declined significantly, Germans travelled as they had never before. „All of Germany is on the move," the Frankfurter Zeitung reported as early as 1921, a comment that gained credibility as the culture of the weekend and reduction of the work week to forty-eight hours facilitated excursions to out-of-town attractions or the seashore: the „German railways recorded a more than sixfold rise in Sunday return tickets from the prewar period to 1929," notes Rudy Koshar. New expectations about leisure and entertainment certainly encouraged travel, but an underlying desire to „Get to Know Germany," the motto of a popular series of picture books, the Deutschland-Bildhefte, motivated citizens as well. A desire to experience the unity of the nation by exploring local customs and physical contrasts filled German youth hostels, which registered four-million overnight stays in the late 1920s, up from only 60 000 immediately after the war.54) And there was also considerable interest in the particular places that had been scarred by recent German history. In a remarkable trend, dozens of German associations held annual meetings in the borderlands, especially in East Prussian Königsberg, and offered their members guided tours of the border itself to view „severed railways and blocked roads," the violence done to the German nation. According to one estimate, 400 000 young people crossed the Polish Corridor to travel to East Prussia in just one year, 1930.55) Travel in Germany was increasingly travel to a neglected, but recoverable Germany. The encounter with the nation also structured postwar political mobilizations, and again it is Nazi respondents to the Abel survey who provide the best evidence. .Almost daily I cycled five miles of bad road into town to listen to a Nazi speech, and then home again alone," recalled one old fighter.56) „Night after night, Sunday after Sunday, in wind and rain," activists spread the Nazi word on bicycles and trucks in the late 1920s and early 1930s; Werner Goerendt was on 53

) Geyer. Verkehrte Welt, pp. 267, 127. See also: Aufmärsche, in: Berliner Dlustrirte Zeitung, no. 23, 6 June 1926; Die Welt im politischen Fieber, in: Berliner Dlustrirte Zeitung, no. 42, 19 Oct. 1930. In general, see Matthiesen: Greifswald in Vorpommern. 54 ) Rudy Koshar: German Travel Cultures, New York 2000, pp. 71, 73, 75 55 ) Elizabeth Harvey: Pilgrimages to the „Bleeding Border". Gender and the Rituals of Nationalist Protest in Germany, 1919-39, in: Women's History Review 9/2000, p. 213. 56 ) Merkl: Political Violence, p. 132.

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his motorcycle „night and day."57) Hiking, bicycling, and motoring to the next village, and eventually to regional centers for larger rallies and to big cities for national events are references that reoccur repeatedly in Nazi autobiographies and indicate just how non-local the identifications of the new political self had become. Memories of national rallies, whether they were athletic competitions in Munich, glider meets in Gersfeld, Stahlhelm marches in Berlin, Reichsbanner parades in Magdeburg, or Nazi days in Nuremberg, punctuate the autobiographies of the Weimar period.58) Moreover, the Abel respondents testified to their explorations of unfamiliar social precincts: „I walked through the city. I wandered through the Communist district. I talked to the people there a number of times," recalled a young middle-class youth.59) This was a remarkable desire for social encounter across class lines which was simply not imaginable in the prewar period. Nazi activists did not so much to appeal to specific occupational interests, as some scholars have suggested, but rather attempted to cross social boundaries and get to know „the little man," the „ordinary person," to reconstitute the nation as a collective, integral whole.60) What Nazi campaigners endeavoured to realize was the myth of the trenches, in which soldiers from a variety of social backgrounds had discovered their common German identity, or the experience of the Weimar-era Werkstudent, the impoverished middle-class student who spent summers working in factories and living among workers.61) This folksy evidence is undoubtedly sentimentalized, but suggests the value placed on cross-class experiences in narratives of political awakening. Remapping the nation was always more a journey than a destination. Long gone were the timeless rural landscapes that the Heimatbewegung had cherished at the turn of the century. The intervening war years had fashioned a more dynamic, restless environment in which new affiliations and new loyalties were taking shape in a decidely national rather than regional context. National feeling involved a quest for something still half-hidden away, not an invocation of particular tradition and custom.

57 ) Friedrich Kurz: Meine Erlebnisse in der Kampfzeit, 25 Dec. 1936, Bundesarchiv, NS 26/529; Werner Goerendt: Meine Kampferlebnisse aus der Kampfzeit, n.d. [January 1937], ibid., NS 26/530. 5S ) August [last name illegible]: folder 63, Box 2; Hans Plath: folder 96, Box 2, Theodore Abel Papers, Hoover Institution Archives, Stanford, California. 59 ) The Story of a Middle-Class Youth, in: Abel: Nazi Movement, p. 269. 60 ) Thomas Childers: The Nazi Voter. The Social Foundations of Fascism in Germany, 19191933, Chapel Hill 1983, emphasizes the importance of occupational politics. 61 ) Kurt Liebert: folder 216, Box 4; Ernst Schmitt: folder 265, Box 5, Theodore Abel Papers, Hoover Institution Archives, Stanford, California. In his Michael: A Novel, trans. J. Neugroschel New York 1987, Goebbels thematizes the work student. See also Michael Kater: The Work Student. A Socio-Economic Phenomenon of Early Weimar Germany, in: JCH 10/1975, pp. 7 1 94.

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ΠΙ. Techniques of Mobility In the end, remapping the nation implied the identification of new methods and power sources to endow the national subject with comparative advantages of capacity and expertise. The fact of military defeat, the loss of colonies, and thus the diminishment of Germany's engagement with foreign cultures and geographic trials prompted an often anguished search for new experience. In what I refer to as the „economy of experience", critics repeatedly observed, classified, and diagnosed Germans and their activities in an effort to dramatize or relieve the national crisis of energy. They projected the outlines of a dangerous, but highly resourceful era that had emerged from the war, and they looked for signs that Germans had the opportunities, skills, and strength to exploit it to their advantage. By replenishing German politics with strong-armed verbs, the imagined zone of danger made the reinviogration of the nation both necessary and possible. Germany's sense of jeopardy was never so acute as it was at the end of World War I, which cost the nation-state more than one-million men killed and threatened the integrity of its territory. International relations remained perilous for the new republic and Carl Schmitt even wondered if countries would be exterminated for not paying their global debts, a plain reference to Germany's reparation obligations and a telling verb choice.62) But the postwar era was also magical and resourceful. For Jünger the war had opened up an immense realm of possibility. Military technology had evolved into a „second nature" which had fundamentally reshaped Europe. ,Λ new ardour, a new energy inspires life," Jünger asserted; „the men who today are behind the machine guns will tomorrow be in industry, carrying their tempo into the markets and the large towns, creating the political situation and giving the world a new face."63) These men made plausible a whole new order of active verbs to describe the assault and seizure of the planet. By drawing attention to Germany's technological proficiency, Jünger argued for its unrealized political freedom. Indeed, I would argue that modern technology in the 1920s served as a vast metonym for war itself. The constant iterations of the „New Man" or the „new type," the athlete, the race-car driver, the aviator, and the expert, to which popular magazines introduced readers, can be seen as civilian versions of the new warrior. The circulation of big-city traffic, the new practices of rationalization, and the fine calibration of larger and more powerful machines retold the storyline of wartime innovation and wartime necessity again and again. In many ways, the map of the technologically capable nation corresponded to visions of the totally mobilized city discussed above. 62 ) Carl Schmitt: The Concept of the Political, George Schwab, trans., Chicago 1996 [1932], p. 55n23. 63 ) Ernst Jünger. Copse 125. A Chronicle from the trench warfare of 1918, Basil Creighton, trans., London 1930, p. 106.

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Images of war and urban life were frequently paired in the mass-circulation press: the technological capacities of the city insured that future war would be more fearsome, and the high-tech war of the future left cities more vulnerable to aerial bombardment and civilian panic. It is often forgotten that fears of massive air attack were as deeply rooted among Europeans in the 1920s and 1930s as the terror of all-out nuclear war was during the Cold War. In one of the most influential books published after World War I, The Outline of History (1920), H. G. Wells left no doubt that a future conflict would leave Europe ravaged by air attacks, making the „bombing of those 'prentice days," 1914-1918, look like mere „child's play."64) Interestingly enough, the proliferate images of gas war and gas masks, which civilians, particularly women and children, were shown using, demonstrated the reach of this militarized new time into the household goods and private lives of contemporaries, just as had the descriptions of „das neue Leben" and „die neue Zeit."65) The mutual reinforcement between war and the city, between danger and capacity, and between the jeopardy of the nationstate and its ability to master the most perilous military challenges, could be browsed in the pages of the Berliner Illustrirte Zeitung, Germany's largest weekly. The 6 June 1926 issue, for example, included photographs of street battles in Poland, of an ocean liner against the backdrop of the New York City skyline, and of the explosion of a munitions factory in Wertheim; another issue in October 1930 juxtaposed stories about record achievements in sports, gas attacks on Paris, and a Swiss aviator over Africa; a year later the combination was racing cars, Germany's zeppelin over the pyramids, and insurrection in Spain.66) These were combinations of the wholly „altered world" (veränderte Welt) that Ernst Jünger, Hans Dominik, H.G. Wells, and many others claimed that war, technology, and urban life had in fact fashioned. What were the requirements to survive in this new era? In an almost obsessive practice of self-observation, Germans scanned the resources of the country and the make-up of the population, building up an vast archive of items and types that would be needed to master the „altered world," and comparing the archive to the capacities of other states. Germany pitted itself in relentless competition with its neighbors. It is no surprise that the United States, as the most technologically marvellous nation, fascinated Weimar Germany, not only because it offered such an authoritative version of a totally reconstructed environment but because its exuberant liberation from tradition corresponded most closely to M

) H.G. Wells: The Outline of History, New York 1920, pp. 1084-1085, quoting the Royal United Service Institution's Sir Louis Jackson. 65 ) Ingenieurkrieg, in: Berliner Illustrirte Zeitung, no. 4 0 , 4 Oct. 1925; Die grösste Gefahr für die Menschheit: Die Gaskrieg-Rüstungen, in: Berliner Illustrirte Zeitung, no. 19 Jan. 1930; Manöver zum Schutz gegen Gasangriffe, in: Berliner Illustrierte Zeitung, no. 21, 25 May 1930; Wie eine französische Zeitschrift den Zukunftskrieg schildert [Vu], in: Berliner Illustrirte Zeitung, no. 43, 26 Oct. 1930; and Ein Grossstadtbild wie es in Europa jetzt immer häufiger zu sehen ist, in: Berliner Illustrirte Zeitung, no. 16, 19 Apr. 1931. 66 ) Berliner Illustrirte Zeitung, no. 2 3 , 6 June 1926; no. 4 3 , 2 6 Oct. 1930; no. 17,26 Apr. 1931.

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Germany's revisionist ambitions in the 1920s.67) „Fortschritt der Technik," the Berliner Illustrirte reflected, „heute ist aus dem Schlagwort ein unerbitterliches Kommando geworden." With far fewer automobiles per capita, and thus fewer trained drivers than the United States, Britain, or France, for example, Germany was „nach Kräften bemüht, sie einzuholen."68) Although Germany did not have New York, Reclams Universum located the place in which it might emerge: „Hier wächst die Weltstadt an der Ruhr."69) However, the nation did excel in aviation; was there any issue of Die Woche or the Berliner Illustrirte that did not publish photographs of aviators, airplanes, and especially zeppelins, which were so often shown in menacing geopolitical angles over New York, the pyramids, or the high seas? There was extraordinary value in Germany's record of aeronautical experience: aviation was widely regarded in the 1920s as the most sophisticated machinery of its time, requiring intricate knowledge, demanding superlative abilities from airmen, and beckoning a prosperous, if dangerous „air age." Since it was theoretically possible to reach any point by air, aviation privileged those „young" nations such as Germany or Italy that mobilized technology and marginalized formerly prosperous naval powers such as Britain and France. Aviation thus had the potential to rearrange the balance of military and political power. It also offered Germany the opportunity to extend its interests around the globe, „to think in terms of continents again," despite the Reich's defeat in the world war. The globe-trotting adventures of German fliers such as Günther Plüschow and Marga von Etzdorf: the first east-to-west crossing of the Atlantic by a German flight team in 1928; and the crew of the „Graf Zeppelin," which transnavigated the globe in 1929 - these all depicted the acquisition of crucial technical and political skills that were cosmopolitan, and frankly imperialist. In decisive ways, aviation allowed Germany to feel at home in the postwar world.70) In a more general way, the Weimar fascination with geopolitics further rewrote terms of possibility and necessity to Germany's advantage, revealing a „heroic earth" in which previously unrecognized features promised the nation and the Volk dynamic political opportunities.71) However, the most valuable achievement of German technology was the potential to produce new, more capable men and women. It enabled not simply technical competence but unparalleled moral accomplishment, and the image of the solitary aviator with his „cool, clear-reckoning head" and „hot-burning forward-striving heart" was quite familiar to Weimar readers. Scholars have empha-

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) Mary Nolan: Visions of Modernity. American Business and the Modernization of Germany, New York 1994. 68 ) Fortschritt der Technik, in: Berliner Illustrirte Zeitung, no. 44, 31 Oct. 1925. 69 ) Reclams Universum, no. 9, 26 Nov. 1931. 70 ) Peter Fritzsche: A Nation of Fliers. German Aviation and the Popular Imagination, Cambridge 1992, chapter 4. 71 ) David Murphy. The Heroic Earth. Geopolitical Thought in Weimar Germany, 1918-1933, Kent 1997; and Ewald Banse: Expressionismus und Geographie, Braunschweig 1920.

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sized the ways in which physiognomical typologies added up to a defense endeavor to give knowable contours to a „society in disarray" by providing the „means for differentiating and discriminating" and „for drawing new boundaries and putting up barriers for security."72) But the proliferation of physiognomical readings should also be regarded as an effort to re-classify, to retrieve, and reach beneath the surface or behind appearances in order to find sites of traction and movement, to identify the techniques of mobility. A classic reading of the new warrior comes from Friedrich Georg Jünger: „Der Wandlung des Kampfes entspricht die Wandlung der Kämpfenden. Sie wird sichtbar, wenn man die geschwungenen, schwerelosen, begeisterten Gesichter der Soldaten des August 1914 mit den tödlich ermatteten, hageren, unerbittlich gespannten Gesichtern der Materialschlachtkämpfer des Jahres 1918 vergleicht. Hinter dem Bogen dieses Kampfes, der, steiler gespannt, endlich zerspringt, erscheint unvergesslich ihr Gesicht, geformt und bewegt von einer gewaltigen, geistigen Erschütterung, Station um Station eines Ledensweges, Schlacht um Schlacht, deren jede das hieroglyphische Zeichen einer angestrengt fortarbeitenden Vemichtungsarbeit ist. Hier erscheint jener soldatische Typus, den die hart, nüchtern, blutig, und pausenlos abrollenden Materialschlachten durchbildeten. Ihn kennzeichnet die nervige Härte des geborenen Kämpfers."

Strength was associated with pitilessness and relentlessness, virtues appropriate to the new technological and political challenges of the present moment, and the passage from 1914 to 1918 signalled the accumulation of the kind of experience necessary to reactivate German energies.73) Although infinitely more capable than his prewar counterpart, thanks to the experiences of the front, the envisioned new man plainly showed the strain of adapting to the rigors of the age; he required hardening and steeling and exposure to emotional extremes of heat and coldness. This was the self-appointed task of the paramilitary associations, especially the nationalist Stahlhelm but also the leftist Reichsbanner, in which veterans explicitly sought to toughen the adverserial physical body of the soldier and to train brothers and sons who had been too young to fight in the war. At least one-million German men passed through paramilitary groups in the 1920s and early 1930s, and they provided observers with reliable indicators of national regeneration that promised to overhaul the „Volkskörper" weakened by defeat, revolution, and economic crisis The soldier was the basic model by which other highly mobilized types were introduced: athletes, workers, technicians, and the „new woman." „Der Mensch wird es sich erlauben können, härter zu sein und kühler zu sein," ascertained 72

) Lynne-Mare H. Frame: Forming and Reforming the New Woman in Weimar Germany, Ph.D diss., University of California, Berkeley 1997, p. 3. 73 ) Friedrich Georg Jünger: Krieg und Krieger, in: Emst Jünger (ed.): Krieg und Krieger, p. 65. See also Bemd Hüppauf: Langemarck, Verdun, and the Myth of a New Man in Germany after the First World War, in: War and Society 6/1988, pp. 70-103.

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Walter Schönbrunn in „Das Leben von morgen." Athletes attracted particular attention because their commitment to rebuild their bodies, steel their nerves, and train their reflexes seemed to enhance the collective national body.74) So too did German women, who were prominently profiled and carefully distinguished from purely domestic types still prevalent in Eastern Europe and the frivolous „Sportgirl" in France or Britain. Strong, independent, and whole, the projected new woman combined athletic capability and technical knowledge, but retained her femininity. That is was not only men but also women who possessed ,JStählungsmöglichkeiten" dramatizes how the imagined imperatives of the technological present and the renovatory possibilities of the future nation revised even familiar categories of gender.75) If the rigors of the war made it possible to envision a more self-reliant and capable person, disciplined in body and spirit, the war also exposed the vulnerability of the population as a whole. Food scarcities and disease had left postwar Germans weaker and sicker, while the enormous costs of fighting the war cast the expenses of attending to allegedly unfit physical or mental groups in a new light. The medicalization of social policy during the 1920s was in part a result of the recognition among medical experts and welfare officials that the nation needed not only to invest additional resources to insure the health of the German people but to make distinctions about who could and could not be sustained by the nation's welfare services. Biology, in particular, seemed to provide the techniques to radically remake the community in conditions of danger. Given its pseudo-scientific claims to nurture healthy bodies and weed out deleterious influences and inheritances, biology offered nationalist thinkers a ready-made a vocabulary for social revolution. It recast politics in an exceptionally vivid and active way, promising to outfit the nation with highly useful technologies of mobility in conditions of extreme technological stress and fierce international competition for which World War I had been only the first installment.76) Detlev Peukert has outlined the „crisis of classical modernity" during the Weimar Republic, a strenuous period in which neither political democracy, social reform, nor economic recovery could establish conditions of stability. As a result, the past looked more rosy. „Memories of the Wihlemine past grew fonder 74 ) Weshalb boxen wir?, in: BZ am Mittag, no. 131, 15 May 1927; Fussball ist das Spiel unserer Zeit, in: Berliner Dlustrirte Zeitung, no. 40,4 Oct. 1925; Eduard Ritter von Schlech: Rekorde im Skisport und ihr Nutzen, in: Berliner Dlustrirte Zeitung, no. 43, 30 Oct. 1930. 75 ) See Frame·. Forming and Reforming, pp. 94, 135, 137-138, 191. 76 ) Paul Weindling: Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism, 1870-1945, Cambridge, England 1989; Cornelie Usbome: The Politics of the Body in Weimar Germany. Women's Reproductive Rights and Duties, Ann Arbor 1992; Bernd Ulrich: Die Kriegspsychologie der zwanziger Jahre und ihre geschichtspolitische Instrumentalisierung, in: Inka Mülder-Bach (ed.): Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkrieges, Vienna 2000; Frank-Lothar Kroll: Nationalsozialistische Rassenutopien in der Deutungskultur der Zwischenkriegszeit, in: Hardtwig (ed.): Utopie und politische Herrschaft; and Moritz Föllmer: Der „kranke Volkskörper." Industrielle, hohe Beamte und der Diskurs der nationalen Regeneration in der Weimarer Republik, in: GG 27/2001, pp. 41-67.

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as the realities of life under the Republic grew more austere," he writes. It was only as the national crisis worsened in the early 1930s that „the mirage of racial ,renewal' and a re-created .national community' became increasingly attractive."77) For all the synthetic virtues of Peukert's analysis, however, he neglects the degree to which crisis was not simply a condition that happened, but one that was imagined and embellished upon in ways that were culturally revealing and politically combustible and generally not pessimistic. There was an elective affinity between the diagnosis of crisis and the conviction of the malleability and potentiality of the national form. The war, in particular, was conceived as a wholly new historical condition in ways that did not characterize Britain or France. It was the effort in Germany to upend historical continuities, to dramatize the new, propitious moment, and to invoke the national peril that gave Weimar culture its radical quality and made it the privileged terrain for an industrious and menacing design of the future.

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) Detlev Peukert: The Weimar Republic. The Crisis of Classical Modernity, ed. Richard Deveson, New York 1989, pp. 13-14.

„Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" Zeitsemantik und die Suche nach Gegenwart in der Weimarer Republik Von Martin H. Geyer

I.

Die Beschäftigung mit dem Thema ,Zeit' ist für Historiker nicht allein wegen der Abstraktheit, sondern mehr noch aufgrund des universalen Charakters von Zeit für das soziale Leben mit Tücken behaftet. Wenn man in Anschluss an den Historiker Reinhart Koselleck und den Soziologen Niklas Luhman die „Verzeitlichung" des Denkens wie der sozialen Systeme als ein definierendes Charakteristikum der Moderne begreift, dann werden die sich mit der Ausdifferenzierung von Gesellschaften herausbildenden, vielfältigen Zeitsemantiken zu einem umfassenden Signum eben dieser Moderne. Die Allgegenwart des Substantivs „Zeit" und die Obsession, mit der insbesondere seit dem Ende des 19. Jahrhunderts diesem Thema in allen Wissenschaftszweigen wie im öffentlichen Leben nachgegangen wurde, illustrieren diesen Zusammenhang sehr deutlich. Die Vielzahl von unterschiedlichen sozialen Zeitvorstellungen sperrt sich gegen eine prägnante Beschreibung, und es ist wohl eben dieser Komplexität geschuldet, dass in dem enzyklopädischen Werk der „Geschichtlichen Grundbegriffe" der zentrale Eintrag zum Grundbegriff ,Zeit' fehlt.1) Das hat Historiker nicht davon abgehalten, viele Schneisen zu schlagen, sei es, dass sie, ganz im Sinne Kosellecks, die Herausbildung und die spezifischen, wechselnden Konfigurationen von Vergangenheits-, Zukunftsund Gegenwartsvorstellungen untersuchen; sei es, dass sie die revolutionäre „Dynamisierung" des sozialen und wirtschaftlichen Lebens in den Mittelpunkt stellen. Fragen nach Utopien haben hier ebenso ihren Platz wie solche

') Reinhart Koselleck: Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen (1973), in: Ders. (Hrsg.): Vergangene Zukunft, Frankfurt a.M. 1979, S. 130-143; Ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt a.M. 2000; Niklas Luhmann: Temporalisierung von Komplexität. Zur Semantik neuzeitlicher Zeitbegriffe, in: Ders. (Hrsg.): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1980, S. 235-300; Ders.: Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme, in: Ders. (Hrsg.): Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1986, S. 103-133.

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nach der Herausbildung neuer, individueller wie kollektiver Zeitvorstellungen und Modelle der Lebensführung.2) Die folgenden Ausführungen schließen an die Überlegungen solcher Arbeiten an, indem sie die Diskurse der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg über „Gleichzeitigkeit" und „Ungleichzeitigkeit" in den Blick nehmen. Koselleck selbst betonte, dass der Topos der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" eines „der aufschlußreichsten historischen Phänomene" sei.3) Das Interesse des Autors speist sich aus zwei auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Quellen. Dazu zählt erstens die Beschäftigung mit der Geschichte der Standardisierung der Uhrzeit mittels zunehmend besser synchronisierter Uhren, ein Prozess, der mit der Ersetzung der Sonnenzeit durch die Einführung der astronomischen Zeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts und durch technische Neuerungen wie Telegraphie und Eisenbahnen beschleunigt wurde. Dies hatte zur Folge, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein weitläufiges Zeitnetz entstanden war, das eine nationale und schnell auch eine globale „Gleichzeitigkeit" ermöglichte.4) Dieser sich über das ganze 19. Jahrhundert hinziehende Prozess der Synchronisierung der Uhrzeit wurde gleichermaßen zum praktischen Instrument wie zum Symbol mechanischer Integrationsvorgänge. Sie entbehrten nicht einer Foucaultschen Logik: In ihrem Mittelpunkt stand die Normierung und Integration von Räumen - der Stadtgemeinde, des lokalen oder überlokalen (Eisenbahn-)Betriebs, der Nation oder gar der Welt - vermittels durch autoritative „Normaluhren" gesteuerter Uhren. Die Vorstellung von Raum als einem „Verband von Uhren", der das öffentliche Leben im Takt zu regulieren und sozialen wie wirtschaftlichen Synchronismus zu erzeugen vermochte, war zu Beginn des Jahrhunderts zunächst noch eine Utopie. Am Ende des Jahrhunderts sorgte die Preußische Königliche Sternwarte dafür, dass nicht nur die Uhren der Reichshauptstadt, sondern auch der großen nationalen (Verkehrs-)Betriebe und einzelner Städte im Gleichlauf gehalten wurden. Es ist kein Zufall, dass schon für die Zeitgenossen Berlin mit seinem seit den 1870er Jahren eingerichteten und seit den 1890er Jahren ausgebauten Netz öffentlicher „Normaluhren" zum Inbegriff einer durch Zeit und Geldwirtschaft gesteuerten Großstadt wurde, was den Soziologen Georg Simmel die kontrafaktische Frage stellen ließ, was passieren würde, wenn

2

) Unter der umfangreichen Literatur vgl. Stephen Kern: The Culture of Time and Space 1880-1918, Cambridge, Mass. 1983; Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a.M. 1999; Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003; Peter Borscheid: Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt a.M./New York 2004. 3 ) Koselleck: Zeitschichten, S. 9. 4 ) Martin H. Geyer: Prime Meridians, National Time, and the Symbolic Authority of Capitals in the Nineteenth Century, in: Andreas Daum/Christof Mauch (Hrsg.): Berlin/Washington, 1800-2000, Cambridge, Mass. 2005, S. 79-100; vgl. auch Michael O'Malley: Keeping Watch. A History of American Time, Washington/London 1990; Dohrn van Rossum: Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnungen, München 1992.

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„alle Uhren in Berlin plötzlich in verschiedener Richtung falsch gehen würden".5) Die Sicherstellung von sozialem Synchronismus durch Uhren, mithin Prozessen der Integration, sowie das Paradigma der theoretischen wie praktischen Objektivierbarkeit von (Uhr-)Zeit waren zentrale ideologische Leitmotive dieser Bestrebungen, die auf das engste mit dem liberalen Fortschrittsdenken des 19. Jahrhunderts verbunden waren. Das Postulat einer vermittels Uhren erzeugten Gleichzeitigkeit des wirtschaftlichen und sozialen Lebens ließ sich parallel zur Ausbreitung eines modernen Zeitbewusstseins zugleich ex negative bestimmen, nämlich entweder als ein Unvermögen, mit der Zeit umzugehen oder nicht auf der „Höhe der Zeit", das heißt zurückgeblieben zu sein. Mit Blick auf den zu beobachtenden, ungleichen Umgang mit Zeit prägten die Soziologen Pitrim Sorokin und Robert K. Merton in den 1930er Jahren den Begriff der „sozialen Zeit": Individuen, Gruppen und Organisationen, aber auch politische Systeme definieren sich und lassen sich analytisch-konzeptionell fassen anhand des spezifischen Umgangs mit Zeit und dem ihnen je eigenen Zeitbewusstsein.6) Die Etablierung der Kategorie Zeit als ein zentraler Begriff der soziologischen Beobachtung und die Diagnose eines Nebeneinanders, mithin einer Gleichzeitigkeit unterschiedlicher sozialer Zeitsysteme ist wissenschaftsgeschichtlich von Interesse. Derartige Diagnosen hatten sich seit dem späten 19. Jahrhundert in verschiedenen Bereichen der Wissenschaft durchgesetzt. Sie gingen einher mit der Kritik an Konzepten eines homogenen, linearen Zeitstroms, welche sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auf breiter Front und mit großer Vehemenz artikulieren sollte.7) Diese kritischen Beobachtungen rieben sich an dem dominanten Fortschritts- und Zukunftsparadigma des 19. Jahrhunderts, das mit dem Aufstieg des soziologischen Funktionalismus und dem ihm inhärenten Entwicklungsgedanken in den USA seit der Zwischenkriegszeit neue Impulse erhielt.8) Um beim Beispiel unsynchronisierter 5 ) Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, in: Ders. (Hrsg.): Das Individuum und die Freiheit. Essays, Berlin 1984, S. 192-204, 195. 6 ) Pitrim SorokinfRobert K. Merton·. Social Time. A Methodological and Functional Analysis, in: The American Journal of Sociology 42/1937, S. 615-629, vgl. auch Gerhard Schmied: Soziale Zeit, Umfang, „Geschwindigkeit" und Evolution, Berlin 1985; Helga Novotny: Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt a.M. 1993. 7 ) Für einen Überblick vgl. Rudolf Wendorf: Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, Opladen 1985; Stern: Culture. Vgl. auch Wolfgang Hardtwig: Die Krise des Geschichtsbewußtseins in Kaiserreich und Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs, München 2002, S. 47-75; Anselm Doering-Manteuffel: Mensch, Maschine, Zeit. Fortschrittsbewußtsein und Kulturkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs, München 2003, S. 91-119. 8 ) Djongkil Kim: Zur Theorie der Moderne „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen". Ein Beitrag zur Diskussion um die Moderne in soziologischen Gesellschaftstheorien, Göttingen 1993. Die Erwartungen, welche der Titel erweckt, werden in diesem Buch aber nicht erfüllt. Die Transformation älterer Entwicklungstheorien und -schemata thematisiert Elke Uhl: Gebrochene Zeit? Ungleichzeitigkeit als geschichtsphilosophisches Problem, in:

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Uhren zu bleiben: Diese galten gleichermaßen als Ursachen wie Symptome eines wenig entwickelten Zeitverständnisses, als Symbole der „Rückständigkeit" und „Unterentwicklung", gleichermaßen von Regionen wie von Menschen, die zwar in der gleichen Zeit, aber nicht mit der gleichen Zeit lebten. Die „unsynchronisierten Uhren" der ländlichen Bevölkerung, der Menschen in den Kleinstädten, aber auch solcher, die sich nicht in das neue Zeitregiment einordneten, konnten als Beispiel dafür angeführt werden. Und wer dabei nicht auf technisch-physikalische oder biologistische Modelle zurückgriff, mochte sich auf die historischen Betrachtungen eines Friedrich Wilhelm Hegel berufen, mit dem sich die „Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit" von Entwicklung und Stillstand, von Fortschritt und Reaktion, aber auch des historischen Nebeneinanders von Völkern mit und ohne Geschichte beschreiben ließ. Insbesondere seit dem 18. Jahrhundert zieht sich der Topos durch die Literatur, dass auch in höheren Kulturstufen „Zurückgebliebene" anzutreffen seien. Die revolutionären Veränderungen in Frankreich schärften zweifellos den Blick dafür, nicht zuletzt, weil nun, wie Elke Uhl prägnant formuliert, die weltgeschichtliche Gegenwart mit Paris einen Ort zugeschrieben bekam: Seither mochte Deutschland vielen als ein „Land der Ungleichzeitigkeit" erscheinen, nicht nur „weil es dem Zeitgeist hinterherhinkt, sondern (...), weil es selbst heterogene Zeitelemente und -strukturen aufweist".9) Die Diagnose einer „Ungleichzeitigkeit" wurde zu einem zentralen Phänomen der Moderne, und die Tatsache, dass sie mit tiefen Verwerfungen, in der Terminologie späterer Entwicklungstheorien mit „Modernisierungskrisen" verbunden war, ist ein wichtiger, nicht zu unterschätzender Punkt und mag vielleicht die Konjunkturen dieses (kaum übersetzbaren) Begriffs speziell in Deutschland erklären.10) „Ungleichzeitige Menschen konnte man überall finden", wie der Wiener Künstler Adolf Loos 1908 mit Blick auf die „penetrante Präsenz" von „Nachzüglern", unter denen das „tempo der kulturellen entwicklung leidet", in progressiver Kleinschrift schrieb: „Ich lebe vielleicht im jähre 1908, mein nachbar aber lebt um 1900 und der dort im Jahre 1880." Dies war für Loos nicht nur ein Phänomen des Unterschiedes zwischen Stadt und Land, auch wenn sich dort beim Jubiläumsfestumzug „Völkerschaften" fänden, die selbst „während der Völkerwanderung als rückständig empfunden worden wären". Auch in den Städten traf Loos allenthalben auf „unmoderne menschen" - „nachzügler aus dem 18. Jahrhundert, die sich über ein bild mit Johannes Rohbeck/Heita Nagl-Docel (Hrsg.): Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Historische und systematische Studien, Darmstadt 2003, S. 50-74, 72 f. Uhl: Gebrochene Zeit, S. 57 f., 59 f. 10 ) Diese Beobachtungen sind der Ausgangspunkt der Überlegungen Kosellecks in seinen verschiedenen Aufsätzen; vgl. auch Christian Meier/Reinhart Koselleck: Fortschritt, in: Otto Brunner u.a. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 351423, 403-407; Friedrich Rapp: Fortschritt. Entwicklung und Sinngehalt einer philosophischen Idee, Darmstadt 1992; Kunji Kanda: Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und die Philosophie, Frankfurt a.M. u.a. 2003.

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violetten schatten entsetzten, weil sie das violett noch nicht sehen können"; Menschen auch, denen „zigarettendosen mit renaissance-ornamenten" besser gefallen als eine glatte Dose. Es ist ein Unglück für einen Staat, so Loos, „wenn sich die kultur seiner einwohner auf einen so großen Zeitraum verteilt". Demgegenüber erschien ihm „Amerika", „das land, das solche nachzügler und marodeure nicht hat", glücklicher.11) In diesem Zitat finden sich alle Elemente des für die Nachkriegzeit typischen Diskurses über das Nebeneinander von scheinbar „ungleichzeitigen" politischen, sozialen und kulturellen Phänomenen. Im Mittelpunkt stand das Bewusstsein einer Krise, eines Verlusts von politischen und sozialen Ordnungsbegriffen und des Nebeneinanders unterschiedlichster politischer Strömungen: „Unsere Zeit beherbergt nebeneinander und völlig unausgeglichen die Gegensätze von Aristokratismus und Sozialismus, von Pazifismus und Materialismus, Kulturschwärmerei und Zivilisationstrieb, Nationalismus und Internationalismus, von Religion und Naturwissenschaft, von Intuition und Rationalismus und ungezählt vielem mehr", meinte Robert Musil.12) Thomas Mann stellte unter impliziter Verwendung einer Urbanen Zeittopographie 1926 seinem antisemitisch gestimmten, rückwärtsgewandten München mit seinem „renitenten Pessimismus" und „finsteren Dummheiten" das der Gegenwart zugewandte, fortschrittliche und moderne Berlin entgegen.13) Der Kunsthistoriker Wilhelm Pinder sprach im selben Jahr mit Blick auf die historische Abfolge künstlerischer Generationen und das Nebeneinander von unterschiedlichen historischen Stilentwicklungen von einer „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen".14) Der Soziologe Karl Mannheim fand die Pindersche Idee „genial" und griff sowohl in seiner Wissenssoziologie wie in seinem berühmten Aufsatz zum „Problem der Generationen" in Ansätzen auf die Pinderschen Überlegungen zurück.15) Unter dem Eindruck dieser Debatten lieferte der Philosoph Ernst Bloch mit seinen Reflexionen über „Ungleichzeitigkeit" interessante Argumente für die marxistischen Debatten über

") Zitiert nach Wolf Schäfer. Ungleichzeitigkeit als Ideologie, in: Ders. (Hrsg.): Ungleichzeitigkeit als Ideologie. Beiträge zur historischen Aufklärung, Frankfurt a.M. 1994, S. 132— 155, 145. 12 ) Robert Musil: Gesammelte Werke, Bd. 8: Essays und Reden, hrsg. v. Adolf Frise, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1087 f. Vgl. auch Wolfgang Bialas: Intellektuellengeschichtliche Facetten der Weimarer Republik, in: Ders./Georg G. Iggers (Hrsg.): Intellektuelle in der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 1996; Wolfgang Bialas/Bemhard Stenzel: Die Weimarer Republik zwischen Metropole und Provinz. Intellektuellendiskurse zur politischen Kultur, Köln/Wien 1996. 13 ) Thomas Mann: Rede zur Eröffnung der „Münchener Gesellschaft 1926", gehalten im Steinicke-Saal, München, am 2. November 1926, in: Gesammelte Werke in 12 Bde., Ergänzungsbd. 13, Frankfurt a.M. 1974, S. 594-599, 598. ,4 ) Wilhelm Pinder. Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas, Berlin 1926. ,5 ) Karl Mannheim: Das Problem der Generationen, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 7/1928, S. 157-185 u. 309-330, 167.

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Klassen und Klassenbewusstsein. Ausgangspunkt der Überlegungen über „Ungleichzeitigkeit in Deutschland" waren seine in den Krieg zurückreichenden Überlegungen zur Kriegsschuld, die er in der spezifischen historischen Entwicklung Deutschlands und nicht zuletzt in der , ,B eherrschaftungsform junkerlicher Herrschaft" ausmachte.16) Nicht auf der „Höhe der Zeit" zu sein, war ein Vorwurf, welcher Konservativen entgegengeschleudert wurde, was diese anstachelte, den „Anschluss an die Zeit" zu finden, auch um den Vorwurf zu begegnen, dass sie die Uhren und damit die Zeit der Gegenwart „zurückdrehen" wollten.17) Diese zeitgenössischen Beobachtungen haben sich insbesondere in der Soziologie und der Historiographie niedergeschlagen. Die Diagnosen eines Nebeneinanders „moderner" und „vormoderner" Traditionen, einer obsessiven Rückwärts- wie Vorwärtsgewandtheit und der „Verweigerung" gegenüber der republikanischen Gegenwart durch Individuen und Gruppen war und ist ein fester Bestandteil (nicht nur) der älteren Modernisierungs- und Sonderwegsthese. Beiden lagen dezidierte Vorstellungen einer möglichen und wünschenswerten „Gleichzeitigkeit" von Menschen und gesellschaftlicher Entwicklung zugrunde. Die katastrophenreiche Geschichte des 20. Jahrhunderts war das Manetekel für die Besinnung auf „Ungleichzeitigkeit", aus der es Lehren zu ziehen galt.18) Der Topos der „Ungleichzeitigkeit" ist ein Indikator für die reflexive Auseinandersetzung für die Reibung von Zeitgenossen als auch von Wissenschaftlern mit Phänomenen der Moderne und ihren Verwerfungen durch Krieg und Krisen. Von Interesse sind diese Diagnosen zum einen wegen ihrer impliziten Zeit- und Modernitätskritik, zum anderen wegen der Annahme, dass „Gleichzeitigkeit" erstrebenswert und möglich sei. Darin lagen, wie hier argumentiert wird, die Wurzeln vieler sozial-utopischer Projekte, die in dieser Moderne aufkeimten und in der Weimarer Republik vor dem Hintergrund eines breiten gesellschaftlichen Krisendiskurses Lösungen anboten. Darzustellen sind zunächst aber die Ursprünge der seit dem Krieg vermehrt auftretenden Ungleichzeitigkeitsdiagnosen. Wie zu zeigen sein wird, sind sie einer zweifachen, weitgehend parallel verlaufenden Entwicklung geschuldet: Auf der einen Seite einer vor dem Hintergrund dramatischer Gegenwartserfah16 ) Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a.M. 1962; Beat Dietschy. Gebrochene Gegenwart. Ernst Bloch, Ungleichzeitigkeit und das Geschichtsbild der Moderne, Frankfurt a.M. 1988. Die scharfsinnigste Analyse stammt von Uhl: Gebrochene Zeit, S. 61 f., vgl. auch Dies.: Der undiskutierbare Krieg. Exkurs zur Genese der Blochschen Ungleichzeitigkeitstheorie, in: Hoffnung kann enttäuscht werden. Ernst Bloch in Leipzig. Dokumentiert und kommentiert von V. Caysa u.a., Frankfurt a.M. 1992, S. 221-243. 17 ) Raimund von dem Bussehe: Konservatismus in der Weimarer Republik. Die Politisierung des Unpolitischen, Heidelberg 1998. 18 ) Diese Dimension der Entwicklungs- u. Modernisierungstheorie wird von mir in einem anderen Zusammenhang darzustellen sein.

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rungen gesteigerten Produktion von Zukunftserwartungen, welche mit einer Explosion von neuen Zeitsemantiken einherging, und auf der anderen Seite einer sukzessiven Unterminierung eben dieser Zukunftserwartungen durch die harsche Realität der Gegenwart, welche alle nach vorn gewandten Hoffnungen zur Makulatur machte.

Π. Viele Studien haben in den letzten Jahren auf die seit der Jahrhundertwende wachsende Produktion von Zukunftsentwürfen hingewiesen. Diese zeitgenössischen Entwürfe waren begleitet von einer reflexiven, in Ansätzen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Utopien der Vergangenheit, die auch als Anschauungsmaterial und Handlungsanleitung für die Gegenwart herangezogen werden konnten.19) Diese neue Kultur der Zukunftsproduktion schuf bis dahin unbekannte „pluralisierte Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte".20) Dazu zählt das sogenannte „Augusterlebnis" 1914, welches in der Folgezeit von den unterschiedlichsten politischen Gruppierungen als Epochenzäsur hypostasiert wurde. Die Chancen eines möglichen „nationalen Neuanfangs" setzten sich in den Köpfen fest. Schon während des Krieges, genauer gesagt seit den kritischen Monaten des Jahres 1916/17, verdichtete sich, wie jüngst Steffen Bruendel nochmals gezeigt hat, zudem die Gewissheit, dass die Welt der Vorkriegszeit durch den Krieg abgeschlossen sei: Der Klassengesellschaft des Kaiserreiches wurden neue politische und soziale Modelle der Volksgemeinschaft gegenübergestellt. Dabei handelte es sich um ein breites Spektrum von Ordnungsmodellen, die vom demokratischen „Volksstaat" bis hin zur „exklusiven", im Sinne von einzelnen Gruppen ausschließender „Volksgemeinschaft" völkischer und radikalnationalistischer Gruppen reichten. Historiker haben vielfach darauf hingewiesen, dass der propagierte Anspruch einer nationalen Volksbewegung und die Realität höchst selektiver Trägergruppen der „Idee von 1914" auseinanderklafften; dennoch: Die Idee einer „nationalen Volksgemeinschaft" wurde zu einem nationalen Leitmotiv der Zwischenkriegszeit, wobei die Tatsache, dass gerade bildungsbürgerlichakademische Vertreter schon 1914 am meisten von dieser Aufbruchsstimmung erfasst wurden, von großer Bedeutung ist. Mit dem „Augusterlebnis" verbanden sich so die wichtigen Vorstellungen einer historischen Zäsur und eines Neuanfangs, und mit der Idee der Volksgemeinschaft ließ sich auch ,9 ) Hölscher. Entdeckung der Zukunft; Ute Frevert (Hrsg.): Das neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, Göttingen 2000. 20 ) Gangolf HübingerlThomas Hertfeider (Hrsg.): Kritik und Mandat. Intellektuellen in der Deutschen Politik, Stuttgart/München 2000, S. 24.

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nach dem Krieg an Tugenden der nationalen Solidarität unter den Bedingungen der Belagerung der Nation durch äußere Feinde wie an die Überwindung von „egoistischen" Klassen- und Standesinteressen und -grenzen appellieren.21) Mindestens genauso wichtig wie die oft beschriebenen Inhalte sind die Mittel, mit denen dieses Ziel aus Sicht der zeitgenössischen Publizistik und Erinnerungsliteratur erreicht wurde: Durch die vergemeinschaftende, soziale Differenzen und räumliche Grenzen überwindende Gleichzeitigkeit nationaler Emotionen, an die sich seit dem Krieg und in der Nachkriegszeit immer wieder appellieren ließ. Die zeitgenössischen Bilder des Kintop vermochten, zumal im Rückblick, diesen Eindruck wohl noch zu verstärken. Es ist nicht leicht, vergleichbare Bilder emotionaler, vergemeinschaftender Gleichzeitigkeit für die Zeit vor dem Krieg zu finden, vielleicht mit Ausnahme der ebenfalls als mediales Spektakel vermittelten Zeppelinbegeisterung.22) Demokratie- und Diktaturbewegungen, letztere mit ihrer Hoffnung auf neue Einheit stiftende charismatische Führer, bedienten sich seit dem Krieg gleichermaßen der Sprache der Volksgemeinschaft. Eine drängende, aber offene Frage blieb, wie und ob diese durch den Appell an Emotionen realisiert werden könnte. Die zeitgenössische Klage angesichts der überall zu beobachtenden „Auflösung von Gemeinschaft" bezeichnete das zentrale Dilemma, das auch in der Historiographie breit thematisiert wurde: Die scharfen Auseinandersetzungen um die Kriegsziele, der U-Boot-Krieg, die wirtschaftliche Not, die Kriegniederlage 1918 sowie die Republikgründung und die Bürgerkriegsverhältnisse bis 1923 strukturierten zwar die Wahrnehmung einer ausgesprochenen Gleichzeitigkeit, namentlich das Bewusstsein in der gleichen Zeit der Not, der Unsicherheit und der Umwälzungen zu leben: Zu nennen sind hier nur die Erinnerungsberichte an den „Hungerwinter 1916/18", an den militärischen „Zusammenbruch" 1918 oder die Hyperinflation. Und dennoch: Alles deutete darauf hin, dass gerade diese spezifische Gleichzeitigkeitserfahrung mehr als alles andere die Wahrnehmung höchst unterschiedlicher sozialer und politischer, kollektiver und individueller Erfahrungsräume und damit von „Ungleichzeitigkeiten" prägte.23) Mehr als alles andere bildeten die Kriegszieldebatten und die militärische und zivile Besatzung im militärisch besetzten Osten den Nährboden für neue „Wunschzeiten" und „Wunschräume".24) Zu nennen sind hier die heftig umstrittenen Diskussionen über Räume, welche die militärische wie wirtschaft21 ) Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914" und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003; Jeffrey Verhey. Der „Geist von 1914" und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000. 22 ) Peter Fritzsche: Α Nation of Fliers. German Aviation and the Popular Imagination, Cambridge, Mass./London 1992. 23 ) Vgl. Martin H. Geyer: Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne: München 1914-1924, München 1999. 24 ) So mit Blick auf ältere Utopien Alfred Dören: Wunschräume und Wunschzeiten, in: Vorträge der Warburg Bibliothek 4/1924/25, S. 158-205.

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liehe „Sicherheit", mithin die zukünftige nationale politische wie wirtschaftliche Entfaltung in der Form von Autarkie und militärischer Vorherrschaft garantieren sollten. Dazu zählen auch die seit 1917/18 forciert auftauchenden Um-, Neusiedlungs- und Grenzsiedlungspläne. Sie sollten die Imagination einer ganzen Generation beherrschen. Bei den hohen Verwaltungsbeamten, die sich in die Zivilverwaltung der besetzten Ostgebiete versetzen ließen, identifizierte Moritz Föllmer jüngst das Selbstbild, welches darin bestand, „am Projekt eines riesigen Kolonialreiches und damit an der nationalistischen Utopie mitzuwirken".25) Mit Kriegsende, Revolution und Grenzkämpfen waren diese imperialen Weltmachtträume zunächst einmal ausgeträumt, auch wenn sie, zumal in radikalen politischen Unterströmungen, weiterlebten. Vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden militärischen Niederlage und wichtiger noch - den Debatten über die Möglichkeiten eines Endkampfes, auch in der Form einer levee en masse, verkehrten sie sich 1918 in katastrophische, den nationalen und individuellen Tod beschwörende und hypostasierende Endzeitvisionen eines Alles oder Nichts.26) Schon die Durchführung des Schlieffen-Planes zu Beginn, dann die Entscheidungen für den U-Boot-Krieg und die große Offensive im Westen am Ende des Krieges basierten auf der Beschwörung des ,/echten Augenblicks", des raschen Zugreifens, welche, so das Versprechen, eine Wende im Kriegsverlauf herbeiführen würden. Diese Beschwörungen des schnellen Handelns zum rechten Zeitpunkt und die Möglichkeiten radikaler Zäsuren, welche die Gelegenheit zum Neuanfang postulierten, wurden zu einem festen Bestandteil der politischen und intellektuellen Kultur, nicht nur in den Reihen der politischen Rechten.27) Nicht anders erging es den der künstlerischen Avantgarde nahe stehenden Intellektuellen, die sich wie der 1919 von Regierungstruppen getötete Räterepublikaner Gustav Landauer oder Ernst Bloch selbstbewusst auf Utopien beriefen und dabei freizügig Anleihen bei den frühneuzeitlichen, meist religiösen chiliastischen Heilsbewegungen machten: Die Utopie als das „Prinzip des Noch-Nicht", als die dem Menschen ureigene Idee einer zukünftigen idealen und erlösten Welt. Das war gleichermaßen historische Beschreibung wie Handlungsanleitung für diejenigen, die den „neuen Menschen", „neue 25

) Moritz Föllmer. Die Verteidigung der bürgerlichen Nation. Industrielle und hohe Beamte in Deutschland und Frankreich 1900-1930, Göttingen 2002, S. 123. 26 ) Michael Geyer. Insurrectionary Warfare. The German Debate about a „Levee en Masse" in October 1918, in: JMH 2001, S. 459-527. Dieser Aspekt der Konstellation 1918 wird nicht nur bei Jürgen Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik, München 2001, vernachlässigt, ist aber von großer Bedeutung, will man das apokalyptische Denken der Zwischenkriegszeit verstehen. 27 ) Friedrich Wilhelm Graf. Geschichte durch Übergeschichte überwinden. Antihistorisches Geschichtsdenken in der protestantischen Theologie der 1920er Jahre, in: Wolfgang Küttler u.a. (Hrsg.): Geschichtsdiskurs, Bd. 4: Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrung und Innovationen 1880-1945, Frankfurt a.M. 1997, S. 217-244;

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Städte", eine „neue Wirtschaft", „neue Lebensgemeinschaften", eben eine neue Zeit, propagierten - zunächst nicht selten in derselben expressionistisch verquasten Diktion wie der Blochs. Folgenreich war, dass diese Suchbewegungen nach neuen Lebens- und Wirtschaftsbewegungen kurzzeitig mit der revolutionären Bewegung 1918/19 amalgamierten, mit allen politischen Folgen hinsichtlich der Propagierung von radikalen Neuanfängen und Zäsuren. Inzwischen wissen wir um die variable politische Adaptions- und Mutationsfähigkeit dieser 1918/19 vielfach politisch revolutionären (Lebens-)Reformbewegungen.28) Dass sich diese Avantgarde ebenso wie die revolutionäre Aufbruchstimmung schnell verbrauchte und überlebte, war schon ein gängiger zeitgenössischer Topos. Man könne sich an schief gemalten Häusern genau so satt sehen wie an geraden, meinte der Künstler Kasimir Edschmid 1921, der wie viele andere den schnellen, durch die Geldentwertung angetriebenen Wandel betonte: „Die Zeituhren haben nichts von Konjunkturen und Moden gehört und laufen unerbittlich und nach dem Wert. Wer Kraft besitzt, hat Zeit."29) Kraft besaßen allem Anschein nach vor allem diejenigen, welche sich gerade den wirtschaftlichen Gegebenheiten, namentlich der Geldentwertung, anzupassen in der Lage waren. Es handelte sich um jene vieldiskutierten, gleichermaßen verabscheuten wie vielfach bewunderten „Gegenwartsmenschen" der Inflationszeit, welche die Gunst der Stunde nutzten und die weder der Ballast der Vergangenheit noch Zukunftssorgen drückten. Sie waren nachgerade Antipoden jener schwärmerischen Zukunftsmenschen, mit ihren vielfaltigen Plänen und Erlösungshoffnungen. Dabei handelte es sich nur um eine von den Zeitgenossen oft beschriebene „Erfahrung", die fest in politische wie kulturelle zeitsemantische Diskurse eingeschrieben wurde. Denn die durch diese „Gegenwartsmenschen" verkörperte Inflation vernichtete auf ihre Weise mehr als alles andere in der Vergangenheit angelegte und aufgespeicherte Zukunft. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der reale Wert von privaten und öffentlichen Alters- und Lebensversicherungen schrumpfte auf den des Werts von Briefmarken.30) Von entscheidender Bedeutung ist die phänomenale Geschwindigkeit, mit der Zukunftserwartungen in den wenigen Jahren seit Kriegsbeginn produ28

) Rüdiger Graf: Die Mentalität des Nirgendwo und die Transformation der Gesellschaft. Der theoretische Utopiediskurs in Deutschland 1900-1933, in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 145-173; Detlev Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt 1987; Michael Geyer: Ein Versuch zum Thema Apokalypse und Therapie. Das Bauhaus-Projekt als Gesellschaftstherapie, in: Daniela Münkel/Sutta. Schwarzkopf (Hrsg.): Geschichte als Experiment. Studien zur Politik, Kultur und Alltag im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/New York 2004, S. 121-134; Diethart Kerbs/Jürgen Reulecke (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, Wuppertal 1998. 29 ) Kasmir Edschmid: Die Situation der Kunst, in: Die Zukunft 30/1921, S. 11-17, 12. 30 ) Vgl. Geyer: Verkehrte Welt.

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ziert, in Frage gestellt oder zerstört wurden. Die revolutionären Visionen, die sich an einen Siegfrieden ebenso wie an nationale wie sozialistischrevolutionäre Bewegungen geknüpft hatten, waren gescheitert; die expressionistische Aufbruchstimmung mit ihren neuen Menschheitsträumen war passe. Selbst die Rede vom „Krieg nach dem Krieg", die eine Begründung des Bürgerkrieges liefern konnte, vermochte seit 1924 zunächst kaum mehr nennenswerte Gruppen zu mobilisieren. Anstatt in der vormals propagierten Zukunft, sahen sich die Zeitgenossen in der Gegenwart ankommen: In einer vielleicht ungeliebten, vielleicht auch gehassten republikanischen Gegenwart, welche nicht nur für diejenigen, die wegen politischer Straftaten im Gefängnis einsaßen (und bald amnestiert wurden), unentrinnbar schien, sondern in der alle sich zunächst einmal einzurichten hatten. Beschrieben wurde diese Ankunft schon zeitgenössisch auf verschiedene Weise: Als große Ernüchterung, zu der auch die „Vernunft" der „Vernunftrepublikaner" zu rechnen ist, oder als Zwang zur Sachlichkeit und zu einem gegenwartsbezogenen Realismus, welcher, um mit Helmut Lethen zu sprechen, neue „Verhaltenslehren der Kälte" zur Bewältigung eben dieser Gegenwart erforderlich machte.31) Kennzeichnend für breite Teile der Gesellschaft der Weimarer Republik war ein tief sitzender Zynismus, der überall „Betrug", „Verrat", „Korruption" und den Einfluss sinistrer Kräfte erkannte und dabei jede Autorität mit aggressivem Hohn und Spott zu überziehen vermochte. Ein Indiz dafür ist die Rede von der „inneren Zerrissenheit" und vom Verlust von „Ordnung".32)

in. Der Eindruck trügt nicht: Nichts trennte mehr als diese gemeinsame Gegenwart, in welcher sich die sozialen und politischen Strömungen und Bewegungen wieder fanden. Die historische Forschung hat die fragmentierten politisch-sozialen Milieus und ihre Kultur ausführlich beschrieben.33) In seinem Buch „Ideologie und Utopie" aus dem Jahr 1928 hat Karl Mannheim eine Interpretation dieser Fragmentierung anhand unterschiedlicher Zeitkonzepti-

31

) Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M. 1994. 32 ) Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1983, Bd. 2, S. 741-839. 33 ) Detlef Lehnert/Kiaas Megerle (Hrsg.): Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur der Weimarer Republik, Opladen 1989; Ders. (Hrsg.): Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung, Opladen 1990; Dirk Schumann: Einheitssehnsucht und Gewaltakzeptanz. Politische Grundpositionen des deutschen Bürgertums nach 1918 (mit vergleichenden Überlegungen zu den britischen middle classes), in: Hans Mommsen (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung. Sozialer Wandel und Formveränderung der Politik, Köln u.a. 2000.

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onen geliefert. Im Mittelpunkt stehen hier die sozialen Hauptströmungen des utopischen Denkens, das von ihm - unter Rückgriff auf Ideen von Ernst Bloch - luzide als „wirklichkeitstranszendente Orientierung" definiert wird: Der orgiastische Chiliasmus der Wiedertäufer, die liberal-humanitäre wie die konservative Idee bis hin zur sozialistisch-kommunistischen Utopie mit ihren jeweils unterschiedlichen Selbstpositionierungen bezüglich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Weniger die historische Rekonstruktion war Mannheims primäres Interesse; vielmehr ging es ihm um die in gewisser Weise eingefrorene Präsenz unterschiedlichster sozialer Bewegungen der Vergangenheit, mithin um die „gleichzeitig daseienden Gestalten des utopischen Bewußsteins im Kampf untereinander": Gegenwart ist „gewesene Utopie", und die politisch-sozialen Schichten der deutschen Gesellschaft sind „Reste gewesener Utopien".34) Als das Buch erschien, vermochte Mannheim 1929 allenthalben eine „Senkung", ja „Zersetzung" der utopischen Intensität und der in ihr liegenden „Seinstranszendenz" zu erkennen. Er führte diese Entwicklung auf die Tatsache zurück, dass sich die nebeneinander stehenden Bewegungen gegenseitig relativierten, zugleich aber auch auf die entzaubernden Wirkungen wissenschaftlicher Analysen und insbesondere auf die allenthalben zu beobachtenden Zeittendenzen der „Sachlichkeit" und des Amerikanismus.35) Die Macht der Kräfte der Gegenwart schuf, etwas überspitzt formuliert, die Voraussetzungen für den Abgesang älterer Utopien, deren Präsenz jedoch aus Sicht Mannheims überall zu spüren war. Wahrscheinlich musste man sich in einem universitären Umfeld wie dem Soziologischen Institut der Heidelberger Universität bewegen, wo diese mehr oder weniger in Wissenschaft umgegossenen Utopien tatsächlich von einzelnen Personen vertreten wurden,36) um diese Gleichzeitigkeit von nebeneinander liegenden, scheinbar inkompatiblen politisch-ideologischen Strömungen überhaupt akzeptieren zu können. Den meisten Zeitgenossen, auch Wissenschaftlern, erschien dies als „Relativismus", den es zu überwinden galt. Die Um- und Bearbeitung des Phänomens in ein wissenschaftliches Programm der Erkenntnistheorie war bekanntlich das produktive Ergebnis dieser Reflexion auf die Präsenz der „Ungleichzeitigkeit". Ein anderes Beispiel dafür, wie sehr unterschiedliche Zeitvorstellungen der „Selbstthematisierung der Gesellschaft"37) dienten, illustriert die Mitte der zwanziger Jahre voll einsetzende Debatte über die Bedeutung von Generatio-

34

) Karl Mannheim: Ideologie und Utopie (1. Aufl. 1929), Frankfurt a.M. 1985, S. 215, 216. Ausführlich bes. Reinhard Laube: Karl Mannheim und die Krise des Historismus. Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus, Göttingen 2004, bes. S. 403—442. 35) Ebd., S. 214, 220. 36 ) Reinhard Blomerf. Intellektuelle im Aufbruch. Karl Mannheim, Alfred Weber, Norbert Elias und die Heidelberger Sozialwissenschaften der Zwischenkriegszeit, München/Wien 1999. 37 ) Laube: Mannheim, S. 466.

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nen. In den Mittelpunkt insbesondere des akademischen Interesses rückte das Nebeneinander von Generationen in der Gegenwart, die nichts mehr trennte als die hypostasierte Differenz der eigenen „Erfahrungen". Der Kunsthistoriker Pinder lieferte wichtige Stichworte, auch indem er den Begriff der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" sehr erfolgreich in die Diskussion einführte: Unter Rückgriff u.a. auch auf Dilthey argumentierte Pinder, dass Menschen zwar in einer Abfolge des „biologischen Geschehens" lebten, d.h. Menschen verschiedenen Alters lebten zur gleichen Zeit; dennoch sei fur jeden „die gleiche Zeit eine andere Zeit, nämlich ein anderes Zeitalter seiner Selbst, das er nur mit Gleichaltrigen teilt". Die individuell erlebte und erfahrene Zeit verdichtete sich in der „gruppierenden Kraft des Gleichaltrigen" mit ihrem jeweils eingeborenen „Lebens- und Weltgefühl", dem Zeitgeist.38) Pinder führte dazu den Begriff der Entelechie ein, der sich in spezifischen konsekutiven „Stilen" niederschlägt, die zugleich zum Auftrag und zur Mission einer Generation werden. In den Mittelpunkt rückte bei ihm die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Generationen, die sich im Zeitverlauf überlagern und zugleich der Epoche ihren Rhythmus, ihren Stil gaben: Das „reine Nebeneinander der Erscheinungen ist immer Chaos. Das in ihnen verborgene Nacheinander der Generationen aber ist Rhythmus, noch mehr: Polyphonie".39) Zahleiche Autoren griffen dieses Thema historischer und gegenwärtiger Generationen auf, so dass bis zu Beginn der dreißiger Jahre eine große Fülle nicht zuletzt historischer Literatur zu diesem Thema vorlag. Die Kritik der Vorstellungen eines homogenen Zeitkontinuums, sprich: einer „linearen Zeit" spielte dabei eine wichtige Rolle; in den Blick rückten die distinkten historischen Formen von Vergemeinschaftung und Gruppenbildung.40) Auch Karl Mannheim betonte die unterschiedlichen generationenspezifischen Vergesellschaftungsprozesse in subtiler Analogie zum marxistischen Klassenbildungsprozess, namentüch beschrieb er, wie aus einer lockeren Generationslagerung ein Generationszusammenhang und schließlich eine Generationeneinheit gewissermaßen eine „Generation an sich" und eine „Generation für sich" mit spezifischen Erlebnis-, Denk- und Gestaltungsformen entstehen kann, auch mit dem einer jeden Generation eigenen Auftrag im Sinne der von ihm ansonsten kritisierten Pinderschen Entelechie.41) Die sozialen und politischen Umwälzungen seit dem Weltkrieg bildeten für diejenigen, welche sich mit dem Generationenproblem beschäftigten, den perspektivischen Ausgangspunkt für solche in immer kürzeren Phasen zu beobachtende Gruppenbildungsprozesse. Ortega y Gasset betonte die Diffe-

38

) Pinder: Problem, S. 12. 3«) Ebd., S. 27. ) Vgl. auch für das Folgende bes. Laub: Karl Mannheim, S. 468-481. 41 ) Mannheim: Generationen.

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renz zwischen einerseits der „Philosophia militans" der Jungen, den „Vordenkern einer neuen Zeit", deren Bestimmung war, eine „Ordnung der Welt vom Standpunkt des Lebens aus zu suchen" und den Konservativen, die am Althergebrachten festhielten. Andere, etwa Günther Gründel, stilisierten trotz unterschiedlicher „Erfahrungen" - eine mögliche Einheit der Front-, der Kriegsjugend- und Nachkriegsgeneration, welche beispielsweise Leopold Dingräve oder Peter Suhrkamp als nicht miteinander kompatibel betrachteten.42) Während Mannheim eine neutrale, eher analytische Position einnahm, was den Einfluss seines Beitrags schon wegen der ihm eigenen komplizierten Sprache eher begrenzte, diagnostizierten die meisten Teilnehmer nicht wie Pinder Polyphonie, sondern Dissonanz, die, so der Tenor, aufzulösen eben der Auftrag einer Generation sein sollte. Wenn Ernst Bloch schon 1932 schrieb: „Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, dass sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch nicht mit den anderen zugleich", so drückte er zweifellos eine verbreitete Stimmungslage aus.43) Wie er in Anknüpfung an frühere Überlegungen formulierte, erschien ihm Deutschland als das klassische Land der „Ungleichzeitigkeit", welches auf dem Land wie in den Städten von Menschen bevölkert war, deren „Bewußtsein" in einer „vormodernen", ständischen, ja archaischen Vergangenheit wurzelte, die sie für neue Mythen empfanglich machte. Der Nationalismus war das genuine Geschöpf dieser „Ungleichzeitigkeit", wobei Bloch auf eine extensive marxistische Debatte über falsches Bewusstsein zurückgreifen konnte. Ähnlich wie die Soziologen Emil Lederer, Theodor Geiger und Kracauer, auf deren Ergebnisse er rekurrierte, war es für ihn vor allem die Gruppe der Unselbständigen, die sich in Zeiten der Krise „archaisch verwildern und romantisieren" ließen: „Die Unwissenheit des Angestellten, wie sie vergangene Bewußtseinsstufen, Transzendenz in der Vergangenheit sucht, steigert sich in einem orgiastischen Hass gegen die Vernunft, in einen ,Chthonismus', worin Berserker und Kreuzzeugsbilder (sie!) sind, ja worin - mit einer Ungleichzeitigkeit, die stellenweise Exterritorialität wird - Negertrommeln dröhnen und Zentralafrika aufsteigt".44) Unter „gleichzeitigen Menschen",45) bei denen Sein und Be-

42

) Jose Ortega y Gasset: Die Aufgaben unserer Zeit, Zürich 1928, S. 49; Dingräve Leopold (= Ernst Wilhelm Eschmann): Wo steht die junge Generation, Jena 1931; E(rnst) G(ünther) Gründet Die Sendung der Jungen Generation. Versuche einer umfassenden revolutionären Sinndeutung der Krise, München 1932; Peter Suhrkamp: Die Sezession des Familiensohnes, in: Neue Rundschau 43/1/1932, S. 94-112. Es ist interessant zu verfolgen, wie Historiker an diesen zeitgenössischen Diskussionen anknüpfen vgl. Jürgen Reulecke unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner (Hrsg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003. 43 ) Bloch: Erbschaft, S. 104; vgl. auch ausführlich Beat Dietschy: Gebrochene Gegenwart. Ernst Bloch: Ungleichzeitigkeit und das Geschichtsbild der Moderne, Frankfurt a.M. 1988. 44 ) Ebd., S. 110. 45 ) Ebd., S. 112.

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wusstsein im Einklang miteinander waren, wären nach Bloch solche Reaktionen auf die Weltwirtschaftskrise nicht zu erwarten gewesen. Dialektisches Handeln in der Zeit hieß für den Utopisten und Marxisten Bloch aber auch, eben diese Heilserwartungen der Menschen für die eigene Bewegung so zu vereinnahmen, wie diese seiner Meinung nach wichtige Elemente des Linken vereinnahmt hatte. Verstanden bei dem eingangs zitierten Loos „unmoderne Menschen" nicht die „violetten Schatten", richtete Bloch an die Linke den Appell, das „ultraviolett", also die ,.Zukunfts-Transzendenz, welche der Marxismus implizit enthält, zum Zweck der Besetzung und Rationalisierung der irrationalen Bewegungen und Gehalte (...)" ernst zu nehmen.46) Andere Beispiele ließen sich für diesen Diskurs über „Ungleichzeitigkeit" anführen. Dazu zählt die Faszination, die von den Physiognomien, namentlich der Suche nach dem „deutschen Gesicht" ausging: Auf dem Land gab es, wie Bloch formulierte, „Gesichter, die bei all ihrer Jugend so alt sind, dass sich die ältesten Leute in der Stadt nicht mehr erinnern",47) die zu dokumentieren etwa die (politisch keineswegs Bloch nahestehende) Fotografin Lendvai-Dirksen übernahm.48) Alle diese Diagnosen der Ungleichzeitigkeit basierten auf einer gesteigerten Sensibilität für die differierenden „Eigenzeiten" von Individuen, Gruppen und sozialen Organisationen, mit ihren jeweils eigenen sozialen „Zeitstilen" sowie ihren jeweils eigenen Rhythmen und Tempi - Themen, welche, zumal in der Philosophie und der Literatur, in den modernistischen Debatten über Strukturierung einer „inneren Zeit" einen überwältigenden Einfluss ausübten.49) Damit einher ging eine eindringliche Wahrnehmung von Phänomenen ungleichzeitiger Entwicklungen, die als Überwindung starrer linearer Zeitmodelle auf der einen Seite begrüßt, auf der anderen Seite - zumal mit Blick auf gesellschaftliche und poütische Entwicklungen - vielfach als Zersplitterung und Desintegration wahrgenommen wurden.

46

) Ebd., S. 157; für weiterreichende Überlegungen, die u.a. auf die Bedeutung Blochs für soziologische Theorien der Differenzierung und die Implikationen für eine Geschichtsphilosophie, welche historische Kontinuitäten sprengt, abheben, vgl. Uhl: Gebrochene Zeit, S. 64-67, 72 f. 47 ) Ebd. S. 106. 48 ) Die Fotografin Lendvai-Dircksen legte seit 1932 eine Serie von Büchern mit dem Titel das Deutsche Volksgesicht, später auch das Germanische Volksgesicht vor. Eine Biographie steht aus. Vgl. Gabriele Pilipp Claudia: Ems Lendvai-Dircksen (1983-1962). Verschiedene Möglichkeiten, eine Fotografin zu rezipieren, in: Fotogeschichte 3/1983, S. 3953. 49 ) Für einen kurzen, wenn auch wenig analytischen Überblick vgl. Wendorf. Zeit, Kap. 14.

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IV. An Versuchen, neue Formen von „Gleichzeitigkeit" zu generieren, fehlte es in der Weimarer Republik nicht, obwohl auf den ersten Bück ihr Scheitern ins Auge sticht. Dazu zählen die Schwierigkeiten der Weimarer Republik, Formen der emotionalen Vergemeinschaftung zu etablieren, die ein Gefühl nationaler Gleichzeitigkeit hätten aufkommen lassen können. So wurde in Reaktion auf den Rathenaumord der Versuch unternommen, eine reichsweite nationale Gedenkminute für das Opfer einzuführen, in der das öffentliche Leben ruhen sollte. England gedachte jährlich im November mit einer Gedenkminute an den Tag des Waffenstillstands. Der Versuch scheiterte kläglich, und zwar ebenso aus Desinteresse wie aus politisch motivierter Opposition. Schon allein die Debatte über diese Frage drohte, wie der Reichskunstwart vorausschauend warnte, mehr politische Dissonanzen denn Einigkeit zu erzeugen, so dass weitere, in diese Richtung zielende Anstrengungen unterblieben.50) Anlässlich der Abhaltung nationaler Feiertage wiederholten sich derartige Diskussionen. Die Feierlichkeiten zum Jahrestag der Republikgründung wurden eher zu Demonstrationen nationaler Ungleichzeitigkeit. Das galt noch viel mehr im Hinblick auf die Kommemoration der Bismarckschen Reichsgründung und des Kriegsbeginns 1914 durch die „vaterländischen" Gruppen und Parteien einerseits und die Feierlichkeiten zum 1. Mai durch die Arbeiterbewegung andererseits. Die Inszenierung reichsweiter Kundgebungen durch die politischen Teilkulturen verstärkte nur jenen schon von zeitgenössischen Beobachtern oft konstatierten Eindruck der Gemengelage „ungleichzeitiger" sozialer und politischer Entwicklungen, das heißt einer scharfen Konkurrenz unterschiedlicher, gruppenspezifischer Vergangenheits-, Zukunfts- und Gegenwartsorientierung. Und dieser Eindruck wiederholte sich immer dann, wenn in der Weimarer Republik Politik thematisiert und durch die Medien inszeniert wurde: Neben Berichten über politische Skandale und spektakuläre Prozesse seien nur die Reichstagswahlen genannt, die, zumal seit 1930, einen eigenen Rhythmus nationaler „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" schufen, auf den nicht zuletzt Ernst Bloch bei seinen Überlegungen rekurrierte. Zugleich illustrieren gerade die technischen und medialen Erfindungen die Chancen, neue Formen sozialer, aber auch nationaler Gleichzeitigkeit zu 50 ) Trauerkundgebung für Rathenau, in: Frankfurter Zeitung 471, 27.6.1922; Die Durchführung der heutigen Arbeitsruhe, in: Preußische Neue Zeitung (Kreuz-Zeitung), 293, 27.6.1922. Zu den Bemühungen um nationale Gedenktage in der Weimarer Republik vgl. Lehrten: Politische Identität; Annegret Heffen: Der Reichskunstwart - Kunstpolitik in den Jahren 1920-1933. Zu den Bedingungen um eine offizielle Reichskunstpolitik in der Weimarer Republik, Essen 1986, S. 163-176; Sabine Behrenbeck·. Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945, Vierow bei Greifswald 1996, S. 282-294.

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generieren. Wer die technisch-funktionale Modernität der Weimarer Republik in den Vordergrund stellt, läuft zwar immer Gefahr, Klischees zu bemühen, zumal dann, wenn Berlin gewissermaßen zur Synekdoche eines ganzen Landes wird, eines Landes, in dem Kleinstädte, Misthaufen und provinzieller Mief nach wie vor das dominierende Gegenmodell zu den neuen Urbanen Glasfassaden darstellten.51) Dennoch: Die Chancen und die Versprechen der technisch-funktionalen Modernität und die damit propagierten neuen Konsumwelten einer neuen Urbanen Massenkultur - beides wurde über den Amerika-Diskurs vermittelt - beherrschten die Imaginationen der Zeitgenossen.52) Öffentliche Uhren und damit die Vorstellung der Koordination des öffentlichen Lebens durch die „mechanische Zeit" repräsentierten eine Möglichkeit der Schaffung sozialer Gleichzeitigkeit. Die von Firmen wie der Normalzeit GmbH verkauften und geregelten Normaluhren waren Symbole des Fortschritts und setzten sich nach dem Krieg in der städtischen Landschaft auf breiter Front durch: Die Normalzeit der Sternwarte der Reichshauptstadt Husserls „Weltzeit" - ließ sich flächendeckend, notfalls sogar nach Meßkirch verbreiten.53) Diese Uhren repräsentierten jene sachliche Nüchternheit, die sich vor allem Mitte der 20er Jahre auf breiter Front durchsetzte und mit der das Versprechen auf Integration komplexer Massengesellschaften und eine Zukunft bescheidenen Wohlstands einherging. Zu nennen ist Walter Rutmanns „Berlin, Symphonie einer Großstadt" (1927), wo eben diese öffentlichen Normaluhren im Stundentakt den Tagesablauf der Menschen der Großstadt Berlin synchronisieren. In Fritz Langs Film „M. Eine Stadt sucht einen Mörder" (1931) bekämpft die Polizei mittels moderner (über Uhrenanlagen synchronisierter) Alarmanlagen großstädtische Gangster, mit denen gleichzeitig Aktion und Reaktion ermöglicht wurden. Diese Uhren waren nicht nur Voraussetzung und Triebkraft der technischindustriellen Rationalisierung mit ihrem Wohlstandsversprechen. Zeitnormierung und Zeitdisziplin waren ihre Bedingung. Dieses Rationalisierungsparadigma lässt sich bis in den sozialen Wohnungsbau verfolgen, wo die Anordnung der Wohnungsfläche bis hin zur Gestalt der Küche der Gleichförmigkeit

51

) Janet Ward: Weimar Surfaces. Urban Visual Culture in 1920s Germany, Berkeley, Cal. 2001. 52 ) Alf Lüdtke u.a. (Hrsg.): Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1996, darin besonders Eve Rosenhaft·. Lesewut, Kinosucht, Radiotismus: Zur (geschlechter-)politischen Relevanz neuer Massenmedien in den 1920er Jahren, S. 119-143; mit einer anderen Perspektive vgl. Heffrey Herf. Reactionary Modernism. Technology, Culture, and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge, Mass. 1984; Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 18501970, Frankfurt a.M. 1997. 53 ) Vgl. Ulla Merle: Tempo! Tempo! Die Industrialisierung der Zeit im 19. Jahrhundert, in: Igor A. Jenzen (Hrsg.): Die Geschichte der Uhr und ihres Gebrauches, Frankfurt 1989, S. 161-217.

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des modernen Lebensablaufs entsprechen konnte.54) Die Attraktivität dieser durch Uhren vermittelten Zeitdisziplin bestand nicht zuletzt in der Kultur der Geschwindigkeit, welche Peter Borscheid jüngst anschaulich beschrieben hat. Mediale Massenspektakel wie Sportfeste, Fußballendspiele oder Motorradund Autorennen waren die Versuchsfelder inszenierter nationaler Gleichzeitigkeit. Geschwindigkeit vermittelte nicht nur jene Dynamik, mit der „Amerika" identifiziert wurde; vielleicht wichtiger noch: Sie produzierte Gegenwart in der Form eines imaginierten nationalen Erlebnisraums. Mochten sich auch einzelne Gruppen wie die Turner vehement gegen die Messung sportlicher Leistungen durch Uhren aussprechen, so praktizierten sie auf ihre Weise bei den Turnfesten durch eine minutiös eingeplante Choreographie nationale Gleichzeitigkeit. Ein Beispiel dafür ist der anlässlich des 50. Jahrestags der Einweihung des Hermannsdenkmals bei Detmold im Sommer 1925 abgehaltene Sternlauf. Aus allen Teilen Deutschlands, von der litauischen Grenze ebenso wie von der Zugspitze, machten sich Läufer auf den Weg zum Denkmal, wo sie pünktlich am 16. August eintrafen. Neben den 16 sternförmig organisierten Hauptläufen fanden gleichzeitig 50 regional organisierte Nebenläufe statt, an denen über 130 000 Läuferinnen und Läufer aus über 6 000 Sportvereinen teilnahmen, wobei auf den einzelnen Etappen ähnliche, die nationale Einheit und Einigkeit beschwörende Reden gehalten wurden. Die Läufer reichten sich Urkunden der Turnvereine weiter, die mit politischen Sinnsprüchen und Grüßen aus der Heimat versehen waren. Diese wurden von den am 16. August am Hermannsdenkmal eintreffenden Schlussläufern feierlich verlesen. Mit dem Verkauf von Abzeichen, Ankündigungen in Zeitungen und einem kurzen Werbefilm wurde schon im Vorfeld intensiv für das Ereignis geworben, und ein auf dem Ereignis beruhender Dokumentarfilm mit seiner Visualisierung und Komprimierung von Zeit und Raum konnte zweifellos den Eindruck nationaler Gleichzeitigkeit dieses durch minutiöse Zeitvorgaben strukturierten nationalen Massenspektakels verstärken.55) Die nach dem Krieg rasch expandierende Medienindustrie förderte solche Inszenierungen von Gleichzeitigkeit, auch weil sie, nicht zuletzt aus ökonomischen Gewinninteressen, das Reichsgebiet als einen Kommunikationsraum

54 ) Herrmann Glaser: Maschinenwelt und Alltagsleben, Frankfurt a.M. 1981. Adelheid von Saldern: „Statt Kathedralen die Wohnmaschine". Paradoxien der Rationalisierung im Kontext der Moderne, in: Frank Bajohr u.a. (Hrsg.): Zivilisation und Barbarei, Hamburg 1991, S. 168-192; Dies. : Social Rationalization of Living and Housework in Germany and the United States in the 1920s, in: The History of the Family 2/1997, S. 73-97. 55 ) Lorenz Pfeiffer: Herrmannsfeier und Hermannlauf der Deutschen Turnerschaft im Jahre 1925, in: Stadion. Internationale Zeitschrift für Geschichte des Sports 12/13/1986/87, S. 137-142; neben den ausführlichen Berichten der Deutschen Turner-Zeitung in den Jahrgängen 69 und 70 (1924 u. 1925), Der Hermannlauf der deutschen Turner. Vom Zugspitzhaus durchs Bayernland, in: Münchener Neueste Nachrichten 15/16. August 1925, S. 11.

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weiter erschloss.56) Diese Medienschauspiele gingen einher mit Bildern und Appellen an eine elektrisierende emotionale Gleichzeitigkeit, auf die Peter Fritzsche mit Blick auf die Flugshows und die ersten transatlantischen Flüge hingewiesen hat.57 Die Fahrten des Zeppelins, welche die Menschen zu tausenden auf die Straßen lockten und über welche die Medien genauestens berichteten, appellierten an „modernistische Visionen und nationale Träume", denen sich auch Kritiker des Spektakels aus den Reihen der Linken nicht ohne weiteres zu entziehen vermochten. Mit dem ersten Transatlantikflug des Zeppelins LZ 127 im Jahr 1928 und im folgenden Jahr der ersten Weltumrundung konnten ein Deutscher und „deutsche Technik und Ingenieurskunst" an den großen Erfolg von Charles Lindberg anknüpfen.58) Die Vermarktung des weltweiten Zeppelinflugs übernahm auf amerikanischer Seite der Pressekonzern von William Randolph Hearst, auf deutscher Seite die Konzerne Ullstein, Scherl und die Frankfurter Zeitung. Drei Wochen lang bombardierten sie die Öffentlichkeit neben ihren regulären Morgen-, Mittagsund Abendausgaben mit Sonderausgaben:,.Deutsche Technik" war ein Mittel der Einstimmung durch Gleichzeitigkeit,59) welche, so der Eindruck, der 1929 entstehen konnte, nicht nur alle anderen inneren Divergenzen zu überwölben schien, sondern auch ein Gefühl nationaler wie transnationaler Gemeinschaft zu erzeugen vermochte. Auch der Rundfunk berichtete über diese Ereignisse. Mittels Interviewreportagen ließ sich ein Moment der authentischen Unmittelbarkeit erzeugen, das jenes der Zeitungsberichte noch weit übertraf. Die Verbesserung der Radiotechnik unter anderem durch die flächendeckende Erschließung auch der Provinz mit leistungsfähigen Sendern und die Ersetzung der Kopfhörer durch Lautsprecher, womit das Radiohören in größeren Gruppen ermöglicht wurde, schuf ein attraktives Konsumprodukt, das eine neuartige Vermittlung zwischen privater und öffentlicher Sphäre möglich machte. Mehr als alles andere erreichte das Radio eine „Verflüssigung örtlicher Gebundenheit" und schuf damit die Möglichkeiten „einer neuen Synchronität", eines „Gleichzeitigkeitserlebens":60) von Spektakeln wie den Zeppelinfahrten, Reden von

56

) Leider liegen über das überregionale Medienangebot in der Provinz wie überhaupt über den Medienkonsum wenig Informationen vor. Für einen Überblick der Literatur vgl. Andreas Schulz: Der Aufstieg der „vierten Gewalt". Medien, Politik und Öffentlichkeit im Zeitalter der Massenkommunikation, in: HZ 270/2000, S. 65-97. 57 ) Für das Folgende vgl. Peter Fritzsche'. Α Nation of Fliers. German Aviation and the Popular Imagination, Cambridge, Mass./London 1992, bes. S. 133-153. 58 ) Hermann Köhl (Hrsg.): Deutsche Stimmen zum ersten Nord-Atlantikflug von Ost nach West, Berlin 1929. 59 ) Fritzsche: Nation, S. 145 spricht mit Blick auf die mediale Inszenierung der Weltumrundung des Zeppelins von einem medialen „global village". t") Carsten Lenk: Medium oder Privatheit? Über Rundfunk, Freizeit und Konsum in der Weimarer Republik, in: Inge Marßolek/Adeüieil von Saldern (Hrsg.): Radiozeiten. Herrschaft, Alltag, Gesellschaft (1924-1960), Potsdam 1999, S. 206-217, 215, 217; Ders.: Die

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Politikern und anderen bekannten Persönlichkeiten, nicht zuletzt durch Musik, egal ob es sich nun um klassische Konzerte oder die (angesichts des hochgehaltenen Βildungsstandards nur zögerlich eingeführte) leichte Muse handelte. Radio vermochte nicht nur den Alltag und lebensweltliche Routinen zu strukturieren, sondern schuf neue, virtuelle Hörergemeinschaften. Die Radioübertragung von Opern und Konzerten für die um das Gerät versammelten Gruppen, nicht zuletzt Familien, stellten auch in Deutschland ein machtvolles, politisch vielfältig einsetzbares Bild der Zeit dar.61) Die Vorstellung von „gleichzeitigen Menschen" lebte von Formen der Vergesellschaftung, die dem Uhrenbeispiel analog sind. Sie dreht sich um Menschen, die in der Gegenwart leben, ohne die Last und die Mythen der Vergangenheit. Konservative wie Linke mochte es gleichermaßen verblüffen, gelegentlich auch erregen, wie hedonistisch die zeitgenössische Kulturindustrie mit solchen Bildern der Gegenwart, der Vergangenheit wie einer möglichen Zukunft umging und diese verformte. Auf breiter Front war eine Verschiebung hin zur Jetztzeit und Zukunft zu Beobachten. Der „Polytheismus der Werte" (Ernst Troeltsch) erscheint gerade in diesem Kontext allgegenwärtig. Im Luna-Park wie in der Illustrierten Presse ließ sich alles mit jedem in Bezug bringen: Der neue Weihbischof von München-Freising, Dr. Michael Buchberger, erschien in der Münchener Illustrierten Zeitung gleich neben dem eben verstorbenen Lenin - eingerahmt von Bildern aus dem Mexikanischen Bürgerkrieg und solchen vom „Radiofieber" in New York. Das Brandenburger Tor diente nicht als Kulisse für politische Aufmärsche und preußische Traditionen, sondern vielmehr als Hintergrund für neue stromlinienförmige Autos. Im Kontext der Bilder von amerikanischen und deutschen Filmdiven, Sportlern, Autos, Radios und Menschen moderner Großstädte wirkte der große Aufmarsch der vaterländischen Verbände in Halle 1924 fast wie ein Kostümball (ohne dass eine ironische Dimension zu erkennen oder gar zu erwarten wäre).62) Historisch „Ungleichzeitiges" wurde in diesen Bildern offenbar problemlos „gleichzeitig". Man vermag hier einige Merkmale einer neuen, sich herausbildenden „medienindustriellen Öffentlichkeit" erkennen,63) die sich durch hedonistische Aneignung von Objekten der industriellen Konsumwelt ebenso wie der Geschichte auszeichnet und

Erscheinung des Rundfunks. Erscheinung und Nutzung eines neuen Mediums, Opladen 1997. 61 ) Diese Bilder werden in vielen Zeitschriften vermittelt. Das gilt es im Auge zu behalten, wenn man die begrenzte Massenwirkung des neuen Mediums Radio in den zwanziger Jahren betont, wie z.B. Christian Fuhrer. Auf dem Weg zur „Massenkultur"? Kino und Rundfunk in der Weimarer Republik, in: HZ 262/1996, S. 739-783. « ) Münchener Illustrierte Presse 1924, Nr. 8, S. 122; ebd. Nr. 18, S. 286; ebd. Nr. 25, S. 318; vgl. auch Rosenhaft: Lesewut. 63 ) Henning Eichenberg: Lebenswelten und Alltagswissen, in: Dieter Langewiesche!HeinzElmar Tenorth (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 5: Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, München 1989, S. 25-64, bes. S. 40 ff.

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dabei ganz auf die Gegenwart fixiert ist. Diese neue medienindustrielle Öffentlichkeit lässt sich nur schwer einzelnen sozialen Gruppen zuordnen, wenngleich viele Zeitgenossen, zumal die kritische linke Intelligenz im Umfeld der Frankfurter Schule ebenso wie Ernst Bloch, auf die Angestellten und ihre Kultur der „Oberflächlichkeit", „Sentimentalität" und „Irrationalität" verwiesen.

V. Schon 1929 prognostizierte Mannheim die Möglichkeit, dass im Falle einer Krise des „Industrialismus" und des mit ihm verbundenen Prosperitätsversprechens „auf allen Polen die utopischen und ideologischen Elemente von neuem" aufflackern könnten; wie andere Intellektuelle sorgte auch er sich um den Verlust der durch den Amerikanismus beförderten „Seinstranszendenz". Unter der Decke der Moderne schlummerten alle jene von Mannheim diagnostizierten älteren utopischen Energien. Genau an diesem Punkt setzten Autoren wie Siegfried Kracauer und Theodor Geiger bei ihren Betrachtungen der Angestelltenkultur und des Mittelstandes ein, Überlegungen und Beobachtungen, welche Ernst Bloch dann in der schon zitierten „Erbschaft dieser Zeit" mit aller Dramatik als Triumph des „Ungleichzeitigen" fortschrieb.64) In der Krise tauchte jenes Moment der „Ungleichzeitigkeit" wieder auf, das scharf als ein Verlust von Gegenwart wahrgenommen wurde. Tatsächlich stellte die Wirtschaftskrise vieles von dem, was in den zwanziger Jahren als schnell erreichbar schien, in Frage. Dazu gehörte insbesondere auch die Annahme, dass Prosperität die Voraussetzung für Stabilität erzeugen würde. Diese Erwartungen wurden enttäuscht. Vor diesem Hintergrund lässt sich seit 1930 ein Schub von neuen Suchbewegungen beobachten, wobei die religiösen Obertöne nicht zu überhören waren. Die vielen, frei vagierenden Apostel nationaler und lebenspraktischer Utopien und allen voran die Propaganda der NSDAP blühten in der Krise auf. Eine ältere Historiographie hat den unübersehbaren Hang zum „Irrationalismus" und zu „anti-demokratischem Denken" herausgearbeitet.65) Nicht erst jetzt lässt sich in den kulturM ) Mannheim: Ideologie, S. 221. Zur zeitgenössischen Debatte über die Angestellten vgl. Blomert: Intellektuelle, S. 71-104; Siegfried Kracauer. Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland (1929), Frankfurt a.M. 1971; S. Theodor Geiger: Panik im Mittelstand, in: Die Arbeit 7/1930, S. 637-654; in dieser Tradition dann auch Jürgen Kocka: Ursachen des Nationalsozialismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 25, 21. Juni 1980, S. 3-15. Zu den Schwächen und empirischen Unzulänglichkeiten solcher Annahmen vgl. u.a. Jürgen Falter: Hitlers Wähler, München 1991. 65 ) Fritz Stern: The Politics of Cultural Despair. A Study in the Rise of the Germanic Ideology, Berkeley, Cal. 1961; Kurt Sontheimer. Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik (1962), München 1978.

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kritischen Strömungen vermehrt ein „Ausstieg aus dem historischen Zeitmodell", oder wie Friedrich Wilhelm Graf prägnant formuliert, der „Versuch, Geschichte durch Übergeschichte" zu überwinden, beobachten.66) Konjunktur hatten Mythen, die sich um überzeitliche Konzepte und Begriffe, um Germanen, Raum, Blut und Rasse oder politische Differenzen überwölbende Werten des Spenglerschen „deutschen Sozialismus" drehten. In eine ganz ähnliche Kerbe schlugen die von Lutz Raphael untersuchten technischen Experten. Sie propagierten neue soziale Technologien, welche sich als Mittel einer zu schaffenden sozialen Gleichzeitigkeit verstehen lassen: Sie vertraten neue Formen des sozialen Lebens, egal ob es sich um die Raum- und Stadtplanung, Medizin oder Bevölkerungspolitik handelte. Die diesen Ordnungsphilosophien zugrunde liegenden Sozialtechnologien waren Mittel der sozialen Integration einer, so die verbreitete Diagnose, krisenhaften, desintegrierten modernen Gesellschaft. Zu sehen ist das selbst bei einem ideologisch so unverdächtigen Autor wie dem in das politische Exil geflüchteten Karl Mannheim, der nun für die „Planung" und die Vermeidung von „Disproportionalitäten" plädierte. Es handelte sich um ein Mittel, um „Ungleichzeitigkeit" zu verhindern, die „zur Katastrophe führen kann".67) Bemüht wurde der Topos der (Volks-)Gemeinschaft. Wer auch immer seit dem Krieg diese Idee propagierte, dachte dabei an die Vergemeinschaftung von Menschen in einer gemeinsamen Zeit, etwa in der nationalen Schicksalsgemeinschaft. Die vielfältigen Formen zeitgenössischer Imagination möglicher Zukunftsvisionen sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass es dabei immer um die Suche nach einer gemeinsamen Gegenwart ging. Das für die meisten Zeitgenossen überraschende war, wie die Nationalsozialisten die Gunst der Stunde nutzten und die rivalisierenden „ungleichzeitigen" „Generationen", „Klassen", „Interessen" der „Nationalsozialistischen Volksgemeinschaft" überantworteten, sei es durch die radikale Unterdrückung von Gruppen, sei es durch die Unterbindung von älteren Diskussionen. Diese Volksgemeinschaft lebte mehr als alles andere von der permanenten Inszenierung sozialer und nationaler „Gleichzeitigkeit" nicht nur in der Form einer von Klemperer frühzeitig beobachten Lingua Tertium Imperii, sondern auch

«) Hardtwig: Krise, S. 60; Graf. Geschichte; Behrenbeck·. Kult, bes. S. 77-149, ClausEkkehard Barsch: Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiöse Dimension der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler, München 1998; Bussche: Konservatismus, S. 253-351. 67 ) Lutz Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: GG 22/1996, S. 165-193; Oers. ·. Sozialexperten in Deutschland zwischen konservativem Ordnungsdenken und rassistischer Utopie (1918-1945), in: Hardtwig (Hrsg.): Utopie und politische Herrschaft, S. 327-346; Karl Mannheim: Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus (erweiterte Fassung der Ausgabe von 1935), Darmstadt 1958, S. 48 f.; Uhl: Gebrochene Zeit, S. 63. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Peter Wagner: Soziologie der Moderne, Frankfurt a.M. 1995.

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vermittels jener konsum- und massenindustriellen Formen, für die die Weimarer Zeit ein riesiges Experimentierfeld war. Und nicht zu vergessen: Der Appell an vermeintlich überzeitliche Werte wie „Rasse" und „Volk" implizierte Momente der „Gleichzeitigkeit", welche an die rassische Gemeinsamkeit der „Volksgenossen" unter Ausschluss der „Gemeinschaftsfremden" appellierte. In pathetischer und verschlüsselter Form hat der Mediävist Hermann Heimpel 1954 die in das Jahr 1914 zurückreichenden, enttäuschten Erwartungen an eine nationale Gleichzeitigkeit folgendermaßen formuliert: „Ein großes gemeinsames Schicksal kann von fremden Menschen so gegenwärtig empfunden werden, daß sie sich auf der Straße um den Hals fallen: August 1914. Wenn es aber September und Oktober wird, November und 1943, zeigt sich, daß die Fremden keine gemeinsame Gegenwart haben, sondern jeder die seine. Es bedarf dann des Luftschutzkellers oder des Flüchtlingstrecks, wo Angst und Not Alt und Jung, Freund und Feind zu schrecklicher Gegenwart vereinen. Wo aber kein blindes Schicksal droht, wo die Menschen sehen und denken, planen und sich erinnern, da gibt es von Mensch zu Mensch und von Volk zu Volk in der gemeinsamen Gegenwart verschiedene Gegenwarten".68) Wir wissen es zweifellos besser: Für die „Volkfremden" begann nicht erst im Jahr 1943 der Verlust der „gemeinsamen Gegenwart". Gerade ihre Ausgrenzung in der Zeit des Nationalsozialismus produzierte jene fundamentale Erfahrung von „Ungleichzeitigkeit", die nicht nur einen Historiker wie Reinhart Koselleck während seines Forscherlebens beschäftigte.

68

) Hermann Heimpel: Der Mensch in seiner Gegenwart, in: Ders. (Hrsg.): Der Mensch in seiner Gegenwart, Göttingen 1954, S. 9-41,11.

III. Geschlecht - Körper - Emotion

Kulturkritik und Geschlechterverhältnis Zur Krise der Geschlechterordnung zwischen Jahrhundertwende und „Drittem Reich" Von Ute Planert

„Du unser geliebtes Weib! - Gerade jetzt, da wir technisch die Welt bezwungen, da unsere Gelehrten in die tiefsten Geheimnisse der Natur eindringen, da der gute alte Kinderhimmel immer weiter von uns rückt - jetzt, da um uns überall Räder surren und Maschinen keuchen, da alles hastet und lärmt und drängt, da das Leben an unseren Nerven zupft, wie ein wahnsinniger Geiger an den Saiten, da der Boden unter unseren Füßen zu wanken beginnt und der Schwindel des rasenden Fortschritts unser Hirn verwirrt - gerade jetzt brauchen wir Dich am notwendigsten."1)

Tatsächlich war das deutsche Kaiserreich drei Jahrzehnte nach seiner Gründung in einem Wandlungsprozess begriffen, der die Mitlebenden schwindlig machen konnte: Die Industrieproduktion hatte sich fast verdoppelt, die Bevölkerung war von 40 auf 60 Millionen angewachsen, immer mehr Menschen zog es in die Stadt. Neue Techniken veränderten den Alltag, und die Naturwissenschaften mit ihrem enormen Erkenntnisfortschritt schickten sich an, Geschichte und Philosophie als gesellschaftliche Leitdisziplinen abzulösen.2) Die raschen wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen stellten die Zeitgenossen vor große Herausforderungen - nicht nur in Hinblick auf die Organisation des sozialen und politischen Lebens, sondern auch in Bezug auf die eigene Verortung in einer Welt, deren einzige Konstante ein beständiger Umbruch zu sein schien. Zu haltlosen „Gesellschafts-Atomen"3) zerstoben und dem „atemberaubenden Wirbeltanz des modernen Lebens" ausgeliefert,4) entwickelten nicht wenige bürgerliche Männer seit der Jahrhundertwende eine umfassende Skepsis gegenüber den Erscheinungsformen der Moderne, die mit „Kulturpessimismus" nur unzureichend beschrieben ist.5) Inmitten

') Stefan von Kotze: Altjungfemkoller. Randbemerkungen zur Feministik, Berlin o.J. [1904], S. 55. ) Vgl. Thomas Nipperdey. Deutsche Geschichte 1866-1918, 2 Bde., München 1990/1992; Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, München 1995; Hans-Peter Ullmann: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Frankfurt a.M. 1995. 3 ) Vgl. A. Langer: Die Krise des Marxismus, in: Deutschlands Erneuerung 6/1922, Nr. 10, S. 611-618, ZitatS. 613. 4 ) Vgl. Max Glage: Kirche und Frauenemanzipation, Schwerin 1927, S. 14. 5 ) Vgl. die klassische Studie von Fritz Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Bern 1963. 2

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des permanenten Wandels sehnten sie sich nach Dauerhaftigkeit und glaubten die erstrebte Konstanz im Gegenbild der Frau zu finden, deren vermeintliches Wesen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert mit dem stetigen Urgrund der Natur identifiziert worden war.6) Die weibliche, vom „Daseinskampf verschonte Kleinwelt der Körper- und Seelenwerte" sollte ein Gegengewicht gegen die „materielle technische Macht- und Außenkultur" bilden und „den Zusammenhang mit einer höheren Welt erhalten", einer spirituellen Sphäre, bei der die einen noch an Gott, die anderen schon an das Evangelium der Rasse dachten.7) Gerade humanistisch gebildete Zeitgenossen mussten feststellen, dass ihre Kenntnisse nicht mehr das symbolische Kapital einbrachten, auf das sie Anspruch zu haben glaubten. Diese Erfahrung schlug sich in heftiger Kritik am „Zeitalter ödester Milligramm- und Millimeterforscherei"8) nieder, in einem Anti-Intellektualismus, der die moderne Wissenschaft als Ursache der Orientierungslosigkeit denunzierte. Den Kritikern und Kritikerinnen der „Hirnkultur"9) erschien es daher von größter Bedeutung, dass die nicht in den Produktionsprozess eingebundene Frau „durch das Räthselvolle und Naturgebundene, das Ahnungsreiche und Impulsive in ihrem eigenen Wesen die Menschheit vor den Gefahren der Ueberkultur" schützte.10) Die Ablehnung von Intellekt und rationaler Vernunft speiste sich aus einer tiefgehenden Fragmentierungserfahrung, die das vielzitierte Spezialistentum ebenso umschloss wie den Eindruck, im „stahlharten Gehäuse der Moderne" vom eigenen Wesenskern abgeschnitten zu sein. Wie ein Praxisbericht zur Marx'sehen Entfremdungstheorie nahm sich aus, was der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband über die geistige „Verarmung der Arbeit" durch die rasch fortschreitende Taylorisierung der Büroarbeit berichtete, die bei den Angestellten „große seelische Verwüstungen" hinterließ.11) Männer sahen sich zum „Teil einer großen Maschine"12) degradiert und beklagten, sich der „wirtschaftlichen Entwicklung und Arbeitsteilung gemäß [...] immer weiter von der natür-

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) Vgl. Karen Hausen·. Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere" - Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hrsg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363-393. 7 ) Vgl. Julius Werner: Frauenkraft und Frauendienst, Potsdam o.J. [1916], Zitat S. 19; Uvau: Kriegserkenntnis von Friedensschäden am deutschen Volkskörper. Die deutsche Frau, in: Norddeutsche Monatsblätter 4/1917, Brachet-Heft, S. 209-220. 8 ) Vgl. Artur Dinter: Friedrich Lienhard, die Deutschen und der Weltkrieg, in: Pädagogisches Vereinsblatt 9/1915, Nr. 19/20, S. 73. ») Vgl. den Artikel, Jugendkraft und Mutterkraft", in: Volkskraft 13/1916, Nr. 9, S. 175180, ZitatS. 175. ">) Vgl. Preußische Jahrbücher, Bd. 101, H. 2, August 1900, S. 365-367, Zitat S. 365. ") Vgl. Habermann: Die Verarmung der Arbeit, in: Deutsche Handels-Wacht 19/1912, Nr. 14, S. 265-267, Zitate S. 266. ,2 ) Vgl. Franziska Otto-Paulsen: Das Allzuweibliche, in: Volkserzieher 17/1913, Nr. 16, unpag.

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liehen harmonischen Entwicklung [ihrer] Kräfte entfernen" zu müssen.13) Im Ideal des von den Anforderungen des Arbeitsmarktes freigestellten weiblichen Geschlechts erblickten sie daher die „Hüterinnen des persönlichen Lebens" und Repräsentantinnen jener „Vollmenschlichkeit", die ihrem J a c h menschentum" nicht vergönnt war.14) So mancher Mann suchte in der Frau die „lebensfrische Ergänzung zu seinem berufskranken Organismus"15) und hoffte, sie werde, wie es auch die „Nationalliberale Zeitung" erwartete, „unsere kalte Welt mit Wärme füllen". 16 ) Zivilisationskritik in den Chiffren von Weiblichkeit und Männlichkeit abzuhandeln, war ein typisches Muster der zeitgenössischen Debatte. Selbst ein so liberaler Denker und fortschrittlicher Geist wie der Philosoph und Kultursoziologe Georg Simmel sah in der Frau das „fundamental einheitlichere Wesen" mit einer durch die Mutterschaft bedingten spezifischen „Beziehung zu dem Grund und dem Ganzen der Dinge überhaupt", während er für die Versachlichung der Kultur, ihre zunehmende Arbeitsteilung und Spezialisierung die Eigenheiten des männlichen Wesens verantwortlich machte.17) Auch die Anhängerinnen der bürgerlichen Frauenbewegung teilten fast ausnahmslos die Vorstellung dualistischer Geschlechtercharaktere. Gegenüber der männlichen „Welt der gesellschaftlichen Produktion mit der schauerlichen Unpersönlichkeit ihres Mechanismus", der, wie Helene Lange schrieb, „den einzelnen rücksichtslos zu einer Triebkraft in dem großen Räderwerk macht", entwickelten sie das Konzept der „geistigen Mütterlichkeit", um mit dem „weiblichen Kultureinfluß" die den Frauen zugeschriebene Versöhnungskraft in der Gesellschaft zur Geltung zu bringen.18) Das Geschlechterverhältnis avancierte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zu einem der meistdiskutierten Themen der wilheminischen Feuilletons.19) Dabei ging es nicht nur um das konkrete Verhältnis von Mann und ") Vgl. Uvau: Kriegserkenntnis von Friedensschäden am deutschen Volkskörper. Die deutsche Frau, in: Norddeutsche Monatsblätter 4/1917, Brachet-Heft, S. 209-220, Zitat S. 210. 14 ) Vgl. das Nachwort der Kunstwart-Redaktion zu Elisabeth Gnauck-Kühnes Aufsatz: Frauenleben und Berufsarbeit, in: Kunstwart 15/1911/12, H. 12, S. 419. 15 ) Vgl. Franz Haiser. Das maskulierte Weib, in: Politisch-anthropologische Monatsschrift, 16/1917/18), Nr. 1, S. 30. 16 ) Vgl. Frauenbewegung und Politik, in: Nationalliberale Zeitung, Nr. 396, 20.10.1910. 17 ) Vgl. Georg Simmel: Das Relative und das Absolute im Geschlechter-Problem, in: Ders.: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne, 2. Aufl. Berlin 1986 (erstmals Leipzig 1911), S. 64-93, Zitate S. 91. Vgl. auch Ders.: Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: Ebd., S. 195-219; Ders. : Weibliche Kultur (1902), in: Ebd., S. 219-253; Ders.: Zur Psychologie der Frauen (1890), in: Ders.: Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter, hrsg. v. Heinz-Jürgen Dahmke/Klaus Christian Köhnke, Frankfurt a.M. 1985, S. 27-59. 18 ) Vgl. Helene Lange: Intellektuelle Grenzlinien zwischen Mann und Frau, Berlin 1899; Dies.: Die Frauenbewegung in ihren modernen Problemen, Berlin 1908, Zitat S. 14. 19 ) Vgl. dazu auch Ulrich Metzmacher: Das Geschlechterverhältnis in der Kultur des Bürgertums der Jahrhundertwende, Diss. Berlin 1990.

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Frau, sondern auch um die Interpretation von Gegenwart und Vergangenheit. Die Auseinandersetzung mit der Moderne aktualisierte die vorhandenen Bestände der überlieferten abendländischen Geschlechterontologie, nach der Männlichkeit mit Differenziertheit und Individualität gleichgesetzt, Weiblichkeit hingegen mit dem undifferenzierten Urgrund der Natur identifiziert wurde.20) Die Umbruchphase an der Wende zum 20. Jahrhundert, in der das gesellschaftliche Kategoriensystem nicht mehr griff und sich die bestehende Ordnung aufzulösen drohte, wuchs sich daher, darauf hat Albrecht Koschorke aufmerksam gemacht, auch jenseits der konkreten Auseinandersetzung der Geschlechter zu einer generellen epistemischen Differenzierungskrise aus. Die Semantik des Geschlechterverhältnisses stellte dafür das passende Metaphernreservoir bereit.21) Die Verbreitung sexualisierter Denkmodelle in den Zeitschriften des gebildeten Bürgertums verweist auf ein fundamentales Bedürfnis nach einfachen Ordnungskategorien, die scheinbar so eindeutig und selbstverständlich waren wie der ,natürliche' Unterschied zwischen Mann und Frau selbst. Gesellschaftliche Prozesse in Termini der dualistischen Geschlechterkonzeption zu fassen, hatte schon Heinrich von Treitschke in seinen vielbesuchten Vorlesungen über Politik gelehrt.22) Der Geschichtsprofessor hatte die historische Topographie umfassend sexualisiert. Die Prädikate „männlich" und „weiblich/weibisch" dienten ihm gleichermaßen zur Charakterisierung von Völkern, Nationen, Religionen oder ganzen Jahrhunderten. Im Koordinatensystem des borussischen Nationalisten stand das als weiblich begriffene katholische Frankreich dem „männlich"-protestantischen Preußen ebenso unversöhnlich gegenüber wie das „weibische" 18. dem „männlichen" 19. Jahrhundert, so dass die Reihung „preußisch-protestantisch-männlichdeutsch" geradezu zu einem Synonym verschmolz.23) In ähnlicher Weise konzipierte Otto Weininger in seinem Bestseller „Geschlecht und Charakter" 1903 den „Juden" und das „Weib" als internes Gegenüber des germanischdeutschen Mannes.24) Für die antisemitische Text- und Bildproduktion war 20

) Dieser Gedanke liegt etwa Georg Simmeis gesamter Geschlechtersoziologie zugrunde, vgl. neben der in Anm. 17 genannten Literatur auch Georg Simmel: Bruchstücke aus einer Psychologie der Frauen (1904), in: Oers.·. Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter, S. 177-182. 21 ) Vgl. den anregenden Aufsatz von Albrecht Koschorke: Die Männer und die Moderne, in: Wolfgang Asholl/Wahcr Fahnders (Hrsg.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde, Avantgardekritik, Avantgardeforschung, Amsterdam 2000, S. 141-162, hier S. 152 f. 22 ) Die Vorlesungen über Politik waren, wie sich sein Schüler Max Cornicelius erinnerte, Treitschkes Lieblingskolleg; er hielt sie zwischen 1863 und 1896 in Freiburg, Heidelberg und Berlin etwa 25 mal. Vgl. Heinrich von Treitschke: Politik. Vorlesungen, gehalten an der Universität zu Berlin, hrsg. v. Max Cornicelius, 2 Bde., 2. Aufl. Leipzig 1899, S. m. 23 ) Vgl. ebd., S. 247. 24 ) Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, Wien 1903. Vgl. dazu Christina von Braun: „Der Jude" und „das Weib": zwei Stereotypen des „Anderen" in der Moderne, in: metis 1/1992, Η. 2, S. 6-8; weiterhin Sigrid Weigel: Frauen und

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schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die enge Verschränkung stereotyper Rassen- und Geschlechterkonstruktionen geradezu paradigmatisch.25) Doch auch jenseits des antisemitischen Diskurses erfüllten die Geschlechtertopoi in der Publizistik der Jahrhundertwende eine wichtige Markierungsfunktion bei der Charakterisierung der Epoche. Indem die Autoren Traditionen und gültige Normen als Produkte einer von Männern hervorgebrachten Menschheitsgeschichte auffassten, sahen sie in ihrer Gegenwart eine Moderne heraufziehen, die sie wie der Literaturredakteur der „Preußischen Jahrbücher" nur als „weiblich" beschreiben konnten: „Finden sich nicht wirklich schon in der Totalität unseres ganzen modernen Lebens weibliche Züge? Wenn im politischen Leben an Stelle der nationalen und rein politischen Fragen die sozialen in den Vordergrund getreten sind, wenn in der Geschichtswissenschaft Kriegsund Staatengeschichte .unmodern' geworden und durch sozialpsychologische Auffassungen verdrängt ist, wenn die Philosophie der Naturwissenschaft den Platz geräumt hat, wenn in der Kunst der rezeptive Naturalismus an die Stelle des von innen aus sich heraus zeugungsfähigen Idealismus getreten ist - sind das nicht alles Zeichen dafür, daß in der Seele der Zeit eine Abkehr vom Männlichen zum Weiblichen stattgefunden hat?"26)

Gängigen Geschlechterstereotypen gemäß erhielten Gegenstandsbereiche, die als abstrakt und produktiv angesehen wurden, das Prädikat „männlich", während als „weiblich" galt, was .passive' Beobachtung und Empathie voraussetzte - daher die für heutige Maßstäbe ungewöhnliche Zuordnung der Naturwissenschaften. „Männlich" waren auch die Emanationen der bestehenden Kultur, so dass Weiblichkeit zum Sinnbild für Neuartigkeit und Wandel geriet. Das Weibliche avancierte so schon im Kaiserreich zur Chiffre für Modernität schlechthin, dem vielfach freilich der Hauch von Minderwertigkeit und Untergang anhaftete: „Der Feminismus ist ein notwendiges Korrelat jeder Kultur", belehrten die „Preußischen Jahrbücher" 1912 ihre Leser und verlautbarten weiter: „Die Dekadenz, welche auf jede Epoche eines hochentwickelten Kulturlebens folgt, besteht in dem Überwiegen des feministischen Elements bis zum Ausschluß des männlichen."27)

Juden in Konstellationen der Modernisierung. Vorstellungen und Verkörperungen der internen Anderen. Ein Forschungsprogramm, in: Inge Stephan/Sabine Schilling/Dies. (Hrsg.): Jüdische Kultur und Weiblichkeit in der Moderne, Wien 1994, S. 333-348; Anne Friedrich u.a. (Hrsg.): Projektionen. Rassismus und Sexismus in der visuellen Kultur, Marburg 1997. 25 ) Vgl. mit weiterer Literatur Ute Planert: Reaktionäre Modemisten? Zum Verhältnis von Antisemitismus und Antifeminismus in der völkischen Bewegung, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 11/2002, S. 31-51; Eva-Maria Ziege: Mythische Kohärenz. Diskursanalyse des völkischen Antisemitismus, Konstanz 2002. 26 ) Vgl. Lorenz, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 110, H. 2, November 1902, S. 347. 27 ) Vgl. Robert West: Das feministische Element im Kunstgewerbe, in: Ebd., Bd. 150, November 1912, S. 215-232, Zitat S. 232.

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Das „Überwiegen des feministischen Elements" befürchteten viele Zeitgenossen jedoch nicht nur auf dem Gebiet der Kultur, sondern auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Seit den 1890er Jahren veränderte sich das Verhältnis der Geschlechter in einer Weise, die früheren Generationen undenkbar erschienen wäre. Schulen und Universitäten standen formal Männern wie Frauen offen, die Frauenerwerbsarbeit verlagerte sich zunehmend weg von traditionellen Bereichen auf die modernen Sektoren von Industrie, Handel und Verkehr, Frauenverbände suchten politischen Einfluss in Kirche, Kommune und Staat zu gewinnen, und vereinzelt wurden Forderungen nach sexueller Selbstbestimmung laut.28) Etablierte Institutionen setzten sich zunehmend mit der „Frauenfrage" auseinander, und seit sich die Parteien nach dem Fall des preußischen Vereinsgesetzes dem weiblichen Geschlecht öffneten, war die Frauenbewegung nach Einschätzung des nationalliberalen Parteivorsitzenden Bassermann zu einem „Machtfaktor des deutschen Volkslebens geworden, an dem man nicht mehr achtlos vorüber gehen kann".29) Die ohnehin für das Frauenstimmrecht votierende SPD zählte bald mehr als 100 000 weibliche Mitglieder, Zentrum und Nationalliberale gründeten eigene Frauenorganisationen, und die Fortschrittliche Volkspartei trat in ihrem Programm für die Erweiterung von Frauenrechten ein.30) Die Fundamentalpolitisierung der wilhelminischen Gesellschaft machte auch vor der politischen Rechten nicht Halt. Selbst konservative Parteien und nationalistische Verbände suchten sich nun weiblicher Unterstützung zu versichern.31) „Seit die Sozialdemokratie ihre Frauen mobil macht, können die konservativen Frauen nicht zu Hause bleiben",32) hieß es bei der Deutsch-

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) Vgl. Ute Frevert: Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt a.M. 1986; Barbara Greven-Aschoff: Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland, Göttingen 1981; Ute Gerhard: Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung, Frankfurt a.M. 1990. 29 ) Vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags, ΧΠΙ. Legislaturperiode, Bd. 283, 16. Sitzung vom 29.2.1912, S. 339. 30 ) Vgl. Ute Planert: Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität, Göttingen 1998, S. 107-110. Vgl. zu diesem Komplex auch Ute Frevert: „Unser Staat ist männlichen Geschlechts". Zur politischen Topographie der Geschlechter vom 18. bis frühen 20. Jahrhundert, in: Dies.: „Mann und Weib, und Weib und Mann". Geschlechter-Differenzen in der Moderne, München 1995, S. 61-132. Frevert legt freilich die Haltung der Politiker zum nationalen Frauenstimmrecht als einzigen Maßstab an und muss so zwangsläufig den allmählichen Öffnungsprozess der Parteien übersehen. 31 ) Vgl. Planert: Antifeminismus, S. 93-113; Kirsten Heinsohn: Im Dienste der deutschen Volksgemeinschaft: Die „Frauenfrage" und konservative Parteien vor und nach dem Ersten Weltkrieg, in: Ute Planert (Hrsg.): Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne, Frankfurt a.M. 2000, S. 215-233; Andrea SüchtingHänger. Das „Gewissen der Nation". Nationales Engagement und politisches Handeln konservativer Frauenorganisationen 1900-1937, Düsseldorf 2002. 32 ) Vgl. „Deutsche Tageszeitung", Nr. 119, 6.3.1912, nach einem Artikel aus der „KreuzZeitung".

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Konservativen Partei vor der Reichstags wähl 1912, ein Votum, dem sich auch der Reichsverband gegen die Sozialdemokratie anschloss.33) Schon um die Jahrhundertwende hatten Ostmarken-, Flotten- und Kolonialverein ebenso wie der Verein für das Deutschtum im Ausland eigene Frauengruppen gegründet, die ihre Zahl ebenso wie ihre Bedeutung im Vorfeld des Ersten Weltkriegs kräftig steigerten.34) „Ohne deutsche Frau keine deutsche Kultur, ohne sie kein deutsches Land", stellten die „Kolonialen Monatsblätter" fest, denen die Mithilfe der Frauen „zur Festigung unseres überseeischen Besitzes" unabdingbar schien.35) Frauen fiel die Aufgabe zu, die hegemoniale Macht der Männer durch die Verbreitung „deutsche Gesinnung und Gesittung" abzusichern.36) Dieser weibliche Kulturimperialismus war auch an der Ostgrenze des Kaiserreichs gefragt, wo die polnische Bevölkerung auf die Unterdrückungspolitik der preußischen Regierung mit Streiks reagierte. Um, wie es hieß „hinter der polnischen Frau im nationalen Kampfe nicht zurückzubleiben", verlagerte der Deutsche Frauenverein für die Ostmarken sein Aufgabengebiet von der caritativen Fürsorge auf die Agitation zur Schaffung eines deutschen „Nationalgefühls".37) Selbst der protestantisch-konservativen „Kreuz-Zeitung" schien unter diesen Umständen der „Kampf zur Erhaltung des Deutschtums gegen Polonisierung und Katholisierung" möglich, „ohne aus dem Rahmen der Weiblichkeit und der Frauenwürde herauszutreten".38) Der Deutschbund gliederte sich „Schwestern" an,39) und der Alldeutsche Verband rief 1907 zur „öffentliche(n) Betätigung der

33 ) Vgl. L. Herzog: Die Frauen und die Politik. Flugblatt des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie, Berlin [1912], S. 3. Korrespondenz des Reichs Verbandes gegen die Sozialdemokratie 8/1911, Nr. 13, 6.4.1911, S. 50 f. 34 ) Vgl. Roger Chickering: „Casting Their Gaze More Broadly". Women's Patriotic Activism in Imperial Germany, in: Past & Present 32/1988, No. 188, S. 156-185; Elizabeth A. Drummond: „Durch Liebe stark, deutsch bis ins Mark." Weiblicher Kulturimperialismus und der deutsche Frauenverein für die Ostmarken, in: Planen: Nation, Politik und Geschlecht, S. 147-164; vgl. mit weiterer Literatur Ute Planert: Vater Staat und Mutter Germania. Zur Politisierung des weiblichen Geschlechts im 19. und 20. Jahrhundert, in: Ebd., S. 15-65. 35 ) Vgl. L. Külz: Zur Frauenfrage in den deutschen Kolonien, in: Koloniale Monatsblätter 15/1913, Nr. 2, S. 61-67, hier S. 63 u. 67. 36 ) Vgl. Robert Ermels: Die Frau in den deutschen Kolonien, in: Deutschvölkische Hochschulblätter 2/1912, Nr. 2, S. 16. 37 ) Vgl. Der deutsche Frauenverein für die Ostmarken, in: Ostmark, 14/1909, Nr. 7, S. 71; Der deutsche Frauenverein für die Ostmarken, in: Ebd., Nr. 11, S. 112; Gesamtausschußsitzung des Deutschen Ostmarkenvereins, in: Ebd., 13/1908, Nr. 12, S. 104. Zur polnischen Frauenbewegung vgl. Natali Stegmann: ,Je mehr Bildung, desto polnischer". Die Nationalisierung polnischer Frauen in der Provinz Posen (1870-1914), in: Frauen und Nation, hrsg. v. Frauen & Geschichte Baden-Württemberg, Tübingen 1996, S. 165-177. 38 ) Vgl. Cecile Gräfin Keyserlingk-Rantenburg: Die Frau und die Politik, in: KreuzZeitung, Nr. 320 und 321, 11.7.1912. 39 ) Vgl. Uwe Puschner. Bausteine zum völkischen Frauendiskurs, in: Planert: Nation, Politik und Geschlecht, S. 165-181, hier S. 167.

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deutschen Frau im Dienste des nationalen Gedankens" auf.40) Sein neuer Vorsitzender Heinrich Class meinte in der Frauenbewegung der letzten Vorkriegsjahre einen „Ruck nach rechts" erkannt zu haben und glaubte, dass die Alldeutschen davon profitieren könnten.41) Entsprechend setzte der 1912 gegründete Wehrverein von vornherein auf die Mitarbeit der Frauen, und auch Teile der völkisch-antisemitischen Rechten wollten am Vorabend des Ersten Weltkrieges nicht darauf verzichten, weibliche Unterstützung bei der „Pflege des deutsche[n] Sippen- und Rassenempfindens" zu suchen.42) Allerdings war diese Öffnungspolitik im rechten Lager heftig umstritten. Nicht umsonst formierte sich im Vorfeld der Reichstags wähl von 1912 der nationalistische Deutsche Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation, als auch auf konservativer Seite erstmals Frauen an den Vorbereitungen beteiligt waren.43) Er konnte geradezu als Protestgründung gegen die vorsichtige Annäherung in den eigenen Reihen gelten, hatte doch soeben ADV-Chef Class nationalen Frauenvereinigungen die Unterstützung „deutschbewußte(r) Männer" bei der „Lösung der sozialen Frauenfrage" zugesichert.44) Nun waren es vor allem Emanzipationsgegner aus dem völkischen-antisemitischen Spektrum, dem agrarischen Konservatismus, der protestantischen Orthodoxie und dem Umfeld der Rassenhygiene, die den Kampf gegen die „Entmannung der Politik" begrüßten.45) Die Antifeministen setzten „Demokratie, Antimilitarismus, Friedensbewegung und Feminismus" gleich46) und warfen deren Vertretern ein gegen den imperialen Machtstaat gerichtetes „beständiges Auflösen, Aufweichen, Lauund Flaumachen der geistigen und moralischen Atmosphäre" vor.47) Die „demokratische Gleichmacherei" züchte nicht nur die „sogenannten Emanzipationsbestrebungen der Lohnarbeiter", sondern auch die „Frauenrechtle-

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) Vgl. A. Gaiser. Nationale Arbeit deutscher Frauen, in: „Alldeutsche Blätter", 17/1907, Nr. 21,25.5.1907, S. 180 f. 41 ) Vgl. Planert: Antifeminismus, S. 124. 42 ) Vgl. Agobard: Von deutscher Wiedergeburt, in: Deutschvölkische Hochschulblätter 3/1913, Nr. 2, S. 10-12, Zitat S. 11. « ) Vgl. Planert: Antifeminismus, S. 110-123. **) Vgl. Daniel Frymann [i.e. Heinrich Class]: Wenn ich der Kaiser war. Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten, Leipzig 1912, S. 118-121, Zitat S. 120. In der Berliner Ortsgruppe des Alldeutschen Verbandes wurde im Mai 1912 - zeitgleich mit der Gründung des Antifeministen-Verbandes - über das Frauenstimmrecht diskutiert, vgl. Rainer Hering: Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband 1890-1939, Hamburg 2003, S. 389. Dort auch weitere Informationen zur Frauenpolitik der Alldeutschen. 45 ) Vgl. Ein zeitgemäßer Bund, in: Deutsch-soziale Blätter, Nr. 48, 15.6.1912; zu den organisatorischen Querverbindungen des Antifeministenbundes vgl. Planert: Antifeminismus, S. 124-140. 46 ) Vgl. Ludwig Langemann: Der nationale Staat und die Frauenfrage, in: Deutschvölkische Hochschulblätter 3/1912, S. 32 f., hier S. 33. 47 ) Vgl. Otto Schmidt-Gibichenfels: Uralte Herrschaftsorganisationen in moderner Beleuchtung, in: Politisch-Anthropologische Revue 11/1911/12, Nr. 6, S. 281-293, hier S. 287.

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rei".48) Zusammen mit dem „internationale(n) Judentum" arbeiteten diese Kräfte an der „Unterminierung der Grundlagen des monarchischen nationalen Staates".49) Der - nach völkischer Diktion als jüdisch' apostrophierte Internationalismus, so hieß es etwa bei dem späteren „Reichswart"Herausgeber und Nationalsozialisten Ernst zu Reventlow, „ist ebenso weibischer Natur wie die Friedensbewegung. Beide streben einen Zustand an, der die Auflösung all dessen bedeutet, was männlich ist und eine gesunde Zukunft verbürgt. Wenn der wirkliche Mann, und ein solcher ist nur der in seinem Volk wurzelnde Mann, nicht mehr die Geschichte macht, sondern Weiber und verweiberte Männer", so werde dadurch der Untergang all dessen herbeigeführt, was „allein daseinswert ist".50) Die Rede von der „Entmannung der Politik" war durchaus ernst gemeint, hatten die Antifeministen doch nicht nur die Frauenbewegung im Visier, sondern auch den „auf das männliche Geschlecht übergreifenden Feminismus, die Verweiberung der Männer".51) Parallel zur Eindämmung weiblicher Emanzipationsbestrebungen ging es ihnen auch um die (Wieder-)Herstellung patriarchal-hegemonialer Männlichkeit. Die spürbaren Veränderungen im Geschlechterverhältnis konnten sie sich nur damit erklären, dass an der „Männlichkeit jener Männer vieles nicht in Ordnung ist".52) Hatte Schopenhauer 1903 noch vor der „zunehmende(n) Gynaikokratie" gewarnt,53) beklagte Walther Rathenau, Weimars erster Außenminister, die wachsende Verweiblichung des modernen Mannes.54) Für die Emanzipationsfeinde war die ganze Frauenftage daher „im tiefsten Grunde eine Männerfrage".55) Vielen Zeitgenossen schien eine fortschreitende Entmännlichung das Signum ihrer Epoche zu sein. Der langjährige Friede, so ein Gemeinplatz in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, führe zur „Entartung der männlichen Charaktereigenschaften". Wie der spätere DNVP-Fraktionsvorsitzende Ernst Oberfohren erlebten etliche Männer ihre Gegenwart als eine Zeit, in der die

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) Vgl. H.G. Holle: Die Jugend, unsere Sorge und unsere Hoffnung, in: Deutschlands Erneuerung 9/1921, S. 545-552, hier S. 546. 49 ) Vgl. Kathinka von Rosen: Über den moralischen Schwachsinn des Weibes, Halle 2. Aufl. 1904, S. 40; Langemann: Nationaler Staat, S. 33. 50 ) Vgl. Emst zu Reventlow: Die Frauenbewegung - nationale Zersetzung, in: Alldeutsche Blätter 19/1909, 25.9.1909, S. 334. 51 ) Vgl. Ludwig Langemann: Der Feminismus, sein Wesen und seine Entwicklung, in: Hamburger Nachrichten, Nr. 174, 14.4.1912. 52 ) Vgl. Otto Corbach: Zum Thema: Frauenbewegung und Politik, in: Kunstwart 5/1911/12, S. 270-210, Zitat S. 210. " ) Zit. nach Marielouise Janssen-Jurreit: Sexismus - über die Abtreibung der Frauenfrage, Frankfurt a.M. 1979, S. 91. 54 ) Vgl. Walther Rathenau: Gesammelte Schriften in fünf Bänden, Bd. ΙΠ, Berlin 1918, S. 198. 55 ) Vgl. Max Glage: Das Weib schweige in der Gemeinde! Eine zeitgemäße Warnung vor der Frauenrechtsbewegung in unserem deutschen Christenvolk, gewidmet den deutschen Männern in eiserner Zeit, Hamburg 1915, S. 83.

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„männliche Kraft zersplittert und verteilt, teilweise auch müde und resigniert ist".56) Anleitungen zur männlichen „Willensgymnastik" und „moralische(n) Orthopädie" gerieten zum Verkaufsschlager.57) Als Ursache dieser Krise der Männlichkeit galt weithin die „gesellschaftliche bzw. wirtschaftliche Umschichtung, wie sie durch den Übergang vom heroischen zum technischen Zeitalter [...] überall in der Welt eingetreten ist".58) Diese Kurzformel bündelte eine umfassende Gesellschaftskritik, der die Ablösung des künstlerischen „Heroenkultes" durch die einsetzende Massenkultur ebenso suspekt war wie eine von Handelsinteressen bestimmte Außenpolitik und das Zurücktreten des „Einzelwillens" zugunsten von liberalen Idealen, die als „blöde Herrschaft der Masse" empfunden wurden.59) Die Vorstellung, dass die als „weiblich" imaginierte Massengesellschaft des Korrektivs durch den männlichen Führer bedurfte, hatte sich seit den einschlägigen Arbeiten Gustav Le Bons allmählich Bahn gebrochen.60) Kulturkritik artikulierte sich in der Sprache der Geschlechtermetaphorik. Das Geschlechterverhältnis fungierte als fundamentales gesellschaftliches Ordnungskriterium und eignete sich eben deshalb als Metaphernreservoir für die Beschreibung tiefgreifender Irritationen. Einzig ein Krieg, so waren die Gegner egalitärer Verhältnisse und Partizipationschancen schon lange vor 1914 überzeugt, werde imstande sein, Männer wieder in Helden zu verwandeln und sie erneut in ihr „herrschaftliches Erstgeburtsrecht" einzusetzen.61) Der Erste Weltkrieg wurde daher auf der 56

) Vgl. Ernst Oberfohren·. Zum Frauenstimmrecht, in: Deutsche Tageszeitung, Nr. 164, 20.3.1912. ) Vgl. Wilhelm Gebhardt'. Wie werde ich energisch? Eine vollständige Anleitung zur Heilung von Energielosigkeit, Zerstreutheit, Niedergeschlagenheit, Schwermut, Hoffnungslosigkeit, Angstzuständen, Gedächtnisschwäche, Schlaflosigkeit, Verdauungs- und Darmstörungen, allgemeiner Nervenschwäche u.s.w., 7. Aufl. Leipzig 1907, S. 2 u. 4. Vgl. zur Problematik der männlichen Energielosigkeit und Nervosität Anson Rabinbach: The Human Motor. Energie, Fatigue, and the Origins of Modernity, New York 1990; Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München/Wien 1998. 58 ) Vgl. Franz Erich Junge: Die Verweiblichung der Politik in Amerika, in: Deutsche Tageszeitung, Nr. 283, 7.6.1913. Vgl. Die Wehr 2/1913, Nr. 2, S. 11; Hochwart·. Männlichkeit, in: Ebd., Nr. 10, S. 3; Schmidt-Gibichenfels: Uralte Herrschaftsorganisationen; Werner Sombart: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, München 1915. λ") Vgl. Andreas Huyssen: Mass Cultur as Women. Modernism's Other, in: Oers. (Hrsg.): After the Great Divide - Modernism, Mass Culture, Postmodernism, Bloomington 1986, S. 44-62. Spätestens in der Weimarer Republik war die These von der Weiblichkeit der Masse zum Allgemeingut geworden. Entsprechend konnte der Hauptgeschäftsführers des Alldeutschen Verbandes, von Vietinghoff-Scheel, über den Zusammenhang von „Führergedanke und Erhebung" auf dem alldeutschen Verbandstag 1920 ausführen: „Die Volksseele [...] ist weiblicher Art, ihr männlicher Gegenpart aber - das ist der Führer." Vgl. Alldeutsche Blätter 30/1920, Nr. 27, 2.10.1920, S. 219. 61 ) Vgl. Otto Schmidt-Gibichenfels: Uralte Herrschaftsorganisationen, S. 284-286. Vgl. auch Doerte Bischoff: „Dieses auf die Spitze getriebene Mannestum". Kriegsrhetorik und Autorschaft um 1914, in: Kathrin Hoffmann-Curtius/Si\ks Wenk (Hrsg.): Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, Marburg 1997, S. 60-72. 57

Kulturkritik und Geschlechterverhältnis

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politischen Rechten stürmisch als Wiederkehr der „gute(n) alte(n) Zeit des Herren- und Vaterrechts" begrüßt,62) der die „schmachvolle Verweibsung unseres modernen intellektuellen Kulturlebens" beenden sollte.63) Im Stahlbad des Krieges sollte sich jene Männlichkeit erneuern, deren Verlust demokratische Bestrebungen wie den Aufstieg der Frauenbewegung erst mögüch gemacht zu haben schien. „Alle Frauenemanzipation hat nur einen Nährboden: männliche Unfähigkeit", war der orthodoxe Hamburger Pastor Glage überzeugt und appellierte daher in den ersten Kriegsjahren an seine Geschlechtsgenossen: „Männer, laßt uns Männer sein und Gott dafür danken, daß er den eisernen Hammer dieser Zeit auch dazu gebraucht, unsere Mannhaftigkeit stahlfest zu schmieden."64) Der Erste Weltkrieg war allerdings nicht dazu angetan, die deutsche Nation in ein neues Heldenzeitalter zu führen. Die Hoffnung, mit dem Krieg werde der „Stern der Männlichkeit" über einer „merkwürdig weibische(n) Nation" aufgehen, erfüllte sich nicht.65) Die Realität von Materialschlacht und Stellungskrieg entsprach mitnichten den Phantasien des ritterlichen Kampfes Mann gegen Mann, sondern degradierte die Soldaten zum Rädchen einer industrialisierten Kriegsmaschinerie. Die Kriegsführung hing mehr und mehr nicht allein vom Fronteinsatz der Soldaten, sondern ebenso von der Mitarbeit der Frauen in den Rüstungsbetrieben an der „Heimatfront" ab.66) Bei aller gegenteiligen Propaganda war der Krieg mit seinem immensen Hinschlachten und Verstümmeln männlicher Körper kaum dazu geeignet, männliche Überlegenheit zu befestigen. Das war auch der politischen Rechten bewusst, die sich, darüber nachdenkend, ob „wir Männer nach dem Kriege denn auch nur physisch imstande sein [werden], die Plätze dieser unserer Stellvertreterinnen wieder zu besetzen", eines „bänglichen Gefühls [...] doch nicht erwehren konnte".67) Wenn der „Volkserzieher"-Herausgeber Wilhelm Schwaner im Sommer 1918 „ein männliches Volk, einen männlichen Frieden, eine männliche Zukunft mit männlicher Jugend und männlicher Kriegsbereitschaft" einforderte, lässt sich aus dieser Beschwörungsformel wohl eher schließen, dass

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) Vgl. Wilhelm Schwaner: Die Berichtigung, in: Volkserzieher 20/1916, Nr. 3, S. 19. ) Vgl. Friedrich Sigismund: Frauenbewegung und Staat, in: Politisch-Anthropologische Monatsschrift 15/1916/17, Nr. 8, S. 426-438, Zitat S. 438.