Traditionen und Transformationen des Öffentlichen [1. Aufl.] 9783658293208, 9783658293215

Auf nur wenige Epochen trifft das Schlagwort von der Transformation der Öffentlichkeit besser zu als auf die Gegenwart.

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German Pages X, 222 [228] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-X
Öffentliches Kommunizieren in Krisenzeiten (Nikolaus Jackob)....Pages 1-26
Die Diskurs-Spirale (Tanjev Schultz)....Pages 27-47
„Das wird man doch noch sagen dürfen…“ – Wahrgenommene Sprechverbote und ihre Korrelate (Oliver Quiring, Nikolaus Jackob, Christian Schemer, Ilka Jakobs, Marc Ziegele)....Pages 49-71
Fake News als Gefahr für die öffentliche Meinung? (Thomas Koch, Nora Denner)....Pages 73-90
Was der Mensch zusammengefügt hat, sollen Plattformen nicht scheiden (Pascal Schneiders, Birgit Stark)....Pages 91-118
Öffentlichkeit in Zeiten der Internet-Kommunikation (Thomas Roessing)....Pages 119-129
Wahlerfolge in der medialen Kandidatenkonkurrenz (Jürgen Wilke, Melanie Leidecker-Sandmann)....Pages 131-158
Reziproke Effekte auf Journalisten (Hans Mathias Kepplinger)....Pages 159-179
Raus aus der Wanne oder nur Schweigen ist auch keine Lösung (Helmut Scherer)....Pages 181-204
Wie Menschen zukünftige Temperaturveränderungen durch den Klimawandel einschätzen (Marcus Maurer, Corinna Oschatz, Jörg Haßler)....Pages 205-222
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Traditionen und Transformationen des Öffentlichen [1. Aufl.]
 9783658293208, 9783658293215

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Nikolaus Jackob Oliver Quiring Marcus Maurer Hrsg.

Traditionen und Transformationen des Öffentlichen

Traditionen und Transformationen des Öffentlichen

Nikolaus Jackob · Oliver Quiring · Marcus Maurer (Hrsg.)

Traditionen und Transformationen des Öffentlichen Festschrift für Erich Lamp

Hrsg. Nikolaus Jackob Institut für Publizistik, Johannes ­Gutenberg-Universität Mainz Mainz, Deutschland

Oliver Quiring Institut für Publizistik, Johannes ­Gutenberg-Universität Mainz Mainz, Deutschland

Marcus Maurer Institut für Publizistik, Johannes ­Gutenberg-Universität Mainz Mainz, Deutschland

ISBN 978-3-658-29320-8 ISBN 978-3-658-29321-5  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-29321-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Barbara Emig-Roller Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

„Öffentlichkeit“ ist als Forschungsgegenstand seit jeher eine tragende Säule der Mainzer Publizistikwissenschaft. Seit über 50 Jahren durchdringt dieser traditionsreiche Begriff nahezu alle Lehr- und Forschungsbereiche des Instituts. Trotz aller Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung kommt eine Fachwissenschaft der öffentlichen Kommunikation, wie man den Begriff Publizistikwissenschaft umschreiben könnte, nicht ohne die zentrale Kategorie des „Öffentlichen“ aus. Die Mainzer Publizistikwissenschaft ist besonders stark von der akademischen Auseinandersetzung mit allem, was „öffentlich“ ist, geprägt – schon die Antrittsvorlesung von Elisabeth Noelle-Neumann mit dem Titel „Öffentliche Meinung und Soziale Kontrolle“ legt davon ein Zeugnis ab (vgl. Wilke 2005). In späteren Jahren war es vor allem Noelle-Neumanns Schüler Erich Lamp, der am Institut für Publizistik die Tradition fortführte – unter anderem mit seinen über Jahrzehnte reichenden Zyklen von Lehrangeboten, die Generationen von Studierenden besuchten und prägten. So führte er beispielsweise die Literaturstudien zur öffentlichen Meinung fort, die Grundlage wesentlicher Kapitel der Schweigespirale wurden: Studierende begaben sich, ausgerüstet mit einem Befragungsleitfaden, auf die Suche nach Begriffsverständnissen, Umschreibungen und Befunden zum Wesen und zu den Auswirkungen von Öffentlichkeit und Öffentlicher Meinung auf Individuen, Gruppen und Gesellschaften. Hier sammelten sich über die Dekaden hinweg hunderte von Magisterarbeiten und Promotionen an, die das inhaltliche Rückgrat für Vorträge und Publikationen wurden und die Theoriearbeit des Instituts befeuerten. Doch Erich Lamp war nicht nur gewissermaßen Lordsiegelbewahrer der klassischen Lehre zur öffentlichen Meinung am IfP, er entwickelte eigene, vornehmlich empirisch geprägte Lehrprojekte, deren Befunde u. a. in seine Publikationen zur Umfrageforschung eingingen, vor allem aber in sein zentrales

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Vorwort

Werk mit dem vielsagenden Titel „Die Macht öffentlicher Meinung – und warum wir uns ihr beugen. Über die Schattenseite der menschlichen Natur“ (Lamp 2009). Hier aktualisierte er wesentliche Gedankengänge der sozialpsychologischen Theorie öffentlicher Meinung, band sie an die moderne Empirie der Publizistikwissenschaft an und bereicherte sie durch Bezüge zu Hirnforschung und Psychologie. Besonders dürften den meisten seiner Studierenden die sogenannten Peinlichkeitsexperimente in Erinnerung geblieben sein, in denen sie in der Logik einer teilnehmenden Beobachtung ihrer eigenen Sozialnatur nachspüren und festhalten sollten, welche Reaktionen ihre Umwelt zeigte, wenn sie gegen fundamentale soziale Normen verstießen – und was sie dabei empfanden. Solcherlei Lehr- und Forschungsinnovationen trugen entscheidend zur Weiterentwicklung der Forschung zur Öffentlichen Meinung bei. Naturgemäß waren diese Werkstattseminare in ihrer Teilnehmerzahl beschränkt. Die große Institutsöffentlichkeit nahm Erich Lamps Forschung und Lehre vor allem in Vorlesungsformaten wahr – insbesondere in seinen Vorlesungen zur öffentlichen Meinung, die er nach dem Ausscheiden von Elisabeth NoelleNeumann aus dem aktiven Institutsbetrieb übernahm. Die Forschung am IfP wurde darüber hinaus vor allem durch Erich Lamps Expertise und Kreativität in der Umfrageforschung bereichert. Viele prominent publizierte und einflussreiche Studien wurden durch seine methodischen Impulse bereichert, wichtige Lehrbücher sind ohne seinen Beitrag nicht denkbar, auch wenn er vielfach nicht als Autor fungierte, sondern seine Kollegen mit seiner bescheidenen, neugierigen und hinterfragenden Art beriet. In seinem Aufsatz „Öffentliche Meinung und die Entdeckung der Schweigespirale“ schloss er anlässlich des 40sten Institutsgeburtstages im Jahr 2005 mit einem Hinweis auf sein zentrales Forschungsanliegen: „Noch hat sich das Wissen um die Bedeutung der sozialen Natur für das Individuum und ihre Funktion für die Gesellschaft nicht durchgesetzt, und auch ihre systematische wissenschaftliche Erforschung wird noch nicht mit Nachdruck betrieben. Wenn die zurückliegenden Jahre der Arbeit an der Theorie der Öffentlichen Meinung geprägt waren von der Entdeckung der sozialen Natur, so werden die vor uns liegenden Jahre geprägt sein von ihrer Enttabuisierung“ (Lamp 2005, S. 72).

Dahinter steckt die Diagnose des Forschers, der feststellt, dass die soziale Bedingtheit des Menschen in der modernen Forschung weniger Aufmerksamkeit erfahren hat als seine Individualität. Die Ursachen für diese Diagnose sind vielfältig und sicherlich auch forschungshistorischen, erkenntnistheoretischen und

Vorwort

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ideologischen Entwicklungen geschuldet. Der diagnostizierte Mangel hat aber auch mit dem modernen, westlich geprägten Menschen selbst zu tun, wie Erich Lamp erklärt: „Indessen tun wir uns schwer, die soziale Natur anzuerkennen und als Gegebenheit zu akzeptieren. In unserem Selbstbild und Ich-Ideal hat diese vermeintliche Schwäche keinen Platz, stattdessen betonen wir lieber unsere Unabhängigkeit vom Urteil der anderen“ (Lamp 2005, S. 71).

Hier findet sich sicherlich das zentrale Movens der Forschung und Lehre von Erich Lamp: der Einfluss, den das Urteil der Mitmenschen, ihr wachsames Auge – in diesem Sinne: die Öffentlichkeit – auf unser Denken, Reden und Tun hat, vielfach ohne dass wir es bemerken, geschweige denn anerkennen. Vor diesem Hintergrund soll das vorliegende Buch eine Ehrung für Jahrzehnte umspannenden Einsatz in Lehre und Forschung sein – für einen Jubilar, der im Mai 2020 65 Jahre alt wird, auch wenn er selbst jedwede Form der Ehrung von sich weisen würde. Die in diesem Band versammelten Autoren möchten ihm gleichwohl danken und sein Werk ehren, indem sie das Lebensthema von Erich Lamp in vielerlei Hinsicht thematisch variieren. Anknüpfungspunkte gibt es viele, in Theorie wie Empirie: Öffentlichkeit findet sich als kommunikativer Rahmen, als Bewusstseinszustand und als Einflussfaktor wieder in Forschungen zur politischen Kommunikation wie zu Public Relations, um nur zwei Beispiele zu nennen. Ohne die Kategorie des Öffentlichen sind aktuelle Diskurse um die Digitalisierung der sozialen Kommunikation und ihre z. T. dysfunktionalen gesellschaftlichen Folgen nicht hinreichend diskutier- und begreifbar. Und auch hier kann man die Probleme nicht tiefer ergründen, wenn man nicht die soziale Natur des Menschen einbezieht, sein immerwährendes Bezogen-Sein auf seine Mitmenschen. Die Herausgeber dieses Bandes danken allen Autoren für ihre Mitarbeit. Ein besonderer Dank geht an Andrea Ohters, die für Korrektur und Layout des Buches verantwortlich zeichnet. Gemeinsam gratulieren wir Erich Lamp zum Geburtstag und wünschen von Herzen viel Gesundheit und Glück! Mainz im Mai 2020

Die Herausgeber

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Vorwort

Literatur Lamp, E. (2005). Öffentliche Meinung und die Entdeckung der Schweigespirale. In J. Wilke (Hrsg.), Die Aktualität der Anfänge. 40 Jahre Publizistikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (S. 62–74). Köln: Halem. Lamp, E. (2009). Die Macht öffentlicher Meinung – Und warum wir uns ihr beugen. Über die Schattenseite der menschlichen Natur. München: Olzog. Wilke, J. (Hrsg.). (2005). Die Aktualität der Anfänge. 40 Jahre Publizistikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Köln: Halem.

Inhaltsverzeichnis

Öffentliches Kommunizieren in Krisenzeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Nikolaus Jackob Die Diskurs-Spirale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Tanjev Schultz „Das wird man doch noch sagen dürfen…“ – Wahrgenommene Sprechverbote und ihre Korrelate. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Oliver Quiring, Nikolaus Jackob, Christian Schemer, Ilka Jakobs und Marc Ziegele Fake News als Gefahr für die öffentliche Meinung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Thomas Koch und Nora Denner Was der Mensch zusammengefügt hat, sollen Plattformen nicht scheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Pascal Schneiders und Birgit Stark Öffentlichkeit in Zeiten der Internet-Kommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . 119 Thomas Roessing Wahlerfolge in der medialen Kandidatenkonkurrenz. . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Jürgen Wilke und Melanie Leidecker-Sandmann Reziproke Effekte auf Journalisten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Hans Mathias Kepplinger

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Raus aus der Wanne oder nur Schweigen ist auch keine Lösung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Helmut Scherer Wie Menschen zukünftige Temperaturveränderungen durch den Klimawandel einschätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Marcus Maurer, Corinna Oschatz und Jörg Haßler

Öffentliches Kommunizieren in Krisenzeiten Ciceros publizistischer Kampf gegen den Niedergang der Republik Nikolaus Jackob

1 Einleitung Seit geraumer Zeit beschleicht viele Zeitgenossen der Eindruck, einer schweren Krise der Demokratie beizuwohnen: Das etablierte Parteiensystem erodiert, und nicht nur in Deutschland. Der raumgreifende Populismus stellt politische Gewissheiten und Spielregeln infrage. Einst festgefügte demokratische Tabus werden angerührt, sowohl institutionelle als auch sprachliche. Angesichts einiger – gar nicht so neuer, aber neologistisch etikettierter – Kommunikationsphänomene wie hate speech und fake news ist vielfach von einer zunehmenden Verrohung des politischen Diskurses und einer wachsenden Radikalisierung und Polarisierung der Öffentlichkeit die Rede (vgl. z. B. Jackob et al. 2017, 2019; Ziegele et al. 2018). Der Soziologe Larry Diamond (2015) sieht hinter diesen konkreten Manifestationen politischer Friktionen eine mehr oder weniger globale Rezession der Demokratie. Kennzeichen dieser Rezession sei u.  a. ein wachsender Der vorliegende Beitrag beruht in seinen wesentlichen Befunden und Ausführungen auf meiner von Erich Lamp betreuten Dissertation „Öffentliche Kommunikation bei Cicero. Publizistik und Rhetorik in der späten römischen Republik“ (Jackob 2005). Die dort dargelegten Forschungsergebnisse sind weitaus ausführlicher und wurden für die vorliegende Festschrift aktualisiert, komprimiert und in Teilen neu systematisiert. N. Jackob (*)  Institut für Publizistik, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Jackob et al. (Hrsg.), Traditionen und Transformationen des Öffentlichen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29321-5_1

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Autoritarismus innerhalb vieler demokratischer Systeme, auch und gerade solcher mit vergleichsweise geringer Systemstabilität und Demokratiequalität – einhergehend mit einer (zumindest wahrgenommenen) schlechten Performanz und Problemlösungskompetenz der Politik. Auch eine Aushöhlung des Rechtsstaats trage zur Rezession bei, ebenso ein sinkender Glaube an die Demokratie und ein Absinken der ethischen Standards der politischen Eliten. Die wachsende Besorgnis vieler Beobachter über einen möglichen Niedergang der Demokratie führt immer wieder zu (mehr oder weniger brauchbaren) Vergleichen: In Deutschland wird oft das Negativbeispiel Weimar bemüht, wenn das Scheitern einer freiheitlich verfassten Staatsform thematisiert wird. Das historisch und literarisch sicherlich berühmteste Beispiel ist jedoch der Niedergang der römischen Republik. Auch wenn historische Vergleiche wegen historischer, kultureller und systemischer Unterschiede vielfach a-historisch sind und in die Irre führen können (vgl. z. B. Eich 2000), diente die römische Republik oft als positiver wie negativer Referenzpunkt für Forscher, Politiker und Journalisten – bis heute: So fragte beispielsweise Jens Jessen (2010) in der Wochenzeitung Die Zeit: „Sollte der Untergang der römischen Republik, der fast schon zu oft als historische Parallele für scheiternde Staatsformen gebraucht wurde, noch einmal zum Nachdenken über aktuelle Bedrohungen der Demokratie taugen?“ Zweifellos liefert die römische Republik das – zumindest im Westen – kulturhistorisch berühmteste Niedergangsnarrativ. Das ist nicht zuletzt ein Verdienst von Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.), der eindrücklich beschrieb, welche Folgen es hat, wenn politische Eliten sich nicht mehr dem Gemeinwohl verpflichtet sehen, sondern Partikularinteressen, wenn sich die politische Öffentlichkeit bis zur Unversöhnlichkeit polarisiert, wenn sich die politischen Lager radikalisieren, wenn ethische Standards gebrochen werden, wenn Institutionen und Akteure unfähig erscheinen, Erfolg versprechende und tragfähige politische Lösungen hervorzubringen und dergleichen mehr. Ciceros Lebzeiten waren bewegte, wie Rudolf Schottlaender (1967) betont: Zeiten, die die materia für Publizistik boten. Und auch wenn man aus direkten historischen Vergleichen zu einer Vielzahl von Fehlschlüssen gelangen kann, mag die Auseinandersetzung mit Cicero und seinem publizistischen Kampf gegen die Krise der Republik auch den Blick auf heutige Krisen schärfen. Wenn man von Cicero spricht, ist zumeist vom Anwalt, vom Politiker oder vom Schriftsteller, vielleicht auch vom Philosophen Cicero die Rede. Seine theoretische Beschäftigung mit und seine praktische Betätigung in der öffentlichen Kommunikation sind zwar allgemein bekannt und werden regelmäßig in der einschlägigen Literatur erwähnt, doch zumeist tritt dieser Aspekt gegenüber anderen Forschungsfragen in den Hintergrund. Der Literaturbestand zu Cicero ist groß und

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doch werden kommunikationswissenschaftliche Fragestellungen regelmäßig vernachlässigt. Zurecht verwies Wilhelm Spael bereits 1947 auf den in der modernen Wissenschaft um Humankommunikation herrschenden Mangel: „Persönlichkeiten, die mit Leib und Seele Publizisten waren, werden von allen möglichen Gesichtspunkten aus beleuchtet, von historischen und literarischen, von staatsmännischen und volkswirtschaftlichen, aber höchst selten von dem naheliegendsten Gesichtspunkt, dem publizistischen“ (Spael, zitiert in Fischer 1971, S. 32). Dabei ist Cicero eine wertvolle Quelle und ein gewinnbringendes Untersuchungsobjekt: Sein Leben kann als Paradigma eines öffentlich gelebten Lebens gelten. Sein Biograph Anthony Everitt schreibt: „(…) he was an introvert who led the most public of all lives, a thinker and intellectual who committed himself to a life of action.“ (Everitt 2002, S. XI). Seine vielen Publikationen, angetrieben von einem neuzeitlich anmutenden publizistischen Selbstbewusstsein, verschafften ihm öffentliche Aufmerksamkeit weit über seine eigene Lebenszeit hinaus. Er war Politiker und Forumsredner und setzte sich wissenschaftlich mit seinen beiden Lebensthemen, der Politik und der Rhetorik, intensiv auseinander. Seine öffentliche Betätigung als Anwalt, Redner und Politiker ließ ihn auch über die Grundlagen seiner beruflichen Tätigkeit reflektieren. Im vorliegenden Beitrag wird Ciceros publizistisches Schaffen im Dienste seiner republikanischen Ideologie vorgestellt. Er war zwar Politiker und Anwalt und hatte philosophische Neigungen, aber er war Zeit seines Lebens auch Publizist: Seine Karriere war in großen Teilen eine publizistische, seine Erfolge verdankte er seinem kommunikativen Talent. Seine zentrale Intention war die Verteidigung bzw. Wiedererrichtung der von ihm leidenschaftlich verteidigten Staatsform der römischen Republik. Er sah sie existentiell bedroht und setzte einen erheblichen Teil seiner Zeit und seiner Kraft dafür ein, in Reden, Flugschriften, Traktaten und Briefen für die res publica zu kämpfen. Sein vorrangiges Anliegen war die Beeinflussung der öffentlichen Meinung im Sinne dieser spezifischen Intention. Dabei nutzte er jede Gelegenheit, die ihm z. B. politische Ereignisse und Gerichtsverfahren boten, um sich und seinen Anliegen Publizität zu verschaffen: Er instrumentalisierte die jeweiligen juristischen und politischen Anlässe seiner öffentlichen Auftritte, auch wenn sie thematisch noch so abwegig waren. Über den institutionellen Rahmen hinaus, der ihm in der juristischen und der politischen Arena für öffentliches Kommunizieren zur Verfügung stand, versuchte er durch ein eigenständiges publizistisches Schaffen, d. h. durch Flugschriften, Traktate und veröffentlichte Briefe, sich und seinen Vorstellungen Gehör zu verschaffen. Der Publizistikwissenschaft ist Cicero nicht unbekannt: In wichtigen Werken taucht sein Name auf, etwa in Wolfgang Riepls Klassiker „Das Nachrichtenwesen

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des Altertums“, wo Cicero als Beispiel und Referenz für publizistische Phänomene eingeführt wird (vgl. Riepl 1913). Oder in Edward L. Bernays „Public Relations“, wo Ciceros Rhetorik beiläufig als Methode der Meinungsbeeinflussung erwähnt wird (vgl. Bernays 1952, S. 15). Albert Oeckl verweist in seinem „Handbuch der Public Relations“ auf die Tatsache, dass Cicero versuchte „(…) Public Relations zu machen für eine vernünftige Kombination von Macht und Weisheit der res publica Romana.“ (Oeckl 1964, S. 82) Zwar wird in diesen publizistikwissenschaftlichen Standardwerken nur äußerst knapp auf Cicero eingegangen, aber die Verknüpfung seines Namens mit den Themen Öffentlichkeitsarbeit und Public Relations lässt doch aufhorchen. Auch das Buch „3000 Jahre politische Propaganda“ von Alfred Sturminger (1960) geht auf Cicero ein, seine Publizistik wird dort als Beispiel für politische Propaganda in der Antike erwähnt. Jedoch bleiben all diese Betrachtungen meist nur auf einzelne Aspekte beschränkt: Über die – mit Ausnahme Riepls – doch insgesamt sehr kurzen Betrachtungen zum Publizisten Cicero geht die unveröffentlichte Dissertation von Alfred Gailer an der Universität Freiburg mit dem Titel „Cicero als Publizist“ ein, der – auch für den vorliegenden Beitrag durchaus zutreffend – bilanzierte: „Es ist vielleicht bei keiner Themastellung der Begriff Publizistik besser zu erfassen als bei der gegebenen. Denn wir befassen uns mit ihr in einer Zeit, da sie [die Publizistik, N. J.] in Rom (…) in den Kinderschuhen steckt, jedenfalls ihnen gerade entwuchs und sich endlich ihrer selbständigen Macht zum ersten Male bewußt wurde.“ (Gailer 1945, S. 1) – ein guter Ausgangspunkt für die nachfolgenden Betrachtungen.

2 Einige begriffliche und historische Hintergründe Ferdinand Tönnies schrieb in seiner „Kritik der öffentlichen Meinung“, dass es Phasen gesteigerter publizistischer Aktivität und Rahmenbedingungen gebe, die publizistischem Schaffen zuträglich sind: „Diese auf Meinungswerbung angelegten Kundgebungen, die wir Publizistik nennen, weil es zu ihren Hauptzielen gehört, die Öffentlichkeit in Bewegung zu bringen und auf ihre Seite zu ziehen, gedeihen natürlich am vorzüglichsten in unruhigen Zeiten“ (Tönnies 1922, S. 189), wie auch Cicero sie durchleben musste. Vor allem die ältere Publizistikwissenschaft hat sich mit der Frage beschäftigt, was ein Publizist bzw. was Publizistik sei. Wilhelm Bauer (1914, S. 153) etwa schreibt dazu: „Nicht der Wille zur Wahrheit, sondern die Absicht zu wirken, und zwar nach außen hin zu wirken, kennzeichnen das Wesen der Publizistik (…).“ Später ergänzt er, es ginge letztlich darum, aus einer „(…) Einzelüberzeugung (…) eine öffentliche Meinung zu machen, d. h. die allgemeine Stimmungsrichtung in die Bahn dieser

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Sondermeinung zu lenken.“ Für Bauer ist „(…) das Publizistische im modernen Sinne (…) das aus einer besonderen Gesinnung heraus zu verstehende Seelenfängerische (…)“ (Bauer 1930, S. 20). Für Emil Dovifat (1963, S. 23) ist die Öffentlichkeit gewissermaßen das Biotop, in der Publizist als Wesen endemisch ist: „Sie ist das Stigma, die Grundvoraussetzung seines Strebens, sie ist sein Lebens- und Schaffenselement. Vermag er sich in ihr nicht zu bewegen, sie anzureden, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, sie festzuhalten und sich in ihr durchzusetzen, dann scheitert er (…).“ Jüngere Forscher sehen im Publizisten eine „Sprechinstanz“, die – anders als die „Gesprächsinstanz“ Journalist – nicht der Gesellschaft allgemein, sondern partikularen Interessen dient (vgl. Aswerus 1960, S. 5–13, 1961, S. 85–94; vgl. auch Braun 1958, S. 3–14; Wagner 1978, S. 108, 1989, S. 56). Während der klassische Journalismus, wie Philomen Schönhagen (1998, S. 20–35) zeigt, von dem Bestreben gekennzeichnet ist, unparteiisch zu sein, ist gerade Parteilichkeit Kennzeichen von Publizistik. Der Journalist dagegen enthält sich im Idealfall einer eigenen Stellungnahme, will neutral sein und dem Informationsinteresse seiner Rezipienten dienen. Ein Publizist vertritt, folgt man Hans Wagner (1991, S. 55), eigene oder fremde Interessen, er ist Meinungsgeber oder Meinungsrepräsentant, sein Vermittlungsprinzip ist die Einseitigkeit im eigenen oder im Sinne anderer. Ergänzend kann man anmerken, dass ein Publizist Aussagen mit der Absicht der Veröffentlichung produziert. Er unterscheidet sich somit z. B. von einem Dichter, der auch ohne die Veröffentlichung dichten würde. Die Publikation hat zumeist ein explizites Wirkungsziel, das oft von einer bestimmten gesellschaftlich-politischen Gesinnung abgeleitet ist. Dabei ist der Publizist Akteur, nicht einfach Reporteur bzw. Berichterstatter. Er verfügt über eine subjektive Positionierung und bezieht Stellung zu Meinungsfragen in der Gesellschaft. Dass es auch schon in der Antike in diesem Sinne Publizisten gegeben haben muss, ergibt sich u. a. aus der politischen Kultur und der Verfasstheit einiger Staatswesen dieser Zeit. Wilhelm Bauer (1930, S. 6) schreibt: „Jahrhundertelange Zeiträume hellenischer und römischer Kultur sind förmlich gesättigt von politischen wie literarischen Erscheinungen, die sich mit der Absicht, auf die Bildung eines bestimmten Willens zu wirken, an die Menge der Mitbürger wenden.“ In den antiken Staaten wie den griechischen Polisdemokratien und der römischen Republik war die entscheidende Rahmenbedingung für die Existenz einer vergleichsweise freien Meinungspublizistik gegeben: die Möglichkeit freier Meinungsäußerung. Jürgen Wilke (1984, S. 3; 2012, S. 49) betont, dass dieses Recht eine anerkannte Selbstverständlichkeit war, auch wenn es nicht verbrieft bzw. kodifiziert war (vgl. auch Vorländer 2003, S. 33). Alfred Sturminger (1960, S. 71) schreibt: „Die Geschichte der sinkenden Republik zeigt uns eine d­ erartige

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Fülle von Versuchen, die Volksstimmung in Rom zu beeinflussen, daß man nur einzelne Beispiele anführen kann.“ Er verweist auf die propagandistische Nutzung der Spiele, auf die öffentliche Rede, auf den Wahlkampf und viele andere Gelegenheiten zur Meinungsbeeinflussung (vgl. Flaig 2003; Jackob 2005, 2007, 2012; Ueding 2012). Die publizistische Hinwendung zur Öffentlichkeit zum Zwecke der Realisation eines Kommunikationsinteresses war in Rom vielfach ungemein polemisch: „Political pamphlets were an accepted part of public life.“ (vgl. Everitt 2002, S. 71) Man schrieb Invektiven, tendenziöse Biographien und Geschichtswerke, Dialoge und Traktate, Memoiren und offene Briefe. In publizistischen Konflikten dieser Zeit erscheint die sachliche Auseinandersetzung regelmäßig überlagert von Skandalpropaganda, die auf das „Sensationsbedürfnis“ und den „politischen Unverstand der Masse“ anspielte, wie Seel (1961, S. 73) anmerkt, und „(…) auch den Rechtschaffenen nicht vor übelstem Unglimpf schützte. Dabei war an dem erschreckend niedrigen Niveau des publizistischen Kampfes fast jeder, den wir aus der Zeit kennen, sowohl passiv wie aktiv beteiligt.“ Bereits von Caius Gracchus (153–121 v. Chr.) sind Flugschriften in eigener Sache bekannt. Cicero, Pompeius (106–48 v. Chr.) und Caesar (100–44 v. Chr.) schrieben teils selbst, teils ließen sie andere für sich schreiben (vgl. Bauer 1930, S. 52). Besonders auffällig war die Produktion von Angriffs- oder Werbeschriften in Form von Dialogen. Dort wurden im Gesprächston Argumente und Gegenargumente gegenübergestellt. Neben Dialogen, Pamphleten, Tendenzschriften und (Nachrichten-)Briefen waren auch und vor allem Reden, in der Öffentlichkeit gehalten und vielfach anschließend in Schriftform publiziert, Mittel der Meinungsbeeinflussung. Das politische Leben trug sich oft im Freien zu, das Forum, die Theater oder die Säulenarkaden waren die Orte der öffentlichen Kommunikation. Bei vielen Anlässen waren tausende, ja zehntausende Zuhörer anwesend (vgl. Muth 2015; Bartz et al. 2016) und durch die Sozialstruktur (insbesondere die clientela) sowie die Gerüchteküche war eine rasche Informationsdiffusion gewährleistet (vgl. Bauer 1930, S. 64). Darüber hinaus war die öffentliche Rede das Grundmerkmal der republikanischen Staatsform: Sie dominierte die Debatten im Senat, die Volksversammlungen und die Geschworenengerichte (vgl. Fuhrmann 1990, S. 54). Mündlichkeit und Visualität der öffentlichen Kommunikation lassen sich auch in der ausgeprägten Ritualisierung der Politikdarstellung und in der Rhetorisierung der politischen Arena nachweisen (vgl. Flaig 2003; Ueding 2012, S. 159). Auftritte vor dem Volk, etwa in den contiones, waren dramatisierte und inszenierte Darstellungen politischer Macht und sozialer Dignität. Sie waren ein „spectacle of ritualized élite prominence.“ (Bell 1997, S. 2) Die politische Rede als publizistisches Mittel diente neben konkreten politischen Zielen immer

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auch dem „impression-management“, um das Image, die fama eines Politikers publizistisch zu beeinflussen (vgl. Bell 1997, S. 9–10). Die öffentliche Rede war, wie Fuhrmann (1990, S. 55) betont, primär „nichtliterarisch“, ihre Literarisierung erfolgte erst später. Durch die Publikation aber erfuhren die Reden eine eigentümliche Zweckveränderung: „(…) sie sollten jetzt nicht mehr eine einzelne Entscheidung herbeiführen, sondern allgemein für das rednerische Können oder auch für die politischen Ideen des Verfassers werben.“ So konnten kommunikative Intentionen realisiert werden, die nicht situativ gebunden und kurzfristig waren. Die schriftliche Fixierung ermöglichte eine Konservierung der Rede und somit auch mittel- und langfristige publizistische Wirkungen (vgl. Primmer 1977, S. 37; Classen 1985, S. 3; Fuhrmann 1990, S. 55). Insgesamt ist davon auszugehen, dass Redner meist nicht auf Basis ausgearbeiteter Manuskripte veröffentlichten, sondern nur über eine Mitschrift der Gedanken oder wichtiger Teile der Rede verfügten und vor der Publikation eine vollständige literarische Überarbeitung vornahmen (vgl. Classen 1985, S. 5). Die Praxis, gehaltene Reden nachträglich zu veröffentlichen, ist ein zentrales Charakteristikum römischer Publizistik: „In einer besonderen Form hat sie dem antiken Staatsmann den gleichen Dienst geleistet wie der modernen Leitartikel der ihm nahe stehenden Zeitung: als publizierte Rede. Sie ist Verteidigung seines politischen Wirkens und Propaganda für seine Ideen.“ (Sturminger 1960, S. 78). Da allerdings im antiken Rom zu Ciceros Zeit nichts existierte, was mit einer modernen Publikationsindustrie vergleichbar wäre, mussten publizistisch ambitionierte Privatleute, so sie denn ausreichend vermögend waren, professionelle Abschreiber (librarii), Privatsekretäre und geschulte Sklaven einsetzen, um Manuskripte von Hand kopieren und vervielfältigen zu lassen. Trotz der hohen Kosten und des Zeitaufwandes wurden Schriften in großen Mengen vervielfältigt und von Buchhändlern und Verlegern vertrieben (vgl. Riepl 1913, S. 8; Ferguson 1979, S. 297). Ciceros Freund Atticus (110–32 v. Chr.) beschäftigte eine große Zahl speziell ausgebildeter Sklaven und scheint eine Art „prototypical publisher“ gewesen zu sein, „(…) probably selling books for profit. He had many of Cicero’s speeches and books copied and distributed.“ (vgl. Everitt 2002, S. 171; vgl. auch Ferguson 1979, S. 297) Die Auflagenhöhe und die Vielfalt der verfügbaren Texte waren groß, Schriften und Bücher waren beliebte Präsente und wurden gesammelt, reiche Römer hatten große Privatbibliotheken (vgl. Ferguson 1979, S. 297). Um einen Überblick über Ciceros publizistisches Schaffen, seine Intentionen und seine publizistischen Mittel zu bekommen, ohne sich in seinem äußerst umfangreichen Werk zu verlieren (vgl. Jackob 2005, S. 32–34), werden vorrangig solche Texte vorgestellt, die in besonderer Weise Ciceros publizistische Intentionen und seine publizistische Praxis reflektieren, darunter vor allem seine

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(schriftlich veröffentlichten) Reden, nachrangig seine Traktate und seine Briefe. Gerade in den Reden manifestieren sich die beiden Seiten der publizistischen Meinungsbeeinflussung im antiken Rom – die mündliche und die schriftliche (vgl. Ferguson 1979, S. 285; Classen 1985, S. 2; Fuhrmann 1999, S. 65). Die Texte werden nach der Bedeutung für Ciceros Karriere und nach der Frage selektiert, wie deutlich seine publizistischen Intentionen und die Leitmotive seines Lebens zutage treten.

3 Ciceros publizistische Intentionen und Strategien Ciceros publizistisches Wirken kann am besten von seinen politischen und publizistischen Absichten her begriffen werden, wie Otto Seel (1961, S. 14) betont. Es lassen sich in Ciceros Publizistik im Wesentlichen vier – nicht vollends trennscharfe – Intentionen unterscheiden: a) der publizistische Einsatz zur Prominenzsteigerung und Imageprofilierung (Impagepublizistik), b) der publizistische Einsatz im Dienste seiner konservativ-republikanischen Ideologie, der ihn als Gesinnungspublizisten ausweist (Gesinnungspublizistik), c) der Sonderfall seines publizistischen Einsatzes als Regimekritiker (u. a. gegen Caesar) unter dem Deckmäntelchen, die Interessen Dritter zu vertreten (Oppositionspublizistik), und d) der publizistische Einsatz zur Realisation primär schriftstellerisch-wissenschaftlicher Interessen (­ Schriftstellerisch-wissenschaftliche Publizistik). Die ersten beiden Intentionen sind die Wichtigsten, sie spielten oftmals auch dann eine Rolle, wenn Cicero im Dienste Dritter bzw. in wissenschaftlicher oder schriftstellerischer Absicht publizierte.

3.1 Imagepublizistik Das Plädoyer für Roscius (80 v. Chr.) kann als erster Beleg für Ciceros Streben nach Publizität gelten. Cicero übernahm den Fall nicht nur aus freundschaftlichen Motiven gegenüber seinem Mandanten, sondern auch deshalb, weil er in der Verteidigung eine gute Gelegenheit sah, sich im Rahmen eines aufsehenerregenden Mordfalles zu profilieren. Cicero glaubte, er „(…) could make a popular name for himself (…)“, so Kennedy (1994, S. 130). Die Publikation der Rede für Roscius kann auch als Teil einer Imagekampagne betrachtet werden. Dass in diesem Fall Interessen des autoritären Regimes Lucius Cornelius Sullas (138–78 v. Chr.) eine Rolle spielten, verlieh der Sache eine besondere Brisanz und machte sie zu einer guten Chance, die Aufmerksamkeit der römischen Bevölkerung

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und der Aristokratie auf den Emporkömmling (homo novus) Cicero zu lenken (Kennedy 1994, S. 131). Sein Engagement für einen vom Regime Bedrohten brachte ihm die gewünschte Prominenz ein: Sein juristisches Engagement war ein politisches Wagnis: „(…) it was hard to read the speech other than as a critique of the regime“ (Everitt 2002, S. 56–57). Buchheit (1975, S. 570) meint, Cicero habe Zivilcourage gezeigt, „(…) in einem so delikaten Fall die Verteidigung übernommen zu haben.“ Die Rede, in der Öffentlichkeit gehalten und später publiziert, war eine Inszenierung der eigenen Person, ein Mittel, sich Publizität zu erkämpfen. Cicero profilierte sich auf Kosten des ungeliebten Regimes und stellte sich ein öffentliches Zeugnis von Lauterkeit und Beredsamkeit aus: Er nutzte den institutionellen Rahmen einer Gerichtsrede, um auf seine Person aufmerksam zu machen und löste sich mit der nachträglichen Publikation der Rede selbständig aus diesem Rahmen (vgl. Habicht 1990, S. 31). In der Rede für Roscius steht noch der Fall selbst im Mittelpunkt und wenngleich dieser Fall ein Politikum war, ist noch nicht seine typische Hinwendung extra causam zur Propagierung seiner politischen Ideologie erkennbar. Dennoch ist sein öffentlichkeitsbezogenes Kalkül bemerkenswert: Er witterte die Möglichkeiten zur Steigerung seiner öffentlichen Wahrnehmung durch den Prozess und er publizierte das Plädoyer zum Zwecke der Imagearbeit. Ein ähnliches Muster findet sich in den Reden gegen Verres aus dem Jahr 70 v. Chr. Auch hier erwies sich die Vorgehensweise als wirkungsvoll, soziale Anerkennung und Prominenz über den Weg juristischer Prozesse zu erkämpfen und durch eine nachträgliche Publikation seiner Publizität Nachhaltigkeit zu verleihen. Auch der Prozess gegen den ehemaligen Gouverneur von Sizilien eignete sich, um Cicero öffentliche Aufmerksamkeit zu sichern: Der Konflikt ließ sich für die eigenen Interessen nutzen, weil ein in der öffentlichen Meinung übel beleumdeter Aristokrat einer angesehenen Gemeinde gegenüberstand. Auf Kosten der politischen Elite konnte mit Mitteln der Moralisierung und Emotionalisierung Popularität und Publizität erworben werden (vgl. Kennedy 1972, S. 165). Auch in dieser juristischen Streitsache erklärte sich Cicero nicht allein aus dem Gefühl moralischer oder freundschaftlicher Verpflichtung dazu bereit, sich öffentlich zu exponieren. Auch diesmal nutzte er den formalen institutionellen Rahmen eines juristischen Verfahrens, um seinem individuellen „Bedürfnis nach Reklame“, wie Seel (1961, S. 44) schreibt, zu dienen. Auch in den Reden gegen Verres entscheidet Cicero sich, sein juristisches Plädoyer zu veröffentlichen, um seinem Ruhm Nachhaltigkeit zu verleihen: „Die Publikation der geschliffenen Rede mit dem erdrückenden Belastungsmaterial verstärkte noch die Wirkung des Geschehens und machte Ciceros Erfolg unsterblich“ (Habicht 1990, S. 38).

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Im Vergleich zur Rede für Roscius finden sich in der causa Verres noch deutlichere Indizien für die publizistischen Absichten Ciceros: Er hatte bei seinen Recherchen für den Fall eine umfangreiche Sammlung von belastendem Material zusammengetragen, die für den zweiten Teil der Verhandlung nicht mehr gebraucht wurde, da Verres bereits nach der Eröffnung des Prozesses floh. Cicero entschied sich, den öffentlich vorgetragenen ersten und den unveröffentlichten zweiten Teil gemeinsam als Publikation herauszugeben. Der zweite Teil der Reden ist also nie gehalten worden, folglich fingiert und für ein „lesendes Publikum“ verfasst (Fuhrmann 1990, S. 61). Der propagandistische Gewinn dieser Publikation war Ciceros nunmehr kaum zu übersehende Bekanntheit (vgl. Seel 1961, S. 43; Grimal 1986, S. 143; Kennedy 1994, S. 131). Anders als bei anderen Zeitgenossen von Rang (z. B. Caesar oder Pompeius), gründet sich Ciceros (zeit-)historische Bekanntheit nicht auf militärische Erfolge: Er wählte einen anderen Weg zur Steigerung seiner Berühmtheit und seines Einflusses als den, der in der damaligen Zeit für Männer von Rang üblich war. Er wurde zu einer einflussreichen und bekannten öffentlichen Figur durch seine juristischen Fälle und durch deren publizistische Nutzung. Seine Strategie bestand darin, unentwegt auf der Bühne der Öffentlichkeit zu leben, sich die Aufmerksamkeit seiner Mitmenschen zu sichern, wie er in seiner Rede für Plancius bekannte: „(…) ich legte es darauf an, daß sie [die Römer, N. J.] mich nunmehr Tag für Tag vor sich hatten, ich lebte förmlich unter ihren Augen, ich ließ nicht vom Forum (…).“ (Cic. planc. 66). Da sein politischer Einfluss nicht auf militärischer oder ökonomischer Macht, sondern auf der Wahrnehmung und Einschätzung seiner Person und seines Auftrittes durch die Zuschauer des politischen Spektakels beruhte, widmete er sich intensiv rhetorischen Studien. Er musste in der Stadt gesehen werden, denn Rom war „the stage of the world“ (Bell 1997, S. 1).

3.2 Gesinnungspublizistik Mit der Zeit wurden Ciceros publizistische Äußerungen politischer und ideologischer. Mit der Erkenntnis, dass die von ihm glühend verehrte Staatsform der römischen Republik existentiell gefährdet war, kristallisierte sich aus seinen politischen Ansichten mit der Zeit ein klar erkennbares Leitmotiv heraus, das Kennedy (1994, S. 128) wie folgt umschreibt: „Cicero’s political challenge throughout his career (…) was how to preserve the Roman republic and the society in which he grew up from revolutionary threats fostered by the ambitions of demagogues, administrative corruption, foreign and civil war, and economic

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chaos.“ Er wollte mit allen (kommunikativen) Mitteln die überkommene politische Ordnung der römischen Republik vor dem Untergang bewahren bzw. für eine neue Republik auf dem Fundament der alten Staatsordnung kämpfen. Aus Ciceros Glauben an die Richtigkeit der republikanischen Ordnung erwuchs sein Antrieb, alle relevanten Publika von der Notwendigkeit einer erneuerten Staats- und Gesellschaftsordnung mit ihrer althergebrachten Senatsautorität überzeugen zu wollen. So sehr seine einzelnen Kommunikationsinteressen von Werk zu Werk wechseln, sind sie doch meist Variationen dieses einen Motivs. Er war ein Konservativer, für den es keine bessere politische Ordnung als die Republik gab. Er klagte in seinem großen staatswissenschaftlichen Dialog De re publica (54–51 v. Chr.), dass an dem Gemeinwesen (res publica) dem Worte nach noch festgehalten werde, „(…) es in Wirklichkeit aber längst verloren“ (Cic. de rep. 5,1,1) sei. Dieser Verlust der Republik – res publica amissa est –, die Sorge um den Niedergang des Staates, den Untergang Roms, war das zentrale Movens seines publizistischen Schaffens (Steidle 1973, S. 420). Ciceros Ausführungen zu Freiheit und Republikanismus in den staatstheoretischen Schriften sind auch direkte politische Appelle, Ausdruck eines politischen Programms, reflektierte Propagandabotschaften. Seine staatswissenschaftlichen Schriften haben trotz ihres theoretischen Charakters auch propagandistische Intentionen. Sie wurden zumeist in Lebensphasen abgefasst, in denen er politisch weitgehend einflusslos war. Über seine großen Dialoge versuchte er dennoch die öffentliche Debatte zu beeinflussen. In De re publica etwa skizziert Cicero, wie ein idealer Staat (optimus status civitatis) beschaffen zu sein habe, und zieht dann die Konsequenz, dass ein Staatsmann besonderer Art (optimus civis) vonnöten sei, um wieder Ordnung, Stabilität und Ruhe zu gewährleisten, der nur das Wohl aller Staatsbürger im Auge habe und den Interessen der Gemeinschaft zur Durchsetzung verhelfen möchte, der entschlossen ist, all denen auch mit Gewalt entgegenzutreten, die der res publica schaden wollen (vgl. Büchner 1964, S. 1180). Häfner (1973, S. 141) erkennt als „Hauptwurzel“ des Textes „(…) die vollbewußte publizistische Tendenz (…).“ De re publica hatte einen unmittelbaren Zweck, Cicero erwartete sich politische Wirkungen von dieser Schrift. Die Schrift ist in weiten Teilen eine „ideologische Apologie der republikanischen Staatsform“ (Kumaniecki 1971, S. 366) und ein Aufruf zur Rettung des Staates. Richard Heinze (1960, S. 141) bezeichnete sie als „politische Tendenzschrift“ – besonders auch gegen den Alleinherrscher Caesar. Doch Ciceros politische Gesinnungspublizistik besteht nur zu einem Teil aus theoretischen Traktaten, die als Vehikel politischer Botschaften fungieren. Breiten Raum nehmen vor allem seine publizierten Reden ein – sowohl Gerichtsreden, die für propagandistische Zwecke instrumentalisiert wurden, als auch politische

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Reden. Im vorliegenden Kontext ist besonders die Publikation der Konsularischen Reden erwähnenswert. Während seines Konsulats hielt Cicero zu unterschiedlichen Anlässen Reden, von denen er nachträglich zwölf gemeinsam publizierte. Enthalten sind beispielsweise die Reden über das Ackergesetz (63 v. Chr.) und die Reden gegen Catilina (63 v. Chr.). Mit der Publikation seiner Konsularischen Reden, die einige Zeit nach dem Ende seiner Amtszeit erfolgte (um 60 v. Chr.), intendierte er generell, „(…) to maintain his authority by ensuring that the significance of his achievements was not forgotten.“ (Bell 1997, S. 6) Die publizistischen Intentionen bei der nachträglichen Herausgabe waren erneut zu einem gewissen Teil von seinem Bedürfnis nach Publicity geprägt. Doch ging es ihm diesmal nicht hauptsächlich um die Fortschreibung seines Ruhms, sondern um Wichtigeres: Direkt nach seinem Konsulat begannen seine Gegner, seine Handlungen als Konsul – vor allem sein hartes Durchgreifen gegen die Verschwörer rund um Catilina (108–62 v. Chr) – anzugreifen, ihm Staatsterrorismus und illegalen Vollzug der Todesstrafe vorzuwerfen (vgl. Büchner 1939, S. 891). Angesichts immer größerer Rechtfertigungsnot intendierte Cicero mit seiner Publikation, dass die Öffentlichkeit seine Lesart der Ereignisse erfahren sollte. Er entschloss sich zur Publikation und passte die Reden durch nachträgliche Überarbeitungen an die veränderten politischen Gegebenheiten an. Es ging Cicero darum, mit der Herausgabe der überarbeiteten Reden Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen und seiner eigenen Sichtweise wieder Auftrieb zu verleihen (vgl. Fuchs 1959, S. 463–464; McDermott 1972, S. 282–284). Dass dies – im Fall der Catilinarien – nur nach einer sorgfältigen Überarbeitung gelingen konnte, hatte auch damit zu tun, dass man ihm vorwarf, er habe Catilina unrechtmäßig ins Exil getrieben und Justizmord an seinen in der Stadt verbliebenen Anhängern verübt. Die tatsächlich gehaltenen Reden, viel schärfer im Ton und auf die aktuelle Situation bezogen, unterscheiden sich beträchtlich in Stil und Aussage von den nachträglich publizierten Fassungen (vgl. Rabe 1930, S. 80–86; Phillips 1976, S. 441; Primmer 1977, S. 31–38). Cicero beabsichtigte mit dem Kampf um seine Reputation als ehemaliger Konsul zugleich einen Kampf um die republikanischen Werte auszufechten. Er verstand sein Konsulat als einen vorbildlichen Dienst an der res publica (vgl. Fuchs 1971, S. 305). Die Publikation hatte primär politische Ziele, die publizierten Reden enthielten wichtige programmatische Aussagen über seine Staatsidee und sollten ihn selbst als Verkörperung des idealen republikanischen Staatsmannes erscheinen lassen. Auch in der Auseinandersetzung mit Marcus Antonius – dem letzten großen publizistischen Konflikt seines Lebens – wird Ciceros publizistische Absicht offenbar: Die Philippischen Reden hatten zunächst den Zweck, ein Fortleben der caesarischen Monarchie durch Caesars engsten Vertrauten, den amtierenden Konsul

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Marcus Antonius, zu verhindern und der Wiedererrichtung der republikanischen Staatsordnung den Boden zu bereiten. Vor allem die im Jahr 44 v. Chr. publizierte Zweite philippische Rede ist hier interessant: Es handelt sich um eine ehrabschneidende Schmähschrift (Invektive), die mit peinlichen Details, Lügen und Irreführungen gespickt ist. Absicht der zweiten Philippika ist nicht rhetorische Persuasion, es geht um Diskreditierung und die Destruktion der persönlichen Ehre: Antonius wird als übelstes aller Monstren dargestellt und als Gauner, Säufer, Lügner, Prasser, Idiot usw. diffamiert. Diese zweite Rede wurde nicht offen gehalten, sie war nur als politische Flugschrift gedacht, als eine fiktive, „(…) rein literarische Broschüre, eine Schreibtischarbeit (…).“ (vgl. Seel 1961, S. 454; Delaunois 1973, S. 353) Zwar ist die Frage strittig, ob der Text zu Ciceros Lebzeiten veröffentlicht wurde, sicher ist jedoch: Cicero zog die Veröffentlichung der Rede als Flugschrift dem Vortrag im Senat vor, wie auch Pierre Grimal (1986, S. 497) darlegt: „In einem Brief an Cassius gibt Cicero zu, daß im Senat nicht viele Verteidiger der Republik sitzen. Vielleicht reißt sie dieses Plädoyer, das zugleich eine auf die öffentliche Meinung zielende Anklageschrift ist, endlich aus ihrer Lethargie.“ Durch die publizistische Zuspitzung der Konfrontation mit Antonius war der Konflikt unversöhnlich geworden. Die Parteien wurden immer kompromissloser in ihren Zielen und in ihrem Umgang miteinander. Cicero beabsichtigte, dass der Senat Antonius zum Staatsfeind erklärte. Um dieses Ziel zu erreichen, war er auch dazu bereit, illegale Instrumente einzusetzen: Er kämpfte mit allen verfügbaren Mitteln (publizistischen, juristischen und militärischen) gegen den amtierenden Konsul Roms – auch indem er die unrechtmäßigen Truppenaushebungen Octavians (63 v. Chr.–14 n. Chr., später: Augustus) und die damit verbundene Anmaßung von Kommandogewalt unterstützte, rechtfertigte und auf juristischem, politischem und publizistischem Wege mithalf, sie nachträglich zu legitimieren. Dieser Aspekt ist bedeutsam, denn er offenbart, dass Cicero bereit war, im Dienste seiner politischen Gesinnung auch fragwürdige Mittel einzusetzen.

3.3 Oppositionspublizistik Doch entfaltete Cicero auch und gerade in solchen Zeiten ein intensives publizistisches Schaffen, in denen er aufgrund der Machtverhältnisse in Rom zu weitgehender Passivität verdammt war. Dabei nahm er auch Gefährdungen in Kauf, um seinen Ansichten öffentlich Gehör zu verschaffen. Insbesondere während der Herrschaft des ersten Triumvirats (ab 60 v. Chr.) und unter Caesars

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Diktatur (46/45–44 v. Chr.) betätigte er sich als Schriftsteller, um über den Weg philosophischer, rhetoriktheoretischer oder staatswissenschaftlicher Traktate Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen. Darüber hinaus nutzte er, wie schon zu Beginn seiner Karriere, z. B. Rechtsfälle, um politisch-propagandistische Botschaften zu lancieren: Wo ihm der öffentliche Auftritt als Politiker verwehrt war, weil die politischen Verhältnisse es nicht zuließen, instrumentalisierte er den öffentlichen Auftritt als Anwalt. Die Rede für Sestius (56 v. Chr.) ist ein gutes Beispiel: Obgleich ein ganz anderes Thema im Vordergrund stand und der institutionelle Rahmen dies nicht notwendigerweise forderte, nutzte Cicero den Fall, um ein umfassendes politisches Programm vorzutragen und dieses durch nachträgliche Vervielfältigung und Publikation in die Breite wirken zu lassen. Auch hier ging es ihm nicht ausschließlich um Publizität für seine Person, sondern vor allem um Publizität für sein wichtigstes politisches Anliegen. Doch was in seinen vorherigen Reden z. T. nur bruchstückartig vorgetragen wird, wird in der Sestiana zu einem umfassenden politischen Programm formuliert, das der Staatstheorie in seinen Traktaten vorausgreift. Der Kern dieses Programms ist seine Doktrin „(…) of the union of men of good (…)“ (Kennedy 1972, S. 195), von der concordia und dem consensus, die er auch schon früher artikuliert hatte. Cicero verband die Anklage mit einem übergeordneten Thema und knüpfte an sein politisches Programm aus seinem Konsulatsjahr an. So kommt es, dass der eigentliche juristische Casus vergleichsweise wenig Raum einnimmt. Der Fall des Sestius wird zum Rahmen für eine extra causam vorgetragene programmatische Darlegung seiner Staatsideologie: Der Staat, so Cicero in der Sestiana, sei seit Jahren in einer gefährlichen Krise, alle Werte und Institutionen stünden auf dem Spiel (vgl. Hoffmann 1959, S. 473–474; Fuhrmann 1960, S. 481–500; Christes 1988, S. 303–315; Syme 2002, S. 48). Er ruft zur Verteidigung der Republik auf: Die optimi sollten für das Wohl aller sorgen, Widerstand gegen Egoismus und Abenteurertum leisten und die alte Ordnung der überkommenen res publica wieder in Kraft zu setzen (vgl. Fuhrmann 1960, S. 494–500). Ruhe und Sicherheit (otium) könne im Staat nur herrschen, wenn die Römer ihre Republik jenen optimi anvertrauten und ihnen eine herausgehobene Stellung (dignitas) zubilligten, die ihnen politisches Handeln ermöglicht. So wird die Sestiana, aus dem Anlass eines Strafprozesses geboren, zu einem politischen Programm, mit dem Cicero „(…) der gesamten Politik die Richtung weisen und die inneren Geschicke Roms auf das Fundament einer der Tradition verpflichteten republikanischen Staatsordnung gründen will.“ (Fuhrmann 1960, S. 493) Die nachträglich publizierte Fassung des Plädoyers ist eine Überarbeitung und nichts anderes als eine politische Flugschrift, die ihren Weg

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durch Italien und die Provinzen nehmen sollte (vgl. Lacey 1962, S. 67–68; Thierfelder 1973, S. 247). Ciceros politischer Spielraum war bereits während des Triumvirats eingeschränkt. Auch die Sestiana und andere publizistische Äußerungen aus dieser Zeit können als oppositionelle Publizistik bzw. als Regimekritik bewertet werden. Weitere Beispiele für publizistische Regimekritik hinter der Fassade des juristischen Einsatzes für Dritte finden sich aus der Zeit der Alleinherrschaft Caesars. Cicero hielt vor dem Sieger des Bürgerkriegs drei Reden, die durch die Frage verbunden sind, wie ehemals Verfeindete nach dem Sieg einer der Parteien miteinander umgehen sollten. Er formuliert in diesen Reden die Erwartung, dass Caesar milde und versöhnlich mit seinen Gegnern umgehen, die Schäden am Staatswesen reparieren, die alte Republik neu ordnen und sich danach (wie Sulla) von der Alleinherrschaft zurückziehen und den alten republikanischen Kräften die Kontrolle über die res publica wiedergeben sollte. Er beabsichtigte, den Diktator auf die Werte der alten Republik zu verpflichten, indem er ihm ins Gewissen redete und ein Ideal von verantwortungsvoller Herrschaft zeichnete. Gelegenheiten dazu boten die Amnestiefälle der Caesargegner Marcellus, Ligarius und des kleinasiatischen Königs Deiotarus. Die Rede für Marcellus wurde im September 46 v. Chr. im Senat gehalten und ist eine Dankesrede, die nachträglich publiziert wurde. Cicero spricht Caesar seinen Dank für die unerwartete Begnadigung des Marcellus aus (vgl. Dahlmann 1968, S. 342; Kumaniecki 1967, S. 454). Hinter der Fassade der Danksagung trägt sie deutliche Züge einer strengen Mahnung, die Republik wiederherzustellen (vgl. Dyer 1990, S. 19). Betrachtet man diese Mahnung als eigentliche Intention der Marcellusrede, dann stellt die Rede „(…) den Versuch dar, aus der augenblicklichen Begeisterung über Caesars moralische Großtat Kapital zu schlagen (…).“ (Botermann 1992, S. 325). Er hoffte, direkt auf Caesar einwirken zu können und ihn mit dem Gemeinwesen und dem Senat zu versöhnen. Zugleich kritisierte er die absolute Gewalt Caesars, die in seinen Augen nur der Wiederherstellung der Republik dienen dürfe. Durch ein Lob auf die Vergangenheit und dessen bisherige Taten versuchte er Caesar auf sein Herrscherideal festzulegen und die Zukunft zu beeinflussen (vgl. Kennedy 1994, S. 15) – eine für Fürstenspiegel typische Technik: Mit jedem Wort des Lobes ist zugleich eine Beschwörung verbunden, mit jedem Dank die Aufforderung, so weiterzumachen (vgl. Seel 1961, S. 340). Da die Rede nicht nur für Caesars Ohren gedacht war, sondern auch für die Öffentlichkeit verfasst und publiziert wurde, trägt sie Ciceros Appell unter die Leute und setzt Caesar durch die Stimulation einer gewissen Erwartungshaltung bei den Lesern und Hörern unter Druck. Zugleich

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enthält sie eine Drohung mit dem Tyrannenmord (vgl. Dahlmann 1968, S. 349; Kumaniecki 1967, S. 456–457; Dyer 1990, S. 22–26). Die zweite in diesem Kontext wichtige Rede, ein echtes Prozessplädoyer, verfasste Cicero für das Gerichtsverfahren gegen Ligarius im Herbst 46 v. Chr. Wie in der Rede für Marcellus verbindet Cicero Lobeshymnen unterschwellig mit Kritik, Mahnungen, ja Drohungen: Cicero fordert in Pro Ligario erneut die Neuordnung des Staates und verlangt noch größere Anstrengungen bei der Versöhnung. Erneut sind mit Forderungen Lobgesänge auf Caesars Milde und Gerechtigkeit verbunden. Das Plädoyer war bei aller Kritik weitgehend konziliant im Ton und ein weiterer Versuch, Caesar in seiner versöhnlichen Politik zu bekräftigen (vgl. Kennedy 1972, S. 262–263). Aus dem November 46 v. Chr. ist Ciceros letzte Rede vor Caesar, die Rede für den König Deiotarus, überliefert. Im Vergleich mit der Marcellus- und der Ligarius-Rede hat sich der Ton deutlich verändert. Da Caesar in Ciceros Augen nichts weiter unternommen hatte, um die Restauration der Republik in Angriff zu nehmen, beschwert sich Cicero „(…) über die mangelnde Publizität, über die Kabinettsjustiz, der gegenüber die pathetischen Argumente verpuffen und an der kalten Mauer herrscherlicher Unnahbarkeit und Undurchschaubarkeit abprallen müssen.“ (Seel 1961, S. 350) Er suggeriert, dass der Staat sich von einer res publica zu einer Privatsache des Diktators verwandelt habe und bringt ­hyperbolisch-ironische Spottverse auf den Alleinherrscher vor (Cic. deio. 34). Cicero zeichnet das Portrait eines idealen Königs, um damit Caesar, der in Ciceros Augen bereits ein rex ist, unterschwellig zugleich das Bild der Tyrannei vor Augen zu halten. Die Monarchie, so kann man seine Rede lesen, widerspricht dem römischen Wesen. Sein Fazit: Wer sich in Rom zum König machen will, macht sich zum Tyrannen. Helga Botermann (1992, S. 344) konstatiert, dass die Rede im Ganzen kein juristisches Plädoyer sei, „(…) sondern eine politische Flugschrift. Sie prangert Caesars Staat als Tyrannis an und legt den Kern seines politischen Handelns bloß. Sie kann deshalb nur als Drohung verstanden werden. Cicero will „Flagge zeigen“ und (…) andere zum Handeln auffordern. Die Grenze, die den gegenwärtigen Zustand von der Gewaltherrschaft trennt, ist hauchdünn. (…) Konsequenterweise schließt Cicero mit dem Appell, sich nicht die crudelitas der Ankläger zu eigen zu machen, sondern bei der clementia zu bleiben. (…) Die clementia ist aber zugleich das einzige, was Caesar von den manifesten Tyrannen der Geschichte noch unterscheidet. Diese aufzugeben, käme einem politischen Selbstmord gleich.“

So avanciert die Rede für Deiotarus, vor Caesar gehalten und als politische Flugschrift publiziert, zu einer Drohung, voll von Anspielungen und ironischen

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Seitenhieben (vgl. Oelshausen 1975, S. 109–123). Und indirekt war die Rede auch ein Appell an alle, ein verschleierter Aufruf zum Tyrannenmord. Man kann festhalten, dass der Publizist Cicero auch dann durch Reden und Publikationen Einfluss auf den Gang der Dinge nehmen wollte, wenn er in der Opposition war, wenn man von ihm Passivität und Unterordnung erwartete. Um öffentlich gleichwohl Stellung zu beziehen, wählte er die Anlässe für und die Methoden der Regimekritik sorgfältig aus: Er nutzte einzelne juristische Fälle mit politischer Symbolkraft, um allgemeine Botschaften zu lancieren, seine Ideologie zu propagieren oder Kritik an den Machthabern zu üben. Darüber hinaus publizierte er seine regimekritischen Reden mit dem Ziel, durch die Öffentlichkeit seiner Kommentare, Appelle, Mahnungen und versteckten Drohungen, Einfluss auf die Meinungsbildung zu nehmen und die Machthaber unter Druck zu setzen. Dass seine Botschaften, die nicht nur in seinen Reden und Briefen, sondern auch in seinen Traktaten aus der Zeit der Diktatur Caesars niedergeschrieben sind, von vielen verstanden wurden, dokumentiert die Tatsache, dass Cicero unter Caesars Alleinherrschaft ein Symbol des Republikanismus wurde. Der in die Verschwörung nicht eingeweihte und überraschte Cicero kann durchaus als ein ideologischer und publizistischer Wegbereiter der Geschehnisse rund um die Iden des März gelten.

3.4 Schriftstellerisch-wissenschaftliche Publizistik Cicero hatte nicht nur politische Intentionen, immer wieder hatte er auch dezidiert die literarischen, wissenschaftlichen, philosophischen oder pädagogischen Wirkungen seiner Publizistik im Auge. So wollte er z. B. die rhetorischen Studien der römischen Jugend fördern, auch zu diesem Zweck gab er seine Konsulatsreden heraus (Cic. ad att. 2,1,3). Oder er beabsichtigte in philosophischen Werken die Verbindung von griechischem und römischem Gedankengut. Aber Ciceros literarische Pläne waren meist auch Publikationspläne, hatten auch einen Wirkungsaspekt. Und über allen anderen Interessen und Zielen stand das Motto: Die vornehmste Pflicht des (gebildeten) Römers ist es, dem Staat, der res publica, zu dienen (vgl. Häfner 1973, S. 138). Dies dokumentiert sich auch dort, wo Cicero den Eindruck erweckt, er wolle vorrangig belehren, kulturelle Güter tradieren und forschen. Nachvollziehbar ist diese Verbindung unpolitischer mit politischen Intentionen z. B. in seinen rhetoriktheoretischen Schriften. In seinem im Jahr 55 v. Chr. publizierten Hauptwerk De oratore lässt Cicero die seiner Meinung nach bedeutendsten Redner der Republik über die Rhetorik räsonieren. Auf diese Weise entwirft er das Idealbild eines sittlich geläuterten, umfassend gebildeten,

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s­taatsmännisch verantwortungsbewussten Orators. Im Mittelpunkt der Schrift stehen der Orator und seine Kompetenzen und Tätigkeitsgebiete. Zentrales Motiv ist auch hier Ciceros Kampf gegen den Untergang der Republik. Es kommt ihm, wie Göttert (1998, S. 104) argumentiert, auch hier letztlich „(…) auf die Rettung der Republik an, weil allein in ihr jenes menschenwürdige Dasein möglich ist, das von der Rede geprägt wird.“ So ist dieses kommunikationstheoretische Traktat auch ein politisches Werk: „Republikanisch-zivilisatorisches Leben ist gekennzeichnet durch den Verzicht auf äußere Macht, andererseits aber darauf angewiesen, daß große Persönlichkeiten über rednerische Macht verfügen, um jenen gemeinsamen Willen zu erzeugen, der dem Ganzen bestand verleiht.“ (Göttert 1998, S. 104–105) Im Zentrum von De oratore steht die Frage nach der kommunikativen Ethik des Redners, der nach ciceronischem Ideal ein Weiser ist, ausgestattet mit umfassender Kenntnis vom Menschen und der Welt sowie jener Autorität, die zur Führung von Menschen befähigt (vgl. Jackob 2006; Ueding 2012). Da die Krise der Republik nicht nur eine politische, sondern in seinen Augen auch eine moralische war, verlangte sie Antworten, die dem von Cicero wahrgenommenen Sittenverfall entgegenwirken konnten. Ciceros Antwort war eine „Einheit von Gut-Denken, Gut-Reden und Gut-Handeln“, wie Gert Ueding (2000, S. 46) bilanziert: Cicero sei es darum gegangen, durch die Läuterung der ureigensten republikanischen Herrschaftstechnik – öffentliches Kommunizieren – die Republik selbst zu retten. Protagonist dieses Rettungsversuches ist folgerichtig der orator perfectus, der Theorie und Praxis, Rhetorik und Philosophie, Ethos und Politik zusammenführt (vgl. auch Jackob 2006; Ueding 2012). Aus seiner späten Schaffenszeit, nach seinem weitgehenden Rückzug aus dem politischen Alltag, stammt seine Schrift Brutus (46 v. Chr.). Es handelt es sich um eine „Geschichte der Rhetorik in Dialogform“ (Clarke 1968, S. 70), eine „Portraitgalerie“ der Geschichte römischer Eloquenz. Es werden die rhetorischen Leistungen von 275 Rednern analysiert und kritisiert und die Entwicklungslinien der Beredsamkeit in Rom nachgezeichnet (vgl. Yon 1973, S. 453; Kytzler 1990, S. 270; Narducci 2002, S. 427–444) – im Grunde ein Frühwerk der historischen Kommunikatorforschung. Allerdings, und das ist für den vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung, ist die Schrift auch ein „bemerkenswertes politisches Dokument“, wie Kytzler (1990, S. 270) betont: Ciceros persönliche Situation war durch Caesars Alleinherrschaft von ungewollter Tatenlosigkeit geprägt. Mit dem Brutus ergriff Cicero öffentlich das Wort unter dem Deckmantel eines rhetoriktheoretischen Werkes – ein Politikum von Rang, denn man konnte das Buch als eine republikanische Wehklage und als eine politische Kundgebung verstehen. Vor allem der Titel, der genealogische Verweis auf den Tyrannenmörder Brutus, ließ Assoziationen zu (vgl. Kytzler 1990, S. 276–277).

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4 Fazit Ciceros Publizistik ist im Wesentlichen von vier Intentionen gekennzeichnet, von denen zwei eng verwandt und politischen Charakters sind: Er strebte a) nach Publizität und Prominenz, suchte b) seine republikanische Gesinnung zu propagieren und sein eigenes politisches Handeln zu rechtfertigen, übte c) Regimekritik in Zeiten der Opposition und verfolgte darüber hinaus d) ­schriftstellerisch-wissenschaftliche Interessen, die ihrerseits vielfach stark politisch gefärbt waren. Insgesamt können alle hier herausgearbeiteten Intentionen nicht getrennt voneinander betrachtet werden, auch wenn sie sich teils zu verschiedenen Zeitpunkten herausbildeten: Cicero wollte auf seine Mitbürger seiner Gesinnung gemäß einwirken, er verfolgte – zumal in höherem Alter – auch dann dieses Ziel, wenn er seine Prominenz zu steigern trachtete oder vordergründig betrachtet unpolitisch schrieb. Ciceros Beschäftigung mit der Öffentlichkeit geht weit über das hinaus, was bei „normalen“ römischen Anwälten und Magistraten üblich war. Er schöpfte nicht nur den institutionellen Rahmen der politischen und juristischen Sphäre für seine publizistischen Intentionen aus, sondern betätigte sich auch außerhalb des institutionellen Rahmens von Gerichtsverhandlung und Volksversammlung öffentlich als Publizist. Daran schließt sich an, dass Cicero in ungewöhnlich großem Umfang, ungewöhnlich oft und facettenreich in Form und Inhalt publizierte. Er nutzte nicht nur die Gelegenheiten, die sein eigentlicher Beruf ihm zur Realisierung publizistischer Intentionen bot, sondern er entfaltete eigenständig ein intensives schriftstellerisches und publizistisches Schaffen. Zwar war das Streben nach Auszeichnung in der Öffentlichkeit ein allgemeines Charakteristikum der römischen Oberschicht, doch Ciceros Publizitätsstreben geht über das seiner Zeitgenossen hinaus: Es ist nicht zuletzt auf eine subjektive Befindlichkeit zurückzuführen, auf sein vergleichsweise geringes Sozialprestige. Er versuchte sich auszuzeichnen, um einer exklusiven Schicht anzugehören, die aufstrebenden Neulingen Misstrauen und Ablehnung entgegenbrachte. Daher versuchte er zunächst, sich über den Anwaltsberuf einen Namen zu machen, der weiteres Fortkommen in der römischen Adelsgesellschaft ermöglichen sollte. Er strebte danach, sich bekannt zu machen und in Konkurrenz mit den Berühmtheiten seiner Zeit zu treten. Cicero musste nicht nur ohne das Prestige aristokratischer Clans auskommen, er verfügte auch nicht über vergleichbare ökonomische oder militärische Ressourcen wie seine Konkurrenten. Allerdings versuchte er auch nicht seinen politischen Einfluss auf einem vergleichbaren Weg, z. B. über die Provinzialverwaltung, zu steigern. Er war in diesem Punkt durchaus unkonventionell: Er

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lehnte es immer wieder ab, z. B. lukrative Statthalterschaften zu übernehmen, die ja die Basis der Macht vieler seiner Zeitgenossen waren. Doch hätten sie ihn aus dem Wahrnehmungsradius der für seine Absichten vitalen römischen Stadtöffentlichkeit herausgeführt. Aber anders als andere einflussreiche Protagonisten seiner Zeit konzentrierte er sich auf seine öffentliche Präsenz in Rom und auf seine kommunikativen (persuasiven) Fähigkeiten. Er strebte nach Publizität und öffentlicher Sichtbarkeit und suchte unentwegt den unmittelbaren und mittelbaren Bezug zur Öffentlichkeit. Er war einer der ersten Menschen, der seine politische Karriere vorrangig als publizistische Karriere plante, nicht als militärische oder als kapitalistisch-ökonomische. Cicero vertrat die Idee einer Zivilgesellschaft, er verstand Gewalt nicht als erstes Mittel von Politik. Er verkörperte einen städtischen und zivilen Republikanismus. Öffentliche Einflussnahme über publizistische Mittel wie die Rede, die Flugschrift, das Buch oder den Brief war sein Metier. Er verfolgte das Ziel, auf dem „(…) politischen Broschürenmarkt eine möglichst breite und durchschlagende Wirkung zu erzielen (…)“ (Mack 1967, S. 12). Er nutzte Veröffentlichungen, um seiner politischen Philosophie und denen, die seinen Standpunkt teilten, zum Sieg zu verhelfen. Ob situativ politisches Handeln gerechtfertigt oder Aktionen ausgelöst werden sollten, zumeist ging es auch darum, für sein politisches Ideal bei Eliten und Volk zu werben (vgl. Mack 1967, S. 12). Dass zwischen seinem Kampf um Publizität und Popularität und seinem politischen Denken eine enge Verbindung bestand, zeigen seine regelmäßig wiederkehrenden politisch-publizistischen Leitmotive: Unentwegt rief Cicero zur Eintracht der Stände (concordia ordinum), zur Einigkeit aller Rechtschaffenen (consenus omnium bonorum), zur Bewahrung bzw. Wiederaufrichtung der überkommenen Republik (libera res publica) oder zum Kampf gegen die Tyrannei auf. Seine Schlagworte und Losungen sind im Kontext seiner politischen Philosophie folgerichtig: Wer politische Prozesse und Entscheidungen durch das Wort – und nicht durch Waffen oder Geld – beeinflussen will, hat zwangsläufig ein übergeordnetes Interesse daran, dass die politischen und staatlichen Strukturen diese Art von Diskurs fördern und schützen. Er hat weiterhin ein zentrales Interesse daran, dass Kommunikationsakteure die Räume und Rollen erhalten, die ihnen eine entsprechende Einwirkung und Diskursführung erlauben. Und letztlich müssen es kommunikativ errungene Mehrheiten sein, die seine politischen Intentionen tragen, nicht durch Waffen unterdrückte oder durch Geld gekaufte Bevölkerungsteile – Mehrheiten, die durch rationale Einsicht oder moralische Überzeugung Gemeinsamkeit und Gemeinsinn stiften und einen politischen Konsens ermöglichen, der politisches Handeln legitimiert. Die Republik lebt vom öffentlich ausgetragenen, zivilen Kampf um die richtige Politik und um die

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Meinungshoheit, Republikanismus und Publizistik sind untrennbar miteinander verbunden. Und kaum jemand hat in diesem Sinne politische Rhetorik und Publizistik klarer als „aktive, ja kämpferische Praxis begriffen“ (Ueding 2012, S. 163) als Cicero. Dass er mit seinen publizistischen Äußerungen oftmals direkt seinen eigenen Interessen schadete, etwa weil er zum eigenen Nachteil Mächtige anging, unterstreicht die publizistische Lesart seiner Biographie: Er blieb selbständig, unabhängig und eigensinnig und schadete damit oftmals seinen politischen Ambitionen. Er wählte die Art und die Themen seiner öffentlichen Auftritte so, wie sie in sein politisches Programm passten und machte sich durch seine unbotmäßige Eigenständigkeit vielen Zeitgenossen verhasst. Diese Eigenständigkeit trug auch zu seinem politischen Scheitern bei. Aber auf diese Weise hinterließ er der Nachwelt ein umfängliches Korpus an Schriften unterschiedlichster Art, die von dem Bemühen gekennzeichnet sind, Einfluss auf die öffentliche Meinung auszuüben. Dies umso mehr, als es Phasen in seinem Leben gab, in denen ihm der große öffentliche Auftritt versagt war (vgl. Everitt 2002, S. 171). Auch in diesen Phasen war seine Arbeit in den seltensten Fällen Selbstzweck. Er sah sich auch hier im Dienste seiner publizistischen Intention, jener republikanischen Sendung. Er war somit nicht einfach Literat: Er war auf Erfolg und gesellschaftliche Wirkung aus und nutzte dafür alle ihm zur Verfügung stehenden publizistischen Mittel. Mit Reden und Schriften wollte er die Öffentlichkeit in seinem Sinne anleiten, damit ein guter Staat erhalten bliebe oder ein besserer entstünde. Heute, über 2000  Jahre nach Ciceros Tod, mag sein publizistisches Engagement für die Republik, die „immer wütend verteidigt hatte“ (Jessen 2010), doch aktueller anmuten, als die oberflächliche Betrachtung nahelegt. Wenn schon nicht seine konkreten Intentionen und Werke unmittelbar als Anschauungsmaterial dienen, ohne sich dem Vorwurf einer a-historischen Argumentation auszusetzen, dann vielleicht sein persönliches Exempel. Der Preis seines erbitterten Kampfes um die Meinungshoheit in der Phase des Niedergangs der Republik war am Ende sein Leben: „Der größte Staatsintellektuelle, den Rom (und vielleicht auch Europa) jemals hatte, wurde als Greis aus seiner Sänfte geprügelt und totgeschlagen.“ (Jessen 2010) Auch wenn die römische Republik keine vollendete Demokratie und Cicero kein radikaler Basisdemokrat oder gar Pazifist war (vgl. Ueding 2012), ist das Ergebnis doch dasselbe: Der Niedergang von (zumindest in Teilen) freiheitlichen Staatsformen geht mit Opfern und Verlusten einher. Auf die eingangs vorgetragene Frage, was man aus dem Untergang der römischen Republik für heutige Krisen lernen könnte, gibt es an dieser Stelle sicherlich viele mögliche Antworten: Manche davon kaprizieren sich auf die Polarisierung des politischen Spektrums, auf die Radikalisierung von Ansichten,

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Mitteln und Methoden, auf die Zerstörung des zivilen Diskurses und der zivilen Prozesse, das Untergraben ethischer Standards. Andere thematisieren die Folgen schwacher Institutionen, mangelnder politischer Responsivität, Konfliktmüdigkeit, Vertrauensverlust und Desillusionierung in der Bevölkerung. Es gäbe noch viele weitere Antworten, politische, soziale, ökonomische. Und vieles davon mag richtig sein, manches ist vielleicht a-historisch. Eine sehr persönliche Antwort auf die aufgeworfene Frage gibt dagegen Ciceros eigenes Exempel, um noch einmal Kennedy (1994, S. 128) zu Wort kommen zu lassen: „Cicero’s political challenge throughout his career (…) was how to preserve the Roman republic and the society in which he grew up from revolutionary threats fostered by the ambitions of demagogues, administrative corruption, foreign and civil war, and economic chaos.“ Es ist Cieros Leben und Werk selbst, das eine für heute noch gültige Antwort gibt: Politische Eliten, die sich nicht der res publica verpflichtet sehen, sondern Partikularinteressen oder schlimmstenfalls nur sich selbst, können schwere Schäden am Gemeinwesen hervorrufen. Cicero wird nicht müde zu betonen, dass es vornehmste Pflicht von Bürgern freiheitlicher Gesellschaften ist, der res publica zu dienen (vgl. Häfner 1973, S. 138). Sicherlich kann ein solcher individualethischer Appell nicht alle Probleme von kriselnden Demokratien lösen, dazu sind die Probleme und Systeme zu komplex. Doch ohne diese aktiven, der res publica verpflichteten Bürger, ist keine Republik zu machen. Diese Botschaft gilt heute noch – und an nur wenigen weltgeschichtlichen Persönlichkeiten lässt sie sich so gut demonstrieren, wie an Cicero.

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