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German Pages 320 Year 2015
Takemitsu Morikawa Liebessemantik und Sozialstruktur
Kulturen der Gesellschaft | Band 13
Takemitsu Morikawa (PD Dr. rer. pol.) ist Privatdozent an der Universität Luzern. Er lehrt dort und an anderen europäischen sowie japanischen Universitäten Soziologie und Japanologie.
Takemitsu Morikawa
Liebessemantik und Sozialstruktur Transformationen in Japan von 1600 bis 1920
Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung sowie der Forschungskommission der Universität Luzern
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: READING BY THE LIGHT OF FIREFLIES IN THE FIFTH MONTH, Women and Events of the 12 Months, Katsukawa Shunsho¯ (1726-92), Edo period, 18th c. Important Cultural Property, MOA Museum of Art, Atami, Japan Lektorat & Satz: Takemitsu Morikawa, Sarah Ress Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2832-6 PDF-ISBN 978-3-8394-2832-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Für alle Liebenden
Danksagung
Das vorliegende Buch fasst die Ergebnisse des Forschungsprojekts »Transformation der Liebessemantik in Japan. Von der Frühen Neuzeit in die Neuzeit« zusammen, das von dem Schweizerischen Nationalfonds von 2009 bis 2013 gefördert und von mir unter der Leitung von Rudolf Stichweh an der Universität Luzern durchgeführt wurde. Die Ergebnisse der weltgesellschaftlichen und kulturvergleichenden Fragestellung wurden bereits in Form eines Sammelbandes, Die Welt der Liebe. Liebessemantiken zwischen Globalität und Lokalität, erschienen im transcript Verlag, publiziert. An dieser Stelle möchte ich all jenen danken, die diese Publikation möglich gemacht haben. Die vorliegende Arbeit ist schon das dritte Buch, das ich seit meinem Zuzug nach Luzern veröffentlichen durfte. Meine gesteigerte Produktivität führe ich vor allem auf die hervorragende Infrastruktur und auf das fruchtbare intellektuelle Milieu der Universität Luzern zurück. Für beides bin ich sehr dankbar. Vor allem unter der Rektorschaft von Herrn Prof. Dr. Stichweh (seit 2012 in Bonn), dem die hervorragenden Forschungsbedingungen in Luzern zu verdanken sind, durfte ich mich als Forscher in bester Obhut wähnen. Inspirierend war für mich auch immer die Diskussion im Forschungskolloquium, das durch Frau Prof. Dr. Cornelia Bohn und Herrn Prof. Dr. Hasse veranstaltet wurde. Nicht zu vergessen ist auch der fruchtbare Meinungsaustausch mit den hiesigen Kollegen, insbesondere Frau Prof. Dr. Cornelia Bohn, Herrn Dr. Adrian Itschert, Herrn Dr. Daniel Šuber (seit 2012 in Würzburg), Herrn Dr. Christian Morgner (seit 2013 an der Hitotsubashi University in Tokio) und Herrn Dr. Il-Tschung Lim.
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Weitere Kollegen – Frau Dr. Evelyn Moser, Herr Dr. Martin Petzke, Frau Irene Friesenhahn, Frau Marianne Jasson und Frau Myriam Oehri – haben mir als Nichtmuttersprachler bei der sprachlichen Aufbereitung des Manuskripts geholfen. Die Aufgabe des finalen Lektorats und Korrektorats kam Frau Sarah Ress (Berlin) zu. Für etwaige Fehler in dieser Arbeit übernehme ich natürlich eigens die Verantwortung. Herrn Prof. em. Dr. Wolfgang Schamoni (Heidelberg/Japanologie) danke ich für die ausführlichen kritischen Kommentare zu meinem Manuskript. Für seine Kritik bin ich umso dankbarer, da es mir so möglich war, potenzielle Missverständnisse vonseiten der japanologischen Kollegen auszuräumen. Durch eine ausführliche Lektüre von Kapitel 1 kann in dieser Hinsicht vielen Missverständnissen zur Vermeidung unnötiger, unproduktiver Kritik vorgebeugt werden. Da die Bibliothek Luzern nur eine sehr begrenzte Anzahl an Literaturtiteln über Japan führt, konnte ich diese Arbeit nur mithilfe der weitaus umfassenderen Japanologiebibliothek der Universität Zürich abschließen. Für die freundliche Hilfe einschließlich der Beschaffung benötigter Werke bin ich den Bibliothekaren – Frau Mariko Adachi, Frau Sayoko Bissig, Frau Naoko Matsuda und Herrn Nobutake Kamiya – zu Dank verpflichtet. Frau Prof. Dr. Utsunomiya und der Toyo University in Tokio danke ich für meine Unterbringung in Tokio zum Zwecke der Literaturrecherche. Für die großzügige finanzielle Förderung gebührt mein Dank dem SNF und der Forschungskommission der Universität Luzern. Persönlich erwähnen möchte ich Herrn Prof. Dr. Martin Baumann (Religionswissenschaft) und Herrn Dr. Bruno Z’Graggen von der Forschungskommission. Die akademische Infrastruktur der Universität Luzern, die diese Arbeit ermöglicht hat, beruht auf einer Vielzahl von Personen, denen mein Dank gilt. Namentlich kann ich an dieser Stelle nur unseren Studiengangmanager Herrn Daniel Arold und unsere Sekretärin Frau Marta Waser-Wiss erwähnen, die auch nach dem Wechsel von Prof. Dr. Stichweh nach Bonn weiterhin für mich da ist. Der transcript Verlag hat sich in den letzten Jahren zu meinem Hausverlag entwickelt. Dort kümmert sich stets Frau Jennifer Niediek um meine Publikationsprojekte und ich freue mich, sagen zu können, dass durch gegenseitiges Vertrauen aufgrund der langen Zusammenarbeit unsere Kommunikation immer reibungsloser verläuft. Auch bin ich der Überzeugung, dass dieses Empfinden auf Gegenseitigkeit beruht.
DANKSAGUNG
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Zum Schluss möchte ich gerne Herrn Prof. Dr. Rudolf Stichweh und Herrn Prof. em. Dr. Alois Hahn (Trier), die das SNF-Projekt als Projektleiter bzw. Gutachter begleitet haben, meinen tiefsten und herzlichsten Dank aussprechen. Ohne sie hätte die vorliegende Arbeit niemals realisiert werden können. Auch nach seinem Wechsel nach Bonn und trotz seiner zahlreichen dortigen Verpflichtungen zeigt sich Herr Prof. Stichweh stets gesprächsbereit. Seine kritischen Kommentare zum Manuskript der vorliegenden Arbeit haben mir bei der Überarbeitung sehr geholfen. Anerkennung und Wertschätzung vonseiten dieser beiden europäischen Spitzenforscher haben mir Mut gegeben, meine Existenzkrise und meine psychischen Konflikte in den letzten Jahren in Kasssel zu überwinden und meine akademische Karriere wieder anzukurbeln. Herr Stichweh und Herr Hahn gehören zu den wenigen Menschen, die ich ohne Zögern, in intellektueller wie in menschlicher Hinsicht und entgegen meiner Prämisse, niemanden mein Vorbild zu nennen, als solche bezeichnen würde. Luzern, Juli 2014 Takemitsu Morikawa
Vorwort
Das Hauptziel der vorliegenden Arbeit besteht darin, nach dem Muster von Niklas Luhmanns Analysen in Liebe als Passion die Semantik des Kommunikationsmediums »Liebe« in Japan zu ermitteln, zu beschreiben und in ihrem Wandel im Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Gesellschaftsdifferenzierung von der Frühen Neuzeit bis ca. 1920 zu verfolgen. Diese Arbeit zielt darauf ab, in Auseinandersetzung mit Texten der literarischen Überlieferung Japans (beispielsweise Romanen, Novellen, Erzählungen und Dramen) zu analysieren, inwieweit sich Luhmanns theoretische Konstruktion des wechselseitigen Verhältnisses von Evolution der Semantik einerseits und Differenzierung der Gesellschaft andererseits in einem japanischen Kontext bewährt und welche Modifikationen und Ergänzungen angebracht sind, um diese Konstruktion auf den vermeintlich anderen kulturellen Hintergrund anzuwenden. In diesem Sinne ist die vorliegende Arbeit durchaus von einem theoretischen Interesse geleitet. 1 Es geht also weniger darum, herauszuarbeiten, wie es in Japan wirklich im engen, philologischen bzw. historistischen Sinne war, sondern vielmehr darum, zu zeigen, wie japanbezogene – seien es primäre, seien es sekundäre – Texte theoretisch gedeutet werden können und inwieweit sie in einem Sinngebilde syn-
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Ich halte beispielweise am theoretischen Modell der modernen Gesellschaft als funktional differenzierter Gesellschaft fest und leite davon die Definition der Moderne ab – entgegen der freundlichen Hinweise von Prof. Dr. Schamoni auf seinen eigenen Beitrag (»Eine Anmerkung. Wie übersetzt man kindai?« In: Hon’yaku 4, 2002, S. 40–60). In der vorliegenden Arbeit verwende ich »Moderne« nicht als Epochenbezeichnung, sondern als Theoriebegriff.
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thetisiert werden können.2 Das philologische Interesse an der Entdeckung und Erschließung von neuen, dem deutschen bzw. »westlichen« Publikum noch unbekannten Dokumenten, Quellen bzw. »historischen Tatsachen« liegt keinesfalls in der Absicht des Autors. Die Idee zu diesem Projekt entspringt einer spontanen Eingebung im Rahmen der Lektüre von Liebe als Passion während meiner Postdoktorandenzeit. Gleich nachdem ich Luhmanns Werk gelesen hatte, kam ich zu der Überzeugung, dass es zumindest einen Versuch wert sein dürfte, seine Konstruktion auf die japanische Literaturgeschichte anzuwenden, die seit dem Urwerk der japanischen Liebeserzählung, Die Geschichte des Prinzen Genji, eine Vielzahl von Texten zum Thema Liebe hervorgebracht hat.3 Zu diesem Zeitpunkt interessierte mich weniger Luhmanns Theorie an sich – es gab in Japan schon zahlreiche textexegetische Arbeiten zu Luhmann –, 2
Die Aufgabe der historischen Soziologie ist – anders als die der Geschichtswissenschaft – nicht die Feststellung von historischen Tatsachen, sondern deren theoretische Interpretation oder, um es mit den Worten Max Webers zu sagen, die »denkende Ordnung von Tatsachen« (Weber, Max: 1968 [1904]: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr, S. 157; vgl. 150, 156). Aus diesen unterschiedlichen Aufgabenbereichen ergibt sich selbstverständlich ein Unterschied in der Quellenbehandlung der beiden Disziplinen. Während Historiker durch den Verweis auf Quellen historische Tatsachen zu belegen trachten, illustrieren historisch orientierte Soziologen mit historischem Material ihre theoretischen Konstruktionen, wobei eine solche Konstruktion nur durch eine andere widerlegt werden kann. Mangelnde Quellen, unzutreffende Einzelbeobachtungen und problematische Übersetzungen vermögen eine Theorie nicht zu widerlegen, sondern bedeuten allenfalls, dass es ihr noch an empirischem Substrat fehlt.
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In der Oberschule in Tokio – einer Eliteschule, da zu meiner Schulzeit noch ein Drittel eines Jahrgangs an die University of Tokyo ging, der Rest nach Waseda und Keio – habe ich als Pflichtfach Altjapanisch (kobun [古文]) besucht. Meine Großmutter mütterlicherseits war zudem Lehrerin für japanische Sprache und Literatur (kokugo [国語]) und publizierte als waka-Dichterin ein dreibändiges Werk. Dies sei zu meinem Hintergrund erwähnt, um zu erklären, dass ich in einem Milieu aufgewachsen bin, in dem die klassischen Werke der japanischen Literatur als unumstößliche Kulturgüter galten, deren Kenntnis vorausgesetzt wurde.
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sondern vielmehr die Frage nach den Möglichkeiten ihrer Anwendung. Die Tragweite der Anwendungsmöglichkeiten dieser weitreichenden Theorieanlage – das Wie und Wofür ihres Gebrauchs – wurde von japanischen Soziologen noch nicht ausreichend geprüft, ganz zu schweigen von der systemtheoretischen Literaturforschung. Darüber hinaus hat mich Luhmanns Fragestellung Gesellschaftsstruktur und Semantik sehr angesprochen. Da ich meine Forscherkarriere nicht etwa als Japanologe begonnen habe, sondern vielmehr zur europäischen Ideengeschichte und Philosophie der Sozialwissenschaften geforscht habe, hatte und habe ich ein besonderes Interesse an der Theorie der Ideengeschichte. Luhmanns Fragestellung Gesellschaftsstruktur und Semantik ist seit der ersten Lektüre für mich zum Leitfaden geworden, an dem ich mich seit nunmehr mehr als zehn Jahren orientiere. Im Übrigen war Luhmanns Semantikforschung in Japan weitgehend unbekannt, wogegen zunehmend Übersetzungen seiner theoretischen Schriften auf den Markt kommen. Erst vor zwei Jahren erschien, zumindest in Teilen, die erste Fassung von Gesellschaftsstruktur und Semantik in japanischer Sprache.4 Teilergebnisse des Projekts wurden während der Förderzeit in diversen Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht, jedoch für die Aufnahme in die vorliegende Monografie sehr stark überarbeitet. Die Urfassung der jeweiligen Kapitel findet sich in folgenden Publikationen: Kapitel 1: »Einleitung«, in: Takemitsu Morikawa (Hg.) (2014): Die Welt der Liebe. Liebessemantiken zwischen Globalität und Lokalität, Bielefeld: transcript. S. 9–39.
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Tokuyasu, Akira (Übers.) (2011): Shakai kôzô to zemanteiku 1, Tôkyô: Hôseri University Press; Baba, Yasuo/ Akahori, Saburô/ Môri, Yasutoshi (Übers.) (2013): Shakai kôzô to zemanteiku 2, Tôkyô: Hôseri University Press 徳安彰訳 (2011); Takahashi, Tôru/ Mitani, Takeshi (Übers.) (2013): Shakai kôzô to zemanteiku 3, Tôkyô: Hôseri University Press. (徳安彰訳『社会構造とゼマン ティク 1』法政大学出版局、東京、馬場靖雄・赤堀三郎・毛利康俊訳 (2013)『社会構造とゼマンティク 2』法政大学出版局、東京、高橋徹、 三谷武司訳 (2013)『社会構造とゼマンティク 3』法政大学出版局、東 京).
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Kapitel 2: Das frühneuzeitliche Japan in der Medien- und Literaturgeschichte: Zur Erweiterung der gesellschaftstheoretischen Perspektive Niklas Luhmanns, Working Paper. Universität Luzern 2011. Kapitel 3: »Iki. Interaktionssemantik in Japan«, in: sociologia internationalis, Heft 2/2011, S. 273–296; »Verortung der Liebe und amour passion in der japanischen Frühneuzeit«, in: Annette Schnabel / Rainer Schützeichel (Hg.): Emotionen, Sozialstruktur und Moderne, Wiesbaden 2012, S. 385–406. Kapitel 4: Erstveröffentlichung. Kapitel 5: »World Society and (De-)Differentiations of the Japanese Society. With an Example of the love semantics en fin de siècle«, in: Soziale Systeme (in Druck); »Ren’ai. Fehlgeburt der modernen Liebe im Meiji/Taishô-Japan?« In: Takemitsu Morikawa (Hg.) (2014): Die Welt der Liebe. Liebessemantiken zwischen Globalität und Lokalität, Bielefeld: transcript, S. 141–163. Kapitel 1 bietet eine theoretische Einführung in das Thema. Die Semantik – als Medium der Selbstbeschreibung und Selbstreflexion der Gesellschaft – wird von der jeweiligen Gesellschaftsstruktur bestimmt, aber nicht deterministisch von ihr festgesetzt. Sie ändert sich nach einer eigenen Dynamik und ihr Wandel kann zur Bildung von neueren Strukturen führen, insbesondere in sogenannten »Sattelzeiten« im Sinne Reinhart Kosellecks. Als independent variable vermittelt die Entwicklung der Medien- und Kommunikationstechnologie zwischen der semantischen Evolution und dem gesellschaftlichen Strukturwandel. Unter dem Bedeutungskomplex »romantische Liebe« versteht die vorliegende Arbeit diejenige, die Luhmann, Tyrell und Lenz ausgearbeitet haben.5 Die Semantik der »modernen« Liebe umfasst den Aspekt der Sexualität und auch der Zugang zur Sexualität wird durch den Code der Liebe reguliert. Dieses Verhältnis von Liebe und Sexualität ist heute eine Selbstverständlichkeit; historisch betrachtet ist es – auch in Europa – durchaus ein modernes Phänomen. Luhmanns (1982) Modell zufolge war die idealisierte Liebe im europäischen Mittelalter jenseits der Sexualität eher platonisch konzipiert. Die Unterscheidung zwischen höherer (geistiger) und niederer 5
Zu vielfältigen Bestimmungen der begrifflichen europäischen Überlieferung über Liebe siehe auch Burkhart 1998.
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(sinnlicher) Liebe bzw. zwischen platonischer Liebe und Sexualität korrespondiert mit der stratifizierten Differenzierung der Gesellschaft. Davon ausgehend evolutioniert die Liebessemantik im Übergang zur funktional differenzierten Gesellschaft über die Paradoxierung zur Selbstreferenz. 6 Liebe muss dann sich selbst motivieren, indem sie den Mechanismus der sozialen Reflexivität integriert. Niklas Luhmann und Niels Werber weisen auf den Zusammenhang der Ausdifferenzierung der persönlichen, insbesondere der intimen Beziehung einerseits und der Emergenz einer neuen literarischen Gattung, des Romans, andererseits im Übergang von der stratifikatorischen zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft hin. Demzufolge bezeichnet diese im 18. Jahrhundert entstandene, neue literarische Gattung die Differenzierung des Menschen als Individuum im Unterschied zu einem Menschen als Bündel gesellschaftlicher Rollen. Das Thema der Liebe eignet sich ganz besonders für die Thematisierung im Roman. Der Liebesroman ist als Reflexionstheorie der intimen Kommunikationen und als Verbreitungsmedium der Semantik der intimen Kommunikation zu verstehen. Existiert in einer Gesellschaft eine große Nachfrage nach Liebesromanen, muss man ihr eine hohe Reflexivität des Liebens – d. h. ein »Lieben des Liebens« – unterstellen. Kapitel 2 stellt die Sozialstruktur und den Entwicklungsgrad der Medientechnik sowie des Büchermarkts als den historischen, soziostrukturellen Hintergrund dar, vor dem die kommunikativen Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Semantik im frühneuzeitlichen Japan ergründet werden können. Im frühneuzeitlichen Japan war das politische System segmentär differenziert, jedoch war das Wirtschaftssystem landesweit integriert. Die Differenz zwischen politischer und ökonomischer Systemgrenze deutet bereits in Richtung einer funktional differenzierten Gesellschaft. Im Anschluss an diese Ausführungen wird das Vergnügungsviertel der Edo-Zeit als derjenige Ort analysiert, an dem das stratifikatorische Prinzip als aufgehoben galt und – zumindest in der literarischen Repräsentation – der freien Interaktion Platz machte. Das Prinzip der funktionalen Differenzierung im Sinne der Vollinklusion jenseits der Segmentation und Stratifikation wurde hier vorweggenommen.
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Dieser Evolutionsprozess darf nicht als teleologisch verstanden werden.
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Ein marktorientiertes Verlagsgewerbe entstand in Japan im zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts. Gleichzeitig begann sich die Unterhaltungsliteratur immer größerer Popularität zu erfreuen. Im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert schritt die Kommerzialisierung der Literatur voran. Zu jener Zeit erreichten Werke der Unterhaltungsliteratur maximal eine Auflage von bis zu 10.000 Exemplaren, wobei jedes Jahr zwischen 50 und 70 neue Titel erschienen. Damit einhergehend setzte sich die Gewohnheit der extensiven Lektüre durch. Dies ermöglichte im frühneuzeitlichen Japan das Entstehen einer Lesegesellschaft. Diese Entwicklungen wurden zwar von manchen Kulturhistorikern und Literaturwissenschaftlern berücksichtigt und erforscht, ihre gesellschaftstheoretische Relevanz blieb aber mangels eines angemessenen Theorieapparats vonseiten der Literaturwissenschaft bzw. aufgrund unzureichender kulturgeschichtlicher Kenntnisse vonseiten der Theoretiker bislang in der Soziologie im westlichen Sprachraum weitgehend unreflektiert. Kapitel 3 zeichnet zuerst die Emergenz der iki-Semantik nach und schlägt vor, diese Semantik als Interaktionssemantik auszulegen. Das Wort iki ist in Japan auch heute noch Teil des alltäglichen Sprachgebrauchs. Dieser Begriff, der im 17. Jahrhundert entstand, gilt als Schlüsselbegriff für Kultur und Kunst seit dem Erscheinen des berühmten Texts des japanischen Philosophen Baron Kuki Shûzô (1888–1941). An dieser Stelle werde ich vorschlagen, iki als Interaktions- und Individualitätssemantik zu interpretieren. Dabei vertrete ich die differenzierungstheoretische These, dass das Auftreten dieser Semantik in der Edo-Zeit die Ausdifferenzierung von Interaktion und Gesellschaft zu jener Zeit auszeichnete. Vor diesem Hintergrund ist auf die Parallelität des iki-Begriffs mit dem französischen honnêteté-Begriff hinzuweisen. Daran anschließend behandelt die zweite Hälfte von Kapitel 3 die Liebessemantik der Genroku-Epoche (ausgehendes 17. und beginnendes 18. Jahrhundert) am Beispiel von Erzählungen Ihara Saikakus (1642–1693) und Dramen Chikamatsu Monzaemons (1653–1725). In der GenrokuEpoche kann der erste Schritt der Evolution der Liebessemantik in Richtung der romantischen Liebe – insbesondere amour passion – verortet werden. Die analysierten Liebeserzählungen und -dramen endeten zumeist tragisch, da die Liebe noch nicht in die Gesellschaft integriert war. Diese Trennung wurde räumlich in der Einrichtung der Vergnügungsviertel zum Ausdruck gebracht.
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Kapitel 4 widmet sich der sogenannten ninjôbon-Literatur. Dabei handelt es sich um ein in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Kasei-Epoche) entstandenes literarisches Genre, das dank der in der Edo-Zeit fortgeschrittenen Kommerzialisierung der Literatur und der Revolutionierung der gesellschaftlichen Kommunikationen als das erste massenhaft von Frauen konsumierte melodramatische Fiktionswerk der japanischen Literaturgeschichte gilt. Im Vergleich mit der Liebessemantik der Genroku-Epoche sind folgende Unterschiede festzustellen: Das Einsatzgebiet des Liebescodes beschränkte sich nicht mehr auf exklusive, im Vergnügungsviertel angesiedelte »Liebesspezialisten« wie etwa Kurtisanen, sondern erfasste immer mehr Bürger über die Grenze der segmentären und stratifikatorischen Grenze hinweg. Die Dauerhaftigkeit der Liebe löste den Exzess (passion) als Liebesbeweis ab, wobei der Bestand der Liebe mit der Vergänglichkeit und Wandelbarkeit der Welt kontrastiert wurde. Damit wurde die Grundlage für die Liebesheirat geschaffen. In Kapitel 5 soll der Wandel der Liebessemantik zur Zeit der Industrialisierung im ausgehenden 19. Jahrhundert analysiert werden. Immer noch findet man in japanologischen Arbeiten die Auffassung, dass die Japaner vor dem Kontakt mit dem Westen keine »echte« Liebe gekannt hätten. Entgegen dieser weitverbreiteten Meinung werde ich anhand meiner Analyse des gesellschaftlichen Diskurses unter japanischen Intellektuellen und der Rezeption und Modifikation der »westlichen« Liebessemantik zu jener Zeit zu beweisen versuchen, dass Japans zunehmender Kontakt mit westlichen Mächten nicht die japanische Liebessemantik im Sinne einer Aufwertung der Emotionen modifizierte und somit zur Autonomisierung der Intimbeziehung beitrug. Vielmehr führte die von der viktorianischen Moral geprägte Semantik der Zivilisation bzw. Zivilisierung zur Kontrolle der Emotionen durch die moralische Vernunft. Mit anderen Worten: Den Diskursen unter japanischen Intellektuellen jener Zeit – die meisten waren vom asketischen Christentum beeinflusst – gelang es nicht, den Gegensatz zwischen höherer und niederer, geistiger und sinnlicher Liebe zu überwinden und romantic love, companion love und Sexualität in Form der »modernen« Liebe zu integrieren. Dies lässt sich insbesondere daran zeigen, dass die meisten der hier repräsentativ untersuchten Liebesromane der MeijiTaishô-Zeit (1868–1925) tragisch endeten, während ihre Vorgänger, die ninjôbon-Romane, üblicherweise mit einem Happy End schlossen. Aus Sicht der Differenzierungstheorie lässt dies für die Strukturebene den
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Schluss zu, dass die segmentäre Einheit und die stratifikatorische Grenze durch den Kontakt mit westlichen Kulturgütern nicht abgeschwächt, sondern im Gegenteil verstärkt wurden. In den Schlussbemerkungen werde ich den Inhalt des vorliegenden Buchs zusammenfassen und die Auswertung meiner Arbeit in Form von zwei Thesen präsentieren: Die erste These nenne ich die Fehlgeburt der modernen Liebe in Japan. Zweitens vertrete ich die These Meiji-TaishôJapans als einer Organisationsgesellschaft auf Basis eines moralischzivilisatorischen Fundamentalismus. Der weltbekannte israelische Soziologe S. N. Eisenstadt pflegte einst zu sagen: »Japan ist ein großes Rätsel für Sozialwissenschaftler« bzw. »Japan ist eine große Herausforderung für Sozialwissenschaft«. Die vorliegende Arbeit mag als kommunikations- und systemtheoretische Antwort auf dieses Rätsel aufgefasst werden.
Inhalt
Danksagung | 7 Vorwort | 11 Inhalt | 19 Redaktionelle Hinweise | 2 3 1. Eine theoretische Einführung: Semantik, Medien und Sozialstruktur | 25
Sinnverarbeitung und soziokulturelle Evolution | 25 Typen der Gesellschaftsdifferenzierung | 33 Semantische Evolution | 36 Medien | 39 Evolution der Liebessemantik und Gesellschaftsdifferenzierung | 42 Exkurs: Entstehung der Gattung des Romans und Wandel der Individualitätsformel in der deutschen Literaturgeschichte | 51 2. Sozialstruktur und Medien im frühneuzeitlichen Japan | 55
Sozioökonomischer Hintergrund | 55 Etablierung des Büchermarkts und Durchsetzung der Druckmedien als Erfolgsmedien | 63 Das Vergnügungsviertel als Ort der kulturellen Vergesellschaftung und der sozialen Reflexion | 77 3. Liebessemantik in der Genroku-Epoche | 87
Die iki-Interaktionssemantik | 90 I. Was ist iki? | 92 II. Der Code iki/yabo und Differenzierungsformen in der Edo- Zeit | 96 III. Drei Momente von iki | 97 IV. Iki und honnêteté im Vergleich | 104
Verortung der Liebe und amour passion in der Genroku-Literatur | 107 Yonosuke, der dreitausendfache Liebhaber: ein Überblick | 107 Fünf Geschichten von liebenden Frauen | 114 Chikamatsu Monzaemon und seine Dramen: der Doppelselbstmord der Liebenden | 116 Bemerkungen zur Liebessemantik in der Genroku-Literatur | 119 Schlussbemerkung zu Kapitel 3 | 125 4. Liebessemantik in der Kasei-Epoche | 129
Leitdifferenzen | 132 Handlungmuster und semantische Struktur eines ninjôbon-Romans | 134 Evolution der Liebessemantik in der Kasei-Epoche | 144 Quantitative Analyse der ninjôbon-Literatur | 150 Schlussbemerkung zu Kapitel 4: Medien, Semantik und soziale Praxis | 158 5. Der Wandel der Liebessemantik seit der Meiji-Restauration | 161
Meiji-Restauration und Gesellschaftsumbruch | 161 Iro und ai: das Auseinanderbrechen der Liebessemantik in zwei Sinnhorizonte | 163 Bunmei/yaban – die Leitdifferenz in der Meiji-Zeit | 168 Exkurs: Diskurs über die Familienreform | 172 Iwamoto Yoshiharus Frauenideal und Kitamura Tôkokus love | 177 Analyse repräsentativer Liebesromane und -novellen der Meiji-Taishô-Zeit | 186 6. Schlussbemerkungen und Ausblick | 207
Soziokulturelle Evolution und Medientechnik – Semantik, Struktur und Medien | 207 Fehlgeburt der »modernen« Liebe in Japan | 211 Semantik der Zivilisation und Organisationsgesellschaft | 219 Literaturverzeichnis | 227
Sachregister | 299 Personenregister | 311
Redaktionelle Hinweise
1.
2.
3. 4.
5.
1
In dieser Arbeit wird bei asiatischen Namen die in Ostasien übliche Reihenfolge beibehalten, d. h. auf den Familiennamen folgt der Vorname. Die Transkription japanischer Wörter erfolgt nach den Heidelberger Regeln (http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~hw3/pdf/umschriftjap. pdf). Ausgenommen sind davon die Partikel »は« (ha), »へ« (he) und »を« (wo). Vokallängen werden mit einem Zirkumflex gekennzeichnet (Tôkyô statt Tokio bzw. Tokyo, Kyôto statt Kioto bzw. Kyoto). »Teikoku daigaku« (帝国大学), üblicherweise mit »Kaiserliche Universität« wiedergegeben, wird auf den Rat Wolfgang Seiferts mit Reichsuniversität übersetzt. Weil die japanischen Texte, die in der vorliegenden Arbeit behandelt werden, zumeist zu kommerziellen Zwecken publiziert wurden, werden die Titel der behandelten Texte so wiedergegeben, wie sie von einem deutschen Verlag hätten veröffentlicht werden können, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu wecken. Hier hat Verständlichkeit Vorrang vor »philologischer« Genauigkeit.1
Diese Vorgehensweise ist durch die These der »Unbestimmtheit der Übersetzung« des US-amerikanischen Sprachphilosophen W.V.O. Quine legitimierbar (vgl. Quine, Willard van Orman [1980]: Wort und Gegenstand, Stuttgart: Philipp Reclam). Siehe auch Wittgensteins Gebrauchstheorie der Bedeutung (vgl. Wittgenstein, Ludwig [2001]: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp).
Eine theoretische Einführung: Semantik, Medien und Sozialstruktur
S INNVERARBEITUNG UND SOZIOKULTURELLE E VOLUTION In ihrer revolutionären Schrift Die deutsche Ideologie formulierten Karl Marx und Friedrich Engels einst folgenden Gedanken: Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte von Arbeitsteilung und Verkehr (Kommunikation). Dieses Wechselverhältnis griff Niklas Luhmann mehr als 100 Jahre später im Rahmen eines neueren, verfeinerten Modells in seinem Werk »Gesellschaftsstruktur und Semantik« auf (Luhmann 2004 [1980]; 1981; 1982; 2004 [1989]; 1995; vgl. auch Luhmann 1971: 361 f.). Luhmanns Modell ist um ein Vielfaches komplexer und weniger dogmatisch als das spätere Modell des dogmatischen Marxismus, demzufolge die ökonomische und strukturelle Basis der Gesellschaft ihren Überbau einseitig bestimmt. Hingegen kann die soziale Semantik (»Kultur«) Luhmann zufolge »nicht einfach als Ursache, aber auch nicht bloß als Wirkung der sozialstrukturellen Veränderungen begriffen werden« (Luhmann 2008: 56 f.).1 Sie wirkt auf sehr viel komplexere Weise an den »evolutionären Veränderungen der Gesellschaftsstruktur« (Luhmann 2008: 56 f.) mit.
1
Zu dieser klassischen Thematik siehe z. B. Williams 1958; zur spezifischen Wirkung der Massenmedien, vor allem in Bezug auf die »Culture and Structure«-Debatte in der Soziologie im englischsprechenden Raum, siehe Schudson 1989; einen umfassenden Überblick zur Wirkungsforschung bietet Prokop 1995.
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Um dieses Wechselverhältnis zu fundieren, greift Luhmann auf den phänomenologischen Weltbegriff zurück (vgl. Luhmann 1971: 394): »Systeme, die Sinn konstruieren und verwenden, setzen sich damit der Welt aus. Sie erfahren ihre Umwelt und sich selbst und alles, was darin als Element fungiert, als Selektion in einem Horizont, der alle Möglichkeiten einschließt und weitere Möglichkeiten anzeigt, der ein Ende und ein Darüberhinaus anzeigt, der zugleich notwendig und von jedem Standort aus willkürlich begrenzt. Welt in diesem Verständnis ist das Korrelat der Identität von Sinn, sie ist in jedem Sinnelement mitgegeben […] Wir setzen den Weltbegriff hier als Begriff für die Sinneinheit der Differenz von System und Umwelt ein und nutzen ihn damit als differenzlosen Letztbegriff.« (Luhmann 1987: 283) Die »Welt« – im phänomenologischen Sinn – präsentiert sich »uns« immer als etwas, das »nicht als Fülle, sondern nur über Selektionen, über Reihungen oder über Aggregationen unter Verzicht auf Details zugänglich ist« (Luhmann 2004 [1980]: 18). Die »Welt« präsentiert sich als Inbegriff der sinnhaft strukturierten Verweisungsverhältnisse mit einem offenen Horizont. »Sinn besagt, dass an allem, was aktuell bezeichnet wird, Verweisungen auf andere Möglichkeiten mitgemeint und mit gefasst sind.« (Luhmann 1997: 48) Sinn wird Luhmann zufolge als Einheit der Differenz von Wirklichem und Möglichem definiert (vgl. Luhmann 1987: 101). »Sinn ist in allem, was aktualisiert wird, als Weltverweisung co-präsent, und zwar aktuell appräsentiert. Das schließt auch die Verweisung auf die Bedingungen eigenen Könnens, eigenen Erreichen-Könnens und deren Grenzen in der Welt ein.« (Luhmann 1997: 49) Wie alle Sinn verarbeitenden Systeme reduzieren »wir« bei Beobachtung – im Handeln und Erleben – unsere komplexe Umwelt auf ein sinnhaft strukturiertes System, das eigene Verweisungsverhältnisse aufweist.2 »Sinn ist danach […] ein endloser, also unbestimmbarer, Verweisungszusammenhang, der aber in bestimmter Weise zugänglich gemacht und reproduziert werden kann.« (Luhmann 1997: 49-50) Jedes Etwas (ein Geschehen, ein Gegenstand, eine Äußerung) präsentiert sich uns nicht nur als realisiertes Objekt, sondern verweist auch immer auf etwas Mögliches, sofern wir diese Zusammenhänge zwischen dem Ob2
Zu »Welt« als Verweisungszusammenhang siehe auch Heidegger 1993 [1927]: 76–88.
EINE THEORETISCHE EINFÜHRUNG: SEMANTIK, MEDIEN UND SOZIALSTRUKTUR
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jekt und dem Möglichen als sinnhaft wahrnehmen. Verweisungszusammenhänge der »Welt« (Lebenswelt) folgen für uns einem gewissen gleichmäßigen Ablauf, den wir als »typisch« und strukturiert beobachten können. So sehen wir etwa in dunklen Wolken ein Vorzeichen für aufziehenden Regen. Regen wiederum bedeutet für uns nicht lediglich H2O-Moleküle, die vom Himmel fallen. Ein Sommerregen kann für Bauern sehr wichtig für die Herbsternte sein. Andererseits empfinden wir die Feuchtigkeit als unangenehm. Der Anblick dunkler Wolken bewegt uns darum dazu, beim Verlassen des Hauses Regenschirm und -jacke mitzunehmen. Dieser reduzierende Sinnverarbeitungsprozess von Umwelt auf ein System wird »evolutionstheoretisch gesehen« als »Selektion« bezeichnet (vgl. Luhmann 2004 [1980]: 19): »Selektion richtet sich, zunächst jedenfalls, weitgehend nach dem vorhandenen Typenschatz und nach dem, was durch Bezug auf bekannte und vertraute Muster stabilisierbar ist.« (Luhmann 2004 [1980]: 19) Durch dieses Deutungsmuster werden Komplexität – Möglichkeits-, Sinn-, und Anschlussüberschüsse – reduziert. Nur in dieser reduzierten Gestalt ist »uns« die Welt als einheitlicher Horizont von Umwelt und System zugänglich. Ein stabilisiertes Deutungsmuster der Welt wird üblicherweise als Kultur bezeichnet. In der Soziologie impliziert aber von Durkheim bis Parsons der Kulturbegriff einen normativen Gehalt, den jede einzelne Gesellschaft tradiert. Dabei ist mit Kultur der implizite bzw. explizite Wertekonsens sowie das ideelle und normative Wissens- und Wertesystem eines – postulierten und imaginierten – Kollektivs (beispielsweise japanische, deutsche oder schweizerische Kultur) gemeint, das jedes Handeln legitimiert und somit das Problem der Doppelkontingenz lösen soll. Man braucht nicht viele Worte zu verlieren, um zu zeigen, dass dieser anthropologische Kulturbegriff überholt und für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex nicht länger anwendbar ist (vgl. dazu Tenbruck 1985; Reckwitz 2006: 64 ff.; Morikawa 2013: 21 f.). In Hinsicht auf die soziologische Theoriekonstruktion verirrt man sich mit diesem Kulturbegriff schnell in einer petito principi. Man setzt also voraus, was zu beweisen ist. Die Beantwortung des Problems der Doppelkontingenz und Emergenz der sozialen Ordnung mit dem Wertekonsens verlagert nur die Problemstellung (vgl. dazu Luhmann 1987: 150 f., 174; Nassehi 2004: 161 f.).
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Im Anschluss an Niklas Luhmann bezeichne ich in der vorliegenden Arbeit »die Gesamtheit« der für die Reduktions- bzw. Selektionsfunktion nutzbaren »Formen«, die einer Gesellschaft zur Verfügung stehen, als »Semantik einer Gesellschaft« (Luhmann 2004 [1980]: 19)3. Im Anschluss an den Entwurf einer historischen Semantik bei Reinhart Koselleck (1972) sieht Luhmann im Wissen selbst eine emergente Ordnung des sozialen Wandels. Er geht davon aus, dass die Evolution einer Semantik mit dem Wandel von Bedeutungen soziale Prozesse strukturiert und differenziert. Seine Semantikanalyse (vgl. Luhmann 2004 [1980]; 1981; 1982; 2004 [1989]; 1995) und seine Gesellschaftstheorie (in jüngster Ausarbeitung: Luhmann 1997) bauen somit aufeinander auf. »Es wird demnach ein dazwischen liegendes, Interaktion und Sprache vermittelndes Erfordernis geben – eine Art Vorrat möglicher Themen, die für rasche und rasch verständliche Aufnahme in konkreten kommunikativen Prozessen bereitstehen. Wir nennen diesen Themenvorrat Kultur und, wenn er eigens für Kommunikationszwecke aufbewahrt wird, Semantik. […] Kultur ist kein notwendig normativer Sinngehalt, wohl aber eine Sinnfestlegung (Reduktion), die es ermöglicht, in themenbezogener Kommunikation passende und nicht passende Beiträge oder auch korrekten bzw. inkorrekten Themengebrauch zu unterscheiden.« (Luhmann 1987: 224-225) »Die Semantik einer Gesellschaft ist auf dieser einfachen Ebene ausschnittweise, und die Ausschnitte überschneiden sich, für jedermann verfügbar.« (Luhmann 2004 [1980]: 19)4 Die Semantik ist also der »Vorrat von bereitgehaltenen Sinnverarbeitungsregeln« eines Systems und sie verarbeitet Sinnüberschuss mit ihrem semantischen Apparat und reduziert Kontingenz der Welt. »Unter Semantik 3
Diese »Form« der Erkenntnis bezeichneten die südwestlichen Neukantianer wegen der Reduktions- bzw. Selektionsfunktion und des Verweisungscharakters als »Wert«. Vgl. Rickert 1902; 21904.
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Anschließend an Luhmann definiert Stichweh Kultur als »einigermaßen stabile Verhaltenserwartungen und auf diese Erwartungen gestützte Routinen des Verhaltens« (Stichweh 2009: 198). Darüber hinaus impliziert seine Definition von »Kultur« Pluralität und Vergleichbarkeit: »Kultur [...] meint immer ›diese‹ Kultur im Unterschied zu einer ›anderen‹ Kultur, d.h. den Kulturbegriff verwenden wir immer dann, wenn wir als Beobachter ein Vergleichsinteresse verfolgen.« (Stichweh 2009: 198; vgl. Luhmann 1997: 587 ff.; Morikawa 2013: 58 f.)
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verstehen wir demnach einen höherstufig generalisierten, relativ situationsunabhängig verfügbaren Sinn.« (Luhmann 2004 [1980]: 19) Semantik versteht sich also in der vorliegenden Arbeit als gesellschaftlich geteiltes Wissen (das schließt Bauernregeln ebenso ein wie wissenschaftliche Erkenntnis), das eine Sinnverarbeitungsfunktion erfüllt und Kommunikationen (und damit auch soziale Praxis) miteinander koordiniert. Anders ausgedrückt: Mit diesem Wissen übertragen wir das subjektiv Erlebte ins intersubjektiv Erfahrbare und Mitteilbare, d.h. ins an weitere Kommunikation Anschlussfähige. Semantik koordiniert Kommunikationen und soziale Praxen und generiert dadurch die Gesellschaftsstruktur. Die Sinn verarbeitenden Systeme erschließen mit ihrer Semantik die Wirklichkeit und stellen sie mit ihrer eigenen symbolischen Logik dar. Der Semantikbegriff berührt hier über sprachliche Formulierbarkeit hinaus die Problematik des Symbols schlechthin. Seit Ernst Cassirer (Philosophie der symbolischen Formen) wird in den Kulturwissenschaften und in der Kulturphilosophie davon ausgegangen, dass alles menschliche, in Medien – in Sprache, Mythos, Kunst und Wissenschaft – gespeichertes und ausgedrücktes Wissen nicht einfach Ab- bzw. Nachbild der Wirklichkeit ist, sondern dass es sich dabei vielmehr um vom menschlichen »Geist« produzierte, autonome Symbolsysteme handelt. Diese weisen ihre eigenen Strukturen, Logiken, Regelmäßigkeiten und Dynamiken auf. Symbolsysteme produzieren symbolische Bilder bzw. Zeichen, wobei es sich aber nicht um solche Bilder handelt, »die irgendeine an sich bestehende Welt der ›Sachen‹ wiedergeben, sondern um Bildwelten, deren Prinzip und Ursprung in einer autonomen Schöpfung des Geistes selbst zu suchen ist. Durch sie allein erblicken wir und in ihnen besitzen wir das, was wir die ›Wirklichkeit‹ nennen: Denn die höchste objektive Wahrheit, die sich dem Geist erschließt, ist zuletzt die Form seines eigenen Tuns.« (Cassirer 1923: 45 f.) Die Repräsentation der Wirklichkeit durch Symbole bedeutet jedoch keine einfache Wiedergabe, sondern ist »Ausdruck einer ideellen Regel, die das Besondere, hier und jetzt Gegebene, an das Ganze knüpft und mit ihm in einer gedanklichen Synthese zusammenfaßt, so haben wir es in ihr mit keiner nachträglichen Bestimmung, sondern mit einer konstitutiven Bedingung alles Erfahrungsinhalts zu tun. Ohne diese scheinbare Repräsentation gäbe es auch keinen ›präsenten‹, keinen unmittelbar gegenwärtigen Inhalt; denn auch dieser besteht für die Erkenntnis nur, sofern er einbezogen ist in
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ein System von Relationen, die ihm erst seine örtliche und zeitliche wie seine begriffliche Bestimmtheit geben.« (Cassirer 1910: 306) Die tragenden Medien der Semantik sollen in der vorliegenden Arbeit Repräsentationsmedien heißen.5 Sie umfassen heilige Schriften, Kunstwerke, fiktive und nichtfiktive Literatur, Kinofilme, Fernsehsendungen, Zeitschriften u. a., sofern sich die Menschen die in diesen Medien vermittelte Semantik aneignen und sich in ihrer Kommunikation (im Handeln und Erleben) daran orientieren. Repräsentationsmedien lassen sich folgendermaßen klassifizieren: 1. Größe des Orientierungswertes; 2. umlaufen oder archiviert; 3. Geltungsgebiet und -dauer (vgl. Assmann/Assmann 1994). Die Repräsentationsmedien verhalten sich gegenüber jedem Einzelnen als Allgemeines (Repräsentant).6 Denn: »dem Zeichen kommt, im Gegensatz zu dem realen Wechsel der Einzelinhalte des Bewußtseins, eine bestimmte ideelle Bedeutung zu, die als solche beharrt. Es ist nicht gleich der gegebenen einfachen Empfindung ein punktuell Einzelnes und Einmaliges, sondern es steht als Repräsentant für eine Gesamtheit, einen Inbegriff möglicher Inhalte, deren jedem gegenüber es also ein erstes ›Allgemeines‹ darstellt.« (Cassirer 1923: 20) Alle Kulturen bestehen als Gesamtheit von Symbolsystemen und »alle Kultur erweist sich in der Erschaffung bestimmter geistiger Bildwelten, bestimmter symbolischer Formen wirksam« (Cassirer 1923: 49). Daher sehen die Kulturwissenschaften im weitgefassten Sinne ihre Aufgabe darin, »zu verstehen und zu erweisen, wie aller Inhalt der Kultur, sofern er mehr als bloßer Einzelinhalt ist, sofern er in einem allgemeinen Formprinzip gegründet ist, eine ursprüngliche Tat des Geistes zur Voraussetzung hat« (Cassirer 1923: 9). Cassirer nimmt hier das moderne, konstruktivistische Verständnis des Verhältnisses von Wirklichkeit und Medien(-wirklichkeit) vorweg. Demzufolge ist die Medienwirklichkeit kein Abbildungsmechanismus, sondern stellt »einen eigenständigen Prozess der ›Wirklichkeitskonstruktion‹« dar (Keppler 2005: 95). Symbolsysteme stellen Beschreibungs- und Ausdrucksmittel zur Verfügung, mit deren Hilfe subjektive Erlebnisse (Irritati5
Zur Reflexion über die verschiedenen Funktionen der Medien siehe zunächst Münker/Roesler (Hg.) 2008; Bohn 2005.
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Zu den verschiedenen Ausprägungen des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem siehe Morikawa 2001: 70 ff.
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onen aus der Umwelt) zu intersubjektiv mitteilbaren und verständlichen Formen (als Elemente in Systemen) artikuliert werden können. Sie zeigen uns also in diesem Sinne die Grenze der Möglichkeiten – möglicher Erfahrungen, möglicher Beobachtungs- und Beschreibungsperspektiven sowie verfügbarer Verhaltensrepertoires – zu einer gegebenen Zeit an einem bestimmten Ort auf.7 Die besonders nützliche und daher wiederholt gebrauchte und brauchbare Semantik wird im Text im breitesten Sinne, d. h. Text im Sinne Ehrlichs (1983), aufbewahrt und gepflegt. Nach der Einführung der Schrift wird dieser Semantiktyp in schriftlicher Form aufbewahrt, aber auch Kunstwerke fungieren als Speichermedien der Semantik: »Zusätzlich entwickelt sich aber schon sehr früh für ernste, bewahrenswerte Kommunikation eine besondere Variante der Vertextung. Sie übernimmt zugleich auch die Funktion, die Grenzen des sprachlichen Ausdrucks und die Risiken der Formulierung zu kontrollieren. Man könnte in diesem Bereich von ›gepflegter‹ Semantik sprechen, die ihrerseits dann den take off einer besonderen Ideenevolution ermöglicht.« (Luhmann 2004 [1980]: 19) Die symbolische Repräsentation und die soziale Praxis (Kommunikation) stehen im Verhältnis eines hermeneutischen Zirkels. »Nur im Hin und Her vom ›Darstellenden‹ zum ›Dargestellten‹, und von diesem wieder zu jenem zurück, resultiert ein Wissen vom Ich und ein Wissen von ideellen wie reellen Gegenständen.« (Cassirer 1929: 232) Dieses Repräsentationsverhältnis schildert Gottfried Boehm in seiner Bildtheorie wie folgt: »Es dämmert die Einsicht, dass Bilder nicht das sind, wofür sie viele immer noch halten – etwas Nachträgliches, das man letztlich folgenlos wie Spiegel an der Realität vorbeiführt –, sondern eine Macht, imstande, unsere Zugänge zur Welt vorzuentwerfen und damit zu entscheiden, wie wir sie sehen, schließlich: was die Welt ›ist‹. Wer sie anders anzuschauen vermag, ist ihr gewiss so nahe wie derjenige, der seine Begriffe verändert.« (Boehm 2007: 14; in der Soziologie für visuelle Repräsentationsmedien vgl. auch Chaplin 7
Auf das Verhältnis von Repräsentation (Semantik) und Praxis weist Max Weber in seiner Lehre des Idealtypus hin. Im Hinblick auf den richtungsweisenden Charakter der Repräsentationsmedien bezeichnet er die begriffliche Repräsentation in Anlehnung an die südwestliche Schule des Neukantianismus als »Idealtypus« und unterstreicht dessen Wertcharakter. Vgl. Morikawa 1998. Auf Deutsch in: Morikawa 2001: 187–226.
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1994; Hall [Hg.] 1997; Mai/Winter [Hg.] 2006; Raab 2008; Breckner 2010; in der Literaturtheorie vgl. Iser 1991) Die in Repräsentationsmedien ausgedrückten Semantiken nehmen somit Einfluss darauf, wie Menschen sprechen, sich kleiden, sich inszenieren und verhalten. Allerdings ist es schwierig, sogar unmöglich, festzustellen, wie ein einzelner Text, eine einzelne Fernsehsendung oder ein einzelner Kinofilm eine bestimmte Kommunikation beeinflusst, da weder psychische noch soziale Systeme eine triviale Maschine sind, die eine Eingabe eins zu eins wiedergeben. In der Soziologie hat vor allem Erving Goffman dieses Verhältnis von Medien (Symbolen) und sozialen Praktiken mit seiner frame analysis wieder in den Vordergrund gerückt. Sein Verdienst liegt darin, noch einmal die richtungsweisende Funktion des Symbols betont zu haben.8 Kunst in Form von Repräsentationsmedien wie Musik, Malerei, Theater, Kinofilme, Fernsehdramen oder Comics ist kein einfaches Ab- bzw. Nachbild der sozialen Wirklichkeit. Vielmehr haben diese Symbolsysteme eine Vorbild- bzw. richtungsweisende Funktion für das Alltagshandeln und bieten Orientierungswerte. Die mediale Darstellung von Verhalten greift unentwegt auf ein im praktischen Bewusstsein vorhandenes Verhaltensrepertoire der Figuren zurück. Ohne Vorwissen bzw. Vorgriff auf die Verhaltensrepertoires in den Repräsentationsmedien (Semantik) wäre kein Verstehen von objektivierten Kulturen (Texten) und dem Verhalten anderer möglich. Fiktive Aussagen wie »Gott schuf in sieben Tagen die Welt« oder »Wotan baute Walhall« haben zwar keine Pendants in der Realität, aber sie sind für den Leser verständlich, nur weil und sofern der Leser Begriffe wie »schaffen« und »bauen« als Handlungsrepertoire verstehen kann. »Dieser Rückgriff auf ein alltäglich verfügbares Repertoire von Verhaltensweisen ist auch notwendig, um das Fremdverstehen der Zuschauenden zu garantieren.« (Lenz 2006: 126) Die mediale Darstellung macht bewusst, was zwar zuvor objektiv – nach dem jeweiligen Stand des technischen und praktischen Wissens – möglich war, aber (noch) nicht von gewöhnlichen Akteuren bewusst für möglich gehalten wird.
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Siehe hierzu Niklas Luhmanns Begriff der Semantik wie oben genannt. In Luhmanns Konzept ist die Verweisung auf die Möglichkeit bereits enthalten.
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Die von Alfred Schütz begründete sowie von Peter Berger und Thomas Luckmann weiterentwickelte subjektivistische Soziologietradition nahm an, dass jede Lebenswelt (Kultur bzw. Bedeutungssystem) jeweils religiös gegliedert ist und ihr eigenes heiliges Zentrum besitzt (vgl. Berger 1969; Berger/Luckmann 1977). Luhmanns Verdienst liegt hier darin, die Gliederung der sinnhaften sozialen Ordnung als Lebenswelt mit der gesellschaftstheoretischen Differenzierungstypologie einerseits und der Entwicklung der Kommunikationstechnologie (Verbreitungsmedien) anderseits in Verbindung gebracht zu haben (vgl. Luhmann 1997: 190 f.). So wird gezeigt, dass das Modell der Lebenswelt mit einem deutlichen religiösen Zentrum nur begrenzte Gültigkeit besitzt. Luhmann unterscheidet vier Formen der Differenzierung: 1) Segmentäre Differenzierung 2) Zentrum und Peripherie 3) Stratifikation 4) Funktionale Differenzierung Die Differenzierungsform stellt dar, wie »in einem Gesamtsystem das Verhältnis der Teilsysteme zueinander geordnet ist« (Luhmann 1997: 609). Diese Differenzierungsformen bedeuten weder für sich eine evolutionäre Stufe noch löst eine Form eine andere gänzlich ab. In der Gegenwart lassen sich immerhin sowohl Formen der segmentären Differenzierung (Familien, Dörfer, Nationalstaaten) als auch Stratifikation (soziale Klassen) beobachten. Wenn auch primär die Zentrum/Peripherie-Differenzierung vorherrscht, ist es üblich, dass »auf dem Lande nach wie vor unter der Bedingung segmentärer Differenzierung gelebt wird und nur einige Funktionen an die Stadt oder an die herrschende Schicht abgegeben werden« (Luhmann 1997: 655). In einem solchen Fall behält die Peripherie »die segmentäre Differenzierung von Familienhaushalt bei und könnte daher auch ohne Zentrum überleben« (Luhmann 1997: 663). Aber in jedem Zeitalter herrscht eine Form als primäre Form der Differenzierung vor, indem sie »die Einsatzmöglichkeiten anderer [Formen] reguliert« (Luhmann 1997: 612). In der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft gelten andere Differenzierungsformen als sekundär und tertiär und repräsentieren »Ne-
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benprodukte der Eigendynamik der Funktionssysteme« (Luhmann 1997: 612). (1) Segmentäre Differenzierung ist die älteste historisch feststellbare Differenzierungsform. Die Gesellschaft gliedert sich »auf Grund von Abstammung oder auf Grund von Wohngemeinschaften oder mit einer Kombination beider Kriterien« (Luhmann 1997: 613) »in prinzipiell gleiche Teilsysteme« – etwa Familien, Häuser, Dörfer, Stämme oder Clans. Sie bilden dabei »wechselseitig füreinander Umwelt« (Luhmann 1997: 634). Jedes Teilsystem trägt zugleich die gleiche Funktion. Gemäß diesem Differenzierungsprinzip ist dem Individuum in der sozialen Ordnung eine feste Position – zumeist aufgrund des Geburtsstatus – zugeschrieben, die nicht durch Leistung verändert werden kann (vgl. Luhmann 1997: 636). In einer solchen Gesellschaft wird noch nicht zwischen Interaktion und Gesellschaft (Funktionssystemen) unterschieden. Die Anwesenheit ist ein wichtiges Merkmal für die Mitgliedschaft (vgl. Luhmann 2009b [1975]: 25 ff.). Kommunikationen finden nur unter Anwesenden statt (vgl. Luhmann 1997: 640). Die Inklusion in ein Teilsystem ist die Voraussetzung für die Existenz eines Individuums in der Gesellschaft und die Zugehörigkeit dieses Individuums zu dieser Gesellschaft (Inklusionsindividualität). Eine solche Gesellschaft »erträgt keine Ungewissheit über die Familienbildung in der nächsten Generation« (Luhmann 1997: 640). Aus diesem Grund wird hier das Heiratsverhalten stark durch jedes betreffende Teilsystem reguliert und beschränkt. Dies ändert sich »im Zusammenhang mit der Entstehung von Schrift und Mediencodes, einer komplexeren Gesellschaft in einer komplexeren Umwelt erheblich [...].« (Plumpe/Werber 1993: 17) (2) Differenzierung nach Zentrum und Peripherie: »Die Zentrum/Peripherie- Differenzierung ergibt sich aus der Ausdifferenzierung von Zentren.« (Luhmann 1997: 663) Von dieser Differenzierung kann ausgegangen werden, »wenn strukturelle Eigentümlichkeiten in Zentren bedingt sind durch die Aufrechterhaltung einer Differenz vom Zentrum und Peripherie, zum Beispiel, modern ausgesprochen, auf Kapitalakkumulation beruhen« (Luhmann 1997: 665 f.). Das Zentrum hat gegenüber der Peripherie »symbolgebundene, sinngebende Priorität« (Luhmann 1997: 666; vgl. Morikawa 2013: 22 f.). Diese Differenz wird oft als »zivilisiert/nichtzivilisiert« codiert (Baraldi 1997: 66; vgl. auch Luhmann 1997 und Barth/Osterhammel [Hg.] 2005). Im Zentrum – »sei es in hinreichend großen Städten, sei es bezogen auf Reichsbildungen« – wird oft eine weitere
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Differenzierungsform ermöglicht, nämlich Stratifikation, und zwar durch die Bildung des Adels bzw. der Oberschicht. »Das gilt insbesondere für die Möglichkeit, dass ein Adel sich durch Endogamie absondert und zugleich, bezogen auf die Einzelfamilie, das Exogamiegebot segmentärer Gesellschaften beibehält.« (Luhmann 1997: 674) (3) Stratifikatorische Differenzierung findet unter dem Gesichtspunkt der rangmäßigen Ungleichheit der Teilsysteme statt. Von Stratifikation kann ausgegangen werden, »wenn die Gesellschaft als Rangordnung repräsentiert wird und Ordnung ohne Rangdifferenzen unvorstellbar geworden ist« (Luhmann 1997: 679). Die Differenz von oben/unten gilt dabei als Leitdifferenz und die Gesellschaft ist hierarchisch gegliedert. Diese Form hat ihre Grundstruktur in der Dichotomie von Adel und gemeinem Volk. Der rangmäßige Unterschied findet seine Bestätigung in regelmäßigen Ritualen, aber auch in der alltäglichen Wahrnehmung – etwa durch Kleidung, Verhalten, Statussymbole etc. (vgl. Luhmann 1997: 688 f.). Das Individuum ist hierbei weiterhin in einem Teilsystem, d. h. seinem jeweiligen Stand, vollinkludiert. In der gesellschaftlichen Autopoiesis steht nun die Sozialdimension im Vordergrund: Für die Annahme einer Kommunikation ist weniger relevant, wann etwas gesagt wird oder was gesagt wird, als vielmehr wer spricht, also welchen sozialen Rang der Sprecher besitzt. In der stratifizierten Gesellschaft führte »[n]icht romantische, an unverwechselbaren Individuen orientierte Liebe […] Mann und Frau zusammen, sondern der Stand. Eine standesgemäße eheliche Verbindung war weniger eine Sache von individualisierten Personen als vielmehr ein gesellschaftlicher Akt zur Reproduktion von Schichten und zur Exklusion von Personen, die wegen ihres niederen Standes aus der Ordnung herausfielen.« (Kneer/Nassehi 1993: 126 f.) (4) Funktionale Differenzierung: Funktionale Differenzierung erfolgt »unter dem Gesichtspunkt sowohl der Ungleichheit als auch der Gleichheit der Teilsysteme« (Luhmann 1997: 613). Jedes Funktionssystem (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Intimbeziehung usw.) muss seine je eigene Aufgabe bewältigen. »Darin liegt ein Verzicht auf alle gesamtgesellschaftlichen Vorgaben für die Beziehungen zwischen ihnen.« (Luhmann 1997: 613) Der Übergang von der stratifikatorisch zur funktional differenzierten Gesellschaft geht mit der Änderung der Semantik von der Inklusions- zur Exklusionsindividualität einher. In der funktional differenzierten Gesellschaft wird das Individuum nicht länger von einem einzigen Teilsys-
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tem wie seinem Stand (Stratifikation), seinem Haus (Segmentation) usw. vollständig inkludiert; stattdessen vollzieht sich die Inklusion quer zu den Kommunikationen der verschiedenen Funktionssysteme.
S EMANTISCHE E VOLUTION Die semantische Evolution vollzieht sich in drei Momenten: Variation, Selektion und Restabilisierung. »Durch Variation werden die Elemente des Systems variiert […]. Variation besteht in einer abweichenden Reproduktion der Elemente durch die Elemente des Systems.« (Luhmann 1997: 454) Jegliche Kommunikation und Praxis kann jederzeit von dem erwarteten Ablauf abweichen und Erwartungsstrukturen erschüttern. Ob eine Abweichung bestätigt und zur Evolution des Systems positiv selegiert wird, wird auf der anderen Ebene entschieden. Variation als evolutionäre Errungenschaft kann nur dann (mit der weiteren Differenzierung) erhalten und reproduziert werden. Die Funktion der Stabilisierung kann »durch Änderung der Form der primären Systemdifferenzierung ›angehoben‹ werden. Damit wird die Komplexität der äußeren wie der inneren Umwelt des Gesellschaftssystems gesteigert und dadurch die Voraussetzung geschaffen für die Ausbildung und Erhaltung unwahrscheinlicher evolutionärer Errungenschaften.« (Luhmann 2004 [1980]: 43) Die Stabilisierungsfunktion wird durch die Differenzierung des Gesellschaftssystems erfüllt. »Restabilisierung betrifft den Zustand des evoluierenden Systems nach einer erfolgten, sei es positiven, sei es negativen Selektion. Dabei wird es zunächst um das Gesellschaftssystem selbst im Verhältnis zu seiner Umwelt gehen.« (Luhmann 1997: 454) »Im weiteren Verlauf der gesellschaftlichen Evolution verlagert die Restabilisierungsfunktion sich dann mehr und mehr auf Teilsysteme der Gesellschaft, die sich in der innergesellschaftlichen Umwelt zu bewähren haben. Dann geht es letztlich um das Problem der Haltbarkeit gesellschaftlicher Systemdifferenzierung.« (Luhmann 1997: 454) Luhmann geht von »Beziehungen zwischen den Formen primärer Gesellschaftsdifferenzierungen und den Möglichkeiten interner Evolution« aus (Luhmann 2004 [1980]: 43). »Die internen Evolutionen können entweder Evolution der Semantik (Ideenevolution) oder Evolution der Teilsysteme sein. Im ersteren Falle ändert sich das Ideengut, das die Funktion einer
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sozialen Semantik erfüllt; im zweiten Falle ändert sich die soziale Struktur und, soweit von ihr abhängig, auch das Ideengut eines Teilsystems des Gesellschaftssystems.« (Luhmann 2004 [1980]: 44) Mithilfe der bereits erwähnten Typen der Gesellschaftsdifferenzierung lässt sich folgende idealtypische Hypothese über ihre Beziehung zum Evolutionspotenzial formulieren: a) »In segmentären Gesellschaften gibt es gesellschaftsintern zwar Auswirkungen demographischer Evolution, aber keine differentielle sozialstrukturelle Evolution; das heißt: es gibt keine Anhaltspunkte für die Entwicklung unterschiedlicher Sozialstrukturen oder Kulturen der einzelnen Familien, Clans usw., zum Beispiel auch keine ›Subkulturen‹. b) In stratifizierten Gesellschaften beginnt eine eigenständige Ideenevolution, gebunden an die Oberschicht, oder, genauer gesagt, an die Schrift benutzenden Schichten. Ihr Umfang und Tempo hängt sehr wesentlich vom Schriftsystem und seiner (semantischen und schichtenmäßigen) Reichweite ab. c) In funktional differenzierten Gesellschaften gibt es auch und in erster Linie interne Evolution einzelner Funktionssysteme. Sie beginnt bei starker Ausdifferenzierung bestimmter Funktionssysteme (z. B. Rechtssystem) schon in stratifizierten Gesellschaften. Sie ist vermutlich nicht für alle Funktionssysteme adäquat (aber das mag in unserer Gesellschaft auch historische Ursachen haben). Eine eigenständige Ideenevolution unabhängig von den semantischen Strukturen, die in Funktionssystemen ausgebildet werden, ist dann kaum noch möglich. Eine Semantik ohne hinreichendes teilsystemstrukturelles Fundament und ohne funktionale Spezifikation ist dann auf bloßen Formenverbrauch angewiesen.« (Luhmann 2004 [1980]: 43 f.) Die Ideenevolution besteht wie jede andere Form von Evolution aus den drei bereits erwähnten Momenten: Variation, Selektion und Restabilisierung. (1) Für die Ideenevolution kann Variation »in einer Abwandlung des Wortkörpers oder in Neukombinationen bestehen; sie kann aber auch auf Missverständnissen oder auf planmäßigem Missbrauch, auf Einfüllen neuen Sinnes in alte Begriffe beruhen. Sie gehört sozusagen zum Geschäft, wenn es überhaupt gepflegte Semantik gibt. Sie produziert ständig Abweichungen, ständig neue Varianten der semantischen Tradition, meistens jedoch erfolglos – sei es, dass schon der Einzelne den Einfall in Kommunikation mit sich selbst wieder unterdrückt; sei es, dass der kommunikative Er-
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folg in der sozialen Gemeinschaft der Kundigen und Interessierten ausbleibt.« (Luhmann 2004 [1980]: 47 f.) (2) Die abweichende Semantik bzw. die neue Ideen werden nicht immer akzeptiert, sondern üblicherweise – implizit oder explizit – zurückgewiesen. »Wenn das Komplexitätsniveau der Gesellschaft sich jedoch ändert, muss die das Erleben und Handeln führende Semantik sich dem anpassen, weil sie sonst den Zugriff auf die Realität verliert. Komplexität ist mithin eine – und wohl die weitreichendste – intervenierende Variable, die zwischen evolutionär ausgelösten Strukturänderungen und Transformationen der Semantik vermittelt.« (Luhmann 2004 [1980]: 22) Welche »neueren Ideen« akzeptiert und im kommunikativen Umlauf eingesetzt werden und welche nicht, wird auf der Strukturebene entschieden. »Die Selektion betrifft die Strukturen des Systems, hier also Kommunikation steuernde Erwartungen. Sie wählt an Hand abweichender Kommunikation solche Sinnbezüge aus, die Strukturaufbauwert versprechen, die sich für wiederholte Verwendung eignen, die erwartungsbildend und -kondensierend wirken können; und sie verwirft, indem sie die Abweichung der Situation zurechnet, sie dem Vergessen überläßt oder sie sogar explizit ablehnt, diejenigen Neuerungen, die sich nicht als Struktur, also nicht als Richtlinie für die weitere Kommunikation zu eignen scheinen.« (Luhmann 2004 [1980]: 47 f.). (3) Die neueren Ideen, die diesen Prozess »überleben«, werden in das Bedeutungssystem (Sinnsystem) aufgenommen und modifizieren das bisher bestehende System. Dadurch stabilisiert sich das Bedeutungssystem wieder. Allerdings werden diejenigen neuen Ideen, die nicht sofort aktualisiert werden, im Semantikpool konserviert. »Eine erhebliche Zeitdistanz zwischen Erstauftreten und Einsetzen einer Wirkungsgeschichte semantischer Innovationen kann daher nicht überraschen.« (Luhmann 2004 [1980]: 47 f.). Es lässt sich im Hinblick auf den Semantikpool auch von einem Kulturgedächtnis sprechen, das generiert wird, während die jeweilige Semantik im Umlauf ist (vgl. auch A. Assmann 1995; 1999; 2002). Die neueren Kombinationen (Verweisungsverhältnisse) von Symbolen (Semantiken) müssen in Fiktionen getestet werden, um vom jeweiligen Publikum als plausibel akzeptiert zu werden und durch die wiederholte Re-
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präsentation Evidenz zu gewinnen, bevor sie praktiziert werden können.9 Dieses Gedankenexperiment oder Austesten neuerer Ideen findet seit jeher mittels Repräsentationsmedien, d. h. Kunstwerken im weitesten Sinne – einschließlich fiktiver Erzählungen, Kinofilme, Fernsehdramen, Comics, Videospiele u. dgl.10 –, statt (vgl. Ette 2010: 25 f.). Wenn der Verweisungszusammenhang einer neueren Semantik als Sinngefüge Plausibilität und Evidenz gewinnt, werden ältere Semantiken durch sie modifiziert; es folgt ihre Verbreitung. In diesem Sinne ist das gewöhnliche Verhalten »in gewissem Sinne eine Nachahmung des Schicklichen, eine Geste gegenüber dem Vorbildlichen, und die beste Verwirklichung dieser Ideale findet man eher im Reich der Erfindung als in der Wirklichkeit« (Goffman 2000: 604).11 Im Allgemeinen lässt sich sagen: Fiktive Repräsentationsmedien waren und sind ein wichtiges Medium der Enkulturation (vgl. Mai/Winter 2006: 8).12 In dem hier dargestellten Sinne verkörpern Fiktionen »auch die Träume einer Epoche, die im Widerspruch zur dominanten Ideologie stehen können und sie in gewisser Weise dekonstruieren« (Mai/Winter 2006: 9; vgl. auch Luhmann 1997: 536 ff.).
M EDIEN Die Evolution der Semantik wird durch die Erneuerung der Medientechnik angeregt (Luhmann 1997: 190f.). In diesem gesellschaftstheoretischen Rahmen sorgt die technische Entwicklung der Kommunikationsmedien (Verbreitungsmedien) als Zwischenglied für die Vermittlung zwischen der Evolution der Semantik und der der Gesellschaftsdifferenzierung. Die Einführung der Schrift, die Durchsetzung des Buchdrucks und die Erfindung 9
Vgl. Luhmann 1997: 539, 548; zum systemtheoretischen Begriff des Publikums siehe Stichweh 2005: 83 f.
10 In den modernen Naturwissenschaften übernimmt das Experiment diese Aufgabe. 11 Zwar erprobte Goffman selbst seine Theorie nur an visuellen Medien wie Filmen und Fotos; seine These kann jedoch auch auf alle anderen Repräsentationsmedien angewandt werden. 12 In ähnlicher Form findet sich diese These auch im Werk von Anthony Giddens, siehe dazu Gross/ Solon (2002).
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von weiteren Verbreitungsmedien bis zu ihrer modernsten Form, dem Internet, haben immer einen gesellschaftlichen Umbruch ausgelöst. Luhmann zufolge ist bei der Evolution der Verbreitungsmedien – von der Erfindung der Schrift bis zu den modernen elektronischen Medien – ein bestimmter Trend zu beobachten: die Transformation von »hierarchischer zu heterarchischer Ordnung und der Verzicht auf räumliche Integration gesellschaftlicher Operationen« (Luhmann 1997: 312; vgl. Giddens 1996: 85, 100). Die vorliegende Arbeit rückt die gesellschaftstheoretische Bedeutung der Drucktechnik und die somit entstehende Lesegesellschaft in den Mittelpunkt. Sofern sich die Reichweite des Medienverkehrs auf einen kleinen Kreis wie die Oberschicht beschränkt, wird beispielsweise der Rest der Bevölkerung aus dem System der gesellschaftlichen Kommunikation exkludiert. Niklas Luhmann zufolge bringt demzufolge die Ausweitung des lesenden Publikums eine Revolutionierung der gesellschaftlichen Kommunikation mit sich (vgl. Luhmann 1997: 291 ff.). 1. Entsteht kraft der Verbreitungstechnologie des Buchdrucks erst einmal ein Absatzmarkt für Schriftmedien, so liegt es nicht länger in der Macht der Autorität, sei diese politisch oder religiös, zu diktieren, was geschrieben, gedruckt und gelesen werden soll. Die Kontrolle des Markts durch religiöse oder politische Zensur hat sich im Laufe der Geschichte überall als wenig erfolgreich erwiesen. 2. Das Entstehen eines Büchermarkts ändert auch den Charakter der Lektüre: »Überhaupt wird die intensive Wiederholungslektüre immer derselben Texte, die diesen wie von selbst Autorität verlieh, allmählich ersetzt durch eine extensive Lektüre, die immer neuen Lesestoff auf Informationsund Unterhaltungswert hin durchsieht. Statt Lektüre zu wiederholen, bietet es sich an, verschiedene, jetzt leicht zugängliche Texte, zu vergleichen. Texte müssen, wie man jetzt formulieren kann, ›interessant‹ sein.« (Luhmann 1997: 294) Dann repräsentieren Bücher (Schriften) nicht mehr die ewig unveränderbare heilige Ordnung. Sie gewinnen Informationswert allein durch die Neuheit ihres Inhalts.13 Der Büchermarkt und die daraus re13 Auch Aleida Assmann (1995) weist auf das Zusammenspiel der sozialen Differenzierung einerseits und der Entstehung von »Lesern« und »literarischen« Texten bzw. Unterhaltungsliteratur andererseits hin. Mit der Entstehung des modernen Lesers wird die Lektüre eines Textes vom kulturellen Zusammenhang mit anderen Wertsphären abgekoppelt und erhält mehr Züge einer privaten Angelegenheit. Einen literarischen Text liest der Leser als Individuum und autonomes
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sultierenden extensiven Lesegewohnheiten generierten innerhalb der Bevölkerung ein neugieriges Publikum, das nach immer aktuelleren Informationen verlangte.14 3. Die so entstehende, am Interesse des Lesers orientierte Buchproduktion hat zugleich zur Folge, dass sich Verleger immer mehr am Absatz orientieren und den Wert eines Buches an diesem messen. Nun erhält das anonyme Publikum die erhebliche Macht, zu bestimmen, welcher Autor, welcher Poet sich auf dem Markt behaupten darf. Für Europa beschreibt Anthony Ashley-Cooper, Earl of Shaftesbury, diesen Wandel im Kapitel Advice to an Author in seinem bekannten Essay Characteristics: »In our Day the Audience makes the Poet; and the Bookseller the Author.« (Shaftesbury 1773: 264) Diese Entwicklung erfolgte in Japan im 17. Jahrhundert (vgl. May 1978: 280), wie im nächsten Kapitel gezeigt werde soll.15 4. Die Buchdrucktechnik und die Entstehung der lesenden Gesellschaft trägt zur Individualisierung bei: »Mit all dem fördert der Buchdruck heimlich den Trend zur Individualisierung der Teilnahme an gesellschaftliSubjekt. Zugleich fordert der literarische Text ästhetische Distanz. Die Lektüre von literarischen Texten ist keine Zeremonie mehr, die soziale Verbände und gemeinsame Werte sowie Interessen stiftet. Zugleich sind Produzenten von Texten unter Bedingungen der kapitalistischen Produktion dem Marktdruck ausgesetzt. Sie müssen sich an dem sich stetig wandelnden Geschmack des Lesers und an sich ebenso wandelnden Moden des Marktes orientieren, um sich zu behaupten. Damit verlieren Texte, wie auch alle anderen Kunstwerke, im Zeitalter der Reproduzierbarkeit ihre Aura, wie Walter Benjamin (1980) konstatiert. 14 Dore (1965: 109 f.) weist auf »curiosity and the eagerness to learn« (Neugierde und Lernbereitschaft) unter den Japanern der späten Edo-Zeit hin (vgl. auch Dore 1992 [1965]: 302). Dore unternimmt keinen Versuch, die konstatierte Neugierde der Japaner jener Zeit zu erklären; meines Erachtens ist eine mögliche Erklärung in der parallelen Entwicklung der Kommunikationsmedien zu finden. Siehe auch May 1978: 277. 15 »Dies war nun in Japan die gleiche Erscheinung wie in Europa, nur vollzog sich die Ausbildung eines großen, unüberschaubaren Marktes aufgrund der gedruckten Literatur in einem ungleich kürzeren Zeitraum. Vergingen in Europa seit der Einführung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert bis zu einem wirklichen ›Sozialisierungsprozeß der Literatur‹ zwischen 1740 und 1800 gut 300 Jahre, so waren es in Japan nur rund 100 Jahre, grob geschätzt zwischen 1650 und 1750.« (May 1978: 281)
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cher Kommunikation, und dies in doppelter Weise. Wenn etwas bekannt ist, aber jemand es nicht kennt, hat er sich dies selbst zuzuschreiben. Er hat nicht genug gelesen. Ihm fehlt es an Bildung. Andererseits reizt das Bekanntsein dazu, mit abweichenden Meinungen oder neuen Interpretationen hervorzutreten, um sich als Individuum bemerkbar zu machen.« (Luhmann 1997: 297-298)
E VOLUTION DER L IEBESSEMANTIK UND G ESELLSCHAFTSDIFFERENZIERUNG Geleitet vom oben dargelegten theoretischen Interesse betreibt Luhmann Semantikforschung. »Wenn es richtig ist, dass Sinn Selektivität organisiert, wird man vermuten müssen, dass evolutionär variierende Komplexität sich in den einzelnen Sinndimensionen semantische Korrelate schafft.« (Luhmann 2004 [1980]: 35). In seinem Werk Liebe als Passion (1982), das schon heute zu den Klassikern zählt, beschreibt er die Evolution der Liebessemantik in Westeuropa. Die Entstehung der gegenwärtigen Liebessemantik westlicher Prägung erfolgte mit dem Übergang der traditionalen, stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft zur modernen, funktional differenzierten Gesellschaft. Folgende miteinander verknüpfte Erscheinungen werden dabei von Luhmann untersucht: 1) Der Wandel der sozialen Differenzierung von der segmentären Form über die stratifikatorische bis hin zur funktionalen Differenzierung. Die Sattelzeithypothese Reinhard Kosellecks entspricht dem gesellschaftstheoretischen Übergangsmodell von der stratifikatorischen zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. 2) Die Umbauten im Verhältnis von Gesellschaft und Individualität, d. h. der Wandel von der Inklusions- zur Exklusionsindividualität: Ein Individuum wird in der modernen Gesellschaft nicht mehr von einem einzigen Teilsystem wie einem Stand (Stratifikation), einer Dorfgemeinde (Segmentation) u. dgl. vollständig inkludiert; stattdessen vollzieht sich die Inklusion quer zu den Kommunikationen der verschiedenen Funktionssysteme. Die Individualität lässt sich nun extrasozietal bestimmen. 3) Die Rolle der Semantik und des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Liebe: Liebe ist »ein Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen und leugnen« (Luhmann 1982: 23) kann, und dabei geht es um ein Verhaltensmodell, »das gespielt
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werden kann, das einem vor Augen steht, bevor man sich einschifft, um Liebe zu suchen.« (Luhmann 1982: 23) Wenn die Medienkommunikation mit dem technischen Fortschritt an mehr Reichweite gewinnt und immer größere Bevölkerungsteile über die alte Grenze der Segmentation und Stratifikation hinaus in diese Kommunikation inkludiert werden, muss sich entsprechend die Liebesemantik modifizieren. Denn sie reagiert auf die Differenz von literarisch vorgegebener Liebe und tatsächlich geliebter Liebe, um den Zugriff auf die Realität nicht zu verlieren. 4) Liebe gilt in der modernen Gesellschaft »als unbegründbar und als persönlich deklariert« (Luhmann 1982: 22) und die konstitutive Differenz der modernen Liebe ist die von (höchst-)persönlich/unpersönlich: Wogegen Kommunikationen in anderen Funktionssystemen wegen der äußerst partiellen Inklusion der einzelnen Person als unpersönlich erscheinen, ermöglicht allein die Kommunikation im System der Intimbeziehungen – neben dem Religionssystem – die Berücksichtigung der Vollpersönlichkeit einer Person. Je weiter die funktionale Differenzierung der Gesellschaft fortschreitet, desto mehr steigt der individuelle Bedarf an einer Nahwelt, die vielfältige Aspekte und Idiosynkrasien integriert. Die Funktion des Intimsystems ist die gegenseitige Bestätigung der Individualität. In diesem Sinne ist der jeweilige Stand der Liebessemantik ein wichtiger Indikator für die Differenzierung der Gesellschaft und den Grad der Individualisierung – so die Arbeitshypothese der vorliegenden Arbeit. Luhmann kennzeichnet die moderne, sexuell fundierte Intimität folgendermaßen (1982: 32-33): 1. Die Partner legen auf »Zusammensein«, auf Unmittelbarkeit und Nähe Wert. 2. Die geschlechtliche Beziehung wird weder in Rücksicht auf Außenstehende noch unter Zustimmung anderer realisiert. Äußere Momente wie Intention, Interesse oder Absicht lassen sich nicht den Partnern zurechnen, sodass die Fortdauer der Beziehung in sich Wert besitzt. Dies verhindert eine genaue Bilanzierung von Vorteilen und Nachteilen. 3. Dadurch wird wiederum die Angliederung eines weitgefassten Bereichs geistiger und seelischer Interessen ohne Verrechnung ihres Tauschwertes möglich. 4. Infolgedessen kann unterstellt werden, dass das eigene Erleben auch das des Partners ist. »Dies liegt nicht zuletzt an der Reflexivität des wechselseitigen Begehrens. Im körperlichen Zusammenspiel erfährt man, dass man über das eigene Begehren und dessen Erfüllung auch das Begehren des anderen begehrt und damit auch erfährt, dass der andere sich begehrt wünscht. Das schließt es aus, ›Selbstlosigkeit‹ zur
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Grundlage und Form eigenen Handelns zu machen; vielmehr wird die Stärke des eigenen Wunsches zum Maß dessen, was man zu geben in der Lage ist. Mit all dem durchbricht die Sexualität den Schematismus von Egoismus/Alterismus ebenso wie die Hierarchisierung menschlicher Beziehungen nach dem Schema Sinnlichkeit/Vernunft. Das zeigt sich nicht zuletzt historisch daran, dass die Ausdifferenzierung von sexuell basierten Intimbeziehungen unter dem Code der Liebe […] diese beiden Distinktionen der Moral und Anthropologie Alteuropas sprengt.« (Luhmann 1982: 33) Die moderne intime Kommunikation ist nur unter den folgenden Bedingungen möglich (vgl. Luhmann 1982: 41 ff.): 1) die Individualisierung der beteiligten Personen, d. h. ihr Verhalten wird charakterisiert durch die Differenz von unmittelbaren eigenen Interessen bzw. Gewohnheiten einerseits und Rücksichtnahme auf den anderen bzw. auf die Beziehung im Rahmen des eigenen Handelns andererseits. Dies bedeutet, dass die Möglichkeit gegeben sein muss, eine Handlung einer anderen Ursache (Motiv) als dem direkten Interesse oder den Gewohnheiten des Akteurs zuzurechnen; 2) die Differenz von Handeln und Beobachten: Ego wird als Handelnder von alter in Hinsicht auf die oben genannte Differenz beobachtet. Alter beobachtet ego und rechnet ihm ein anderes Motiv als das eigene Interesse und die eigenen Gewohnheiten zu. Die Liebe muss folglich im Handeln des ego bekundet werden. Die eigentliche Liebeserfahrung zieht sich ins liebende Subjekt zurück. Man sucht im Sich-Einlassen auf sexuell basierte Intimbeziehungen Gewissheiten, die über den aktuellen Moment hinaus Bestand haben, um das Fortdauern der Beziehung zu sichern. »Die Subjektformel mit der Unumgänglichkeit eines alle Variationen begleitenden Ichs bietet eine darauf bezogene, dem gewachsene Antwort.« (Luhmann 1982: 169-170). Das »Ich-Subjekt« ist also der Zurechnungspunkt des Motivs, das das Handeln von ego bestimmt, der hier Liebe ist. Die hier dargelegte moderne intime Kommunikation ist, differenzierungstheoretisch betrachtet, nur unter folgenden Bedingungen möglich: 1) funktionale Differenzierung der Gesellschaft; 2) Differenzierung von Interaktion und Funktionssystemen; 3) Differenzierung von psychischem und sozialem System (vgl. Luhmann 1997: 618 f.; 743 f.; 813 f.; hier in Bezugnahme auf Schmidt 2000: 78 f.). Intime Kommunikation muss von aller anderen Kommunikation wie Politik, Wirtschaft, Religion u.a. unterscheidbar sein. Eine intime Kommunikation muss sich selbst zum Anschluss an weitere intime Kommunikation motivieren, d. h. sie darf nicht von anderen
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gesellschaftlichen Mächten und Autoritäten (bzw. symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien) wie politischen, ökonomischen oder religiösen Autoritäten sowie Eltern oder Verwandten erzwungen werden. Die Evolution der Semantik schreitet mit der zunehmenden Reflexivität des Liebens voran. Die Reflexivität des Liebens bedeutet erstens wegen der bereits angedeuteten Differenzierung von psychischen und sozialen Systemen die Möglichkeit des Zweifelns an der Liebe, die somit einen Liebesbeweis erfordert, der je nach der Gesellschaftsdifferenzierung unterschiedlich sein kann. Was als Liebesbeweis gilt, wird im systemtheoretischen Sinne dementsprechend durch ein Programm entschieden (vgl. Plumpe/Weber 1993: 23). Zweitens bedeutet Reflexivität der Liebe: Ich liebe, dass ich als Liebende(r) und Geliebte(r) dich als Liebende(n) und Geliebte(n) liebe. Sexuelles Begehren ist kein modernes, sondern ein universelles Phänomen. Modern ist dagegen, das Lieben selbst zu lieben. 16 Das Lieben 16 Vgl. die Definition von romantic love und companion love nach Jakowiak/Fischer 1992: Die Ethnologen William Jankowiak und Edward F. Fischer definieren romantic love als »any intense attraction that involves the idealization of the other, within an erotic context, with the expectation of enduring for some time into the future« (Jankowiak/Fischer 1992: 150). Sie behaupten in diesem Zusammenhang, dass fast 90 % der von ihnen untersuchten Kulturen rund um den Globus die Vorstellung der romantischen, passionierten Liebe kennen. Genau so vielen Kulturen ist das Konzept der langfristigen, nüchternen companion love vertraut, die der passionierten, romantischen Liebe entgegensteht. Jankowiak und Fischer begründen die Universalität der romantic love unter Berufung auf die aus der Psychologie stammende attachment theory. In Bezug auf die ethnologische Universalitätsthese der »romantischen Liebe« möchte ich jedoch auf folgende Probleme hinweisen: 1. Zwar haben die Autoren die Existenz der Vorstellung von romantic love in überlieferten Erzählungen in fast jedem Kulturkreis bestätigt; sie geben jedoch zu, dass dieses Konzept unterschiedlich bewertet wird, und dass im Hinblick auf den Grad seiner Akzeptanz große Unterschiede herrschen. Dabei gehen sie von emotionsfreundlichen und -feindlichen Kulturen aus. 2. Darüber hinaus gehen ihre Untersuchungen nicht darauf ein, wie die passionierte, romantische Liebe aufgeschlüsselt nach Schichtungen, Gruppierungen und inneren Differenzierungen in den untercheidlichen Gesellschaften jeweils bewertet und praktiziert wird. Sie gehen gemäß dem anthropologischen Kulturbegriff davon aus, dass Kultur als handlungsleitendes
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generiert eine spezifische soziale Beziehung bzw. ein soziales System. Geliebt wird zuerst ein Individuum, das von allen anderen unterscheidbar ist, aber es wird als Liebende(r) und Geliebte(r) beobachtet.17 Luhmann zeichnet die Evolution der Liebessemantik und die entsprechende Ausdifferenzierung des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums »Liebe« wie folgt nach: Idealisierung, Paradoxierung und schließlich die Selbstreferenz (das Lieben um der Liebe willen). Wenn es bei der Liebe nur auf physische und soziale Äußerlichkeiten, auf Rang und gutes Aussehen ankäme, könnten nur Menschen mit gutem Aussehen bzw. mit hohem sozialen Rang, also mit idealen Eigenschaften, die die Kommunikationsmöglichkeit in der stratifizierten Gesellschaft regulieren, in eine Intimbeziehung eintreten. Die Intimbeziehung würde sich mithin auf eine kleine Zahl von Personen beschränken, die diesen Idealen entsprechen. Der alteuropäischen Anthropologie zufolge, die das Bild der idealisierten Liebe geprägt hat, ist das höchste Vermögen des Menschen die Fähigkeit, Universalien wie das Gute, das Schöne und dergleichen zu erkennen. Diese Universalien – mit Plato gesprochen Ideen – bieten als ewig Seiende den Garant für Liebe (vgl. Luhmann 1982: 173). In diesem Weltbild fällt Liebe mit allen gesellschaftlich idealen Eigenschaften wie inneren Tugenden und äußeren Schönheit zusammen. Die erweiterte Reichweite der Medien entzieht der Idealisierung der Liebe den Nährboden und offenbart das Paradox der Liebe. Liebe, Schönheit und Tugend können nicht länger als Einheit gedacht werden. Sobald Paradoxierungen von Liebe an Bedeutung gewinnen, muss Liebe sich selbst motivieren. Ihr wird zugemutet »gewisse, nicht allzu schwerwiegenund -koordinierendes Werte- und Normensystem in der betreffenden Gesellschaft bei allen Mitgliedern gleich verteilt und von allen gleich getragen wird. 3. Wenn auch das Gefühl der romantic love universell ist, wie Jankowiak und Fischer unter Berufung auf psychologische Quellen behaupten, lässt sich daraus noch nicht schlussfolgern, dass es das universell gültige Liebeszeichen und den universalgültigen Liebesbeweis, also das universell gültige Programm für das System für Intimbeziehung im systemtheoretischen Sinne gibt. Was gilt als der Code für den Zugang zur romantischen Intimbeziehung? Wer ist es wert, geliebt zu werden? Auf solche Fragen werden wir bestimmt keine universell gültige Antwort finden. 17 Man denke an Emma Bovary in dem bekannten Roman von Gustave Flaubert.
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de Tugenddefekte und sogar Schönheitsdefekte zu überdauern« (Luhmann 1982: 63). Liebe sucht dann nach etwas anderem als »Rang« und »Ideal« für den Liebesbeweis. Mit der Paradoxierung der Liebe tritt der Exzess (passion) als charakteristisches Merkmal der Liebe auf. Luhmann legt in der Evolution der Liebessemantik einen großen Wert auf amour passion (vgl. auch Giddens 1992; Giddens 1993). Das Code-Symbol der »Passion« meint »die Ausdifferenzierung des Liebens aus der gesellschaftlichen Kontrolle. […] Im Keim enthält dieses Konzept [amour passion] die Chance, sich in Angelegenheiten der Liebe von gesellschaftlicher und moralischer Verantwortung freizuzeichnen. […] Passion wird zu Handlungsfreiheit, die weder als solche noch in ihren Wirkungen gerechtfertigt zu werden braucht.« (Luhmann 1982: 73) Was man aus Passion tut, das muss man weder rational erklären noch rechtfertigen. Diese Aufwertung der Passion erfolgte auch in der westeuropäischen Humansemantik im 17. Jahrhundert (vgl. Luhmann 1982: 75). In der Paradoxierung der Liebessemantik findet die Auflösung der alten, stratifikatorischen Differenzierung mit der dem Prinzip der Stratifikation entsprechenden Kontrastierung von »hoher« und »sinnlicher« Liebe ihren Höhepunkt. Sie initiiert außerdem die Aufnahme der Sexualität als essentielles Begleitphänomen der Liebe. 18 Schließlich ist es die deutsche Romantik, welche die Liebe zur Selbstreferenz verhilft, indem sie ihr abverlangt, die Einzigartigkeit der Partner zu akzeptieren und mithin eine »höchstpersönliche« Intimbeziehung zu begründen.19 Um 1800 tritt laut Luhmann die Fähigkeit zur selbstreferentiellen Konstitution eines Weltverhältnisses – einer Beziehung von individuellem Subjekt und Welt – in den Vordergrund.20 Mit diesem Wandel der 18 Siehe insbesondere Friedrich Schlegels Lucinde (1799). Vgl. auch Kluckhohn 1966: 438 f. 19 Zum Liebeskonzept der deutschen Romantik siehe insbesondere Kluckhohn 1966. 20 Unter Soziologen herrscht Unstimmigkeit bezüglich der Frage, wann sich der romantische Liebesbegriff in Europa durchgesetzt hat. Luhmann (1982) und Tyrell (1987) sehen den Wendepunkt um 1800, während Borscheid (1983) und Mahlmann (1991) der Auffassung sind, dass man erst ab Anfang des 20. Jahrhunderts von der Etablierung der romantischen Liebe sprechen könne. Zum Versuch, diese unterschiedlichen Befunde miteinander in Einklang zu bringen siehe Bachmann 2014.
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Humansemantik werden für das Thema Liebe neue Konnotationen und neue Formulierungsmittel geschaffen (Luhmann 1982: 173). Diese Differenz von Subjekt und Welt ist entscheidend für den Übergang. Die romantische Liebessemantik gründet sich auf einer spezifischen Beziehung von individuellem Subjekt und der Welt. Demzufolge wandelt sich die Welt. Auch das Subjekt entwickelt sich zwar im Laufe der Zeit, aber es verliert seine Identität nicht. Geliebt wird jetzt ein Mensch als Individuum in seiner Einzigartigkeit, nicht als idealer Gattungsrepräsentant. »Wenn es in der Liebe ganz einfach um den Menschen als Individuum geht, wird damit auch das Verständnis der sozialen Reflexivität (und nicht nur: der individuellen Reflektiertheit des Empfindens) tiefer gelegt: Soziale Reflexivität wird – jedenfalls auf der Ebene zwischenmenschlicher Interpenetration – konstitutive Bedingung der ›Bildung‹ individueller Selbstreflexion und umgekehrt« (Luhmann 1982: 173). Die romantische Liebe ermöglicht, was durch amour passion noch unmöglich gewesen war: die Einbeziehung von grenzenlos steigerbarer Individualität und (die damit von selbst garantierte) Aussicht auf Dauer (vgl. Luhmann 1982: 178). Erst dadurch kann die Liebe zur Grund für das Heiraten und zur Grundlage der Ehe werden. Nur unter der Voraussetzung der langfristig gefestigten persönlichen Identität, die extrasozietal bestimmt und somit aus den anderen wandelnden funktionalen Beziehungen exkludiert wird, macht es Sinn, einander ewige Liebe zu schwören. Damit werden soziale Beziehungen geschaffen, »in denen mehr individuelle, einzigartige Eigenschaften der Person oder schließlich prinzipiell alle Eigenschaften einer individuellen Person bedeutsam werden« (Luhmann 1982: 14).21 Die »romantische« Liebe ist seither der einzig legitime Grund für die Partnerwahl geworden (vgl. Luhmann 1982: 186). Ethnologen gehen zwar von der Universalität von sowohl companion love als auch romantic love aus; es ist jedoch zu beobachten, dass diese Konzepte übli21 Hier kann ich weder Norbert Elias’ Zivilisierungsthese über Sexualität und Emotion noch Duerrs Kritik an selbiger zustimmen. Denn im als funktionale Differenzierung verstandenen Modernisierungsprozess sind nicht nur die zunehmende Kontrolle von Sexualität und Emotion, sondern auch deren zunehmend intensivierter und gesteigerter Einsatz in einer spezifischen sozialen Beziehung wie in der Liebesbeziehung gefördert worden. Dazu siehe zunächst Luhmann 1982: 14.
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cherweise nicht als Einheit, sondern vielmehr als Gegensatz gedacht werden. In diesem Sinne ist die romantische Liebe westlicher Prägung als ein einzigartiges Phänomen zu werten, weil companion love und romantic love darin gleichermaßen integriert wurden.22 Schließlich kann die Semantik der Liebe trivialisiert werden. Denn mit der Universalisierung der Liebe, die ein jedermann zugängliches Selbst erfordert, wird »der Liebende selbst Quelle seiner Liebe« (Luhmann 1982: 209). Karl Lenz zufolge besteht die romantische Liebe als Kulturprogramm 23 der Moderne aus folgenden semantischen Komponenten (vgl. Lenz 2009: 276-279): (1) die Einheit von sexueller Leidenschaft und affektiver Zuneigung, also die Einbeziehung der Sexualität in die Liebe; (2) das Postulat der Einheit von Liebe und Ehe: Liebe, und nur sie, begründet eine »wahre Ehe«; (3) die Elternschaft: »Durch Elternschaft [erfährt] die durch Liebe begründete und durch sie getragene Ehe ihre letzte Vollendung« (Lenz 2009: 277); (4) der hohe Stellenwert der Aufrichtigkeit des liebenden Gefühls: »Alle Taktiken in der Anbahnung und in der Erhaltung einer Liebesbeziehung gelten als verwerflich. [...] Die romantisch Liebenden bauen auf Dauerhaftigkeit ihrer Liebe und Treue«. Anstelle der genannten Taktiken wird der Zufall zum Startmechanismus erhoben (Liebe auf den ersten Blick); (5) die Einbeziehung einer »grenzenlos steigerbaren Individualität« (Luhmann 1982: 178) der einander Liebenden: »Die romantische Liebe ist auf ein einzigartiges Individuum ausgerichtet, und durch die Verbindung zweier einzigartiger Individuen gewinnt die Beziehung ihre Einmaligkeit« (Lenz 2009: 278); (6) die Anerkennung der persönlichen Einzigartigkeit: Die romantische Liebe verleiht dem Individuum somit »eine einmalige Chance – die Chance, in seiner Einzigartigkeit anerkannt und bestätigt zu werden« (Lenz 2009: 278); (7) die erwiderte Liebe: »Im romantischen Liebescode wird erst die erwiderte Liebe zur eigentlichen Liebe. Die Frau wird 22 »When we look at the historical record around the world the customs of modern America and Western Europe appear exotic and exceptional.« (Coontz 2005: 20) 23 Zum Begriff »Kulturprogramm« siehe Schmidt 1992: 434 f. und Schmidt 2003: 38–45. Zur Luhmann-Rezeption durch Schmidt siehe de Berg 2000: 197–200. Allerdings ist die Differenz zwischen Luhmann und Schmidt in der vorliegenden Arbeit nicht von großer Relevanz.
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nicht mehr nur verehrt und idealisiert, wie es sehr ausgeprägt in der höfischen Liebe der Fall war, sondern nun werden ihre Gefühle ebenso wichtig wie die des liebenden Mannes. In der romantischen Liebe geht es immer um die Gefühle und damit um das Glück beider Personen. Die Frau wird in der Romanliteratur des 18. Jahrhunderts als ein autonomes Gefühlssubjekt entworfen, dem das Recht auf das ›Nein‹ in Liebesangelegenheiten zuerkannt wird.« (Lenz 2009: 279)24 Aus der Selbstreferenz der Subjekte ergibt sich die Reflexivität der Liebe, welche das Lieben des Liebens bedeutet. Diese Reflexivität erweitert wesentlich die Einsatzmöglichkeit des symbolisch generalisierten Kommu24 Diese Definition des romantischen Liebesbegriffs macht meines Erachtens die Unterscheidung zwischen romantischer und postmoderner partnerschaftlicher Liebe (romantic love und pure love) irreführend und überflüssig (vgl. Giddens 1991: 89 ff.; Giddens 1992: 37–86; Giddens 1993: 48–99; auch Gross/Simmons 2002: 536). Denn alle wesentlichen Bedingungen für eine partnerschaftliche Beziehung sind in der romantischen Liebessemantik bereits enthalten. Giddens zufolge ist die partnerschaftliche Liebe von der romantischen vor allem in den folgenden drei Punkten zu unterscheiden: 1. In der romantischen Liebe gehe es (immer noch) um materielle Sicherheit und Behaglichkeit; 2. Die romantischen Liebe sei immer noch spirituell statt sexuell und sinnlich orientiert; 3. Die romantische Liebe ist heterosexuell. Unter Annahme der oben genannten Bestimmungen der romantischen Liebe lässt sich Giddens erstes Argument entkräften. Man kann aus der Idee der romantischen Liebe nicht die materielle Sicherheit und Behaglichkeit im Eheleben ableiten. Höchstens kann man sagen, dass die Heiratspraktiken zur Zeit ihrer Durchsetzung noch nicht vollständig von ökonomischen Überlegungen befreit waren. Gegen das zweite Argument lässt sich anführen, dass die Einbeziehung der Sexualität in die Liebessemantik und die Aufhebung des alten Gegensatzes von spiritueller und sinnlicher Liebe sich Luhmann und Lenz zufolge gerade in der deutschen Romantik konstituierten. Dem dritten Argument kann entgegen gehalten werden, dass die Elternschaft nicht den Primat der Fortpflanzung impliziert. Der gegenwärtige Anspruch homosexueller Paare auf das Recht der Adoption beweist, dass Elternschaft nicht die Heterosexualität impliziert. Auch stellt sich mir die Frage, warum Giddens die quantitative Bestimmtheit der modernen Liebe – Dyadizität – nicht berücksichtigt (vgl. Tyrell 1987; siehe auch Fischer 2014 und Bachmann 2014. Siehe auch Lautmann 2002: 353 f.).
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nikationsmediums Liebe. »Reflexivität des Liebens ist, abstrakt gesehen, eine Möglichkeit für alle Talente und alle Situationen – keineswegs eine esoterische Angelegenheit, die nur wenigen großen Liebenden oder Verführungsspezialisten vorbehalten bleibt.« (Luhmann 1982: 174) Geliebt wird nicht mehr ein Mann bzw. eine Frau, sondern man liebt sich als Liebenden und Geliebten und auch den anderen als Liebenden und Geliebten. Daraus klärt sich nicht nur die etymologisch enge Verknüpfung der romantischen Liebe und des Liebesromans (also Romanzen), sondern auch der Zusammenhang zwischen romantischer Semantik und zunehmendem Konsum von Liebesromanen. Denn ohne die Reflexivität des Liebens – das Lieben des Liebens – wäre, unabhängig davon, was unter Liebe verstanden wird, der immer größere Bedarf nach der Lektüre von Liebesromanen sicherlich ausgeblieben.
E XKURS : E NTSTEHUNG DER G ATTUNG DES R OMANS UND W ANDEL DER I NDIVIDUALITÄTSFORMEL IN DER DEUTSCHEN L ITERATURGESCHICHTE Gemäß dem Bochumer Modell der literarischen Kommunikation differenzierte sich die moderne Literatur als Subsystem der modernen Kunst – irritiert durch »das zunehmende Freizeitkontingent der gesellschaftlichen Akteure« in den letzten dreißig Jahren im 18. Jahrhundert – heraus (vgl. Plumpe/Werber 1993: 30 f.; siehe auch Luhmann 1995). Das Freizeitproblem wird dadurch gelöst, »dass moderne Literatur im Gegensatz zu ihrer multifunktionalen alteuropäischen Vorgängerin nicht mehr länger gleichzeitig etwa belehren, dem Landesherren huldigen und moralisch instruieren soll, sondern fortan exklusiv für eins sorgt: das Ausfüllen freier Zeit durch die Lektüre unterhaltsamer Werke, die auch Unmoralisches, Falsches oder Hässliches enthalten können« (Berlemann 2013: 104). Auch das Genre des Romans ist angesichts dieser Herausforderung entstanden. Um den Leser nicht zu langweilen, wurden im Rahmen dieses Genres zahlreiche Taktiken entwickelt. Mit der Entstehung dieses Genres in Europa wird Werber zufolge der »Mensch« als solcher, der von den sozialen Rollen unterscheidbar ist, in das Zentrum der literarischen Beschreibung gerückt. Dementsprechend ist hier der semantische Umbau im Übergang von der stratifikatorischen zur funktionalen Differenzierung der Ge-
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sellschaft zu beobachten – mit anderen Worten: der Wechsel von der Inklusivindividualität zur Exklusivindividualität (vgl. Luhmann 2004 [1989]; siehe auch Bohn 2006). Vor der Moderne resultierten alle Qualitäten, die einer Person zukamen, aus ihrer Zugehörigkeit zu einem Teilsystem wie Familie, Dorf, Stand usw. Mit der beginnenden Ausdifferenzierung von Funktionssystemen ist die Personalität nun extrasozietal bestimmt; Menschsein ist das Wesentliche einer Person, nicht die Zugehörigkeit zu einem Clan, Stand oder einer Berufsgruppe (Werber 2003: 110). Um Spannung zu erzeugen – wer liest ohne Spannung eine fiktive Erzählung? –, macht der frühneuzeitliche Roman gerne von der Schilderung des Neuen und Außergewöhnlichen Gebrauch, ohne dabei das Feld des Wunderbaren und Unnatürlichen zu berühren. Das Neue sucht der Roman stattdessen in der Personalität, da diese nun undurchsichtig geworden ist. »In der inneren Geschichte eines einzigartigen Subjekts hat der Roman eine unerschöpfliche Quelle des Neuen gefunden.« (Werber 2003: 108) Daher versucht der Roman, die innere Kraftquelle – ob sie nun Seele, Begierde, Gefühle, Liebe o. Ä. genannt wird – und ihr Motiv zum Gegenstand der Beschreibung zu machen (vgl. Werber 2003: 109). In der deutschen Literaturgeschichte verweist Blanckenburgs Romantheorie auf die Änderung der primären Differenzierungsform in die funktionalen Differenzierung und somit auf den Wandel der Individualitätsformel (vgl. Blanckenburg 1965 [1774]: 17 ff.). Blanckenburg zufolge liegt dem Unterschied von Epos und Roman die Differenzierung der öffentlichen Handlung und der privaten Perspektive zugrunde. Im Epos geht es um die Taten, die zum Ruhm der Vorfahren oder dem Wohl des Landes beigetragen haben. Er belehrt die Nachwelt: »Öffentliche Handlungen werden [...] mit einer Würde vollzogen, die bey Privatbegebenheiten mehr als Geziere seyn würde.« (Blanckenburg 1965 [1774]: 21) Der Epos rückt also den Held eines Teilsystems in den Mittelpunkt, das durch Abstammungsprinzip zusammengehalten wird. Der Leser eines Epos bewertet Handlungen und Begebenheiten moralisch. Der Roman beschäftigt sich dagegen mit »Handlungen und Empfindungen« (Blanckenburg 1965 [1774]: 17; herv. v. Verfasser). Der moderne Romanleser beobachtet, »wie die Protagonisten selbst die Umstände beobachten, in denen sie sich befinden […] Der Leser eines Epos beobachtet also Handlungen, der Romanleser beobachtet dagegen Beobachtungen von Handlungen.« (Werber 2003: 106) Blanckenburg stellt fest, dass Romanautoren ihre Figuren nicht wie »Bürger« behandeln, d. h.
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im Hinblick auf die Rolle, die ihnen zugedacht ist, sondern wie »Menschen«. Mit »Bürger« und »bürgerlich« sind hier die sozialen Leistungsrollen gemeint, die politischen oder ökonomischen Verpflichtungen, denen eine Person in der Öffentlichkeit nachgeht (vgl. Blanckenburg 1965 [1774]: 19; Werber 2003: 107). Der moderne Roman wird, wie alle anderen modernen Kunstwerke, auch durch die operative Schließung des Werkes gekennzeichnet (vgl. Luhmann 1995). Anders als es beim Epos der Fall ist, macht die Auflistung von Begebenheiten ein Werk noch nicht zum modernen Roman. Der Roman ist Blanckenburg zufolge vom Anfang bis zum Ende durchkomponiert. Der Text muss rekursiv organisiert sein und hat die Auflösung einer selbsterzeugten Ungewissheit zum Ziel (vgl. Luhmann 2008b: 278 f.). Der Autor muss alle Fäden entwirren und alle Knoten lösen, »um seine Leser bis zu einem beruhigenden Punkte zu führen« (Blanckenburg 1965 [1774]: 394). Diese dem Roman üblichen »Suspense-Techniken machen ›dem Leser ein Vergnügen‹ nur dann, wenn entsprechende Episoden in das Geflecht der Handlung überzeugend integriert sind und der Leser spätestens am ›Ende‹ weiß, warum sie vielmehr so, als anderes verbunden sind, warum die Begebenheiten sich vielmehr so, als anders zugetragen haben.« (Werber 2003: 112) Die innere Spannung eines Werks wird erst durch die operative Schließung erzeugt, die den Leser zur Lektüre anregt. Zu Unterhaltungszwecken braucht der Leser einen Roman nicht zweimal zu lesen. Seine Neugierde ist schon nach der ersten Lektüre befriedigt; sobald er weiß, wie und wo die Fäden zusammenlaufen, wer wen heiratet oder wer stirbt (vgl. Werber 2003: 118). 25 Im Gegensatz dazu kennzeichnet den Epos »die 25 Unter Annahme dieser Theorie zeigt sich, dass es der japanischen Literaturtheorie in der Meiji-Zeit (1868–1912) nicht gelingt, das Wesen des modernen Romans zu erfassen. Die Romantheorie des Tsubouchi Shôyô (坪内逍遥 1859– 1935) unterscheidet zwischen vormodernem Epos und modernem Roman bzw. moderner Novelle anhand der Frage, ob eine moralische Lektion in der fraglichen Erzählung enthalten ist oder diese nach einer realistischen Abbildung der äußeren und inneren Realität strebt (坪内 Tsubouchi 1972 [1885]). Mori Ôgai (森鴎外 1862–1922) kritisiert zwar den Realismusaspekt in der Literaturtheorie des Shôyô in Anlehnung an die idealistische Ästhetik des deutschen Philosophen Eduard von Hartmann (1842–1906) und führt die Idee des Schönen ein; jedoch bleibt bei beiden Autoren eine Betrachtung der inneren Struktur des mo-
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Gleichartigkeit aller Teile, welche keinen ausgezeichneten Anfang oder Schluss haben« (Werber 2003: 113 f.).
dernen Romans aus. Das liegt meines Erachtens vor allem darin begründet, dass sie den Roman nicht als Unterhaltungsmedium analysieren (Wie wird im Roman Spannung erzeugt?). Nach dem Modell der Bochumer Schule soll der Code des modernen Kunstsystems nicht »schön/hässlich«, sondern »interessant/langweilig« lauten und die Funktion der Kunst (Literatur) liegt ganz nüchtern in der Unterhaltung (vgl. Plumpe/Werber 1993: 30, siehe auch 32 f; in ihrem Modell beziehen sich die Autoren auf die Literaturtheorie von Friedrich Schlegel. Siehe Schlegel 1979 [1797]: 213, 218 f., 222, 228, 252, 254 f.). Diesem Modell zufolge ist den literarischen Werken der Meiji-Zeit keineswegs ein höherer kanonischer Wert zuzuordnen als jenen der Edo-Zeit: »Ein Buch hat im Kunstsystem eine Bedeutung, die das Rechtssystem oder die Wirtschaft nicht übernehmen müssen. Es kann trotz seiner Schönheit verboten oder trotz seiner Trivialität ein Verkaufsschlager werden. Umgekehrt kann ein zensiertes Buch dennoch langweilen und selbst ein Bestseller faszinieren. Ob ein Buch schön, verwerflich oder verlustbringend ist, wird im jeweiligen System bestimmt, obgleich etwa das Wirtschaftssystem die Literatur und das Recht beobachten kann, um dann gerade jene Bücher geschickt zu vermarkten, die ästhetisch anspruchsvoll und anrüchig zugleich sind. Primär zählt jedenfalls der Gewinn, nicht die Konformität mit ästhetischen oder juristischen Normen.« (Plumpe/Werber 1993: 20) Für ein typisches Beispiel für das Verständnis zeitgenössischer Literatur vonseiten japanischer Intellektueller siehe Takeuchi (竹内)) 1953. Eine Kritik an dem von Plumpe und Werber vorgeschlagenen binären Code des modernen Kunstsystems bietet de Berg 2000: 207–210. Trotz seiner begründeten Polemik hat sich meines Erachtens der Code interessant (bzw. innovativ)/langweilig bei der Analyse zeitgenössischer Kunst durchgesetzt.
Sozialstruktur und Medien im frühneuzeitlichen Japan
S OZIOÖKONOMISCHER H INTERGRUND Die japanische Gesellschaft in der Edo-Zeit beschrieb sich als eine Ständegesellschaft.1 Nach der offiziellen Ideologie jener Zeit, die auf konfuzianischen Schriften beruhte, bestand die Gesellschaft aus vier Hauptständen ((士 農工商)): Kriegern (Samurai 武士), Bauern (農民), Handwerkern (職人) und Kaufleuten (商人). Handwerker und Kaufleute wurden üblicherweise
1
Zwar wurde die frühneuzeitliche Gesellschaft gemäß der auf den konfuzianistischen Schriften basierten offiziellen Ideologie als Ständegesellschaft verstanden und beschrieben; es bleibt jedoch zu untersuchen, inwieweit diese China entliehene Semantik die sozioökonomische Realität und die Sozialstruktur des frühneuzeitlichen Japans widerspiegelt. Schon die ständische Unterscheidung zwischen Handwerkern und (kleinen und mittleren) Kaufleuten ist z. B. fraglich, da sie gemeinsam als chônin bezeichnet und verwaltet wurden. Selbst wenn man die Gesellschaft in der frühen Edo-Zeit als stratifikatorisch beschreiben will, deuten zahlreiche geschichtswissenschaftliche Studien darauf hin, dass diese Klassifizierung spätestens ab dem 18. Jahrhundert nicht mehr greift. Zum Überblick über die Sozialstruktur in der Edo-Zeit siehe Nishiyama (西山)) (Hg.) 1972; Nakai (中井)) 1990; Minami (南)) 1999 und Yoshida 2009. Zum Ständewesen im frühneuzeitlichen Japan siehe insbesondere Asao (朝尾)) 1964, 1981, 1992, 1996 und 2004; außerdem Yoshida (吉田)) 2004; in englischer Sprache: Nishiyama 1997; in deutscher Sprache nur in gekürzter, grob beschriebener Fassung in: Zöllner 2009: 49–65.
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zusammen als chônin (町人 Bürger, Stadtbewohner) bezeichnet. 2 Neben diesen Hauptständen gab es die Hofaristokratie (公家 kuge) und die Priester/Mönche als selbstständige Stände und schließlich die Pariagruppen (穢 多 eta, 非人 hinin) als Außerkaste. Hofaristokraten unterschieden sich von Samurai in ihrem historischen und sozialen Ursprung sowie in ihrem Ideal und ihrem Sittenkodex (vgl. Morikawa 2013: 108 f.). Die ökonomische und finanzielle Macht der Großkaufleute überwog ab dem 17. Jahrhundert allmählich die politische und administrative Macht der zunehmend verarmten Samurai. Vor diesem Hintergrund ist es fraglich, ob die frühneuzeitliche japanische Gesellschaft anhand des Modells der stratifizierten Gesellschaft beschrieben werden kann, in der sich typischerweise Autorität, Macht, Reichtum und kulturelle Hegemonie in einer homogenen »Oberschicht« konzentrieren, deren Herrschaft religiös-theologisch legitimiert ist. In der japanischen Frühneuzeit fehlte eine solche Herrschaftsideologie. Der Konfuzianismus regulierte nur persönliche Beziehungen wie zwischen Herr und Vasall, fungierte jedoch nicht als Herrschaftslegitimation des Shôguns. Zunehmend verlor das Modell der stratifizierten Gesellschaft ab dem 18. Jahrhundert an Gültigkeit. Nach Kenntnis der heutigen Forschung stellten die Hauptstände in der Edo-Zeit keine geschlossenen Einheiten dar; die Grenzen zwischen den Ständen waren beispielsweise im Vergleich zum indischen Kastenwesen relativ durchlässig. Reiche Bauern und Bürger konnten sich in den Stand der Samurai (侍株 samurai kabu) einkaufen; verarmte und niedere Samurai waren dagegen aus der finanziellen Not gezwungen, ihren Rang zu veräußern.3 Die Adoption einer erwachsenen Person war zudem ein übliches Vorgehen, um die Grenze zwischen den Ständen zu überwinden (vgl. Eisenstadt 1996: 200). Dennoch weist die geschilderte Sozialstruktur Merkmale von Stratifizierung auf. Beispielsweise wurde nach einem Wechsel des Standes erwartet, dass man die neuen Verhaltensnormen verinnerlichte und sich dementsprechend verhielt. Die Grenzziehung zwischen Oberschicht und gemeinem Volk anhand der Exklusivität der schriftlichen Kommunikation gestaltet sich aufgrund der fortschreitenden Lesefähigkeit der unteren Gesellschaftsschichten als schwierig, wie wir 2
In der vorliegenden Arbeit meint »Bürger« ausschließlich diese beiden sozialen Schichten. Die Samurai sind aus dieser Kategorie auszunehmen, obgleich auch sie in der Stadt wohnten.
3
Vor allem in der späteren Edo-Zeit, siehe Schwentker 2003: 95 ff.
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in diesem Kapitel sehen werden. Jedoch bildeten segmentäre und stratifikatorische Teilsysteme wie Haushalte, Dörfer und Stände auch in der japanischen Frühneuzeit die für stratifizierte Gesellschaften charakteristische exklusive Abgeschlossenheit: Eine Person war ausschließlich in ein Teilsystem vollinkludiert (vgl. Luhmann 1995: 243). In diesem Sinne gehe ich von der Annahme aus, dass die japanische Gesellschaft der Frühen Neuzeit als stratifizierte Gesellschaft gelten kann. Die zweite Annahme der vorliegenden Arbeit lautet, dass das politische System Japans in der Frühen Neuzeit keinen Einheitsstaat bildete, sondern eine Allianz von segmentär differenzierten Feudalfürsten (大名 daimyô) unter der Militärhegemonie des Tokugawa-Clans ((徳川家)). In der Edo-Zeit setzte sich Japan aus zahlreichen, fast unabhängigen Teilstaaten zusammen, die jeweils von einem Feudalfürst beherrscht wurden. Dieser Teilstaat hieß in der japanischen Sprache han ((藩)). In Edo und Kyôto besaßen die Fürsten üblicherweise eine eigene Residenz, die in ihrer Funktion mit der heutigen Botschaft zu vergleichen ist. Wenn auch jeder Fürst dem Shogun Treue zu schwören und dem Codex (武家諸法度 buke shohatto) zu gehorchen hatte, genossen die Fürsten doch einen relativ hohen Grad an politischer Autonomie; so verfügten sie beispielsweise über autonome Steuerhoheit und Gerichtsbarkeit innerhalb ihres Fürstentums (Fujii [藤井] 2010: 11, 14). Jedoch war ihre diplomatische Kompetenz außerhalb Japans so gut wie nicht vorhanden. Trotzdem war die Gesellschaft über die politische Grenze der Fürstentümer hinweg ökonomisch integriert. Die Grenze des Wirtschaftssystems war also nicht mehr mit der des politischen Systems identisch. Das Shôgunat verfügte über die alleinige Münzhoheit für Gold-, Silber-, und Kupfermünzen, wenn auch Fürsten seit 1630, um ihren Haushaltsdefizit auszugleichen, Papiergeld (藩札 hansatsu) ausstellten, das nur in ihrem eigenen Territorium in Umlauf war (vgl. Sugiyama [杉山] 2012: 55 f.). Die Bezeichnung der Epoche als »Feudalismus«4, die damals übliche Steuer in Form von Reis sowie die damalige Wirtschaftsideologie verleiten häufig zu dem Trugschluss, dass die Edo-Zeit in ökonomischer Hinsicht vom System der autarken Agrarwirtschaft geprägt gewesen sei. Die wissenschaftliche Forschung seit den 1970er Jahren zur wirtschaftlichen und demografischen 4
Zur besonderen Ausprägung des japanischen »Feudalismus« im Vergleich zum europäischen siehe z. B. Arnason 1988.
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Entwicklung Japans zeichnet jedoch ein anderes Bild.5 Die Konkurrenz zwischen den Feudalherren führte bereits vor der Gründung des TokugawaShôgunats im Jahr 1603 zur intensiven Förderung des Handels und der Geldwirtschaft. Bereits zur sengoku-Zeit ((戦国時代: 1467-1590)) trieben die daimyô, um sich in dem fast 100 Jahre andauernden Krieg zwischen den Fürstentümern zu behaupten, eine merkantilistische Wirtschaftspolitik voran. Auch nach der Befriedung durch Toyotomi Hideyoshi (豊臣秀吉 1537–1598) und Tokugawa Ieyasu (徳川家康 1542–1616) im 17. Jahrhundert blieb die Konkurrenzsituation zwischen den Feudalfürstentümern – wenn auch nicht länger in Form offener Kampfhandlungen – bestehen. Die lokale Wirtschaft wurde seit dem 16. Jahrhundert immer weiter in die regionalen Wirtschaftssysteme der Fürstentümer und später in die Volkswirtschaft integriert. Die Tatsache, dass die Steuer in der Edo-Zeit in Naturalien erhoben wurde, weist weniger auf ein autarkes Agrarwirtschaftssystem hin, sondern belegt vielmehr das Vorhandensein eines funktionierenden Marktes, in dem die als Steuer eingenommenen Naturalien verkauft wurden.6 Darüber hinaus erschwerte die Ausfuhr von Silber in großem Stil aus 5
Geschichtswissenschaftliche – insbesondere wirtschaftshistorische und demografische Studien – seit den 1970er Jahren haben die Edo-Gesellschaft als erfolgreiche proto-industrielle Gesellschaft beschrieben; vgl. beispielsweise Hanley/Yamamura 1977; Hayami 1968; Hall 1970. Müller weist darauf hin: »Es wäre jedoch falsch, daraus [aus der ethisch begründeten Vorstellungen des Kriegerstandes und dem theoretischen Entwicklungsmodell von einer feudalistischen Naturwirtschaft zu einer bourgeoisen Geldwirtschaft] eine grundsätzlich ablehnende und als ›feudalistisch‹ interpretierte Einstellung gegenüber dem Handel und der Geldwirtschaft abzuleiten«. (Müller 1988: 156) Vgl. auch Sugiyama (杉山) 2012: 9-129. Zur Kommerzialisierung der Agrarwirtschaft in der Edo-Zeit siehe auch Crawcour 1965: 36–42. Einen kurzen Überblick über die Pioniere ökonomischer Denker in Japan bietet Sýkora 2004.
6
Auf der Reisbörse von Ôsaka-Dôjima ((大阪堂島), dem größten Reismarkt des frühneuzeitlichen Japans, wurden sogar Termingeschäfte durchgeführt (vgl. Buyô [武陽] 1994 [1816]: 275; Yasukuni [安国] 2010: 87; Sugiyama [杉山] 2012: 91 f.). Dies belegt, dass sich die Zahlungsmittel von der Realwirtschaft fortentwickelten und es zur Ausdifferenzierung hin zur Finanzwirtschaft kam. Allerdings gab es meines Wissens in der Edo-Zeit keine Ideologie, die es erlaubt hätte, diese Differenzierung zu begründen und zu legitimieren. Buyô (武
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Japan ins Ausland in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Steuerzahlungen in Silber, obgleich die Silbersteuer zum Teil bereits eingeführt worden war (Sugiyama [杉山]] 2012: 27). Nach der Pazifizierung Japans etablierte sich zuerst Ôsaka, dann Edo als Zentralmarkt. Zwar wuchsen in der Edo-Zeit sowohl das Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt als auch die Bevölkerungszahl nur in geringem Umfang, dafür aber auf kontinuierlicher Basis (vgl. Hanley/Yamamura 1977; Sugiyama [杉山]] 2012).7 Der soziale Reichtum stieg in der Edo-Zeit an. Die Folge war ein allgemeiner Anstieg der Lebensstandards – sowohl in den Städten als auch auf dem Land.8 Seit Mitte des 17. Jahrhunderts entwickelten die einzelnen Fürstentümer verstärkt landeseigene, marktorientierte Produkte. Das Fürstentum als politische Einheit war einem starken Konkurrenzdruck ausgesetzt. Dies lässt sich aus dem Quasi-Kriegszustand schließen, der auch nach dem Friedensschluss noch zwischen den daimyô herrschte. Die Marktwirtschaft überwand jedoch allmählich die stratifikatorischen Grenzen der Stände und die politischen Grenzen der segmentären Einheiten, was nach und nach zur Inklusion der gesamten Bevölkerung führte. Das Wirtschaftssystem als Volkswirtschaft entstand in Japan damit weitaus früher als der Nationalstaat. Drei Großstädte profitierten in besonderem Maße von der ökonomischen Prosperität: Edo, Ôsaka und Kyôto. Gemeinsam wurden sie als santo (三都 die drei Großstädte bzw. drei Metropole) bezeichnet.9 Die Einwoh-
陽)) selbst sah im Termingeschäft einen Indikator für den moralischen Verfall zu seiner Zeit. Zu Wirtschaftsideologie und -dogmen der Edo-Zeit siehe auch Honjo 1965: 1–145. 7
Siehe auch FN 10 und Rozman 1974: 95 in englischer Sprache. Hungersnöte und Krisen wie Tenmei femine (天明の大飢饉 Tenmei no dai kikin; von 1781 bis 1789) suchten allerdings regelmäßig ländliche Gebiete heim und fügten Regionen mit einer geringen Zahl von Produktionskräften – insbesondere in Nordostjapan – schwere Schäden zu. Dies zog ökonomische und soziale Folgen für das ganze Land nach sich.
8
Zur Bevölkerungsdynamik in der Edo-Zeit siehe Smith 1973; in japanischer Sprache auch Kitô (鬼頭) 2010 [2002]: 65–113 und Sugiyama (杉山) 2012: 81 f.
9
Einen Überblick über die Städte des »vormodernen« Japans in deutscher Sprache bietet Rüttermann 2002. Siehe auch asiatische und europäische Städte im
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nerzahl Edos betrug bereits Ende des 17. Jahrhunderts mehr als eine Million (杉山 Sugiyama 2012: 81; siehe auch Rozman 1974: 91). Verwaltungsdokumente des Shôgunats dokumentieren für Edo eine Einwohnerzahl ohne Samurai von 353.588 im Jahre 1693 und 553.000 im Jahre 1732. In Edo war außerdem die männliche Bevölkerung in der Überzahl. Das Verhältnis von männlichen und weiblichen Einwohnern betrug etwa 3 zu 2 (vgl. Minami [南]] 1969: 195; Rozman 1974: 102). 10 Ôsaka hatte im Jahre 1692 345.524 und im Jahre 1716 365.380 Einwohner (ohne Samurai) und Kyôtos Einwohnerzahl bezifferte sich im Jahre 1715 (ohne Samurai) auf 358.987 (vgl. Müller 1988: 123). Laut Sekiyama lebten zu Beginn des 18. Jahrhunderts 3,7 bis 3,8 Millionen Menschen in Städten. Das entspricht einem Anteil von 12 % an der Gesamtbevölkerung des damaligen Japans (vgl. Sekiyama [関山]] 1959). Gerade im kultur- und wirtschaftshistorischen Vergleich mit anderen – auch westlichen – Ländern sticht diese Zahl als beachtlich hervor.11
historischen Vergleich: Schwentker 2002; in japanischer Sprache: Niki (仁木)) 2004; Yasukuni (安国) 2010. 10 Die Einwohnerzahl in Edo in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wird auf ca. 300.000 männliche und nur ca. 170.000 weibliche Bewohner geschätzt. Diese demografische Besonderheit trug zur Entwicklung der Kurtisanen- und Unterhaltungskultur in Vergnügungsvierteln wie Yoshiwara bei. 11 Müller (1988: 124). »The world’s premodern urban history was mainly a Chinese phenomenon. [… But] Tokugawa Japan was a more centralized society and it was also a more urbanized society« (Rozman 1973: 6). Die Einwohnerzahl des Fürstentums Hikone (彦根藩) bezifferte sich beispielsweise 1695 auf 260.000. 87 % der Bevölkerung lebte auf dem Land, 13 % in Städten. Von den Stadtbewohnern (35.000) waren 54 % Samurai und 46 % Bürger. 1707 lebten im Fürstentum Okayama 375.700 Menschen, davon 89 % auf dem Land und 8 % in den Städten (vgl. Nakai [中井] 1963, Takeuchi [竹内] 1969. zit. nach Sugiyama [杉山] 2012: 26).
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Tabelle 1: Stadtbevölkerungszahlen in der Edo-Zeit (in tausend) Drei
Gesamte
Gesamte
Urbani-
Städtebe-
Bevölke-
sierung
völke-
rungszah-
(%)
rungs-
len
1650
1.080
463
1750
2.000
1850
1.770
3
Total
städte
Provinzstädte mittel u. klein
Groß-
groß
Jahr
zahlen
866
1.329
2.978
22.400
13,3
473
984
1.457
4.273
31.100
13,7
468
1.020
1.488
4.027
32.280
12,5
8
53
61
64
Städteanzahl
Quelle: Sugiyama [杉山 ] 2012: 82.
Diese Bevölkerungszahlen belegen, dass sich im frühneuzeitlichen Japan eine deutliche Zentrum-Peripherie-Differenzierung abzeichnete. Jedoch wies die Stratifikation im Zentrum (Samurai/Bürger) ungewöhnliche Züge auf. An dieser Stelle sei betont, dass die Gesellschaftsschicht der Bürger in der Edo-Zeit als Trägerschicht kultureller Tätigkeiten galt (vgl. Hall 1970: 226 ff.), obwohl Kaufleute und Handwerker nach der offiziellen Ständeideologie des Shôgunats als untere, zu beherrschende Stände anzusehen waren. Aus kulturhistorischer Sicht fallen in der Edo-Zeit zwei Höhepunkte besonders ins Auge; der erste ist in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (insbesondere zwischen 1688 und 1704) anzusiedeln, während der zweite kulturhistorische Höhepunkt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert (bis circa 1840) erfolgte. Die beiden Epochen werden nach der jeweiligen Jahresrechnung als Genroku-Epoche (元禄時代) bzw. Bunka/Bunsei-Epoche (oft als 化政時代 Kasei-Epoche abgekürzt) bezeichnet. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer kulturellen Zentren, Träger und Trends. Die ökonomischen und mithin kulturellen Zentren der Genroku-Epoche waren, wie auch zu früheren Epochen der japanischen Geschichte, Kyôto und Ôsaka in der Kamigata-Region (( 上 方 )). Durch die Gründung des TokugawaShôgunats verschob sich zwar das Machtzentrum Japans nach Edo,
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wodurch diese Stadt eine zunehmende politische Aufwertung erfuhr, ökonomisch fiel ihr aber fast ausschließlich die Rolle eines Verbrauchermarktes zu (vgl. Müller 1988: 162–163). Jedoch vertritt Rozman die These: »Wrigley’s model links demographic conditions, marketing, and new forms of social mobility and consumption to the growth of London and the establishment of a foundation for the industrial revolution. It credits London with exerting a pervasive impact on the rest of England, largely through new patterns in the movement of people and goods centering on this city. [...] [N]ew patterns of migration and marketing into Edo could have exerted a similar impact [...].« (Rozman 1974: 94) Für die These der vorliegenden Arbeit darf die von Rozman beschriebene Bedeutsamkeit Edos als Zentrum der Verbreitung von »literacy, technical skills, and new attitudes toward family and work« (Rozman 1974: 108) nicht unterschätzt werden. Zu Beginn der Kasei-Epoche stellte Edo Japans kulturelles Zentrum dar. Angesichts der raschen Wirtschaftsentwicklung und dank des wiederhergestellten Friedens seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert und der damit einhergehenden Akkumulation und Konzentration des Reichtums bei den Kaufleuten begann deren ökonomische Macht bereits in der GenrokuEpoche jene der anderen Stände zu überflügeln. Diese Tendenz hielt auch in der Kasei-Epoche an. Obwohl die Genroku-Kultur vornehmlich von Großhändlern getragen wurde, konnten, dank des kontinuierlichen Wirtschaftswachstums und der daraus resultierenden Verbesserung der Lebensverhältnisse, die über die gesamte Edo-Zeit andauerten, breite Schichten der Bevölkerung bis in die mittleren und unteren Bürgerstände am sozialen Wohlstand partizipieren. Zugleich soll darauf hingewiesen werden, dass sich inzwischen die Haushaltsgröße von Bürgern verkleinert hatte. Rozman (1974: 103) zufolge bestand ein Haushalt durchschnittlich aus 3,9 Personen, also Vater, Mutter und zwei Kindern. Die traditionelle Großfamilie war schon zu dieser Zeit, zumindest in der Bürgerschicht, Geschichte. Allein der Stand der Samurai hatte keinen Anteil am wirtschaftlichen Wohlstand der Edo-Zeit. Im Laufe der Zeit verschuldete sich der Stand nach und nach und verarmte. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts litt er an einer finanziellen Dauerkrise (vgl. Buyô [武陽]] 1994 [1816]: 1–77).12 Der stän12 »Sogar Leute vom Range von 500 oder gar 1000 koku befinden sich, wie man hört, in solch einer trostlosen Lage, dass sie sich im Sommer kein Moskitonetz leisten können und im Winter ohne warme Decken auskommen müssen.«
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dische Rang des Samurai war nicht länger ein Garant für ökonomische Macht; gewährleistete nicht einmal mehr ein sicheres Einkommen. Der Verlust an öffentlichem Ansehen, den die Samurai gegen Ende der EdoZeit erlitten, spiegelte sich auch in ihrer Berufswahl und ihrem Heiratsverhalten wider: »Manchen Samurai schien es besser, auf Ruf und Rang zu verzichten, um stattdessen als Handwerker oder Kleinhändler zumindest ein sicheres Auskommen zu haben. Umgekehrt fanden Geldverleiher und wohlhabende Großbauern Gefallen daran, in den Stand der Samurai aufzusteigen. Für ein an den Samuraistand gebundenes Amt zahlte man ab 1850 einen festen Preis, oder man ließ sich gegen entsprechende Vergütung in eine Samuraifamilie adoptieren und die Kinder in eine solche einheiraten« (Schwentker 2003: 97; siehe auch Buyô [武陽] 1994 [1816]: 268, 280–81). Mit dem fortschreitenden 19. Jahrhundert wies die soziale Ordnung immer weniger Züge einer stratifizierten Gesellschaft auf. Dieser große Gesellschaftsumbruch, der seinen Ursprung in den Städten hatte, drang im Laufe der Edo-Zeit Schritt für Schritt auch in ländliche Regionen vor: »[T]he striking rural changes ought not to be seen in isolation from closely connected urban phaenomena. Increasing village real incomes, literacy rates, and commercial orientation corresponded to similar changes in cities. [...] Edo could easily have continued to be in a position in no way inferior to that of these other cities [London; Paris] to act as the principal source of changes which spread across rural areas.« (Rozman 1974: 98–99)
E TABLIERUNG DES B ÜCHERMARKTS UND D URCHSETZUNG DER D RUCKMEDIEN ALS E RFOLGSMEDIEN In diesem Abschnitt soll nachgezeichnet werden, welche kommunikativen Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Liebessemantik im frühneuzeitlichen Japan von Wichtigkeit waren. Zwar gibt es zahlreiche historische Studien, die sich mit der Entwicklung neuer gesellschaftlicher Kommunikationstechniken in Japan auseinandersetzen, allerdings sind diese gerade
(Ramming 1928: 11; zit. nach Schwentker 2003: 97) Siehe auch Yamamura 1974.
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in der Soziologie im westlichen Sprachraum bislang im Großen und Ganzen unbekannt (vgl. Eisenstadt 1996; Tominaga 1994). Drucktechnik und Verlagsgewerbe im frühneuzeitlichen Japan 13 Es war Toyotomi Hideyoshis erfolgloser Eroberungsfeldzug gegen Korea von 1592–1598 (Imjin-Krieg), der Japan mit der neuen Drucktechnik in Berührung brachte (vgl. Konta [[今田]] 2009: 12–13).14 Mithilfe der neuen, aus Korea übernommenen Typografietechnik brachten die Japaner verschiedenste überlieferte Texte von Erzählungen über Prosatexte bis hin zu buddhistischen und konfuzianischen Schriften in Druckfassung.15 Bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts verkauften sich jedoch gedruckte Bücher ausschließlich im engen Kreis von Samurai, Hofaristokratie (kuge), Priestern, Ärzten und Großkaufleuten. Ihre Auflage erreichte maximal 100 Exemplare. Ein marktorientiertes Verlagsgewerbe entstand in Japan erstmals in Kyôto während der Kan’ei-Jahre (寛永 1624–1644). Kyôto galt bis ins 17. Jahrhundert als Kulturzentrum Japans (vgl. Moriya 1990: 114f.). Zu jener Zeit wurden Druck-, Verlags- und Vertriebstätigkeiten typischerweise in einem einzigen Betrieb zusammengefasst (vgl. Suzuki [[鈴木]] 1980a: 44; Suwa [[諏訪]] 1978: 51 f.). Zur festen Etablierung entsprechender Verlagsunternehmen kam es in der Genroku- Epoche (元禄時代 1688–1704) (vgl. Suzuki [[鈴木]] 1980a: 119). Zeitgleich setzte sich das Lesen aus Unterhaltungszwecken (extensive Lektüre) allmählich durch (vgl. Nagatomo [[長友]] 13 In englischer Sprache bietet Kornicki (1998) einen Überblick über den kulturhistorischen Hintergrund des Buch- und Verlagswesens im vormodernen Japan. Eine Gegenüberstellung von Publikationswesen und Lesegewohnheiten in Japan und dem französischen ancien régime findet sich in Smith (1994). Zur Lage der historischen Medienforschung von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert in Japan siehe auch Kanro ((甘露 2005) und weiterführende Literatur. Auf Englisch bietet Moriya einen guten Überblick über das Informationsnetzwerk im frühneuzeitlichen Japan. 14 Dazu siehe Turnbull 2002. 15 Fast zeitgleich begannen Jesuiten auch die in Japan überlieferten und andere Texte mit der Typografietechnik zu drucken. Die entsprechenden Schriften heißen kirishitan ban ((キリシタン版). Siehe Kornicki 1998: 125 ff.
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1982: 167–168; Nagatomo [[ 長 友 ]] 2010). Die Verlage in den drei Großstädten hatten unterschiedliche Schwerpunkte: »Kyoto continued to be the major center for ›hard‹ books, particularly Buddhist and Confucian works, both of which were in Chinese. The Ôsaka trade focused on practical works, such as home encyclopedias, while the Edo market was more heavily oriented to ›soft‹ books, notably the diverse forms of popular fiction that emerged in the course of the eighteenth century.« (Smith 1994: 341) Ein Bücherkatalog, der einen Gesamtüberblick über alle Druckwerke vermittelt, wurde in Japan erstmals 1666 abgedruckt. Er richtete sich an Verleger, führte 2.589 Titel und kann als Beleg für die fortschreitende Kommerzialisierung der Literatur herangezogen werden. Die Gesamtzahl der Titel stieg in den folgenden Jahren auf 3.866 Titel im Jahre 1670 und 5.934 Titel im Jahr 1685. In der Katalogausgabe von 1692 betrug die Zahl der eingetragenen Werke bereits 7.181 (vgl. Nagatomo [[長友]] 1982: 10).16 Der auf Typografie beschränkte Buchdruck wurde bis in die 20er Jahre des 17. Jahrhunderts praktiziert und dann um 1626 vom Holztafeldruck abgelöst (vgl. Konta [[今田]] 2009: 35). Dieser vermeintliche technische Rückschritt ist auf die Steigerung der gedruckten Auflagen und den daraus resultierenden Marktdruck zurückzuführen. Verleger mussten in der Lage sein, flexibler auf die Nachfrage des Lesepublikums zu reagieren und je nach Bedarf weitere Auflagen eines beliebten Texts zeitnah in Druck zu geben. Aufgrund der Eigenarten des japanischen Schriftsystems erwies sich die Verwendung von Holztafeln als praktischer denn die ständig neue typografische Zusammensetzung der Texte. Konta identifiziert folgende Textgattungen, denen sich beliebte Büchertitel, die während der Kann’ei-Jahre (寛永 1624–1644) in Druck gingen, zuordnen lassen17: 1. Buddhistische Texte einschließlich ihrer Kommentare: Die Drucklegung dieser Texte, die zuvor in Tempeln hergestellt worden waren, wurde jetzt von säkularen Verlegern übernommen, welche die Texte kommerziell verkauften. Dieses Beispiel zeigt, wie die Verbreitung religiö16 Smith geht von durchschnittlich 1.000 neuen Titeln pro Jahr kurz vor der MeijiRestauration aus. Im Vergleich waren es in Frankreich kurz vor Ausbruch der Revolution ca. 1.500 (vgl. Smith 1994: 335 f.). Zur Entwicklung der literarischen Kommunikation in Deutschland siehe Wittmann 2011 [1991]: 112 f. 17 Siehe auch Nagatomo ((長友)) 2010.
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ser Inhalte allmählich der religiösen Autorität entglitt; 2. Klassische japanische Prosa und Gedichtsammlungen: Hierfür lässt sich die Anfang des 11. Jahrhunderts entstandene Genji monogatari (源氏物語 Geschichte des Prinzen Genji) repräsentativ anführen. Weitere Beispiele dieser Gattung sind Tsurezuregusa (徒然草 Essays, entstanden im 14. Jahrhundert), Heike monogatari (平家物語 Geschichte des Kriegs zwischen zwei Clans gegen Ende des 12. Jahrhunderts, entstanden im 13. Jahrhundert), Taiheiki (太平 記 Geschichte des Untergangs des Ersten und der Gründung des Zweiten Shôgunats sowie des dazwischen liegenden Bürgerkriegs, entstanden im 14. Jahrhundert), Ise monogatari (伊勢物語 Erzählungen über und Gedichte von Dichtern 在原業平 Ariwara no Narihira, entstanden um die Mitte des 10. Jahrhunderts) und Yamato monogatari (大和物語 Sammlung von Erzählungen und Gedichten, entstanden in der Mitte des 10. Jahrhunderts); 3. Klassische chinesische Literatur: Dazu gehören nicht nur die älteren und neueren konfuzianischen Texte wie Vier Bücher und Fünf Klassiker (四書 五経), sondern auch historische Berichte und Belletristik zur chinesischen Geschichte sowie medizinische, verwaltungstechnische, arithmetische, astronomische Texte usw. Abnehmer dieser drei Gattungen waren hauptsächlich die gebildeten – wenn ich diesen Begriff verwenden darf – »Oberschichten«. Außerdem war die klassische Literatur, für die kein Autorenhonorar anfiel, eine der wichtigsten Einnahmequellen der Verlage (vgl. May 1992: 25); 4. Dramen und Erzählungen, welche die buddhistischen Lehren popularisierten (古浄瑠璃 kojôrui und 説教正本 sekkyô seibon); 5. Als fünfte Gattung ist eine neue Form der Unterhaltungsliteratur, kanazôshi ((仮名草子)),, zu nennen, welche der Freizeitlektüre zu größerer Popularität verhalf und somit die zunehmende Freizeitkontingenz effektiv zu bewältigen half.18 Werke dieser Gattung richteten sich nicht an die Oberschicht, sondern an die allgemeine Bevölkerung mit wesentlich niedrigerem Bildungsgrad. Das Zeichensystem der japanischen Sprache besteht bekanntlich aus zwei verschiedenen Systemen: zu einem aus den dem Chinesischen entliehenen Logogrammen (漢字 kanji) und zum anderen aus den japanischen Silbenzeichen (ひらがな hiragana und カタカナ katakana). KanazôshiHefte verzichteten entweder gänzlich auf Logografie oder machten nur sehr 18 Zu kanazôshi siehe May 1974. Für einen ausführlicheren Überblick über die literarischen Gattungen der Edo-Zeit siehe Keene 1976 und May 1995.
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spärlich von diesem System Gebrauch, um die Inhalte Bevölkerungsmitgliedern mit einem niedrigeren Bildungsgrad leichter zugänglich zu machen. Auf diese Weise trug das neue Genre zur Popularisierung neuer, extensiver Lesegewohnheiten und zur Entstehung der Lesegesellschaft bei. Inhaltlich deckte sie ein breites Spektrum von Essays über fiktive Erzählungen zu Reisebeschreibungen ab. Von 1652 bis 1673 erschienen 223 kanazôshi-Hefte (vgl. Konta [[今田]] 2009: 41). Doch noch ließ sich damit nicht ausreichend Gewinn erzielen. Konta weist darauf hin, dass kein Verlag ausschließlich vom Verkauf von kanazôshi-Heften leben konnte (vgl. Konta [[今田]] 2009: 42 f.). Erst das Aufkommen des Genres der ukiyo zôshi ( 浮 世 草 子 )verhalf der Unterhaltungsliteratur zum wirtschaftlichen Durchbruch. Als genrebegründender Text gilt hier Kôshoku ichidai otoko.19 Schon innerhalb der ersten 20 Jahre nach Erscheinen dieses einflussreichen Textes wurden 200 Titel – sogenannte kôshoku mono – veröffentlicht, die dem Genre der ukiyo zôshi zuzuordnen sind (vgl. Konta [[今田]] 2009: 67). Eine weitere wichtigste Einnahmequelle für Verlage war die Untergattung der Ratgeberliteratur, die oft unter der Bezeichnung chôhôki (重宝記) zu finden ist.20 Darin wurde Wissen um das praktische Alltagsleben, rituelle Handlungen sowie sittlichen Sprachgebrauch und tugendhaftes Verhalten vermittelt. Dieses Beispiel zeigt, dass die Vermittlung und Reproduktion gesellschaftlichen Wissens zu jener Zeit immer mehr in Form von schriftlicher statt mündlicher Kommunikation erfolgte (vgl. Bohn 2006: 127–158). Zur Kommunikation war nicht länger die physische Anwesenheit der Gesprächsteilnehmer erforderlich. Damit überwand die gesellschaftliche Kommunikation die Grenzen jeglicher segmentärer und stratifikatorischer Teilsysteme. »Citizens of Edo could read novels written in Osaka; they might even occasionally receive letters from distant cousins in far-off rural areas.« (Dore 1992 [1965]: 296) Dieser Wandel der Kommunikationsform zeigt sich auch anhand des Aufkommens von ôrai mono (往来物) – Musterbriefen für verschiedene praktische Zwecke (vgl. Nagatomo [[長友]] 2010: 132 f.). Zu dieser Gattung gehörten auch Liebesbriefe wie Fumi no 19 Auf dieses Werk wird in Kapitel 3 ausführlicher eingegangen.
20 Vgl. z. B. Sôden ((艸田)) 1993; May 1992a: 24; Nagatomo ((長友)) 2010: 144 f. Zur Modernität der Gattung der Ratgeberliteratur siehe zunächst Heimerdinger 2008 und Messerli 2010.
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shiori (文の枝折) und Koi no fumiyzukushi (恋の文づくし) (vgl. Edojidai josei bunko [江戸時代女性文庫] Bd.32). Leihbuchhändler 21 und literarische Kommunikation Mit dem ausgehenden 18. und dem beginnenden 19. Jahrhundert schritt die Kommerzialisierung der Literatur mit raschen Schritten voran. Inzwischen erfreute sich die Unterhaltungsliteratur so großer Beliebtheit, dass bis zu 10.000 Exemplare eines Titels verkauft wurden – bei jährlich 50 bis 70 Neuerscheinungen (vgl. Nishiyama [[西山]] 1981: 85). Repräsentative Beispiele umfassen Nisemurasaki inaka Genji (偐紫田舎源氏 Die falsche Prinzessin Murasaki und Prinz Genji in der Provinz; Parodie der Geschichte des Prinzen Genji) von Ryûtei Tanehiko (柳亭種彦 1783–1842) und Tôkai dôchû hizakurige ( 東海道中膝栗毛 Zu Fuß unterwegs auf dem Tôkaidô; eine fiktive Reisebeschreibung auf dem Weg Tokaidô) von Juppensha Ikku (十返舎一九 1765–1831). Zwischen 1829 und 1842 wurden insgesamt 38 Hefte der Inaka Genji-Reihe publiziert. Pro Heft wurden Verkaufszahlen von um die 10.000 Exemplare erreicht. Hizakurige erreichte in den Jahren zwischen 1802 und 1822 eine Auflage von 43 Heften (vgl. Konta [[今田]] 2009: 182). Da erstaunt es nicht, dass diese Zeit die ersten Berufsautoren hervorbrachte, für die Buchhonorare die Hauteinnahmequelle darstellten. Den meisten Schriftstellern war es zu dieser Zeit jedoch noch nicht möglich, allein von diesen Honoraren zu leben (vgl. Suzuki [[鈴木]] 1980a: 150–151). Das System der literarischen Kommunikation, bestehend aus Autoren, Leserpublikum und Verlegern, wurde durch die Leihbuchhändler ergänzt. Hinweise auf Leihbuchhändler finden sich erstmalig in den 20er und 30er Jahren des 17. Jahrhunderts (vgl. Nagatomo [[長友]] 1982: 19 f.). Die in der Edo-Zeit gedruckten Titel lassen sich im Großen und Ganzen in zwei Gruppen unterteilen: Sachbücher (物の本 mono no hon) und Unterhaltungsliteratur (草紙 sôshi).22 Während Sachbücher zumeist individuell erworben und gesammelt wurden, wurde Unterhaltungsliteratur üblicher21 Vgl. auch Kornicki 1998: 169 ff. 22 Zu dieser Unterscheidung siehe auch Suwa (諏訪) 1978: 116 f. Zur Ideenevolution des Konfuzianismus im frühneuzeitlichen Japan unter dem Einfluss der Druckmedien siehe beispielweise Kobayashi (小林))1999.
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weise ausgeliehen (vgl. Nagatomo [[長友]] 1982: 172). Zwar war Lesen als Unterhaltungsform bereits seit den 20er bzw. 30er Jahren des 17. Jahrhunderts schrittweise verbreitet (vgl. Nagatomo [[長友]] 1982: 19 f.); doch Bücher waren zu Unterhaltungszwecken noch nicht für alle Leser erschwinglich. Die Bücher, welche über Leihbuchhändler vermittelt wurden, sind dem Bereich der Unterhaltungsliteratur, der historischen Erzählung, den Dramen des Kabuki- und Jôrui-Theaters, der zeitgenössischen Sensationsberichterstattung und der Gattung des Essays zuzuordnen. Die steigende Zahl der Leihbuchhändler ging mit wachsenden Lesekreisen einher. Das Aufkommen bebilderter Bücher trug ebenfalls zur Vergrößerung des Publikums bei – ein Beispiel hierfür sind die kibyôshi (黄表紙), deren Name, »Hefte mit dem gelben Deckblatt«, ihre grafisch ansprechende Gestaltung unterstreicht (Nagatomo [[長友]] 1982: 76).23 Tabelle 2: Neuerscheinungen von kibyôshi-Heften in der Zeit zwischen 1772 und 1806 1772 55 1781 68 1790 42 1799 48
1773 17 1782 65 1791 48 1800 51
1774 30 1783 84 1792 32 1801 53
1775 52 1784 92 1793 60 1802 54
1776 54 1785 50 1794 43 1803 60
1777 64 1786 65 1795 35 1804 61
1778 63 1787 38 1796 50 1805 59
1779 62 1788 48 1797 58 1806 69
1780 73 1789 57 1798 61
Quelle: Kuramoto ((倉本)) 1995: 95 (Für die Zeit zwischen 1781 und 1789 sind außerdem 14 Neuerscheinungen ohne feste Jahresangabe belegt.)
Santô Kyôden (山東京伝 1761–1816) – einer der bekanntesten Schriftsteller und Berufsautoren seiner Zeit – beschrieb das Netzwerk der literarischen Kommunikation anhand folgender Metapher: »Die Verleger sind die Eltern, der Leser ist der Bräutigam und der Leihbuchhändler ist der Ehe-
23 Eine Untersuchung zu kibyôshi-Heften als Vorläufer der heutigen Mangas bietet Kern 2006. Diese Gattung wurde vornehmlich vom Tsutya-Verlag in der Tenmei-Epoche ((天明年間:: 1781–1789) verlegt (vgl. Kuramoto [[倉本]] 1997: 135).
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vermittler.« (山東京伝 Santôkyôden: Sôchôki 1813, zit. nach 長友 Nagatomo 1982: 66) 1808 gab es in der Stadt Edo 655 Leihbuchhändler; für die zweitgrößte Großstadt, Ôsaka, sind 1810 etwa 300 Buchverleiher belegt (外題作者画 工書肆名目集 zit. nach Suwa [[諏訪]] 1978: 217 f.; Terakado [[寺門]] 1989 [1832–1836]: 165)). Im Verhältnis zur Einwohnerzahl gab es erstaunlich viele Leihbuchhändler. Immer größere Teile der Bevölkerung wurden in die literarische Kommunikation inkludiert.24 Dabei wäre es falsch, sich den Leihbuchhändler wie eine heutige Bibliothek bzw. Bücherei vorzustellen. Leihbuchhändler gingen von Tür zu Tür, um Bücher zu verleihen, Bestellungen aufzunehmen und die Meinungen der Leserschaft einzuholen, die sie den Autoren vermittelten. Denn die meisten Leihbuchhändler waren seit Mitte des 18. Jahrhunderts zugleich auch Verleger (vgl. Fûrai Sanjin [[風来 山人]]1763, zit. nach Nagatomo [[長友]] 1982: 69). Auch die Bewerbung und der Vertrieb eines neu erschienenen Titels gehörten zur Aufgabe der 24 Voraussetzung dafür war die relativ hohe Alphabetisierungsrate, welche die japanische Gesellschaft in der späteren Edo-Zeit bekanntlich kennzeichnete. »If public provision for formal education was limited to the samurai class, the lower orders were already managing to provide very well for themselves. In the towns a good proportion of the population could read and write Japanese. Parents bought such education for their children, voluntary and with hard cash, from teachers who derived their total income from fees. In country districts paternally disposed richer villagers did a great deal to supplement the operations of an otherwise private-enterprise system. At a very rough estimate it would seem that by the time of [the Meiji] Resoration forty to fifty percent of all Japanese boys, and perhaps fifteen percent of girls were getting some formal schooling outside their homes. This suggests a spread of literacy greater than in most modern underdeveloped countries, and greater than in any European country at a comparable economic development, with the possible exceptions of Prussia, Holland, and Scotland. It even compares favorably with some mid-nineteenth century European countries.« (Dore 1965: 100–101; vgl. auch Dore 1992 [1965]: 252 ff.) Diese Zahlen beziehen sich auf das ganze Land. Die Alphabetisierungsrate in den Städten war Herbert Passin (1965: 57) zufolge noch höher: In Edo verfügten etwa 80 % der Männer und 50 % der Frauen über einen gewissen Bildungsgrad. Im Vergleich dazu waren es in Paris vor dem Ausbruch der Großen Revolution 90 % bei den Männern und 80 % bei den Frauen (vgl. Smith 1994: 336).
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Leihbuchhändler (Nagatomo [[長友]] 1982: 68). Dabei ist zu beachten, dass weder Leihbuchhändler noch Verlage öffentliche Institutionen waren, sondern privatwirtschaftlich betrieben wurden. Der Leihbuchhändler erfüllte folgende idealtypische Funktionen: 1. Verlagsfunktion, insbesondere als innovative Manifestation der Publikationskultur in der Großstadt; 2. Wissensvermittler zwischen Großstadt und Provinz, wobei in der Provinz Bücher insbesondere von Dorfvorstehern, Großbauern und Intellektuellen nachgefragt wurden; 3. Anbieter von Unterhaltungsliteratur in Gasthäusern und Herbergen; 4. Funktion als Stadtbibliothek (vgl. Nagatomo [[長友]] 1982: 83).25 Mit Blick auf dieses Netzwerk von Verlagen und Leihbuchhändlern, das Vorhandensein eines funktionierenden Büchermarkts sowie die Rolle der Berufsautoren lässt sich schlussfolgern, dass die Unterhaltungsliteratur im frühneuzeitlichen Japan als eine Reflexion der Gesellschaft beschrieben werden kann. May schreibt: »Bei einer derartigen Abhängigkeit mußte sich der Publikumsgeschmack über die Rückmeldung der Reaktionen der Leser durch den kommerziell ausgerichteten Leihbuchhändler auf den ebenfalls verdienen wollenden Autor direkt auf den Inhalt, aber auch auf die Struktur der Erzählwerke, vor allem der längeren Werke (Romane) auswirken.« (May 1983: 58) Zwar gab es noch keine Berufskritiker, jedoch wurde die rekursive literarische Kommunikation als autopoietisches System allmählich dahingehend ausdifferenziert. »Der literarische Schaffensprozess war und ist in Japan nie vom Publikum abgetrennt zu begreifen. Die enge Beziehung zur lesenden Öffentlichkeit ist seit der gesaku, der Unterhaltungsliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts […], ein Konstituens japanischen Prosaschaffens.« (May 1980 : 9) Verlage schaffen Autoren Mit diesem Rückkopplungsmechanismus fuhren und förderten etliche Verlage seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert Kunst, Kultur und Wissen-
25 Konkrete Beispiele für die Funktionen von Leihbuchhändlern in der Provinz nennt Nagatomo ((長友)) 1982: 85 f. Zu Leihbuchhändlern im frühneuzeitlichen Japan in deutscher Sprache siehe May 1983: 53 ff.
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schaft. An dieser Stelle seien hierfür nur zwei Beispiele genannt:26 Die Suharaya-Gruppe (須原屋) war die größte Verlags- und Buchhandlungsgruppe ihrer Zeit – zu ihrer Blütezeit gehörten ihr zwölf Filialen an. Suharaya Ichibei (須原屋市兵衛 17xx–1811), ein berühmter Verleger dieser Gruppe, förderte nicht nur die Unterhaltungsliteratur, sondern auch wissenschaftliche Publikationen (vgl. Konta [[今田]] 2009: 120–136). Er verlegte beispielsweise Bücher folgender Autoren: Kaibara Ekkens (貝原益軒 Naturforscher, konfuzianistischer Gelehrter:1630–1714): Daigiroku (大学録 Notitzen über große Zweifel, 1767); Hiraga Gennais ( 平 賀 源 内 Naturforscher, Dramatiker, Schriftsteller, Mediziner, Maler: 1728–1780. Auch als 風来山人 Fûrai Sanjin bekannt)27: Kakanpu ryakusetsu (火浣布 略説 Über Asbest, 1765) und Shinrei yaguchi no watashi (神霊矢口渡 Drama, 1770); Morishima Nakaras (森嶋中良 Hollandforscher, Dramatiker: 1754–1810): Kômô zatsuwa ((紅毛雑話 Essays über die Niederlande, 1787); Hayashi Shiheis (林子平 Militärforscher, 1738–1793): Sangoku tsûran zusetsu (三国通覧図説 Die bebilderte Beschreibung dreier Länder, 1785)28. Nicht zu vergessen ist außerdem die Publikation des Kaitai shinsho (解体新書 1774). Sugita Genpaku (杉田玄白 1733–1817; Arzt), Maeno Ryôtaku (前野良沢 1723–1803; Arzt), Nakagawa Juan (中川淳庵 1739–1786; Arzt) und andere übersetzen die niederländische Fassung der Anatomischen Tabellen von Johann Adam Kulmus ins Japanische. Es war die erste gelungene vollständige Übersetzung 29 einer wissenschaftlichen Abhandlung aus einer europäischen Sprache ins Japanische.30 26 Weitere Beispiele bieten Kornicki 1998: 207 ff. und Tsuji ((辻)) 1915 [1980]: 256 f., 280 f. 27 Eine kurze Biografie Hiragas findet sich in Morris-Suzuki 1994: 24–26. 28 Dieses Buch wurde 1832 von dem deutschen Orientalisten Heinrich Julius Klaproth ins Französische übersetzt und publiziert. 29 Zu dieser Übersetzung siehe Sakai 1996 (in englischer Sprache). 30 Die Intellektuellen dieser Zeit waren bemerkenswert eng miteinander, also über die politische Grenze ihrer Lehenfürstentümer hinweg, vernetzt (vgl. Nishiyama [[西山]] 1981: 189; Ibi [[揖斐]] 2009; auch Yoshikawa [[吉川]] 1963; Nakamura [[中村]] 1982). Bei regelmäßigen Treffen tauschten sie Meinungen und Wissen aus. Sugita Genpaku war etwa an einer von Hiraga Gen’nai veranstalteten, naturhistorischen Ausstellung beteiligt. Hiraga vermittelte Sugita seinen Schüler, den Maler und Zeichner Odano Naotake (小田野直武 1750–1780), der die
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Als zweites Beispiel für einen kulturfördernden Verleger sei hier Tsutaya Jûzaburô (蔦屋重三郎 1750–1797) genannt.31 Mit Yoshiwara saiken (吉原細見 Freudenviertelführer für Edo-Yoshiwara) und Dramen, die Tomimoto-Lieder enthielten, die damals in Mode waren, generierte er erheblichen Umsatz und schuf eine solide Einkommensquelle für sein Unternehmen (vgl. Kuramoto [[倉本]] 1997: 36 f.; Konta [[今田]] 2009: 142–143). Mit kibyôshi verhalf er ab 1780 einem neuen Genre der Unterhaltungsliteratur zur Blüte. Eine beliebte Ausprägung der kibyôshi war die politische Satire. Beispiele umfassen Bunbu nidô mangoku tôshi (文武二道万石通 1788)32 von Hôseidô Kisanji (朋�誠堂喜三二 1734–1813) oder Ômugaeshi bunbu no futamich (鸚鵡返文武二道 1789) von Koikawa Harumachi (恋 川春町 1744–1798). 1783 nahm er darüber hinaus kyôka-Hefte ( 狂歌 Verrückte Dichtungen) in sein Repertoire auf. Kyôka stellte sich als neues Genre der parodischen Dichtung und des Sprachspiels dar, das sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts Beliebtheit erfreute und durch satirische Elemente und einen ironischen Humor gekennzeichnet war.33 Tsutaya pflegte in Yoshiwara mehrere Salons, die Schriftstellern, Künstlern, Dichtern und Zeichnungen in Kaitai shinsho anfertigte. Odano war einer der wenigen Maler, die bewusst europäische Techniken der Malerei anwandten. Seine Bilder können über folgende Links eingesehen werden: http://upload.wikimedia. org/ wikipedia/commons/b/bc/Naotake1.jpg (zuletzt besucht am 11.11.2013); http:// upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/81/Tr-43.jpg (zuletzt besucht am 11.11.2013). Zu dieser Gruppe gehörten nicht nur westlich orientierte Intellektuelle und Künstler, sondern auch der ukiyoe-Graphiker Suzuki Harunobu(鈴 木春信 1724–1770).. 31 Ausführliche Untersuchungen zu Tsutaya Jûzaburô finden sich in zahlreichen Arbeiten in japanischer Sprache; siehe beispielsweise Kuramoto ((倉本)) 1997. In westlichen Sprachen gibt es dagegen keine ausführliche Monografie zu dem bekannten Verleger. Siehe aber Davis 2008 sowie Kornicki 1998: 218–220 und May 1992a: 25 f. 32 Dieser Titel gilt in der frühneuzeitlichen, japanischen Publikationsgeschichte als ein Bestseller. Seine Verkaufszahl soll May (1992a: 22) zufolge 14.000-16.000 Exemplaren erreicht haben. 33 Auf die Differenzierung und Autonomisierung der Unterhaltungskunst in der Edo-Zeit kann ich in der vorliegenden Arbeit nicht eingehen. Dies ist ein spannendes Thema, das jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde.
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Malern als Treffpunkt dienten. Zu diesem Kreis gehörten Santô Kyôden (1761–1816), Koikawa Harumachi, Ôta Nanpo (大田南畝 1749–1823; auch als 四方赤良 Yomo no Akara oder 蜀山人 Shoku Sanjin bekannt) und – nicht zu vergessen – Juppensha Ikku ((十返舎一九)). Tsutayas größter Verdienst für die japanische Kultur- und Kunstgeschichte war jedoch die Förderung und Publikation der ukiyo-e-Druckgrafiken von Kitagawa Utamaro ((喜多川歌麿 1753–1806) und Tôshûsai Sharaku ((東洲斎写楽)). Politische Zensur 34 Vor dem Hintergrund der Revolutionierung der gesellschaftlichen Kommunikation durch Druckmedien, die Entstehung der Wissensgesellschaft und der zunehmend lebendiger werdenden literarischen Kommunikation bemühte sich das Shôgunat immer wieder, die kulturelle Entwicklung über eine politische Zensur zu steuern. Die amtlichen Bekanntmachungen aus dem Jahr 1673 verpflichteten Verleger, vor der Veröffentlichung eines neuen Buches eine amtliche Genehmigung einzuholen (Konta [[今田]] 2009: 83). 1682 wurde der Verkauf von neuen Büchern mit unbekannten Informationsquellen verboten. 1684 wurden journalistische Schriften mit zeitgenössischen Ereignisberichten zensiert. Dieses Verbot wurde 1698, 1703 und 1713 bekräftigt. Auch die Zensur von 1682 wurde mehrfach bekräftigt. Das Shôgunat befürchtete, dass seine Politik durch die journalistischen Berichte in die Kritik geraten und seine Autorität geschwächt werden könnte. 1691 wurden zwei Autoren wegen kritischer Äußerungen am damaligen Shôgun Tokugawa Tsunayoshi (徳川綱吉 1646–1709; im Amt von 1680– 1709) hingerichtet. Das 1693 erschienene Pamphlet Uma no monoii (馬の 物言い Das Argument eines Pferdes) persifliert politische Autoritäten wie Shôgun und Minister (rôjû 老中) durch den Vergleich mit verschiedenen Tieren. Die Behörde brauchte drei Monate, um den Autor des Pamphlets festzunehmen und hinrichten zu lassen. Trotz aller behördlichen Maßnahmen und Zensuren sah sich das Shôgunat bis zu seiner Auflösung 1867 immer wieder – wenn auch häufig in verborgener Form – der öffentlichen
34 Zur Zensur in der Edo-Zeit siehe Kornicki 1998: 324–352; aus Suwa ((諏訪)) 1978: 149 f. Einen Vergleich mit Frankreich bietet Smith 1994: 344 f.
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Kritik ausgesetzt.35 In diesem Sinne existierte das kritische Publikum, mit dem sich das politische System konfrontiert sah, schon in der Edo-Zeit. 1722 erließ das Shôgunat weitere Verbote. Nicht gestattet waren: 1. Bücher mit Inhalten, welche die Autorität des Shôgunats potenziell schwächen konnten; 2. Bücher der Gattung kôshoku mono (好色物)36; 3. Bücher über die Genealogien einzelner Samurai-Häuser, denn Samurai und Daimyo-Häuser könnte ihre Autorität verlieren – so war die Annahme –, weil sie auf einer vermeintlich alten Tradition basierte. Denn nicht wenige Samurai- und Daimyô-Häuser nach dem Ausbruch des Ônin-Bürgerkrieges (( 応 仁 の 乱 )) von 1467 und in der darauffolgenden Sengoku-Zeit als »Neumenschen« bzw. »Emporkömmlinge« (homo novus) auf; 4. In allen Schriften musste der Name des Autors und des Verlegers aufgeführt werden; 5. Es war gänzlich verboten, über das Haus Tokugawa und das Shôgunat zu schreiben. Das Shôgunat wollte damit Schriften zum Ursprung seiner Legitimität unterbinden. Nur mit einer Sondergenehmigung war es gestattet, über die politischen Herrscher zu schreiben. 1722 und 1723 wurden darüber hinaus der Verkauf von Texten und die Aufführung von Dramen, die das Thema des Doppelselbstmords zum Gegenstand hatten, erneut verboten. Dementsprechend wurden die Dramen Chikamatsus bis Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr aufgeführt. 37 Die politische Zensur erwies sich aber nicht immer als erfolgreich. Die zahlreichen Wiederholungen von bereits erlassenen Verboten zeigen eher, dass die Zensur nicht den gewünschten Effekt hatte, sondern vielmehr ein Katz- und Maus-Spiel zur Folge hatte (vgl. Nakano [[中野]] 1999). Die politische Satire blieb ein beliebtes Thema der oben genannten kibyôshi-Hefte. Das führte dazu, dass die Behörde 1790 sogar jeglichen Druck und Verkauf neuer Bücher und Hefte verbot, weil es, so die fadenscheinige Begründung, bereits genügend Bücher gebe. Genauso verboten war es, von zeitgenössischen Ereignissen zu berichten. Im selben Jahr wurde die Zensur der Gattung der kôshoku mono bekräftigt. Der geringe Erfolg der Zensur ist meines Erachtens auf folgende Gründe zurückzuführen: 1. Wenngleich das Shôgunat politische (journalistische) Berichte verboten hatte, war es noch immer möglich, zeitgenössische Er35 Beispiele bietet Nishiyama ((西山)) 1981: 51 f. 36 Zur literarischen Gattung der kôshoku mono siehe Kapitel 3. 37 Zu Dramen von Chikamatsu Monzaemon (近松門左衛門) siehe Kapitel 3.
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eignisse »durch die Hintertür« der historischen Erzählung versteckt zu thematisieren und es dem Intellekt des Publikums zu überlassen, den zeitgenössischen Bezug hinter der vermeintlich »historischen« Erzählung zu ergründen; 2. Wenn auch bestimmte Titel nicht mehr gedruckt und verkauft werden durften, so machte es doch insbesondere die Existenz der Leihbuchhändler unmöglich, alle bereits vorhandenen Exemplare aus dem Umlauf zu nehmen. Es sind etwa Vorfälle belegt, da Leihbuchhändler zensierte Bücher abschreiben ließen und an bestimmte Stammkunden verliehen (vgl. Konta [[今田]] 2009: 173 f, 198 f.). Ein noch größeres Problem ergab sich für das Shôgunat aus dem Umstand, dass das Kommunikationsnetz im Laufe der Zeit durch die Ausweitung des Leihbuchhandels immer weiter in die Provinz vordrang (vgl. Nishiyama [[西山]] 1981: 86). So erreichte der Buchmarkt sogar Städte wie Sendai ((仙台)),, Sakai ((堺)), Takamatsu (高松), Kanazawa (金沢) und Hiroshima (広島); 3. Die oben genannten Verbote und Zensuren waren keine Gesetze, sondern Edikte mit Ad-hoc-Charakter. Verstöße wurden nicht immer konsequent, sondern eher stichprobenartig nach dem Prinzip der Willkür geahndet. Zwar wurden nicht wenige Autoren zur Abschreckung wegen des Vorwurfs des Verstoßes gegen ein solches Edikt bestraft; jedoch war es schwer vorhersehbar, ob ein Autor wegen einer bestimmten Publikation bestraft werden würde oder nicht (vgl. Kornicki 1998: 324–325); 4. Die segmentäre Differenzierung des politischen Systems im frühneuzeitlichen Japan verhinderte die landesweite Durchsetzung der Zensur. Das Shôgunat war keine Zentralregierung im heutigen Sinne. Das Geltungsgebiet der Zensur war im Wesentlichen auf Edo bzw. diejenigen Gebiete beschränkt, die direkt durch das Shôgunat verwaltet wurden (天領 ten ryô). Ob die Zensur in den anderen Territorien bzw. Teilstaaten durchgesetzt wurde oder nicht, hing von den jeweiligen Fürsten und ihrem machtpolitischen Verhältnis zum Shôgunat ab. Verleger existierten aber nicht nur in Edo und Kyôto. Die Zahl provinzieller Verleger nahm im Laufe der Zeit nicht ab, sondern stieg entsprechend der ökonomischen Entwicklung kontinuierlich an (Konta [[今田]] 2009: 227).
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D AS V ERGNÜGUNGSVIERTEL ALS O RT DER KULTURELLEN V ERGESELLSCHAFTUNG UND DER SOZIALEN R EFLEXION Um die Dynamik der Diffenrenzierungsformen im frühneuzeitlichen Japan zu beleuchten, wende ich mich hier der Geschichte des Vergnügungsviertels zu. Denn hier beginnt die gesellschaftliche Entwicklung hin zur funktionalen Differenzierung. Vergnügungsviertel entstanden Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts. Das bekannteste unter ihnen war Yoshiwara in Edo, aber auch Shimabara (島原) in Kyôto und Shinmachi (新町)) in Ôsaka erfreuten sich großer Bekanntheit und sogar kleinere Städte hatten entsprechende Etablissements.38 Die Vorstellung ist weit verbreitet, dass der Beischlaf mit Kurtisanen offiziell erlaubt war und sogar gefördert wurde und die Frauen zu jener Zeit sexuell objektiviert und wie Sklavinnen behandelt wurden (vgl. Stein 1997). Diese Annahme hat zwar einen wahren Kern, berücksichtigt aber nicht alle kulturhistorisch und gesellschaftstheoretisch relevanten Tatsachen.
38 Zum historischen Ursprung von Shimabara und Shinmachi (in englischer Sprache) siehe Teruoka 2000: 4. Shôji Jinnai (庄司甚内) begründet das Gesuch zur Einrichtung des Vergnügungsviertels Yoshiwaras folgendermaßen: 1. Als präventive Maßnahme gegen Geldverschwendung und Untreue von Kunden. Vor Verlagerung des Teehauses ins Vergnügungsviertel neigten Teehausbesucher dazu, sich so lange wie möglich dort aufzuhalten. Im Vergnügungsviertel durfte sich ein Kunde dagegen maximal einen Tag und eine Nacht aufhalten. 2. Als präventive Maßnahme gegen die unrechtmäßige Adoption von Töchtern aus armen Familien. Menschenhandel war verboten, aber die aus Familienarmut und Not zur Adoption freigegebenen Töchter waren oft gezwungen, in den Adoptivfamilien als Dirnen zu dienen. 3. Teehäuser wurden häufig von Vagabunden, Ausreißern und Unruhestiftern als Versteck genutzt. Die räumliche Konzentration der Teehäuser in den Vergnügungsvierteln erleichterte die Kontrolle potenzieller Krimineller (vgl. Ishii [[石井]] 1967: 4–5). Folglich waren Überwachung und Kontrolle das Hauptmotiv zur Genehmigung des Antrags (vgl. Ishii [[石井]] 1977: 2 ff.; in deutscher Sprache: Stein 1997: 343 ff.; in englischer Sprache: Teruoka 2000: 5 f). Siehe auch Buyô (武陽)) 1994 [1816]: 315 f.; Terakado ((寺 門)) 1989 [1832–1836]: 9 f.
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Edo hatte sich seit dem 17. Jahrhundert zur größten Stadt Japans entwickelt. Darüber hinaus kann die Stadt als gesellschaftlicher Mikrokosmos der damaligen Zeit angesehen werden (vgl. Yoshida [[吉田]] 2009 [2002]: 39). Dort waren nicht nur Samurai und Bürger beheimatet, sondern auch andere Stände wie Pariagruppen und Bauern, die wegen der Verwüstung der Ackerflächen das Land verlassen und in die Stadt gezogen waren. Ihara Saikaku, ein zeitgenössischer Schriftsteller, weist darauf hin, dass Stadtbürger (in diesem Fall aus Ôsaka) aus Zuwanderern bestanden (vgl. Ihara [井原] 1996 [1688]: 35–36; auch Nagatomo [[長友]] 2010: 144). In den Städten galt das territoriale Prinzip der segmentären Differenzierung nicht mehr. In der Edo-Zeit war jeder daimyô verpflichtet, selbst alle zwei Jahre in Edo zu wohnen und mit seiner Hauptfrau und seinem Nachwuchs dort eine dauerhafte Residenz zu beziehen (vgl. 参勤交代 sankin kôtai, Schwentker 2003: 85; Tsukihara 1966). Edo wurde somit zum gesellschaftlichen Brennpunkt, wo die gesamte Bevölkerung Japans zusammentraf. Wie bereits erläutert weist diese urbane Dynamik auf die Differenzierungsform Zentrum/Peripherie hin. Im Zentrum war die Stratfizierung vor allem anhand der Differenzierung zwischen Samurai und Bürgern ersichtlich. Dem Vergnügungsviertel kommt insofern eine Sonderstellung zu, dass es ein Subsystem bildete, das theoretisch die Inklusion aller Menschen über die Grenze der stratifikatorischen und segmentären Teilsysteme hinaus – also ohne Rücksichtnahme auf genealogische Abstammung und territoriale Herkunft einer Person – erlaubte. Darüber hinaus waren im Vergnügungsviertel weitere Mechanismen zu beobachten, die das Prinzip der Stratifikation außer Kraft zu setzen vermochten. Standesunterschiede sollen dort beispielsweise keine wesentliche Rolle gespielt haben, was etwa durch die Tatsache ersichtlich wird, dass ein Samurai dort seine zwei Schwerter – das Symbol seiner Stellung und Autorität – abgeben musste (vgl. Ishii [[石井]] 1967: 31). Mit anderen Worten: Das Betreten dieses Viertels implizierte die vorübergehende Exklusion aus dem eigenen segmentären und stratifikatorischen Teilsystem wie Familie, Haus, Dorf oder Stand – zumindest in der medialen Repräsentation (vgl. Miyamoto [[宮本]] 1987: 132). In dieser Hinsicht kann nicht stark genug betont werden, dass das Abstammungs- und Rangprinzip dort aufgehoben wurde. In diesem Sinne nahm das Vergnügungsviertel die Form der funktional differenzierten modernen Gesellschaft vorweg. So wurde die Rolle des Vergnügungsviertels jedenfalls wiederholt gedeutet.
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Seinem Ruf verdankt es das Vergnügungsviertel jedenfalls, dass es in der Edo-Zeit zum Zentrum der Geselligkeit avancierte (vgl. Yoshida [[吉 田]], zit. nach Chinpunkan [[珍奮館]] 1989: 13; Ishii [[石井]] 1967: 98). Dort fanden politische Verhandlungen zwischen den verschiedenen Fürstenhäusern statt. Außerdem war das Vergnügungsviertel der Ort der Künstler (vgl. z. B. Ibi [揖斐]] 2009). Der Haiku-Dichter Yosa no Buson (与謝野蕪村 1716–1784) führte beispielsweise einen Haiku-Salon in dem Teehaus, Sumiya (角屋) in Shimabara. Bekannte Gesichter im Vergnügungsviertel waren auch Maler wie Ogata Kôrin (尾形光琳 1658–1716) und Kitakawa Utamaro (喜多川歌麿 1753–1806), die mit Vorliebe Kurtisanen zeichneten. Zu behaupten, dass die Moderne im Sinne der kulturellen Vergesellschaftung in Japan im Vergnügungsviertel begann, ist sicher keine Übertreibung (vgl. Tenbruck 1990: 213; siehe auch Moriya 1990: 118f.). Kurtisanen gehörten nicht zu den oben genannten vier Hauptständen, sondern waren gemäß dem damaligen Ständesystem der Gruppe der Paria zuzuordnen. Sie mussten sich in einem von der Behörde zugewiesenen Vergnügungsviertel niederlassen. Es war ihnen und ihren Dienstherren nicht gestattet, außerhalb dieses Viertels Geschäfte zu tätigen, noch war es ihnen vom Dienstherrn gestattet, sich außerhalb des Viertels frei zu bewegen. Damit kam es zwar zu ihrer räumlichen Exklusion vom Rest der Gesellschaft, zu behaupten, dass sie auch der sozialen Kommunikation ausgeschlossen gewesen seien, ginge jedoch zu weit. Santô Kyôden (1761– 1816), einer der bekanntesten Schriftsteller des 18. und 19. Jahrhunderts, vermählte sich in seinem Leben zweimal mit einer Kurtisane. Es galt nicht als sozial verwerflich, eine Kurtisane zu heiraten. Zu beachten ist außerdem, dass der freie Geschlechtsverkehr außerhalb des Vergnügungsviertels streng verboten war und geahndet wurde, auch wenn dieses Verbot nicht immer konsequent umgesetzt wurde (vgl. Stein 1997: 425 ff.; Ishii [石井] 1967: 55 ff.; Ono [小野] 2002: 146 ff.). Darüber hinaus war der Geschlechtsverkehr vor der Eheschließung durch patria potestas strafbar; ein Ehebruch der Frau wurde sogar mit dem Tod bestraft.39 Der Hauptzweck 39 Allerdings wurde von dieser Strafe immer seltener Gebrauch gemacht. Siehe dazu Takamure ((高群)) 1963: 234 f. und Nagano ((長野)) 1987: 127–128 und insbesondere Ujiie ((氏家)) 1996. Mit anderen Worten: Freie Liebesbeziehungen stießen immer öfter auf gesellschaftliche Toleranz (vgl. Seki [[関]] 1987: 180). Diese Tendenz wurde allerdings von zeitgenössischen Moralisten wie Buyô
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der Ehe bestand nach der damaligen Standesethik für Samurai vor allem darin, zur Sicherung des Fortbestands des »Hauses« Nachkommen zu zeugen (Abstammungsprinzip der Segmentarisierung). Mit der Einrichtung des Vergnügungsviertels als Institution wurden Liebe und Sexualität von der Ehe im häuslichen Bereich räumlich differenziert. Zum Zweck der stabilen Reproduktion des Hauses als ökonomisch-politischer Einheit wurden Ehefrauen entsexualisiert und Destabilisierungsfaktoren wie Sexualität, Sinnlichkeit und Emotionen aus der Institution Ehe verbannt. Das Vergnügungsviertel erfüllte somit – nicht ungleich einem Gefängnis – die Funktion einer modernen Disziplinierungsanstalt mit dem Ziel, Sexualität, Liebe und Erotik aus der ökonomisch-politischen Lebenswelt auszusperren.40 Die Kommunikation und Semantik der Sexualität und Liebe war in diesen Raum jenseits der Ständeordnung im Sinne einer exkludierenden Inklusion erlaubt. Anhand der Einrichtung des Vergnügungsviertels lässt sich auch in Bezug auf die japanische Gesellschaftsgeschichte feststellen, dass Sexualität und Liebe früher als andere Funktionssysteme räumlich, aber auch semantisch ausdifferenziert wurden. Menschenhandel war offiziell nicht erlaubt und Kurtisanen dienten gemäß vertraglicher Regelung ihrem Dienstherrn in der Regel zehn Jahre lang, d. h. zumeist bis zum 25. Lebensjahr. Die Möglichkeit, den Dienst früher zu beenden, war an den Freikauf durch einen Gast gebunden. Aus diesem Grund waren Kurtisanen darum bemüht, einen netten und verlässlichen Freund unter den Gästen zu finden in der Hoffnung, von ihm freigekauft zu werden (vgl. Ishii [[石井]] 1967: 175 f.). Da sich das Spektrum der Gäste im Vergnügungsviertel von Samuraifürsten (daimyô) bis hin zu einfachen Bürgern erstreckte, ergab sich im besten Fall – wenn auch selten – die Möglichkeit, die Konkubine bzw. Mätresse eines Fürsten zu werden.41 Inshi ((武陽隠士)) als Sittenverfall gewertet. Buyô machte das Vergnügungsviertel, die Liebesnovelle und das Theater für diesen »Sittenverfall« verantwortlich (vgl. Buyô [[武陽]] 1994 [1816]: 346 f.; 292). Zu Buyô siehe auch Aoki ((青木)) 1998. 40 Im Sinne Stichwehs 2009: 39 f. 41 Es ist richtig, dass ein Daimyo fast immer nur eine Frau aus dem Samurai-Stand zur Ehefrau nahm. Jedoch bedeutet dies nicht, dass die betreffende Frau in diesen Stand hineingeboren sein musste; auch eine Verbindung mit einer infolge von Erwachsenenadoption in den Kriegerstand erhobenen Frau war möglich.
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Die bekannteste Legende, die sich um eine solche Verbindung rankt, ist die Geschichte von Date Tsunamune (伊達綱宗 1640–1711), den Fürsten von Sendai, der mit der Kurtisane Kahoru von Takashimaya in Kyômachi liiert war (vgl. Mitamura [[三田村]] 1997: 258; Ishii [[石井]] 1967: 94 f.).42 Dies lässt sich als eine Form der erweiterten sozialen Mobilität und Überwindung des Stratifikations- und Abstammungsprinzips deuten, denn Kurtisanen stammten zumeist aus ärmlichen Gegenden.43 Durch den Druck und Verkauf von Bildern von Kurtisanen nahmen sie Einfluss auf die Mode der Zeit (vgl. Ono [[小野]] 2002: 125 ff., 144 f.). Bereits 1692 berichtete Ihara Saikaku, dass sich die bürgerlichen Frauen wie Kurtisanen kleiden: »Übrigens, Frauen zu unserer Zeit kleiden sich gerne den charmanten Kurtisanen nach. Sogar die Damen von erstrangigen Textilkaufmännern in Kyôto kleiden sich, dass man sie mit Kurtisanen verwechseln könnte. Und die Ehefrauen von Kaufleuten, die vorher bei Großkaufleuten als Ladenhüter gearbeitet haben, sehen aus wie Badefrauen [Kurtisanen niedrigeren Rangs] und die Ehefrauen von Schneidern und Stickern in den Nebengassen tragen ähnliche Kleider wie die Mädchen in den Teehäusern. Es ist lustig zu sehen, dass jede sich nach ihrem Status schick und schön kleidet.« (Ihara [[井原]] 1996 [1692]: 384; eigene Übersetzung; vgl. Tusji [[辻]] 1915: 92 f.)44 Buyô schreibt 1816 sogar, dass nicht das TheTheoretisch war es nach damaliger Rechtslage also möglich, eine Kurtisane durch Freikauf oder nach Ende ihres Dienstes von einem Krieger als Tochter adoptieren zu lassen und somit in den Kriegerstand zu erheben. Anschließend war die Heirat mit einem Krieger bzw. Samuraifürsten möglich. Allerdings steht eher zu bezweifeln, dass von einer solchen Konstruktion in der Praxis häufig Gebrauch gemacht wurde. Die Eheschließung zwischen Fürstenhäusern, aber auch zwischen Samurai- und Großkaufmannsfamilien, kann im Allgemeinen als Allianzdispositiv im Sinne Michel Foucaults (1977) gewertet werden. 42 Es ist richtig, dass Date Tsunamune mit 21 zur Abdankung gezwungen war, dies ist aber nicht alleine auf seine Beziehung zu Takao zurückzuführen, wie zahlreiche Fiktionen behaupten. 43 Vgl. Buyô ((武陽)) 1994 [1816]: 328. Man erinnere sich auch etwa an die Anfangsszene des Films Die Geisha (2005). 44 Im Original:「さるほどに今時の女、見を見まねに、よき色姿に風俗をう つしける。都の呉服棚の奥さまといはるる程の人、皆遊女に取り違へる 仕出しなり。又手代あがりの内儀は、おしなべて風呂屋のものに生き移
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aterstück die Wirklichkeit, sondern dass die Menschen das Theaterstück nachahmten (vgl. Buyô [[武陽]] 1994 [1816]: 346, 376; auch vgl. Matsuura [ 松浦] 1977 [1821-1841]: 165). Hier ist bereits das in der Einleitung geschilderte Verhältnis von Repräsentationsmedien und Alltagspraxis zu beobachten. Ereignisse im Vergnügungsviertel sowie das Verhalten von Gästen und Kurtisanen waren beliebte Themen der medialen Beobachtung. 45 Unter Medien verstehe ich hier sowohl schriftliche Medien als auch Aufführungen im Kabuki- und Jôruri-Theater, die als Verbreitungs- und Repräsentationsmedien fungierten. Dazu hier einige Beispiele: Als die berühmte tayû Yûgiri (夕霧太夫) Anfang 1678 erkrankte, wurde im Theater von Osaka das Abschiedsstück Lebwohl Yûgiri zum Neujahr gespielt; das Stück erfreute sich eines großen Erfolgs. Yugiris Geschichte etablierte sich sogar als unverzichtbarer Teil des Repertoires des Kabuki-Theaters (夕霧名残の 正月 Yûgiri nagori no shôgatsu) (vgl. Teruoka 2000: 12). Auch in JôruriPuppentheter erfreute sich die Geschichte Yûgiris großer Beliebtheit. Chikamatsu Monzaemon46 verfasste die Stücke Erinnerungen an Yûgiri (夕霧 山手相 Yûgiri Santesô, 1686; siehe auch Torigoe [[鳥越]], in: Chikamatsu [[ 近松]] 1997: 570) und Yûgiri Meerenge von Awa (夕霧阿波鳴渡 Yûgiri Awa no Naruto, in: Chikamatsu [[近松]] 1997: 399–441). Im gleichen Jahr wurde in Kyôto ein Stück über die tayû Yoshino die Dritte (三世吉野太夫 1605–1643), Die Hochzeit von Yoshino gespielt. Die Heldin verkauft darin
し、それより横町の仕立物屋・縫箔屋の女房は、そのまま茶屋者の風儀 にて、それそれに身代ほどの色を作りてをかし」。 Engl.: »[…] the women of today, under the influence of the styles of the gay quarters, dress exactly like professional entertainers. Prominent draper’s wives, who in public are addressed as mesdames, are so attired as to be mistaken for high-class courtesans; while the wives of small shopkeepers, who once served as clerks of the drapers, look exactly like courtesans one grade lower. Again, the kimono worn by wives of tailors and embroiderers who live on side streets bear a startling resemblance to those of the women employed in teahouses.« (Ihara 1965b: 57) 45 Dies trifft natürlich nicht auf alle, sondern nur auf die ranghöheren Kurtisanen zu. 46 Chikamatsu Monzaemon ist einer der größten Dramatiker der Edo-Zeit. Seine Dramen werden in späteren Kapiteln der vorliegenden Arbeit aufgegriffen.
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ihre Kleider und ihren Schmuck, um ihren finanziell ruinierten Geliebten zu retten. Das Stück war so erfolgreich, dass es sechs Monate lang aufgeführt wurde. Nicht nur auf den Theaterbühnen, sondern auch durch Druckmedien wurden Informationen über Kurtisanen, ihr Leben und die Gepflogenheiten im Vergnügungsviertel verbreitet: 1655 erschienen Tôgenshû (桃源集 Pfirsichsammlungen) und Naniwa monogatari (浪花物語 Erzählungen von Naniwa). Nemonogatari (寝物語 Erzählungen für den Schlaf), Miyako monogatari (都物語 Die Geschichte der Hauptstadt) und Masarigusa (ま さり草 Chrysantheme) berichteten über das Leben in Shimabara bzw. Shinmachi. Über das Leben im Vergnügungsviertel Yoshiwara wurden später die Werke Yoshiwara kagami (吉原鏡 Der Yoshiwara-Spiegel) und Takabyôbu kuda monogatari (高屏風くだ物語 Die Geschichte hinter der hohen Satzwand. Zum Gespräch beim Trinken) publiziert (vgl. Teruoka 2000: 17–18). Diese literarische Bewegung der Kurtisanenkritik und Vergnügungsviertelführer entwickelte sich zu einer fiktiven Prosagattung (ukiyo zôshi) (vgl. auch May 1974: 118 f.). Den Höhepunkt erreichte diese Entwicklung mit dem Werk Yonosuke des Schriftstellers und Dramatikers Ihara Saikaku (1642–1693). Vor diesem Hintergrund lässt sich fragen, was im Vergnügungsviertel als Prinzip der Systembildung fungierte oder anders gesagt: welche Semantik dort entstand. Die wesentliche Voraussetzung für die Teilhabe an Geselligkeit und erotischen Vergnügungen im Vergnügungsviertel war selbstverständlich Geld. Aber Geld allein reichte nicht aus, um die Gesellschaft einer tayû genießen zu dürfen.47 Differenzlogisch betrachtet verlor das Geld in dem Moment, da es für alle Gäste gleichermaßen zur Voraussetzung wurde, seinen Informationswert. Stattdessen wurde eine spezielle Semantik benötigt, um die Interaktion zwischen Kurtisane und Gast sowie das SichEinlassen-auf-eine-Beziehung vonseiten der Kurtisane zu regulieren.48 Kur-
47 Wie schwierig es war, einen Termin bei einer so berühmten tayû wie Takao zu erhalten, beschreibt Ihara ((井原)) 1996 [1682]: 213 (in deutscher Sprache: Ihara 1965: 238). 48 »Die Ausdifferenzierung von ›doppelter Kontingenz‹ als beiderseitiger Freiheit, sich für oder gegen ein Sich-ein-lassen auf eine Liebesbeziehung zu entscheiden, stimuliert die Entwicklung einer Spezialsemantik, an die man sich, wenn
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tisanen wurde Selbstachtung und Selbstvertrauen zuerkannt. Sie orientierten sich bewusst an den Traditionen der kaiserlichen Hofdamen in Kyôto (vgl. Teruoka 2000: 9).49 Im 17. Jahrhundert wurden Kurtisanen in die drei Ränge der tayû(太夫)), kôshi ((格子)) und hashi (端) unterteilt.50 Die als tayû bezeichneten höchstrangigen Kurtisanen galten nicht nur als Meisterinnen der Verführung, sondern verfügten auch im künstlerischen und literarischen Bereich über eine Bildung auf höchstem Niveau, wie beispielsweise in Musik, Tanz, Durchführung der Teezeremonie, Kalligrafie und Dichtung. Von ihnen wurden Kenntnisse der japanischen Literatur wie etwa den Klassikern Die Geschichte vom Prinzen Genji (源氏物語), Taketori monogatari (竹取物語), und Hachidaishû (八代集) erwartet. Als Hachidaishû (八代集) gelten acht große Gedichtsammlungen, die zwischen dem 8. und 10. Jahrhundert entstanden sind. Erwünscht war auch die Fähigkeit der Lektüre klassischer chinesischer Literatur (Ono [[小野]] 2002: 133 f.; Mitamura [[三田村]] 1997: 263 f.). Vor dem ersten Beischlaf, also bevor der Gast mit der tayû intim werden durfte, musste er sich ihr in zwei Probetreffen – einer Art Fest – beweisen (vgl. Ishii [[石井]] 1967: 161 ff.; Ono [[小野]] 2002: 125). Bei den Probetreffen musste er die Kurtisane von sich überzeugen und ihre Angehörigen auf seine eigenen Kosten bewirten. Der Prozess des Kennenlernens, der der Intimbeziehung voranging, war immer von Zeremonien begleitet, die die Eheschließung parodierten. Nach soziale Beziehungen unsicher werden, statt dessen halten kann.« (Luhmann 1982 : 60) 49 Die Einrichtung des Vergnügungsviertels verstand sich selbst als eine Parodie auf das alte Hofleben. Kurtisanen nahmen als Pseudonyme gerne Namen von Figuren aus der Geschichte des Prinzen Genji an. Der Name der Kurtisane Yûgiri ist dafür ein gutes Beispiel. Noch heute steht in Anlehnung an die Geschichte des Prinzen Genji genji-na (源氏名) generisch für die Pseudonyme, die sich Hostessen geben. Das Wechselverhältnis von Text und sozialen Praktiken ist hier besonders evident. 50 Laut Azuma monogatari waren im Jahr 1642 987 Kurtisanen in Yoshiwara beheimatet. Nur 75 von ihnen hatten den Rang einer tayû (kôshi = 31; hashi = 881) (vgl. Ono [[小野]] 2002: 58; Teruoka 2000: 7). Rund hundert Jahre später lebten Yoshiwara saiken (1734) zufolge in Yoshiwara nur noch 4 tayû und 65 koshi. Bis 1764 waren die tayû gänzlich aus dem Vergnügungsviertel von Edo verschwunden (vgl. Ishii [[石井]] 1967: 119).
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dem Beischlaf war es für den Gast nicht erlaubt, mit einer anderen Kurtisane sexuelle Beziehungen zu unterhalten ((vgl. Ono [[小野]] 2002: 125). Im Gegenzug war es den Kurtisanen – zumindest den Kurtisanen höheren Ranges – gestattet, einen Kunden abzulehnen (vgl. Ishii [[石井]] 1967: 167; Ono [[小野]] 2002: 83–86; Chinpunkan [[陳奮館]] 1989: 62). Wurde ein Gast von einer tayû abgelehnt, so wurde dies von der Öffentlichkeit als Zeichen für mangelnde Sensibilität, fehlendes Interesse an der Kunst, mangelnde Bildung in klassischer Literatur oder physische Behinderungen seinerseits interpretiert, was zur Zerstörung seines Rufs in der Oberklasse führen konnte (vgl. Teruoka 2000: 9). Im nächsten Kapitel stelle ich die Iki-Semantik als ausdifferenzierte Form der Interaktionssemantik vor, die das Sich-Einlassen-auf-dieBeziehung regulierte.
Liebessemantik in der Genroku-Epoche
Vorgeschichte In diesem und dem nächsten Kapitel versuche ich nachzuweisen, dass die Liebessemantik in Japan bereits vor der Landesöffnung 1853 ein hohes Niveau an Reflexivität erreicht hatte. Das lässt sich einerseits auf eine reiche literarische Tradition zurückführen, die mit den großen Epen GenjiMonogatari1 und Ise-Monogatari2 ihren Anfang nahm, und andererseits auf den hochentwickelten Büchermarkt und die Verbreitung extensiver Lesegewohnheiten.3 Betrachten wir für die Analyse zunächst den ältesten japanischen Roman, Genji-Monogatari (Die Geschichte des Prinzen Genji): Hier zeigt sich deutlich der Liebescode in der stratifizierten Gesellschaft. Positive, ideale Eigenschaften wie Reichtum, Bildung, Macht, sozialer Rang und gutes Aussehen konzentrierten sich auf bestimmte Figuren aus der Oberschicht.4 Sie sind Voraussetzungen, die eine Figur erfüllen muss, um ge1
Murasaki Shikibu, Genji-monogatari (Die Geschichte des Prinzen Genji), entstanden im 11. Jahrhundert.
2
Entstanden im 10. Jahrhundert, erfreute sich diese Dichtung auch während der gesamten Edo-Zeit großer Popularität (vgl. May 1992a: 24).
3
Zum Liebesbild in der japanischen Literaturgeschichte vgl. z. B. Kôkajoshidaigaku ((光華女子大学)) 1996.
4
»Die Präferenzwerte der meisten Mediencodes sind [in der hierarchischen Gesellschaft] auf den König und seinen Stand fokussiert. Macht, Schönheit, Geschmack, Recht, Gottes Gnade und Wahrheit sind des Königs qua Geburt. Ohnmacht, Geschmacklosigkeit, Unrecht etc. werden den unteren Ständen zu-
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liebt zu werden. Dies impliziert, dass sich die Einsetzbarkeit des Liebescodes auf einen kleinen Kreis – d. h. in diesem Fall die Oberschicht (kuge) – beschränkt. Der Held, Prinz Genji, ist beispielsweise nicht nur Sohn eines Ten’nô, sondern zeichnet sich auch durch sein gutes – »strahlendes« – Aussehen aus. Darüber hinaus ist er überaus intelligent. Seine Geliebten gehören ebenfalls dem Hofadel an und verfügen dementsprechend gleichsam über äußerliche Schönheit. Wer geliebt werden kann – sprich wer in eine Intimbeziehung eintreten darf – muss also schön sein und weitere ideale Eigenschaften mitbringen (Idealisierung des Liebescodes). Der ideale Mann ist demnach schön, gebildet und verfügt über politische Macht. Die Idealisierung zeigt sich auch am damals üblichen Brauch, bei der ersten Kontaktaufnahme mit dem potenziellen Partner waka (Fünfzeiler-Gedichte) auszutauschen, denn dieser Brauch verweist auf die Voraussetzung höherer Bildung und folglich auf ein großes Vermögen sowie zeitliche Ungebundenheit. Die Geliebte beziehungsweise den Geliebten für Geld zu verraten, wird in diesem Kontext nicht thematisiert, denn eine solche Situation war für die Verhältnisse zu jener Zeit schier undenkbar. Auffallend ist jedoch eine Ausnahme in der Geschichte des Prinzen Genji: Die Prinzessin des Hitachinomiya – in der Literaturgeschichte be5 kannt als Suetsumu hana – lebt nicht nur in Armut, sondern wird zudem als äußerst hässlich beschrieben. Diese Episode weicht von der Idealisierung ab, indem sie darauf hinweist, dass eine Person von guter Herkunft auch hässlich sein kann, und stellt den Liebescode in der stratifikatorischen Gesellschaft so in Frage. Trotz ihrer Mängel aus Perspektive des Ideals gelingt es der Prinzessin dennoch, zu einer Geliebten des Prinzen Genji zu werden. Was ihr an Tugenden fehlt, macht sie durch Ausdauer wett; ihre Sehnsucht nach ihm wird schließlich belohnt. Diese Textstelle lässt sich womöglich als Abschied von der Idealisierung und als Beginn der Paradogesprochen. [...] In der Poetik einer stratifizierten Gesellschaft fallen daher letztlich der höchste Stand und die ›höchsten Werte‹ zusammen. Dies wird wesentlich erleichtert durch die theologische Auffassung von ordo rerum, in welcher in Gottes Schöpfung und ihrem weltlichen Repräsentanten, dem König von Gottes Gnaden, alle positiv konnotierten Codewerte kulminieren.« (Plumpe/Werber 1993: 18) 5
Suetsumu hana ist ein Synonym für benibana, zu Deutsch Färberdistel. Murasaki Shikibu, a.a.O., S. 173 ff.
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xierung der Liebe auslegen. Die andauernde und insistente Zuneigung der Prinzessin kann nämlich als Liebesbeweis ausgelegt werden, der einen Schönheitsdefekt überdauern kann (vgl. Luhmann 1982: 63). Thematisiert wird in diesem Kapitel die Liebessemantik in der GenrokuEpoche. Wie kurz im letzten Kapitel erwähnt, kennt die japanische Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit zwei Höhepunkte, von denen der erste, die Genroku-Epoche (元禄時代), gemäß der damaligen Jahresrechnung von 1688 bis 1704 andauerte. Jedoch ist damit im breiteren Sinne die Kulturgeschichte vom ausgehenden 17. bis ins beginnende 18. Jahrhundert gemeint. In diesen Jahren erlebte die japanische Gesellschaft – zumindest in den Städten – dank des andauernden Friedens und der agressiven Geldpolitik des Shôgunats eine Hochkonjunktur, die von manchen heutigen Wirtschaftswissenschaftlern als Seifenblasenökonomie bezeichnet wird. Einhergehend mit der Hochkonjunktur erlebten Kunst und Kultur eine Blütezeit. Man kann in dieser Zeit von einer ersten großen Welle der Kommerzialisierung der Literatur sprechen. Insbesondere umsatzstark war diejenige Literaturgattung, die Liebe, Erotik und Sexualität im Vergnügungsviertel thematisierte. Vor der Analyse der Liebsesemantik in repräsentativen, literarischen Werken jener Zeit will ich mich der Interaktionssemantik iki widmen. Denn die moderne Liebessemantik setzt die Differenzierung von Interaktion und Funktionssystemen voraus, die in Japan mit der Emergenz der iki-Semantik zum Ausdruck gebracht wurde. Wie im letzten Kapitel gezeigt, funktionierte der alte Code der Stratifikation im Hinblick auf die Geselligkeit im Vergnügungsviertel nicht mehr. Die Entscheidung, ob man sich auf eine Beziehung einließ oder nicht, verlangte nach einem neuen Code, da die älteren Prinzipien der Segmentation und Stratifikation nicht mehr griffen. Aber dieser Sachverhalt galt nicht nur im Vergnügungsviertel: Denn wie der rapide Bevölkerungszuwachs in Edo zeigt, war der große Teil der Bewohner dort aus anderen Städten und Dörfern zugezogen sie waren einander fremd. Die soziale Beziehung in Edo konnte nicht mehr auf den Primärgruppen, mit anderen Worten Teilsystemen, die sich auf das Abstammungsprinzip stützten, basieren (vgl. Nishiyama 1972: 27; Luhmann 1997: 699 f.)6 Es 6
Als Beweis für die Anonymität im Leben Edos und Interesselosigkeit der Menschen füreinander führt Nishiyama einen Dreizeiler von Matsuo Bashô (松尾芭
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brauchte andere Prinzipien für die Gruppen- und Strukturbildung. Aufgrund der in urbanen Agglomerationen in großer Anzahl anzutreffenden Mitmenschen lernt ein Stadtbewohner notwendigerweise den Umgang mit dem »Fremden«.
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IKI -I NTERAKTIONSSEMANTIK
Das Vergnügungsviertel bot Frauen und Männern, die nicht über Familienbande miteinander bekannt waren, einen Begegnungsraum. Dort galten eigene Regeln, die sich von denen der Restgesellschaft unterschieden und weniger von äußeren, politischen, ökonomischen und ständischen Zwängen geprägt waren – dies ist nicht unbedingt eine historische belegte Tatsache, den Schluss legt jedoch die zeitgenössische, einschließlich fiktive Literatur nahe. Das Vergnügungsviertel stellte einen freien Raum dar. Durch das Recht der Kurtisane auf Ablehnung ergab sich das Problem der doppelten Kontingenz. In der Soziologie wird damit eine Situation bezeichnet, in der es beiden Akteuren freisteht, sich für oder gegen eine Beziehung zu entscheiden. Um dieses Problem zu lösen und Interaktionen zwischen Kurtisane und Gast sowie das Sich-Einlassen-auf-eine-Beziehung von Seiten der Kurtisane zu regulieren, wurden spezielle Regeln benötigt.7 Dieser durchgängig regulierte Prozess vom ersten Treffen bis zum Beischlaf deutet das Vorhandensein einer speziellen Semantik an. Vor diesem Hintergrund entstand die iki-Semantik. Im vorliegenden Abschnitt stelle ich iki als Interaktions- und Individualitätssemantik sowie als differenzierungstheoretische These vor: Die Emergenz dieser Semantik in der Edo-Zeit belegt die Ausdifferenzierung von Interaktion und Gesellschaft zu jener Zeit (Luhmann 1997: 812 ff.). Mithilfe der Analyse des ja蕉 1644–1694) an: »aki fukashi tonari ha nani wo suruhitozo« (「秋深し、と なりは何をする人ぞ」»Im tiefen Herbst, was macht der Mensch nebenan?« Dies bedeutet: Es ist gleichgültig, was der Mensch nebenan macht, im Vergleich mit der Schönheit des tiefen Herbsts.) 7
»Die Ausdifferenzierung von ›doppelter Kontingenz‹ als beiderseitiger Freiheit, sich für oder gegen ein Sich-Einlassen auf eine Liebesbeziehung zu entscheiden, stimuliert die Entwicklung einer Spezialsemantik, an die man sich, wenn soziale Beziehungen unsicher werden, statt dessen halten kann.« (Luhmann 1982: 60)
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panischen Philosophen Baron Kuki Shûzô (九鬼周�造 1888–1941) will ich diese Semantik zu diesem Zweck zunächst phänomenologisch rekonstruieren. Abgesehen von meinen eigenen Ausführungen (Morikawa 2011) ist Kukis Analyse bisher die einzige nennenswerte Arbeit, die sich mit diesem Begriff systematisch beschäftigt. Einem nichtjapanischen Leser könnte sich dieses Verfahren als schwer nachvollziehbar präsentieren; ich bitte hierfür um Verständnis. Anschließend verweise ich auf das Problem der doppelten Kontingenz, welches das Entstehen einer speziellen Semantik für die Interaktion zwischen Mann und Frau bedingte. Erst danach werde ich auf die Analyse durch Kuki zurückkommen. Es folgt ein Abschnitt, in dem ich auf die Parallelen zwischen iki und dem französischen honnêteté-Begriff eingehen werde, die hier meines Wissens weltweit zum ersten Mal thematisiert werden.8 Man erinnere sich hier daran, dass die Semantik von iki sich in Vergnügungsvierteln wie Yoshiwara in Edo entwickelte. Wichtig war dabei, sich mit gewissen internen Verhaltenscodes vertraut zu machen und diese einzuhalten. Wer sich mit solchen Regeln auskannte und sich adäquat verhielt, wurde als iki bzw. tsû gelobt. Tsû bedeutet Kenner; das Verb tsûjite iru (通 じている) kann mit sich auskennen übersetzt werden. Der Satz kare ha geijutsu ni tsû jiteiru ((彼は芸術に通じている)) heißt so viel wie »Er kennt sich mit Kunst aus« bzw. »Er ist ein Kunstkenner«. Aber im hiesigen Zusammenhang verweist tsû vor allem auf Menschenkenntnis – die Fähigkeit eines Menschen, den Charakter eines anderen zu erkennen und zu bewerten. Menschenkenner, so wird hier impliziert, wissen anderen – insbesondere einer tayû – zu gefallen. Im Vergnügungsviertel galt es, die Gefühlslage der Mitmenschen richtig zu deuten und auszulegen. Als yabo – der Gegenbegriff von iki – galten diejenigen, die Ignoranz gegenüber den subtilen Gefühlsregungen des Gegenübers erkennen ließen oder nicht angemessen verstehen vermochten, was alter in diesem Augenblick will. Laut Nakano (中野 1984: 120 f.) hat sui seine etymologischen Wurzeln in den Wörtern suiryô (推量 Vemutung) und suisatsu (推察 Einsicht). Vermutung und Einsicht beziehen sich hierbei auf die Gemütslage bzw. die Befindlichkeit des anderen. Nakanos Hinweis stärkt die These im vorliegenden Abschnitt. 8
Diese Parallelität deute ich in der beschriebenen Rekonstruktion von iki in Fußnoten an. Diesen Hinweisen mangelt es an Systematik; sie dienen jedoch lediglich als Ergänzung zur Bemerkung im Abschnitt 4.
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Denn Voraussetzung für die Emergenz der hier genannten Begriffe ist die Undurchschaubarkeit des fremden Bewusstseins, d. h. die Differenzierung des psychischen und des sozialen Systems. Kenntnis von Liebe und Galanterie war im Vergnügungsviertel Voraussetzung, um als iki-hafter Mann zu gelten. All diese Punkte deuten darauf hin, dass eine Loslösung der Interaktion von der Gesellschaft bzw. der Person von der gesellschaftlichen Rolle möglich wurde und die entsprechende Semantik entstand. I.
Was ist iki?
Der Begriff iki wird üblicherweise mit dem chinesischen Zeichen 粋 belegt. Dieses Zeichen wird auch sui ausgesprochen, was wiederum auf etwas Reines bzw. Wesentliches oder den Kern einer Sache verweist. Der Begriff weckt Assoziationen mit einem iki iki to shita ( 生 き 生 き と し た lebendigen, vitalen) Zustand. Welche Gegenstände lassen sich dem Prädikat iki(-haft) zusprechen? In der gegenwärtigen japanischen Sprache sagt man etwa iki na on’na (粋な女 eine iki-hafte Frau), iki dane (粋だね Es ist ja iki) oder iki na kaiwa (粋な会話 eine iki-hafte Unterhaltung bzw. ein ikihaftes Gespräch). Unter 粋な会話 (iki na kaiwa) finden sich im Internet 601.000 Einträge. Das phonetische katakana- bzw. hiragan-Zeichen (イキ な会話 bzw. いきな会話) ist in jeweils 17.800 bzw. 4 Einträgen im Internet präsent (Stand 25.03.2011). Für 粋な言葉 (iki-hafte Worte) findet man im Internet ca. 2.300.000 Einträge (Stand 21.06.2011). 粋な女 (iki na on’na) liefert 1.150.000 Einträge, 粋な男 (iki na otoko) ca. 168.000 und 粋 な人 (iki na hito = ein iki-hafter Mensch bzw. eine iki-hafte Person) ca. 6.430.000 (Stand 17.04.2011). 粋な奴 liefert (iki-hafter Kerl bzw. Typ) 2.030.000 Einträge (Stand 21.06.201). Bemerkenswert ist, dass 粋な婦人 (iki na fujin = eine iki-hafte Dame) nur auf ca. 11.200 Einträge kommt (Stand 17.04.2011). Daraus lässt sich folgern, dass iki, wenn auf Personen bezogen, tendenziell nur an ein Wort ohne soziale Eigenschaften (Status, Rang u. dgl.) anknüpfen kann. Nehmen wir das Beispiel iki na kaiwa. Was ist eine iki-hafte Unterhaltung bzw. ein iki-haftes Gespräch? Es handelt sich hierbei um ein positives Geschmacksurteil (Kuki [[九鬼]] 1979: 34; dt.: 22; engl.: 25 f.). Zunächst
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darf eine iki-hafte Unterhaltung nicht langweilig sein.9 Sie muss lebendig und spannend, pointiert und flüssig sein. Ein ernsthaftes Thema wie Politik, Ökonomie oder Religion bietet sich üblicherweise nicht für ein iki-haftes Gespräch an.10 Ebenso ist ein Thema, das die am kommunikativen Akt beteiligten Akteure schwermütig macht, für eine iki-hafte Unterhaltung nicht geeignet. Iki hat mit Leichtigkeit zu tun. Wohlbemerkt sei hier: Iki ist ein Prädikat, das zunächst die Konversation bewertet. Wie Kuki darlegt, ist iki-goto (いきごと iki-hafte Angelegenheit) eine iro-goto (色事 Liebesaffäre; romantic affairs) (Kuki [[九鬼]] 1979: 21; dt.: 15; engl.: 18).11 Iki na hanashi (eine iki-hafte Erzählung bzw. iki-hafte Geschichte) bezeichnet eine – zumindest ihrem Gehalt nach potenziell – intime Geschichte bzw. Liebesgeschichte, die ebenso für Frauen wie für Männer Gesprächsgegenstand sein kann. Von anwesenden Frauen wird erwartet, dass sie sich amüsieren, wenn ein Mann ein iki-haftes Gespräch beginnt – und umgekehrt. Geschehnisse, die durch alltägliche Routine einer Repetition unterliegen, eignen sich nur bedingt für eine iki-hafte Unterhaltung, weil sie zumeist langweilig und schwermütig sind. Eine iki-hafte Erzählung wirkt erfrischend und impliziert immer auch ein Moment der Spannung.12 Auch Verhalten – und darüber hinaus Personen, die ein solches Verhalten an den Tag legen – können als iki-haft bezeichnet werden. Ausdrücke wie iki na on’na (粋な女 eine iki-hafte Frau) und iki na otoko (粋な男 ein iki-hafter Mann) gehören auch heute noch zum alltäglichen Sprachgebrauch, wie das oben genannte Ergebnis der Internetsuche zeigt. Wer gilt als iki-hafter Mann bzw. iki-hafte Frau? Wer verdient es, als iki-haft bezeichnet zu werden? Eine iki-hafte Person, so kann zunächst festgehalten 9
In der Begriffsentwicklung des honnête homme spielte der Aspekt der Vertreibung der Langweile eine wichtige Rolle (Höfer 1986: 23).
10 Vgl. »Die Konversation selbst wird im Frankreich des 17. Jahrhunderts als nicht spezialisierte Unterhaltung bestimmt. Die ernsthafte Erörterung von Sachproblemen, Entscheidungsfindungen oder mit dem pejorativen Begriff der Pedanterie belegten Gelehrtengesprächen sind nicht konversationsadäquat.« (Bohn 2006: 132–133) 11 Die deutsche Übersetzung, »Eros-Sache«, ist nicht haltbar. Ich danke Prof. Dr. Schamoni für den Hinweis. 12 Der Spannungsbogen einer Liebesgeschichte ergibt sich aus ihrem zukunftsorientierten Aufbau. Vgl. dazu Werber 2003: 112 ff.
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werden, ist sexuell anziehend und verleitet das andere Geschlecht zum Flirt. Eine iki-hafte Person erfreut sich der Beliebtheit der anderen. Anders formuliert: Mit einer iki-haften Person möchte ego eine Interaktion eröffnen bzw. sich auf eine Beziehung einlassen, weil sie Spannung im weitesten Sinne – eine spannende Konversation, eine spannende Beziehung – verspricht. Mit anderen Worten: Einer iki-haften Person kann der Öffnungsgrund einer Interaktion bzw. interaktiven Kommunikation zugerechnet werden. Hingegen kann man nicht von iki sprechen, wenn keine Eröffnungsmöglichkeit für eine spannende Beziehung besteht. Eine selbstbezogene Person gilt nicht als iki-haft, selbst wenn sie äußerlich attraktiv ist. Voraussetzung für diese Charakterisierung ist soziale Offenheit. Typen wie Primus, Streber, Macho und otaku und Haltungen wie Rechthaberei und Besserwisserei entziehen sich der Bezeichnung als iki-haft. Denn sie sind äußerst ich-bezogen; sie versperren den Zugang zu anderen. Nur Personen, die in gewisser Weise verspielt sind und sich für eine Beziehung mit dem Gegenüber öffnen können, gelten als iki-haft. Um die iki-Semantik weiter auszuleuchten, sei hier ein weiteres Beispiel für iki-haftes Verhalten angeführt. Am 4. März 2011 erregte die Annullierung und Verspätung von Flügen am Flughafen Buenos Aires den Unmut von Flugpassagieren und die Situation spitzte sich zusehends zu. Einige frustrierte Fluggäste drängten zum Protest an den Schalter. Unter ihnen fand sich auch die amerikanische Sängerin Cyndi Lauper. Kurzentschlossen besorgte sie sich ein Mikrophon vom Flughafenpersonal und begeisterte mit einem spontanen Auftritt. Schnell heiterte sich die Stimmung auf. Die Unruhe löste sich. In der japanischen Presse wurde Cyndi Laupers Verhalten als iki bzw. iki-haftes Verhalten (粋な振る舞い) gelobt.13 Folgendes lässt sich aus dieser Anekdote ablesen: Iki-haftes Verhalten heitert die Stimmung auf. Voraussetzung ist also die Anwesenheit von Mitmenschen. Iki bezieht sich auf Soziales. Ohne die Anwesenheit von anderen, die das Verhalten des ego beobachten und darauf reagieren können, ist iki-haftes Verhalten nur schwer vorstellbar. Iki-haftes Verhalten muss spontan und überraschend sein; darin ist ein Moment der Neuheit enthalten, das eine erfrischende Wirkung auf die 13 http://www.tagesspiegel.de/berlin/fuer-immer-girlie/4402906.html; http://news. travel.aol.com/2011/03/07/cyndi-lauper-entertains-airport-passengers-in-argenti na/; http://rocketnews24.com/2011/03/07/ (alle zuletzt gesehen am 25.07.2011).
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Mitmenschen entfaltet. Ein solches Verhalten geht über sozial Erwartungen und routinierte Verhaltensmuster hinaus. Ein Gesangauftritt in einer Konzerthalle würde Cyndi Lauper beispielsweise niemals als iki angerechnet, da dies den sozialen Erwartungen entspricht. Wäre sie in ihrer Rolle als Passagier verharrt, hätte man ihr Verhalten ebenfalls nicht als iki-haft bewertet. Daraus lässt sich auf die Einzigartigkeit bzw. auf den Ereignischarakter von iki schließen. Um es mit der Terminologie von G. H. Mead (1967 [1934]) auszudrücken: Japanern gilt es als iki, wenn ego das I des alter, das in dessen me übergeht, im positiven Sinne wahrnimmt und das alter somit dem ego gefällt.14 Die iki-Semantik wurde als Ästhetik verstanden, denn die Funktion der modernen Kunst besteht darin, »der Welt eine Möglichkeit anzubieten, sich selbst von ausgeschlossenen Möglichkeiten her zu beobachten« (Esposito 1997: 107; vgl. Luhmann 1995: 241)
14 Me meint den sozialisierten Aspekt des Selbsts, während I dessen aktiven, spontanen und kreativen Aspekt repräsentiert: »[An individual] is not only a citizen, a member of the community, but he is one who reacts to this community and in his reaction to it, as we have seen in the conversation of gestures, changes it. The ›I‹ is the response of the individual to the attitude of the community as this appears in his own experience. […] But if the response to it is a response which is of the nature of the conversation of gestures, if it creates a situation which is in some sense novel, if one puts up his side of the case, asserts himself over against others and insists that they take a different attitude toward himself, then there is something important occurring that is not previously present in experience. […] Such a novel reply to the social situation involved in the organized set of attitudes constitutes the ›I‹ as over against the ›me‹. The ›me‹ is a conventional, habitual individual. It is always there. It has to have those habits, those responses which everybody has; otherwise the individual could not be a member of the community. But an individual is constantly reacting to such an organized community in the way of expressing himself, not necessarily asserting himself in the offensive sense but expressing himself, being himself in such a cooperative process as belongs to any community.« (Mead 1967: 196–8)
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II.
Der Code iki/yabo und Differenzierungsformen in der Edo-Zeit
Um weiter zu klären, was mit iki bezeichnet wird, befasse ich mich zunächst mit dem Gegenbegriff zu iki, die andere Seite der Unterscheidung: yabo. Der Begriff iki entstand zur Edo-Zeit in der Stadt Edo. Yabo bezeichnete das Provinzielle und Ländliche; im Kontrast dazu sahen sich die EdoBürger selbst als iki: »People who were yabo (›boorish‹) and apparitions did not live east of Hakone.« (「野暮と化け物は箱根より東には住まな い」Kuki [[九鬼]] 1979: 23; dt.: 16)15 Yabo(野暮)ist das Gegenteil von iki. Ein yabo-hafter Mann ist im etymologischen Sinne in erster Linie ein Landmann aus der Provinz. Zugleich schwingt in yabo die Mitbedeutung »unraffiniert« mit. Die iki/yabo-Unterscheidung verhält sich parallel zur Differenzierung Zentrum/Peripherie. Das Begriffspaar verweist jedoch nicht nur auf eine geografische Relation, sondern birgt auch ein qualifizierendes Urteilsgehalt; die Herkunft per se kennzeichnet niemanden als iki oder yabo. Die iki/yabo-Unterscheidung stellt nicht nur eine territoriale, sondern auch eine stratifikatorische Unterscheidung dar. Auf Japanisch sagt man etwa oyashiki fû no yabo (お屋敷風の野暮 yabo im Villenviertel) oder buke fû no yabo (武家風の野暮 yabo wie die Samurai) (vgl. Kuki [[九鬼]] 1979, 38). Hier habe ich oyashiki mit »Villenviertel« belegt; konkreter bezeichnet oyashiki in diesem Kontext Samurai-Häuser in der Oberstadt.16 Die Samurai hatten ihre Wurzeln nicht in der Stadt, sondern auf dem Land (vgl. Schwentker 2003). Allerdings begleiteten zahlreiche Samurai ihren feudalen Fürsten (大名 daimyô) wegen des Systems der wechselnden Residenz des daimyô (参勤交代 sankin kôtai) regelmäßig nach Edo. Dort un15 In Hakone gab es eine Grenzkontrollstelle. Östlich von Hakone beginnt die Kantô-Region. 16 Zu der Gründungszeit siedelte das Tokugawa-Shôgunat seine Vasallen in den Hügeln westlich der Edo-Burg (des heutigen Kaiserpalasts) an und die daimyô bauten dort ihre Residenzen. Dieses Viertel heißt yamanote (山の手 Oberstadt). Hingegen durften sich Handwerker und kleine Kaufleute im Niederungsmoor, an den Flüssen Sumida und Tone sowie an deren Mündung östlich der Burg niederlassen. Dieser Bezirk heißt shitamachi (下町 Unterstadt). Vgl. dazu Seidensticker 1983; auch Jin’nai 1990.
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terhielten sie eigene Villen bzw. Häuser in der Oberstadt. Die Konnotation, auf die in yashiki hû no yabo verwiesen wird, ist, dass die in der Oberstadt ansässigen, yabo-haften Samurai in den Augen der Edo-Bürger als »Fremde« galten. Zahlreiche satirische Dichtungen (川柳 senryû), in denen die Samurai als yabo lächerlich gemacht wurden, zeugen von dieser Ausgrenzung (vgl. z. B. Ishii [[石井]] 1967: 98 f.).17 Ein typisches Schimpfwort für Samurai war inaka-zamurai (田舎侍 Samurai aus der Provinz, ländliche Samurai, bäuerische Samurai). Heutzutage werden Personen, denen Provinzialität unterstellt wird, als o-nobori sama(お上り様: auf Deutsch etwa Landei) bezeichnet. III. Drei Momente von iki An dieser Stelle möchte ich auf die Analyse der iki-Semantik von Kuki Shûzô eingehen. Kuki weist auf drei Momente von iki hin: bitai (媚態 Koketterie), ikuji (意気地 Trotz, Selbstbewusstheit18) und akirame (諦め Resignation). Als erstes Moment ist Koketterie gegenüber dem anderen Geschlecht zu nennen: »Also kommen aus dem Spannungsverhältnis aufgrund der dualistischen Möglichkeit alle Phänomene in iki wie namamekashisa ›Saftigkeit‹, tsuyapossa ›Erotik‹, iroke ›Sinnlichkeit‹ u.a hervor« (Kuki [[九 鬼]] 1979: 22, eigene Übersetzung. vlg. dt.: 15; engl.: 19)19 Jedoch arbeitet die Koketterie in iki nicht auf ein Ziel hin. Eine iki-hafte Beziehung vergleicht Kuki mit dem Spannungsverhältnis zwischen zwei Polen. Das in iki vorherrschende Spannungsverhältnis soll nicht zum Verschwinden gebracht werden; vielmehr soll es Kuki zufolge eine infinite, die Spannung 17 Zur Gattung der senryû siehe in englischer Sprache Shirane/Araki (Hg.) 2008: 520 f. 18 Um den philosophisch viel konnotierten Begriff »Selbstbewustsein« zu vermeiden, verwende ich hier ein Kunstwort »Selbtbewusstheit«. 19 Im Original: 「そうして『いき』のうちに見られる『なまめかしさ』『つ やっぽさ』『色気』などは、すべてこの二元的可能性を基礎とする緊張 にほかならない」。 Engl.: »Iki ranges through meanings like namamekashisa ›lusciousness‹, tsuyapossa ›eroticism‹, iroke ›sexiness‹, and so forth, and these arise precisely from the tension implicit in the dualistic possibility.«
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erhaltende Annäherung zwischen beiden Polen geben. Daher definiert er iki-Koketterie folgendermaßen: »Die Koketterie besteht im Prinzip darin, den Abstand soviel wie möglich zu verkleinern und dabei auch nicht gänzlich aufzuheben.« (Kuki [[九鬼]] 1979: 23; dt.: 16; engl.: 19).20 Weil Kuki hier von einer Mann-Frau-Beziehung als Urbild einer iki-haften Beziehung ausgeht, gebraucht er das Wort »Koketterie«. Allgemeiner formuliert ist hiermit das bewusste Gefallen gemeint.21 Eine iki-hafte soziale Beziehung ist nur dann möglich, wenn ego alter gefällt und dieses Gefallen positiv wertet. Zur Vereinigung von ego und alter (etwa in der Liebe) kommt es in diesem Zusammenhang aber nicht. Um es mit den Worten des japanischen Schriftstellers Nagai Kafû (永井荷風 1879–1959) zu sagen, der sich ebenfalls mit der Kultur im Vergnügungsviertel auskannte: »Nichts ist enttäuschender als der gelungene Flirt mit einer Frau« (zit. nach Kuki [九鬼] 1979: 22; eigene Übersetzung).22 Was hier zum Ausdruck gebracht wird, ist, dass sich jegliche Art von lebendiger und spannender – iki-hafter – Beziehung zwischen zwei Menschen im Augenblick des Verliebens (und der physischen Intimität) auflöst. Das iki-Phänomen besteht nur interpersonal, d. h. die Pluralität des Subjekts wird vorausgesetzt. Hier geht es wiederum um das Problem der doppelten Kontingenz und dessen Lösung. Die Spannung in der iki-haften Beziehung beruht auf dem Vorhandensein der doppelten Kontingenz. Entspricht ein Individuum seinen routinierten sozialen Rollen bzw. Verhaltensmustern, so gilt dies nie als iki. Die Emergenz der iki-Semantik setzt außergewöhnliches und auffälliges Verhalten voraus, das von den Erwartungen an die jeweilige soziale 20 Im Original: 「媚態の要は、距離を出来得る限り接近せしめつつ、距離の 差が極限に達せざることである」。 21 Nakano (中野 1984: 136) weist darauf hin, dass die Effemination des ikiBegriffs erst in der Kasei-Epoche einsetzte. Da sich Kuki auf diese Zeit bezieht, spricht er von »Koketterie«. Bis dahin wurde das Wort noch genderneutraler gebraucht. 22 Im Original: 「得ようとして、得た後の女ほど情無いものはない」。»Es gibt keine so ratlos nichtige Frau wie diejenige, die man begehrt hat, und bekommen« (dt. 15); »there is nothing more pathetic than having a woman after trying to have the woman« (engl. 19:). Vgl. dazu: »Si la possession est sans trouble, les desires ne sont plus qu’une habitude tiède« (Jaulnay 1671: 31; zit. nach Luhmann 1982: 89)
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Rolle abweicht. Dieses Abweichen von der Norm wurde in der SengokuZeit im ausgehenden 16. Jahrhundert als kabuku (かぶく、傾く)) bezeichnet; 23 die iki-Semantik ist dementsprechend als Nachfolger der kabukiSemantik zu verstehen. Ohne die hier beschriebene doppelte Kontingenz verschwindet die Spannung zwischen ego und alter. Dies verhindert jedoch der zweite Moment von iki, den Kuki identifiziert: ikuji, was in der deutschen Fassung als »Tapferkeit« übersetzt wird. Treffender und angemessener ist jedoch die Umschreibung »pride and honor«, die sich in der englischen Übersetzung findet.24 Mein erster Impuls war es, ikuji mit »Trotz« zu übersetzen; später entschied ich mich dann für »Selbstbewusstheit«; »Mut zum Anderssein« ist womöglich eine passende Umschreibung. Diese Art von Selbstbewusstsein beinhaltet auch den Aspekt der Selbstbehauptung, die ab und zu aggressiv gesteigert wird und zu Streitlust führen kann. Ikuji schützt das Moment der Koketterie von iki ins Unterwürfige und Gefallsüchtige abzugleiten: »Verkörpert wird die würdevolle Integrität, die mit Wörtern wie inase (munter und energisch), isami (männlich und angrifflustig) und denpô (frech und vorwitzig) üblicherweise ausgedrückt wird. […] Iki bedeutet zwar Koketterie, mitgemeint ist jedoch ein widerstandsfähges, starken Bewusstsein gegenüber dem anderen Geschlecht.« (Kuki [[九鬼]] 1979: 23 f., eigene Übersetzung. Vgl. dt.: 16 f.; engl: 20)25 An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass das Vergnügungsviertel als Ort der freien Interaktion repräsentiert wurde, der sich vom Rest der Gesellschaft unterschied. Das Selbstbewusstsein, das eine iki-hafte 23 Das Wort hat in der Bezeichnung des Kunstgenres kabuki ((歌舞伎)) bzw. des kabuki-Theaters überlebt. 24 Zum Wesen des Trotzes bzw. Widerstands in der Edo-Unterstadtkultur siehe auch Nishiyama 1997: 49 f. 25 Im Original:「『いなせ』『いさみ』『伝法』などに共通な犯すべからざ る気品・気格がなければならない。[...]「いき」は媚態でありながらな お異性に対して一種の反抗を示す強味をもった意識である」。 Engl.: »One must possess an inviolable dignity and grace, commonly expressed in words such as inase ›dashing, spirited‹, isami ›chivalry‹, and denpô ›show-off bravado‹. […] Iki here means more than just coquetry. It also includes a rather aggressive range of sentiments directed toward the opposite sex, showing a bit of resistance.«
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Person an den Tag legt, ist nicht gleichzusetzen mit dem Selbstbewusstsein der Mächtigen. Iki setzt insbesondere eine Differenzierung von Gesellschaft und Interaktion einerseits und psychischen und sozialen Systemen andererseits voraus. Dies wird oft im Widerstand gegen Machtinhaber und Obrigkeiten zum Ausdruck gebracht.26 Wer sich einer solchen Autorität beugte, hatte es nicht verdient, als iki-haft zu gelten.27 Folglich waren die billigen Prostituierten (蹴ころ kekoro, 不見転 mizuten), die nur für Geld mit jedem Kunden verkehrten, auch im Vergnügungsviertel geächtet. »›Kurtisanen können nicht mit Geld, sondern nur mit ikuji gekauft werden‹, so war die Regel in den Teehäusern. Man lobte tayû-rangige Kurtisanen: ›Sie berühen kein Geld, kennen keinen Preis, leben frei von Jammer. Sie verhalten sich wie Prinzessinnen von einer hofadeligen bzw. daimyôFamilie‹. Kurtisanen von Yoshiwara zeigten yabohaften Milionären immer wieder die kalte Schulter.« (Kuki [[九鬼]] 1979: 24, eigene Übersetzung; vgl. dt.: 17; engl.: 20 f.)28 Die iki-Semantik ist nicht nur als Interaktionssemantik, sondern auch als Individualitätssemantik zu verstehen. In ihrer Emergenz vollzieht sich der Wandel der Individualitätsformel: nicht mehr durch die Zugehörigkeit,
26 Ein gutes Beispiel ist die Kurtisane Takahashi (vgl. Ihara [[井原]] 1996 [1682]: 198 ff.; Ihara 1965a: 215 ff.). Sie verweigerte einem ungehobelten Samurai ihre Gesellschaft. Siehe weiter unten in diesem Kapitel. 27 Am besten lässt sich ikuji vielleicht mit folgendem deutschen Sprichwort widergeben: Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom. Auch in einem Wort wie Querkopf scheint mir das Moment des ikuji enthalten zu sein. 28 Im Original: 「『傾城は金でかふものにあらず、意気地にかゆるものとこ ころへべし』とは廓の掟であった。『金銀は卑しきものとて手にも触れ ず、仮初にも物の直段を知らず、泣言を言はず、まことに公家大名の息 女の如し』とは江戸の太夫の讃美�であった。[...] 吉原の遊女は『野暮な 大尽などは幾度もはねつけ』たのである」。 Engl.: »›Courtesans are not to be bought with money; it is ikuji that buy them‹. A high-ranking Edo courtesan would be pleased to be characterized as someone who ›disdains the touch of money, dirty as it is; someone who has no idea of prices of any kind; a woman who lives free of complaint, as if she were truly a daughter of the imperial or daimyo family‹. Prostitutes of Yoshiwara would ›give a cold shoulder to rich but yabo (boorish) men over and over again.‹«
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sondern durch die Einzigartigkeit einer Person definiert wird.29 Denn das Problem der doppelten Kontingenz entsteht erst dann, wenn die Akteure individualisiert sind. Mit anderen Worten: Das Problem der doppelten Kontingenz tritt nur dann auf, wenn bereits Person und Rolle bzw. Interaktion und Gesellschaft ausdifferenziert sind. Der mit iki in Verbindung stehende verwegene Lebensstil und die Streitlust, die in der Bedeutung mitschwingt, sind hierfür Indizien. Die These der iki-Semantik als Individualitätssemantik wird darüber hinaus dadurch gestützt, dass ein mit den gesellschaftlich vorgegebenen Skripten komplett übereinstimmendes Verhalten nicht als iki gilt (vgl. Kuki [[九鬼]] 1979: 24, 50). Ein solches Verhalten kann als jôhin 30 angesehen werden, aber nicht als iki. 31 Es sei hier an den oben (上品) geschilderten Fall der Cyndi Lauper erinnert. Das dritte Moment von iki 29 »Dagegen erwies sich um 1890 eine Frau oder ein Mann wie Oscar Wilde erst durch eine Regelverletzung als frei. In einer Persönlichkeitskultur besteht die Freiheit des einzelnen am Ende darin, daß er sich anders verhält und anders aussieht als die übrigen; Freiheit wird zum idiosynkratischen Selbstausdruck und entwirft kein Bild mehr vom Zusammenleben der Menschheit als ganzer«. (Sennett 2008: 338) 30 Jôhin bedeutet wörtlich übersetzt der Oberschicht angehörig. Häufige japanische Formulierungen umfassen jôhin na ryôri (上品な料理 ein feines Essen), jôhin na fuku (上品な服 ein elegantes Kleid), aber auch jôhin na fujin ((上品な 婦人 eine elegante Dame) oder jôhin na furumai (上品な振る舞い vornehmes Verhalten). Folgende deutschen Wörtern können zur Übersetzung herangezogen werden: elegant, anmutig, fein, kultiviert, raffiniert, gepflegt. Dvon jôhin ist gehin (下品), wörtlich der Unterschicht angehörig. Dieses Begriffspaar spiegelt das Stratifikationsprinzip wider, wie man dem enthaltenen Zeichen jô/ge (上下 oben/unten) entnehmen kann. 31 Hier sei auch an ein bekanntes Fragment von Stendahl erinnert: »La cristallisation ne peut pas être excitée par des hommes-copies, et les rivaux les plus dangereux sont les plus différents.« (Stendahl 1986 [1822]: 189 f., Fragment 106) Die Authentizität bzw. Individualität des Dandys ist bei Stendahl durch die Differenz zu hommes-copies definiert. Um es mit Stendahls Terminologie auszudrücken: hommes-copies repräsentieren das Gegenteil von iki. Kuki weist auf die Nähe des iki-Begriffs zum Dandyismus zum fin de siècle hin, insbesondere mit Verweis auf Les fleurs du mal von Charles Baudelaire (Kuki [[九鬼]] 1979: 93 f.; dt.: 59; engl: 59).
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bezeichnet Kuki als akirame (諦め Resignation). Das iki-hafte Selbst ist nicht das allmächtige, die Welt transzendierende, frei schwebende Bewusstsein, das alle anderen erobern und beherrschen will. Akirame bedeutet Verzicht auf die Weltbeherrschung, Beherrschung des Gegenübers sowie Verzicht auf die Vereinigung mit dem anderen. Denn durch die Eroberung und die Vereinigung des Gegenübers würde das oben genannte, durch die doppelte Kontingenz erzeugte Spannungsverhältnis aufgelöst werden. Anhänglichkeit, Beharrlichkeit, Ehrgeiz, Ambition etc. entziehen sich iki, denn sie schränken ungebundenes, spontanes Verhalten ein. Diese Haltung von akirame nennt Kuki Interessenlosigkeit. Die Interesselosigkeit des ikihaften Subjekts beruht auf der Einsicht, dass Welt und Mitmenschen kein Gegenstand sind, über den das Ich frei verfügen kann. Daraus ergibt sich die Bereitschaft, die Welt zu akzeptieren, wie sie ist. Die Lösung der doppelten Kontingenz ist nicht dauerhaft möglich. 32 Akirame ermöglicht Kuki zufolge Koketterie um der Koketterie willen, Gefallen um des Gefallens willen: »Iki ist Koketterie um ihrer selbst willen. Ernsthaftigkeit und Anhänglichkeit in Liebe ist wegen des beschränkten Möglichkeitsraums nicht wert, iki-haft zu sein. Iki muss als freier Geist, der das Verführerische zelebriert, die fesselnde Liebe transzendieren.« (Kuki [[九鬼]] 1979: 28, eigene Übersetzung; vgl. dt.: 19; engl.: 23) 33 Woher kommt diese Interessenlosigkeit? Die Antwort auf diese Frage liefert das Sprichwort: »yabo ha momarete iki ni naru« (野暮はもまれて 粋になる Mit der Zeit wird yabo durch leidvolle Erfahrungen zu iki; Yabo turns into iki, after so much suffering) (Kuki [[九鬼]] 1979: 26; dt.: 18; engl.: 22). Die Bedeutung dieser Redensart lässt sich anhand des folgenden Beispiels erklären: Ein Mädchen aus der Provinz – vielleicht als Geisha verkauft – lernt im Vergnügungsviertel neue Menschen kennen. Sie lernt 32 Es sei hier noch einmal darauf hingewiesen, dass die honnêteté-Semantik die zerstörerische Ich-Sucht (amour propre) dämpft (Höfer 1986:19). 33 Im Original:「媚態のための媚態である。恋の真剣と妄執とは、その現実 性とその非可能性によって『いき』の存在に悖る。『いき』は恋の束縛 に超越した自由なる浮気心でなければならぬ」。 Engl.: »iki is coquetry for the sake of coquetry. Seriousness and attachment to love go counter to the being of iki, because, in such a case, love has been actualized and is no longer a possibility. Iki must transcend the bonds of love to maintain its free and flirtatious spirit.«
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dort den Umgang mit anderen Menschen auf der Grundlage von Spielregeln, die sich von den Umgangsformen auf dem Land unterscheiden. Der Lernprozess umfasst sowohl positive als auch negative Erfahrungen wie Betrug, verlorene Liebe usw. Das Mädchen gelangt durch die Wiederholung dieser Erfahrungen zu der Einsicht, dass sie ihre Welt und Mitmenschen nicht wie einen Gegenstand nach ihrem Willen lenken kann. Stattdessen lernt sie die Subjektivität ihrer Mitmenschen anzuerkennen und zu akzeptieren, dass sie die Welt so, wie sie ist, hinnehmen muss. Die Resignation in iki verweist nicht notwendigerweise auf einen religiösen – etwa buddhistischen – Zusammenhang. Vielmehr bedeutet Resignation hier Frieden zu schließen mit der Kontingenz der Welt und – insbesondere – mit der doppelten Kontingenz der sozialen Welt. Kuki schreibt iki-Koketterie weniger jüngeren Mädchen als vielmehr älteren, reiferen Frauen zu, die bereits einen gewissen Grad an Welterfahrung erlangt und den Prozess der Resignation durchlebt haben.34 Wie bereits erwähnt, spiegelt die Unterscheidung zwischen iki und yabo die räumliche und soziale Differenzierung zwischen Zentrum und Peripherie wider und setzt Stratifikation voraus: Auf dem Land (Peripherie) ist das interpersonelle Verhältnis überschaubar und das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum ist durch die Inklusivindividualität geprägt. Kuki fasst iki wie folgt zusammen: »Iki lässt die billige Setzung der Wirklichkeit außer acht, klammert waghalsig das alltägliche Leben ein und spielt, über alles tranzendiert, ein autonomes Spiel ohne Zweck und Interesse in der neutralen Atomosphäre.« (Kuki [[九鬼]] 1979: 28, eigene Übersetzung; vgl. dt.: 19; engl.: 23)35 Mit anderen Worten: Die iki-Semantik ermöglicht eine andere soziale Beziehung und schafft somit einen autonomen Raum außerhalb der Restgesellschaft und deren Beharren auf zweck34 Kuki weist deutlich darauf hin, dass Frauen im Vergnügungsviertel eher die Erfahrung der verlorenen Liebe und schmerzvollen Enttäuschung durch Männer durchleben (vgl. Kuki [[九鬼]] 1979: 25; dt.: 17; engl: 21). 35 Im Original:「『いき』は安価なる現実の提立を無視し、実生活に大胆な る括弧を施し、超然として中和の空気を吸いながら、無目的なまた無関 心な自律的遊戯をしている」。 Engl.: »Iki ignores a careless positioning of reality. It boldly brackets everyday life, and engages in autonomous play in a manner disinterested and purposeless, as it breathes a neutral air, transcending all of life around.«
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haften und unpersönlichen Regeln. In diesem Raum wird die Geselligkeit als Selbstzweck postuliert. Historisch gesehen hat sich dieser Raum wie oben dargelegt zum autonomen Raum der Kunst und Kultur entwickelt. Die Ausdifferenzierung von iki auf der semantischen Ebene wird durch die räumliche Differenzierung bedingt. Sie markiert einen wichtigen Schritt in Richtung einer funktionalen Gesellschaftsdifferenzierung. Zugleich geht mit ihr ein Wandel der Inklusionsformel einher: Iki-haftes Verhalten wird nicht aufgrund der sozialen Herkunft erworben, sondern ist durch die Interaktion mit anderen erlernbar; iki invisibilisiert Herkunft und Rang. IV. Iki und honnêteté im Vergleich Der Begriff des honnête homme geht auf die französische Salongesellschaft des 16. Jahrhunderts zurück. Dieser Begriff wurde in mehr oder weniger vom Hof distanzierenden Kreisen weiterentwickelt. Gemeint ist damit »allgemein le monde, die vornehme und gebildete Gesellschaft über den Hof hinaus, im Einzelnen zunächst die sich nach dem Vorbild des herzoglichen Hôtel de Rembouillet (etwa 1613–50) als eigenständige und eigengesetzliche literarisch-soziale Öffentlichkeit neben dem Louvre entwickelnde Pariser Salonkultur« (Höfer 1986: 15). Der Begriff beschrieb zunächst den »gesellschaftlichen Umgang der kulturtragenden Schicht von Aristokratie und gehobenem Bürgertum als den durch individuelle ›Freiheit‹, ›Höflichkeit‹ ‚›Wahrhaftigkeit‹ (vérité, sincérité), einfühlsame Mitmenschlichkeit (commodité), ein gewisses gegenseitiges Vertrauen, aber auch Distanzwahrung gekennzeichneten ›commerce particulier que les honnêtes gens doivent avoir ensemble‹, eine vom Hof völlig absehende ›selbstzweckhafte Gesellschaftlichkeit‹, ein ästhetisches Leben am Rand der realen Verantwortung und abseits der Gesamtgesellschaft, dem – abgesehen von der ›Sublimierung‹ der ›egoistischen‹ Triebe in die soziablen Tugenden der ›complaisance und bienséance‹ zum Zweck des gegenseitigen Vergnügens – positive Gemeinschaftswerte weitgehend fehlen« (Höfer 1986: 20). Der honnête-homme-Begriff markiert den beginnenden Wandel der Inklusionsformel. Denn er beschreibt eine Reihe von Eigenschaften, die nicht durch adelige Herkunft angeboren noch durch standesgemäße Erziehung erworben wurden. »Ein ›honnête homme‹ musste durch zwei Eigenschaften ausgezeichnet sein: allgemeine Bildung (kein Fachmenschentum!) und bedingungslose Geselligkeit.« (Albrecht 1995: 49) Unter diesen Vorausset-
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zungen war honnêteté auf jedes Individuum anwendbar. »Danach kennzeichnet den ›wahren‹ honnête homme weder hochadelige Geburt noch ein äußerer Zweckrationalismus im gesellschaftlichen Umgang, sondern vor allem eine uneigennützig um ihrer selbst willen praktizierte Sittlichkeit« (Höfer 1986: 25). Mit anderen Worten: Dieses von den »Geschmackseliten« (Höfer 1986: 15) postulierte Ideal repräsentierte standesübergreifende Normen (vgl. Albrecht 1995: 80). Die Aneignung dieser im Salon entwickelten Kulturform stand prinzipiell allen sozialen Schichten frei (vgl. Albrecht 1995: 40). Als Ideal wurde sie in sozialen und medialen Kontexten reflektiert. Der Begriff des honnête homme ist z. B. »auch in Molières Komödien der 1660er Jahren durchaus geläufig« und »die sublimierte honnêteté-Konzeption« prägte »überhaupt das Theater und die Literaturästhetik der französischen Klassik wesentlich mit« (Höfer 1986: 17). Auch Cornelia Bohn analysiert im Anschluss an Niklas Luhmann (1993 [1980]: 84) das honnêteté-Konzept als Konversations- und Interaktionssemantik: Bohn zufolge »invisibilisiert [das Konzept] sowohl die regionale Adelsabstammung als auch die funktional spezifische Herkunft aus dem Wirtschafts-, Militär- oder Rechtsbereich« (Bohn 2006: 131). Das honnêteté-Konzept richtet sich gegen jegliche Form der Spezialisierung: »Die Konversation selbst wird im Frankreich des 17. Jahrhunderts als nicht spezialisierte Unterhaltung bestimmt. Die ernsthafte Erörterung von Sachproblemen, Entscheidungsfindungen oder mit dem pejorativen Begriff der Pedanterie belegten Gelehrtengespräche sind nicht konversationsadäquat.36 […] denn in der konversationell organisierten Interaktion, so diese Interesse stützende Auffassung, reproduziert sich Gesellschaft. Die scheinbar zwanglose Unterhaltung darf kein erkennbar anderes Ziel verfolgen als zu gefallen.« (Bohn 2006: 132–133; herv. v. Verf.) Zwischen dem honnêteté-Konzept und dem iki-Begriff lassen sich folgende Parallelen ziehen, die im Folgenden skizzenhaft zusammengefasst werden: 1) Beide Begriffen entstanden in sozialen Kreisen, die außerhalb der Stratifikation zusammentrafen. 2) Diese sozialen Kreise waren durch ihre gesellschaftliche Funktionslosigkeit und die Abgrenzung zum Geburtsadel (in Japan zu Samurai und Hofadel) gekennzeichnet und verstan36 Solcherlei Themen wurden im japanischen Vergnügungsviertel als yabo-haft verschmäht.
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den sich als Geschmackselite; dies ist beispielsweise aus dem Umstand zu schließen, dass sich beide Konzepte zunächst eher in Mündlichkeit statt in Schriftlichkeit ausdrückten. Die Aneignung von iki-hafter Haltung stand zwar allen sozialen Schichten frei, aber man kann sie nur durch Übung in der Interaktion lernen, nicht durch die schriftliche Lektüre drillen. 3) Die doppelte Kontingenz der Interaktion wurde in diesen Semantiken ausschließlich in der Sozialität abgearbeitet. Als Leitunterscheidung ergab sich die Differenz gefallen/nicht gefallen. »So richtet sich die Themenwahl grundsätzlich danach, ob das anvisierte Thema Alter gefällt, ob Alter an die thematische Vorgabe anschließen kann oder nicht. Schneller Themenwechsel ist daher eine der obersten Maximen, um die perhorreszierte Pedanterie oder die gefürchtete Langeweile zu vermeiden und um sich immer wieder des Gefallens beim Gesprächspartner zu versichern.« (Bohn 2006: 133) 4) Die beiden Konzepte dämpften somit notdürftig die »zerstörerische IchSucht (amour propre)« (Höfer 1986: 19). 5) Bei beiden Begriffen ging es um die »verinnerlichte Kunst zu gefallen« – Koketterie im Sinne Kukis (vgl. Höfer 1986: 16). 6) Beide Begriffe wurden sozial reflektiert und medial verbreitet. Das iki-Konzept entstand bereits Mitte des 17. Jahrhunderts, prägte aber maßgeblich Literatur und Kunst in der Kasei-Epoche. Beide Begriffe wurden im Laufe der Zeit ethnisiert. Während die Ethnisierung in Frankreich vor der Großen Revolution einsetzte, trug in Japan die philosophische Schrift des Kuki Shûzô zu dieser Entwicklung bei, in der er im Zuge der Suche nach der nationalen kulturellen Identität Japans angesichts der sich durchsetzenden Industrialisierung und der gesellschaftlichen Rationalisierung auf das iki-Konzept zurückgreift und es durch die gesellschaftstheoretische und phänomenologische Analyse sowie durch die Verfremdung des »Westens« als ethnisch-kulturelles Konzept umdeutet: »The yabo allegorizes the West.« (Harootunian 2000: 233) Für den Philosophen Kuki stellt das autoritäre Subjekt der modernen, westlichen Philosophie seit Descartes, das alles Mögliche vergegenwärtigen, vergegenständlichen, beherrschen und vergewaltigen will, nichts anderes als yabo dar.
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V ERORTUNG DER L IEBE G ENROKU -L ITERATUR
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UND AMOUR PASSION IN DER
Yonosuke, der dreitausendfache Liebhaber: ein Überblick Kôshoku ichidai otoko(好色一代男)37 ist wahrscheinlich nicht nur das erste und bekannteste Werk des Schriftstellers Saikaku, sondern begründete auch eine literarische Gattung, die Sexualität, Erotik und Liebe im Vergnügungsviertel thematisierte und in Form der fiktiven Prosa sublimierte. In der japanischen Literaturgeschichte wurde seit dem Mittelalter vorwiegend die Schönheit der Natur thematisiert. In Saikakus Yonosuke wurden zum ersten Mal die Bürger selbst zum Gegenstand der literarischen Reflexion. Yonosuke blieb kein isolierter Text; bis 1716 sind fast 100 Titel nachgewiesen, die mit den Schriftzeichen »kôshoku« beginnen, daneben noch eine größere Zahl anderer Titelanfänge und Titelbestandteile, die auf ähnliche Inhalte hinweisen (vgl. May 1983: 126; May 1992: 19–20; Yamazaki [[山崎]] [Hg.] 1977). Yonosuke regte zur Etablierung dieses Genres an und trug so dazu bei, die soziale Reflexion in Form der Erzählprosa dauerhaft zu institutionalisieren.38
37 In der deutschen Übersetzung: Yonosuke. Der dreitausendfache Liebhaber. Im Folgenden abgekürzt als Yonosuke. 38 In der japanischen Literaturgeschichte gibt es noch eine weitere Tradition, welche die Liebeskommunikation thematisiert: das Genre des ensho (艶書). Werke dieser literarischen Gattung sind als fiktiver Briefwechsel zwischen einem Mann und einer Frau konstruiert. Dieses Genre entstand zwar schon zur Kamakura-Zeit (鎌倉時代:: 1185 bzw. 1192-1333), doch auch in der Edo-Zeit wurden noch solche Liebesbriefe verkauft und als Muster verwendet (Suzuki [[鈴木]] 1974: 21 ff.). Zu diesem Genre vgl. insbesondere Teruoka (暉峻) 1943 und Ogawa ((小川)) 2004. Die vermutlich älteste Sammlung von ensho, Omoi no tsuyu (思露; etwa Tautropfen der Passion), wurde von Nijô Yoshimoto (二条良 基: 1320–1388, Hofadel) im 14. Jahrhundert verfasst. Hierin orientierte er sich an den Gewohnheiten am Kaiserhof in Kyôto einerseits und an der literarischen Tradition seit der Geschichte des Prinzen Genji andererseits (vgl. Ogawa [[小川]] 2004: 63 f.). Leider kann hierauf in der vorliegenden Arbeit nicht eingegangen werden. Der bekannteste Titel dieser Gattung ist Usuyuki Monogatari (薄雪物
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Der Held des Romans, Uki Yonosuke, strebt lebenslang nach Liebe, Erotik und Sexualität. Dieses Streben beginnt mit seinem siebten Lebensjahr und dauert bis in sein sechzigsten an, als er Japan verlässt und sich auf den Weg nach Nyogo no shima ((女護の島)) macht – ins legendäre Paradies der Liebe und Sexualität. Wichtig sind in diesem Werk folgende Aspekte: 1. Die Aufwertung von Sexualität und Liebe als Selbstzweck: Nach der feudalgesellschaftlichen Norm diente Sexualität ausschließlich dem Erhalt des Hauses und stützte ihre Legitimation allein auf den Zweck der Fortpflanzung (vgl. Kischka-Wellhäusser 2004: 35 ff.). Der gepriesene Held Yonosuke hingegen teilt lebenslang Liebe, Geselligkeit, Erotik und sexuelle Begegnungen mit zahlreichen Frauen und Freunden, aber er gründete weder eine Familie noch zeugt er Kinder. Seine Lebensführung kann damit als Rebellion gegen den Sexualcode der stratifizierten Gesellschaft zum Zweck der Reproduktion des Teilsystems gewertet werden. 2. Die soziale Herkunft des Helden: Yonosuke entstammt weder dem Hofadel (kuge) noch der Samurai-Schicht. Er ist ein Bürger, der nach der feudalen Rangordnung als dritter oder vierter Stand gilt. Sein Vater ist ein vermögender »Dandy«; seine Mutter eine Kurtisane. Im Verlauf der Geschichte erbt Yonosuke ein großes Vermögen, mit dem er sich die Gesellschaft von Kurtisanen leisten kann, ohne in finanzielle Not zu geraten. Damit eröffnet sich ihm ein Handlungsspielraum jenseits von ökonomischer Sorge, politischer Macht und sozialem Rang. Die Schaffung dieses Spielraums bedeutete zugleich die Differenzierung der (noch) als »feudal« beschriebenen Gesellschaft und Interaktion, wie oben dargestellt. 3. Verkörperung des iki-Ideals in Yonosuke: Zwar taucht Yonosuke in verschiedenen Episoden des Gesamtwerks als Protagonist auf, dieses ist jedoch insgesamt eher als Anthologie konstruiert. Eine umfassende Darstellung des Wesens Yonosukes wird man darum vergeblich suchen. Vielmehr wird ihm als Tsû-jin – als Kenner des iki-Codes – die Rolle des Richters zugewiesen, der das Verhalten der anderen Figuren einem Werturteil unterzieht. Dies gilt insbesondere 語;; Die Geschichte der Prinzessin Usuyuki, 1632). Er verkaufte sich so gut, dass weitere Auflagen in den Jahren 1664, 1669, 1680, 1686 gedruckt wurden (vgl. Suzuki [[鈴木]] 1974: 22; auch May 1974: 119). Bis zum Ende der Edo-Zeit, also bis 1867, gingen 25 Auflagen in den Druck (vgl. Nagatomo [[長友]] 2010: 135). Zu ensho-bungaku siehe weiter Suzuki ((鈴木)) 1974; vgl. auch Kobayashi (小 林)1998.
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für den zweiten Teil des Yonosuke (Hefte 5–8). Hingegen ähnelt die Erzählform in Heft 1–4 eher einem Bildungsroman, in dem Yonosuke Schritt für Schritt Verhaltensregeln im Umgang mit Frauen erlernt und sich als Meister in Sachen Liebe und Sexualität hervortut. Im Vordergrund der literarischen Darstellung stehen die Reflexion des Verhaltens der Figuren einerseits und der Sitten und Gewohnheiten im Vergnügungsviertel andererseits. Weibliche Figuren, die den Umgang mit Yonosuke pflegen, sind zumeist tayû, Kurtisanen des höchsten Rangs, denn nur sie besaßen die Freiheit, sich auf eine Beziehung einzulassen oder sie abzulehnen. Nur ihnen war es somit aus ökonomischer Sicht möglich, eigene Entscheidungen zu treffen und frei mit Gästen des Vergnügungsviertels Interaktion zu genießen. Vor diesem Hintergrund will ich im Folgenden drei bekannte Yonosuke-Episoden anführen, die von den Interaktionen des Helden mit verschiedenen Kurtisanen handeln. Im Anschluss werde ich die Erzählungen einer Analyse unterziehen. Die Kurtisane Yoshino (( 吉 野 大 夫 ;; Ihara [[ 井 原 ]] 1996 [1682]: 136 ff.; Ihara 1965: 149 ff.)))) 39 Als der Lehrling eines armen Schwertschmieds während einer ihrer Prozessionen zufällig die tayu Yoshino erblickt, verliebt er sich in sie. Nur einmal in seinem Leben will er ihr Gast sein. Tag und Nacht arbeitet er hart, um die 53 Momme40 zusammen zu sparen, die man als Yoshinos Gast aufbringen muss. 53 Nächte schmiedet er jede Nacht ein Schwert. Zwar gelingt es ihm so, den benötigten Betrag aufzubringen, doch aufgrund seiner niederen sozialen Stellung hat er – so nimmer er an – keine Chance, von Yoshino empfangen zu werden: »Es gab keine Möglichkeit, Yoshino seine Liebe zu offenbaren, und jeden Tag waren seine Ärmel nass von seinen Tränen.« 41 Yoshino erfährt vom Leid des Schmiedelehrlings und sagt sich: »Es ist sehr rührend, so geliebt zu werden, dafür will ich ihm danken.« Sie empfängt 39 Siehe auch Teruoka 2000: 10. 40 Eine historische Währung im frühneuzeitlichen Japan 41 Vgl. mit dem europäischen Mittelalter. »Im Mittelalter war sie [die Unerreichbarkeit der angebeteten Frau] durch Standesdifferenzen garantiert« (Luhmann 1982: 59).
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ihn schließlich heimlich. Als der Lehrling sie sieht, fließen ihm Tränen der Rührung über die schmutzigen Wangen. »Dass Ihr mich so freundlich empfangen habt, werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Mein größter Wunsch ist erfüllt, ich bin überglücklich!« Er dankt Yoshino und will sich verabschieden, ohne sie berührt zu haben, aber sie hält ihn zurück: »Wartet einen Augenblick, so könnt Ihr nicht fortgehen, kommt zurück ...« Dieses Ereignis rührt Yonosuke, der ein Stammgast Yoshinos ist, so sehr, dass er sie heiratet. Damit bringt er jedoch seinen Clan – insbesondere die Damen des Hauses – gegen sich auf. Angesichts des Familienzwists legt Yoshino ihm nahe, sie zu verlassen. Aber Yonosuke zögert. Also schmiedet sie einen Plan und schickt in seinem Namen ein Einladungsschreiben an seine Verwandten: »Ich, Yonosuke, werde Yoshino morgen freigeben. Euch bitte ich darum, mich wieder als vollwertiges Clanmitglied zu akzeptieren und mir nicht länger Eure Gesellschaft zu verwehren. Gerade jetzt stehen die Kirschbäume in voller Pracht. Zu diesem Anlass möchte ich alle Damen des Hauses zu mir einladen.« Ihr Plan gelingt und alle Verwandten erscheinen am nächsten Tag vor Yonosukes Haus. Während des Empfangs erscheint auch Yoshino in einem hellblauen Kleid mit einer roten Schürze, ein Baumwolltuch um den Kopf gebunden – die Tracht eines Dienstmädchens. Ehrfürchtig verbeugt sie sich vor der ältesten Dame des Clans und erklärt mit viel Charme. »Ich bin die Kurtisane Yoshino. […] Ich weiß wohl, dass ich nicht würdig bin, bei dieser vornehmen Gesellschaft zu erscheinen. Heute werde ich Yonosuke darum freigegeben und heimkehren. Zum Abschied möchte ich den Damen ein Lied singen.« Alle sind gerührt und hören ihr schweigend zu. Danach spielt Yoshino auf der Koto42, dichtet Fünfzeiler (waka) und bereitete den Tee auf vornehmste Weise zu. Meisterhaft führt sie damit alle Fähigkeiten vor, die eine vornehme Dame beherrschen muss. Nicht nur mit ihrer Bildung in Religion und Philosophie, sondern auch mit guten persönlichen Ratschlägen weiß sie zu überzeugen. Zum Schluss erklärt die älteste Dame des Hauses »Es gibt keinen Grund, warum Yonosuke Yoshino freigeben sollte. Sogar wir Frauen haben die angenehme, unterhaltsame Zeit mit ihr genossen.«
42 Ein japanisches Musikinstrument, eine Art Zither.
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Die Kurtisane Mikasa ( 三 笠 太 夫 ; Ihara [[ 井 原 ]] 1996 [1682]: ) 166 ff.; Ihara 1965: 185 ff.) Als Yonosuke einmal die Kurtisane Mikasa im Teehaus ihres Herrn Gonzaemon in Kyôto trifft, verliebten sich die beiden unsterblich ineinander und versprechen einander, sich bis in den Tod nicht mehr zu trennen. Das anfängliche Glück der Liebenden zerbricht, als Gonzaemon alte Schulden von Yonosuke zurückfordert. Yonosuke, seines Daseins überdrüssig, erwägt, seinem Leben ein Ende zu setzen, doch Mikasas Liebe hält ihn davon ab. Ihre regelmäßigen geheimen Treffen bleiben nicht unbemerkt und bald weiß die ganze Stadt um ihre geheime Liebschaft. Mikasa sieht sich Gonzaemons Zorn und seinen wiederholen Demütigungen und Gewaltausbrüchen ausgesetzt, doch ihre Liebe zu Yonosuke will sie nicht aufgeben. Schließlich ist Gonzaemons Geduld mit der starrköpfigen Mikasa am Ende. Nur mit einem Untergewand bekleidet fesselt er sie in der Kälte des Novembers an einen Weidenbaum. Noch immer gibt Mikasa nicht auf; sie ist sogar bereit für ihre Liebe zu sterben. Als Yonosuke in einem Brief von Mikasas Entschluss erfährt, kleidet er sich in ein Totengewand und eilt zu ihr, um mit ihr gemeinsam zu sterben. Am Ende erhält Mikasa doch noch die Erlaubnis, mit Yonosuke zusammenzuleben. Für ihre Treue und Tapferkeit gelangt sie in ganz Japan zu Berühmtheit. Die Kurtisane Takahashi (( 高 橋 太 夫 ;; Ihara [[ 井 原 ]] 1996 ) [1682]:198 ff.; Ihara 1965: 215 ff.) Am Morgen des ersten Schnees hält die Kurtisane Takahashi mit anderen tayû eine Teezeremonie ab. Yonosuke ist als Hauptgast eingeladen. Als sich der schöne Tag dem Ende neigt, erscheint ein Bote aus dem Teehaus Maruya und überbringt Takahashi die Nachricht: »Ein Gast aus Owari ((尾 張))43 erwartet Euch.« Sie macht sich auf den Weg ins Teehaus, empfängt jedoch nicht sofort den wartenden Gast, sondern schreibt Yonosuke zuerst noch einen langen Brief. Als der Teehausbesitzer und seine Gattin sie darum bitten, sich dem Gast zu widmen, schenkt sie ihren Worten keine Beachtung, sondern schreibt seelenruhig ihren Brief zu Ende. Trotz wieder43 Das Fürstentum Owari in der Mitte Japans entspricht geografisch der heutigen Präfektur Aichi ((愛知))..
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holter Aufforderung kehrt sie schließlich zu Yonosuke zurück mit den Worten: »So einen ungeduldigen und aufdringlichen Gast möchte ich nicht empfangen.« Weitere Boten eilen ihr nach, um sie umzustimmen, und sogar Yonosuke redet auf sie ein, doch dem Gast wenigstens für kurze Zeit Gesellschaft zu leisten. Doch sie beharrt auf ihrer Weigerung: »Ich schwöre bei allen Göttern Japans, dass ich heute bestimmt nicht gehe, auch wenn es mich mein Leben kosten sollte.« Yonosuke scherzt: »Der Gast wird kommen und dich mit seinem Schwert in zwei Hälften teilen. Ihm will ich die untere Hälfte von dir überlassen, die obere Hälfte werde ich selbst behalten.« Takahashi erwidert: »Gut, ich bin bereit, mich von ihm töten zu lassen«, und bittet Yonosuke, auf der Shamisen44 zu spielen. Dazu summt sie ein Lied und legt den Kopf in seinen Schoß. In diesem Augenblick stürmt der Samurai aus Owari vor Wut schäumend mit gezogenem Schwert ins Zimmer. Takahashi würdigt ihn keines Blickes, sondern singt leise und furchtlos weiter. Zuletzt erscheint der Teehausbesitzer des Maruya und zwingt Takahashi, mit ihm zurückzukehren: »Wenn Takahashi nicht nachgibt, dann darf sie heute weder den Gast aus Owari noch Yonosuke sehen.« Die Geschichte der legendären tayû Yoshino wurde auf diese Weise fiktiv in Yonosuke verarbeitet. Yoshino wird als künstlerisch und literarisch gebildete sowie unterhaltsame Dame von Welt charakterisiert, die den Damen aus der Oberschicht eine angenehme Gesellschaft zu bieten weiß. Dank ihrer guten Menschenkenntnis meisterte sie den Umgang mit anderen geschickt und mühelos. Yoshino überwindet die Grenzen von Teilsystemen wie Clan und Stand, die in der stratifizierten Gesellschaft nach dem Prinzip der Vollinklusion strukturiert sind. In dieser Episode wird die alte Liebessemantik der stratifizierten Gesellschaft deutlich. Yoshino wird noch idealisiert als die perfekte Frau, die Schönheit, Bildung, Kunstkenntnisse, adligen Seele, guten Umgang und Etikette auf sich vereint. Doch die Evolution hin zur Paradoxierung ist bereits ersichtlich. Ihre – positiv gewertete – Zuneigung zu dem Schmiedelehrling zeigt, dass soziale Hemmnisse wie Rangunterschiede unter der Voraussetzung der Wahrhaftigkeit des Gefühls bereits relativiert werden. Die Episode macht deutlich, dass die Ehrlichkeit des Herzens der Schlüssel zur Liebe einer tayû ist. Legitimation für die Liebesbeziehung ist nicht länger der objektiv messbare soziale Rang, son44 Dreisaitiges Zupfinstrument, eine Art Laute.
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dern die subjektive Welt. Postuliert wird hier ein von äußeren Mächten, Autoritäten und Zwängen freier, autonomer Raum des Inneren. Dieses Innere wird zur moralischen und ästhetischen Richtinstanz, die die Regeln der Geselligkeit steuert. Die Verabschiedung vom Ideal und der Ansatz der Paradoxierung – Liebe im Leid – der Liebessemantik finden sich auch in den anderen Erzählungen. Die tayû Mikasa wird dafür belohnt, dass sie sich trotz der Demütigungen ihres Dienstherrn für die Liebe zu Yonosuke entscheidet, obwohl dieser in finanziellen Schwierigkeiten steckt. Hier ist der ikuji-Moment ersichtlich, der in der vorliegenden Arbeit im Rahmen der iki-Semantik thematisiert wurde: Yonosuke wird geliebt, obwohl er kein Geld hat. Mikasa widersetzt sich, stärker noch als in der Yoshino-Episode, der sozialen Autorität und ihrer Logik (hier repräsentiert durch Mikasas Dienstherrn). Diese Entwicklung ist auch in der Takahashi-Erzählung zu beobachten. Der Samurai in dieser Episode, ein Gast aus Owari, missachtet die Geselligkeitsregeln der Zeit. Er gibt sich ungeduldig, aufdringlich und autoritär. Wie in dieser Episode beispielhaft gezeigt wird, muss ein Adliger, der die Etikette des Vergnügungsviertels nicht zu würdigen weiß, trotz seines Rangs mit einer Abfuhr vonseiten der Kurtisane rechnen. Die Gesellschaft einer tayû kann nicht erzwungen werden. Die politische, ständische oder finanzielle Stellung spielt im Vergnügungsviertel keine wesentliche Rolle. Eine iki-hafte Person, d. h. eine Person, die sich wie Yonosuke und Takahashi in der Semantik der Geselligkeit jener Zeit auskennt, beugt sich keiner anderen Autorität. Wer, wie der Samurai aus Owari, diese Regeln der Geselligkeit und Liebe nicht kennt oder zu schätzen weiß, hat es nicht verdient, eine Kurtisane für sich zu gewinnen. In diesen Erzählungen zeigt sich, dass die Entwicklung von der Inklusions- zur Exklusionsindividualität zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Yonosuke bereits begonnen hat: Die Identität des Individuums wird nicht länger durch das Teilsystem bestimmt, sondern durch das, was nicht mehr zum Teilsystem gehört. Im nächsten Abschnitt werde ich auf ein weiteres bekanntes Werk Saikakus eingehen, Fünf Geschichten von liebenden Frauen (Ihara [[井原]] 1996 [1686]; dt.: Ihara 1960; im Folgenden Fünf Geschichten). Ziel der Analyse ist eine vertiefte Einsicht in die Verortung der Liebe in der Gesellschaft in
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der Genroku-Epoche. Fünf Geschichten besteht aus fünf Liebeserzählungen, die sich außerhalb des Vergnügungsviertels abspielen. Fünf Geschichten von liebenden Frauen ( 好 色 五 人 女 ) Yonosuke ist kein Liebesroman im modernen Sinne; in Fünf Geschichten finden sich Episoden, die als moderner Liebesroman bezeichnet werden können. Dies sind die Titel der fünf Episoden: 1. O-Natsu und Seijûrô; 2. O-Sen, Frau eines Fassbinders; 3. O-San, Frau eines Kalendermachers, und Shigeemon, ihr Hausdiener; 4. O-Shichi, die Tochter eines Krauthändlers, und Kichisaburô; 5. O-Man und Gengobei. Im Folgenden möchte ich zunächst den Inhalt der fünf Episoden zusammenfassen:45 1. O-Natsu und Seijûrô Seijûrô, der Sohn eines Sake-Brauers, arbeitet als Diener im Hause der Kaufmannsfamilie Tajimaya. Dort lernt er O-Natsu, eine Schwester seines Dienstherrn, lieben und wird mit ihr intim. Sie verlassen das Haus und flüchten in Richtung Ôsaka und Kyôto. Doch ihre Flucht scheitert und Seijûrô wird festgenommen und des Diebstahls von 700 ryô46 bezichtigt, die kurz vor ihrer Flucht aus dem Hause Tajimaya verschwunden sind. Er wird zum Tode verurteilt und hingerichtet. Als das verlorene Geld wieder auftaucht, wird seine Unschuld festgestellt. Als O-Natsu von der Hinrichtung ihres Geliebten erfährt, will sie ihm in den Tod folgen, doch es gelingt ihren Verwandten, sie umzustimmen, und die Geschichte endet damit, dass sie Nonne wird. 2. O-Sen, die Frau eines Fassbinders Die kluge und schöne O-Sen arbeitet seit ihrem vierzehnten Lebensjahr in einem Haus in Tenma. Ein Fassbinder verliebt sich in sie und auf einer arrangierten Pilgerreise kommen sie einander näher. O-Sen kann ihn nicht 45 Diese Erzählungen wurden auch von anderen Autoren literarisch verarbeitet. Zur Geschichte von O-Natsu und Seijûrô siehe z. B. Chikamatsu ((近松)) 1997 [1707]: 13–59; zu Gengobei und O-Man siehe Chikamatsu ((近松)) 1997 [1704]: 267–335; zur Geschichte der Frau des Kalendermachers siehe z. B. Chikamatsu ((近松)) 1998 [1715]: 529–581. 46 Eine historische Währung im frühneuzeitlichen Japan
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vergessen und ihre Arbeit beginnt unter ihrer Sehnsucht zu leiden. Schließlich wird sie von ihrem Herrn entlassen und mit dem Fassbinder verheiratet. Nach anfänglichem Eheglück gerät sie eines Tages in den Verdacht, Ehebruch mit einem Nachbarn namens Chôzaemon begangen zu haben. Um sich an dessen Frau zu rächen, deren wiederholten Demütigungen sie ausgesetzt ist, fasst O-Sen den Entschluss, ihn tatsächlich zu verführen. Als ihr Versuch entdeckt wird, begeht sie Selbstmord und Chôzaemon wird hingerichtet. 3.
O-San, die Frau eines Kalendermachers, und Shigeemon, ihr Hausdiener Während der Abwesenheit ihres Mannes schläft O-San, die schöne Ehefrau eines Kalendermachers, unbeabsichtigter Weise mit Shigeemon, einem ihrer Diener, über den sie sich eigentlich nur lustig machen wollte. Sie verlassen das Haus, verwischen ihre Spuren und geben vor, gemeinsam Selbstmord begangen zu haben. Eine Weile leben sie zusammen glücklich in der Provinz Tango (丹後), ehe sie schließlich entdeckt, festgenommen und hingerichtet werden. 4.
O-Shichi, die Tochter eines Krauthändlers, und Kichisaburô Um sich vor einem Feuer, das in ihrer Heimatstadt Edo ausgebrochen ist, in Sicherheit zu bringen, rettet sich O-Shichi, die Tochter eines Krauthändlers, zusammen mit ihrer Mutter in einen Tempel. Dort lernt sie Kichisaburô, einen Jungen von adligem Aussehen kennen, der sich wegen eines Splitters in seinem linken Zeigefinger sorgt. Sie verlieben sich ineinander. Um der strengen Kontrolle durch ihre Eltern zu entgehen, wird O-Shichi zur Brandstifterin, weil sie hofft, in den Wirren des Feuers Kichisaburô wiedersehen zu können. Sie wird daraufhin festgenommen und zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Als Kichisaburô, der sich von einer schweren Krankheit aus Liebeskummer erholt, von O-Shichis Tod erfährt, versucht er zunächst, aus Verzweiflung Selbstmord zu begehen. Schließlich kann er aber dazu überredet werden, Mönch zu werden, um so den Tod der Geliebten zu betrauern.
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5. O-Man und Gengobei Gengobei, ein Knabenliebhaber, verliert innerhalb kürzester Zeit zwei seiner Geliebten und tritt aus Verzweiflung in den Mönchsstand ein. O-Man, die Tochter eines Kaufmanns, verliebt sich in ihn und sucht ihn in Verkleidung eines jungen Mannes auf. Sie lässt ihn ewige Liebe schwören, bevor sie mit ihm intim wird. Trotz der Enttarnung als Frau setzt sie sich durch und hält an ihm fest. Nach ihrer Heirat leben sie zunächst in Armut, erben schließlich aber das Vermögen von O-Mans Eltern, die Gengobei als Ehegatten ihrer Tochter anerkennen. Mit der Ausnahme der Erzählungen um O-Natsu und Seijûrô sowie OShichi und Kichisaburô sind die hier geschilderten Episoden aus Fünf Geschichten nicht als »Liebeserzählungen« im modernen Sinne zu interpretieren. Die Episoden um O-Sen und O-San behandeln das Thema des Ehebruchs, wobei letztere das allmähliche Entstehen einer emotionalen Bindung zwischen den beiden anfänglichen Kontrahenten andeutet. Hier zeigt sich, dass die Liebe oftmals nicht in die Ehe integriert war, sondern im Gegensatz zu ihr stand und in diesem Sinne als moralisch verwerflich galt. Chikamatsu Monzaemon und seine Dramen: der Doppelselbstmord der Liebenden Im Gegensatz zu Saikakus Werken zeichnen sich die Dramen Chikamatsus deutlicher als »Liebestragödien« ab. Chikamatsu schrieb seine Dramen für das jôruri-Puppentheater, das sich – anders als das deutsche Kasperletheater – an ein erwachsenes Publikum richtete. Darüber hinaus erfüllte das Theater in Japan in der Genroku-Epoche die Funktion der Verbreitungssmedien, was sich auch in der Themenwahl Chikamatsus widerspiegelte. Neben mehr als 80 historischen Dramen verfasste er 24 Dramen zu zeitgenössischen Ereignissen (世話物 sewamono).47 Dazu gehören auch Dramen, die das Thema des Doppelselbstmords, auf Japanisch shinjû, behandeln, wie beispielsweise Sonezaki shinjû (心中物 shinjû mono). Etymologisch besteht der Begriff shinjû (心中) aus zwei Zeichen: shin ((心) = Herz und jû ((中)= das Innere (vgl. Seki [[関]] 1996: 15). Dieselbe Verbindung wird shinchû ausgesprochen, wenn damit der subjektive, innere Raum der Ge47 Zu den sewamono von Chikamatsu siehe z. B. Iguchi ((井口)) 1998.
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danken und Emotionen gemeint ist, und man verwendet den Begriff in Konstruktionen wie shinchû wo akasu (心中を明かす Farbe bekennen) oder shinchû wo yomu (心中を読む die innersten Gedanken von jemandem lesen). Das 1704 publizierte Shinjû ôkagami registrierte 21 Doppelselbstmorde, die sich in der Genroku-Epoche (1688–1703) ereignet hatten (Shohôken [ 書 方 軒 ] 1981 [1704; 1910]: 181–233). Zwar stellte das Shôgunat Doppelselbstmord unter höchste Strafe, aber trotzdem nahm die Zahl der Doppelselbstmordversuche nach der Aufführung von Sonezaki shinjû (曽根崎心中) zu. Dies veranlasste das Shôgunat dazu, im Jahr 1724 sämtliche Aufführungen von Dramen zum Thema Doppelselbstmord zu verbieten. Die Texte der Dramen wurden jedoch nicht verbrannt und blieben so Teil des kulturellen Gedächtnisses. 曽 根 崎 心 中 Der Doppelselbstmord von Sonezaki shinjû (曽 Sonezaki, 1703)4849 Tokubei (25), der für einen Sojasoßenhändler in Ôsaka arbeitet, liebt die junge Kurtisane O-Hatsu (19). Da Tokubei den Drängen seines Onkels und Herrn, der ihm die Nichte seiner Gattin zur Frau geben möchte, nicht nachgeben will, ist er gezwungen, die von seiner Mutter bereits angenommene Aussteuer zurückzuzahlen und Ôsaka zu verlassen. Ein Freund, der Ölhändler Kuheiji, betrügt ihn um das Geld, das er seinem Herrn schuldet, und demütigt ihn somit vor seinen Freunden. Angesichts der ausweglosen Situation beschließen Tokubei und O-Hatsu, gemeinsam Selbstmord zu begehen. 心 中 天 網 島 Der Doppelselbstmord Shinjû ten no amijima (心 von Amijima, 1721) 50 Die Liebenden Koharu von Kinokuniya (19), eine Kurtisane, und Jihei, ein Papierkaufmann (28), schwören sich, gemeinsam in den Tod zu gehen. Doch Koharu verrät einem ihrer Gäste, dass sie, entgegen ihres Versprechens gegenüber Jihei, nicht zu sterben bereit sei. Jihei, der sie bei der 48 The Love Suicides at Sonezaki: Die englischen Titel der Dramen Chikamatsus sind der von Donald Keene übersetzten englischen Ausgabe entnommen (Chikamatsu 1961). 49 Vgl. auch Shohôken (書方軒) 1981 [1704; 1910]: 210 f. 50 The Love Suicides at Amijima.
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Beichte belauscht, entrüstet sich über ihren Verrat. Von seinem Bruder Magoemon lässt er sich dazu überreden, Koharu zu verlassen, und wirft ihr zum Abschied ihren Schwurbrief vor die Füße. Als er nach Hause zurückkehrt, erfährt er, dass Koharu von einem Gast freigekauft werden soll. Es stellt sich heraus, dass O-San, Jiheis Ehefrau, Koharu in einem Brief dazu überredet hat, ihn aufzugeben, um ihren Mann von dem geplanten Selbstmord abzuhalten. Jihei und O-San ahnen, dass Koharu sich im Fall eines ungewollten Freikaufs durch Jiheis Kontrahenten umbringen wird. O-San stellt daraufhin ihr Vermögen zur Verfügung, um Koharu zu retten, der sie sich freundschaftlich verbunden fühlt. Doch ihr Vater, empört über diese Wendung, fordert O-San zurück. In ihrer Verzweiflung fliehen Jihei und Koharu schließlich in einen Tempel in Amijima, wo sie sich letztendlich doch gemeinsam das Leben nehmen. 心 中 宵 庚 申 Der Doppelselbstmord am Shinjû yoigôshin (心 Vorabend des kôshin-Fests, 1722) Hanbei, ein Krauthändler, kehrt zum 17. Todestag seines Vaters in seine Heimatstadt zurück. Während seiner Abwesenheit weist seine Adoptivmutter seine Frau Chise ab. Zufällig treffen sich Hanbei und Chise im Hause ihres kranken Vaters. In seinem Beisein schwört ihr Hanbei ewige Liebe. Gemeinsam kehren beide nach Ôsaka zurück, doch Hanbeis Adoptivmutter verbietet Chise, weiter mit ihm zusammenzuleben. Aus dieser ausweglosen Situation heraus beschließen die Helden, gemeinsam in den Tod zu gehen. 心 中 万 年 草 Der Doppelselbstmord im Shinjû man’nensô (心 Frauentempel, 1710) 51 Kumenosuke, ein Tempeldiener, und O-Ume, die Tochter eines Papierhändlers, pflegen eine heimliche Liebschaft. Sie planen, für Kumenosuke einen gefälschten Antrag auf Entlassung aus dem Tempeldienst zu stellen, um zusammen sein zu können. Doch die Beziehung fliegt auf, als sie statt des gefälschten Antrags dem Tempel versehentlich einen Liebesbrief OUmes an Kumenosuke zustellen. Kumenosuke wird daraufhin exkommuniziert und aus dem Tempel verbannt. Kurz vor der arrangierten Hochzeit OUmes mit einem Korbhändler fliehen die Liebenden. In einem Tempel treffen sie Kumenosukes Schwester, die er seit langem nicht mehr gesehen hat. 51 The Love Suicides in the Women’s Temple.
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Sie trägt die Urne seines Vaters bei sich. Sie sagen ihr Lebewohl und nehmen sich vor der Urne das Leben.
B EMERKUNGEN ZUR L IEBESSEMANTIK G ENROKU -L ITERATUR
IN DER
In diesem Abschnitt soll mit den oben vorgestellten Beispielen kurz auf das Reflexionsniveau des Liebescodes und die Ausdifferenzierung der Liebe in der Genroku-Epoche eingegangen werden. Reflexivität taucht in diesem Problemzusammenhang in zweifacher Weise auf: a) Reflexion der Gesellschaft über den Liebescode und seine Ausdifferenzierung sowie b) gesteigerte Reflexivität in der Liebeskommunikation. Ein konkretes Beispiel dafür ist der Zweifel an der Liebe in der Liebeskommunikation und die Suche nach der Authentizität von Liebe. Im Folgenden wird zusammengefasst: 1) Ausdifferenzierung des Kommunikationsmediums »Liebe«; 2) die Differenzierung von schriftlicher und mündlicher Kommunikation; 3) das Verhältnis von Repräsentationsmedien und sozialer Praxis; und schließlich 4) Exzess als Liebesbeweis (amour passion) und Emergenz des Präferenzcodes »Liebe«. 1) Sowohl Saikakus Fünf Geschichten und Yonosuke als auch Chikamatsus Dramen bereiten reale Ereignisse literarisch auf. Diese Tatsache spricht dafür, dass die Genroku-Gesellschaft bereits ein gewisses Reflexionsniveau erreicht hatte. Nach Torigoe (鳥越 in: Chikamatsu [[近松]] 1997; 1998) war die Bevölkerung mit den realweltlichen Inhalten der Werke bereits mehr oder minder vertraut. Diese Geschichten, die damit auch als Beobachtungen gelesen werden können, kennen zudem iro (色:: Liebe und Sexualität) als Reduktionsmechanismus der doppelten Kontingenz. 52 Sie wissen Liebe (iro 色)) als den vom sozialen Rang unterscheidbaren Beweggrund der Protagonisten zu beschreiben und diesen zuzurechnen. Die aus der Heian-Literatur überlieferte Liebessemantik wurde angesichts der Ereignisse in der Genroku-Gesellschaft modifiziert und in ihrer modifizierten Form zur Beschreibung der neuen Realität angewandt. Zwar kann im Hinblick auf die Literarisierung des Doppelselbstmords aus Liebe angeführt 52 Die Unterscheidung zwischen den Liebessemantiken iro-koi und ren’ai ist Gegenstand des Kapitels 5.
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werden, dass sich nicht wenige der männlichen Protagonisten nicht primär aus Liebe, sondern aus anderen Gründen – meist finanzieller Natur – das Leben nehmen (vgl. Shohôken [[書方軒]] 1981 [1704; 1910]), für die Heldinnen, typischerweise Kurtisanen, besteht jedoch keine Notwendigkeit, ihren Geliebten ins Jenseits zu folgen. Versteht man die Beziehung zwischen Kurtisane und Kunde im Vergnügungsviertel einzig und allein unter dem Aspekt der käuflichen Liebe, ist nicht ersichtlich, warum die Kurtisane durch die Beziehung zu einem Kunden in einer finanziellen Notlage in eine ausweglose Situation geraten sollte, die ihr keine andere Möglichkeit lässt, als gemeinsam mit ihm den Freitod zu wählen. Das Medium Liebe wird eingesetzt, um das Problem der doppelten Kontingenz durch die Deutungsmöglichkeit der Liebe als Grund für den Selbstmord zu lösen. Die Semantiken jener Zeit machten es möglich, Liebe als Beweggrund heranzuziehen, um die aufeinander abgestimmten Entscheidungen von zwei Akteuren zu beschreiben. 2) Die Ausdifferenzierung der schriftlichen Kommunikation gegenüber der mündlichen war in der Genroku-Epoche bereits weit fortgeschritten, was bereits für einen Wandel des Gesellschaftssystems spricht, da segmentare Differenzierung eigentlich nur die mündliche Kommunikation zwischen Anwesenden kennt. Die an eine bestimmte Person adressierte schriftliche Kommunikation (z. B. der Liebesbrief) trägt zur Differenzierung der intimen und anderer Kommunikation bei. In den Fünf Geschichten spielt der Briefverkehr eine entscheidende Rolle. So trägt etwa der Briefverkehr zwischen Seijûrô und O-Natsu zur Vertiefung ihrer Beziehung bei, da sie sich im Hause ihres Bruders nicht offen treffen dürfen (vgl. Ihara [[井原]] 1996 [1686]: 265; Ihara 1960: 15). Der Fassbinder versucht anfangs vergeblich, seine Gefühle O-Sen gegenüber in Liebesbriefen auszudrücken (vgl. Ihara [[井原]] 1996 [1686]: 283; Ihara 1960: 34). O-Sans Brief an den jungen Diener Shigeemon, den sie eigentlich nur anstelle einer jungen Zofe schreibt, die dessen nicht mächtig war, fungiert als Auslöser für ihre Liebe und den späteren Ehebruch. Und auch O-Shichi und Kichisaburô versichern sich ihre Liebe per Briefverkehr: »Weil sie immer stärker an ihn dachte, schrieb sie ihm insgeheim einen Brief und ließ ihm diesen zustellen. Dann schrieb Kichisaburô zahlreiche zärtliche Briefe zurück. So flocht sich beider Sehnsucht (Verlangen) ineinander, das nennt man Im-Herz-und-
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Seele-eins-sein« (Ihara [井原] 1996 [1686]: 344; eigene Übersetzung).53 Der Briefverkehr ermöglicht eine geheime, vertrauliche und intime Kommunikation. 3) Der sich verselbstständigende Code der Intimbeziehung wurde, wie nicht anders zu erwarten, im Vergnügungsviertel geschmiedet und gefestigt. Briefe von Kurtisanen an Seijûrô fungieren etwa für O-Natsu als Motivator, sich in ihn zu verlieben. Zufällig findet sie einige Liebesbriefe von Kurtisanen, die an Seijûrô gerichtet sind, was sie in Liebe zu ihm entflammen lässt: »[...] Aufgeregt las sie einen Liebesbrief nach dem anderen, bis ihr klar wurde, dass die Zahl der Briefe vierzehn oder fünfzehn betrug, dass sie zwar alle an Seijûro adressiert, jedoch von verschiedenen Frauen abgesendet worden waren. [...] Die Briefe aller Kurtisanen zeigten, dass sie tief in ihn verliebt waren, eine Liebe so innig, als ginge es dabei um Leben und Tod. Es waren ernst gemeinte Briefe ohne oberflächliche, aus Dienstbeflissenheit geschriebene Worte. ›Wenn dem so ist, kann ich sie nicht hassen, wenn auch sie Kurtisannen sind. Er hat sich die Liebe der Kurtisanen während ihrer regelmäßigen Rendezvous verdient. Hat er ein solch inniges und gutes Herz, dass alle Frauen sich in ihn verlieben?‹ Bei diesen Gedanken verliebte sich O-Natsu allmählich selbst in Seijûrô. Seitdem litt sie rund um die Uhr unter Liebeskummer; ihre Seele verließ ihren Körper und drang schwebend in seine Brust; nur wie eine Traumwanderin konnte sie reden [...].« (Ihara [[井原]] 1996 [1686]: 263–264; eigene Übersetzung).54
53 Im Original:「[…] なほおもひまさりて、忍び忍びの文書きて、人しれず つかはしけるに、便りの人かはりて、結句、吉三郎方より、おもはくか ずかずの文おくりける。心ざし、互いに入�乱れて、これを諸思ひとや申 すべし」。 Vgl. Ihara 1960: 88; »Da musste sie noch inniger an ihn denken, schrieb ihm insgeheim ein Brieflein und ließ es ihm ganz verstohlen zustecken. Das hatte sich aber schon mit einer Botschaft von ihm gekreuzt, und bald war es Kichisaburô, der unzählige zärtliche Worte schrieb. So flocht sich beider Verlangen ineinander, dass sie ein Herz und eine Seele waren.« 54 Im Original:「[[…]] 取り乱し読みつづけるに、紙数十四五枚ありしに、当 名皆『清さま』とありて、うら書きは違ひて、[[……]]。いずれを見ても、 皆女郎のかたより、ふかくなずみて、気をはこび、命をとられ、勤めの つやらしき事はなくて、誠をこめし筆のあゆみ、『これなれば傾城とて
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Hier zeigt sich das Verhältnis von repräsentativen Medien und sozialen Praxen. Die mediale Semantik (hier: in Briefen) regt ein soziales Handeln an. Die Heldinnen in Fünf Geschichten sind nicht Kurtisanen, sondern Mädchen und junge Frauen aus der chônin-Schicht. Das ist ein Indiz dafür, dass die neue Praxis nach und nach auch auf diese Schicht übergriff (vgl. Seki [[関]] 1963: 43). Zugleich fungierte die neuere Literatur – die literarischen Werke Saikakus ebenso wie die Dramen des Chikamatsu – als Verbreitungsmedium der neuen Semantik, das sich zu diesem Zweck des gut entwickelten und marktorientierten Verlagswesens und des Netzwerks aus Leihbuchhändlern bediente. 4) Auch der Zweifel an der Liebe und die Frage nach ihrer Authentizität kommen in der Reflexivität des Liebescodes zum Ausdruck (vgl. Braun 2001: 221). Mit Luhmann gesprochen entkommt zwar plaisir als anthropologische Vorgabe jedem Zweifel, aber amour ist dem Zweifel unterworfen: »Die Zentraldifferenz, die Information generiert, hat hier eine andersartige, aber funktional genau äquivalente Form. Sie besteht in der Differenz von plasir und amour.« (Luhmann 1982: 109) Wenn aber der soziale Rang nicht mehr als Liebesbeweis fungieren kann, was kann dann als Authentizitätsbeweis für die Liebe gelten? Die Geschichte von Jihei und Koharu dreht sich um die Frage, ob Koharus Liebe vorgetäuschte oder wahre Liebe ist – eine Frage, die das Publikum anzieht. Der Beweis der Authentizität liegt im
も、にくからぬものぞかし。又、この男の身にしては、浮世ぐるひせし 甲斐こそあれ。さて内証に、しこなしのよき事もありや。女のあまねく おもひつくこそゆかしけれ」と、いつとなくおなつ、清十郎に思火付き、 それより明け暮れ、心をつくし、魂身のうちをはなれ、清十郎が懐に入� りて、我は現が物いふごとく、[……]」。 Vgl. Ihara 1960: »Wo sie auch las, wie tief verstrickt, selbstvergessen und hingegeben liebten diese Dirnen. Nichts von vorgespiegeltem Gerede des Gewerbes, nur Treue verrieten die Pinselzüge. Ach, mögen es auch feile Dirnen sein, verächtlich sind sie wahrlich nicht. Und ein Mann wie er, wie hätte seine Liebesglut unbelohnt bleiben sollen! O wie musste er bezaubern können! Dass nach ihm allenthalben die Frauen sich sehnen, ist es ein Wunder? Unter solchen Gedanken kam O-Natsu unversehens dazu, selbst für Seijûrô Liebe zu fühlen, und bald war es so, dass sie sich mehr und mehr, bei Tag und bei Nacht, nach ihm verzehrte, so als habe sich ihre Seele von ihr getrennt und sei in Seijûrôs Herz eingezogen, und sie redete wie eine Traumwandelnde.« (13–14)
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Beschluss, gemeinsam zu sterben, den die Geliebten in ihrem Schwurbrief festhalten. Als Jihei von Koharus Verrat erfährt, verleiht er seiner Empörung Ausdruck, indem er ihr den Schwurbrief vor die Füße wirft. Im Laufe der Handlung erschließen sich dem Zuschauer bzw. Leser Koharus wahre Gefühle. Dies impliziert, dass das Publikum zur damaligen Zeit bereits um die Undurchsichtigkeit des Bewusstseins wusste und zwischen psychischem und sozialem System unterscheiden konnte. Aus der Ausdifferenzierung der intimen Kommunikation lässt sich schließen, dass Saikakus Erzählungen und Chikamatsus Dramen Liebe als Präferenzcode (wir Zwei/ Rest der Welt) kannten (vgl. Fuchs 2003). Liebe totalisiert. Alles andere in der Umwelt wird von den Liebenden abgewertet. Der/die Geliebte steht für die/den Liebenden im Zentrum der Welt und alle anderen verblassen und verlieren an Beutung (vgl. Tyrell 1987). Darum versucht sich O-Natsu umzubringen, als sie von der Hinrichtung ihres Geliebten Seijûrô erfährt. Darum trachtet Kichisaburô danach, sein Leben zu beenden, als er nach seiner Krankheit erfährt, dass O-Shichi zur Strafe für ihre Liebe verbrannt werden soll. Zwar nehmen beide Figuren letztendlich von ihrem Entschluss Abstand; dadurch, dass sie sich für ein Leben als Mönch bzw. Nonne entscheiden, entsagen sie aber dennoch der Welt. Darin zeigt sich der Monopolaspruch der Liebe bzw. deren Wahlverwandtschaft zur Erlösungsreligion – in diesem Fall dem Buddhismus. »Der Liebestod treibt einen Grundzug des Liebescodes ins Extrem, der darin besteht, die Intensität der Liebe qua Relationierung sichtbar werden zu lassen. Die Liebenden negieren die Institution der Ehe, die Vernunft und die Moral, sie ordnen Herkunft und Sozialstatus, ja selbst ihr Leben dem Gefühl füreinander unter. Diese Semantik – am Präferenzcode entlang erzeugt – ist geeignet, zur Passion hinzuführen, mit der sich Liebe der rationalen Kontrolle entzieht und zum Exzess wird.« (Braun 2001: 233) Der Exzesscharakter der Liebe stellt sich in der Geschichte O-Shichis zugespitzt dar. Ihre passionierte Liebe führt die Protagonistin sogar zur Brandstiftung. Das Hauptmotiv der Tragödie in der Genroku-Epoche ist der Konflikt der persönlichen Intimwelt gegen die Ständegesellschaft, gegen das ökonomische System und gegen die politische Einheit, vor allem aber gegen das Haus als ökonomisch-politische, segmentäre Einheit. Die von einem Zufall ausgelöste Liebe steigert sich an den ständischen (stratifikatorischern), familiären (segmentären) Hemmnissen und führt zumeist zu einem tragischen Ende, weil sich die Liebe immer noch außerhalb der Gesell-
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schaft bzw. gegen die ständischen gesellschaftlichen Ordnungen abspielt. Dieses semantische Muster bezeugt, dass Liebe alleine es noch nicht vermag ein stabiles System auf der praktischen Ebene zu bilden, wenn auch sie auf der semantischen Ebene bereits ausdifferenziert ist. Ein glückliches Ende ist nur dann garantiert, wenn die Galanterie einer Kurtisane das ganze Haus überzeugen kann (wie in der Episode Takaos) oder von den Eltern anerkannt wird (wie bei Gengobei und O-Man). Hingegen findet sogar die Liebe eines Ehepaars keinen Platz in der Gesellschaft, wenn sie von der familiären Ordnungen bzw. der Autorität der Eltern nicht anerkannt wird, wie das Drama von Hanbei und Chise zeigt. O-Sans Geschichte thematisiert die Frage der Liebe infolge eines Ehebruchs. Bereits der Auslöser für ihre Liebe markiert damit ein Überschreiten konventioneller moralischer Grenzen. Als der Gott Monju O-San im Traum vor ihrer Liebe warnt, bietet sie ihm die Stirn: »In einem MonjuTempel in Kireto fielen sie über ihre Gebete in Schlummer. Um Mitternacht hatte O-San im Traum eine heilige Vision: ›Ihr wagtet eine unvergleichbare Unverschämtheit und Ihr könnt der Vergeltung dafür nicht entkommen. Jedoch, was passiert ist, kann man nicht widerrufen. Ihr sollt ab heute alle weltlichen Annehmlichkeiten ablegen, sollt Euch die kostbaren schwarzen Haare abschneiden lassen, Mönch und Nonne werden und getrennte Wege gehen, um Euren schändlichen Gedanken zu entsagen und Euch Budda zuzuwenden. Nur so kann Euer Leben gerettet werden‹, so hörte sie eine Offenbarung, der sie demütig lauschte, im Schlaf. Doch dann erwiderte sie: ›Mag kommen, was will, kümmert Euch um uns nicht. Wir lieben uns und für unsere unerlaubte Liebe nehmen wir den Tod in Kauf. Ihr wisst von Knabenliebe, jedoch nichts von der Liebe einer Frau.‹ Daraufhin wachten sie auf. Der Wind zog durch die Palmenbäume von Hashidate und O-San sagte zu sich: ›Die Welt ist so vergänglich wie Staub im Wind.‹ Und so setzten sie ihr Liebesleben auf der Flucht fort.« (Ihara [[井原]] 1996 [1686]: 331–332; eigene Übersetzung)55 55 Im Original:「[…�] 切戸の文殊堂につやしてまどろみしに、夜半とおもふ 時、あらたに霊夢あり。『汝等、世になきいたづらして、何国までか、 その難のがれがたし。されども、かへらぬむかしなり。向�後浮世の姿を やめて、惜しきとおもふ黒髪を切り、出家となり、二人別れ別れに住み て、悪心さつて菩提の道に入�らば、人も命をたすくべし」と、ありがた き夢心に、『すゑずゑは何にならうとも、かまはしやるな。こちや、こ
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S CHLUSSBEMERKUNG
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Als Fazit lässt sich feststellen, dass die Liebessemantik in der GenrokuEpoche noch nicht dazu imstande war, Liebe und Ehe miteinander in Einklang zu bringen. Der Hauptzweck der Ehe bestand nach der damaligen Standesethik in der Sicherung des Fortbestands der Familie. Die räumliche Differenzierung von Haus und Ehe einerseits und Liebe, Erotik und Sexualität andererseits durch die Einrichtung des Vergnügungsviertels weist darauf hin, dass es wie in älteren lokal verdichteten Gesellschaftssystemen auch in Japan zu jener Zeit keinen Raum gab, in der sich eine sexuell basierte Intimität und Zweierbeziehung hätte entfalten können (vgl. Luhmann 1982: 38–39). Zugleich förderte diese Differenzierung die Evolution der Liebessemantik im Vergnügungsviertel in Japan ebenso wie in der französischen Salongesellschaft (vgl. Albrecht 1995; Höfer 1986). Denn Gäste im Vergnügungsviertel orientierten sich zumeist ausschließlich an plaisir. In diesem Viertel entwickelte sich zunächst die Semantik der Geselligkeit, iki, welche das Sich-Einlassen auf eine Beziehung regulierte. Dort gedieh auch die Kunst der Liebe, ars amandi, neben Koketterie und Galanterie (vgl. Luhmann 1982: 113). Durch die Repräsentationsmedien wurde der modifi-
れがすきにて身に替へての脇心。文殊さまは、衆道ばかりの御合点、女 道はかつて、しろしめさるまじ」といふかと思へば、いやな夢覚めて、 橋立の松の風ふけば、『塵の世ぢやもの』と、なほなほやむ事なかり し」。 Vgl. Ihara 1960: 77–78; »In der Kapelle des Gottes Monju zu Heckentor wollten sie die Nacht durchwachen, doch fielen sie darüber in Schlummer. Um die Zeit der Mitternacht etwa hatten sie im Traum eine wunderbare Erscheinung. Die redete zu ihnen: ›Die ihr unerhörte Buhlerei begangen, nirgends könnt ihr der Vergeltung entgehen. Zwar ist Vergangenes unwiederbringlich, doch wenn ihr künftig euer weltlich Gewand ablegt, das Haar, das euch köstlich dünkt, schert und die Welt verlasset; wenn ihr getrennt voneinander lebet, bösen Gelüsten widerstehet und den Weg der Erleuchtung beschreiet, so mögen euch die Menschen wohl verschonen‹. In diesem huldvollen Traum hörte sich O-San selber sprechen: ›Was kümmert uns die Zukunft! Mag kommen, was will. Wir haben um der Liebe willen einer für den anderen das Leben gewagt. Hehrer Monju! Du begreifst nur die Liebe von Mann zu Mann. Was weißt du um die Liebe der Frau!‹«
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zierte Liebescode, der seinen Ursprung im Vergnügungsviertel hatte, im Laufe der Zeit auf den Rest der Gesellschaft übertragen. Zwar wird schon in Yonosuke die Aufwertung von Sexualität und Liebe einerseits und die Verteidigung der Autonomie der Geselligkeit und Intimität gegenüber anderen gesellschaftlichen Mächten – insbesondere den politischen und ständischen Autoritäten und der feudalen Familienordnung – deutlich, doch dieser Code war noch nicht imstande, einen autonomen, dauerhaft stabilen Raum für Intimität zu schaffen. Insbesondere die Autorität der Familie stellte sich als unüberwindbares Hindernis dar, wie sich in zugespitzter Form in den Doppelselbstmorden, die in Chikamatsus Dramen thematisiert werden, zeigt: »Aber es kann passieren, dass man dabei unversehens die Schwelle zur Liebe überschreitet, und damit beginnt die Tragödie.« (Luhmann 1982: 113) Das bezeugen auch Saikakus Fünf Geschichten. Hier endet nur die Geschichte um O-Man und Gengobei mit einem »Happy End«, in den übrigen vier Handlungen führt die Liebe zur Tragödie. Dasselbe gilt für Chikamatsus Dramen. Die aus dem Leben geschiedenen Liebenden, so die versöhnende Botschaft hinter den geschilderten Schicksalen, werden nicht zur Hölle fahren, sondern im Paradies erlöst werden und im Tod ewig vereint bleiben. Das Mitleiden der Zuschauer und die Aufbereitung des Doppelselbstmords als Tragödie liefern bereits erste Anzeichen, die auf einen Wandel hin zu einer positiven Bewertung der Liebe hindeuten. Die Tragödie Sonezaki shinjû endet folgendermaßen: »Die Oberen und die Niederen fühlten sich dazu angeregt, für die Liebenden zu beten. Erlösung im Jenseits wurde ihnen unzweifelhaft zugesichert und sie waren zum Vorbild für alle Liebenden geworden.« (Chikamatsu [[近 松]] 1998 [1703]: 43; eigene Übersetung)56 Shinjû ten no Amijima schließt mit den Worten: »Fischer entdeckten sie auf dem Weg zur morgentlichen Arbeit und brachten ihre Geschichte an die Öffentlichkeit, indem sie riefen: ›Da sind Tote! Da sind Tote! Kommt her! Kommt her!‹ Ihre Seelen fanden dank des Budda-Gebets Erlösung nach dem Tod und ihre Geschichte wurde als Jôruri-Drama unter dem Titel ›Doppelselbstmord in Amijima‹ aufge56 Im Original:「貴賤群集の回向�の種、未来成仏疑ひなき、恋の手本となり にけり」。 Engl.: »[H]igh and low alike gather to pray for these lovers who beyond a doubt will in the future attain Buddahhood. They have become models of true love.« (Chikamatsu 1961: 56)
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führt und alle Menschen weinten jedesmal aufs Neue Tränen um sie.« (Chikamatsu [[近松]] 1998 [1720]: 431; eigene Übersetzung) 57 Zum Schluss dieses Abschnitts sei kurz auf die anthropologische Dimension der Liebessemantik zu jener Zeit verwiesen. Die Erkenntnis liegt nahe, dass sich die Leitdifferenz der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft, d. h. die Dichotomie von hoch/niedrig beziehungsweise gehoben/gemein in der sozialen Unterscheidung zwischen Samurai und chônin widerspiegelte. Diese stratifikatorische Differenzierung wurde auch im anthropologischen Gegensatz Geist/Körper bzw. Denken/Fühlen – ri (理)/jô(情) – hineinkopiert.58 Luhmann zufolge ist es notwendig, diese Hierarchie abzuschaffen und Emotionen – einschließlich der Liebe – auf der semantischen Ebene aufzuwerten, um die Inklusionsmöglichkeit für intime Beziehungen zu erweitern; mit anderen Worten: um Liebe zwischen allen Menschen ungeachtet ihrer sozialen, moralischen oder persönlichen Eigenschaften zu ermöglichen. Deshalb misst Luhmann in seiner Evolution der Liebessemantik in Westeuropa besonders der amour passion viel Bedeutung bei. Nicht umsonst trägt sein Werk den Titel Liebe als Passion. Die Aufwertung der Emotion und passion erfolgte in Japan gegen Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts, z. B. in Romanen von Ihara Saikaku, in Dramen von Chikamatsu Monzaemon und in Ito Jinsais kritischer Interpretation der konfuzianischen Texte (1627–1705) (vgl. Yoshikawa 1983: 51–56). Itô trug zur Aufwertung des menschlichen Begehrens bei, das vom orthodoxen Neo-Konfuzianismus abgewertet worden war (vgl. Shimada [[島田]] 1967: 35 f.). Itô selbst schrieb rückblickend, dass ihm der Theaterbesuch zur tieferen Erkenntnis des wirklich lebenden Menschen verholfen hatte. Er erwähnte zwar nicht direkt Chikamatsu, aber die beiden lebten weder räumlich noch zeitlich weit voneinander entfernt und waren 57 Im Original:「朝出の漁夫が、網の目に見つけて、死んだ、ヤレ死んだ、 々 に、言ひ広めたる物語、すぐに成仏得脱の、誓ひの 出合へ出合へと声々 網島心中と、目ごとに涙をかけにける」。 Engl.:»People say that they who were caught in the net of Buddha’s vow immediately gained salvation and deliverance, and all who hear the tale of the Love Suicides at Amijima are moved to tears.« (Chikamatsu 1961: 425) 58 Der Neu-Konfuzianismus sieht im menschlichen Wesen den stetigen Kampf zwischen ten ri ((天理)und ninjô ((人情)). Demzufolge besteht die Ethik, gemäß des ersteren das letztere zu beherrschen. Vgl. Shimada ((島田)) 1967: 94f.
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sich auch gedanklich nahe (vgl. Watanabe [[渡辺]] 2010: 142).59 Seither wurde die positive Würdigung der Emotionen unter den Bürgern gepflegt.
59 Weiter zu Itô Jinsai siehe Shimizu ((清水)) 1970. Vor Itô hatte Naba Kassho (那 波活所 Konfuzianischer Gelehrter) die Sexualität (kôshoku) positiv umgewertet (Shibata [柴田]] 2010: 122f.).
Liebessemantik in der Kasei-Epoche
Dieses Kapitel thematisiert die Liebessemantik in der Kasei-Epoche (化 政時代 1803–1829; im weiteren Sinne auch 1793–1841). Zu Analysezwecken wird die Literaturgattung der ninjôbon (人情本) herangezogen, die zu jener Zeit in der japanischen Literaturgeschichte etabliert wurde. Werke dieses Genres präsentieren sich als melodramatische, emotionsbetonte Erzählprosa. Merkmale dieses Genres sind: 1. Ninjôbon richtete sich bewusst an eine weibliche Leserschaft. Zwar hatte es in der japanischen Literaturgeschichte bereits zuvor fiktive Literatur gegeben, die Frauen zum literarischen Thema machte – Werke der sharebon (洒落本) wurden etwa gerne auch von Leserinnen konsumiert1 –, aber erst ninjôbon entdeckte das weibliche Publikum als primäre Zielgruppe. Um es mit Nakamuras Worten zu sagen: Ninjôbon ist das erste literarische Genre »mit Frauen für Frauen« (vgl. Nakamura [[中村]] 1982a: 415). 2 2. Ninjôbon kam im Hinblick auf seine Verbreitung einem modernen Massenmedium gleich (vgl. Maeda [[前田]] 1989: 288). In der japanischen Literaturgeschichte hatte es auch schon früher Werke gegeben, die von 1
Das literarische Genre des sharebon hat seinen Ursprung im ausgehenden 18. Jahrhundert. Im Mittelpunkt der Texte steht die realistische und humorvolle Wiedergabe von Dialogszenen und Verhaltensweisen im Vergnügungsviertel (vgl. Suwa [[諏訪]] 1978: 129).
2
In Tamenagas Umegoyomi-Serie finden sich z. B. 13 Lektüreszenen (vgl. Aoki [[ 青木]] 2008: 29 ff.). Zu Tamenagas Zeit waren Darstellungen von lesenden Frauen in einer Fiktion keineswegs realitätsfern. Auch zahlreiche ukiyo-e-Bilder dokumentieren die Lesegewohnheit unter Frauen (vgl. z. B. die Bilder Katsukawa Shunshôs in: Meech/Oliver [Hg.]) 2008: 100, 102, 103).
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Frauen geschrieben und gelesen wurden, wie etwa Genji-monogatari (Die Geschichte des Prinzen Genji) oder die im 10. bis 11. Jahrhundert entstandene Essaysammlung Makura no sôshi (枕草子 Das Kopfkissenbuch). Diese Werke wurden jedoch zur Zeit ihrer Entstehung ausschließlich im engeren Kreis des Kaiserhofs gelesen. Im Gegensatz dazu ermöglichten die fortgeschrittene Kommerzialisierung der Literatur und die Revolutionierung der gesellschaftlichen Kommunikation in der Edo-Zeit, die in den vorangegangenen Kapiteln thematisiert wurden, eine immer allumfassendere, anonyme Leserschaft.3 Die Werke dieses Genres konnten neben Frauen höherer Bildung auch Leser beider Geschlechter und aller gesellschaftlichen Schichten erreichen. Während seines Aufenthalts in Japan zwischen 1874 und 1876 schrieb der russische Geograf und Historiker Leo Metschnikow (1838–1888), Bruder des mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Bakteriologen Ilja Metschnikow, dass sich sogar Dienstmädchen an den Unterhaltungsromanen erfreuten – ein Phänomen, das in Russland zu jener Zeit kaum vorstellbar war (vgl. Mechinikov 1987: 218).4 Die Tokioer Tageszeitung Tokyo nichi nichi shimbun (東京日日新聞) berichtete noch im Jahre 1876, dass die Frauen der Oberschicht den ganzen Tag nichts anderes täten als ninjôbon zu lesen (vgl. Schamoni 1975: 27 ff.). Noch bis in die MeijiZeit, also bis in die 1870er und 1880er Jahre, erfreute sich diese Unterhaltungsform größter Beliebtheit. Der Schriftsteller Tayama Katai (田山花袋: 1872–1930) berichtete zu jener Zeit etwa, dass seine verwitwete Tante große Freude an der Lektüre von ninjôbon-Romanen und Theaterbesuchen gefunden habe (vgl. Tayama [[田山]] 1998 [1917]: 21–22).5 Darüber hinaus er3
Zum Zusammenhang zwischen der Genese des neuen literarischen Genres des Romans einerseits und der Durchsetzung extensiver Einmallektüre in Europa andererseits siehe Werber 2003: 118 f.
4
Zu Japans Erschließung durch diesen russischen Revolutionär siehe Konishi ((小 西)) 2007.
5
Allerdings sahen sich in Japan weibliche Leserinnen, die extensiv Unterhaltungsliteratur – insbesondere Liebesromane – konsumierten, der Kritik ausgesetzt. Diese wurde als Hauptursache für den vermeintlichen »Sittenverfall« verantwortlich gemacht. Ein frühes Beispiel einer solchen Kritik ist Buyô (武陽 1994 [1816]). Diese Kritik bestand bis in die Meiji-Zeit fort und die Rezeption der europäischen belletristischen Literatur im Meiji-Japan ist in diesem Zusammenhang unter dem Aspekt der sozialen Kontrolle zu betrachten. Dasselbe ne-
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freute sich ninjôbon nicht nur unter jungen Frauen, sondern auch unter jüngen Männern großer Beliebtheit (vgl. Kornicki 1998: 263). Als Publikum identifiziert der japanische Literaturhistoriker Nakamura junge Leser, die »literarisch nicht anspruchsvoll waren, aber deswegen instinktiv immer neuen Lesestoff verlangten« (Nakamura [[中村]] 1982a: 407). Diese Beschreibung scheint mir jedoch unzureichend. Erstens setzen die hier angedeuteten extensiven Lesegewohnheiten bereits die Existenz bestimmter struktureller und medialer Bedingungen voraus; zweitens deutet die positive Einstellung gegenüber neuem Lesestoff bereits auf eine gewisse intellektuelle Neugier beim Zielpublikum hin und sollte nicht als Instinkthaltung verkannt werden. Nach Angabe des japanischen Literaturhistorikers Hida erschienen in der Zeit zwischen 1815 und 1843 mindestens 207 Titel, die sich als ninjôbon klassifizieren lassen (Hida/Imamura [[飛田//今村]] [Hg.] 2006). Demnach wurden in diesem Zeitraum jedes Jahr durchschnittlich mehr als sieben neue Titel dieses Genres publiziert. Als Massenmedium verfügt die ninjôbon-Literatur über die Eigenschaften a) eines Verbreitungsmediums und b) eines Reflexionsmediums. Ein Verbreitungsmedium ist ein Medium der gesellschaftlichen Kommunikation, die im hiesigen Kontext zwischen Autor und Leser stattfindet. Die Beziehung zwischen Autor und Leser war zu jener Zeit jedoch nicht von einseitiger Kommunikation geprägt, die durch ein einfaches SenderEmpfänger-Modell beschrieben werden könnte, sondern beruhte vielmehr auf Gegenseitigkeit. Verlage und Leihbuchhändler holten Kritik und Kommentare vonseiten der Leser ein und gaben diese an die Autoren weiter, die wiederum darauf reagierten, indem sie Leserwünsche umsetzten. Im Zuge der Kommerzialisierung der Literatur und der fortschreitenden Verbreitung extensiver Lesegewohnheiten im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert etablierte sich dieser reflexive Rückkopplungsmechanismus in der Stadtbevölkerung als bewährtes Konzept und fand immer größeren Anklang.
gative Urteil zum extensiven Konsum von Liebesromanen durch junge Frauen findet sich auch beispielsweise im England des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Siehe Stone 1977: 283 ff.
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Wie wir im dritten Kapitel gesehen haben, hatte sich das Thema der bürgerlichen Sittlichkeit, vor allem im Vergnügungsviertel, bereits seit dem 17. Jahrhundert als Gegenstand der literarischen Reflexion herauskristallisiert; Werke wie die Erzählungen Ihara Saikakus und die Dramen Chikamatsu Monzaemons hatten hier eine Vorreiterrolle eingenommen. Diese Entwicklung setzte sich nun mit anderen Gattungen der Unterhaltungsliteratur wie dem ninjôbon-Genre fort. In der Unterhaltungsliteratur wurden Sittlichkeit, Mode und Etikette als Gegenstand der gesellschaftlichen Kommunikation und Reflexion repräsentiert und der gesellschaftlichen Kritik ausgesetzt. Anders als frühere Werke wandten sich ninjôbon-Romane aber dabei ganz speziell an ein weibliches Publikum. Verhalten und Benehmen der Protagonistinnen wurden vom Autor kommentiert und mitunter auch kritisiert. Die Romane des ninjôbon-Genres funktionierten also als Medium der Enkulturation, indem sie Leserinnen ein Benimmregelwerk an die Hand gaben, das ihnen zu Glück in der Liebe verhelfen sollte. In diesem Sinne können die ninjôbon-Romane als Reflexionstheorie für intime Beziehungen im Sinne Niklas Luhmanns angesehen werden. Anschließend soll dieses Kapitel insbesondere erläutern, wie sich die Liebessemantik im Zuge der Entwicklung der Druckmedien und der Kommerzialisierung der Literatur geändert hat, und zwar im Vergleich mit der Semantik, die in der älteren Literatur der Genroku-Epoche zu finden ist. Für diese Aufgabe empfiehlt sich 1.) eine qualitative Analyse des Handlungsfadens und der Struktur einiger repräsentativer ninjôbon-Romane, gefolgt von einer 2.) quantitativen Auswertung.
L EITDIFFERENZEN Als Leitdifferenzen der Liebessemantik des 18. bzw. 19. Jahrhunderts können die beiden Unterscheidung iki/yabo und en/ukiyo angesehen werden. Die iki/yabo-Differenz entstand zunächst im Vergnügungsviertel in der Ausprägung einer Konversationssemantik. Wie ich im letzten Kapitel gezeigt habe, markiert die Emergenz dieser Semantik die Differenzierung von Interaktion und Gesellschaft bzw. von persönlicher und funktionaler, unpersönlicher Beziehung. Der zweite Leitbegriff, en (縁), entstammt der buddhistischen Karmalehre, wurde aber zu jener Zeit in einem säkularisierten Kontext ge-
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braucht. Er steht für eine schicksalhafte, diesseitig nicht rational erklärbare Bindung.6 Eine persönliche Beziehung wird zumeist mit dem en-Begriff begründet. En symbolisiert außerdem die Unerklärbarkeit bzw. Unbegründbarkeit einer Zweierbeziehung durch jegliche – politische bzw. ökonomische – Rationalität. In diesem Sinn steht das en-Symbol als Garant für die Wahrhaftigkeit der Liebe, wie Sprichwörter wie »en no arunoga makoto« (「縁のあるが誠」:: »Wenn es en gibt, dann gibt es auch eine wahre Liebe.«) (1757) und »en no tsunagaru ga makoto« (「縁のつながるが 誠」:: »Wenn en euch verbindet, dann ist es wahre Liebe.«) (1838) dies zum Ausdruck bringen. Ein anderes Sprichwort aus der Kasei-Epoche, »en areba senri wo hedatetemo ai yasushi, en nakereba omote wo tai ni shitemo mi maegatashi« (「縁あれば千里を隔てても逢い安し、縁なけれ ば面を対にしてもみまえ難し」), lässt sich wiedergeben mit: »Wo en ist, da können ein Mann und eine Frau selbst dann zusammenfinden, wenn 1.000 Meilen sie trennen, doch ohne en werden sie nie zueinander finden, selbst wenn sie einander gegenüber sitzen« (1813). Ein zeitgenössischer Autor, Kyokusanjin, schrieb in einem Vorwort zu einem seiner Romane, dass es bei jeder Beziehung zwischen Mann und Frau um en gehe (vgl. Kyokusanjin [[曲山人]] 1926 [1831]: 3). Wie das Sprichwort »oyako ha issei no en, fûfu ha nisei no en« (「親子は一世の縁、夫婦は二世の縁£」: »Die Bindung zwischen Eltern und Kinder gilt nur im Diesseits, jedoch die Bindung zwischen Eheleuten gilt auch im Jenseits«) zeigt, wird der Beziehung zwischen Mann und Frau eine größere Bedeutung beigemessen als der zwischen Eltern und ihren Kindern. Während en eine Zweierbeziehung bedingt und ihr Dauerhaftigkeit verleiht, rückt der ukiyo-Begriff das wechselhafte Wesen der diesseitigen Welt ins Bewusstsein. Auch ukiyo hat seinen Ursprung im buddhistischen Kontext. Bis ins 16. Jahrhundert wurde der Begriff mit dem Kanji-Zeichen 「憂き世」 belegt und bezog sich auf die diesseitige und vom Leid erfüllte Welt, die dem Jenseits als einem von Leid befreiten Paradies gegenübersteht. Diese Bedeutung lässt sich bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen. Anfang des 17. Jahrhunderts erfuhr der Begriff dann einen positiven Wandel und wurde säkularisiert. Er ist seitdem mit dem Zeichen 「浮世」 be6
Allerdings kennt das gegenwärtige Japanisch den Begriff en gumi ((縁組)) für Eheschließung. Damit wird eher auf die bewusste Herstellung einer Beziehung verwiesen.
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legt. Üblicherweise mit »floating world« bzw. »vergängliche Welt« übersetzt, weist ukiyo darauf hin, dass Ordnungen und Sosein in dieser Welt nicht ewig bestehen. Der Begriffswandel zeigt, dass die Kontingenz der Welt zu jener Zeit immer stärker ins Bewusstsein der Bürger Edos rückte: Ukiyo rückte – im Gegensatz zu Begrifflichkeiten früherer Zeiten – das Gegenwärtige in den Vordergrund. Mit ukiyo waren weitere Begrifflichkeiten verknüpft: Ukiyo-e etwa hatte ursprünglich die Bedeutung »Bilder der Gegenwart«; ukiyo-uta bedeutete »gegenwärtige Lieder« oder »angesagte Lieder«; ukiyo-odori bezeichnete den »modischen Tanz« und ukiyo-dôfu eine neue Art von tôfu, die als neues Produkt auf dem Markt verkauft wurde.
H ANDLUNGSMUSTER UND SEMANTISCHE S TRUKTUR EINES NINJÔBON -R OMANS Im Zentrum der Handlung stehen in allen ninjôbon-Romanen eine oder mehrere Beziehungen zwischen Liebenden. Bevor die Liebe in Erfüllung gehen kann (damit ist nicht das Eingehen einer Intimbeziehung, sondern die Zusicherung des dauerhaften persönlichen Glücks gemeint), müssen zahlreiche Hindernisse wie finanzielle Probleme und von den Eltern erzwungene Ehen überwunden werden. Erst am Ende des Romans erhält der Leser die Gewissheit, dass den Protagonisten dauerhaftes gemeinsames Glück sicher ist. Beispielhaft soll hier der Roman Shunshoku umegoyomi (春色梅児誉 美� 1962 [1832/33]) von Tamenaga Shunsui (為永春水 1790–1844)7 analysiert werden. Tanjirô, der neunzehnjährige Leiter des Teehauses »Karakotoya« und Adoptivsohn des Besitzers, fällt der Intrige des Geschäftsführers Kihei zum Opfer und wird fälschlicherweise der Veruntreuung und des Betrugs bezichtigt. Um sich vor den Behörden zu verstecken, muss er den Laden verlassen. Er zieht zu seiner Freundin, der Geisha Yonehachi, die sich rührend um ihn kümmert. Auch die ihm von den Eltern versprochene Verlobte O-Chô, die sechzehnjährige Tochter des verstorbenen ehemaligen Besitzers des Teehauses, liebt ihn und will ihn nicht aufgeben. Um Kiheis 7
Tamenaga betrieb selbst einen Verlag mit einer Leihbücherei (vgl. Tanahashi [[ 棚橋]] 2007b: 129).
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Tyrannei zu entgehen, flieht auch sie aus dem Teehaus und verdingt sich als Varieté-Erzählerin (娘浄瑠璃 musume jôruri), um Tanjirô aus der finanziellen Not zu helfen. Die Handlung dreht sich um die Dreiecksbeziehung zwischen Tanjirô, Yonehachi und O-Chô und rückt insbesondere den Kampf und die Rivalität der jungen Frauen um den gemeinsamen Geliebten in den Mittelpunkt. In Nebenhandlungen spielen darüber hinaus weitere Liebesbeziehungen – wie die der Friseurin O-Yoshi und des Bauholzkaufmanns Tôbei – eine wichtige Rolle. Der Schauplatz Fukagawa als Hinweis auf die abnehmende gesellschaftliche Exklusion der Liebe Ort der Handlung ist Edo – allerdings spielt die Geschichte nicht etwa im berühmten Vergnügungsviertel Yoshiwara, sondern in Fukagawa (深川). Fukagawa war zu jener Zeit kein offizielles Vergnügungsviertel (vgl. Buyô [[武陽]] 1994 [1816]: 334–335; Mitamura [[三田村]] 1997: 232 ff.; Chinpunkan [[陳奮館]] 1989: 74 ff.). Vielmehr waren seit der Mitte des 17. Jahrhunderts um einen Schrein herum mehrere Teehäuser entstanden, die trotz wiederholter Razzien recht erfolgreich gediehen. Zu den angebotenen Unterhaltungsformen zählten Musik, Tanz und Varieté und Kurtisanen kümmerten sich um die Gäste. Während sich in Yoshiwara eine geschlossene Gesellschaft mit speziellen Sitten und Gewohnheiten entwickelte, die Kunden des Viertels beherrschen mussten, war der Umgang zwischen Gästen, Kurtisanen, Musikern, Tänzern und anderen Unterhaltungskünstlern in Fukagawa lockerer und ungezwungener. Kurtisanen besaßen nicht die professionelle Perfektionierung der Kurtisanen in Yoshiwara (vgl. Maeda [[前 田]] 1989b: 285 f.). Als Handlungsschauplatz eignete sich Fukagawa deshalb, weil das Viertel dem Leser einfacher zugänglich war und vielleicht sogar Erinnerungen an selbst Erlebtes weckte. Aus diesem Grund mag sich der Autor statt für Yoshiwara für Fukagawa als Hauptschauplatz des Romans entschieden haben. Die soziale Grenze zwischen professionellen Kurtisanen und Laien war dort durchlässiger. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die bei der Einrichtung Yoshiwaras beabsichtigte soziale Exklusion von Liebe, Sexualität und Erotik in der Kasei-Epoche zunehmend an Macht verlor. Der Geltungsbereich des Liebescodes war nicht mehr auf einen kleinen Kreis von »Spezialisten« beschränkt, sondern entwickelte sich hin zur universellen Anwendbarkeit (vgl. Luhmann 1982: 180). Diese Entwick-
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lung lässt sich als Beginn der Integration der »Liebe« in die Gesellschaft interpretieren. Die Protagonistin Yonehachi ist Geisha im ursprünglichen – und nicht in dem im »Westen« gebräuchlichen – Sinne, d. h. Unterhaltungsmusikerin und -tänzerin. Die Grenze zwischen Kurtisanen und Geishas war zwar fließend und nicht selten verdingten sich Geishas auch als Kurtisanen, doch sie standen zu jener Zeit in Fukagawa in dem Ruf, nicht leicht mit einem Gast körperlich intim zu werden (vgl. Chinpunkan [[陳奮館]] 1989: 81).8 Yonehachis Charakterisierung als Geisha intensiviert darum den Authentizitätsanspruch der Liebe zwischen Yonehachi und Tanjiro als »echte« im Gegensatz zu einer »gekauften« Beziehung. Dies weist auf einen bedeutsamen Wandel in der Liebesseemantik in der Kasei-Epoche hin. Umgoyomi kennt zwar das Konzept der amour passion, wie Yonehachi es ausdrückt (vgl. Tamenaga [[為永]] 1962 [1832/33]: 101 f.),9 aber ihre Dynamik ist wesentlich entschärft. Im Gegensatz zu Chikamatsus Dramen verzichtet der Roman auf den Selbstmord als letzten Ausweg des Zusammenseins. Zunächst scheint es also so, als sei hier die Liebe, die zu Chikamatsus Zeiten noch keinen Platz in der diesseitigen und »anständigen« Gesellschaft hatte, wieder in die Gesellschaft integriert worden. Nun stellt sich die Frage, ob dieser Wandel an eine funktionale Differenzierung des Kommunikationsmediums »Liebe« geknüpft ist oder einen Rückfall in die stratifizierte Gesellschaft bedeutet. Tanjirô zieht zwar nach seiner Flucht aus dem Teehaus mit Yonehachi zusammen und lässt sich von dieser umsorgen, kann aber die Zuneigung seiner von den Eltern bestimmten Verlobten O-Chô, die sich schließlich in Liebe wandelt, nicht zurückweisen. Als Dreh- und Angelpunkt der Handlung in Umegoyomi erzeugt diese Dreiecksbeziehung die kontinuierliche Spannung im Roman – schließlich ist ein Wettbewerb immer spannungsgeladen.10 Doch die Erwar-
8
Dies ist womöglich auf den Umstand zurückzuführen, dass die soziale Grenze zwischen Kurtisanen und Unterhaltungskünstlerinnen in Fukagawa nicht so klar gezogen war wie in Yoshiwara.
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Hier meine ich damit lediglich die Unmöglichkeit der Steuerung von Emotionen durch die Vernunft.
10 Allerdings interessieren sich die gegenwärtigen amerikanischen Liebesromanzen weniger für Dreiecksbeziehungen. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen
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tung eines gegenwärtigen Lesers, dass sich Tanjirô letztendlich für eine seiner beiden Geliebten entscheiden wird, wird enttäuscht. Denn der Roman endet damit, dass er O-Chô heiratet und Yonehachi zu seiner Mätresse wird. Im Laufe der Geschichte entpuppt sich Tanjirô nämlich als Sohn einer ranghohen Samurai-Familie. Traditionell gebührt einem ranghohen Samurai das Recht, Mätressen zu unterhalten. Zugleich stellt sich heraus, dass auch O-Chô einer Samurai-Linie entstammt und damit eine standesgemäße Partie für Tanjirô ist. In diesem Punkt wird Umegoyomi bis heute – insbesondere in der feministischen Literaturforschung – als fauler Kompromiss kritisiert, der die »feudale« Moral jener Zeit stützt, die Anerkennung der Polygamie fördert und als Projektion eines Männertraums gewertet werden kann.11 Allerdings beweist die Spannungsstruktur – der Wettbewerb von zwei Frauen um einen Mann –, dass das Publikum die Zweierbeziehung als Wunschziel vor Augen hatte, während Polygamie die aristokratische Ausnahme darstellte. Die Kritik ist in diesem Punkt also nicht ganz zutreffend. Kommt in der Liebessemantik der ninjôbon-Erzählung die Erniedrigung der Frau im Sinne der feudalen Moral zum Ausdruck? Um diese Frage zu beantworten, muss man danach fragen, warum Tanjirô geliebt wird. Er wird weder als mächtiger noch als willensstarker Mann charakterisiert. Zwar erweist er sich zuletzt als Sohn einer berühmten Samurai-Familie, doch bis zu diesem Punkt kann er als Angehöriger des Bürgerstands (chônin) – von seiner Herkunft hatte er selbst nicht gewusst – weder politische Macht noch finanzielles Vermögen vorweisen. Er gerät sogar in gesellschaftlichen Verruf, als er wegen des Verdachts auf Betrug und Veruntreuung verfolgt wird und aus dem Teehaus fliehen muss. Er wird weder um seine persönlichen Eigenschaften noch um seinen sozialen Rang willen geliebt, noch weil er sich mit den Ritualen und Benimmregeln im Bereich der Galanterie und Koketterie auskennt, die in Fukagawa eine wesentlich geringere Rolle spielen als in Yoshiwara. Frauen lieben ihn trotzdem. Wahier die »Evolution der Liebe« und die graduelle Bewältigung der emotionalen Barriere zwischen einem Mann und einer Frau (Radway 2002: 123). 11 Die Kritik und den Vorwurf vonseiten der Genderforschung kann ich zwar unter ethischen Gesichtspunkten nachvollziehen, sie bieten aber keine wissenschaftliche Erklärung für die Vorliebe junger Frauen der Kasei-Epoche für ninjôbonRomane.
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rum? Die Antwort liegt auf der Interaktionsebene, und zwar im Bereich der »sozialen Reflexivität«. Tanjirô kann genau beurteilen, was Frauen in einer face-to-face-Situation wollen. Um diese These zu verdeutlichen, will ich im Folgenden einige Gesprächspassagen aus Umegoyomi in deutscher Übersetzung wiedergeben.12 Dialogszene 1: Tanjirô und Yonehachi (Tamenaga [[ 為 永 ]] 1962 [1832/33]: 180 f.): Tanjirô hat die Nacht mit einer anderen Geisha, Adakichi, verbracht. Auf dem Weg zu Tanjirô trifft Yonehachi am nächsten Morgen zufällig auf Adakichi, die gerade von Tanjirô kommt. Als sie bei Tanjirô eintrifft, glaubt er, Adakichi sei zurückgekommen: T: »Hast du etwas vergessen?« Y: »Ah, ja, ich hab’ dir was zu sagen.« T (überrascht): »Nanu, du bist es, Yonehachi?« Y: »Tu nicht so erschrocken. Das Haus ist mir nicht verboten. Du hättest ein Schild aufhängen sollen: ›Eintritt verboten für alle außer Adakichi.‹« T: »Sag nicht so etwas Blödes, mein Freund Sankô war kurz hier.« Y: »Ah ja, Herr Sankô mit der shimada-Frisur!13 Hör auf, mir etwas vorzuspielen. […]« Nach dem Streit klammerte sich Yonehachi an Tanjirô und Tränen des Zorns laufen ihr über die Wangen. Einen Moment herrscht Stille. T: »Du, Yonehachi, hör mir bitte zu. Es stimmt, Adakichi ist ab und zu hier vorbeigekommen, hat mir etwas Nettes zugeflüstert und mich verführt. Aber ich bleibe dir treu. Ich habe keine Arbeit, du kochst für mich morgens und abends und besorgst mir Kleidung, obwohl du selbst für deinen Umzug viel ausgeben musst. Wie könnte ich da einen Seitensprung wagen? Wahrlich, mach dir keine Sorgen.«
12 Bei der Übersetzung habe ich versucht, einerseits das Sprachgefühl des unterstädtischen Soziolekts zu vermitteln und mich andererseits an der Transkriptionstechnik der soziologischen Gesprächsanalyse zu orientieren, wenn es auch unmöglich ist, den japanischen Ursprungstext originalgetreu wiederzugeben. Eine literarisch-ästhetische Übersetzung war von vornherein nicht meine Absicht. 13 Als Shimada (島田) bezeichnete sich eine Frisur für junge Frauen.
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Y: »Ich kann dich nicht ausreichend unterstützen. Du musst dich mir gegenüber dafür nicht schuldig fühlen, wir sind schließlich ein Paar. Aber du hast eine Verlobte, O-Chô. Und jetzt noch diese andere Frau. Das macht mich traurig.«
Dialogzszene 2: Tanjirô und O-Chô I (Tamenaga [[ 為 永 ]] 1962 [1832/33]: 102–103): Viel Zeit ist seit Tanjirôs Flucht aus dem Teehaus vergangen, als er und OChô sich zum ersten Mal zufällig in der Stadt wiedersehen. Er lädt sie zum Mittagessen in ein Lokal ein. Dort stoßen sie auf Yonehachi und eine andere Geisha. In einer Auseinandersetzung zwischen O-Chô und Yonehachi erfährt O-Chô, dass Tanjirô und die Geisha liiert sind. Der Schock sitzt ihr tief in den Gliedern, als sie gemeinsam mit Tanjirô das Lokal verlässt und die durch die Stadt laufen. Tanjirô fragt sie: »Warum weinst du beim Laufen, O-Chô? Sei doch wieder fröhlich!« Sie weicht seinem Blick aus, sieht ihm dann aber doch ins Gesicht. Sie ergreift mit beiden Händen fest seine linke Hand, als ob sie ihn nie wieder loslassen will. O: »Bruder!« [O-Chô ist eine Tochter des Teehausbesitzers und Tanjirô sein Adoptivsohn. Sie sind wie Geschwister aufgewachsen und von den Eltern einander versprochen worden.] T: »Was?« O: »Du bist wirklich unmöglich. Ich hasse dich.« T: »Wieso?« O: »Wieso?! Du und Yonehachi, ihr benehmt euch schon wie ein Ehepaar. Das hast du natürlich vor mir verborgen, als ich dich danach gefragt habe!« T: »Ein Ehepaar sind wir nicht. Sie hat sich meiner angenommen, als ich keine Arbeit hatte und in einer schwierigen Lage war. Ich war sogar krank. Es hat sich zufällig so ergeben.« O: »Ihr seid zufällig zum Ehepaar geworden?!« T: »Wir sind kein Ehepaar und werden es auch nicht sein.« O: »Doch! Ihr habt euch bestimmt gegenseitig versprochen, am Ende zu heiraten.« T: »Das werden wir nicht.« O: »Wer wird dann deine Frau?« T: »Es gibt da eine junge Frau, die zehnmal schöner ist als Yonehachi. Sie nehme ich zu meiner Frau.« O: »Wo ist sie?«
140 | L IEBESSEMANTIK UND S OZIALSTRUKTUR
T: »Hier ist sie.« Er nimmt sie in die Arme und sie gehen fest umschlungen weiter. Voller Freude zwickt sie ihn in den Arm. Ihr Lächeln ist hinreißend und sie hat kleine Freudentränen in den Augenwinkeln.
Dialogszene 3: Tanjirô und O-Chô II (Tamenaga [[ 為 永 ]] 1962 [1832/33]: 116–118): Tanjirô wohnt seither versteckt in einem heruntergekommenen Haus am Stadtrand Edos. Eines Morgens besucht ihn dort O-Chô. Sie hatte einen Albtraum, in dem er festgenommen wurde. Sie bietet ihm an, ihn bei der Tilgung seiner Schulden zu unterstützen, selbst, wenn sie dafür ihren Körper als Kurtisane verkaufen muss. Tanjirô lehnt dies ab. T: »Um Himmels Willen! Wie könnte ich zulassen, dass du so was machst?« O: »Aber was soll aus dir werden, wenn wir das Geld für die Rückzahlung nicht aufbringen können? Ich kann dafür mit meinem selbstverdienten Geld bezahlen.« Das sagt sie zwar, aber sie bekommt doch Angst vor ihrem Schicksal. O: »Bruder!« Auf seinem Knie bricht sie in Tränen aus. T: »Weine nicht und trockne dir das Gesicht ab.« Er nimmt sie in die Arme und sie schmiegt sich getröstet an ihn. O: »Ah, Bruder, weißt du, … ich ziehe gerne zu dir – so schnell es geht. Dann kümmere ich mich um deinen Haushalt und erzähle dir Geschichten, damit du dich nachts nicht so allein fühlst ...« T: »Was machst du dann?« O: »Ich will mit dir zusammen sein.« T: »Was machst du dann? « O: »Komisch, findest du das nicht schön?« T: »Das einfache Zusammensein reicht mir nicht.« O: »Wieso nicht? Muss es Yonehachi sein?« T: »Nein, darum geht es nicht.« O: »Du lügst! Ihr seid aufs Innigste verbunden, du Schurke!« Eifersucht blitzt in ihren Augen. T: »Ich sehe mich nicht in einer besonders engen Beziehung mit ihr. Aber ich finde sie nicht übel, schließlich kümmert sie sich sehr nett um mich.«
LIEBESSEMANTIK IN DER KASEI-EPOCHE
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O: »›Nicht übel‹? So eine Untertreibung! Als wir sie im Lokal getroffen haben, hast du sie mit diesem charmanten Funkeln in den Augen angesehen, als wolltest du sie mit Haut und Haar verspeisen!« T: »Sag nicht so etwas Blödes. Du wirst von Tag zu Tag schöner. Bald verlässt du diesen Mann, der so arm ist wie eine Kirchenmaus.« […] O: »Nein, Bruder, meine Haare sind schon völlig durcheinander, so geht es nicht.« T: »Entschuldige, ich bringe sie wieder in Ordnung, wenn du willst.« O.: »Ja, mach das, bitte.« Sie lächelt und schmiegt sich an ihn und ist dabei so niedlich und hübsch. T: »Ja, ich mach’s. Ich stecke dir die Haare zu einer itobin-yakko-Frisur14 , oder ich rasiere sie dir ab. Oder ich mache dich pockennarbig. Wenn ich dich nicht hässlicher mache, verdrehst du jedem den Kopf. Das lässt mir keine Ruhe.« O: »Danke, Bruder, du schmeichelst mir wohl.« T: »Es stimmt, du machst mich tatsächlich ganz unruhig.« O: »Nein, das sagst du nur so. Du kümmerst dich doch gar nicht um mich.« Sie schmollt, um sich verwöhnen zu lassen. T: »Also schön, ich kümmere mich um dich, bist du es satt hast. Ich lasse dich nicht mehr los.« Er zieht sie auf seinen Schoß.
Der Umstand, dass Yonehachi ihrem Freund ohne Rücksicht auf eigene Vorteile hilft, ist im Hinblick auf den Wandel der Liebessemantik von zentraler Bedeutung. Sie wiegt nicht Vorteile gegen Nachteile ab. Insbesondere ist zu beachten, dass sie und Tanjirô an der Kommunikation nicht als Rollenträger, sondern als Vollpersonen partizipieren. Allerdings besteht eine gewisse Asymmetrie zwischen Tanjirô und den Frauen. Tanjirô wird in der Beziehung eher eine passive Rolle zugewiesen. Ohne Rücksicht auf die eigenen Nachteile zu handeln, ist in der Geschichte meist O-Chô und Yonehachi vorbehalten. Selbiges gilt jedoch nicht für die Beziehung zwischen Tôbei und O-Yoshi, wie im Folgenden gezeigt werden soll.
14 Itobin-yakko-Frisur war eine Frisur eines Mannes.
142 | L IEBESSEMANTIK UND S OZIALSTRUKTUR
Dialogszene 4: Tôbei und O-Yoshi (Tamenaga [[ 為 永 ]] 1962 [1832/33]: 171 f.): Die Beziehung zwischen dem Bauholzkaufmann Tôbei und der Friseurin O-Yoshi ist für das Thema der vorliegenden Arbeit von größerer Relevanz. Zufällig lernen sich Tôbei und O-Yoshi in einem Gasthaus auf der Pilgerreise nach Narita15 kennen. Sie verlieben sich ineinander und geben einander das Versprechen, sich in Edo wiederzusehen. Nach ihrer Heimkehr nach Edo gibt O-Yoshi ihren Beruf als reisende Geisha auf und wird Friseurin. Um Tôbei die Treue zu halten, will sie einer redlicheren Arbeit nachgehen. Tôbei reist nach seiner Heimkehr nach Edo weiter nach Yamato16. Dort soll er zwei Jahre lang unter der Aufsicht von Verwandten leben, um von seinem dekadenten Lebensstil Abstand zu nehmen. Nach der Rückkehr nach Edo sucht er O-Yoshi zunächst vergebens. Schließlich findet er sie schwerkrank in einer Villa. Der folgende Dialog ereignet sich im Rahmen ihres Wiedersehens: T: »Ich wusste nicht, dass du ein so schweres Leben hattest. Jetzt, nachdem wir uns wiedergesehen haben, wird alles besser.« O: »Ich freue mich wirklich über deine netten Worte. Aber Männer neigen zur Untreue. Ich befürchte, dass ich darunter leiden werde.« T: »Warum vertraust du mir nicht?« O: »Du fragst, warum? Ich habe mich entschieden, dir treu zu bleiben, selbst wenn es mir nicht im Diesseits, sondern erst im Jenseits vergönnt sein würde, dich wiederzusehen, und obwohl ich als alleinstehende Frau der Häme meiner Umwelt ausgesetzt war. Aber du hast mich offenbar vergessen und dich in die Kurtisane Konoito aus dem Teehaus Karakotoya verliebt. Das berichtet jedenfalls O-Chô. Sogar ihr machst du schöne Augen.« Ihnen werden drei Schüsseln mit Speisen gebracht.
15 Die Stadt Narita (成田) ist heute für den International Airport bei Tokio weltbekannt. Dort liegt jedoch auch ein buddhistischer Tempel (成田山新勝寺 Narita-san Shinshoji), der seit der Edo-Zeit als Pilgerort zahlreiche Menschen anzieht. 16 Yamato (大和) bezeichnet eine alte Provinz, die der heutigen Nara-Präfektur (奈良県)entspricht.
LIEBESSEMANTIK IN DER KASEI-EPOCHE
| 143
T: »Ich lade dich zu Eierpudding ein. Seit unserem Kennenlernen vor sieben Jahren bin ich so sehr in dich verliebt, dass ich mich sogar an deine Lieblingsspeise erinnern kann. Denkst du immer noch, ich sei ein untreuer, unzuverlässiger Mann?« O-Yoshi lächelt ihn an und Tränen der Freude glitzern in ihren Augen. Tôbei nimmt sie in die Arme. T: »Ich wusste nicht, dass du hier wohnst. Ich habe mir mit Konoito die Zeit vertrieben, um meine Sehnsucht nach dir zu stillen, weil sie dir ein wenig ähnlich ist. Aber das war nichts Ernstes. Um Yonehachi habe ich mich aus einem anderen Grund gekümmert, aber davon erzähle ich dir später. Zeig mir dein Gesicht. Du bist dünner geworden; es tut mir so leid.« O: »Der Arzt sagt, ich bin krank vor Sorge. [...] Aber ich bin so kraftlos, dass ich nur langsam laufen kann.« T: »Selbst nach dieser langen Krankheit bist du noch so hübsch. Wärst Du nicht krank, dann ...« (Er lacht.) O-Yoshi schaut Tôbei ins Gesicht und schüttelt sich vor Freude. O: »Ich bin so glücklich, dass es mir nichts ausmachen würde, jeden Moment zu sterben. Es gibt nichts mehr im Diesseits, das ich noch brauche.« (Sie hält seine Knie fest umklammert.)
Im Laufe der Geschichte sieht O-Yoshi ihre Mutter wieder. Als ihre Eltern sich aus Armut trennten, als sie noch ein Kind war, ging sie mit ihrem Vater fort (Tamenaga [為永]] 1962 [1832/33]: 208–221). Die Mutter erscheint nun, um ihrer Tochter mit dem Hinweis auf die sozialen Unterschiede und zugunsten einer arrangierten Hochzeit Tôbeis mit einer anständigen Kaufmanntochter von ihrer Beziehung zu ihm abzuraten. Tôbeis Vater liebte einst ihre Mutter und wurde später seine Mätresse. Ihr Versuch, die Tochter zu überzeugen, wird aber vom unerwarteten Auftauchen einer Nonne unterbrochen, die sich als Tôbeis Mutter zu erkennen gibt. Sie erzählt, dass ihr Sohn nach dem Wiedersehen mit O-Yoshi seinem dekadenten Lebensstil abgeschworen, seine Liebschaften zu anderen Frauen aufgegeben und als Geschäftsmann zu einem zuverlässigen und redlichen Mann geworden sei. Bewegt von der Verwandlung ihres Sohnes kraft der Liebe bittet sie OYoshi, seine Frau zu werden, denn sie fürchtet seinen Rückfall in alte Gewohnheiten, sollte O-Yoshi ihn auf den Rat ihrer Mutter hin verlassen. Die Liebesgeschichte von Tôbei und O-Yoshi, die mit einem zufälligen Kennenlernen auf einer Reise begann, überwindet damit zahlreiche Hindernisse und stellt dem Leser die Hochzeit der Liebenden in Aussicht.
144 | L IEBESSEMANTIK UND S OZIALSTRUKTUR
Die Geschichte von Tôbei und O-Yoshi ist für die vorliegende Arbeit umso relevanter, weil darin fast alle Bestandteile der modernen Liebessemantik enthalten sind (vgl. Tyrell 1987; siehe auch Kapitel 1 der vorliegenden Arbeit): ein zufälliges Kennenlernen, Liebe mit absolutem Anspruch, die durch das Schicksal zunächst verhinderte Erfüllung der Liebe (hier das verhinderte Wiedersehen), die Überwindung aller Hindernisse – insbesondere des sozialen Unterschieds – kraft der gegenseitigen Liebe, Verlust, Wiedergewinn sowie die Verwandlung der eigenen Identität durch Liebe und schließlich eine glückliche Ehe. Dabei tritt die aktive Rolle der Frauen deutlicher zutage.17 Insbesondere kann hier beobachtet werden, dass ständische bzw. soziale Unterschiede zwar einen Prüfstein darstellen an dem die Liebe wächst, aber nicht als unüberwindbares Hindernis repräsentiert werden.
E VOLUTION DER L IEBESSEMANTIK K ASEI -E POCHE
IN DER
Wie in einem gegenwärtigen Unterhaltungsroman und -film üblich endete eine ninjôbon-Geschichte normalerweise mit einem Happy End. Ich möchte hier weitere Erzählungen als Beispiel anführen, um zu zeigen, dass die Handlung von Liebesgeschichten der Erwartung des Publikums in der Kasei-Epoche entsprechend eine gemeinsame innere Struktur aufweist, die allen Werken dieses Genres gemein ist. Harutsuge Dori (春告鳥 Nachtigall. Der Vogel kündigt den Frühling an.18 Tamenaga [[為永]] 2000 [1836], in: Nakano et al [[中野 他]] [Hg.]: 365–598) weist beispielsweise eine Vielzahl der Handlungselemente auf, die wir bereits in der Geschichte um Tôbei und O-Yoshi gesehen haben. Der Protagonist Chôga, der zweite Sohn einer reichen Kaufmannfamilie, 17 Radway (1991) zufolge sind die Protagonistinnen des modernen europäischen Liebesromans als unabhängige und selbstbestimmte Personen gezeichnet, während den Heldinnen in den mittelalterlichen romantischen Geschichten nur passive Rollen zugewiesen wurden. 18 Harutsuge Dori, wörtlich übersetzt »der Vogel, der den Frühling ankündigt«, ist in der altjapanischen Sprache ein Synonym für uguisu (鶯 Japanbuschsänger). Dieser Vogel wird auch als Japanische Nachtigall bezeichnet.
LIEBESSEMANTIK IN DER KASEI-EPOCHE
| 145
und das Dienstmädchen O-Tami verlieben sich durch Zufall ineinander. Wegen seines ausschweifenden Lebensstils und eines Bruderzwists wird Chôga in eine Filiale seiner Familie in Ôsaka versetzt. Auch O-Tami muss Edo verlassen und kehrt in ihre provinzielle Heimat zurück, wo sie bei ihrer Tante wohnt. Doch sie kann Chôga nicht vergessen und hält ihm die Treue. Einige Jahre später kehrt dieser nach Edo zurück. Auch O-Tami ist wieder in der Stadt, wo sie inzwischen als angehende Geisha arbeitet. Eines Tages hört Chôga, wie eine andere Geisha ein Lied singt, das er einst für O-Tami gedichtet hat. Auf diese Weise erfährt er, dass sie wieder in Edo ist. Bei einem lang ersehnten Wiedersehen bestätigen sie ihre Liebe. Doch seine Großmutter plant, ihn mit einer anderen Frau zu verheiraten in der Hoffnung, dass ihn das von seiner flatterhaften Lebensweise abbringen wird. Doch mithilfe eines Tricks ihrer Freunde bekommen die beiden Liebenden doch noch ihr Happy End. In Fuzoku Azuma Otoko (風俗東男 Das sittliche Leben eines Mannes aus dem Osten) wird die junge O-Ume, um für die Behandlungskosten des kranken Vaters aufzukommen, als Kurtisane verkauft. Ihr Freund Yoshijirô, Sohn eines Textilkaufmanns, ist einen Liebesschwur mit ihr eingegangen. Er kann sie nicht vergessen – sehr zum Missfallen seiner Eltern, die eine Kaufmannstochter zu seiner Braut auserkoren haben und ihn schließlich zur Heirat mit ihr zwingen. O-Ume flieht für kurze Zeit, um einem ungewollten Freikauf durch einen Kunden zu entgehen, aus dem Teehaus und arbeitet als Geisha. Zum Schluss finden die Liebenden zueinander zurück und ziehen zusammen. Ehe und Liebe bleiben in diesem Fall aufgrund der arrangierten Ehe Yoshijirôs und der Kaufmannstochter, die seine Eltern für ihn ausgesucht haben, zwei voneinander getrennte Sphären. Doch der Bestand der Liebe zwischen O-Ume und Yoshijirô qualifiziert auch die Auflösung dieser Geschichte als Happy End. Auf Basis der oben geschilderten Handlungsskizzen lassen sich hier die semantischen Kernelemente im ninjôbon-Roman im Vergleich zu der Liebessemantik in der Genroku-Literatur folgendermaßen zusammenfassen: 1. die Rolle des Zufalls als Liebesauslöser; 2. Dauerhaftigkeit der Liebe als Liebesbeweis mit der Leitdifferenz von der dauerhaften Liebe und der vergänglichen Welt; 3. zukunftsorientierte Zeitstruktur des Romans auf Grundlage der operativen Schließung. In allen oben genannten Erzählungen spielt der Zufall in Gestalt des zufälligen Kennenlernens oder Wiedersehens eine zentrale Rolle. Damit geht
146 | L IEBESSEMANTIK UND S OZIALSTRUKTUR
eine Vergrößerung des Kontaktkreises und somit die Grenzüberwindung regionaler (segmentärer) und ständischer (stratifikatorischer) Teilsysteme einher: »Mit diesem selektiven Verhalten zur Geschichte ersetzt man – und das entspricht der reflexiven Geschlossenheit des Liebesgeschehens – den Startmechanismus der vernünftigen Überlegung und der galanten Kunstfertigkeit durch den Startmechanismus Zufall. Dessen Einfügung in den Code bringt eine wichtige Neuerung: die Paradoxierung von Zufall als Notwendigkeit, Zufall als Schicksal oder auch Zufall als Freiheit der Wahl. Mit diesem Einbau wird […] einer Vergrößerung der Kontaktkreise Rechnung getragen. […] Während sich höfische und dann galante Liebe selbstverständlich nur an Damen wenden konnte, die ›man‹ schon kannte, so daß die Wahl auf Vorinformationen gestützt werden konnte, wird jetzt mit der Symbolmarke ›Zufall‹ auch der Anfang einer Liebesbeziehung gesellschaftlich ausdifferenziert, nämlich grundlos gesetzt, ins Voraussetzungslose gebaut.« (Luhmann 1982: 180)
Der Zufall wird Schicksal (vgl. Luhmann 1982: 181).19 Als sich der Held (Chôga) und die Heldin (O-Tami) wiedersehen, sagt O-Tami: »Erstaunlich, wie das Schicksal uns verbindet! [...] Ich dachte nach unserer Trennung, dass wir uns nie mehr wiedersehen würden. Ist es nicht ein Wunder, dass wir nun wieder miteinander reden können?« (Tamenaga [[為永]] 2004 [1836]: 563, 565; eigene Übersetzung)20 Hervorzuheben ist auch der Gegensatz zwischen der wechselhaften Welt und der andauernden Liebe. In den betrachteten Erzählungen wird der Bestand der Liebe zwischen den Hauptfiguren gegen die sich wandelnden Umstände in ihrem Umfeld kontrastiert. Dadurch hebt sich die Liebesbeziehung von anderen sozialen Beziehungen ab. Die Leitdifferenz der Liebessemantik ist nicht mehr die von Vernunft/Liebe bzw. plaisir/amour, sondern stellt sich dar als vergängliche Welt/dauerhafte Liebe. Statt der 19 Der Begriff ukiyo no giri (浮世の義理)) verweist auf den paradoxen Umstand, dass sich aus einem zufälligen Kennenlernen eine schicksalhaften Bindung entwicklt. 20 Im Original:「縁といふものは、何様に結ばつて居るもので有ますだらふ ね [[…]] お前さんも私も思ひがけなひで別れ別れになつて仕まつて、モ ウ兎とも再度お目にかかる事は出来なひのかと思つて居りましたのに、 又斯してお咄しでもする様になりましたのは、寔に不思議では有りませ んか」。
LIEBESSEMANTIK IN DER KASEI-EPOCHE
| 147
Differenz von Passion und Vernunft wird die Differenz von der vergänglichen Welt im Gegensatz zur andauernden Liebe zur Leitdifferenz. Diese Dauerhaftigkeit wird durch die Identität der handelnden Person zugesichert. Dadurch differenziert sich die Person von ihren sozialen Rollen. In einer Vielzahl von ninjôbon-Romanen trägt die Heldin unterschiedliche Namen, die ihre jeweilige Schicksalslage und ihre sozialen Rollen widerspiegeln. Die Heldin in Fûzoku azuma otoko heißt beispielsweise als Mädchen Ume, dann als Kurtisane Imuragi, als Geisha wieder Ume und zum Schluss Koito. Geliebt wird aber vom Helden stets dieselbe Person. Eine solche Liebe ist nur möglich unter der Voraussetzung eines Subjekts mit einer spezifischen Identität, die sich von seinen sozialen Rollen unterscheidet. Damit wurde auf der semantischen Ebene der Grundstein für die Liebesheirat gelegt. Die Neuartigkeit der Handlungsstruktur im ninjôbon-Roman zeigt sich insbesondere im Vergleich mit älteren Texten wie etwa den Werken von Saikaku und Chikamatsu. In den im beginnenden 18. Jahrhundert entstandenen Liebesdramen Chikamatsus waren die Gattungen Bericht und Unterhaltung noch undifferenziert enthalten. Sie berichteten von realen Ereignissen, die mit literarischer Imagination verarbeitet und ästhetisch sublimiert wurden (vgl. Torigoe [[鳥越]] [Hg.] 1998). Chikamatsus Dramen basierten auf realen Ereignissen, die der Autor literarischen Modifizierungen unterwarf. Bericht und Fiktion, d. h. die reale und die fiktive Realität, waren nicht voneinander zu unterscheiden – noch nicht. Chikamatsus Figuren verweisen auf Personen in der realen Realität, obwohl ihre personalen Eigenschaften und Wesenszüge der Dichtung des Dramatikers entspringen. Gleiches gilt für die Erzählungen Saikakus wie etwa seine Fünf Geschichten (Ihara [井原]] 1996 [1686]; Ihara 1960). Im Gegensatz dazu sind die Protagonisten – zumindest die Hauptfiguren in ninjôbon-Roman – frei erfunden.21 In dieser neueren Form der fiktiven Erzählung kann weder über die dargestellten Ereignisse noch über die Protagonisten ein direkter Bezug zur realen Realität hergestellt werden. Ein ninjôbon-Roman schließt operativ und muss die Spannung in sich selbst erzeugen.
21 Dies soll nicht heißen, dass bei der Figurenerstellung nicht auf andere fiktive Werke zurückgegriffen worden wäre.
148 | L IEBESSEMANTIK UND S OZIALSTRUKTUR
Die zukunftsorientierte Zeitstruktur ist ein beliebter Mechanismus zur Spannungserzeugung in einer Fiktion.22 »Die Perspektive [des Romans] ist zukunftsorientiert, daher spannend. Zugleich muss aber für eine ausreichende Vergangenheit gesorgt werden, die am Ende verständlich macht, dass und wie die Ungewissheit durch bereits eingeführte, aber in ihrer Funktion nicht durchschaute Informationen aufgelöst wird.« (Luhmann 1996: 105) Saikakus Yonosuke ist noch nicht nach dem Schema eines Romans strukturiert (vgl. Morikawa 2011; Ihara [井原]] 1996 [1682]; dt.: Ihara 1965a). Dies zeigt am deutlichsten die Zeitstruktur der Erzählung Yonosuke ist eine Sammlung relativ unabhängiger Episoden ohne schlüssige Zeitsequenz. Zwar gehören alle Episoden demselben Zeithorizont an, was sich daran zeigt, dass der Held Yonosuke von Erzählung zu Erzählung immer älter wird; es fehlt aber ein klares, aussagekräftiges Ende, das alle Episoden miteinander verbindet und in dem diese aufgehoben werden. Mit anderen Worten: Es fehlt die rekursive Vernetzung der Vergangenheit und Zukunft in der Zeitsequenz. Zwar markiert Yonosukes Schiffsreise in der letzten Episode, in der er mit seinen Freunden auf die Suche geht nach nyogo no shima, der legendären Insel der Erotik und Sexualität, das Ende der Yonosuke-Erzählungen. Jedoch fehlt es diesem Ende an Kraft, allen anderen Episoden Relevanz und Bedeutung zu verleihen und sie zu strukturieren und miteinander zu verbinden. Saikaku nimmt sogar kleine Ungereimtheiten zwischen den Episoden in Kauf.23 Das lässt sich auch daraus erklären, dass sich Bericht und Unterhaltung, reale und fiktive Realität, hier wie dort noch nicht ausdifferenziert hatten und Yonosuke in der Tradition der Kurtisanenkritiken und der Gästeführer für das Vergnügungsviertel seiner literarischen Vorgänger stand (vgl. Teruoka 2000: 17–18).24 Im Gegensatz dazu endeten die Tragödien des Chikamatsu und Saikaku mit dem Tod bzw. 22 Zu den folgenden Ausführungen siehe den Exkurs im Kapitel 2. 23 Yonosuke kann sich beispielsweise dank eines Vermögens, das er zum Ende des vierten Hefts erbt, lebenslangen und unbeschränkten Luxus leisten; in der Mikasa-Episode, die zeitlich später angesiedelt ist, wird aber beschrieben, dass er in ärmlichen Verhältnissen lebt (Ihara [[井原]] 1996: 166 ff.; vgl. Ihara 1965a: 185 ff.). 24 Es sei dahingestellt, ob man diese Undifferenziertheit – wie in der japanologischen Literaturwissenschaft üblich – als »Saikakus Realismus« werten kann.
LIEBESSEMANTIK IN DER KASEI-EPOCHE
| 149
Selbstmord der Protagonisten, was durchaus die Kraft besitzt, alle Ereignisse miteinander zu verknüpfen. Aber da ihre Inhalte der realen Realität entlehnt waren, waren sie essenziell Fremdreferenzen. Die Erzeugung der Spannung verdankten sie noch der realen Realität außerhalb des Werkes. Die Ausdifferenzierung zwischen realer und fiktiver Realität etablierte sich der neueren japanischen Literaturgeschichte zufolge in der frühen Neuzeit seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in den kibyôshi-Heften (vgl. Mizuno [[水野]] 1958: 12–13). Sie machten von der Unterscheidung zwischen realer und fiktiver Realität bewusst Gebrauch, um der Zensur und Kontrolle des Shôgunats zu entgehen und politische und gesellschaftliche Kritik ausüben zu können. Dies war möglich, weil eine fiktive Erzählung zwar auf die andere Seite der Unterscheidung zwischen realer und fiktiver Realität verwies, jedoch nicht mehr von realen Ereignissen wie in früheren Formen berichtete, die sie offen als regimekritisch gekennzeichnet hätten. Infolge dieser etablierten Differenz musste ein ninjôbon-Text – wie die modernen Romane in Europa – das Moment der Spannung selbst erzeugen. Die Entwicklung des ninjôbon-Genres zeigt insbesondere den Differenzierungsprozess von Epos und Roman. Die Handlung in ninjôbonRomanen ist oft am Muster des gesellschaftlichen Erfolgs einer Kaufmannsfamilie orientiert und endet mit dem Hinweis auf deren positive Perspektive. Das Glück des Liebespaares und das Glück der Familie sind untrennbar miteinander verbunden und bedingen einander (vgl. Kokubungaku kenkyû shiryôkan [[国文学研究資料館]] 2010: 43). Die Verhältnisse innerhalb der Familie werden auch zum Gegenstand der Handlung, weil sie die Entscheidungen und Schicksalsfügungen der Figuren bedingen. Die Privatsphäre – wenn ich diesen Begriff verwenden darf – ist somit zum Gegenstand der literarischen Betrachtung geworden. Der moralisch-didaktische Anspruch der Literatur tritt im Allgemeinen immer mehr in den Hintergrund. Stattdessen rücken das Gespräch zwischen den Protagonisten und die Selbstbekenntnis in der Entwicklung des Genres immer mehr in den Vordergrund. Mit anderen Worten: Im Vordergrund steht nun die Beobachtung der Beobachtung, nämlich wie die Figuren selbst die Umstände betrachten, in denen sie sich befinden. Die Spannung in einem ninjôbon-Roman wird auch durch die inneren Konflikte der Protagonisten erzeugt. Anschließend an die jôruri-Dramen macht der ninjôbon-Roman vom Stil des kudoki, d. h. der Selbstdarstellung der Gemütslage der Protagonisten, Gebrauch (vgl. Kokubungaku kenkyû shiryôkan [[国
150 | L IEBESSEMANTIK UND S OZIALSTRUKTUR
文学研究資料館]] 2010: 73). Die Empfindungen und insbesondere das Leiden der Figuren werden bedingt durch die Differenz zwischen ihren sozialen Rollen mit damit verbundenen gesellschaftlichen Erwartungen und ihrer privaten Person mit eigenen Wünschen. Damit verknüpft ist die Differenz zwischen ihrer gegenwärtigen Situation und einem erträumten Zukunftsentwurf. Dies setzt selbstverständlich die gesellschaftliche Differenzierung zwischen sozialen Rollen und der Person, zwischen sozialen und psychischen Systemen, voraus. Aus der Spannungssteigerung des Konflikts zwischen giri (義理) und ninjô (人情) einer Figur schöpft die Erzählung ihre Kraft, die in der Auflösung der Geschichte kulminiert.
Q UANTITATIVE A NALYSE
DER NINJÔBON -L ITERATUR
Die oben dargelegten Thesen sollen in diesem Abschnitt quantitativ abgesichert werden. Als empirische Basis wird das ninjôbon-Lexikon des Herausgebers Kokubungaku kenkyû shiryôkan (Kasamashoin: Tokio 2010) herangezogen (国文学研究資料館(編)[2010] 『人情本事典』笠間書 院:東京). Das Lexikon führt 81 Titel auf, die von 1818 bis 1830 abgedruckt wurden. Zum Zweck dieser Arbeit sollen folgende narrative Elemente untersucht werden: 1) Auflösung (Happy End oder tragisches Ende); 2) soziale Herkunft der Hauptfiguren; und 3) soziale Mobilität (Hetero- und Hypergamie). Tabelle 3: Narrative Elemente in Ninjôbon-Romanen.
Seidan Mine no
1819,
Ch
Ch
花
Hatsuhana
1821
(+)
(+)
Auflösung
Punktevergabe für Heterogamie
清談峯初
Stand (Heldin)
Titel
Stand (Held)
transkribierter
titel
ErscheinungsJahr
1
Original-
Happy End
0
LIEBESSEMANTIK IN DER KASEI-EPOCHE
2
所縁の藤
Yukari no
波
Fujinami
1821
3
水佳賀美
Mizu kagami
4
梛の二葉
Nagi no Futaba
1823
5
勧善松の
Kanzen matsu
1823,
月
no tsuki
6
婦女今川
On'na imagawa
1830 1826, 1825, 1828
7
磯馴草紙
Sonare sôshi
1828
(S)
(?)
Ch(-)
Ch
| 151
Happy End
1
(+) -
B(+)
Ch
Ch
tragischa
1
Ch (
K
Happy End
2
-) (S)
(Ch)
Ch
Ch
Happy End
0
Ch
Ch
Happyb
2
(+);
(+);
(+)
8
Ch
K
(+)
(S-)
1826
?
K
Happy
Ch
K
(Dreieckss-
K
tragisch
当世虎之
Tôsei tora no
巻
maki
9
廓意気地
Sato no ikiji
1802
1
廓意気地
Sato no ikuji
1827
(+) 0
Ch
2
beziehung) 2
(+)
c
1
未曾可の
1
月
1
由佳里の
2
月
Misoka no tsuki
?
Yukari no tsuki
Ch
K
2
S
K
Happy End
2
Ch
K
tragisch
2
K
Happy Endf
2
d
1
花街鑑
Sato kagami
?
1
花街寿々
Sato suzume
?
4
女
3
(+)
e
a
Held und Heldin sind Geschwister.
b
Zwei Paare.
c
Fortsetzung von 9.
d
Fortsetzung von 11 mit anderen Protagonisten.
Ch (+)
152 | L IEBESSEMANTIK UND S OZIALSTRUKTUR
1
実の巻
Jitsu no maki
1827
1
契情六可
Keisei rokkasen
6
選
1
谷の初音/
Tani no ha-
1826,
7
藪の鶯
tsune; Yabu no
1827
5
Ch,
Ch,
Ch
K
Happy End
K
Happy End
K, K
Happy Endg
2
uguisu 1
青楼色唐
Seirô irotôshi
8
紙
1
谷中の月
Yanaka no tsuki
2
教訓二筋
Kyôkun futasuji
0
道
michi
2
江戸堅木
Edo katagi na-
1
浪華梅
niwa no ume
2
園曙
2 3
Ch
K.
2
9 1827
Ch
Happy Endh
1822
S (-)
S
1
Sono akebono
1824
S (-)
Ch
Happy End
2
貞操小笹
Teisô ozasa no
1821
Ch(-)
Ch
(nicht ab-
1
の雪
yuki
2 i
geschlossen)
2
幽賞雲間
Yûshô kumoma
4
月
no tsuki
1822
2
忠孝水水
Chûkô futa-
5
川
matagawa
2
閑談春之
Kandan haru no
1826,
6
鶯
uguisu
1827, 1833
S
j
e
Fortsetzung von 13.
f
endet mit Dreiecksbeziehung.
g
Endet mit Dreiecksbeziehung.
h
keine Liebesszene enthalten.
i
Fortsetzung von 21.
j
Fortsetzung von 23.
1826
Ch,
K, K
tragisch
4
Ch
?, S
Happy End
1
(S),
(-)
Ch
LIEBESSEMANTIK IN DER KASEI-EPOCHE
2
忠義小伊
Chûgi koiso
7
曽物語
monogatari
2
逢染恋私
Aisomete koino
8
衣
nareginu
| 153
1827 1827
S (-)
Chk
Happy End
2
(berücksichtigt die Fortsetzung)
2
軒並娘八
Nokinarabi
1822,
(Ch,
(Ch,
9
丈
musume hachijô
1824,
Ch
Ch,
1825
(S),
Ch
Ch)
(S))
3
八重霞春
Yaegasumi haru
1823,
(Ch,
(Ch,
0
夕映
no yûbae
1824,
Ch,
Ch,
1826
S)
K)
3
合褄雪古
Awasezuma
1824
(Ch,
(K,
1
手屋
yuki no furuteya
3
傾城七小
Keisei nana
2
町
komachi
3
藤枝恋廼
Fujikazura koi
3
柵
no shigarami
Happy Endl
Happy End
2
Happy
4
Ch)
K)
End
m
?? 1824, 1825, 1826
蘭蝶記
Ranchôki
1824
Ch
K
Happy Endn
2
3
園雪三勝
Sononoyuki
1825,
Ch
?, S
Happy Endo
2
5
草紙
sankatsu sôshi
1826
3
時雨の袖
Shigure no sode
1825
Happy Endp
2
3 4
6 3
鶴毛衣
7
Tsuru no kegoromo
k
O-Shichi, Krauthändlertochter.
l
Drei Paare.
m
Dreiecksbeziehung, zwei Paare.
n
Dreiecksbeziehung.
o
Dreiecksbeziehung.
p
Zwei Paare.
1828
(-) (Ch,
(S-,
?)
B+)
?
K
Happy End
154 | L IEBESSEMANTIK UND S OZIALSTRUKTUR
3
恋の萍
Koi no ukikusa
1829
Ch+
Ch-
Happy End
1
3
当世虎の
Tôsei tora no
1827
Ch
K
unbekannt
2
9
尾桜
ozakura
4
雪廼夜蘓
Yukinoyozo
1830,
Ch+
Ch-
unbekannt
1
0
武志
fukashi
1831
4
松の操物
Matsu no misao
1821
Ch+
Ch
Happy End
1
1
語
monogatari
4
貞烈竹の
Teiretsu take no
1824
Ch
Ch
Happy Endq
2
2
節談
fushidan
8
(S-) (S), K
4
仮名佐話
Kanazawa
1824,
3
文庫
bunko
1825
4
三日月阿
Mikazuki O-
1826
4
専
Sen
4
長者永代
Chôja eidaika-
5
鑑
gami
4
明烏後正
6
夢
keines
r
Ch
K(S)
Happy End
2
(S) 1828
Ch+
keine
keines
Akegarasu
1821–
Ch+
K
Happy Ends
2
nochi no
1824 Ch+
K
Happy Endt
2
Ch+
K
Happy End
2
Happy Endu
2
masayume 4
寝覚繰言
7
Nezame no ku-
1825,
rigoto
1829, 1830
4
菊廼井草
8
紙
Kikunoi sôshi
1824, 1825,
(B)
1829 4
寒紅丑日
Kann no beni
9
待後編
ushi no hi machi kôhen
q
Dreiecksbeziehung.
r
Anthologie.
s
Endet mit Dreiecksbeziehung.
t
Endet mit Dreiecksbeziehung.
u
Drei Paare in drei Bänden.
??
(Ch-,
(S-,
S,S-)
S, S)
LIEBESSEMANTIK IN DER KASEI-EPOCHE
5
三人娘
San'nin musume
0
1826-
(Ch,
(Ch+
27
Ch+,
, Ch-
5
玉川日記・
Tamagawa nik-
1825,
1
拾遺の玉
ki, Jûi no Ta-
27-29
川
magawa
5
松竹梅三
Shôchikubai
2
組盃
mitsugumi sak-
5
萩の枝折り
1828
Ch+)
, S-)
Ch
K
| 155
Happy End
4
Happy Endv
2
(Ch) S
S-
Happy End
1
azuki Hagi no shiori
1828??
3 5
素糸草紙
(S,
(Ch+
Happy
Ch-)
, S)
Endw
Shiraito sôshi
??
Ch-
K
unbekannt
Kari no fumi
1824
Ch+
K
Happy End
(S)
(angekün-
4 5
仮宅文章
5
digt) 5
朧月夜
Oboro dukiyo
6
1824-
(Ch,
(?, K
26,
Ch+)
(S))
2 2 2
x
Happy
2
1828 5
霧籬物語
7
Kiri no magaki
1824(1
Keine Fort-
monogatari
825)
setzung
1825
5
新製艶油
Shinsei tsuya no
8
舗
aburaya
Ch-
Ch
? (Keine Fortset-
1
zung) 5
艶競金化
Tsuyakurabe
9
粧
kingeshô
1828
6
霊験浮名
Reigen ukina no
0
の瀧水
takisui
6
鳳凰染五
Hôôzome gosan
1826,
1
三桐山・五
no kiriyama,
1833
山桐山嗣
Gosan no
編
kiriyama jihen
??
Ch
Ch
Happy End (Fehlender zweiter Teil)
v
Fortsetzungsheft vorhanden.
w
Zwei Paare.
x
Keine Fortsetzung.
0
156 | L IEBESSEMANTIK UND S OZIALSTRUKTUR
1827
Ch
K(S)
Happy End
2
Enishi no ito
1827
Ch-
Ch
Happy End
1
Waka murasaki
1830,
(S-,
(Ch,
Happy End
2
1831
Ch)
?)
6
涼浴衣新
Suzumi yukata
2
地誂織
shinchi no ori-
6
赤縄 和可村咲
dashi 3 6 4 6
玉散袖
5 6
Tama chiru
1821
sode 言葉花
Kotoba no hana
1833
6
契情意味
Keisei imi hari-
1823
Ch+
K (?)
Happy End
2
7
張月
zuki
6
契情肝粒
Keisei kimo
1825-
Ch
K
Happy End
2
Ch+
Ch,
Happy Endy
3
6
8
志
tsubushi
27
6
風俗粋好
Fûzoku sui-
1825
9
伝
koden
7
江戸花誌
Edo banashi
1826
7
三曲廓日
Sankyoku sato
1827
1
記
nikki
7
廓雑談
Kuruwa zôdan
1826
北里通
Hokuri tsû
1827
7
珍説豹の
Chinsetsu hyô
1827
4
巻
no maki
7
紫草紙
Murasaki sôshi
K (Ch) Happy End
0 Ch-
K(S)
Happy End
2
(S) Ch
K
S
S
2
2 7 3 z
1828
Happy End
0
(Nur erster
5
Teil vorhanden).
7
恐可志
Osorubeshi
6 y
Endet mit Dreiecksbeziehung.
z
Fortsetzung von 72.
??
Ch
(Ch,
(Endet mit
ch)
Dreiecks-
0
LIEBESSEMANTIK IN DER KASEI-EPOCHE
| 157
beziehung) 7
朧気物語
7
Oboroge mono-
1829,
gatari
1834 1829
7
人情腹之
Ninjô hara no
8
巻
maki
7
津多加津
Tsutakazura
??
9
羅
8
梓物語
Azusa monoga-
1826,
tari
1834
0
S
K(C
Happy End
2 2
h+) Ch
(Ch,
Happy
K)
Endaa
Ch
K
Happy End
2
S+
Ch
Happy End
2
(angekündigt; Nur bis achtes Heft erhalten)
8
水や天 さ
Mizu ya ten
1
ゆきぬ草紙
sayunuki sôshi
1834
(Nur Band 3 und 4 vorhanden.
Die Nummerierung richtet sich nach dem ninjôbon-Lexikon, um Lesern mit japanischen Sprachkenntnissen das Nachschlagen zu erleichtern. 1) Happy End oder tragisches Ende Unter den aufgeführten 81 Titeln finden sich 55 mit eindeutiger Auflösung. Diese Zahl erklärt sich dadurch, dass das Lexikon auch Erzählungen enthält, zu denen zwar eine Fortsetzung angekündigt, aber nicht publiziert wurde, sowie solche Erzählungen, die aus anderen Gründen keine eindeutige Auflösung enthalten. Im Sinne der poetischen Gerechtigkeit lässt sich die Form der Auflösung als Belohnung bzw. Strafe deuten, die den Leser zu einem bestimmten Verhalten anregen bzw. davon abhalten soll. Die überwältigende Mehrheit der Erzählungen mit eindeutiger Auflösung schließt mit einem Happy End (51 von 55). Dies impliziert, dass die ninjôbon-Romane zu jener Zeit einflussreich genug waren, um die Leser zu ähnlichen Handlungen wie jenen der Protagonisten zu motivieren.
aa
Endet mit Dreiecksbeziehung.
158 | L IEBESSEMANTIK UND S OZIALSTRUKTUR
2) Soziale Herkunft der Hauptfiguren Laut Lexikon beschreibt sich die Herkunft der Protagonisten wie folgt: Ch (chônin; Bürger) =54 und S (Samurai) =15. Den Protagonistinnen sind folgende soziale Attribute zugeordnet: Ch = 31, S = 11, B (Bauer) = 1 und K (Kurtisanen und Geishas) = 26. Darüber hinaus verweisen + und - darauf, dass eine Figur der oberen bzw. unteren Gruppe des angegebenen Standes angehört. In Klammern wird die ursprüngliche soziale Herkunft angegeben, sofern sich die wahre Standeszugehörigkeit einer Figur im Laufe der Geschichte entpuppt. Dieser Kniff wird oft angewandt, um aus handlungstechnischer Sicht das Hindernis des Standesunterschieds zwischen den Liebenden zu überwinden. 3) Soziale Mobilität (Hetero- und Hypergamie) Um die soziale Mobilität der Protagonisten durch Hetero- bzw. Hypergamie in der ninjôbon-Literatur zu quantifizieren, habe ich (unter Verwendung der Kürzel S, Ch, K und B zur Kennzeichnung des Standes) den aufgeführten Erzählungen folgendes Punkteschema zugrunde gelegt: Kommt es in der Geschichte im Rahmen einer Eheschließung zum sozialen Aufstieg einer der Figuren (Hypergamie) – wenn etwa ein Samurai eine Bürgerin ehelicht –, so habe ich zwei Punkte vergeben. Eheschließungen innerhalb desselben Standes (Heterogamie) – etwa zwischen einem höhergestellten Bürger mit einer niedriger gestellten Bürgerin – habe ich mit jeweils einem Punkt quantifiziert. Bei 66 Paaren, denen ein Happy End vergönnt ist, komme ich so auf 79 Punkte. Das sind 1,19 Punkte pro Paar. Prozentual geht die Eheschließung in der ninjôbon-Literatur also mit einer leichten sozialen Mobilität einher. Die ständische bzw. soziale Grenze gilt demnach als überwindbar.
S CHLUSSBEMERKUNG ZU K APITEL 4: M EDIEN , S EMANTIK UND SOZIALE P RAXIS Aus dem bisher Dargelegten lassen sich über das Verhältnis zwischen Medien und Semantik sowie soziale Praxen in die Kasei-Epoche folgende Schlüsse ziehen: 1) Infolge der medialen Reflexion und der zunehmenden
LIEBESSEMANTIK IN DER KASEI-EPOCHE
| 159
Erweiterung des Leserkreises änderte sich die Liebessemantik in der KaseiEpoche. Der Einsatzbereich der Liebe beschränkte sich nicht mehr auf einen kleinen Kreis wie die kuge-Oberschicht oder die Akteure im Vergnügungsviertel. Die im Vergnügungsviertel gepflegte und durch Massenmedien wie Unterhaltungstheater und -literatur verbreitete Liebessemantik bewirkte im Hinblick auf das Verhalten und Selbstverständnis insbesondere der jungen Frauen (aber auch der Männer) in der Stadt eine Ausdifferenzierung und Selbstreferenzierung des Intimsystems. Umgekehrt erfuhr die Lesererwartung der Konsumenten von Unterhaltungsliteratur eine Typisie25 rung und Steigerung. Allerdings kann ich hier die Tragweite und Intensität der Auswirkungen der Liebessemantik auf das Verhalten der Leser nicht festlegen. Zugleich kam es zur Modifikation der Liebessemantik, die nun breitere soziale Schichten inkludierte. Der Umstand, dass die meisten ninjôbon-Romane mit einem Happy End schlossen, zeigt zugleich, dass die Liebe nicht auf einen persönlichen Niedergang verweist, sondern auf das Glück der Liebenden hindeutet. Dies impliziert, dass die Evolution der Liebessemantik sich dahingehend entwickelt, ein stabiles, dauerhaftes System der Zweierbeziehung zu generieren. Jedoch durchdrang diese Idealvorstellung in der Kasei-Epoche noch nicht die ganze Gesellschaft. Der Umstand, dass sich Liebespraktiken und semantik nun auch für die soziale Schicht der chônin öffneten, sah sich oft der scharfen Kritik vonseiten konfuzianischer Gelehrter der SamuraiSchicht ausgesetzt. Dass sie diese Entwicklung als »Sittenverfall« werteten, deutet auf die Persistenz älterer, dem stratifikatorischen Prinzip verhafteter Ansichten hin. In der von einem Moralisten unter dem Pseudonym Buyô Inshi (武陽隠士) verfassten Zeitkritik Seji kenbunroku (Buyô [[武陽]] 1994 [1816]) wird das Verhalten der jüngeren, »gemeinen« Frauen in der Stadt folgenderweise beschrieben: Es habe sich eingebürgert, dass diese ihre Eltern verließen oder deren Partnervorschlag ablehnten und ohne Zustimmung der Eltern heirateten. Einige würden sogar zugunsten ihrer Beziehung den Kontakt mit den Eltern abbrechen (vgl. Buyô [[武陽]] 1994 [1816]: 376). Den Ursprung dieses »Sittenverfalls«, der hier aufs Schärfste kritisiert wird, sieht der Autor – höchstwahrscheinlich zurecht – in den so25 Hier sei beispielweise daran erinnert, dass sich Tamenaga als Verleger und Leibuchhändler mit den Wünschen des Publikums gut auskannte und diese in seinen Romanen umzusetzen wusste.
160 | L IEBESSEMANTIK UND S OZIALSTRUKTUR
zialen Praktiken des Vergnügungsviertels, in den Darbietungen des kabukiTheaters und in der Unterhaltungsliteratur (vgl. Buyô [[武陽]] 1994 [1816]: 359, 376; vgl. auch Kaibara [[貝原]] 1909 [1716]: 9). Dieses Kritikmuster wurde in der Meiji-Zeit wiederholt, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden. Mit Verweis auf die Schwärmerei junger Frauen für das kabukiTheater und dessen Schauspieler beschreibt er das Verhältnis der realen Welt zum Theater folgendermaßen: »Auf der Bühne wird nicht mehr die wirkliche Welt dargestellt, sondern die wirkliche Welt kopiert das Theater.« (Buyô [[武陽]] 1994 [1816]: 346) Buyô skizziert hier ein überaus modernes Bild des Verhältnisses zwischen Medien und Wirklichkeit (siehe erstes Kapitel der vorliegenden Arbeit). Seine Beobachtung ist zugleich geradezu deckungsgleich mit dem von Stendhal geschilderten Phänomen des homme copie: 26 »Die [selbstreferenzielle] Liebe entsteht wie aus dem Nichts, entsteht mit Hilfe von copierten Mustern.« (Luhmann 1982: 54)
26 Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den Liebeserzählungen des ninjôbonGenres und den westlichen Romanzen – insbesondere der US-amerikanischen medialen Liebesrepräsentation im 20. Jahrhundert. Im ninjôbon-Roman treten die Protagonisten beispielsweise in einer relativ frühen Phase der Geschichte in eine intime Beziehung ein; die Selbstwahrnehmung als Paar erfolgt zu einem relativ frühen Zeitpunkt. Dagegen kommt es in den von Radway untersuchten 20 Novellen nur in 7 Fällen zu einer Liebeshochzeit im ersten Viertel des Buches (vgl. Radway 2002: 123).
Der Wandel der Liebessemantik seit der Meiji-Restauration
M EIJI -R ESTAURATION UND G ESELLSCHAFTSUMBRUCH Japan gab die sogenannte Abschließungspolitik mit dem Freundschaftsund dem Handelsvertrag mit den USA, Russland, den Niederlanden, Großbritannien und Frankreich 1853 bzw. 1858 auf. Diese Verträge zogen sozioökonomische Unruhen nach sich, was im Jahre 1867 schließlich zum Amtsverzicht des Shôgun Tokugawa Yoshinobu ((徳川慶喜)) und 1868 zur Wiederherstellung der kaiserlichen Macht führte. Diese Wiederherstellung der politischen Macht sowie die politischen und gesellschaftlichen Reformen in den darauf folgenden Jahren sind unter der Bezeichnung Meiji ishin (明治維新 Meiji-Restauration) bekannt. Dieser aufholende Konsolidierungsprozess des zentralistischen Nationalstaats bewirkte die Abschaffung der feudalen Privilegien und legte die institutionelle Grundlage für die Industrialisierung und den imperialistischen Aufstieg Japans, was zu einem großen Umbruch der gesellschaftlichen Ordnung führte. Die zentrale Frage, der ich mich in diesem Kapitel widmen möchte, lautet: Führte der gesellschaftliche Umbruch in der Meiji-Taishô-Zeit zur weiteren Evolution der Liebessemantik oder bewirkte er vielmehr eine Abkehr von den Errungenschaften der vorausgegangenen Epoche? Unter Berücksichtigung der Annahmen des einfachen Modernisierungsmodells könnte man erwarten, dass der zunehmende und sich intensivierende Kontakt mit dem Westen seit der Landesöffnung und der Meiji-Restauration zu
162 | L IEBESSEMANTIK UND S OZIALSTRUKTUR
einer verwestlichten Lebensführung und, damit einhergehend, dem Durchsetzen der freien Partnerwahl geführt hätte, und dass der Bedarf an Liebesromanen mit Happy End dementsprechend zugenommen hätte. Der Leser wird jedoch feststellen, dass seine Erwartungen in dieser Hinsicht enttäuscht werden. In der Meiji-Zeit (1868–1911) beschleunigte sich der Bevölkerungszuwachs in Tôkyô durch Zuwanderung aus den ländlichen Regionen. Die meisten Zuwanderer waren ehemalige Samurai und Bauern aus der Provinz, die es nach Tôkyô zog, weil die neue Hauptstadt ihnen Karrierechancen eröffnete. Sie ließen sich westlich der alten Oberstadt nieder. Auf der ersten Stufe des sozialen Aufstiegs taten sie sich als Beamte und Angestellte hervor, die das Studium in Tôkyô aufnahmen. Die meisten von ihnen studierten an der Reichsuniversität Tôkyô oder an einer privaten Universität, z. B. der Waseda- oder Keio-Universität. Mit Wissen und Kulturgütern aus dem Westen setzten sie sich von anderen sozialen Schichten ab und schufen aus der älteren Oberstadtkultur – d. h. der vom Konfuzianismus geprägten Samurai-Kultur – einerseits und der westlichen Kultur andererseits eine neuere Oberstadtkultur. Idealtypisch lassen sich die Kultur der Samurai und Bauern einerseits und die Unterstadtkultur andererseits durch die Präsenz beziehungsweise das Fehlen des Ethos der Askese unterscheiden.1 Der ersteren gelten Bescheidenheit, Ernsthaftigkeit und Selbstdisziplin als Tugenden. Im Gegensatz dazu sind für die Unterstadtkultur Luxus, Verspieltheit und Ironie kennzeichnend. In der alten und der neuen Oberstadt Tôkyôs war die Kultur der Samurai und Bauern dominant. Hingegen lebte die Kultur der alten Edo-Bürger in der Unterstadt fort, wenn sie auch im Zuge der Modernisierung durch das Bündnis der westlichen Kultur mit der Kultur der Samurai und Bauern immer mehr verdrängt wurde. 2 Die neue Elite der späteren Meiji- und der Taishô-Zeit zeichnete sich bereits zu diesem Zeitpunkt durch ein mittels moderner Bildung und im Studium erworbenes kulturelles und soziales Kapital aus.3 Die Anpassung des Büchermarkts und die Reorganisation des medialen Verbreitungsnetzwerks an den Wandel des politischen und ökonomischen Systems vollzog sich Nagamine (永峰 2004: i-viii; vgl. auch Oda [[小田]] 1
Vgl. Takeuchi (竹内) 2003: 179 ff.
2
Vgl. Morikawa 2013: 110.
3
Kapital im Sinne Pierre Bourdieus. Siehe Bourdieu 1992: 49–79.
DER WANDEL DER LIEBESSEMANTIK SEIT DER MAIJI-RESTAURATION
| 163
2003) zufolge in den 30er Jahren der Meiji-Zeit (1897–1906). Der Büchermarkt und das Netzwerk der Distribution von Büchern erfuhren im Zuge dieser Entwicklung folgende Änderungen: 1. Es kam zur drastischen Zunahme der Menge und Publikationsfolge von Büchern, Zeitschriften und Zeitungen. Ermöglicht wurde diese Entwicklung durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes, der inzwischen landesweit vorangeschritten war, und die moderne Topographie- und Drucktechnik (vgl. Nagamine [[永峰]] 2004: 14 f.); 2. Der Büchermarkt wurde zentralisiert. Während Verlage in der Frühen Neuzeit nicht nur in den als santo bekannten Metropolen (Edo, Ôsaka und Kyôto), sondern auch in Provinzstädten entstanden waren, etablierte nun Tôkyô seine Stellung als Zentrum der Wissens- und Informationsproduktion gegenüber andere Städten (vgl. Nagamine [[永峰]] 2004: 32). Die im Zentrum publizierten Bücher, Zeitschriften und Zeitungen wurden also in Japan fast zeitgleich für Leser im Zentrum und der Provinz zugänglich. Diese Zentralisierung der Wissensproduktion entspricht der politischen Zentralisierung und Schaffung des modernen Einheitsstaats.
I RO UND AI : DAS A USEINANDERBRECHEN DER L IEBESSEMANTIK IN ZWEI S INNHORIZONTE In den vorangehenden Kapiteln habe ich zu zeigen versucht, dass die Liebessemantik zur Begründung einer Zweierbeziehung im frühneuzeitlichen Japan ausreichend komplex und gut entwickelt war. Entgegen meiner Ausführungen hat sich sowohl in der allgemeinen Wahrnehmung als auch unter Japanologen die Annahme verbreitet, es habe in Japan keine Äquivalenz zum westlichen love sowohl auf der begrifflichen als auch auf der praktischen Ebene gegeben, bis die Meiji-Intellektuellen das englische Wort love mit ren’ai übersetzten und diesen neuen Begriff in Umlauf brachten.4 Japaner in der Edo-Zeit sollen dagegen nur die »Wollust« gekannt haben.5 Welcher Deutung man den Vorzug gibt, hängt selbstverständlich davon ab, was 4
Vgl. Yanabu (柳父) 1982: 87–105; auf Deutsch: Ders. 1991: 74–84.
5
Es handelt sich hierbei um ein Muster, das durch die Yamanote-Intellektuellen im modernen Japan eine ständige Wiederholung erfuhr: »Vor der MeijiRestauration gab es in Japan x nicht. X haben die Japaner vom Westen gelernt …«
164 | L IEBESSEMANTIK UND S OZIALSTRUKTUR
man unter »Liebe« versteht. Definiert man »Liebe« als Zugangscode zur Intimität wie im ersten Kapitel, wird man zu der Erkenntnis kommen, dass die Liebessemantik in Japan sehr gut entwickelt und hoch reflexiv war: Der Liebesbeweis als Zugang zur Intimität, der aus der Differenzierung des psychischen und des sozialen Systems folgte, wurde zum Reflexionsgegenstand erhoben. Eine persönliche Intimbeziehung wurde von anderen unpersönlichen Beziehungen unterschieden. So war es etwa verwerflich, den Geliebten bzw. die Geliebte für Geld und/oder Macht zu verraten, wie sich beispielsweise in den Dramen von Chikamatsu im beginnenden 18. Jahrhundert zeigt. Es wurde zu jener Zeit bereits unterschieden zwischen der Ehe aus Liebe und der durch äußere Umstände – etwa aus ökonomischen oder machtpolitischen Gründen – erzwungenen Ehe. Der Liebesbeweis wurde bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, einhergehend mit der Verbreitung der Lesegewohnheit und über die segmentäre und die stratifikatorische Grenze hinaus, vom Ideal (wie in der Geschichte des Prinzen Genji) über den Exzess (passion) (wie in Romanen von Ihara Saikaku und den Dramen von Chikamatsu Monzaemon) auf Dauerhaftigkeit (wie in den ninjôbon-Romanen) umgestellt. In Opposition zu der oben genannten Auffassung, dass den Japanern die »Liebe« bis zu ihrer Einführung durch Europäer und US-Amerikaner fremd war, vertrete ich in diesem Kapitel die These, dass das spezifisch japanische Phänomen in der Kultur- und Begriffsgeschichte nicht darin besteht, dass die Japaner »Liebe« nicht kannten und für love ein neues Wort erfinden mussten, sondern dass der vormalige Liebesbegriff iro koi bzw. kôshoku (im Folgenden abgekürzt mit iro) die Position des Gegenbegriffs von ren’ai (im Folgenden ai) einnahm, wodurch sein Bedeutungsgefüge abgewertet wurde. 6 Die Tragweite dieser Begriffsdichotomie zeigt sich in
6
Sowohl unter den vom asketischen Protestantismus beeinflussten japanischen Intellektuellen der Meiji-Taishô-Zeit als auch in der deutschsprachigen Japanologie wurde die iro-Liebe oft als Wollust, also als Fleischesliebe diskreditiert. Davon ausgehend wurde propagiert, Japaner hätten in der Edo-Zeit keine »echte« Liebe gekannt. Dieses Argument erinnert mich daran, dass Europäer zur Zeit des Kolonialismus Einheimische in Südostasien (aber nicht nur dort) mit der Begründung massakrierten, dass nur getaufte Menschen eine Seele hätten. Ich möchte zudem darauf hinweisen, dass es keine Fleischesliebe im christlichen
DER WANDEL DER LIEBESSEMANTIK SEIT DER MAIJI-RESTAURATION
| 165
einem Beitrag der japanischen Kultur- und Literaturhistorikerin Saeki Junko (佐伯順子) über Tanizaki Jun’ichirô (谷崎潤一郎): »In his essay ›Love and Eroticism‹ (‚Ren’ ai oyobi Shikijô‘, 1931)7, Tanizaki Jun’ichirô stated that Japanese people learned the freedom of love and sexuality from Western Civilization. He said that ›Because our culture has traditionally looked down upon the issue of ren’ai, relationships between men and women have not been able to become the central focus of Japanese literature.‹ […] The problem with this is that the absence of ren’ai does not equate to the absence of the erotic. The term ren’ai does not appear in Japan before the Meiji period, but this is because other words served in its place. Instead of ren’ai, pre-Meiji Japanese literature employed the words iro or koi to indicate erotic attraction between two human beings, whether it be heterosexual or homosexual.« (Saeki 1999: 2)8
Um meine These zu stützen, die ich im vorigen Abschnitt angedeutet habe, soll zuerst gezeigt werden, welchen Sinnhorizont ai einerseits und iro andererseits in der gegenwärtigen japanischen Sprache haben. 9 Unter 恋愛 (ren’ai) findet man im Internet ca. 171.000.000 Einträge. Im Vergleich dazu taucht 色恋 (iro koi) viel seltener auf (ca. 1.260.000 Einträge). Es soll hier stichprobenartig weiter gezeigt werden, welche Wörter (Komposita) in diesem Bedeutungszusammenhang mit welcher Häufigkeit im Netz auftauchen (Stand 3. Mai 2013): 愛(ai): 愛情 (aijô: Liebe, Emotion der Liebe) = 138.000.000; 情愛 (jôai: Emotion der Liebe) = 3.670.000; 純愛 (jun’ai: reine Liebe, oft Hingabe ohne körperliche Beziehung) = 7.020.000; 愛欲 (ai yoku: sexuelles Begehren, Beharren auf eigenes Begehren) = 1.540.000; 愛液 (ai eki: Lubrikation) = 4.380.000. Yoku (欲) gilt im Buddhismus als eine schwere Sünde. Daher birgt das Wort 愛欲 (ai yoku) sehr negative Konnotationen und impliziert zumeist sexuelles Begehren. Das seit Meiji etablierte Wort 愛液 (ai eki) hat Bezug zur Sexualität. Hingegen schließt der Begriff 純愛 (jun’ai) die körperliche Beziehung fast komplett aus. Das Wort 純愛 (jun’ai) wird heutzutage sehr häufig gebraucht und weist im InSinne gibt, wo zwischen Geist und Fleisch im christlichen Sinne nicht unterschieden wird. 7
Vgl. Tanizaki (谷崎)) 1968: 243 f.; auf Deutsch: Ders. 2011: 10.
8
Auf Japanisch siehe Saeki ((佐伯)) 2000: 1.
9
Siehe auch Tamanura (玉村)) 1996.
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ternet eine große Zahl von Einträgen auf, woran sichtbar wird, welche Leitbedeutung dem Zeichen 愛 in der gegenwärtigen japanischen Sprache zukommt.10 Die reine Liebe steht der körperlichen Liebe entgegen; das Körperliche darf nicht zu ai gehören. Häufig kommt das Zeichen 愛 (ai) jedoch in Komposita vor, die über die intime Zweierbeziehung hinausgehen. 夫婦愛 (fûfu ai: Liebe des Ehepaars = 747.000 Einträge) bezieht dagegen auch die Intimbeziehung mit ein, schließt in diesem Sinne die Sinnlichkeit also nicht aus. Die nicht-sinnliche Bedeutung von 愛 (ai) in 兄弟 愛 (kyôdai ai: Brüderliebe = 2.250.000 Einträge), 家族愛 (kazokuai: Familienliebe = 1.860.000 Einträge), 祖国愛 (sokoku ai: Vaterlandsliebe = 111.000 Einträge) und 人類愛 (jinrui ai: Philanthropie = 364.000) ähnelt eher der agape beziehungsweise philia als dem eros der westlichen Sprachen. Folgende Ergebnisse lieferte die Internetsuche nach Komposita mit 色 (iro): 色欲 (shikiyoku: sexuelles Begehren) = 3.430.000 Einträge. Durch die Verbindung mit 欲 (yoku) wird auch hier eine Sünde im buddhistischen Sinn konnotiert. 色情 (shikijô: erotische beziehungsweise sexuelle Emotion, auch sexuelles Begehren) = 182.000.000. Dieses Wort wird heute oft als 色情狂 (shikijô-kyô: die immer brünstigen Menschen = 435.000) gebraucht. Wie das Zeichen 狂 (kyô: verrückt) anzeigt, ist hier eine irrationale, außer Kontrolle geratene Verhaltensweise impliziert. 色恋沙汰 (iro koi zata: Liebesaffäre, Liebesfall) kommt auf 463.000 Einträge. Jedoch gibt es auch Komposita mit iro, die keine negative, sondern eher positive Konnotationen tragen: 色 香 (iroka: erotische Attraktivität einer Frau) = 15.600.000 Einträge; 色っぽい (iro ppoi: erotisch, sexy) = 9.420.000 Ein-
10 Fujii (藤井 1999: 54) zufolge hat das Wort jun’ai (純愛) in den 30er Jahren der Shôwa-Zeit (von 1955-1965) Hochkonjunktur. Ein repräsentatives Beispiel ist ein in zwei Bänden publizierter Briefwechsel zwischen einem zum Tode verurteilten Mann und einer Jungfrau, die ihn heiratet. Sie führen weder gemeinsames Leben noch sexuelle Beziehung. In einem Brief heißt es etwa: »Unsere Körper sind getrennt, jedoch wir vertrauen und lieben uns von ganzem Herzen« (am 02.09.1959; zit. nach Fujii [[藤井]] 1999: 56; vgl. auch Tsujimura [[辻村]] 1981: 143 f.).
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träge; 色気 (iroke: erotische Ausstrahlung) = 13.100.000 Einträge11; 色気 づく(irokezuku: geschlechtsreif werden) = 48.600 Einträge; 色男 (iro otoko: sexuell ausstrahlender, faszinierender Mann, Dandy) = 4.340.000; 色女 (iro on’na: Sexualität ausstrahlende, faszinierende Frau) = 11.500.000. Die Bezeichnung als 色男 (iro otoko) wird nicht als negativ aufgefasst. Gleichsam gilt es als Beleidigung, von einer erwachsenen Frau oder einem erwachsenen Mann zu behaupten, sie oder er habe kein 色気 (iroke) (「君に は色気がない」 Kimi niha iroke ga nai). Der Begriff iroke wird auch im Sinne von »Charisma« gebraucht, um die rational nicht erklärbare Attraktivität einer Person zu bezeichnen. 色街 (iro machi = 314.000) beziehungsweise 色町 (iro machi = 145.000) bezeichnen Vergnügungs- beziehungsweise Freudenviertel. 色事 (irogoto/shikiji: Liebesaffäre) = 442.000 Einträge; 色話 (iro banashi: Liebesgeschichte) = 25.700 Einträge; 色目 (irome: verführerischer Blick; Blick, der das andere Geschlecht anzuziehen versucht) = 2.850.000 Einträge; 色 敵 (iro gataki: Nebenbuhler/Nebenbuhlerin, Rivale im Kampf um Liebe) = 4.800 Einträge;(恋敵 [koi gataki: ebd.] = 863.000 Einträge); 好色家 (kôshoku ka: ein Casanova) = 35.600; 男色家 (danshoku ka: schwul, nicht abwertend) = 234.000; 色は 思案の外 (iro ha shian no hoka: iro: außerhalb der Kontrolle des Denkens beziehungsweise der Vernunft; etwa: Liebe macht blind) = 34.200. Diese stichprobenartige Untersuchung zeigt deutlich, welcher Sinnhorizont mit den Zeichen ai beziehungsweise iro in der gegenwärtigen japanischen Sprache einhergeht.12 Auf eine sexuell fundierte Intimbeziehung wird eher mit dem Zeichen iro verwiesen. Dieses Zeichen impliziert nie eine rein geistige (spirituelle) Beziehung und wird nie im Sinne von agape oder philia verstanden. Hingegen kann ai über eine (sexuelle) Zweierbeziehung hinausgehen, wie sokoku ai und jinrui ai zeigen.13
11 Es sei darauf hingewiesen, dass dieses Wort laut Tanizaki nicht in eine westliche Sprache übersetzbar ist. Vgl. Tanizaki (谷崎) 1968: 273 f.; auf Deutsch: Ders. 2011: 66f. 12 Akagawa (赤川 2002: 151) zufolge stehen im gegenwärtigen Japan diese zwei Sinnhorizonte einander nicht mehr polar gegenüber wie im Japan der MeijiTaishô-Zeit, sondern überschneiden sich zusehends. 13 Zur Trennung von spiritueller und körperlicher Liebe im Nachkriegsjapan siehe Ryang 2006, insbesondere Kap. 3 und 4.
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Im hiesig genannten Gegensatz auf der begrifflichen Ebene spiegelt sich meiner These zufolge der Kampf um die kulturelle Hegemonie von der Oberstadt-Kultur (山の手文化 yamanote bunka) und der Unterstadt-Kultur (下町文化 shitamachi bunka) wider. Die Durchsetzung des ren’ai-Begriffs impliziert die Etablierung der yamanote-Kultur als der neuen repräsentativen Kultur des modernen Japans.14
B UNMEI / YABAN – M EIJI - Z EIT 15
DIE
L EITDIFFERENZ
IN DER
Bevor ich zur Analyse der Liebessemantik in der Meiji-Taishô-Zeit komme, soll der Begriff bunmei kaika (文明開化) Erwähnung finden, der das Begriffsfeld zu jener Zeit entscheidend mitprägte. Die Leitdifferenz zu jener Zeit kontrastierte bunmei (文明 Zivilisation) mit yaban (野蛮 Barbarei). Diese Leitdifferenz hatte auch Auswirkungen auf den Wandel der Liebessemantik. Die japanischen Intellektuellen der Meiji-Zeit beschrieben den politischen, ökonomischen und sozialen Wandel seit der Öffnung des Landes weder als Verwestlichung noch als funktionale Differenzierung. Die Beobachtung und Beschreibung dieses Gesellschaftswandels als Verwestlichung ist vielmehr ein späteres Phänomen, das nach dem fin de siècle einsetzte, also nach der Einführung der neoromantischen europäischen Ideen (vgl. Morikawa 2013). Der Leitbegriff zu jener Zeit, d. h. nach der MeijiRestauration bis zum Ende der 1880er Jahre, lautete bunmei kaika (文明開 化): Zivilisation und Aufklärung. Präziser formuliert meint dieser Begriff den Prozess der Zivilisierung. 16 Es war Fukuzawa Yukichi (福澤諭吉 1834–1901), der größte Denker der Meiji-Aufklärung, der in Seiyô Jijô ( 『西洋事情』 Things West) das englische civilisation mit dem konfuzianischen Wort bunmei übersetzte (vgl. Fukuzawa [[福澤]] 2002 [1866]).17 Mit diesem Wort war jedoch nicht die materielle, mechanische Zivilisation ge14 Zur Differenzierung zwischen der Yamanote- und Shitamachi-Kultur siehe Morikawa 2013: 107, 110, 133, 200, 234 f. 15 Ich schließe mich hier der Argumentation Watanabes (渡辺 2010) an. 16 Man erinnere sich an das bekannte Buch von Norbert Elias (1969). 17 Siehe auch Schad-Seifert (1999).
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meint. Vielmehr führte er dieses Wort in der Übersetzung von Robert und William Chambers’ Political Economy for Use in Schools, and for Private Instruction ein.18 Darin heißt es: »It is shewn by history that nations advance from a barbarous to a civilised state. The chief peculiarity of the barbarous state is that the lower passions of mankind have there greater scope, or are less under regulation, while the higher moral qualities of our nature are little developed, or have comparatively little play. In that state the woman is the slave instead of the companion of her husband, the father has uncontrolled power over his child and generally the strong tyrannise over and rob the weak. From the consequent want of confidence between men there can be no great combinations for the general benefit, in short no institutions. In the state of civilisation all is reversed; the evil passions are curbed and the moral feelings developed; woman takes her right place, they are protected; institutions for the general benefit flourish.« (Chambers 1852: 6)
Es wird deutlich, dass das hier vorgestellte Zivilisationskonzept, das seine Wurzeln in der schottischen Aufklärung hat, den kognitiven und ethischen Fortschritt bedeutet. Nur wenn sich die Moral eines jeden Bürgers verbessert, verfeinert und kultiviert sich die Gesellschaft als Ganzes, und nur dann kann eine Nation gedeihen. Die gemeine Leidenschaft sollte diszipliniert und der Selbstkontrolle, im Notfall fremder Obhut unterworfen werden. Das Konzept der Zivilisation propagiert nicht willkürliche Freiheit, sondern Selbstkontrolle und Selbstdisziplin. Fukuzawa selbst trug mit anderen Büchern wie Gakumon no susume ((「学問のすすめ」)) und Bunmeiron no gairyaku ((「文明論之概略」)), die in höheren Auflagen gedruckt wur-‐ den, zur Verbreitung dieses Konzepts bei. Nicht nur Fukuzawa, sondern fast alle Meiji-Intellektuelle seiner Generation waren Verfechter dieses Zivilisationskonzepts. Zum Beispiel heißt es in Samuel Smiles’ Self Help, einem weiteren in Japan zur damaligen Zeit sehr populären Buch: »Civilization itself is but a question of the personal improvement of the men, women and children of whom society is composed.« (Smiles 2002 [1859]: 8) Wie bereits erwähnt, stammt bunmei, das als Begriff für civilisation gewählt wurde, aus Texten des Konfuzianismus. Es findet im Buch der Ge18 Zur Chamber-Rezeption durch Fukuzawa siehe Schad-Seifert (1999: 87–104).
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schichte (書経 Shangshu) und im Klassiker der Wandlungen (易経 I Ging) Erwähnung (vgl. Watanabe [[渡辺]] 2010: 408). 19 Nach Auffassung des Konfuzianismus ist allen Menschen von Geburt an Güte als Naturanlage mitgegeben: Gute und schlechte/böse Menschen unterscheiden sich dahingehend, inwiefern ihre Güte kultiviert ist. In den guten Menschen ist die Güte weit gepflegt und kultiviert, während diese Tugend bei schlechten Menschen unterentwickelt bleibt. Die guten, kultivierten Menschen sind deshalb angehalten, die schlechten, unkultivierten und gemeinen Menschen zu führen und ihnen dabei zu helfen, ihre Güte zu kultivieren. Dieser Semantik zufolge sollte die soziale Hierarchie der moralischen Hierarchie entsprechen (vgl. Weber 1988 [1920]: insbesondere 514 f.). Sie entspricht auf der Strukturebene am ehesten der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft mit Zentrum/Peripherie-Differenzierung, nicht der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft. Die kultivierte Güte strahlt nach konfuzianischer Auffassung als Tugend aus dem Inneren des Menschen heraus. Das Wort bunmei bedeutet das Leuchten der kultivierten menschlichen Güte und kaika bezeichnet deren Kultivierung. Die Zivilisation ist die Kultivierung des moralischen Geists und der Gefühle. Dieser Prozess sollte die konfuzianischen Ideale, vor allem das Humanitätsideal – jin (ern) (仁) – in die Realität umsetzen. Der Unterschied zwischen Zivilisation und Barbarei entspricht der Unterscheidung zwischen Gut und Böse im gerade erwähnten Sinne. Hier wird ersichtlich, dass der japanische Zivilisationsbegriff erstaunliche Parallelen zum aus dem 19. Jahrhundert stammenden westlichen Konzept der Zivilisierungsmission aufweist, obgleich seine Wurzeln im Konfuzianismus liegen. Osterhammel (2005) zufolge beinhaltet der Begriff der »Zivilisation« bzw. »Zivilisierung« in seiner viktorianischen Auslegung folgende Bestandteile: 1. Es handelt sich dabei um einen evolutionären Zivilisationsbegriff im Sinne eines langfristigen Naturprozesses, »der durch allmähliche Reifung auch die jetzigen ›Primitiven‹ einst in den Zustand der Zivilisiertheit versetzen wird« (Osterhammel 2005: 366). In der viktorianischen Weltsicht wurde die »Existenz einer ›Stufenleiter der Zivilisiertheit‹ […] allgemein anerkannt und seit den sechziger Jahren von evolutionistischen Theoretikern zu wissenschaftlichen Weihen erhoben.« (Osterhammel 19 「文明之世,銷鋒鑄耜。以道順民,百王不易」(Chiao-shih I-lin; zit. nach. d. Kyôto-Ausgabe von 1976 [1692]: 283).
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2005: 388 f.)20; 2. Der Zivilisationsbegriff beinhaltete die Vorstellung der erzieherischen Rolle vom Staat, dessen Eingriff durch ihn legitimiert ist (vgl. Osterhammel 2005: 366). Es ist die Aufgabe des Staates, nicht nur »sich selbst zu repräsentieren und zu perpetuieren, sondern die Gesellschaft durch Reformen den idealen Maßstäben der Vernunft anzunähern« (Osterhammel 2005: 382); 3. Ein weiteres Ziel war »die Beseitigung despotischer Missregierung [...] oder die Verwandlung ›anarchischer‹ Zustände in eine für alle vorteilhafte Friedensordnung oder ›pax‹« (Osterhammel 2005: 367). Zu diesem Ziel war im gegebenen Fall ein militärischer Eingriff von zivilisierten Nationen nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht; 4. Zivilisation im 19. Jahrhundert bedeutete auch, »dass das Vorbild Europas zumindest einen neuen moralischen Ton in ›barbarische‹ Gesellschaften hineintragen würde«. Sie bedeutete »die Herrschaft des freien Geistes: über Unwissenheit, Krankheit, Tyrannei, Aberglauben und zu guter Letzt auch über die dunklen Seiten der menschlichen Natur« (Osterhammel 2005: 388) – d. h. die unkontrollierbaren Emotionen. Sie verfolgte nicht die »zwanglose Entfaltung der im Menschen verborgenen Naturanlagen, sondern einen Sieg über eine der Disziplinierung und Läuterung bedürftige Triebausstattung, die der Mensch als Gattungswesen aus früheren Stadien seiner Entwicklung mitschleppte« (Osterhammel 2005: 388); 5. Im Zivilisationsbegriff drückte sich zudem »ein bürgerliches Misstrauen gegen das rohe Volk« (Osterhammel 2005: 368) sowie 6. die »Entdeckung der europäischen, technischen Überlegenheit« aus.21 Die japanischen Intellektuellen der frühen Meiji-Zeit nahmen die große Transformation der Gesellschaft als bunmei kaika wahr, wie aus Beobachtungen und Beschreibungen hervorgeht. Dies bedeutete die Kultivierung der moralischen Gefühle und den kognitiven und ethischen Fortschritt der Menschen und der Gesellschaft in Richtung einer Zivilisation im oben dar20 Hier kann Herbert Spencer als bekanntester Vertreter herangezogen werden. Seine Bücher erfreuten sich zu jener Zeit bei japanischen Intellektuellen großer Beliebtheit. Vgl. Morikawa 2013: 97 ff. 21 Im Vergleich mit Europa: »Die Persönlichkeitsvorstellung des 19. Jahrhunderts setzte sich aus drei Elementen zusammen: Einheit von innerer Regung und äußerer Erscheinung; Selbstkontrolle des Gefühlslebens; Spontaneität als Abnormität.« (Sennett 2008: 343); »Im Alltagsleben wird der spontane Ausdruck idealisiert, aber realisiert wird er im Bereich der Kunst.« (Sennett 2008: 340)
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gelegten Sinne. Die Leitdifferenz dieser Semantik ist weder Ost/West noch Inland/Ausland oder Christentum/Buddhismus resp. Konfuzianismus, sondern Zivilisation/Barbarei. Mit dieser Codierung wird die Zentrum/Peripherie-Differenzierung beobachtet und beschrieben (siehe Kap. 1 der vorliegenden Arbeit). Diese Leitdifferenz spiegelte sich in jedem Diskurs über die gesellschaftlichen und politischen Reformen nach der MeijiRestauration wider. Im anschließenden Exkurs gehe ich auf die Diskurse zur Familienreform und zur Frauenfrage ein, die in diesem Begriffsfeld situiert sind, da ohne deren Kenntnis der Wandel der Liebessemantik in der Meiji-Taishô-Zeit schwer nachzuvollziehen ist.
E XKURS : D ISKURS
ÜBER
F AMILIENREFORM
Unter den japanischen Intellektuellen galt die Reform des Familienrechts seit den 1870er Jahren als akutes Problem.22 Insbesondere strebten sie danach, die Konkubinen in der Aristokratie abzuschaffen (vgl. KischkaWellhäusser 2004: 53–107). Damit beschäftigte sich auch Mori Arinori (森 有礼 1847–1889), der später als Bildungsminister (1885–1889) bestrebt war, seine Reformpläne zu verwirklichen. Der oben erwähnte bunmeiBegriff (Zivilisation) steht nicht im Widerspruch zum konfuzianischen Weltbild, sondern kann vielmehr als dessen angestrebtes Ideal verstanden werden. Nur vor diesem Hintergrund können wir Moris Argument in einem der berühmtesten Plädoyers für die Familienreform On Wives and Concubines (「妻妾論」1874) verstehen. Aufgrund seiner Thematisierung der Gleichstellung von Mann und Frau wird seit langem diskutiert, inwiefern sein Denken über die intime Beziehung als »modern« gelten kann. Zur Beantwortung dieser Frage ist es erforderlich, sein Argument eingehender zu betrachten:
22 Zum Wandel des Familienbilds im Laufe der Meiji-Zeit siehe Muta (牟田 1990a). Aus der Analyse typischer Zeitschriften zieht sie folgende Schlüsse in Bezug auf diese Transformation: 1) Aufwertung der emotionalen Bindung zwischen den Familienmitgliedern sowie anschließend daran seit ca. 1887; 2) normative Rollenzuweisung zwischen den Geschlechtern.
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»Wenn keine moralische Aufklärung erfolgt, unterdrücken die Starken die Schwachen, betrügen die Klugen die Dummen. Im extremen Fall gehen die Unaufgeklärten soweit, aus ihrer Überlegenheit ein Geschäft zu machen, das ihnen einträchtig ist, während sie es gleichzeitig zu genießen wissen. So ist es üblich unter barbarischen Verhältnissen. Das Unerträgliche dabei ist, dass der Ehemann die Ehefrau herzlos ausbeutet.« (Mori [[森]] 2008 [1874]: 53; eigene Übersetzung)23
Dieser Abschnitt spiegelt einige der oben genannten Diskurse wider, die im Begriffsfeld von bunmei stattfanden. Moris Familienreform war als Teil seiner allgemeinen Moralreform konzipiert. Sein Aufsatz beginnt mit den Worten: »Die Beziehung zwischen Ehemann und Ehefrau ist das Fundament der Sittlichkeit. Erst durch dieses Fundament wird die Praxis der Moral ermöglicht. Erst durch die Praxis der Moral wird das Land gefestigt.« (Mori [[森]] 1999 [1874]: 276; eigene Übersetzung)2425 Alle menschlichen Beziehungen sollen durch die Tugend geregelt und reguliert werden. Wer diese Tugend verinnerlicht, darf als zivilisiert angesehen werden. Auch die Idee der Disziplinierung und Läuterung der unvollkommenen Triebausstattung des Menschen findet hier Ausdruck. Nach dieser universalistischen Annahme gibt es keinen qualitativen beziehungsweise funktionellen Unterschied zwischen verschiedenen Arten von Beziehungen zwischen Menschen. In der zivilisierten Gesellschaft herrscht die moralische Tugend, 23 Im Original:「道のいまだ明ならざるや、強は弱を圧し、智は愚を欺き、 そのはなはだしきはこれをもって業とし、これをもって快とし、かつ楽 む者あるに至る。これすなわち蛮俗の常にして、ことにその見るに忍び ざるものは、夫たる者のその妻を虐使するの状なり」。 Engl: »When righteousness does not prevail, the strong oppress the weak, and the smart deceive the stupid. In extreme case, immorality becomes an amusement providing a source of livelihood as well as of pleasure. Among the customs common among barbarians, mistreatment of wives by their husbands is especially intolerable to wives.« (Zit. nach Braisted [Übers.] 1976: 189) 24 Im Original:「夫婦の交は人倫の大本なり。その本立ちてしかして道行わ る。道行われてしかして国はじめて堅立す」。 Engl.: »The relation between man and wife is the fundamental of human morals.« (Zit. nach Braisted [Übers.] 1976: 104) 25 Nahezu identisch äußerte sich der konfuzianische Moralist Buyô vor knapp 60 Jahren (siehe Buyô [[武陽]] 1994 [1816]: 356; vgl auch 372).
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gemäß derer sich alle gemäß ihrer Rolle und ihrem Status richtig zu verhalten habe: Vater als Vater, Kind als Kind, Ehefrau als Ehefrau. In dieser Semantik gleicht das Verhältnis von zivilisiert/barbarisch dem von gut/ böse. Wie aber beurteilt er den Zustand der japanischen Familie zu jener Zeit? Im Hinblick auf das Vorurteil, das besagt, dass die familiäre Blutlinie innerhalb der japanischen Gesellschaft immer eine sehr wichtige, wenn nicht sogar heilige bzw. unantastbare Rolle gespielt habe, haben Sozialund Wirtschaftshistoriker wiederholt darauf hingewiesen, dass die Unantastbarkeit der Blutlinie wegen des verbreiteten Brauchs der Adoption Erwachsener in japanischen Familien einer Fiktion gleicht und die realen Praktiken nur bedingt abbildet. Dies lässt darauf schließen, dass in der japanischen Gesellschaft der frühen Neuzeit nicht länger primär eine segmentäre und stratifikatorische Differenzierung vorherrschte, da das Abstammungsprinzip eher diesen Differenzierungsformen entspricht. Die Erwachsenen-Adoption ermöglichte es einer Familie, ihren Nachfolger außerhalb der segmentären Einheit zu rekrutieren und verlieh ihr damit mehr Anpassungsfähigkeit an die sich wandelnde Umwelt und mehr strategische Entscheidungskraft zugunsten des Wohlstands der ganzen Familie (vgl. Eisenstadt 1996: 200; vgl. Fauve-Chamoux/Ochiai [Hrsg.] 2009). Diese Gewohnheit bewertet Mori jedoch als unmoralisch und verwerflich: »In den europäischen und nordamerikanischen Ländern ist es ein verbreiteter Brauch, die Blutlinie rein zu halten. Darauf gründet ihre Moral. Selbiges gilt nicht für die asiatischen Länder. Insbesondere in unserem Land wird der Blutlinie sehr wenig Bedeutung entgegen gebracht. [...] Daher diskutiere ich im Folgenden die moralischen Schäden, die sich aus der Missachtung der Blutlinie ergeben können.« (Mori [[森]] 1999 [1874]: 366; eigene Übersetzung)2627
26 Im Original:「血統を正するは欧米諸州の通習にして、倫理の因てもって 立つところなり。亜細亜諸邦においては必しも然らず。ことにわが国の ごとき、血統を軽んずる、そのもっとも甚き者なり。[…]ゆえに余、今 ここにその血統を軽ずるの一端を挙げて、その弊を云わん」。 Engl: »[H]onoring the blood line is the foundation upon which morality is customarily based in Western countries. This is not invariably the case in Asian lands, especially in our country where honoring the blood line is treated most
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Hier ist interessant festzustellen, dass Mori sowie andere Intellektuelle der frühen Meiji-Zeit die japanische Gesellschaft als moralisch verfallen und barbarisch bewerteten und die europäischen, vermeintlich »zivilisierten« Gesellschaften, in denen die Blutlinie im patriarchalischen Sinne geehrt wurde, als moralisch überlegen betrachteten.28 Ihre Beobachtung war insofern zutreffend, dass das Patriarchat in der Tat im europäischen Familiensystem des 19. Jahrhunderts – vor allem in viktorianischem Zeitalter – gefestigt wurde (vgl. z. B. Perrot 1994: 127–193; Siedler 1977: 149–169). Die japanischen Reformer betrachteten eine »Zivilisierungsmission« nach westlichem Vorbild als ihre eigene Aufgabe (vgl. Osterhammel 2005: 390f.). Die Reform der Familie zielte auch auf die Erziehung der Kinder ab. Von Frauen und Müttern wurden nun erwartet, die Rolle der Erzieherin zu übernehmen. Diese Rollenerwartung war in der japanischen Sozial- und Kulturgeschichte bis zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt und die Erziehung der Kinder war – zumindest in der gehobenen Schicht – nicht als die Aufgabe der Mütter angesehen worden (vgl. Kischka-Wellhäusser 2004: 80 f.). Mori sah die Kindererziehung nicht als private Angelegenheit, sondern als nationale Aufgabe und wies den Frauen die Rolle der Erzieherin zu: »In Kindern spiegelt sich die Mutter wieder, wie im Spiegelbild Dinge. Wenn ihre Eigenschaften nicht rein sind, dann können die Eigenschaften von ihlightly […]. Let me here point out an instance in which morality is not clear because the blood line is not honored.« (Zit. nach Braisted [Übers.] 1976: 144) 27 Es gibt zwei Möglichkeiten, seine Äußerungen auszulegen. 1. Die Familie konnte sich immer mehr auf die Kult-Funktion konzentrieren, weil sie die ökonomische Funktion den formalen wirtschaftlichen Organisationen zu überlassen begann. 2. Es war die Entdifferenzierung und die moralische Integration, welche die beginnende funktionale Differenzierung rückgängig machen sollten. Es sind vielleicht mehr historische Studien erforderlich, um diese Frage zu beantworten, aber es fällt mir schwer, anzunehmen, dass die erste Auslegung richtig ist, besonders im Hinblick auf ökonomische Organisationen, insbesondere BusinessKonglomerate, auch Zaibatsu (財閥) genannt, bis zum Ende des Pazifischen Krieges. 28 Für die erste Generation der Meiji-Intellektuellen war es völlig undenkbar, moralische Überlegenheit in einem Wilden zu vermuten. Eine solche Annahme wurde erst mit der Einführung der romantischen Semantik in den 1890er Jahren möglich. Zu romantischen Intellektuellen in Japan siehe Morikawa 2013.
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ren Kindern, dementsprechend, nicht rein sein.« (Mori 2008 [1874]: 189)29 Diese Idee wurde auch von den anderen Intellektuellen zu jener Zeit geteilt. Von Nakamura Masanao (中村正直: 1832–1891) sind zum Beispiel folgende Aussagen überliefert: »Ich habe vormals darüber gesprochen, wie man das Wesen der Menschen in diesem Land umgestalten kann. Dabei bin ich der festen Überzeugung, dass es nur anhand von zwei wesentlichen Themenbereichen der Erziehung, nämlich der moralisch-religiösen Erziehung sowie der [Erziehung zur] Kunst und Wissenschaft, gelingen kann, den Geist der Menschen zu reformieren und aufzuwerten.« (Nakamura [[中村]] 1875 [2009]: 123; eigene Übersetzung)30 »Es gibt keinen besseren Weg, gute Mütter heranzuziehen, als durch die Erziehung junger Mädchen. Wenn Mädchen, die in Moral und Religion unterrichtet wurden, später nach der Heirat Kinder gebären, [...] wäre es nicht übertrieben, zu behaupten, dass diese sich schon von Geburt an, während sie noch im Kinderstall spielen und von der Mutter gestillt werden, die Grundlagen zur Entwicklung von Tugenden wie Tapferkeit, Belastbarkeit und Beharrlichkeit aneignen.« (Nakamura [[中村]] 1875 [2009]: 125–126; eigene Übersetzung)31
29 Im Original:「子の母におけるは、あたかも写真鏡の物質に応ずるがごと し。もしその質純清ならざれば、すなわちこれを写すところの子またし たがいて純清なるを得ず」。 Engl.: »As children respond to their mother just like a reflection in a mirror, if the mother’s disposition is not pure, then the children, reflecting this, also cannot be pure.« (zit. nach Braisted [Übers.] 1976: 252). 30 Im Original:「余前に人民の性質を改�造する説を演べ、モーラル・レリヂ ヲス・エヂュケーション(修身および敬神の教育)、アートサイエンス (技芸および学術の教育)、この二大分の教育によらざれば、人民の心 を一新し高等の度に進ましむる能わざることを説きたり」 Engl.: »When I previously discussed reforming the character of the people, I explained that we cannot renew the minds of the people and raise them to a high level unless we rely on the two main divisions of education. One is ›religious‹ and ›moral‹ education.« (Zit. nach Braisted [Übers.] 1976: 401) 31 Im Original:「さて善き母を造らんには女子を教るに如かず。女子をして モーラル・エンド・レリヂヲス・エヂュケーション(修身および敬神の 教)を受しめ、男子に嫁して子を生みたらんには、[…]他日剛強・勇
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Basierend auf dieser Idee wurde in Japan ab 1899 die Girls’ High School eingerichtet. Das Ziel dieser Institution lag in der Ausbildung guter Ehefrauen und weiser Mütter (Kischka-Wellhäusser 2004: 65–71).32 Die Frage, ob diese Idee der ryôsai kenbo (良妻賢母 »gute Ehefrau und weise Mutter«) ein speziell japanisches Phänomen ist und somit vor dem Hintergrund des konfuzianischen Familienstaats verstanden werden kann oder nicht, ist umstritten (vgl. Muta [[牟田]] 2000: 26). Koyama weist – aus meiner Sicht zu Recht – auf die Gemeinsamkeiten des Konzepts der ryôsai kenbo mit dem viktorianischen Frauenbild hin (vgl. Koyama [[小山]] 1991: 1–7).
I WAMOTO Y OSHIHARUS F RAUENIDEAL T ÔKOKUS LOVE
UND
K ITAMURA
Nach diesen Vorbemerkungen wende ich mich nun dem Wandel der Liebessemantik unter Intellektuellen der Meiji-Zeit zu. Die MeijiIntellektuellen verurteilten fast alle Konventionen, Bräuche und Kulturen der Edo-Zeit als barbarisch mit der Begründung, dass sie die menschliche Natur – die Naturanlage des Menschen im oben genannten konfuzianischen, zivilisationstheoretischen Sinne – verzerrten. Auch das Vergnügungsviertel wurde als barbarisch und unmoralisch geächtet. Der Besuch dieser Viertel wurde ebenso wie der Theaterbesuch dort und das Lesen von ninjôbon-Liebesromanen als unmoralisch verworfen. Solcherlei Kritik an den Vergnügungsvierteln wurde nicht nur von christlichen Missionaren ge果・勤勉・忍耐の諸徳となる基本、すでに揺籃に戯むれ乳養を受る間に 備り立つというも、誇大の言にはあらざるなり」。 Engl.: »Now to develop fine mothers, there is nothing better than to educate daughters. Let us take the case of a woman endowed with moral and religious education who is married and gives birth to a child [...]. It is not excessive even to say that the foundations for his virtues of bravery, endurance, and perseverance of a later day were laid while he was still playing in his cradle and receiving his mother’s milk.« (Zit. nach Braisted [Übers.] 1976: 402) 32 Okui (奥井 2003) geht davon aus, dass kindai kazoku (die moderne Familie) kyôiku kazoku (Familie als Erziehungsanstalt) ist. Ob diese Konnotation ein spezifisch ostasiatisches Phänomen ist oder in der allgemeinen Vorstellung der modernen Familie verwurzelt ist, bleibt hier dahingestellt.
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äußert, sondern auch von den neuen Bürgern in der Oberstadt, von deren Misstrauen gegenüber der alten unterstädtischen Edo-Kultur sie zeugte. Von 1885 bis 1904 wurde die Zeitschrift Jogaku Zasshi (『女学雑 誌』)) monatlich, später alle zwei Wochen, herausgegeben. Von Beginn an hatte sie eine Auflage von etwa 2.500 Exemplaren. Sie strebte zum einen die Aufklärung und sittliche Verbesserung der Frau an, propagierte jedoch auch gleiche Rechte für Frauen durch Bildung und Selbstdisziplin.33 Iwamoto Yoshiharu (巌本善治 1863–1942) – ein Schüler des oben erwähnten Nakamura Masanao – übernahm diese Zeitschrift 1886, kurz nach ihrer Gründung. Mit Blick auf die didaktischen Ziele des Magazins richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Lesegewohnheiten der jungen Frauen (vgl. Schamoni 1983: 125 f.). Wie die meisten Intellektuellen und Christen seiner Zeit war er davon überzeugt, dass alle unterstädtischen Kulturpraktiken, die aus der Edo-Zeit stammten, moralisch verwerflich seien. Ihre Abschaffung betrachtete er als Ziel seiner Zivilisierungsmission.34 Die Christen der Meiji-Zeit sahen wie die konfuzianischen Moralisten der Edo-Zeit die Ursache des Sittenverfalls der japanischen Bevölkerung in den Dramen des Kabuki- und Jôruri-Theaters, in modischen Liedern (小唄 Kouta) und der Ninjôbon-Unterhaltungsliteratur. In dieser Hinsicht stimmten sie miteinander überein.35
33 Zu Jogaku Zasshi siehe auch Kischka-Wellhäusser 2004: 108–323. Dieses Programm erinnert an die deutschen Frauenzeitschriften der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (vgl. Weckel 1998: 25). Als repräsentatives Beispiel hierfür möchte ich auf die Zeitschrift Für Hamburgs Töchter verweisen, die den Anspruch verfolgte, »über weibliche Pflichten zu belehren, [Frauen] auf Fehler und Schwächen hinzuweisen sowie zu Demut, Tugend und Häuslichkeit anzuhalten.« (Weckel 1998: 50) Für den Hinweis auf die Parallelität zwischen Jogaku Zasshi und Für Hamburgs Töchter danke ich meiner Studentin Laura Inglin. Siehe auch Hausen (1976). 34 Zum christlichen Hintergrund der Zeitschrift Jogaku Zasshi siehe KischkaWellhäusser 2004: Kap.3. 35 Erinnert sei hier auch an die Äußerungen Kaibara Ekkens (Kaibara [[貝原]] 1909 [1716]: 9) und Buyô Inshis (Buyô [[武陽]] 1994 [1816]: 359, 376). Betrachtete man die konfuzianischen Moralisten als Traditionalisten und die Christen als Modernisten, verfiele man einem gravierenden Irrtum, der eine naive, sogar fal-
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Die ninjôbon-Liebesromane, die seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Umlauf waren, stellten das Leben und die Liebe – wenn auch nicht immer im Vergnügungsviertel – doch fast immer in der Unterstadt dar (siehe Kap. 4 der vorliegenden Arbeit). Sie waren jedoch nicht nur bei Frauen in der Unterstadt, sondern auch bei Frauen in der gehobenen Schicht populär (vgl. Schamoni 1975: 27ff.). Um dieses »Problem« zu bekämpfen, bot Iwamoto Frauen lehrhafte Lesestoffe mit einer neuen, zum Ideal stilisierten Frauenfigur an. In seinem Essay Risô no kajin (「理想の佳人」 Ideale Frauen 1888) kommt Iwamoto zu dem Schluss, dass der Heldinnentyp der ninjôbon-Romane für den Sittenverfall unter Frauen verantwortlich sei. Stattdessen schlägt er einen neuen Heldinnentypus für eine »zivilisierte Nation« vor: ein Schulmädchen oder eine Studentin mit einer guten Ausbildung und natürlich mit einer guten moralischen Bildung, die sich durch Selbstdisziplin und Zurückhaltung auszeichnet.36 Anhand dieses Beispiels kann sehr gut die Wirkung der Leitdifferenz von bunmei/yaban gezeigt werden, die sich mit der von der Regierung und den Intellektuellen geförderten Familienreform deckte. Erst an dieser Stelle und in diesem Zusammenhang soll Kitamura Tôkoku (北村透谷 1868–1894) – Schriftsteller und Dichter zu jener Zeit – Erwähnung finden. Anderenfalls erliegt man schnell dem weithin akzeptierten und verbreiteten Mythos, er sei der Pionier des »modernen« Liebesbegriffs in der japanischen Geistesgeschichte gewesen. Ebenso missverständlich ist die Annahme, er habe das Wort ren’ai bzw. ai mit seiner heutigen Bedeutung ins Japanische eingeführt (vgl. Inoue [[井上]] 1975: 176 f.; Yanabu [[柳父]] 1982: 87–105; ders. 1991: 74–84; Morton 1999: 298f.; Saeki: 2011). Begründet wird diese Annahme häufig damit, dass er ren’ai so leidenschaftlich verherrlicht und gepriesen habe wie niemand zuvor. Dafür wird der folgende Absatz oft als Beleg zitiert: »Liebe ist der geheime Schlüssel zum Leben. Erst nach der Liebe kommt das Leben. Wenn die sche Gleichsetzung der Modernisierung mit der Verwestlichung, sogar mit.der Christianisierung impliziert. 36 Zu dieser sozialen Gruppe, ihrer schichtenmäßigen Geschlossenheit und ihrem Verhältnis zu »Modernismus« und »Traditionalismus« im Hinblick auf das Frauenideal und die Rollenverteilung siehe Yoshida (吉田) 2000. Ihrer Analyse zufolge ist die Alltagswelt von Schulmädchen weniger von der Moderne als vom »Traditionalismus« geprägt (vgl. 135).
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Liebe dem Leben entrissen würde, wie grau und eintönig wäre das Leben!« (Kitamura [[北村]] 1974 [1950] Bd. 1: 254; eigene Übersetzung)37 Kitamura zufolge war die Liebe den Japanern bis in die Meiji-Periode fremd gewesen. Sie sollen nichts als sexuelle Begierde und Fleischeslust gekannt haben. Im Hinblick auf Kitamuras Argument, dass es in Japan iro gegeben habe, aber nicht ai – die Liebe im »europäischen Sinn« gemäß seiner Interpretation – ist es für den erkenntnisgeleiteten Zweck der vorliegenden Arbeit legitim, hier die Frage zu stellen: Was verstand er unter »Liebe« (ren’ai)? Hingegen soll nicht darauf eingegangen werden, ob seine These – dass die Japaner keine Liebe, sondern nur sexuelle Begierde und Fleischeslust gekannt hätten – richtig oder falsch ist. Es sei an dieser Stelle zudem erwähnt, dass er nicht nur die ai-Liebe der iro-Liebe gegenüberstellte, sondern die ai-Liebe, d. h. die vermeintlich »westliche« Liebe als sehr spirituell und religiös verstand.38 Sein Liebesverständnis war, so zeigt sich hieran, stark viktorianisch geprägt. Kitamura wirft der iro-Liebe vor, nichts anderes als fleischliche Liebe, nichts anderes als Begierde und Wollust zu sein: »Man bedenke, dass in der Literatur ein Unterschied zwischen Wollust (好色) und Liebe (恋愛) besteht; dass Wollust lebt, wer sich der niedrigsten Bestialität menschlichen Verlangens hingibt, wogegen Liebe Ausdruck der Schönheit des geistigen Lebens ist; dass die Beschreibung der Wollust den Menschen ins Reich der Bestie treibt, während die Beschreibung der echten Liebe ihn mit Schönheit und Geist segnet; dass die Schriftsteller, die sich als Lehrer und Vertreter der Wollust sehen, die Menschen ins Reich der Bestie treiben, während sie der Liebe, dem wundervollsten und schönsten Thema der Literatur, bitteren Schaden zufügen.« (Kitamura [[北村]] 1974 [1950] Bd. 1: 277; eigene Über37 Im Original:「恋愛は人世の秘鑰なり、恋愛ありて後人世あり、恋愛を抽 き去りたらむには人生何の色味かあらむ」(Kitamura [北村] 1974 [1950] Bd.1: 254) Engl.: »Love is the secret key of life. After there is love there is life. What meaning would existence have if one were to remove love.« (Zit. nach Brownstein 1981: 98) 38 Zum Zusammenhang von Liebe und Religion in der deutschen Romantik siehe Kluckhohn 1966. Kitamura Tôkokus Liebe ist zwar christlich, aber nicht »modern«.
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setzung)39 Lieben und Geliebtwerden sind Teil der natürlichen menschlichen Disposition im Sinne der angeborenen Naturanlage. Aber die Schönheit der iro-Liebe in der Edo-Literatur, so Kitamura, sei »weder wahr noch natürlich« gewesen (Kitamura [北村] 1974 [1950] Bd. 1: 277; eigene Übersetzung).40 Die Natur gilt bei Kitamura als moralische Instanz. Keuschheit galt als wesentliche Voraussetzung für die ai-Liebe. AiLiebe wurde zunächst als spirituelle und platonische Liebe verstanden. Jegliche Andeutungen von Sexualität und Erotik wurden als ein Zeichen des Verfalls und der Animalität abgewertet: »Die edle Liebe hat ihren Ursprung in unverfälschter, unbefleckter Keuschheit. Von der Keuschheit zur Liebe führt die Treppe der Moral. Dagegen ist Liebe ohne Keuschheit von Anfang an eine Fleischesliebe, unstet wie ein Blatt auf dem Wasser. Sie hat keinen Wert; entbehrt jeglicher Schönheit.« (Kitamura [[北村]] 1974 [1950] Bd. 2: 26; eigene Übersetzung) 41 Frauen, die keine Keuschheit bewahren,
39 Im Original:「思へ、好色と恋愛と文学上に幾許の懸隔あるを、好色は人 類の最下等の獣性を縦にしたるもの、恋愛は、人類の霊生の美�妙を発暢 すべき者なる事を、好色を写す、即ち人類を自堕落の獣界に追ふ者にし て、真の恋愛を写す、即ち人間をして美�を備へ、霊を具する者となす事 を、好色の教導者となり通弁官となりつる文士は、即ち人類を駆つて下 等動物とならしめ、且つ文学上に至妙至美�なる恋愛を残害する者なる事 を」。 Engl.: »Consider the distance separating love and lust in literature: lust indulges the lowest kind of bestiality in man, but love can express the beauty of his spiritual life. Depicting lust follows man into the animal realm of his own depravity, but depicting true love endows him with beauty and gives him a soul. Writers who become the teachers and purveyors of lust prompt man to become the lowest kind of animal, and injure love, the most exquisite, beautiful thing in literature.« (Zit. nach Brownstein 1981: 112) 40 Im Original:「美�の真ならず自然ならぬ事」。 Engl.: »[kôshoku] dislodged love from its natural position« (zit. nach Brownstein 1981: 112). 41 Im Original:「夫れ高尚なる恋愛は、其源を無染無汚の純潔に置くなり。 純潔(チヤスチチイ)より恋愛に進む時に至道に叶へる順序あり、然れ ども始めより純潔なきの恋愛は、飄漾として浪に浮かるゝ肉愛なり、何 の価直なく、何の美�観なし」。
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werden somit von vornherein von der Möglichkeit ausgeschlossen, zu lieben und geliebt zu werden, ganz zu schweigen von Kurtisanen. 42 Mit dieser Aussage distanziert sich Kitamura deutlich von den weit verbreiteten Intimitätspraktiken unter Bürgern der Unterstadt. An dieser Stelle möchte ich gerne erwähnen, wie Kitamura seine eigene Liebe beschrieb. Er lernte Ishizaka Mina 1888 kennen und heiratete sie im selben Jahr. Ishizaka Mina war eine christlich getaufte Studentin, die er in dem oben genannten Essay als ideale Frau des zivilisierten Zeitalters charakterisiert. Kitamuras platonisches Liebesideal wird in einem Brief an Ishizaka Mina deutlich: »Meine Geliebte, […] unsere Liebe beruht auf etwas anderem als auf sinnlicher Leidenschaft. Wir lieben des anderen Seele, des anderen Hoffnung. […] Wir waren körperlich noch nicht eins, jedoch fühlen wir uns, als ob wir eins wären.« (an Ishizaka Mina am 4. September 1887. In: Kitamura [[北村]] 1955 Bd. 3: 185; eigene Übersetzung)43 Dieses Liebeverständnis ist allerdings keinesfalls eine Erfindung Kitamuras, sondern war unter japanischen Intellektuellen, die unter dem Einfluss des Christentums standen oder davon inspiriert waren, allgemein verbreitet (vgl. Morton [モートン] 1999: 301). Uemura Masahisa (植村正 Engl.: »Noble love has its origins in unstained, untainted chastity. To proceed from chastity to love conforms to the highest morality. But love that is unchaste from the beginning is carnal love, which floats here and there on waves of desire; it is no value, no beauty whatsoever.« (Zit. nach Brownstein 1981: 104) 42 Eine parallele reaktionäre Tendenz war auch im zeitgenössichen Europa zu beobachten: »Die Frau, die sexuell freizügig war, gehörte der Demi-Monde an, galt als vornehme Prostituierte. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch hatte man den Gebrauch von Kosmetika mit der Welt der Kurtisanen in Verbindung gebracht. In den neunziger Jahren waren am ehesten so berühmte horizontales wie Emilie d‘Alencçon und La Belle Otero in der Verwendung von Salben und Parfums bewandert.« (Sennett 2008: 336–337) 43 Im Original:「Deares […] 吾等のラブは情慾以外に立てり、心を愛し、望 みを愛す、[…] 吾等は今尚ワンボデイたらざるも、常にもはや一所にあ るが如き思ひあり」(An Ishizaka Mina am 4. Sep. 1887. In: Kitamura [北村] 1955 Bd.3: 185) 。 Engl.: »My dearest ... our love stands on something other than mere passion. We love each other’s spirits, each other’s hopes ....Even though we are not one body, we already think as if we were one.« (Zit. nach Mathy 1963: 14)
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久 1858–1925: Pfarrer, Theologe) schrieb in einem Brief an seine Verlobte: »Alle ehelichen sich in Japan, um die körperliche Begierde zu befriedigen und der sexuellen Lust freien Lauf zu lassen. [...] Die Ehe ist Grundlage der Ethik. [...] Ich habe die Absicht, dem verdorbenen, schmutzigen Japan ein ideales Vorbild zu sein.« (Uemura an Yamauchi Kiko, 27.04.1880; zit. nach Senuma [[瀬沼]] 1967: 35)44 In dieser Tradition steht auch Kitamura Tôkokus Liebesbegriff, wie seine Liebesbriefe an Mina zeigen: »Jedoch verachte ich die Eheleute, die fröhlich leben, die ›Liebster‹, ›Liebste‹ sagen.« (Kitamura an Ishizaka Mina, 03.09.1887; zit. nach Senuma [[瀬沼]] 1967: 41)45; »Die Begierde vereint und trennt Japaner so leicht wie eine Kugel im Kugelspiel.« (Kitamura an Ishizaka Mina, 6. September 1887; zit. nach Senuma [[瀬沼]] 1967: 43)46 Der Gedanke, dass echte Liebe bedeutet, die Seele und nicht den Körper des Partners zu lieben, erfreute sich im intellektuellen Kreis und unter den Bürgern in der Oberstadt großer Beliebtheit. Der Schriftsteller und Dichter Kunikida Doppo (国木田独歩 1871–1908) schrieb etwa: »Du bist die, die mich liebt, indem Du meine Seele sieht. Oh, meine echte Frau! ... Während meine Mutter nur mein Fleisch sieht, siehst Du das leidenschaftliche Feuer meiner Seele ... Sei unsere Liebe ewig!« (Kunikida an Sasaki Nobuko; 07.10.1895; zit. nach Senuma [瀬沼] 1967: 72)47 Wie hier gezeigt, erfuhr die japanische Liebesemantik durch die Einführung des »westlichen« – genauer gesagt »zivilisierten« – Liebesbegriffs ai eine Entzweiung. Seitdem wurde unterschieden zwischen der höheren geistigen Liebe (ai) und der niederen sinnlichen Liebe (iro). »Tôkoku’s conception of love was developed through essays published in The Woman’s Magazine [Jogaku Zasshi] between February and October of 1892. 44 Im Original:「ケダシ特ニ肉身ノ楽ヲ目的トシ情欲ヲ縦ママニセンガタメ ニ夫トナリ妻トナルモノ滔々タル天下比々皆是ナリ……夫婦ハ人ノ大倫 ……余輩ハ……コノ汚濁天地ノ日本国ニ良模範ヲ立テザルベカラズ」 45 Im Original:「しかれども生はかねてより、わが夫よわが婦よなどとおも しろさうに生活する男女の関係を冷笑するものなり」。 46 Im Original:「彼らは情欲によってラブし、情欲によって離るる者にしあ れば、その手軽きことお手玉を取るが如し」。 47 Im Original:「御身こそ、じつに余が霊を見て霊を恋ひたるなり。ああ、 わが真の妻よ。……。母すら肉のみ見る時に、御身はただ余が熱心なる 霊の火を見たり」。
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He intended in part to present his ideal as the morally proper alternative to traditional Japanese conceptions, which he rightly saw as a legacy of the Tokugawa period. But it was not enough to simply present this alternative; he had to thoroughly discredit the legacy itself, which continued to thrive, above all in contemporary fiction.« (Brownstein 1981: 110) 48 Tôkoku konnte die Semantik der Liebe nicht zugleich mit Ehe und Sexualität vereinen. Für den Ehemann besaß ihm zufolge die Liebe zur Ehefrau weder im Sinne von ren’ai noch im Sinne von iro-koi, sondern einzig und allein im Sinne der Familienliebe (夫婦愛 fûfu ai) Wert (vgl. Inoue [[井上]] 1975: 173 f.).49 Unter dem Gesichtspunkt der moralischen Hierarchie der drei Zeichen 色 (iro) -恋 (koi) 50 -愛 (ai) besitzt ai den höchsten Rang; daher wurde es als geeignet betrachtet, die Familienliebe zu beschreiben. Semantisch gab es für koi nach der Eheschließung keinen Spielraum mehr. Paradoxerweise wurde die geistige ai-Liebe jedoch zur gleichen Zeit als Grundlage für die Beziehung zwischen (Ehe-)Mann und (Ehe-)Frau etabliert. Diese semantische Trennung zwischen der höheren und der sinnlichen Liebe kam im Allgemeinen unter den Intellektuellen und den Bürgern in der Oberstadt im Taishô-Japan zur Durchsetzung.51 Zu diesem Kreis sind über Iwamoto und Kitamura hinaus auch der Literaturkritiker und Anglist Kuriyagawa Hakuson ( 厨 川 白 村 : 1880–1923), der Philosoph Tsuchida Kyôson (土田杏村: 1891–1934), Udaka Yasushi (宇高寧), die Feministin Hiratsuka Raichô (平塚らいてう: 1886–1971) und die Dichterin Yosano Akiko (与謝野晶子: 1878–1942) zu zählen (vgl. 赤川 Akagawa 2002: 48 Morton (モートン 1999) analysiert die Auswirkungen von Kitamuras loveKonzept auf zwei Zeitschriften (Taiyô und Jogaku Zasshi) zwischen 1895 und 1905. Wie viele Autoren legt sie dabei die fehlerhafte Annahme zugrunde, dass die moderne Liebe mit der christlichen Liebe gleichzusetzen sei. 49 Viele Intellektuelle der Meiji-Zeit sprachen sich für eine Trennung von Liebe und Ehe aus. Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, bedeutete für die Intellektuellen des damaligen Japans »Liebesheirat« nicht etwa das Fortdauern der Liebe in der Ehe, sondern vielmehr das Ende der Liebe mit der Eheschließung. Siehe z. B. Kurata ((倉田)) 1970 [1925]. 50 Zusammen mit Zeichen von »ai« wird dieses Zeichen als »ren« ausgesprochen. 51 Morton zufolge bildete Takayama Chogyû (高山樗牛 1871–1902) unter den Intellektuellen seiner Zeit die einzige Ausnahme, weil er die Sexualität in das Konzept der Liebe einbezog (vgl. Morton [[モートン]] 1999: 316 f.).
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156). Die Trennung zwischen höherer, geistiger und niedrigerer, sinnlicher Liebe ist jedoch aus der Sicht der soziologischen Differenzierungstheorie eher repräsentativ für die stratifikatorische Gesellschaftsdifferenzierung.52 Die Semantik der neuen geistigen Liebe fand ein Pendant in der politischen Semantik. Zeitschriften zogen im Hinblick auf das neue Familienideal nicht selten die Analogie zwischen der Treue des Untertanen gegenüber dem Obrigkeitsstaat einerseits und der Liebe zwischen Mann und Frau anderseits (vgl. Muta [[牟田]] 1990a: 18). Darüber hinaus weist Muta darauf hin, dass in der zeitgenössischen Diskussion keine klare Grenze zwischen Politik (Staat) und Familie gezogen wurde. Die Aufwertung der emotionalen Bindung zwischen Familienmitgliedern war oft an den Verweis auf ihre Funktionsmäßigkeit zugunsten der Industrialisierung gekoppelt (vgl. Muta [[牟田]] 1990a: 17, 22–23). Ein solches Argument einer »Liebespflicht« weise ich jedoch mit Kant zurück: »Liebe ist eine Sache der Empfindung, nicht des Wollens, und ich kann nicht lieben, weil ich will, noch weniger aber, weil ich soll (zur Liebe genöthigt werden); mithin ist eine Pflicht zu lieben ein Unding.« (Kant 1983 [1797] 532 f.) Jedoch proklamierten die japanischen Intellektuellen jener Zeit eben jenes ›Unding‹, indem sie Liebe nicht als Passion, die sich der Steuerung durch die Vernunft entzieht, sondern als Tugend interpretierten. Das zeigt sich unter anderem daran, dass sie ›Liebe‹ mit dem Begriff ai (愛) belegten, der in der konfuzianischen Tradition eine Tugend – beispielsweise Menschenliebe – impliziert. Diese Übersetzung war nur deshalb möglich, weil sie – wie Hegel in Deutschland – annahmen, dass »der Eheschließung Zuneigung und Liebe, normalerweise wenigstens, folgen werden« (Luhmann 1982: 182; vgl. Hegel 1993 [1821]: § 162, S. 311). Hegel zufolge kann »der Weg, worin der Entschluß zur Verehelichung den Anfang macht und die Neigung zur Folge hat«, und der auf »die Veranstaltung der wohlgesinnten Eltern«, also ein arrangiertes Treffen, folgt, als »der sittlichere Weg angesehen werden« (Hegel 1993 [1821]: § 162, S. 311). Die Kernaussage der modernen Liebessemantik besagt dagegen, dass Liebe nicht durch die Vernunft steuerbar ist, sondern wie zufällig aus dem Nichts entsteht, was zur Selbstreferenz der Liebe führt. Diese Sprengkraft der modernen Liebe wird jedoch im Liebe-als-Tugend-und52 Akagawa (赤川 2002) vertritt eine ähnliche Meinung, doch seiner Argumentation mangelt es an gesellschaftstheoretischen Grundlagen. Siehe Akagawa (赤川 2002: 155 f.).
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Pflicht-Modell wesentlich abgeschwächt. Die hier dargelegte These will ich anhand der folgenden Analyse bestätigen.
A NALYSE REPRÄSENTATIVER L IEBESROMANE UND - NOVELLEN DER M EIJI -T AISHÔ -Z EIT Im Folgenden werde ich repräsentative Romane und Novellen der MeijiTaishô-Zeit analysieren.53 Meine Wahl fiel auf unterschiedliche Titel des Genres katei shôsetsu (家庭小説). Die japanische Literaturgeschichte siedelt diese populäre Gattung des Familienromans bzw. der -novelle im ausgehenden 19. Jahrhundert an. Wie der ihm vorausgehende ninjôbonLiebesroman richtete sich der Familienromen an ein breites Zielprublikum und sprach insbesondere junge Frauen an. Die Publikation erfolgte üblicherweise als Fortsetzungsreihe in einer Zeitung oder Zeitschrift. Katô (加 藤 1935) zufolge sind die Erzählungen des katei shôsetsu durch folgende Merkmale gekennzeichnet: a) Erfüllung der üblichen, normativen Lesererwartungen; b) betonte Emotionalität; und c) Sieg der Moral (vgl. Katô [加 藤]] 1935: 57–60). Nicht selten wurden Werke dieses Genres auch dramatisiert und für das Theater aufbereitet. Ein Beispiel hierfür ist Ono ga tsumi (Meine Schuld, 1899) von Kikuchi Yûhô (菊池幽芳 1870–1947)))) (vgl. Katô [加藤]] 1935: 67 f.).54 Die folgende Analyse untersucht diese Werke im Hinblick auf ihre Unterschiede zu Erzählungen des ninjôbon-Genres. I.
坪内逍遙「当世 Tsubouchi, Shôyô: Tôsei shosei katagi (坪 書 生 気 質 」 Das Leben zeitgenössischer Studenten, 1885) 55
In dieser Erzählung geht es um das Leben von zehn Studenten. In diesem Sinne handelt es sich dabei nicht um einen Liebesroman, der die Liebe ei53 Bei der Textauswahl habe ich mich an den Arbeiten von Saeki (佐伯) 2000 und Koyano (小谷野) 2003 orientiert. 54 Zu katei shôsetsu vgl. auch Koyano (小谷野) 2003 und Tamai 2008. Satô (佐藤 2000) richtet die Aufmerksamkeit auf katei shôsetsu als Verbreitungsmedium für die viktorianische Moral (respectability) in Japan. 55 Vgl. auch Okazaki ((岡崎)) (Hrsg.) (1980: 163–166)
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nes Paars in den Vordergrund rückt. Einer der Studenten, Komachida Sanji (小町田粲爾), verliebt sich in die junge Tanoji (田の次). Da sie als Geisha (芸妓) arbeitet, ist er jedoch unentschlossen, ob er sich dieser Liebe hingeben und den nächsten Schritt wagen soll. Sein Freund Moriyama Tomoyoshi (守山友芳) rät ihm davon ab. Als seine Beziehung zu Tanoji schließlich bekannt wird, wird er der Universität von Tôkyô verwiesen. Später stellt sich heraus, dass Tanoji Moriyamas Schwester ist. In den Wirren des Bürgerkrieges vor der Meiji-Restauration wurde die Familie auseinander gerissen. Die Geschichte endet mit dem Wiedersehen der Familie Moriyama. Wie die Liebesgeschichte zwischen Sanji und Tanoji ausgeht, findet dagegen keine Erwähnung. II.
坪内逍遙「妹と背 Tsubouchi, Shôyô: Imotose kagami (坪 か が み 」 Der Spiegel des Paars, 1886)
Misawa Tatsuzô (水沢達三) arbeitet nach Abschluss seines Studiums als Beamter. Bei einem Theaterbesuch lernt er zufällig O-Tsuji (お辻), die Tochter eines Fischhändlers, kennen, und sie heiraten. Doch wegen des sozialen Unterschieds und ihrer geringeren Bildung beginnt ihn das Eheleben schnell zu langweilen. Misawa hilft der Prostituierten Nakazato (中里) aus der finanziellen Not, um ihr ein Leben außerhalb des Vergnügungsviertels zu ermöglichen. Er fühlt sich ihr gegenüber verpflichtet, weil sie die Tochter einer Frau ist, die einst von seinem Vater ausgenutzt wurde. O-Tsuji verdächtigt ihn der Untreue und liest heimlich einen Brief von Nakazato. Als Misawa ihr daraufhin vorwirft, einen Vertrauensbruch begangen zu haben, ist sie so verzweifelt, dass sie Selbstmord begeht. Noch eine weitere weibliche Figur spielt in diesem Roman eine Rolle. Der Autor führt Nanjô O-Yuki (南條お雪) als diejenige Frau ein, die Misawa hätte heiraten sollen. Doch auf den Rat ihrer Eltern entscheidet sie sich für den Beamten Tanuma Saikitsu (田沼斎橘). Doch die Ehe macht sie unglücklich, da Tanuma, ein alter Patriarch, sie seiner völligen Kontrolle unterwirft, während er selbst regelmäßig Geliebte im Vergnügungsviertel besucht.
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III. Hattori, Bushô: Chigo zakura (服 服部撫松「稚児桜」 Kinder in den Kirschblüten, 1887) Michi ((美�知)), die Tochter des Grafen Hanaoka Kaoru ((花岡)), und Naoe Seizô ((直江清蔵)) gehen auf dieselbe Schule. Seizô ist zwar Klassenbester, doch wegen seines kranken Vaters lebt er in Armut. Michi unterstützt ihn durch heimliche Schenkungen. So überweist sie ihm beispielsweise nach dem Schulabschluss Geld, um ihm das Studium zu ermöglichen. Durch einen Zeitungsartikel wird ihre tugendhafte Hilfe bekannt und die beiden heiraten. Als Beamter wird Seizô für ein Auslandstudium nach England geschickt. Das junge Ehepaar zieht nach Glasgow, wo Seizô in Jura promoviert und Michi Literaturwissenschaft studiert. 二葉亭四迷「浮雲」 IV. Futabatei, Shimei: Ukigumo (二 Schwebende Wolken, 1887–1889) Während des Studiums wohnt Utusmi Bunzô ((内海文三)) bei der Familie seines Onkels in Tôkyô. Nach seinem Abschluss arbeitet er als Beamter und gibt seiner Kusine O-Sei ((お勢)) Hausunterricht, um sie Englisch zu lehren. Ihre Eltern befürworten dies und beschließen, ihre Tochter mit Bunzô zu vermählen. Doch als er wegen eines Streits mit seinem Vorgesetzten seine Arbeitsstelle verliert, ändern sie ihre Meinung. Die Beziehung zwischen Bunzô und O-Sei bleibt platonisch, da Bunzô es nicht wagt, den ersten Schritt zu machen. Als O-Sei und Bunzôs Freund und Kollege Honda Noboru ((本田昇)) einander näherkommen, reagiert Bunzô mit Eifersucht. Um ihrer Freundschaft willen bemüht sich Noboru daraufhin, Bunzô wieder zu seiner alten Stelle zu verhelfen. Dieser fühlt sich jedoch durch sein Bemühen nur beleidigt. V.
Mori, Ôgai: Maihime( 森 鴎 外「 舞 姫 」Die Tänzerin, 1890)
Der junge Japaner Ôta Toyotarô ((太田豊太郎)) reist im Auftrag eines japanischen Ministeriums nach Berlin und nimmt dort ein Studium auf. Durch die Liebe zu der sechzehnjährigen Tänzerin Elise, die er dort trifft, lernt er seine gefühlvolle Seite kennen. Als er zu seiner Geliebten zieht, wird ihm das Stipendium entzogen. Toyotarô verdient seinen Lebensunterhalt, indem
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er Berichte für eine japanische Zeitung schreibt, und obwohl er mit Elise in Armut lebt, führen sie ein glückliches Leben. Doch als Toyotarô das verlockende Angebot erhält, in den Staatsdienst zurückzukehren, gerät er ins Wanken. Am Ende verlässt er Elise für Heimat und Karriere und sie verliert über den Verlust ihres Geliebten den Verstand. 尾崎紅葉「二人比 VI. Ozaki, Kôyô: Futaribikuni iro zange (尾 丘 尼 色 懺 悔 」 Liebesbekenntnis von zwei Nonnen, 1889) Der junge Samurai Uramatsu Koshirô Morizane ((浦松小四郎守眞)) wird nach dem Tod seiner Eltern von Onkel und Tante gepflegt. Dort verliebt er sich in seine Kusine Yoshino ((吉野)). Aber auf Befehl seines Dienstherrn muss er sich mit deren Zofe Wakaba ((若葉)) vermählen. Nach einer verlorenen Schlacht nimmt er sich das Leben aus Reue, Yoshino nicht die Treue halten zu können. Sowohl Yoshino als auch Wakaba werden Nonnen. In einer Hütte treffen sich die beiden Frauen und schwelgen in Erinnerungen an Koshirô. VII. Mori, Ôgai: Utakata no ki ( 森 鴎 外 「 う た か た の 記 」 Wellenschaum, 1890) Der japanische Kunststudent Kose (巨勢) lernt in einem Café in München die ungewöhnliche junge Marie kennen. Obwohl sie auch als Model in der Kunstakademie arbeitet, will sie sich vor den Studierenden nicht nackt zeigen. Kose imponiert Maries vornehme Geziertheit und er verliebt sich in sie. Nachdem er sie näher kennengelernt hat, erzählt sie ihm ihre Lebensgeschichte: Sie ist die Tochter eines berühmten bayerischen Hofmalers am Hof von Ludwig II. Bei einem Abendempfang verlor der König den Verstand und versuchte, ihre Mutter zu vergewaltigen. Ihr Vater forderte daraufhin den König zum Duell und starb an seinen Verletzungen. Kurz darauf starb auch ihre Mutter. Auf einer Bootsfahrt auf dem Starnberger See werden Kose und Marie plötzlich von Ludwig II. überrascht. Er watet durchs Wasser auf sie zu, weil er in Marie deren Mutter zu sehen glaubt. Marie ist von der Erscheinung des Königs so schockiert, dass sie das Bewusstsein verliert, ins Wasser fällt und ertrinkt.
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VIII. Mori, Ôgai: Fumizukai (森 森 鴎 外 「 文 づ か ひ 」 D er Bote, 1891) Kobayashi ((小林)), ein junger japanischer Offizier, wird als Gast dem sächsischen Armeecorps zugeteilt und nimmt an einem Herbstmanöver teil. Zusammen mit anderen Offizieren wird er von Graf Bülow eingeladen und lernt dessen Tochter Ida kennen, die mit seinem Freund Mehlheim verlobt ist. Ida beauftragt Kobayashi mit der Überbringung eines Briefes nach Dresden. Später trifft Kobayashi Ida dort überraschend auf einem Ball im königlichen Palast wieder. Sie arbeitet dort als Hofdienerin, weil sie sich aus Trauer um eine verlorene Liebe gegen die von ihrem Vater arrangierte Ehe mit Mehlheim entschieden hat. Ida erzählt Kobayashi ihre traurige Geschichte. 樋 口 一 葉 「 十 三 夜 」 IX. Higuchi, Ichiyô: Jûsan ya (樋 Die dreizehnte Nacht, 1895) Auf den Rat ihrer Eltern heiratet Saitô Seki ((斎藤関)) den Beamten Harada ((原田)). Doch nach der Geburt ihres Sohnes Tarô (太郎)) findet er Seki nicht mehr attraktiv. Er prangert ihre angebliche Ungebildetheit an, schikaniert sie und zieht offen und schamlos die Gesellschaft von Kurtisanen im Vergnügungsviertel vor. Seki verlässt das gemeinsame Haus mit dem Entschluss, ihn zu verlassen, aber ihr Vater überredet sie, wieder zu Harada zurückzukehren. Auf dem Rückweg vom Haus ihrer Eltern merkt sie, dass der Rikscha-Fahrer ihr alter Freund ist, der vor Verzweiflung über ihre Heirat inzwischen alles verloren hat. X.
樋 口 一 葉 「 た け く ら べ 」 Higuchi, Ichiyô: Takekurabe (樋 Größenvergleich, 1895–96)
Die 13-jährige Midori ((美�登利)) geht auf eine Privatschule. Shôtarô ((正太 郎)) freundet sich mit ihr an und verliebt sich heimlich in sie, doch sie schenkt ihr Herz dem ernsten 14-jährigen Mönchsschüler Fujimoto Shin’nyo ((藤本信如)), nachdem dieser ihr nach einem Sturz aufgeholfen hat. Midoris Schwester arbeitet als Kurtisane im Vergnügungsviertel und auch Midori wird am Ende als Kurtisane verkauft. Shin’nyo wechselt auf eine andere Mönchsschule.
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XI. Ozaki, Kôyô: Tajô takon( (尾崎紅葉「多情多恨」 Viel Liebe, viel Groll, 1896) Der Lehrer Sumi Ryûnosuke (鷲見柳之助) kann seine Frau Ruiko (類子), die er an eine schwere Krankheit verloren hat, nicht vergessen. Seine Sehnsucht verzehrt ihn, sodass er nicht in der Lage ist, zu arbeiten, und zu seinem Freund Hayama ((葉山)) zieht. Allmählich überwindet Ryûnosuke seinen Kummer. Er fühlt sich zu O-Tane ((お種)), der Frau des Hayama, hingezogen, die sich um den Haushalt kümmert und auch Ryûnosuke pflegt. Nach und nach entwickelt sich zwischen ihnen eine Freundschaft, die sich vor allem in gemeinsamen Gesprächen ausdrückt. Ihre Beziehung geht Hayamas Vater schließlich zu weit und er fordert Ryûnosuke auf, das Haus zu verlassen. 尾崎紅葉「金色夜叉」 XII. Ozaki, Kôyô: Konjiki Yasha (尾 goldene Teufel, 1897–1902) Der Der Student Hazama Kan’ichi ((間貫一)) wächst nach dem Tod seiner Eltern bei deren Freund, dem pensionierten Beamten Kamozawa Ryûzo ((鴫沢隆 三)), auf. Er liebt dessen Tochter Miya ((宮)), seine Verlobte, aber Miya entscheidet sich für den reichen Bankier Tomiyama Tadatsugu (富山唯継). Aus Verzweiflung verlässt Kan’ichi die Familie Kamozawa, gibt sein Studium auf und entwickelt sich zu einem kaltblütigen Wucherer. Auch Miya ist in ihrer Ehe unglücklich. Nachdem sie eine Fehlgeburt erlitten hat, schwindet ihre Liebe für Tomiyama. 徳冨蘆花「不如帰」 XIII. Tokutomi, Roka: Hototogisu (徳 kleiner Kuckuck, 1898–99) ) Ein Der Marineoffizier Kawashima Takeo ((川島武男)) und seine Frau Namiko ((浪子)) lieben sich tief und innig und führen ein glückliches Leben. Doch nach einer kurzen gemeinsamen Zeit erfährt das junge Ehepaar, dass Namiko an Tuberkulose erkrankt ist. Takeos Mutter löst die Ehe, während ihr Sohn Überseedienst leistet, ohne dessen Zustimmung auf. Namiko erliegt schließlich ihrer Verzweiflung und stirbt an der Krankheit. Takeo teilt ihre Verzweiflung und sehnt seinen Tod zu See im Ersten Japanisch-
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Chinesischen Krieg herbei. Doch obwohl er schwer verwundet wird, überlebt er. 泉 鏡 花 「 通 夜 物 語 」 XIV. Izumi, Kyôka: Tsuya monogatari (泉 Geschichte einer Trauernacht, 1899) Der junge Maler Tamagawa Kiyoshi ((玉川清)) ist mit Kumeji (粂次), die in ihrer Rolle als Kurtisane ersten Rangs in Yoshiwara den Namen Chôzan ( 丁山) trägt, liiert. Aus der finanziellen Not versuchen sie, seinen Onkel zu erpressen. Doch der Erpressungsversuch misslingt und Kiyoshi wird nach seiner Gefangennahme von Oberst Shinoyama Roppeita ((篠山六平太)), dem Ehemann seiner Kusine Sumiko ((澄子)), gedemütigt. Chôzan sticht mit einem Küchenmesser auf diesen ein, um ihren Geliebten zu retten, und ersticht sich dann selbst. Sumiko und Kiyoshi waren einst Geliebte. Doch sie war gezwungen, einen anderen Mann, Roppeita, zu heiraten. Sie gesteht Kiyoshi, dass sie sich seit ihrer Hochzeit wie tot fühlt. 小 杉 天 外 「 魔 風 恋 風 」 XV. Kosugi, Tengai: Makaze Koikaze (小 Zauberhaft ist der Wind der Liebe, 1903–1904) Die Geschichte handelt von der Studentin Ogiwara Hatsuno ((荻原初野)) und Natsumoto Tôgo ((夏本東吾)), dem adoptierten Sohn des Vicomte Natsumoto ((夏本子爵)) und älteren Bruder ihrer besten Freundin Natsumoto Yoshie (夏本芳江). Hatsuno, die ländlicher Herkunft ist, lebt in Armut. Ihr Halbbruder hat kein Verständnis für ihr Studium. Als sie wegen eines Fahrradunfalls ins Krankenhaus muss, kommt jemand für die Kosten auf. Tôgo ist mit Yoshie verlobt, doch wegen seiner Liebe zu Hatsuno verlässt er gegen den Willen seiner leiblichen Eltern und des Adoptionsvaters die Familie Natsumoto. Doch er findet keine Familie, die ihn aufnimmt. Am Ende revidiert er seinen Entschluss und bittet darum, in die Familie Natsumoto einzuheiraten, indem er Yoshie zur Frau nimmt. Hatsuno stirbt an der Beriberi-Krankheit.
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XVI. Oguri Fuyô: Seishun (小 小 栗 風 葉 「 青 春 」In der Jugend, 1905–1906) Der 25-jährige Student Seki Kin’ya ((関欣哉)) erfreut sich wegen seiner guten Bildung, seines Idealismus und seiner Gedichte großer Beliebtheit bei seinen Freunden. Die 19-jährige Ono Shigeru ((小野繁)) ist Beste ihres Jahrgangs an der Seijô-Universität. Kin’ya ist durch Adaption mit der Familie Seki verbunden, doch seine Adoption ist an die Bedingung geknüpft, dass er die Tochter seiner Adoptiveltern zur Frau nimmt. Kin’ya verfolgt das Ideal des ästhetischen Lebens und der freien Liebe. Kunst und guter Geschmack sind ihm wichtig. Doch das Leben als Freigeist hindert ihn am Abschluss seines Studiums und er lebt weiter ohne Zukunftsperspektive. Shigeru beginnt sich Sorgen um ihre Zukunft zu machen und entscheidet sich auf die Empfehlung einer Wohnheimschwester dafür, einen anderen Mann zu heiraten. Doch die Heirat kommt nicht zustande, weil Shigeru von Kin’ya schwanger wird. Kin’ya will die Wirklichkeit nicht wahrhaben und rät ihr dazu, die Schwangerschaft abzubrechen. Für die Beihilfe zum Schwangerschaftsabbruch wird er schließlich festgenommen und ins Gefängnis gesperrt. Nach seiner Entlassung versuchen die beiden erneut, sich ein gemeinsames Leben aufzubauen, doch der Versuch scheitert. Schließlich verlässt Shigeru Kin’ya, um nach Mandurei zu gehen und dort als Lehrerin zu arbeiten. 伊藤左千夫「野菊之墓」 XVII. Itô, Sachio: Nogiku no haka (伊 Das Grab der wilden Chrysanthemen, 1906) Tamiko (民子), 16 Jahre, und ihr Cousin Masao (政夫), 14 Jahre, sind wie Geschwister aufgewachsen und lieben sich im platonischen Sinne. Eines Tages wird Tamiko gezwungen, einen anderen Mann zu heiraten, während Masao zum Schulbesuch nach Tôkyô geschickt wird. Sie stirbt an einer Fehlgeburt und Masao heiratet eine Frau, die er nicht liebt. 泉 鏡 花 「 婦 系 図 」Die XVIII. Izumi, Kyôka: On’na Keizu (泉 Genealogie der Frauen, 1907) Auf Drängen seines Betreuers Professor Sakai ((酒井)) muss sich der Germanist Hayase Chikara ((早瀬主税)) von seiner Geliebten, der Geisha Tsuta-
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kichi ((蔦吉)), trennen. Denn Sakai ist nicht nur Chikaras akademischer Betreuer, sondern kümmert sich schon Zeit seines Lebens um diesen wie ein Vater. Da Chikara und Sakais Tochter Taeko ((妙子)) wie Geschwister aufgewachsen sind, geht dieser davon aus, dass er sie zur Frau nehmen wird. Die Geisha Tsutakichi wird nach der Trennung krank und stirbt in Einsamkeit. Kawano Eikichi ((河野英吉)), ein Freund von Chikara, wird auf Taeko aufmerksam und erwägt eine Ehe mit ihr. Dazu spioniert er ihren familiären Hintergrund aus. Im Laufe der Geschichte verliert Chikara wegen der falschen Anschuldigung, Beihilfe bei einem Taschendiebstahl geleistet zu haben, seine Stelle als Lehrer und geht in die Provinz Shizuoka. Es kommt ans Licht, dass er aus der Unterschicht stammt. Außerdem enthüllt er einige skandalöse Affären, die die vermeintlich tadellose Kawano-Familie beschmutzen. 二 葉 亭 四 迷 「 平 凡 」 XIX. Futabatei, Shimei: Heibon (二 Durchschnittlich, 1908) Der 39-jährige Ich-Erzähler Furuya ((古屋)) blickt auf sein Leben zurück. Als junger Mann kommt er nach Tôkyô, um Jura zu studieren, und lebt dort bei seinem Onkel, der als Beamter arbeitet. Er verliebt sich in dessen Tochter Yukie ((雪江)), doch sie heiratet einen anderen Mann. Furuya wird Schriftsteller. In einem Wohnheim lernt er das Dienstmädchen O-Ito ((お糸)) kennen und nähert sich ihr an. Doch wegen der Krankheit seines Vaters kehrt er zurück in seine Heimat, ohne in Tôkyô die Liebe seines Lebens gefunden zu haben. 大 塚 楠 緒 子 「 空 薫 」 XX. Ôtsuka, Kusuoko: Soradaki (大 Der Duft ohne Quelle, 1908) Die 26-jährige Lehrerin und Autorin Hinae ((雛江)) heiratet zum Zweck des sozialen Aufstiegs den 55-jährigen verwitweten Politiker Kitauchi Terutaka ((北内輝隆)).. Liebe und Ehe sind für sie zwei Paar Schuhe. Mit 17 Jahren verliebte sie sich auf der Schule einst in einen Jungen, der an der BeriberiKrankheit starb. Aber Ki’ichi (輝一), Kitauchis Sohn, ähnelt ihrem alten Geliebten sehr. Hinae versucht immer wieder, ihn zu verführen und zu ihrem Geliebten zu machen. Erfolgreich sabotiert sie seine Beziehung zu sei-
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ner Freundin Senko (泉子), der Tochter des Grafen Kiyomura (清村). Diese heiratet auf den Rat ihres Vaters einen anderen. 森 志 げ 「 あ だ 花 」 XXI. Mori, Shige: Adabana (森 ) Die launenhafte Frau, 1910) Die Heldin Tomiko ((富子)) heiratet den reichen und attraktiven Hashio Tatsusaburô (橋尾達三郎). Sie verspricht sich keine emotionale Bindung von der Ehe und akzeptiert seine Affären mit zahlreichen Geishas. Doch die Eltern der beiden lösen die Ehe wegen des Fehlens einer emotionalen Bindung auf, zumal sich Tomiko nicht einmal darum bemüht, eine solche aufzubauen. 夏 目 漱 石 「 門 」 D as Tor, 1910) XXII. Natsume Sôseki: Mon (夏 Nonaka Sôsuke ((野中宗助)) arbeitet als einfacher Beamter. Er lebt mit seiner Frau O-Yone ((お米)) zusammen. Sie war mit seinem besten Freund Yasui ((安井)) verheiratet, ehe sie diesen aus Liebe zu Sôsuke verließ. Dieser leidet aber unter einem schlechten Gewissen Yasui gegenüber und führt sein Leben seit der Hochzeit grau und unscheinbar wie ein alter Mann. Als er Kunde von Yasuis gegenwärtiger Lage erlangt, geht er, um sein Gewissen zu erleichtern, in einen Zen-Tempel, ohne seiner Frau die Entscheidung mitzuteilen. Seine Geheimhaltung zerstört Schritt für Schritt das Vertrauen zwischen dem Ehepaar. 夏 目 漱 石 「 明 暗 」 Licht und XXIII. Natsume Sôseki: Meian (夏 Schatten, 1916) Tsuda ((津田), Büroangestellter bei einer Firma, lebt seit kurzem mit seiner Frau O-Nobu ((お信)) zusammen. Doch diese ist von seiner Liebe nicht ganz überzeugt und das Leben des Ehepaares verläuft nicht reibungslos. Bevor er O-Nobu zur Frau nahm, hatte Tsuda eine Freundin, Kiyoko ((清子)), die ihn für einen anderen verließ. Als er auf einer Kur die Thermen in Atami besucht, trifft er seine ehemalige Geliebte zufällig in einem Gasthaus wieder und diese lässt ihn in ihr Zimmer ein.
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Tabelle 4: Auflösung der vorgestellten Liebesromane und -novellen der Meiji-/Taishô-Zeit. Held
Heldin
I II
Student Beamter
III IV V VI VII VIII IX X
? Beamter Beamter Samurai Student (?) Sohn eines Tabakhändlers Mönchssohn
XI
Lehrer
XII
Student
XIII
Marineoffizier
XIV
Maler
XV XVI XVII
Student Student Student
XVIII XIX XX XXI
Lehrer Student Student
Geisha Tochter eines Fischhändlers Adelige Studentin Tänzerin Zofe Model Adelige Frau eines Beamten Bürgerin in der Unterstadt Frau seines Freundes Tochter eines Beamten Tochter eines Bürgers in der Oberstadt Tochter eines Bürgers in der Oberstadt Studentin Studentin Tochter eines Großbauern Geisha Seine Kusine Studentin
Happy End (o)/tragisches Ende (x) x x o x x x x x x x x x x
x
x x x x x x x
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Beamter Angestellter
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x x
Auswertung Aus der Analyse der oben genannten Erzählungen lassen sich in folgenden Punkten Unterschiede zwischen den Erzählungen der Meiji-Taishô-Zeit im Vergleich mit dem ninjôbon-Genre feststellen: a) soziale Herkunft der Protagonisten, b) zurückhaltende Frauenfiguren, c) zunehmende Häufigkeit eines tragischen Endes, d) abnehmende Heterogamie und Hypergamie, e) implizierte Anthropologie. Es kann ein Zusammenhang zwischen den Handlungssträngen der oben genannten repräsentativen Liebesromane bzw. -novellen und den Diskursen der Oberstadt-Intellektuellen der Meiji-Taishô-Zeit, welche die ai-Liebe erfanden, festgestellt werden. Die Entwicklung ist auf die Verschiebung des kulturellen Zentrums und die Ablösung älterer Kulturträger durch das neuere Bürgertum (Oberstadtbürgertum) zurückzuführen: Der ninjôbon-Roman, der üblicherweise mit einem Happy End schloss, handelte in der Regel vom Leben der Trägerschicht der alten Edo-Kultur, d.h. der Edo-Bürger der Unterstadt. Das neue Bürgertum ging jedoch nicht aus dem alten EdoBürgertum hervor, sondern setzte sich zu großen Teilen aus Samurais aus der Provinz und Bauern zusammen, denen die unterstädtische Edo-Kultur fremd war. Im Zuge der Industrialisierung löste diese Gesellschaftsschicht das alte Unterstadtbürgertum als Kulturträger ab. Die Deutungshoheit der Meiji-Taishô-Zeit lag bei den Bürgern in der Oberstadt. Sie definierten und legitimierten ihre kulturelle Hegemonie anhand ihrer vermeintlichen kognitiven und ethischen Überlegenheit. Ihr Verhältnis zur Unterstadt konstruierten sie mit dem Code Zivilisation/Barbarei, der im Weltbild der MeijiIntellektuellen auch das Verhältnis zwischen der westlichen Welt und Japan charakterisierte. Die in diesem Kapitel diskutierte Entzweiung der Liebessemantik (ai/iro) verläuft parallel zur sozio-kulturellen Stratifizierung von Yamanote (Oberstadt) und Shitamachi (Unterstadt) zu jener Zeit. a) Soziale Herkunft der Hauptfiguren: In der Meiji-Taishô-Zeit waren die Bevölkerung und der Alltag der Unterstadt immer seltener Gegenstand literarischer Schilderungen. Stattdessen wurde mit wachsender Beliebtheit das Leben in der Oberstadt dargestellt. Wie von Iwamoto gefordert, wählten mehr und mehr Autoren Studenten, Schulmädchen und junge Ehepaare
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– vornehmlich Beamte, Lehrer, Offiziere u. ä. – als Hauptfiguren ihrer Romane und Novellen. Gemäß dem Weltbild der Meiji-Taishô-Zeit konnte jedoch jeder sein moralisches Gefühl durch Bildung pflegen und veredeln. In diesem Sinne stellte die moralische Hierarchie soziale Aufstiegschancen in Aussicht. 56 Tugend, Bildung, Reichtum (und Liebe) bildeten aber gemäß dieser Ideologie eine Einheit (dies wird insbesondere in III deutlich): Wer geliebt werden wollte, musste tugendhaft und gebildet sein.57 Die Exklusion der Unterstadtbürger aus der ai-Liebe zeigt sich in II. Das neue Frauenideal der ryôsai kenbo wird in III thematisiert. b) Frauenfiguren: Die Protagonistinnen der Meiji-Taishô-Literatur waren passiver als ihre ninjôbon-Vorgängerinnen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Erstarken einer neuen Generation aktiver, unabhängiger und selbstsicherer Frauen zu beobachten, die als okyan (お侠) und hari ga aru (張りがある) bezeichnet wurden. Sie erhielten Jungennamen wie Yonehachi (米八), Adakichi (仇吉), oder Tsutakichi (蔦吉) und wurden nicht nur in der fiktionalen Literatur, sondern auch im wirklichen Leben, zumindest unter den Bürgern in der Unterstadt, zunehmend bewundert.58 Kitamura (北村 1974 [1950]: 278), Iwamoto und andere Autoren des Jogaku-Zasshi-Magazins postulierten hingegen, dass Frauen feminin beschrieben werden sollten.59 Oft kam es in der Literatur dementsprechend zu einer Gegenüberstellung des lebhafteren Geisha-Typs und dem oberstädtischen Frauenideal, das sich durch Anstand und Besinnlichkeit auszeichnete (siehe z. B. XIV). c) Während die ninjôbon-Romane in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts typischerweise mit einem Happy End abschlossen, neigten die Lie56 Zur Moralisierung der Liebe durch Kitamura siehe Schamoni 1983. 57 Webers klassischer Analyse zufolge betrachtet der Konfuzianismus die Menschen als vervollkommnungsfähig: »Philosophisch-literarische Bildung an der Hand der alten Klassiker war das universelle Mittel der Selbstvervollkommnung, ungenügende Bildung und als deren hauptsächlichster Grund: ungenügende ökonomische Versorgung, die einzige Quelle aller Untugenden.« (Weber 1988 [1920]: 514) Es sei hier an Iwamotos Erziehungsprogramm erinnert, das vorsah, Frauen durch die Lektüre guter Lesestoffe »moralisch« zu bilden. 58 Vgl. z. B. Tamenaga ((為永)) 1962 [1832] und Kuki ((九鬼)) 2004 [1930]. 59 Die damalige Mode der passiven Frauendarstellung belegen auch die Zeichnungen Takehisa Yumejis (竹久夢二). Siehe Murakami (村上) 1974: 93 ff.
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besromane in der Meiji-Taishô-Zeit zu einem tragischen Ende. Ähnlich wie bei den Tragödien zur Genroku-Zeit verweist auf fiktionaler Ebene das Scheitern der Liebesbeziehung auf den Interessengegensatz zwischen familiären Erwartungen und Liebe (siehe z. B. XIII und XV). d) Viele dieser Romane und Novellen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts stellten es so dar, als könne die ai-Liebe ausschließlich zwischen einem Jungen und einem Mädchen entstehen, die sich schon vorher so nah wie Bruder und Schwester gestanden hatten, und als existiere sie bereits zwischen Ehemann und Ehefrau (wie in IV, XII, XVII und XIX). Das Muster »Boy meets girl by accident and falls in love«60 wurde zu dieser Zeit nicht gern als Romanvorlage verwendet. Die Liebe infolge eines zufälligen Kennenlernens wird als leichtsinnig und unvernünftig beschrieben und endet, wie in II, IX, X dargestellt, tragisch. Aus Sicht der Differenzierungstheorie lässt sich daraus schlussfolgern, dass die in der Meiji-Taishô-Zeit entstandene ai-Liebessemantik keine Kraft hatte, die Grenze zwischen segmentären Systemen (Familien) zu überwinden und ein eigenes funktionales System der Intimität zu generieren. Ai-Liebe wirkt nicht über die Grenze der segmentären Einheit hinaus, sondern nur innerhalb eines bereits vorhandenen segmentären Teilsystems. Ai-Liebe in diesem Sinne trägt eher die Bedeutung von philia wie in kyôdai-ai (Geschwisterliebe), fûfu-ai (Liebe zwischen dem Ehepaar) und jinrui-ai (Philanthropie). Das Geheimnis der Sprengkraft der modernen Liebe liegt in der Passion, aber diese wurde im Begriffsfeld der Zivilisation entschärft.
60 »Mit diesem selektiven Verhalten zur Geschichte ersetzt man – und das entspricht der reflexiven Geschlossenheit des Liebesgeschehens – den Startmechanismus der vernünftigen Überlegung und der galanten Kunstfertigkeit durch den Startmechanismus Zufall. Dessen Einfügung in den Code bringt eine wichtige Neuerung: die Paradoxierung von Zufall als Notwendigkeit, Zufall als Schicksal oder auch Zufall als Freiheit der Wahl. Mit diesem Einbau wird […] einer Vergrößerung der Kontaktkreise Rechnung getragen. […] Während sich höfische und dann galante Liebe selbstverständlich nur an Damen wenden konnte, die ›man‹ schon kannte, so daß die Wahl auf Vorinformationen gestützt werden konnte, wird jetzt mit der Symbolmarke ›Zufall‹ auch der Anfang einer Liebesbeziehung gesellschaftlich ausdifferenziert, nämlich grundlos gesetzt, ins Voraussetzungslose gebaut.« (Luhmann 1982: 180)
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In dem bekannten Fortsetzungsroman Konjiki yasha (XII) geht es augenscheinlich um den Gegensatz zwischen Geld und Liebe, weil die Heldin Miya ihren Verlobten Kankichi verlässt und sich freiwillig für einen reichen Bankier entscheidet.61 Um sie zurückzugewinnen, versucht Kankichi sie davon zu überzeugen, dass die Liebe (ai) das Wichtigste im Leben sei. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch ersichtlich, dass es hier um den Gegensatz zwischen einem Medium (Geld), das über die Grenze jedes segmentären Systems hinaus funktioniert, mit dem segmentären System der Familie, in dem die ai-Liebe platziert ist, geht. Miya und Kankichi wohnen wie eine Familie zusammen, weil Miyas Vater Kankichi – den Sohn seines verstorbenen Freundes – wie seinen eigenen Sohn aufgezogen und gepflegt hat. Auch hieran wird deutlich, dass die Liebessemantik in der Meiji-Zeit keine Kraft hatte, die segmentäre Systemgrenze zu überwinden, und dass die Überschreitung diese Grenze verwerflich war. Ein Kontakt oder auch nur eine Kontaktanbahnung außerhalb der Familie und der Schicht wurde auch vor der Heirat als anstößig betrachtet. Eine Frau von außerhalb des Familienkreises wurde als Eindringling empfunden (wie in XVIII und XX). Oft wurde die Liebe als egoistisches Gefühl, das nicht nur den Familienband, sondern auch die Freundschaft zerstörte, dargestellt (wie in XV, XXII, XXIII). Der iki beziehungsweise sui genannte kulturelle Code zur Kontaktanbahnung außerhalb der Familie wurde als unmoralisch abgelehnt, weil er sich im Vergnügungsviertel entwickelt hatte. In Erzählungen dieser Zeit haben der junge Held und die junge Heldin typischerweise Schwierigkeiten, in eine Beziehung einzutreten – nicht nur wegen äußerer Umstände, sondern auch als Folge ihres Habitus (wie in IV, XIX), da alle Techniken und Codes, die bisher die Kontaktanbahnung und das Hofieren geregelt hatten, mit der iro-Liebe über Bord geworfen wurden. Die ai-Liebessemantik bietet keinen Code für den Einstieg in eine neue, intime Beziehung und macht sie insofern sogar fast unmöglich. Weil der Flirt und die Kontaktaufnahme zur Initialisierung einer neuen Liebe im neueren oberstädtischen Bürgertum negativ beurteilt wurden und weil die ai-Liebessemantik diese Handlungen als Zeichen der Animalität und Barbarei gemäß dem Code der Zivilisation/Barbarei negativ einfärbte, wurde
61 Siehe z. B. Inoue ((井上)) 1975: 174 f.
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den Romanfiguren der erste Schritt erschwert. Es ist kein Wunder, dass die Zahl der arrangierten Ehen zu dieser Zeit anstieg. 62 Als Beispiel sei hier abschließend auf die Liebestragödie Hototogisu (siehe XIII) von Tokutomi Roka (徳冨蘆花 1868–1927) verwiesen. Dieser Roman zeichnet deutlich das Liebesideal des neuen Oberstadtbürgertums nach. »Namiko hielt die Hände ihres Mannes fest und lehnte sich an ihn. Die heißen Tränen stürzen ihr aus den Augen auf seine Knie. Sie schwor: ›Ich bleibe deine Frau, auch nach dem Tod. Gleich, was wir tun, sei es, dass ich krank werde, sei es, dass ich sterbe. Ich bin deine Frau für immer und ewig.‹« (Tokutomi [[徳富]] 1971 [1898– 1900]: 102; eigene Übersetzung)63 »Namiko war nicht imstande, ihrem Ehemann zu misstrauen. Sie wusste nicht, ob er reine Absichten hatte, aber sie traute seiner Liebe bedingungslos und nichts konnte dieses Vertrauen erschüttern – selbst wenn das Meer ausgetrocknet, selbst wenn Berge versetzt worden wären, sie hätte ihm vertraut. Als es ihr besser ging und sie Kunde von ihm erhielt, fühlte sie sich in ihrem Vertrauen bestätigt, fühlte sich getröstet. Aber sie wusste nicht, wie sich ihre Beziehung nach ihrer Krankheit entwickeln würde. Wenn auch die Krankheit geheilt würde, wäre es vielleicht nicht möglich, an die einmal abgebrochene Beziehung anzuknüpfen. Trotz dieser Ahnung tröstete sie sich, indem sie sich sagte, dass ihre Seelen in Jenseits miteinander verbunden bleiben würden und dass niemand diese Liebe würde brechen können.« (Tokutomi [[徳富]] 1971 [1898–1900]: 176; eigene Übersetzung)64
62 Zugleich sank die Scheidungsrate. Kinoshita ((木下 1995) sucht die Ursache hierfür im Wandel der Verwandtschaftsstruktur und dem Inkrafttreten des Zivilrechts. Diese Entwicklungen setzten zeitgleich mit der ethnologischen Theorie ein. Seiner These zufolge war das sogenannte ie-System nur auf Samurais und die Oberschicht anwendbar, jedoch nicht auf die Heiratspraktiken der allgemeinen Bevölkerung (vgl. 134). Dieser Betrachtung stimme ich zu. 63 Im Original:「浪子は良人の手をひしと両手に握りしめ、身を投げかけて 、熱き涙をはらはらと武男が膝に落としつつ『死んでも、わたしはあな たの妻ですわ!だれがどうしたッて、病気したッて、死んだッて、未来 の未来の後々までわたしはあなたの妻ですわ!』」。 64 Im Original:「浪子は良人を疑うあたわざりき。海かれ山くずるるも固く 良人の愛を信じたる彼女は、このたびの事一も良人の心にあらざるを知
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Die Beziehung des Ehepaars wird als sehr spirituell beschrieben. Die an Tuberkulose leidende, sterbende Namiko symbolisiert die »entkörperte« Frau, die jeglicher gesunden Sinnlichkeit entsagt. Dazu noch: Mit der modernen Liebessemantik erlebt der Liebende nicht mehr nur Liebe, sondern handelt aus Liebe (vgl. Luhmann 1982: 73ff.). Takeo und Namiko lieben sich, jedoch erwächst daraus kein Handeln. Zu jener Zeit befanden einige Autoren, dass mit der ren’ai-Liebe, die mit der Wiederverstärkung der segmentären Einheit und der Biopolitik verbunden war, eine gewisse Heuchelei einherging. 65 So verdammte etwa der Schriftsteller Izumi Kyoka (泉鏡花 1873–1939) die ai-Liebe als Ideologie: »Ich bin allein. Bitte, hilf mir, sie zu verführen. Was, was ist los? (die Ohren spitzend), die reine Liebe, was mit offenem Arsch?« (Izumi [[泉]] 1967 [1907]: 122; eigene Übersetzung)66 In On’na keizu ((siehe VIII) kritisiert er zudem die Verehrung der Blutlinie und die Ehepraktiken der neuen Oberschicht und oberen Mittelschicht in der Oberstadt, jedoch nicht auf der Basis des westlichen Prinzips der Liebesheirat, sondern aus der Perspektive der alten Edo-Bürger-Schicht.67 So ist es ein junger Mann aus der alten Unterstadt, der in einer Novelle der neuen oberen Mittelschicht dafür die Schuld gibt, mit einer geliebten Person keine Heirat eingehen zu dürfen.
りぬ。病やや間になりて、ほのかに武男の消息を聞くに及びて、いよい よその信に印捺されたる心地して、彼女はいささか慰められつ。もとよ りこの後のいかに成り行くべきを知らず、よしこの疾痊ゆとも一たび絶 えし縁は再びつなぐ時なかるべきを感ぜざるにあらざるも、なお二人が 心は冥々の間に通いて、この愛をば何人もつんざくあたわじと心に謂い て、ひそかに自ら慰めけるなり」。 65 Kim weist treffend darauf hin, dass das home-Ideal und die KaiserreichIdeologie (kokutai) zwei unterschiedliche Seiten derselben Medaille darstellen (vgl. Kim 2003: 23 f.). 66 Im Original:「こっちは一人だ、今に来たら、お前も手伝って口説いてく んねえ。何だ、何だ、(と聞く耳立てて)純潔な愛だ。けつのあいたあ 何だい。」(Izumi [[泉]] 1967 [1907]: 122). 67 Morton (モートン 1999: 306) behauptet, dass das Liebesverständnis von Izumi Kyôka altmodischer sei als das von Kitamura Tôkoku. Diese Auffassung kann ich nicht teilen.
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»Was soll das sein? Man nutzt die geliebte Tochter aus, um ihr einen gut verdienenden Bräutigam auszuwählen, damit der ganze Clan gedeihen kann? Als Mensch geboren, und zwar als ein schönes Mädel, das nichts von iro und koi versteht, verheiratet man sie mit einem Mann, als ob man ein blindes Huhn schlachtet, sagend: Sei eine treue Frau, sei eine weise Mutter, sei eine gute Ehefrau. So funktioniert es sicher nicht; dieser Trick klappt nicht: Seht her, ein kleiner Anstoß und schon entpuppen sie sich als treue Frauen, weise Mütter und gute Ehefrauen, dank der Schule und der Moralisten?« (Izumi [[泉]] 1967 [1907]: 148; eigene Übersetzung)68
Tsujibashi weist auf die Wiederbelebung der konfuzianischen »feudalen Moral« in der katei-shôsetu-Literatur in den 30er Jahren der Meiji-Zeit (1898–1908) hin: »Im katei-shôsetsu-Genre wurde [...] der höchste Anspruch der Liebe unterstrichen, jedoch [...] dieses Liebesideal ist nichts anders als Hingabe der Frau und Mitleid des Mannes. […] Die Liebe besteht in der Hingabe und Gehorsamkeit der Frau wie zur Zeit der feudalen Unterdrückung und Tyrannei vonseiten des Mannes.« (Tsujibashi [辻橋]] 1962: 922) Nur um diese »feudale Moral« zu beschönigen bzw. zu übertünchen, so die Konsequenz, wurde der an das Christentum angelehnte Liebesbegriff gebraucht. Allerdings könnte es zu weit gehen, wenn ich behaupten würde, dass alles Übel dieser Ideologie bereits im christlichen Missionsgedanken im Sinne Kitamuras angelegt gewesen wäre. e) Anthropologie: Die ai-Semantik besaß nicht die Kraft, der Vernunft (ri) den anthropologischen Vorrang abzuerkennen. Die anthropologische Hierarchie blieb in Kraft – und wurde dank des Neo-Konfuzianismus, der in den Institutionen des Meiji-Staats sowie in der ai-Liebessemantik wiederbelebt wurde, sogar noch intensiviert: Der Geist regiert den Körper, das
68 Im Original:「可愛い娘たちを玉に使って、月給高で、婿を選んで、一家 の繁昌とは何事だろう。 たまたま人間に生を受けて、しかも別嬪に生れたものを、一生にたっ た一度、生命とはつりがえの、色も恋も知らせねえで、盲鳥を占めるよ うに野郎の懐へ捻込んで、いや、貞女になれ、賢母になれ、良妻になれ 、と云ったって、手品の種を通わせやしめえし、そう、うまく行くもの か。 見たが可い、こう、己が腕がちょいと触ると、学校や、道学者が、新 粉細工で拵えた、貞女も賢母も良妻も、ばたばたと将棊倒しだ」。
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moralische Gefühl steuert die gesamten Emotionen, ri beherrscht jô.69 (Diese Botschaft wird beispielsweise in II eindringlich veranschaulicht). Die Abwertung der Passion und iro sowie des semantischen Vermächtnisses der Edo-Zeit durch Kitamura erinnert mehr an die Idee des Konfuzianismus als an das Christentum, auch wenn die ai-Liebessemantik angeblich im asketischen Christentum verwurzelt ist, wie viele Autoren behaupten (z. B. Noguchi 1979: 170)70: »Our natural emotions are not just for morality; they are also roots of evil.« (Liu 2010: 374). Ai muss sich als edles und natürliches Gefühl legitimieren, weil das Konzept nicht die Gegenposition der moralischen Vernunft einnehmen kann. Dementsprechend braucht ai etwas anderes als Gegenbegriff. Das resultierende Begriffspaar wird maßgeblich vom Oben/Unten-Symbol geprägt, das in der Meiji-Zeit mit der wiederhergestellten kaiserlichen Stratifikation die symbolische Ordnung der Gesellschaft wieder stärker prägte. Daraus ergibt sich, dass ai gemäß Kitamura Tôkoku weniger universell praktizierbar ist und ein großer Teil der Bevölkerung, vor allem Bewohner der Unterstadt, von der Liebeserfahrung disqualifiziert und ausgeschlossen werden. Der Liebe wird damit der Aspekt der Unerreichbarkeit unterstellt.71 Zu Legitimations- und Begründungszwecken koppelt sich der Begriff der ai-Liebe an andere Begriffe wie Moral, Natur und Zivilisation, die aus dem semantischen Pool des Konfuzianismus leicht rekrutierbar sind. Diese Moralisierung beziehungsweise Naturalisierung der ai-Liebe wurde zwar auch zur Kritik an den alten Verwandtschafts- beziehungsweise Familienstrukturen eingesetzt, aber insgeheim schuf sie die Allianzen mit diesen segmentären Einheiten. Denn sie weist die Liebe auf eine neue Beschränkung hin: Die freie Liebe »übersieht, dass ›Natur‹ immer auch ein Sperrbegriff gewesen ist, der Einzigartigkeit, also Individualisierung ausschließt« (Luhmann 1982: 139). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass der Liebesbeweis in der japanischen Variante der »modernen« Liebessemantik (ren’ai) eher dem Konzept der moralischen Perfektion einer Person entspricht, während sich in der westeuropäischen 69 Dieser Zeitgeist der Meiji-Zeit wurde später von Nagai Kafû kritisiert. 70 Mathy stellt Kitamuras Verständnis des Christentums in Frage (1963: 18 f.). 71 In Hinsicht darauf kritisiert Itô Sei die ai-Liebe als Heuchelei. Siehe Itô (伊藤) 1981 [1962]: 153. Siehe auch Morton ((モートン)) 1999: 302. Es mag an dieser Stelle nicht unerheblich sein, dass Kitamura selbst keine Erfüllung in der Liebe nach der Eheschließung fand; 1894 beging er Selbstmord.
DER WANDEL DER LIEBESSEMANTIK SEIT DER MAIJI-RESTAURATION
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Semantik das Moment der Einzigartigkeit des/der Geliebten institutionalisiert hat.
Schlussbemerkungen und Ausblick
S OZIOKULTURELLE E VOLUTION UND M EDIENTECHNIK – S EMANTIK , S TRUKTUR UND M EDIEN Ich hoffe, den Wandel der Liebessemantik in Japan mithilfe der Luhmannschen Begrifflichkeiten plausibel beschrieben und somit erfolgreich ihre wissenschaftliche Relevanz bewiesen zu haben. Bis ins 19. Jahrhundert lässt sich eine Vielzahl von Parallelen zwischen der Evolution in Japan und der in Europa beobachten. Hintergrund sind ähnliche sozialstrukturelle und kommunikationstechnische Entwicklungen wie die Differenzierung von mündlicher und schriftlicher Kommunikation sowie von Interaktion und Funktionssystemen. Die bedeutendste Entwicklung im Rahmen des Strukturwandels ist die Etablierung eines funktionierenden Büchermarkts im Japan des 17. Jahrhunderts. Die Basis der gesellschaftlichen Wissenproduktion, -distribution und -reproduktion fußte zunehmend auf der schriftlichen Kommunikation. Die japanische Gesellschaft der frühen Neuzeit entspricht keineswegs dem von der älteren soziologischen Modernisierungstheorie angenommenen Modell der Vormoderne – einer durch die gemeinsame Religion durchintegrierten Gesellschaft. Dies impliziert, dass in Japan – wenn überhaupt – die Antriebskraft zum gesellschaftlichen Umbruch in die Moderne nur begrenzt in der Religion zu suchen ist (dagegen vgl. Bellah 1957).1 1
Auch Eisenstadt (1996; 2006) konzentriert sich im Hinbick auf die Ursprünge der Moderne in Japan fast ausschließlich auf Religion und Politik und lässt dabei die Rolle der Medien außer Acht.
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Im von der Entwicklung der Medientechnik mitbedingten Prozess zur funktionalen Differenzierung ist der Wandel der Liebessemantik ein wichtiger Indikator für die Differenzierung der Gesellschaft und den Grad der Individualisierung – so die Leithypothese der vorliegenden Arbeit. Das heisst: »daß literarische [...] Darstellung der Liebe ihre Themen und Leitgedanken nicht zufällig wählt, sondern damit auch ihre jeweilige Gesellschaft reagiert; daß sie zwar nicht der Realität widerspiegelt, aber angebbare Probleme löst, nämlich funktionale Notwendigkeiten des Gesellschaftssystems in Form bringt.« (Luhmann 2008: 27-28) Tatsächlich reagierte auch in Japan die Liebessemantik der jeweiligen Epoche sehr sensibel auf den Strukturwandel. Auf dieser Annahme gründet die Herangehensweise der vorliegenden Arbeit, fiktive Literatur als Reflexionstheorie des ausdifferenzierten bzw. auszudifferenzierenden Systems für Intimbeziehungen zu beobachten. Die Reflexion über die »Codierung von (sexuell basierter) Intimität« hatte auch in Japan in einem kleinen Kreis von Personen innerhalb der höfischen Gesellschaft ihren Ursprung und wurde anschließend »außerhalb aller etablierten Ordnung« fortgeführt. Doch mit der Entwicklung des Büchermarkts wurde diese Semantik einem immer größeren Publikum zugänglich; in der öffentlichen Wahrnehmung wurde sie zunächst als »unvernünftig« und »wahnhaftig« bewertet (vgl. Luhmann 1982: 39). In der frühen Neuzeit war das Vergnügungsviertel der Ort, wo die praktische Umsetzung dieser Codierung erprobt wurde, wodurch sie weitere Modifikationen erfuhr. Diese Modifikationen wurden umso weitreichender, je mehr Teile der Bevölkerung über die lokalen und ständischen Grenzen hinaus in diese Kommunikation inkludiert wurden – man denke an den Konsum der Liebesromane und -dramen von Saikaku, Chikamatsu, Tamenaga u.a. Im Rahmen dieses Wandels wurde der Code für eine stetig wachsende Anzahl an Menschen annehmbar und sogar praktizierbar. Es war die Kommerzialisierung der Literatur vor dem Hintergrund eines florierenden Büchermarkts, die die soziokulturelle Evolution der Semantik förderte. Ekkehard May weist bereits, wenn auch ohne klaren soziologischen Theoriebezug, auf folgenden Sachverhalt hin: »Das literarische Leben Japans in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die europäischen Ideen, die europäische und amerikanische Literatur einzuströmen begannen, war außerhalb des nicht westlich-abendländischen Bereiches seinerzeit auf der Welt in Lebendigkeit, Vielfalt, Intensität und nicht zuletzt in Bezug auf die
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produzierten Quantitäten m. E. ohne Parallele. Die Strukturen eines neuzeitlichen Literaturbetriebes mit einem blühenden Verlagswesen, einer hochentwickelten Drucktechnik, einer Massenproduktion für ein wirkliches Massenpublikum, das auf alle literarischen Neuheiten empfindlich reagierte, professionellen Autoren, die am Markt orientiert schrieben – schreiben mußten – machten es möglich, fast bruchlos in das Zeitalter der vom Westen beeinflußten Literatur überzugehen, wobei der Rahmen eines funktionierenden Literaturbetriebes mit neuen Ideen, Inhalten und Genres ausgefüllt werden konnte.« (May 1978: 273) Die dezentrierte Wissensproduktion und -distribution ermöglichte den gesellschaftlichen Wandel im frühneuzeitlichen Japan und kann als Webgereiter der Moderne angesehen werden. Das neugierige Publikum, das sich später zivilisatorische Güter aus dem Westen aneignen sollte, war keine anthropologische Selbstverständlichkeit, sondern ein historisches Produkt, das unter bestimmten soziostrukturellen und medientechnischen Bedingungen entstanden war.2 Die Semantik der Liebe hat auch in Japan »die Ausdifferenzierung von Intimbeziehungen eingeleitet und begleitet, zunächst eher gegen die Ehe als gesellschaftliche Institution, dann im Hinblick auf Ehe als Eigengründung der sich Liebenden« (Luhmann 1982: 199). Dieser Prozess kann auch anhand des Wandels der Liebessemantik von der Genroku- zur Kasei-Epoche nachgezeichnet werden. In der frühen Neuzeit – genauer seit dem Mitte 18. Jahrhundert – fehlte es in Japan an einer eindeutig bestimmbaren Oberschicht, welche die politische und ökonomische Macht sowie die kulturelle Hegemonie auf sich vereinte und deren Herrschaft religiös legitimiert war. Die chônin (Bürger), die Kulturträger zu jener Zeit, wurden nach der offiziellen Ideologie als dritter 2
»Strukturelle Voraussetzungen für die semantische Option, an Neuheit anzuschließen, statt sie als bloß fehlerhafte und daher korrekturbedürtige Wiedergabe der Überlieferung aufzufassen, sind mit der Umstellung von stratifizierter auf funktionale Differenzierung, dem Buchdruck und einer damit einhergehenden veränderten Zeitsemantik gegeben. Gemeinsam ist allen drei Momenten, dass Herkunft, Ursprung und Vergangenheit nicht mehr über Geltungen in der Gegenwart und über Zukunft entscheiden. Für zeitgenössische Beobachter wird es zum Problem, dass sich moralische Normen unablässig auflösen, dass sie anders als in klassischen und mittelalterlichen Betrachtungen historisch relativiert werden.« (Bohn 2006: 118). Vgl. Luhmann 1995a: 63f.
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bzw. vierter Stand klassifiziert. Die schriftliche Kommunikation war jedoch nicht auf die »Oberschicht« beschränkt, sondern fungierte als Verbreitungsmedium über die Grenze der Stände hinweg. Das Symbol für oben/unten erfuhr in der rund 100 Jahre andauernden Sengoku-Zeit eine Abwertung, wie die Formulierung gekokujô (下克上;; »Die Unteren besiegen die Oberen«) deutlich macht, und begann seine Unantastbarkeit zu verlieren. Es sensibilisierte seitdem die Japaner für die Kontingenz der Welt, die seitdem integraler Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses Japans ist. 3 Sie spiegelt sich insbesondere im Begriff ukiyo wider. Angesichts dieses relativ schwachen Spannungsverhältnisses von oben und unten charakterisiert S. N. Eisenstadt die japanische Kultur als Nicht-Achsenzivilisation (vgl. z. B. Eisenstadt 1996).4 Zwar bemühte sich das Tokugawa-Shôgunat seit 3
In diesem Sinne ist es völlig richtig, anzunehmen, dass die Moderne in Japan nicht erst ab 1868 begann. Siehe dazu Arnason 1988: » On the other hand, historical research has now proved beyond doubt – even if the lesson has not been fully assimilated by sociologists – that the modernization of Japan did not begin in 1868 and was not simply a response to the challenge from the West. The domestic background of the Meiji Restoration cannot be reduced to the internal crisis of ›a feudalism which had been allowed to consume and rot the body politic‹; the Tokugawa regime must be regarded as an important and formative stage of the Japanese road to modernity. [...] it was certainly a much more complex, rationalized and dynamic social order than the idea of an artificially prolonged feudalism would indicate. It was based on a combination of feudal and postfeudal elements that was noteworthy not only for its durability, but also for some achievements which paved the way for later changes.« (238). Daran anschließend modifiziert Collins (1997) Max Webers Modell der Entstehung des Kapitalismus und argumentiert, dass auch der japanische Buddhismus den Übergang zur kapitalistischen Wirtschaft ermöglichte. Hingegen vertritt Zöllner (2009) selbst heute noch die konventionelle, eurozentristische Auffassung, dass die Modernisierung Japans ohne den Westen nicht möglich gewesen wäre.
4
Natürlich will ich damit nicht sagen, dass es in Japan keine Beziehung von oben und unten bzw. keine Herrschaftsverhältnisse gegeben habe. Vielmehr war das Spannungsverhältnis von oben und unten im Vergleich zu den Achsenzivilisationen – also in relativer Hinsicht – schwächer. Nebenbei gesagt: Als gebürtiger Japaner, der lange in Europa gelebt hat, kann ich hier auch aus eigener Erfahrung sprechen.
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seiner Gründung darum, die stratifikatorische Herrschaftsordnung mithilfe der konfuzianischen Lehre wiederherzustellen und mit dieser zu legitimieren, jedoch war dieses Bemühen nur von mäßigem Erfolg gekrönt, da nach der konfuzianischen Lehre nicht der Shôgun, sondern der Ten’nô (Kaiser) den Platz des legitimen Herrschers einnahm.
F EHLGEBURT
DER
» MODERNEN« L IEBE
IN
J APAN
Jedoch lässt sich diese Parallelität in der Evolution nur bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts feststellen. Ausgerechnet mit der »Landesöffnung« begann der japanische Sonderweg. Beginnend mit der Meiji-Restauration wurde die segmentäre Differenzierung des politischen Systems durch den Aufbau des modernen Nationalstaats überwunden. Edo wurde in Tôkyô umgetauft und erhielt seine Stellung als politisches, ökonomisches und kulturelles Zentrum Japans. Auch die Wissensproduktion und -distribution wurde in Form eines zentralistisch aufgebauten Schul- und Universitätssystems unter der Kontrolle des Erziehungsministeriums sowie durch die mit fortschrittlicher Technik und großem Kapitel ausgestatteten großen Verlage in Tôkyô zentralisiert. Da Japan nicht mehr durch mündliche Kommunikation, sondern hauptsächlich durch die schriftliche mediale Kommunikation integriert war, nahm dieser Wandel die Gestalt eines Kampfs um die kulturelle Hegemonie in den Printmedien an. Die Sozialschicht, welche die neuen Kulturträger stellte, war zwar auf dem Land beheimatet, doch ihre Vertreter schlossen typischerweise in Tôkyô ihr Studium ab und bauten sich dort als Beamte, Angestellte oder Offiziere eine Existenz auf. Die Träger der japanischen Industrialisierung und der damit einhergehenden neuen Repräsentativkultur – das neue Bürgertum im Japan der Meiji- und Taishô-Zeit – entstammten nicht dem alten Edo-Bürgertum, sondern dem Stand der ehemaligen Samurai und Bauern. Um ihre kulturelle Hegemonie im Namen der Zivilisation zu legitimieren, distanzierten sie sich von der Edo-Kultur der alten Bürgerschicht einschließlich ihres Verhaltenscodexes und -musters. Was in der Edo-Zeit als sittlich und schicklich gegolten hatte, wurde nun als »barbarisch« abgewertet. Von der Meiji-Restauration (1868) bis in die 1890er Jahre prägte die Leitdifferenz von Zivilisation und Barbarei den Zeitgeist und beherrschte
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die verschiedensten Diskursfelder. Der japanische Zivilisationsbegriff ist konfuzianischen Texten entlehnt, verweist aber auch auf die von viktorianischen Moralvorstellungen geprägte Zivilisierungsmission, die aus dem Westen den Weg nach Japan fand. Zivilisation meint dabei den kognitiven und ethischen Fortschritt jedes einzelnen Menschen wie auch der Gesellschaft als einer Aggregation vieler Menschen. Theoretisch gesehen entspricht diese von der Unterscheidung Zivilisation/Barbarei geleitete Semantik der Differenzierungsform Zentrum/Peripherie. In der Tat beobachteten westliche Missionare und die von ihnen beeinflussten Japaner das Verhältnis zwischen dem Westen und Japan als eines zwischen Zivilisation und Barbarei. Parallel dazu beobachteten die neuen Kulturträger der Tôkyôer Oberstadt das Verhältnis zwischen Oberstadt und Unterstadt als eines zwischen Zivilisation und Barbarei. In die Zentrum/Peripherie-Unterscheidung ist nach der konfuzianischen Tradition auch die Differenzierungsform der Stratifikation integriert. Dies bedeutet, dass das zivilisatorische Zentrum zugleich als Träger des moralisch Überlegenen betrachtet wurde. Die Verbreitung dieser Semantik ging einher mit der Wiederbelebung des Neokonfuzianismus und dessen Institutionalisierung. Nach Auffassung des Konfuzianismus tragen alle Menschen die Naturanlage der Güte in sich. Gute und schlechte bzw. böse Menschen unterscheiden sich im Hinblick darauf, inwieweit ihre Güte kultiviert ist. Bei guten Menschen wird die Güte in hohem Maße gepflegt und kultiviert, während diese Tugend bei schlechten Menschen unterentwickelt bleibt. Die guten, kultivierten Menschen müssen deshalb die schlechten, unkultivierten und gemeinen Menschen führen und ihnen dabei helfen, ihre Güte zu kultivieren. Dieser Semantik zufolge sollte die soziale Hierarchie die moralische Hierarchie widerspiegeln. Der Unterschied zwischen Zivilisation und Barbarei entsprach jenem zwischen Gut und Böse im gerade gezeigten Sinn. Diese Semantik weist gewisse Überschneidungen mit der westlichen Zivilisierungssemantik auf. Die Reaktivierung der neokonfuzianischen Semantik durch die MeijiRegierung ging einher mit der Moralisierung der Liebe: Von der MeijiReformregierung wurde diese Semantik im Rechts- und im Erziehungssystem institutionalisiert. Sie beschrieb die nationale Gesellschaft als eine große Familie und machte keine Unterscheidung zwischen persönlichen und unpersönlichen Beziehungen. Das freie Spiel der Emotionen wurde in diesem System negativ bewertet. Neben den gerade genannten Aspekten –
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Verschiebung des kulturellen Zentrums, Einrichtung einer zentralistischen Erziehungsinstitution, Zentralisierung der Wissensproduktion einschließlich des Büchermarkts – trug die Zivilisationssemantik dazu bei, die in der Edo-Zeit zumindest ansatzweise ausdifferenzierte Interaktions- und Individualitätssemantik abzuwerten und sogar zu entdifferenzieren. In diesem Zusammenhang entstand in Meiji-Japan der Diskurs der »modernen« Liebe und der »modernen« Familie. Allerdings ist diese als »modern« propagierte Liebe – zumindest aus Sicht der Differenzierungstheorie und der semantischen Evolution – nicht als Wandel in Richtung zur funktionalen Differenzierung zu werten, sondern markiert vielmehr einen Rückfall in die weitaus ältere, idealisierte Liebe der stratifikatorischen Gesellschaft, die aufgrund des in der Meiji-Zeit wieder aufgewerteten Symbols von oben und unten die alte anthropologische Differenz von seelischer (d. h. höherer) und sinnlicher (d. h. niederer) Liebe revitalisierte. Jedoch muss sich zur Durchsetzung des modernen Liebesbegriffs Niklas Luhmann zufolge diese Differenz im Umbau der Gesellschaft von der stratifikatorischen zur funktionalen Differenzierung abschaffen. Sonst sind die sozialen Voraussetzungen dafür, dass jeder jeden rein um der Liebe willen lieben kann, nicht gegeben (Vollinklusion der gesamten Bevölkerung in alle Funktionssysteme). »Reflexivität des Liebens ist, abstrakt gesehen, eine Möglichkeit für alle Talente und alle Situationen – keineswegs eine esoterische Angelegenheit, die nur wenigen großen Liebenden oder Verführungsspezialisten vorbehalten bleibt […] Die Liebe richtet sich auf ein Ich und ein Du, sofern sie beide in der Beziehung der Liebe stehen, das heißt eine solche Beziehung sich wechselseitig ermöglichen – und nicht, weil sie gut sind, oder schön sind, oder edel sind, oder reich sind.« (Luhmann 1982: 175) Das Liebeskonzept der Meiji-Intellektuellen konstruierte die Fähigkeit, zu lieben und geliebt zu werden, hingegen als ein Vorrecht, das Menschen mit »höherer Moral« bzw. zivilisierten Menschen vorbehalten war. Unterstädter, nicht zu sagen Kurtisanen, waren davon ausgeschlossen. Die Liebessemantik wurde somit in der Meiji- und Taishô-Zeit remoralisiert und sogar politisiert. Diese Remoralisierung der Liebe und die damit einhergehende Wiedererstarkung des stratifikatorischen Prinzips finden auch auf der Ebene der literarischen Kommunikation Bestätigung. In den folgenden, im letzten Kapitel erläuterten Aspekten zeigt sich, dass die Dichtungskonventionen der Meiji-Taishô-Zeit eher der Semantik der stratifizierten Gesellschaft zuzu-
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ordnen sind: 1) Vorherrschen der dramatische Form der Tragödie im Gegensatz zur Kommödie;5 2) Parallelität zwischen moralischer Werteausprägung und sozialem Stand einer Figur (vgl. Plumpe/Werber 1993: 18); und 3) Einbettung der Unterhaltungsliteratur in »polyfunktionale Kommunikationen«, vor allem in Form einer moralisierenden Didaktik, beispielsweise bei Iwamoto (vgl. Plumpe/Werber 1993: 35). Der literarische Innovationsgehalt wurde zu jener Zeit nach dem Beitrag eines Werks zur allgemeinen Zivilisierungsmission beurteilt. Der Vormarsch der romantischen Liebe scheiterte im Japan der MeijiTaishô-Zeit an dieser Gegenentwicklung. Die Literatur jener Zeit kennt zahlreiche Helden, die sich vor der Notwendigkeit sehen, ihre Liebe moralisch, religiös, ja, sogar wissenschaftlich zu rechtfertigen. Gelingt ihnen das nicht, wird die Liebe als Egoismus verurteilt. Vor diesem Hintergrund ist auch die Argumentation des Schriftstellers Natsume Sôseki (夏目漱石 1867–1916) zu verstehen 6 , der die »moderne Liebe« (im damaligen Sprachgebrauch) als eine Form des Egoismus sah, der Freundschaft und familiäre Bande – also die Grundlagen der Moral – zerstöre.7 Weil die Liebe sich selbst nicht begründen und legitimieren kann, die Selbstreferenz der Liebe also untersagt bleibt, wird Liebe zum Egoismus, denn »[d]er Grund der [modernen] Liebe kann nur in der Liebe selbst liegen« (Lenz 1998: 68), 5
»[D]ie Tragödie ist die höchste der Gattungen, in ihr treten daher Könige und Prinzen auf, sie sind im hohen Stil geschrieben; die Komödie ist eine niedrigere Gattung, ihre Protagonisten sind Bürger, die Sprache ist gewöhnlich. Selbstverständlich sind Könige auch schöner als Bürger, die tragischen Konflikte des Adels edler Herkunft, die des Bürgertums aber von niederen Trieben motiviert. Man denke nur an Racine und Molière. Anders formuliert: die poetische Semantik entspricht der stratifizierten Differenzierung der Gesellschaft. Die binären Schematismen sind kaum gegeneinander differenziert: das Schöne ist auch edel und gut, wie das Böse gemein und häßlich ist.« (Plumpe/ Werber 1993: 19)
6
Natsume Sôsekis literarische Werke sind in Japan Teil des klassischen und zugleich populären Kulturguts. Als Referenz für das oben genannte Zitat sei an dieser Stelle auf die beiden Romane verwiesen, die im letzten Kapitel behandelt wurden.
7
Vgl. hierzu Reitan (2010). Seine Ausführungen, in denen er das Unternehmen der Meiji-Intellektuellen als Versuch deutet, eine moralische Gesellschaft zu errichten, kann ich als sehr lesenswert empfehlen.
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also weder in der moralischen Tugend noch im christlichen Gottesbezug. Bemerkenswert ist auch, zu sehen, dass sich zahlreiche Buchfiguren der Meiji-Taishô-Zeit darum bemühen, ihre Liebe mit Moral, Biologie und Metaphysik zu rechtfertigen – ein Bemühen, das zeigt, dass sie es als Sünde begreifen, aus Leidenschaft zu handeln. Den Protagonisten der ninjôbonLiebesromane ist ein solches Verlangen nach Rechtfertigung hingegen fremd. Auf anthropologischer Ebene entspricht dem Symbol von oben und unten die Unterscheidung zwischen Seele und Fleisch. Diese Unterscheidung, also die Differenzierung zwischen einer höheren und einer gemeinen, sinnlichen Form der Liebe, geht im japanischen Kontext dieser Zeit insbesondere auf das asketische Christentum zurück, das nach der Aufhebung des Verbots des christlichen Glaubens im Jahr 1873 immer mehr junge Intellektuelle erfasste. Gemäß dieser religiös geprägten Unterscheidung ist die echte und gehobene Liebe nicht fleischlich bestimmt, während die gemeine Liebe – einschließlich der Liebespraktiken der Edo-Zeit – mit dem Fleisch assoziiert wird. Reine Liebe wird als einseitige, selbstlose Hingabe verstanden. In ihrer Einseitigkeit geht sie sogar so weit, dass es keine Rolle mehr spielt, was das Gegenüber (alter ego) denkt und fühlt. Weil die soziale Reflexivität der Liebe auf die einseitige Hingabe reduziert wird8, wird sie außer Kraft gesetzt. Die moderne Liebe zeigt sich aber Luhmann zufolge »nicht zuletzt an der Reflexivität des wechselseitigen Begehrens. Im körperlichen Zusammenspiel erfährt man, dass man über das eigene Begehren und dessen Erfüllung auch das Begehren des anderen begehrt und damit auch erfährt, dass der andere sich begehrt wünscht. Das schließt es aus, »Selbstlosigkeit« zur Grundlage und Form eigenen Handelns zu machen; […] Mit all dem durchbricht die Sexualität den Schematismus von Egoismus/Altruismus ebenso wie die Hierarchisierung menschlicher Beziehungen nach dem Schema Sinnlichkeit/Vernunft. Das zeigt sich nicht zuletzt historisch daran, dass die Ausdifferenzierung von sexuell basierten Intimbeziehungen unter dem Code der Liebe, […] diese beiden Distinktionen der Moral und Anthropologie Alteuropas sprengt.« (Luhmann 1982: 33) Die Prominenz der Unterscheidung von Seele und Fleisch wirkte sich reaktionär auf die Evolution der Liebe aus. Die abwertende Haltung Iwa8
Dies zeigt sich etwa in den Liebesbriefen und der Liebesgeschichte des Schriftstellers Kunikida Doppo (国木田独歩) ((1871–1908).
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motos und Kitamuras gegenüber dem Thema der Sexualität stützt die Annahme, dass der Strukturwandel zu ihrer Zeit nicht als Wegweiser auf dem Weg zur funktionalen Differenzierung fungierte, sondern dass der Wandel der Liebessemantik in der Meiji-Taishô-Zeit vielmehr ein verstärktes Hinwenden zur Stratifikation belegte. »Mit solchen [negativen] Haltungen [gegenüber der Sexualität] wird nochmals der Primat stratifikatorischer gegenüber funktionaler Differenzierung unterstrichen«, schreibt Luhmann (1982: 146) mit Blick auf die viktorianische Geschlechtermoral. Vor diesem Hintergrund lässt sich schließen, dass die soziale Stratifikation in der Meiji-Zeit nicht trotz, sondern gerade wegen der Öffnung des Landes gegenüber den »westlichen« Staaten verstärkt wurde. Denn die Landesöffnung und der daran anschließende Gesellschaftsumbruch brachten eine neue soziale Schicht hervor, die von dieser Entwicklung profitierte. Sowohl die Beziehung dieser Schicht zu den Altbürgern der Unterstadt als auch die zwischen den westlichen Ländern und Japan wurde anhand der Begriffsdichotomie von »oben und unten«, d. h. »Zivilisation und Barberei«, codiert. Die Beobachtungsperspektive dieser Codierung regenerierte die stratifikatorische Struktur, die den vorhandenen Ansätzen der romantischen Liebe entgegenwirkte. Darüber hinaus waren und sind die Lebensmodelle in Europa entgegen der Tendenz, bei der Beobachtung von Geschichte und Gesellschaft eines »nicht-westlichen« Landes alles aus Europa und Nordamerika Kommende unter dem Begriff des »Westlichen« oder »Modernen« zu pauschalisieren, sehr vielfältig und unterschiedlich. Die Konkurrenz zwischen dem englischen und dem französischen Modell zur Integration von Liebe, Ehe und Sexualität beschreibt Niklas Luhmann folgendermaßen: »Wahrscheinlich war die Freigabe sexueller Beziehungen in den höheren Schichten Frankreichs besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu weit fortgeschritten – zu weit im Hinblick auf eine mögliche Integration von Sexualität und Liebe. [... In England] werden die Normen des dezenten Umgangs mit solchen [Sexual-]Problemen verschärft und der gesamte Bereich in die Zone der Inkommunikabilität verschoben. Die Viktorianische Prüderie ist falsch benannt, sie ist ein Produkt des 18. Jahrhunderts. [...] In Frankreich hat man [...] am Falle der außerehelichen Beziehungen einen hochkomplexen Code für Liebesangelegenheiten ausgearbeitet, in England war man in dieser Hinsicht unvorbereitet. In Frankreich konnte die Aufwertung der Sexualität daher in einen trandierten semantischen Kontext eingearbei-
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tet werden, in England musste sie vollzogen und unterdrückt werden. [...] Die zuerst in England proklamierte Verbindung von Liebe und Ehe konnte dann zwar den Kontinent beeindrucken. Aber sie hat am entscheidenden Punkt eine fatale Schwäche: Für die Ehe musste die Frau unberührt sein. Für die Liebe wäre das kein Erfordernis gewesen. An dieser Diskrepanz scheitert dann auch, psychologisch und semantisch, die Integration.« (Luhmann 1982: 143–144)
Gegen die viktorianische Geschlechtsmoral wird Liebe in der (kontinental-) westeuropäischen Romantik ihres moralischen Repräsentationscharakters entkleidet. Sie löst sich von den Geboten der Tugendhaftigkeit und erhebt einen exklusiven Höchstanspruch, »der sich einzig auf die Unvergleichlichkeit des/der Geliebten bezieht« (Saße 1996: 48). Dort wird »über die Aufwertung der Sexualität dann auch die Konkurrenz von Liebe und Freundschaft als Grundformen für die Kodierung der Intimität entscheidbar« und »Liebe gewinnt« (Luhmann 1982: 147). In der deutschen Romantik – vor allem in den Schriften Schleiermachers – erfolgte die Transformation des christlichen Liebesideals, das sich als Nächstenliebe verstanden und weniger auf eine individuelle, exklusive Paarliebe gesetzt hatte. Die romantische Liebe ist seither mit ehedem häretischen Vorstellungen wie der erotischen Erlösungskraft des Weiblichen und der Liebe als einer absoluten Verschmelzung, die durch die Figur Androgynes symbolisiert wird, verknüpft (vgl. Scholz 2014: 262). Die Formen der Religiosität, die auch die romantische Liebe kennt, sind mit dem asketischen Protestantismus, unter dessen Einfluss japanische Intellektuelle wie Iwamoto und Kitamura standen, nicht verwandt.9 Mit dem Übergang von der stratifizierten zur funktional differenzierten Gesellschaft war überall »das Problem der Freigabe von Eheschließungen an sozial nicht mehr kontrollierte Zufälle […] mit Veränderungen in der Sozialstruktur aktuell geworden. […] Als semantisches Korrelat stand im Moment aber nur der amour passion zur Verfügung« (Luhmann 1982: 184). In den Peripherieländern der Weltgesellschaft übersieht man zumeist den Unterschied zwischen dem angelsächsischen, puritanischen Modell und dem kontinentaleuropäischen Modell als Lösung der »Freigabe von Eheschließungen« (vgl. Morikawa 2014: 27). Denn der Liebesdiskurs in 9
Diese Unterschiede werden von Japanologen üblicherweise – zumindest in meinen Bekanntenkreis – verkannt.
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diesen Ländern wird zumeist auf das Schema »freie Liebe vs. arrangierte Ehe« reduziert. Die romantische Liebe ist zwar freie Liebe, jedoch ist freie Liebe kein Synonym für romantische Liebe. Der japanische Begriff ren’ai postuliert zwar die freie Partnerwahl aufgrund der Liebe, jedoch ist er weit entfernt vom romantischen Liebesbegriff. Vielmehr entspricht die japanische Variante der »modernen« Liebessemantik (ren’ai) dem Konzept der moralischen, zivilisatorischen Perfektion einer Person, während sich in der kontinentaleuropäischen Semantik das Moment der Einzigartigkeit des/der Geliebten institutionalisiert hat. Diese verkehrte, spiritualistische Interpretation der modernen Liebe unter japanischen Intellektuellen zeigt sich deutlich am Beispiel der Rezeption von André Gides La porte étroite (1909) im Japan der 1920er Jahre (vgl. Koyano [[小谷野]] 2005: 172 f.). Jérôme – der Held und Erzähler des Romans – liebt seine zwei Jahre ältere Kusine Alissa. Insgeheim erwidert sie seine Liebe, zeigt dies jedoch nicht offen. Weil sie die puritanischen Gebote sehr ernst nehmen und ihrem Bann unterworfen sind, bleibt ihre Beziehung platonisch bzw. spirituell. Jeden Versuch einer körperlichen Annährung versagen sie sich. Zum Schluss stirbt Alissa infolge ihrer Enthaltsamkeit einsam in Paris. Die Übersetzung ins Japanische erfolgte 1923. Gides Kritik am Herrschaftsanspruch des Christentums und der fleischlosen, spirituellen Liebe puritanischer Prägung in der patriarchalen Gesellschaft wurde von zeitgenössischen japanischen Rezipienten nicht gesehen. Gides Text wurde entgegen der Intention des Autors sogar als Lob auf die spirituelle Liebe interpretiert. Völlig übersehen wurde hier die Rehabilitierung der fleischlichen Liebe in Europa seit dem 19. Jahrhundert (vgl. Lautmann 2002: 273). 1935 bezeichnete der japanische Essayist und Literaturkritiker Ishikawa Jun La porte étroite etwa als »einen hochwertigen Liebesroman«. In dieser Fehlinterpretation manifestiert sich eindrucksvoll das Liebesideal der japanischen Bürger in der Oberstadt – die Fehlgeburt der modernen, romantischen Liebe in Japan. Die semantische Trennung des Liebesbegriffs in ren’ai und irokoi im modernen Japanisch ist das Erbe dieses misslungenen Einzugs der modernen Liebe in die japanische Gesellschaft der Meiji-Taishô-Zeit. Die Popularität von Liebesromanen, die insbesondere von jungen Frauen gelesen wurden, lebte auch während des Zweiten Weltkriegs fort. Jedoch hatten mehr als die Hälfte der zu dieser Zeit publizierten Werke ein
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tragisches Ende. 10 Nach dem Scheitern des »letzte[n], großangelegte[n] Versuch[s] der viktorianische Epoche, Sexualität so weit wie möglich zu negieren«, wird dieser heute »nur noch ironisch behandelt« (Luhmann 1982: 203). Diese Beobachtung galt nicht für Japan.11 30 % der Schülerinnen und Schüler weiterführender Schulen gaben noch im Jahr 1955 an, dass in ihrem Umfeld strikt zwischen Liebe (ren’ ai) und Eheschließung (kekkon) getrennt werde. Küssen und Geschlechtsverkehr vor der Eheschließung waren nur 7 bzw. 10 % von ihnen gestattet (Murakami [[村上]] 1974: 156; vgl. auch Caudill 1981).
S EMANTIK DER Z IVILISATION UND O RGANISATIONSGESELLSCHAFT Mit meiner oben genannten These »Fehlgeburt der modernen Liebe in Japan« möchte ich die Entwicklung beschreiben, mit der der zunehmende und intensivierte Kontakt mit den imperialistischen Mächten und die Eingliederung Japans in die Weltgesellschaft trotz der semantischen Errungenschaften der Zeit bis zur Kasei-Epoche die strukturellen Voraussetzungen für »die moderne Liebe« zerstörten, indem sie eine stratifikatorische Beobachtungsperspektive reaktivierten und eine neue, davon profitierende soziale Schicht hervorbrachten. Diese Entwicklung weist gewisse Parallelen zu dem ökonomischen Phänomen auf, mit dem der Weltkapitalismus oft das strukturelle Entwicklungspotenzial zur ökonomischen Modernisierung in einer lokalen Wirtschaft zerstört. Die Entzweiung der Liebessemantik in 10 Minami (南 1953: 299–301) zufolge betrug von Oktober 1946 bis September 1947 die Anzahl der in Zeitschriften publizierten Romane und Novellen 226. Die Gesamtzahl der behandelten Themen bezifferte sich auf 390, da ein Text typischerweise mehrere solcher Themen enthielt. Die Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau wird in insgesamt 112 dieser Texte thematisiert. Dies entspricht einem Anteil von 28,7 Prozent an der Gesamtzahl an Themen. Von diesen Texten endeten 63 mit einem Happy End, 64 mit einem unglücklichen Ausgang und 12 fanden keine Auflösung. 11 Allerdings thematisierten Kimura (木村 2006: 9 ff.) zufolge Frauenzeitschriften seit Ende der 1920er Jahre verstärkt die Sexualität von (Ehe-)Frauen, um einem Auseinanderbrechen des Ehelebens vorzubeugen.
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eine höhere und eine niedere Form der Liebe (ren’ai und iro-koi) wurde durch diesen Strukturwandel bedingt. Ein Durchsetzen der »romantischen Liebe« wäre entsprechend meiner Analyse der Entwicklungstendenz der Liebessemantik in der Zeit bis zur Kasei-Epoche durchaus möglich gewesen. Die parallele Evolution der Liebessemantik in Japan und Westeuropa ist kommunikations- und sozialstrukturellen Ähnlichkeiten geschuldet. Darüber hinaus waren die sozio-ökonomischen Voraussetzungen zur Ausdifferenzierung des Funktionssystems für Intimbeziehungen in Japan vorhanden. Trotzdem zeigt das Liebesideal »ren’ai« seit der späteren MeijiZeit weniger Züge der modernen Liebessemantik als die noch ältere Form der Liebe. Der Grund dafür ist nicht, dass die japanischen Intellektuellen die »moderne Liebe« falsch verstanden hätten – dies wäre eine naive Sichtweise, denn jede Interpretation, ob falsch oder richtig, d. h. jede semantische Variation, kann sich nicht ohne strukturelle Bedingungen durchsetzen. Vielmehr ist der Grund also in dem Umstand zu suchen, dass sich eben jene strukturellen Bedingungen ab der Zeit der Meiji-Restauration durch die Eingliederung Japans in die Weltgesellschaft veränderten – und zwar zu Ungunsten der »romantischen Liebe«. Was lässt sich aus dieser Entdifferenzierung der Kommunikation über Intimbeziehungen auf der Strukturebene darüber hinaus schließen? Diese Frage impliziert auch die Frage, was für eine Gesellschaft Japan in der Meiji-Taishô-Zeit war. Gesellschaftsgeschichtlich ging die »Remoralisierung« der Liebe in Japan mit dem Wiederaufleben der Stratifikation einher. Das bisher Dargelegte widerlegt die These von John Meyer (1980; 2005), der von einer Verbreitung der westlichen Werte durch den Einzug lokaler Gesellschaften in die Weltgesellschaft ausgeht. Vielmehr erschütterte die Eingliederung in die Weltgesellschaft die bis dahin bestehende Struktur der lokalen Gesellschaft und änderte die Beobachtungsperspektive. Die Episode von Iwamoto Yoshiharu und Kitamura Tôkoku zeigt, dass dieser Prozess multikausal, kontingent und aufgrund der Neu- und Missinterpretationen verschiedener Ideengüter sehr produktiv ist und nicht einfach als Aneignung von westlichen Werten verstanden werden kann. Mit der oben dargelegten Remoralisierung der Liebe sind zwei damit verknüpfte Phänomene zu beobachten, die ebenfalls im 19. Jahrhundert auftraten: 1. Zum einen ist hier die zeitlich begrenzte, enge Kopplung eines Funktionssystem an ein anderes während einer nachholenden Modernisierung zu nennen. Wie Rudolf Stichweh am Beispiel des nationalen Rechts-
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systems in Europa, insbesondere im Deutschland des 17. bis 19. Jahrhunderts, erläutert (vgl. Stichweh 1990), beschleunigt oft eine vorübergehende strukturelle Kupplung eines Funktionssystems an ein anderes die spätere funktionale Differenzierung; 2. Zweitens sei hier die sich im 19. Jahrhundert vollziehende Nationalisierung des Funktionssystems genannt. Die Nationalisierung des Wissenschaftssystems trug zur Erweiterung der zu inkludierenden Bevölkerung bei, was später zur Vollinklusion der funktional differenzierten Gesellschaft führte. Diese beiden Phänomene charakterisieren – unter anderem – den Übergang von der stratifizierten zur funktional differenzierten Gesellschaft. Vor diesem Deutungshintergrund lässt sich die Entdifferenzierung der Liebessemantik als die Kupplung des Systems zum Umgang mit Intimbeziehungen an das politische und das Erziehungssystem auslegen, wobei der Schwerpunkt hier auf dem politischen System liegt (vgl. Stichweh 1990b). Hier möchte ich mit einem dritten Aspekt die oben genannte Deutung ergänzen, um skizzenhaft Anschlussmöglichkeiten dieser Arbeit an weitere Forschungsprojekte aufzuzeigen. Neben den oben genannten Phänomenen ist im Japan der Meiji-Taishô-Zeit eine ähnliche Tendenz zur »Entdifferenzierung« wie in den ehemaligen sozialistischen Ländern zu beobachten (vgl. z. B. Koenen 2000: 404, 409; Pollack 1990: 294). Die »Entdifferenzierung« bedeutet die Erweiterung des politischen Systems in solchem Ausmaß, dass dieses die Kontrolle über andere Kommunikationen übernimmt. Niklas Luhmann beschreibt die expansive Tendenz des politischen Systems folgendermaßen: »Die Gefahr der Entdifferenzierung, der Politisierung des gesamten Kommunikationswesens, ist in der gesellschaftlichen Emanzipation und Autonomsetzung des politischen Systems angelegt, ist mithin ein Merkmal des Differenzierungsprozesses selbst. Die ausdifferenzierte politische Ordnung weist Tendenzen zur Unstabilität auf, nämlich durch 1. die Unbestimmtheit dessen, was ein politisch entscheidungsbedürftiges Problem werden kann – die politische Funktion ist keine inhaltlich fest umrissene Sachaufgabe, sondern ihre Thematik hängt davon ab, welche Probleme jeweils politisiert werden, weil keine besseren Lösungen institutionalisiert sind, 2. die Zentralisierung der legitimen Macht zu verbindlichem Entscheiden, 3. die Generalisierung dieser Macht, ihre Verwendbarkeit für viele und auswechselbare Zwecke,
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4. die Abstrahierung einer eigentümlich politischen Rationalität, einer politischen Sondersprache, in die Erwägungen anderer gesellschaftlicher Sphären erst übersetzt werden müssen, um politisches Gewicht zu erhalten, und 5. durch das Fluktuieren der politischen Unterstützung, deren Beweglichkeit durch die Konstruktion einer allgemeinen Wählerrolle – in Abtrennung von sonstigen sozialen Rollen des Wählers – institutionalisiert ist, um die Möglichkeit des Machtwechsels zu erhalten. Das Zusammenwirken dieser Komponenten begründet die Autonomie des politischen Systems und begründet zugleich die Möglichkeit des unerwarteten Ausbrechens aus dem gesellschaftlichen Rahmen. Die Erhaltung der sozialen Differenzierung erfordert daher korrigierende und blockierende Institutionen, die dieser Gefahr entgegenwirken. Die Gewaltentrennung ist eine der bekanntesten; die Trennung von Politik und Verwaltung, die schon Goodnow der Gewaltentrennung vorzog, eine der wirksamsten. Allen voran ist jedoch die Institution der Grundrechte zu nennen, die von der neueren deutschen Verfassungslehre mit Recht in den Mittelpunkt ihrer Staatskonzeption gestellt wird.« (Luhmann 2009: 24; vgl. 23, 197)
Die funktionale Differenzierung wird von der Differenzierung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft (Funktionssysteme) begleitet. Mit der Entdifferenzierung von Funktionssystemen wird die Gesellschaft mit einer großen Organisation gleichgesetzt und die Differenzierung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft verschwindet. Gesellschaft heißt dann »Organisationsgesellschaft«, wenn sie wie Kieserlings Mega-Meta-Organisation zwar aus zahlreichen Einzelorganisationen besteht, jedoch von einem einzigen Subsystem bzw. einer einzigen Institution kontorolliert und totalitär organisiert wird (vgl. Kieserling 2004: 215 f.; Kühl 2010). Rudolf Stichweh beschreibt einen sehr ähnlichen Sachverhalt, den er mit dem Begriff des »Fundamentalismus« belegt: »Fundamentalismus ist nicht traditional, er ist vielmehr ein Versuch, in einer auseinanderstrebenden Gesellschaft, die durch die Vielfalt der Funktionssysteme geprägt ist, Übersichtlichkeit und Ordnung dadurch wiederherzustellen, daß man behauptet, eines der Funktionssysteme sei viel wichtiger als die anderen und folglich sei von diesem einen Funktionssystem die Entwicklung der Gesellschaft zu steuern.« (Stichweh 2009: 184)
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Nach Stichweh kann man neben religiösem Fundamentalismus z. B. von »technokratisch-szientifischem Fundamentalismus« sprechen, wenn man »Strukturentscheidungen, welcher Art auch immer, an die Autorität wissenschaftlichen Beweises und technischer Rationalität geknüpft sehen will und sich daher auch jede externe Beschränkung von Wissenschaft und Technik kaum vorstellen will« (Stichweh 2009: 185), von »politische[m] Fundamentalismus, wenn es für den tugendhaften Bürger eine ethische Obligation gibt, die öffentlichen Angelegenheiten in die eigene Hand zu nehmen und sie lokal auszuhandeln« – einem »politische[n] Fundamentalismus, der Obligationen einmahnt, die in einer funktional differenzierten Gesellschaft nicht nur von der Religion nicht mehr zu beanspruchen sind« (Stichweh 2009: 185) – und schließlich vom ökonomischen Fundamentalismus, wenn »die Pluralität von Gestaltungsabsichten in einem terrirorialstaatlichen System sich ausschließlich durch elementare ökonomische Kennziffern, etwa solche der Geldmengenbeeinflussung«, steuern lässt (Stichweh 2009: 185). Eine solche Ausweitung der moralischen und politischen Kommunikation kann meines Erachtens in Japan mit dem Beginn der MeijiRestauration bis zum Ende des Asiatisch-Pazifischen Krieges beobachtet werden. Der Meiji-Staat legitimierte sich mit dem moralischen und zivilisatorischen Terminus.12 Alle anderen Kommunikationen wurden moralisiert und politisiert.13 Auch die Familie, die gemäß den Vorstellungen der Mo12 Siehe hierzu auch Reitan (2010). 13 Mann/Roller beschreiben das Selbstverständnis des Staats als moralischer Instanz (organischer Nationalismus) als ein Phänomen, das allgemein in Mittelund Osteuropa beobachtet werden kann (Mann/Roller 2007: 97). Ihre Analyse ist auch für die japanische Entwicklung äußerst instruktiv: »Der organische Nationalismus hatte zwei Fehler. Erstens konnte er die Demokratie in einen autoritären Staatsdirigismus überführen. Zweitens begünstigte der Organizismus die Vorstellung, Minderheitengruppen und politischen Gegnern könnten die vollen staatsbürgerlichen Rechte vorenthalten werden. So kamen diese Nationalisten zu ihrem Glauben erstens an einen dauerhaften Nationalcharakter, an eine Seele oder einen Geist, der sie von anderen Nationen unterscheidbar mache; zweitens an ihr Recht auf einen Staat als letztgültige Ausdrucksform all dieser Eigenschaften; und drittens an ihr Recht, von ihnen dominierte Gruppen anderen Charakters, die die Nation nur schwächen würden, auszuschließen.« (Mann/Roller
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derne der Privat- und Intimsphäre zuzuordnen ist, wurde zu jener Zeit politisiert. Diese Tendenz zeigt sich auch in der Analyse repräsentativer Liebesromane und -novellen jener Zeit. Vor diesem Hintergrund könnte man hier im Hinblick auf die Gesellschaftsordnung von »moralischzivilisatorischem Fundamentalismus« sprechen, der sich im Zuge des Nationalismus und Imperialismus in Form einer leidenschaftlichen Zivilisierungsmission zuspitzte (vgl. Conrad 2005). Reinhard (2008) sagt: »Diese spezifisch japanische Form des Nationalismus mit ihren bekannten militaristischen und imperialistischen Konsequenzen ist also trotz ihrer traditionalen Bausteine ein typisches Produkt der Moderne!« (250). Nach dieser Interpretation ist der Keim des totalitaristischen Regimes, das die Bevölkerung in Japan und in den Nachbarregionen in die Katastrophe führte, bereits in der Zivilisationssemantik der Meiji-Aufklärer zu suchen. Die konfuzianische Semantik des Familienstaates kennt keine Differenzierung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft. Durch sie werden Interpretationsmöglichkeiten wie etwa die Behauptung, dass die Modernisierung in Japan bis zum Russisch-Japanischen Krieg erfolgreich verlaufen sei, Japan jedoch in der Folge auf Irrwege geraten sei, von vornherein ausgeschlossen – allerdings bleibt die These des Großjapanischen Kaiserreichs als Organisationsgesellschaft hier nur eine Hypothese, deren Prüfung noch aussteht. Der zunehmende und an Intensität gewinnende Kontakt mit dem Westen und der daraus resultierende gesellschaftliche Wandel rekrutierten verschiedene Begriffe aus dem semantischen Pool der Gesellschaft, um diesen Wandel zu beschreiben. Die Frage nach der Förderung dieses Wandels und seiner Lenkung in eine bestimmte Richtung hängt von der Semantik ab, die die Gesellschaft zur Beschreibung des strukturellen Wandels wählt. Jede revolutionäre Regierung braucht ein Narrativ, um ihre Herrschaft zu legitimieren. Einmal gewählt, filtert dieses Narrativ – zumindest für eine gewisse Zeit –14, welche Formen des Wandels gefördert und welchen Formen
2007: 99–100) In diesem Zusammenhang siehe auch Morikawa 2013, insbesondere Kapitel 2 und 7. 14 Ist es reiner Zufall, dass beide Regime – das Große Kaiserreich Japan (1868– 1945) und die Sowjetunion (1917–1991) – nicht länger als etwa 70 Jahre Bestand hatten? Analysiert man das Große Kaiserreich Japan unter dem Aspekt der Organisationsgesellschaft, so wird man zu dem Schluss kommen, dass dieser
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vorgebeugt werden soll und kann in Gestalt einer Nationalkultur kondensiert werden, die keinerlei Abweichung oder Hinterfragung duldet. Diese Nationalkultur bestimmt das »Programm« jedes einmal ausdifferenzierten Funktionssystems – in einem stark, in einem anderen nicht so stark.15 Womöglich diente die japanische Zivilisationssemantik, die mit der Tyrannei der Tugend, des Fortschrittsglaubens und der Heuchelei ein Ende fand, ähnlich wie der Kommunismus in Russland, der gesellschaftlichen Mobilisierung im Hinblick auf die spätere Industrialisierung und die Weltkriege, jedoch entsprach sie nicht – zumindest nicht in jeder Hinsicht – der einmal erreichten Komplexität der Gesellschaft.
Zusammenbruch unvermeidlich war, da der Versuch, die ganze Gesellschaft vollständig durchzuorganisieren, zum Scheitern verurteilt war. 15 Die jeweilige Ausprägung ist ohne empirische Analyse nicht feststell- bzw. vorhersehbar.
Literaturverzeichnis
Q UELLEN a) Fiktive Literatur vor der Frühen Neuzeit Murasaki shikibu: Genji monogatari (Geschichte des Prinzen Genji), entstanden im 11. Jahrhundert (紫式部「源氏物語」). Unbekannter: Ise Monogatari (Gechichte von Ise), entstanden im 10. Jahrhundert (作者不詳「伊勢物語」). b) Fiktive Literatur in der Frühen Neuzeit Chikamatsu, Monzaemon (1703): »Sonezaki shinjû (Doppelselbstmord aus Liebe in Sonezaki)«, in: Ders. (1998): Chikamatsu Monzaemon shû 2 (= Shinpen nihon koten bungaku zenshû, 75), Tôkyô: Shôgakukan, S. 13-43 (近松門左衛門 [1703] 「曽根崎心中」近松門左衛門 [1998] 『近松門左衛門集 2』[1998] [= 新編日本古典文学全集 75]、小 学館、東京、13-43 頁) Chikamatsu, Monzaemon (1704): »Satsuma uta (Das Lied von Satsuma)«, in: Ders. (1997): Chikamatsu Monzaemon shû 1 (= Shinpen nihon koten bungaku zenshû, 74), Tôkyô: Shôgakukan, S.267-335. (近松門左衛門 [1704]: 「薩摩歌」近松門左衛門 [1997] 『近松門左衛門集 1』 [= 新編日本古典文学全集 74]、小学館、東京、267-335 頁) Chikamatsu, Monzaemon (1707): »Gojûnenki uta nenbutsu (Gebetlieder zu Buddah für die fünzigstjährige Trauerfeier)«, in: Ders. (1997): Chikamatsu Monzaemon shû 1 (= Shinpen nihon koten bungaku zenshû, 74), Tôkyô: Shôgakukan, S.13-59 (近松門左衛門 [1707]: 「五十年忌歌
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S EKUNDÄRLITERATUR
AUF WESTLICHEN
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goto‹ Folge 1])«, in: Teikyô daigaku bungakubu kiyô. Nihon bunka gaku 40, S. 1-44 (棚橋正博 [2009] 「人情本論(12)『明烏後正夢』 六編 (『寝覚繰言』初編)」『帝京大学文学部紀要。日本文化 学 』40、1-44 頁). Tanahashi, Masahiro (2010): »Ninjôbon ron 13. ›Akegarasu nochi no masayume‹ nana hen (›Nezame no kurigoto‹ shohen) (Über ninjôbon, Teil 13. ›Akegarasu nochi no masayume‹ Folge 7 [›Nezame no kurigoto‹ Folge 2])«, in: Teikyô nihon bunka ronshû 17, S. 35-80 (棚橋正 博 [2010] 「人情本論(13)『明烏後正夢』七編(『寝覚繰言』二編) 『帝京日本文化論集』17、35-80 頁). Tanaka, Emiri (2009): »Katei shôsetsu to josei dokusha. ›Jogaku sekai‹ tôkô shôsetsu wo tôshite (Japanese domestic novels in Meiji period and female readers: through the contributed novels in ›Jogaku-Sekai‹)«, in: Bungaku kenkyû ronshû 31, S.281-291 (田中絵美�利 [2009] 「家庭小 説と女性読者−『女学世界』投稿小説を通して」『文学研究論 集』31、281-291 頁). Tanizaki, Jun’ichirô (1968): »Ren’ai oyobi shikijô«, in: Ders. Zenshû (Werke), Bd. 20, Tôkyô: Chûô kôron sha, S. 239-278 (谷崎潤一郎 [1968] 「恋愛及び色情」谷崎潤一郎『全集 20』中央公論社、 東京、239-278 頁); Dt.: Ders (2011): Liebe und Sinnlichkeit, übersetzt v. Eduard Klopfenstein, Zürich: Manesse). Tayama, Katai (1998 [1917]): Tôkyô no sanjûnen (Meine 30 Jahre in Tokio), Tôkyô: Kôdansha (田山花袋 [1998 [1917]] 『東京の三十年』講 談社、東京). Teruoka, Yasutaka (1943): Nihon no shokantai shôsetsu (Briefromanen in Japan), Tôkyô: Echigoya shoten (暉峻康隆 [1943] 『日本の書翰体小 説』越後屋書店、東京). Tominaga, Ken’ichi (1990): Nihon no kindaika to shakai hendô. Tyuubingen kôgi (Modernisierung und Gesellschaftswandel Japans. Vorlesung in Tübingen), Tôkyô: Kôdansha (富永健一 [1990] 『日本の近代化と 社会変動。チュービンゲン講義』講談社、東京). Tominaga, Ken’ichi (1996): Kindaika no riron. Kindaika ni okeru seiyô to toyô (Theorie der Modernisierung. Okzident und Orient in der Modernisierung), Tôkyô: Kôdansha (富永健一 [1996] 『近代化の理論。近 代化における西洋と東洋』講談社、東京). Torigoe, Bunzô/ Uchiyama, Mikiko/ Watanabe, Tamotsu (Hg.) (1998): Chikamatsu no jidai (Chikamatsus Epoche) (= Iwanami kôza Kabuki,
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33), Tôkyô: Iwanami shoten (吉川幸次郎・清水茂校注 [1971]『日本 思想体系 33 伊藤仁斎・伊藤東涯』岩波書店、東京).
Sachregister
Abstammung Abstammungsprinzip 34, 52, 78, 80f., 89, 105, 174 Adel 35, 56, 64, 88, 100, 104f., 107f., 172, 214 Akteur 32, 44, 51, 90, 93, 101, 120, 159 Alphabetisierung 56, 70 Allianzdispositiv 81 ancien régime 64 Anthropologie 44, 46, 197, 203, 215 Anwesenheit 34, 67, 94 Aristokratie siehe Adel. attachment theory 45 Ausdauer siehe Dauerhaftigkeit. Ausdifferenzierung 34, 37, 44, 46f., 52, 58, 83, 90, 104, 119f., 123, 149, 159, 209, 215, 220 Autonomie 57, 126, 222 Autopoiesis 35
Autorität 40, 45, 56, 66, 74f., 78, 100, 113, 124, 126, 223 Begehren -, sexuelle 43, 45, 165f., 215 Bericht (Gattung) 147f. Bevölkerung 40f., 43, 5962, 66f., 70, 78, 89, 119, 131, 162, 178, 197, 201, 204, 208, 213, 221, 224 Bochumer Modell, Bochumer Schule 51-54 Buchdruck 39-41, 65, 209 Bücher 40, 54, 63-66, 6872, 74-76, 163, 169, 171 buke shohatto (武家諸法度) 57 Bürger (chônin) 52f., 55f., 60-62, 78, 80f., 96f., 104, 107f., 122, 127f., 132, 134, 137, 158f., 162, 169, 171, 178, 182-184, 197f., 200202, 209, 211, 214, 216, 218, 223
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chôhôki (重宝記; Gattung) 67 chônin siehe Bürger Code 34, 42, 44, 46f., 49, 54, 87-89, 91, 96, 108, 119, 121-123, 126, 135, 146, 164, 197, 199f., 208, 215f. daimyô (大名) siehe Feudalfürsten Dandy 101, 108, 167 Dauerhaftigkeit 49, 88, 133, 145, 147, 164 Differenz 34f., 43f., 48f., 101, 106, 122, 132, 147, 149f., 213 Leitdifferenz 35, 127, 132, 145-147, 168, 172, 179, 211 Rangdifferenz 35 Differenzierung Differenzierungsform 33-35, 52, 78, 96, 174, 212 Differenzierungsprinzip 34 Differenzierung von Interaktion und Funktionssystemen 44, 89, 100, 132, 222, 224 Doppelkontingenz, doppelte Kontingenz 27, 83, 90f., 98f., 101-103, 106, 119f. Drucktechnik 40f., 64, 163, 209
Dyadizität 50 Einzigartigkeit 47-49, 95, 101, 204f., 218 Edo-Zeit (江戸時代) 41, 5459, 61-63, 66, 68, 70, 7375, 78f., 82, 87, 90, 96, 107f., 130, 142, 163f., 177f., 204, 211,213, 215 Ego/Alter 44, 94f., 98f., 215 Egoismus/Alterismus 44, 104, 200, 214, 215 Ehe 50, 79-81, 84, 115f., 118, 120, 123-125, 133f., 139, 144f., 158, 164, 166, 183-185, 187f., 190-192, 194f., 201f., 204, 209, 216219 Elternschaft 49f. Emergenz 27, 89f., 92, 98, 100, 119, 132 Emotion, Gefühl 42, 45f., 48-50, 52, 80, 91, 112, 116f., 120, 123, 127-129, 136f., 165f., 170-172, 185f., 195, 198, 200, 204, 212 en (縁) 132f., 146, 202 Endogamie 35 England 62, 131, 188, 216f. ensho (艶書; Gattung) 107f. Entdifferenzierung 175, 213, 220-222 Epos (Gattung) 52f., 149 Erleben und Handeln 38 Erwartungsstruktur 36
S ACHREGISTER
Evolution Ideenevolution 31, 36-39, 68 -, soziokulturelle 2532, 36f., 207-211 Variation, Selektion, Stabilisierung 26-28, 3638, 44, 220 Exzess 47, 119, 123, 164 Familie 33-35, 37, 52, 62f., 77f., 81, 90, 100, 108, 114, 125f., 137, 144f., 149, 174f., 177, 185, 187f., 191194, 199f., 201, 204, 212f., 223 Familienrecht 172 Familienreform 172-177 Feudalfürsten 57-59, 75, 78, 80, 96, 100 Fiktion 38f., 81, 129, 147f., 174, 198f. fin de siècle 101, 168 Form 28-33, 35-37, 39f., 42, 44, 78, 81, 85, 122, 208, 215, 217 frame analysis 32 Fremdreferenz/Selbstreferenz 46f., 50, 149, 159f., 185, 214 Frühe Neuzeit 52, 55-58, 61, 63f., 68, 71, 73, 76f., 89, 109, 114, 127, 149, 163, 174, 207-209 Fundamentalismus 222-224 Gedächtnis
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-, kulturelles 38, 117, 210 Gefallen 91, 98, 102, 105f. gekokujô (下克上; »Die Unteren besiegen die Oberen«) 210 Genroku-Epoche (元禄時代) 61f., 64, 89, 107-128, 132, 199, 209 Genroku-Kultur (元禄文 化 ) 62 Geschlechtermoral -, viktorianische 216 Geschmackselite 105f. Geselligkeit 79, 83, 89, 104, 108, 113, 125f. Gesellschaft 25, 27f., 33-38, 41-46, 55-58, 63, 70f., 78f., 83, 87-90, 92, 99-101, 103105, 108, 110, 112f., 119, 124, 126, 132, 135f., 159, 169-171, 173-175, 190, 204, 207f., 212-214, 216218, 220-225 Gesellschaftsdifferenzierung 33-37, 39, 42-51, 104, 185 siehe Sozialdifferenzierung Gesellschaftstheorie 28 Gewissheit 44, 134 Gewohnheit 44, 107, 109, 135, 143, 174 gut/böse 170, 174, 212, 214 Happy End 126, 144f., 150, 157-159, 162, 196-198, 219 han (藩) 57, 60 hari (張り) 198
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Heian (平安) 119 Hetero- und Hypergamie 150, 158, 197 Hierarchie 127, 203 -, moralische 170, 184, 198, 212 -, soziale 170, 212 Hofaristokratie 56, 64 siehe auch Adel hommes-copies 101 honnête homme, honnêteté 91, 93, 102, 104-106 I, me 95 Ich-Sucht (amour propre) 102, 106 Ideal 39, 46, 47, 56, 88, 105, 108, 113, 159, 164, 170, 172, 179, 193 ie-System (家) 201 siehe auch Familie iki, sui (粋) 85, 89-106, 108, 113, 125, 132, 200 bitai (媚態, Koketterie) 97-99, 102f., 106, 125, 137 ikuji (意気地, Selbstbewusstheit) 97, 99f., 113 akirame (諦め, Resignation) 97, 102 Individuum 34f., 40, 42, 46, 48f., 98, 103, 105, 113 Individualisierung 41, 43f., 204, 208 Individualität 34, 35, 42f., 48f., 52, 101, 103, 113, 213
Individualitätsformel 51-54, 100 Individualitätssemantik 90, 100f., 213 Industrialisierung 106, 161, 185, 197, 211, 225 Informationswert 40, 83 Inklusion/Exklusion 3436, 42f., 59, 78f., 80, 104, 112f., 127, 135, 198, 213, 221 Intellektuellen 54, 71-73, 164, 168f, 171f., 175-179, 182, 184f., 213-215, 217f., 220 Yamanote- 163, 197 Interaktion 28, 34, 44, 83, 89-92, 94, 99-101, 104106, 108f., 132, 138, 207, 222, 224 Interaktionssemantik 85, 89-106, 213 interessant/langweilig 54 siehe auch Langweilen Interesse 28, 41-44, 85, 103, 105, 199 Interpenetration 48 intersubjektiv 29, 31 Intimbeziehung, Intimität 35, 43f., 46f., 84, 88, 98, 121, 125f., 134, 164, 166f., 199, 208f., 215, 217, 220f. jin (仁) 170 jôhin (上品) 101 kabuki-Semantik 99
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Kamakura-Zeit (鎌倉時代) 107 Kamigata (上方) 61 kanazôshi (仮名草子; Gattung) 66f. Kan’ei (寛永) 64 Kasei-Epoche (化政時代) 61f., 98, 106, 129-160, 209, 219f. katei shôsetsu (家庭小説; Gattung) 186-205 kibyôshi (黄表紙; Gattung) 69, 73, 75, 149 kirishitan ban (キリシタン版) 64 Klassik -, französische 105 kojôruri (古浄瑠璃; Gattung) 66 Kommerzialisierung 58, 65, 68, 89, 130-132, 208 Komplexität 27, 36, 38, 42, 225 Komödie 105, 214 Kommunikation 25, 28-32, 34-38, 40, 42-44, 51, 56, 65, 67-69-71, 74, 79f., 94, 120, 130-132, 141, 207, 208, 210f., 213, 220f., 223 -, intime 44, 107, 119, 121, 123 -, polyfunktionale 214 Kommunikationsmedien 39, 41 -, symbolisch generalisierte 42, 45f., 119, 136 siehe auch Medien
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Konfuzianismus 56, 68, 127, 162, 169f., 172, 198, 203f., 212 kôshoku mono (好色物; Gattung) 67, 75 kouta (小唄; Gattung) 178 Kritiker 71, 184, 218 kuge (公家) siehe Hofsristokratie Kultur 25, 27f., 30, 32f., 37, 45, 49, 71, 89, 98, 104, 168, 210, 214 Kultur als Werte- und Normensystem 27f., 45 Nationalkultur 27, 168, 211, 225 Oberstadtkultur (YamanoteKultur; 山の手文化) 162, 168, 197 Samurai-Kultur 162 Unterstadtkultur (Shitamachi-Kultur; 下町文化) 99, 162, 168, 177f., 197, 211 Kunst 29, 32, 51, 54, 71, 73, 85, 89, 91, 95, 97, 104, 106, 125, 171, 176, 193 Kunstsystem 54 Kunstwerk 30f., 39, 41, 53 Kurtisanen 60, 77, 79-85, 90, 100, 108-111, 113, 117, 120-122, 124, 135f., 140, 142, 145, 147f., 158, 182, 190, 192, 213
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Kyôto (京都) 57, 59-61, 64f., 76f., 81f., 84, 107, 111, 114, 163, 170 Landesöffnung 87, 161, 211, 216 Langweilen 51, 54, 93, 187 Leihbuchhändler 68-71, 76, 122, 131, 159 Lebenswelt 27, 33, 80 Lesefähigkeit siehe Alphabetisierung Lesegesellschaft 40, 67 Lesegewohnheit 64, 129, 164, 178 -, extensive 41, 67, 87, 131 Leser 32, 40f., 51-53, 68-71, 91, 123, 129-132, 134f., 137, 143, 157, 159, 162f., 186 Lesestoff 40, 131, 179, 198 Liebe 35, 42-52, 63, 80, 87, 89f., 92f., 98, 102f., 107109, 111-113, 116, 119121, 123-125, 127, 129, 132-137, 143-146, 159161, 163-168, 172-177, 179, 182, 184-195, 198200, 202-204, 207-209, 211-217, 219, 221 ai (愛) 119, 163-168, 179-181, 183-185, 197200, 202-204, 218-220 amour passion 47f., 107, 119, 127, 136, 217
Liebesbeweis 45-47, 89, 119, 122, 145, 164, 204 Liebescode 44, 49, 87f., 119, 122f., 126, 135 -, ewige 48, 116, 118 -, freie 79, 204, 218 iro (色) 93, 119, 163167, 180f., 183f., 189, 197, 200, 203f., 218, 220 -, hohe und sinnliche 50, 164-165, 167, 184f., 213, 215, 218, 220 -, romantische 45, 4751, 214, 216-218, 220 Zweifel an der Liebe 45, 119, 122 -, partnerschaftliche 50 romantic love, companion love 45, 48f. Codierung der Liebe Idealisierung 46, 88, 213 Paradoxierung 46f., 112f., 146, 199 Selbstreferenz 46f., 50, 159f., 185, 214 Vernunft/Liebe 44, 136, 146 plaisir/amour 122, 125, 146 vergängliche Welt/ dauerhafte Liebe 145-147 Lieben 45-47, 50f., 181, 213 Liebesheirat 147, 184, 202 Literaturgeschichte 51f., 87f., 107, 129, 149, 186
S ACHREGISTER
London 62f. Macht 31, 40f., 45, 56, 62f., 87f., 108, 113, 126, 135, 137, 161, 164, 209, 219, 221 Medien 25, 29-32, 39-42, 46, 63f., 68, 74, 82f., 131f., 158-160, 207 Erfolgsmedien 63 Repräsentationsmedien 30-32, 39, 82, 119, 122, 125 Schriftmedien 40, 82 Unterhaltungsmedien 54 Verbreitungsmedien 33, 39f., 122, 131, 186, 210 Medientechnik 39, 207f. Meiji-Restauration (明治維新) 65, 161, 163, 168, 172, 187, 211, 220, 223 Meiji-Zeit (明治時代) 53f., 130, 160, 162f., 168, 171f., 175, 177f., 184, 200, 203f., 213, 216, 220 Mensch 51-53 Mode 41, 73, 81, 132, 198 Modell zur Integration von Liebe, Ehe und Sexualität 216 Modernisierungstheorie 207 Modernismus 179 mono no hon (物の本; Gattung) 68
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Moral 44, 123, 169, 173f., 176, 181, 186, 204, 212215 -, feudale 137, 203 Moralisierung 198, 204, 212f., 220 Motiv 44, 52, 77, 123 Münzhoheit 57 musume jôruri (娘浄瑠璃; Gattung) 135 Nationalstaat 33, 59, 161, 211 Neugierde 41, 53, 131, 209 Neuheit 40, 94, 209 ninjôbon (人情本; Gattung) 129-160, 164, 177-179, 186, 197f., 215 Oberstadt 96f., 162, 168, 178, 183f., 197f., 202, 212, 218 siehe auch Oberstadtkultur Ônin no ran (応仁の乱) 75 ôrai mono (往来物; Gattung) 67 Ordnung, soziale 27, 33f., 63 Organisation 175, 222, 224 Ôsaka (大阪) 58-61, 65, 67, 70, 77f., 82, 114, 117f., 145, 163 Paria 56, 78f. Paris 63, 70, 104, 218 passion 45, 47f., 107, 119, 123, 127, 136, 147, 164,
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169, 182, 185, 199, 204, 217 patria potestas 79 Patriarchat 175 Person 35, 43f., 46, 48, 50, 52f., 56f., 62, 78, 88, 9294, 97, 100f., 113, 120, 141, 144, 147, 150, 167, 202, 204, 208, 218 persönlich/unpersönlich 43 phänomenologisch 26, 91, 106 Pluralität 28, 98, 223 Praxis 29, 31, 36, 81f., 119, 122, 158, 173 Präferenzcode 119, 123 Programm 45f., 49, 178, 225 Publikum 38-41, 65, 68f., 71, 75f., 116, 122f, 129, 131f., 137, 144, 159, 208f. Rang 35, 46f., 56, 62f., 78, 81f., 84f., 87, 92, 100, 104, 108f., 112f., 119, 122, 137, 184, 192 Realität 31f., 38, 43, 53, 55, 119, 129, 147-149, 170, 208 Reduktion 28, 119 Reflexion 30, 48, 107, 109, 119, 131f., 158,164, 208 - der Gesellschaft 71, 77, 107, 119 Reflexivität 43, 87, 119, 122, 215 - des Liebens 45, 50f., 213, 215
-, soziale 48, 138 Remoralisierung siehe Moralisierung Repräsentation 29-32, 39, 78, 82, 119, 125, 160, 217 Restgesellschaft 79, 90, 99, 103, 126 rôjû (老中) 74 Rolle, soziale 51, 53, 92, 98f., 101, 147, 150 Roman (Gattung) 46, 50-54, 71, 87, 108f., 127, 130, 132-134, 136f., 144, 145, 147f., 150, 157, 159f., 164, 179, 186f., 197f., 199f., 201, 214, 218f. Liebesroman, Romanzen 51, 114, 130f., 136, 144, 160, 162, 177, 179, 186, 196-199, 208, 215, 218, 224 Romantik 47, 50, 180, 217 ryôsai kenbo (良妻賢母; gute Ehefrau und weise Mutter) 177, 198 Samurai (Krieger) 55f., 6064, 70, 75, 78, 80f., 96f., 100, 105, 108, 112f., 127, 137, 158f., 162, 189, 197, 201, 211 santo (三都; drei Großstädte, drei Metropole) 59, 163 Satire 73, 75 Schicht 35, 56, 61f., 105f., 108, 122, 130, 159, 162,
S ACHREGISTER
197, 200, 202, 211, 216, 219 Oberschicht 33, 35, 37, 40, 56, 66, 87f., 101, 104, 112, 130, 159, 175, 179, 201f., 209f., 216 Schicksal 126, 133, 140, 144, 146f., 149, 199 Segmentation 36, 42f., 89 sekkyô seibon (説教正本; Gattung) 66 Selbst 49, 95, 102, Selbstreflexion 48 Semantik 25, 28-32, 35-39, 42, 45, 49, 51, 55, 80, 83, 85, 89-91, 94f., 97-103, 105f., 122f., 132, 158, 170, 172, 174f., 185, 207-209, 212-214, 218, 224f. Humansemantik 47f. Liebessemantik 42f., 46-8, 50, 63, 87, 89, 112f., 119f., 125, 127, 129, 132, 137, 141, 144146, 159, 161, 163f., 168, 172, 177, 183-185, 197, 199f., 203, 205, 207-209, 213, 216, 218-221 Sengoku-Zeit (戦国時代) 58, 75, 99, 210 sewamono (世話物; Genre) 116 Sexualität 44, 47-50, 80, 89, 107-109, 119, 125f., 128, 135, 148, 165, 167, 181, 184, 215-217, 219
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shinjû (心中; Doppelselbstmord) 116-118, 126 shinjû mono (心中物; Genre) 116 shisho gokyô (四書五経) 66, 169f. Shôgunat 57f., 60f., 66, 7476, 89, 96-117, 149, 210 Sinn 25-29, 34, 38f., 42 Sinnlichkeit/Vernunft 44, 215 Sittlichkeit 105, 132, 173 sôshi (草紙; Gattung) 68 Sozialdifferenzierung -, segmentäre 33-35, 37, 42, 57, 59, 67, 76, 78, 120, 174, 211 Zentrum/Peripherie 33f., 61, 78, 96, 103, 170, 172, 212 -, stratifikatorische, 33, 35, 42, 47, 51, 127, 174, 185, 213, 216 -, funktionale 33, 3537, 42-44, 48, 51f., 77, 104, 136, 168, 175, 208f., 213, 216, 221f. Sozialstruktur 25, 37, 55f., 207, 217, 220 soziale Herkunft 104, 108, 150, 158, 197 soziale Mobilität 81, 150, 158 Spannung 52-54, 93f., 9799, 102, 136f., 147-150, 210
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Stände 35, 55-59, 61f., 7880, 87, 104f., 109, 125, 158, 210 Ständegesellschaft 55, 123, 127 Stratifikation 33, 35f., 42f., 47, 78, 89, 103, 105, 204, 212, 216, 220 Stratifikationsprinzip 81, 101 Subjekt 41, 44, 47, 48, 50, 52, 98, 102, 106, 147 Subjektivität 103 Symbol 29-32, 34f., 38, 47, 78, 133, 146, 199, 204, 210, 213, 215 System Bedeutungssystem, Sinnsystem 33, 38 Funktionssystem 3437, 42-44, 52, 80, 89, 207, 213, 220-222, 225 -, psychisches 32, 44f., 92, 100, 123, 150, 164 -, soziales 32, 44-46, 92, 100, 123, 164 Teilsystem 33-37, 42, 52, 57, 67, 78, 89, 108, 112f., 146, 199 Tenmei (天明) 59, 69 Text -, literarische 40f. Theater Kabuki-(歌舞伎) 69, 82, 99, 160, 178
Jôruri-(浄瑠璃) 69, 82, 116, 178 Tokugawa-Clan (徳川家) 57f., 60f., 75, 96, 210 Tôkyô (東京) 142, 162f., 187f., 193f., 211f. Tradition 37, 75, 84, 87, 107, 148, 183, 185, 212 Traditionalismus 179 Tragödie 116, 123, 126, 148, 199, 201, 214 tsû (通) 91 Tsû-jin (通人) 108 Tugend 46f., 67, 88, 104, 162, 170, 173, 176, 178, 185, 188, 198, 212, 215, 217, 223, 225 ukiyo (浮世) 132-134, 146, 210 ukiyo zôshi (浮世草子; Gattung) 67, 83 Umwelt 26f., 31, 34, 36, 123, 142, 174 Universalität 45, 48 Unterhaltung 40, 53, 54, 60, 64, 69, 73, 92f., 105, 130, 135f., 147f., 159 Unterhaltungsliteratur 40, 66-69, 71-73, 130, 132, 144, 159f., 178, 214 Unterschied, sozialer 143f., 187 Unterstadt 96, 162, 179, 182, 197f., 212f., 216 siehe auch Unterstadtkultur
S ACHREGISTER
Vergesellschaftung -, kulturelle 77, 79 Vergnügungsviertel 60, 7780, 82-84, 89-92, 98-100, 102f., 105, 107, 109, 113f., 120f., 125f., 129, 132, 135, 148, 159f., 177, 179, 187, 190, 200, 208 Shimabara (島原) 77, 79, 83 Shinmachi (新町) 77, 83 Verhaltensmuster 95, 98 Verlagsgewerbe 64 Verweisungsverhältnisse, Verweisungszusammenhang 26-28, 32, 38f. Volk -, gemeines 35, 56, 171 Vormoderne 207 waka (和歌; Fünfzeiler; Genre) 88, 110 Welt 26-29, 31, 47f., 95, 102f., 112f., 123f., 133f., 145-147, 160, 179, 182, 208, 210 Wert 27f., 30-32, 40f., 43, 47, 54, 88, 181, 184, 220 Westen der - 106, 135f., 161163, 209-210, 212, 224 Wirklichkeit 29f., 32, 39, 82, 103, 160, 193 Wissen -, gesellschaftliches 29, 67
| 309
Wissensproduktion 163, 209, 211, 213 Wissensdistribution 209, 211 Wollust 163f., 180 Yoshiwara (吉原) 60, 73, 77, 83f., 91, 100, 135-137, 192 siehe auch Vergnügungsviertel Zeitstruktur 145, 148 Zensur 40, 74-76, 149 Zivilisation, Zivilisierung 34, 48, 168-172, 199, 204, 210-213, 224f. bunmei kaika (文明開化) 168, 171 bunmei/ yaban (文明-野蛮) 168-172, 174, 179, 197, 200, 212, 216 Zivilisationsbegriff 169-172, 212 Zivilisierungsmission 170f., 175, 178, 212, 214, 224 Zufall, zufällig 49, 109, 118, 121, 123, 138f., 142-146, 185, 187, 195, 199, 217, 224 Zweckrationalismus 105
Personenregister
Akagawa, Manabu (赤川学) 167, 184f. Albrecht, Clemens 104f., 125 Aoki, Michio (青木美�智男) 80, 129 Araki, James 97 Arnason, Johann P. 57, 210 Asao, Naohiro (朝尾直弘) 55 Assmann, Aleida 30, 38, 40 Assmann, Jan 30 Bachmann, Ulrich 47, 50 Baudelaire, Charles 101 Bellah, Robert N. 207 Benjamin, Walter 41 Berg, Henk De 49, 54 Berger, Peter 33 Berlemann, Dominic 51 Blanckenburg, Friedrich von 52f. Boehm, Gottfried 31 Bohn, Cornelia 30, 52, 67, 93, 105f., 209 Borscheid, Peter 47 Bourdieu, Pierre 162
Braisted, William Reynolds 173, 175-177 Braun, Manuel 122f. Breckner, Roswitha 32 Brownstein, Michael Clifford 180-182, 184 Buyô, Inshi (武陽隠士) 58, 62f., 77, 79-82, 130, 135, 159f., 173, 178 Carpenter, John T. 129 Cassirer, Ernst 29-31 Caudill, William 219 Chambers, Robert & William 169 Chaplin, Elizabeth 31 Chikamatsu, Monzaemon (近松 門左衛門) 75, 82, 114, 116f., 119, 122f., 126f., 132, 136, 147f., 164, 208 Chinpunkan, Shujin (陳奮館主 人) 79, 85, 135f. Collins, Randall 210 Coontz, Stephanie 49 Crawcour, E. Sydney 58
312 | L IEBESSEMANTIK UND S OZIALSTRUKTUR
Date, Tsunamune (伊達綱宗) 81 Davis, Julie Nelson 73 Descartes, René 106 Dore, Ronald Philip 41, 67, 70 Duerr, Hans Peter 48 Durkheim, Emil 27 Eisenstadt, Shmuel N. 56, 64, 174, 207, 210 Elias, Norbert 48, 168 Esposito, Elena 95 Fauve-Chamoux, Antoinette 174 Fischer, Edward F. 45f. Fischer, Joachim 50 Foucault, Michel 81 Fuchs, Peter 123 Fujii, Hidetada (藤井淑禎) 166 Fujii, Jôji (藤井譲治) 57 Futabatei, Shimei (二葉亭四迷) 188, 194 Fukuzawa, Yukichi (福澤諭吉) 168f. Fûrai, Sanjin(風来山人) siehe Hiraga, Gen’nai Giddens, Anthony 39f., 47, 50 Gide, André 218 Goffman, Erving 32, 39 Gross, Neil 39, 50 Hall, John Whitney 58, 61
Hall, Stuart 32 Hanley, Susan B. 58f. Harootunian, Harry 106 Hattori, Bushô (服部撫松) 188 Hausen, Karin 178 Hayami, Akira (速水融) 58 Hayashi, Shihei (林子平) 72 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 185 Heimerdinger, Timo 67 Hida, Yoshifumi (飛田良文) 131 Higuchi, Ichiyô (樋口一葉) 190 Hiraga, Gen’nai (平賀源内) 70, 72 Hiratsuka, Raichô (平塚らいて う) 184 Höfer, Anette 93, 102, 104106, 125 Honjo, Eijiro 65 Hôseidô, Kisanji (朋�誠堂喜三 二 ) 73 Ibi, Takashi (揖斐高) 72, 79 Ihara, Saikaku (井原西鶴) 78, 81-83, 100, 107, 109, 111, 113, 116, 119-127, 132, 147f., 164, 208 Inoue, Teruko (井上輝子) 179, 184, 200 Iser, Wolfgang 32 Ishii, Ryôsuke (石井良助) 77-81, 84f., 97 Ishizaka, Mina (石坂美�奈) 182f.
P ERSONENREGISTER
Itô, Jinsai (伊藤仁斎) 127f. Itô, Sachio (伊藤左千夫) 193 Itô, Sei (伊藤整) 204 Iwamoto, Yoshiharu (巌本善治) 177-179, 184, 197f., 214, 217, 220 Izumi, Kyôka (泉鏡花) 192194, 202f. Jankowiak, William R. 45f. Juppensha, Ikku (十返舎一九) 68, 74 Kaibara, Ekken (貝原益軒) 72, 160, 178 Kanro, Junki (甘露純規) 64 Kant, Immanuel 185 Katô, Takeo (加藤武雄) 186 Keene, Donald 66, 117 Keppler, Angela 30 Kern, Adam L. 69 Kieserling, André 222 Kikuchi, Yûhô (菊池幽芳) 186 Kimura, Ryôko (木村涼子) 219 Kinoshita, Hiromichi (木下博 道 ) 201 Kischka-Wellhäusser, Nadja 108, 172, 175, 177f. Kitagawa, Utamaro (喜多川歌 麿) 74 Kitamura, Tôkoku (北村透谷) 177, 179-184, 198, 202204, 216f., 220
| 313
Kitô, Hiroshi (鬼頭宏) 59 Klaproth, Heinrich Julius 72 Kluckhohn, Paul 47, 180 Kobayashi, Junji (小林准士) 68, 108 Koenen, Gerd 221 Koikawa, Harumachi (恋川春 町 ) 73f. Konishi, Sho 130 Konta, Yôzô (今田洋三) 64f., 67f., 72-74, 76 Kornicki, Peter Francis 64, 68, 72-74, 76, 131 Koselleck, Reinhart 28, 42 Kosugi, Tengai (小杉天外) 192 Koyama, Shizuko (小山静子) 177 Koyano, Atsushi (小谷野敦) 186, 218 Kühl, Stefan 222 Kuki, Shûzô (九鬼周�造) 9193, 96-103, 106, 198 Kunikida, Doppo (国木田独歩) 183, 215 Kurata, Hyakuzô (倉田百三) 184 Kuriyagawa, Hakuson (厨川白 村) 184 Kyokusanjin (曲山人) 133 Lauper, Cyndi 94f., 101 Lautmann, Rüdiger 50, 218 Lenz, Karl 32, 49f., 214 Liu, Jee Loo 204 Luhmann, Niklas 25-29, 3140, 42-44, 46-53, 57, 84,
314 | L IEBESSEMANTIK UND S OZIALSTRUKTUR
89f., 95, 98, 105, 109, 122, 125-127, 132, 135, 146, 148, 160, 185, 199, 202, 204, 207-209, 213, 215217, 219, 221f. Maeno, Ryôtaku (前野良沢) 72 Mahlmann, Regina 47 Mai, Manfred 32, 39 Mathy, Francis 182, 204 Matsuo, Bashô (松尾芭蕉) 89f. Matsuura, Seizan (松浦静山) 82 May, Ekkehard 41, 66f., 71, 73, 83, 87, 107f., 208f. Mead, Georg Herbert 95 Meech, Julia 129 Messerli, Alfred 67 Metschnikow, Ilja 130 Metschnikow, Leo 130 Meyer, John W. 220 Minami, Hiroshi (南博) 219 Minami, Kazuo (南和男) 55, 60 Mitamura, Engyo (三田村鳶魚) 81, 84, 135 Miyamoto, Yukiko (宮本由紀 子 ) 78 Mizuno, Minoru (水野稔) 149 Molière 105, 214 Mori, Arinori (森有礼) 172176 Mori, Ôgai (森鴎外) 53, 188-190 Mori, Shige (森志げ) 195
Morikawa, Takemitsu (森川剛 光) 27f., 30f., 34, 56, 91, 148, 162, 168, 171, 175, 217, 224 Morishima, Chûryô (森嶋中良) 72 Moriya, Katsuhisa 64, 79 Morris-Suzuki, Tessa 72 Morton, Leith 179, 182, 184, 202, 204 Müller, Klaus 58, 60, 62 Münker, Stefan 30 Murakami, Nobuhiko (村上信 彦) 198, 219 Murasaki Shikibu (紫式部) 87f. Muta, Kazue (牟田和恵) 172, 177, 185 Naba, Kassho (那波活所) 128 Nagai, Kafû (永井荷風) 98, 204 Nagamine, Shigetoshi (永嶺重 敏) 162f. Nagano, Hiroko (長野ひろ子) 79 Nagatomo, Chiyoji (長友千代 治 ) 64f., 67-71, 78, 108 Nakagawa, Jun’an (中川淳庵) 72 Nakai, Nobuhiko (中井信彦) 55, 60 Nakamura, Masanao (中村正直) 176, 178
P ERSONENREGISTER
Nakamura, Yukihiko (中村幸 彦 ) 72, 129, 131 Nakano, Mitsutoshi (中野三敏) 75, 91, 98, 144 Natsume, Sôseki (夏目漱石) 195, 214 Nijô, Yoshimoto (二条良基) 107 Niki, Hiroshi (仁木宏) 60 Nishiyama, Matsunosuke (西山 松之助) 55, 68, 72, 75f., 89, 99 Noguchi, Takehiko 204 Ochiai, Emiko 174 Oda, Mitsuo (小田光雄) 162f. Odanoda, Naotake (小田野直 武 ) 72 Ogata, Kôrin (尾形光琳) 79 Ogawa, Takeo (小川剛生) 107 Oguri, Fuyô (小栗風葉) 193 Okazaki, Yoshie (岡崎義恵) 186 Ono, Takeo (小野武雄) 79, 81, 84f. Osterhammel, Jürgen 34, 170f., 175 Ôta, Nanpo (大田南畝; auch als Shoku, Sanjin [蜀山人]) 74 Ôtsuka, Kusuoko (大塚 楠緒子) 194f. Ozaki, Kôyô (尾崎紅葉) 189, 191
| 315
Parsons, Talcott 27 Passin, Herbert 70 Perrot, Michelle 175 Plumpe, Gerhard 34, 45, 51, 54, 88, 214 Pollack, Detlef 221 Prokop, Dieter 25 Raab, Jürgen 32 Radway, Janice A. 137, 144, 160 Ramming, Martin 63 Reinhard, Wolfgang 224 Reitan, Richard M. 214, 223 Rickert, Heinrich 28 Roesler, Alexander 30 Rozman, Gilbert 59f., 62f. Rüttermann, Markus 59 Ryang, Sonia 167 Ryûtei, Tanehiko (柳亭種彦) 68 Saeki, Junko (佐伯順子) 165, 179, 186 Sakai, Naoki 72 Santô, Kyôden (山東京伝) 69f., 74, 79 Saße, Günter 217 Schad-Seifert, Annette 168f. Schamoni, Wolfgang 93, 130, 178f., 198 Schlegel, Friedrich 47, 54 Schmidt, Johannes F. K. 44 Schmidt, Siegfried Josef 49 Schütz, Alfred 33
316 | L IEBESSEMANTIK UND S OZIALSTRUKTUR
Schwentker, Wolfgang 56, 60, 63, 78, 96 Seidensticker, Edward 96 Seki, Tamiko (関民子) 79, 116, 122 Sekiyama, Naotarô (関山直太 郎 ) 60 Sennett, Richard 101, 171, 182 Senuma, Shigeki (瀬沼茂樹) 183 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Graf 41 Shimizu, Shigeru (清水茂) 128 Shirane, Haruo 97 Shôji, Jinnai 77 Siedler, Reinhard 175 Smiles, Samuel 169 Smith, Henry D., II. 64f., 70, 74 Solon, Simmons 39 Sôden, Tadakishi (艸田寸木子) 67 Spencer, Herbert 171 Stendhal 160 Stein, Michael 77, 79 Stichweh, Rudolf 28, 39, 80, 220-223 Stone, Lawrence 131 Sugita, Genpaku (杉田玄白) 72 Sugiyama, Shinya (杉山伸也) 57-61 Suharaya, Ichibei (須原屋市兵 衛) 72
Suwa, Haruo (諏訪春雄) 64, 68, 70, 72, 74, 129 Suzuki, Harunobu (鈴木春信) 73 Suzuki, Masahiko (鈴木正彦) 107f. Suzuki, Toshio (鈴木敏夫) 64, 68 Takamure, Itsue (高群逸枝) 79 Takayama, Chogyû (高山樗牛) 184 Takehisa, Yumeji (竹久夢二) 198 Takeuchi, Makoto (竹内誠) 60 Takeuchi, Yô (竹内洋) 162 Takeuchi, Yoshimi (竹内好) 54 Tamai, Tomo (玉井朋�) 186 Tamenaga, Shunsui (為永春水) 129, 134, 136, 138-140, 142-144, 146, 159, 198, 208 Tanahashi, Masahiro (棚橋正博) 134 Tayama, Katai (田山花袋) 130 Tenbruck, Friedrich H. 27, 79 Terakado, Seiken (寺門静軒) 70, 77 Teruoka, Yasutaka (暉岡康隆) 77, 82-85, 107, 109, 148 Tokugawa, Ieyasu (徳川家康) 58
P ERSONENREGISTER
Tokugawa, Tsunayoshi (徳川綱 吉) 74 Tokugawa, Yoshinobu (徳川慶 喜) 161 Tokutomi, Roka (徳冨蘆花) 191f., 201 Tominaga, Ken’ichi (富永健一) 64 Tanizaki, Jun’ichirô (谷崎潤一 郎) 165, 167 Torigoe, Bunzô (鳥越文蔵) 82, 119, 147 Tôshûsai, Sharaku (東洲斎写楽) 74 Toyotomi, Hideyoshi (豊臣秀 吉 ) 58, 64 Tsubouchi, Shôyô (坪内逍遙) 53, 186f. Tsuchida, Kyôson (土田杏村) 184 Tsuji, Zen’nosuke (辻善之助) 72 Tsujibashi, Saburô (辻橋三郎) 203 Tsujimura, Akira (辻村明) 166 Tsukihara, Toshio G. 78 Tsutaya, Jûzaburô (蔦屋重三 郎) 73f. Turnbull, Stephan 64 Tyrell, Hartmann 47, 50, 123, 144
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Udaka, Yasushi (宇高寧) 184 Uemura, Masahisa (植村正久) 182f. Ujiie, Mikito (氏家幹人) 79 Watanabe, Hiroshi 128, 168, 170 Weber, Max 31, 170, 198, 210 Weckel, Ulrike 178 Werber, Niels 34, 45, 51-54, 88, 93, 130, 214 Winter, Rainer 32, 39 Yamamura, Kôzô 58f., 63 Yamauchi, Kiko 183 Yanabu, Akira (柳父章) 163, 179 Yasukuni, Ryôichi (安国良一) 58, 60, Yosano, Akiko (与謝野晶子) 184 Yosano, Buson (与謝野蕪村) 79 Yoshida, Aya (吉田文) 179 Yoshida, Nobuyuki (吉田伸之) 55, 78 Yoshikawa, Kôjirô (吉川幸次 郎 ) 72, 127 Zöllner, Reinhard 55, 210
Kulturen der Gesellschaft Joachim Fischer, Dierk Spreen Soziologie der Weltraumfahrt November 2014, 208 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2775-6
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