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German Pages 402 Year 2015
Susanne Hauser, Julia Weber (Hg.) Architektur in transdisziplinärer Perspektive
Architekturen | Band 23
Susanne Hauser, Julia Weber (Hg.)
Architektur in transdisziplinärer Perspektive Von Philosophie bis Tanz. Aktuelle Zugänge und Positionen
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Inhalt
»Windows on Architecture«. Zur Einführung Susanne Hauser und Julia Weber | 7
A RCHITEKTURTHEORIE UND - GESCHICHTE Glas 1930–1970 Laurent Stalder | 19
Geschichte der Architektur der Geschichte. Überlegungen zur Historisierung einer Disziplin Christian Freigang | 43
P HILOSOPHIE Zur Phänomenologie des architektonischen Raumes Bernhard Waldenfels | 73
Einen Anfang bauen. Aufgaben der Architekturphilosophie Ludger Schwarte | 97
L ITERATUR - UND F ILMWISSENSCHAFT Architektur als Argument der Literaturwissenschaft. Der Fall Kafka Gerhard Neumann | 125
Der Blick von/nach außen. Das Fenster im Film Malte Hagener | 153
M EDIENWISSENSCHAFT Übertragung und Speicherung. Architektonische Beiträge zur Medientheorie der Wand Daniel Gethmann | 179
Elektrifizierte Schwellen. Zur Kulturtechnik der Klingel Florian Sprenger | 195
A NTHROPOLOGIE Raumordnung und Körperordnung. Zum historischen Verhältnis von Architektur und Anthropologie Kirsten Wagner | 223
Architektur als Medium des Sozialen. Der Blick der Soziologie Heike Delitz | 257
M USIK -, T HEATER - UND T ANZWISSENSCHAFT Hausmusik Susanne Fontaine | 285
Architektur-Theater. Wissensräume des Theaters bei Joseph Furttenbach (1591–1667) Jan Lazardzig | 313
Die Architektonik der Bewegung. Raum, Körper und Wahrnehmung im Tanz Sabine Huschka | 345
D ISKUSSION Space and Architecture in the Artistic Process Panel Discussion with Ute Meta Bauer, Marjetica Potrč, and Sasha Waltz, Moderated by Lukas Feireiss | 381
Autorinnen und Autoren | 399
»Windows on Architecture« Zur Einführung Susanne Hauser und Julia Weber
Im Unterschied zu den USA, wo dem Austausch zwischen den Cultural Studies und der Architektur ein bedeutender Stellenwert eingeräumt wird, hat die Diskussion der kulturellen und politischen Relevanz von Architektur aus kulturwissenschaftlicher Perspektive in Deutschland noch keine institutionelle Form gefunden. Ein Grund hierfür mag darin liegen, dass Architektur im deutschen Sprachraum nicht an denjenigen Universitäten gelehrt wird, an denen die meisten Kulturwissenschaften etabliert sind, sondern an Technischen Hochschulen, an technisch orientierten Fachhochschulen und (seltener) an Kunsthochschulen. Diese institutionelle Verortung der Architektur hat einerseits die Schwerpunktsetzung auf bautechnische Fragestellungen befördert; andererseits hat sie – nicht zuletzt wegen der eigentümlichen Stellung der Architektur zwischen Kunst und Technik, zwischen ästhetischem Anspruch und alltäglicher Nützlichkeit – dazu geführt, dass die Reflexion von Architektur im deutschen Sprachraum weitgehend getrennt von geistes- und sozialwissenschaftlichen Diskussionszusammenhängen erfolgt. Dies beginnt sich derzeit zu ändern. Im Anschluss an den sogenannten spatial turn – eine Konjunktur von Ansätzen, die räumliche Strukturierungen als Grundlagen des Denkens thematisieren und die Bedeutung von Raumkonstruktionen für Sinnkonstruktionen reflektieren – werden gegenwärtig kulturwissenschaftliche Ansätze vertreten, die sich explizit mit Architektur auseinandersetzen.1 Architektur, so der Tenor dieser For1 | Vgl. die Nachweise in den Aufsätzen dieses Bandes. Zu Schnittstellen von Architektur und Kulturwissenschaften vgl. auch Hauser, Susanne/Kamleithner,
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schungen, strukturiert als visuelles und kinästhetisches Medium nicht nur Raum-, sondern auch Wissensordnungen und Wahrnehmungsweisen und entfaltet in verschiedenen historischen Kontexten unterschiedliche »diskurs- und vorstellungsprägende Wirkungen«.2 Wie jedoch lassen sich diese genauer beschreiben und wissenschaftlich erforschen? Welche Ansätze bieten sich aus der Perspektive so verschiedener Disziplinen wie der Philosophie, der Anthropologie, der Medien-, Film-, Literatur-, Tanz- oder Theaterwissenschaften und wie können diese Ansätze für eine transdisziplinäre Reflexion von Architektur in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten fruchtbar gemacht werden? Verbindungen zwischen Architektur und Kulturwissenschaften bestehen natürlich nicht erst seit heute. Die geisteswissenschaftlich geprägte Auseinandersetzung mit Architektur, besonders mit einzelnen herausragenden Bauten, steht seit dem 19. Jahrhundert im Zentrum einer kunsthistorisch orientierten Architekturgeschichte, zu der in den 1970er Jahren sozialwissenschaftliche Ansätze und erste Entwürfe einer Architekturtheorie hinzutraten – unterstützt von einer Architekturkritik, die sich, ähnlich wie die Kunst- oder Literaturkritik, in einem institutionellen Zwischenreich zwischen akademischem Diskurs und journalistischer Arbeit entfaltet. Ein relativ neues Phänomen ist jedoch das Interesse an Architektur auch in denjenigen Kulturwissenschaften, die sich bis vor wenigen Jahren nicht dezidiert mit Architektur auseinandergesetzt haben. Auf jeweils unterschiedliche Weise haben diese Architektur als einen Gegenstand entdeckt, der im Rahmen von Untersuchungen zu Materialität und materieller Kultur,3 Christa/Meyer, Roland (Hg.): Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften. Bd. 1: Zur Ästhetik des sozialen Raumes. Bd. 2: Zur Logistik des sozialen Raumes, Bielefeld: transcript 2011, 2013. 2 | Schöttker, Detlev: »Architektur als Literatur. Zu Geschichte und Theorie eines ästhetischen Dispositivs«, in: Urs Meyer/Roberto Simanowski/Christoph Zeller (Hg.), Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren, Göttingen: Wallstein 2006, S. 131-151, hier S. 150. Zur vorstellungsprägenden Kraft der Architektur in der Literatur vgl. Weber, Julia: »›Im Hohlraum‹ – Kafka als Architekt«, in: Julia Weber/Dorit Müller (Hg.), Die Räume der Literatur. Exemplarische Zugänge zu Kafkas Erzählung »Der Bau«, Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 83-105. 3 | Vgl. u.a. Rolshofen, Johanna/Omahna, Manfred (Hg.): Reziproke Räume. Texte zu Kulturanthropologie und Architektur, Marburg: Jonas Verlag 2013, und
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zu Infrastrukturen,4 als Medium betrachtet 5 oder mit Blick auf Entwurfsund Konstruktionsprozesse6 neue Aufschlüsse geben kann. Die diskursiv geprägten Kulturwissenschaften erkennen die Besonderheiten von Architektur als einer gestaltenden Disziplin an und machen sie für eigene Fragestellungen produktiv. Denn die auf einen Entwurf gerichtete Praxis und Lehre der Architektur stellt nicht Erkenntnis und Wissen, nicht Wahrheit und Wiederholbarkeit ins Zentrum, sondern bemüht sich um die Konzentration und Synthese genau des Wissens, das gebraucht wird, um ein spezifisches Ergebnis zu erreichen. Im architektonischen Entwurf werden immer schon unterschiedlichste Wissensbereiche zusammengeführt und verdichtet, um konkrete zeitliche und räumliche Bedingungen für unterschiedliche gesellschaftliche Vorgänge und Abläufe zu schaffen. Deren jeweilige Bedeutung und Auswirkungen wiederum können oftmals erst aus der Perspektive fachfremder Disziplinen bestimmt werden. Anliegen des vorliegenden Bandes ist es, den Blick auf die Vielfalt der bestehenden Diskurse über Architektur zu lenken und einige daran anknüpfende Fragen zu stellen: An welchen Punkten weckt die Architektur Stakemeyer, Kerstin/Witzgall, Susanne (Hg.): Macht des Materials – Politik der Materialität, Berlin: Diaphanes 2014. Zum Zusammenhang von Materialität, Architektur und Subjektivierung vgl. Pisani, Salvatore/Oy-Marra, Elisabeth (Hg.): Ein Haus wie ich. Die gebaute Autobiographie in der Moderne, Bielefeld: transcript 2014. 4 | Vgl. u.a. Schabacher, Gabriele/Neubert, Christoph (Hg.): Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft. Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien, Bielefeld: transcript 2013; Bredella, Nathalie/Dähne, Chris (Hg.): Infrastrukturen des Urbanen: Soundscapes, Landscapes, Netscapes, Bielefeld: transcript 2013; Gethmann, Daniel/Sprenger, Florian: Die Enden des Kabels. Kleine Mediengeschichte der Übertragung, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2014. 5 | Vgl. u.a. Schäffner, Wolfgang: »Elemente architektonischer Medien«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (2010), H. 1, S. 137-150; Siegert, Bernhard: »Türen. Zur Materialität des Symbolischen«, ebd., S. 151-170; Kamleithner, Christa/Meyer, Roland/Weber, Julia (Red.): ZfM – Zeitschrift für Medienwissenschaft 12 (2015), H. 1: Schwerpunkt »Medien/Architekturen«. 6 | Vgl. u.a. Gethmann, Daniel/Hauser, Susanne (Hg.): Kulturtechnik Entwerfen. Praktiken, Konzepte und Medien in Architektur und Design Science, Bielefeld: transcript 2009, und Ammon, Sabine/Froschauer, Eva Maria (Hg.): Wissenschaft Entwerfen. Vom forschenden Entwerfen zur Entwurfsforschung der Architektur, München: Fink 2013.
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das Interesse einer nicht auf Architektur spezialisierten Disziplin? Welche Möglichkeiten der Erschließung bietet die Thematisierung und Reflexion der Architektur aus der Sicht anderer Fachrichtungen? Wie findet die jeweilige Bezugnahme auf Architektur statt und wie wird sie in die einzelnen Disziplinen integriert? Welche architektonischen Themen werden wie verhandelt? Und inwiefern sind diese Bezugnahmen geeignet, den Diskurs der Architektur in Bezug auf das, was gebaut oder immerhin entworfen werden kann, zu bereichern? Die Beiträge dieses Bandes geben auf diese Fragen exemplarische Antworten. Sie stammen aus der Philosophie, der Anthropologie und Soziologie, aus den Medien-, Film-, Literatur-, Musik-, Tanz- und Theaterwissenschaften und werden durch architekturtheoretische und architekturgeschichtliche Positionen ergänzt.
E INE KURZE A NMERKUNG ZUR TR ANSDISZIPLINARITÄT Die Vorstellung, dass spezialisierte Disziplinen miteinander kommunizieren und kooperieren sollten, durchzieht als Bedürfnis und Frage die metadisziplinären Diskussionen des gesamten 20. Jahrhunderts. Vorschläge zu neuen Verbindungen reichen von Versuchen in den ersten Jahrzehnten, gemeinsame Grundlagen wie etwa eine gemeinsame Wissenschaftssprache zu entwickeln, über die seit den 1970er Jahren erhobenen Forderungen nach »Interdisziplinarität« bis hin zu aktuellen Bemühungen um »Transdisziplinarität«. Während interdisziplinäre Ansätze vornehmlich darauf ausgerichtet sind, disziplinäre Erkenntnisgrenzen zu überwinden und mit der Ausbildung von Spezialisierungen entstandene Wissenslücken zu füllen, um so die Fähigkeit der Wissenschaft(en) zur Wahrnehmung aktueller und komplexer Problemlagen zu stärken,7 verfolgen Projekte, die sich einer transdisziplinären Herangehensweise verschreiben, einen anders motivierten Ansatz: Hier geht es darum, unterschiedliche Zugänge auf einen gemeinsamen Gegenstand auszurichten, der disziplinäre Grenzen von vornherein in Frage stellt. Der Gegenstand beziehungsweise das Problem selbst verlangen in diesem Fall die Bezug7 | Vgl. Feichtinger, Johannes/Mitterbauer, Helga/Scherke, Katharina: »Interdisziplinarität – Transdisziplinarität. Zu Theorie und Praxis in den Geistes- und Sozialwissenschaften«, in: Newsletter Moderne 7 (2004), H. 2, S. 11-16, hier S. 12.
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nahme auf eine Vielfalt von Theorien und Methoden, die nicht aus einer Disziplin allein stammen können. Die Bearbeitung von in transdisziplinärer Perspektive gestellten Fragen hat somit das Potenzial, zumindest für ein spezifisches Projekt oder Problem die »ursprüngliche Einheit der Wissenschaft«, verstanden als »Einheit der Rationalität, nicht der wissenschaftlichen Systeme«,8 wieder herzustellen und möglicherweise auch zur langfristigen Transformation der beteiligten Disziplinen beizutragen. Die Kulturwissenschaften haben, seit sie sich als solche verstehen, eine transdisziplinäre Ebene der Verständigung entwickelt und eine umfassende Transformation erfahren. Die fortgesetzte Erweiterung der disziplinären Themenspektren in den letzten dreißig Jahren, die gemeinsame Bindung an diskursive Methoden und Äußerungsformen wie auch der Rekurs auf geteilte Konzepte haben vermehrte Kooperationen zur Folge gehabt bis hin zum Entwurf einer »Kulturwissenschaft«. Dieser Prozess kann als Folge des Zweifels an hergebrachten Kanonisierungen von Gegenständen und lange unhinterfragten Norm- und Grenzsetzungen verstanden werden, deren Kritik schließlich zur Vergewisserung über gemeinsame Problemstellungen und zur Entwicklung übergreifender, transdisziplinärer Perspektiven führte. Die Betonung von Transdisziplinarität ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn sie die Kompetenzen der Einzeldisziplinen nicht nivelliert. Die nach wie vor stark differenzierten Geistes- und Sozialwissenschaften zeichnen sich nicht nur durch unterschiedliche Gegenstände und Materialien aus, sondern auch durch charakteristische Fragestellungen und methodische Zugangsweisen, die zu jeweils spezifischen Ergebnissen führen. Es sind diese den einzelnen Disziplinen je eigenen Fragestellungen und Methoden, die in transdisziplinären Erkenntnisprozessen produktive Funktionen entfalten und in der Differenziertheit ihrer Zugänge zum explizierbaren und diskursfähigen Wissen beitragen können. Nach der Phase intensiver transdisziplinärer Bemühungen um die Jahrtausendwende haben sich die einzelnen Kulturwissenschaften wie8 | Ebd., zitiert nach Mittelstraß, Jürgen: »Die Stunde der Interdisziplinarität?«, in: Jürgen Kocka (Hg.), Interdisziplinarität. Praxis – Herausforderung – Ideologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 152-158, hier S. 156. Vgl. zu Potenzialen und Grenzen der Transdisziplinarität als »Forschungs- und Wissenschaftsprinzip« auch Ders.: Transdisziplinarität – wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit, Konstanz: Universitätsverlag 2003.
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der vermehrt auf die an ihren jeweiligen Gegenständen fachspezifisch ausgebildeten Kompetenzen konzentriert. Diese kontinuierliche Reflexion und weitere Ausdifferenzierung der Einzeldisziplinen kann als sinnvolle Reaktion auf die zeitweise erfolgte Relativierung der einzelnen Kompetenzen angesichts der Vorstellung einer umfassenden Kulturwissenschaft verstanden werden. Insofern wird derzeit an der Bestimmung und zugleich an der Untersuchung der disziplinären Grenzen gearbeitet – häufig unter Einbeziehung übergreifender kulturwissenschaftlicher Perspektiven in die einzelnen Disziplinen. Je deutlicher die Konturen einzelner Disziplinen bestimmt sind, umso interessanter ist die Versammlung ihrer Perspektiven auf einen Gegenstand, der sich erst in der Vielfalt verschiedener fachlicher Zugriffe in seinem Aspektreichtum zeigt. In diesem Sinne geht es uns hier um die Versammlung unterschiedlicher Perspektiven auf »Architektur« und um die Vorstellung der heterogenen Vorgehensweisen, Haltungen und Denkstile, die an diesen Gegenstand herangetragen werden. Unser Ziel ist es, eine transdisziplinäre Perspektive auf Architektur zu eröffnen, indem wir ein Feld umreißen, das die verschiedenen Ebenen, auf denen Architektur thematisch werden kann, auffächert und miteinander in Beziehung setzt. Im Zentrum steht dabei nicht ein spezifisches architektonisches Problem oder eine konkrete Fragestellung, sondern die Vernetzung von Themen und Fragestellungen, die durch die Zusammenführung verschiedener Herangehensweisen unterschiedlicher Disziplinen erst hervortritt.
Z U DEN B EITR ÄGEN Der Architekturbegriff, von dem wir ausgehen, ist bewusst weit gefasst. Das in den Beiträgen jeweils artikulierte Interesse kann sich auf den architektonischen Entwurf, einen konkreten – imaginierten oder physisch erlebten – Bau, auf die Bedeutung und Funktion einzelner Bauelemente oder auch auf Rezeptionsweisen gebauter Strukturen beziehen. Die einzelnen Aufsätze des Bandes sind exemplarische Studien aus den Einzelwissenschaften; sie gehen aus spezialisierten Forschungsinteressen hervor, die im Zentrum des jeweiligen fachlichen Diskurses stehen. Jeder einzelne Beitrag verweist also zunächst auf die Disziplin, aus der er stammt, und schon insofern sind die Bilder der Architektur, die in den Texten erzeugt werden, heterogen: Es sind jeweils deutlich disziplinär
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bestimmte Blicke, die nicht nur Aussagen zur Architektur enthalten, sondern auch die jeweilige Disziplin charakterisieren und in ihren Erkenntnisinteressen profilieren. Die Fülle verschiedener Perspektiven auf die Architektur entsteht erst durch die Versammlung der Beiträge, in deren Vielgestaltigkeit sich aber auch wiederkehrende Fragestellungen abzeichnen. Die im Inhaltsverzeichnis betonte Trennung der einzelnen Disziplinen ist daher ebenso orientierend wie irreführend. Orientierend ist sie insofern, als die fachlichen Perspektiven explizit benannt werden, irreführend, weil sie gemeinsame Thematiken zugunsten der fachlichen Perspektivierung unterschlägt. Denn in der Lektüre zeigt sich schnell, dass die einzelnen Texte in vielfältiger Weise und auf mehreren Ebenen miteinander verbunden sind. So sind beispielsweise Fragen nach den Möglichkeiten der Erschließung von Räumen aus literatur- und filmwissenschaftlicher Sicht ebenso wie aus architekturtheoretischer und medienwissenschaftlicher Perspektive von Interesse. Während sich die medienwissenschaftlichen Beiträge zum vorliegenden Band auf Schwellen und Grenzen konzentrieren, die durch Klingeln und Mauern konstituiert werden, geraten in den literatur- und filmwissenschaftlichen Beiträgen Fenster und Türen als Mauerdurchbrüche in den Blick. Aus anthropologischer, tanzwissenschaftlicher und phänomenologischer Perspektive stellen sich vor allem Fragen nach den gebauten und dargestellten architektonischen Körpern im Kontext von Körper- und Leibkonzepten, die Menschen und Dinge einbeziehen. Gegenstand der musik-, medien- und theaterwissenschaftlichen Überlegungen sind soziale Ereignisse und Formen der Kommunikation, die nach ihren Verbindungen mit dem gebauten Raum befragt werden. Und nicht zuletzt wird besonders in den phänomenologischen, architekturhistorischen und -theoretischen wie auch theaterwissenschaftlichen Beiträgen die Frage nach der Verbindung von Architektur, Wissen, Erkennen und Erfahren gestellt. Gelegentlich geht es bei der Erörterung von Architektur auch um das Ganze einer Disziplin: so bei der Kritik der Architekturgeschichte durch eine Metageschichte ihrer Konzepte, bei dem Versuch, Gegenstände und Themen, die sich in verschiedenen Disziplinen spezialistisch ausgebildet haben, in eine »Philosophie der Architektur« zu überführen, oder bei dem Entwurf einer Typologie, die Bauten als Grundlage der Charakterisierung von Gesellschaften sieht und in den Entwurf eines sozialwissenschaftlichen Tableaus mündet.
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Am Endes des Buches findet eine Ausweitung über den wissenschaftlich geprägten Diskurs hinaus statt, die eine der möglichen und ohnehin virulenten Tendenzen der Entwicklung von »Wissen« und von Diskursen über das Wissen manifestiert: Eine Architektin, eine Choreographin und eine Kuratorin loten die Rolle aus, die die Architektur – hier verstanden als gebaute Umgebung, in der sie agieren und die sie auf unterschiedliche Weise (mit) herstellen – für ihre Arbeit spielt. Dieser künstlerischen und kuratorischen Herangehensweise, die an der Veränderung künstlerischer und alltäglicher Praxis, an der Wahrnehmung und der Erfindung neuer Räume arbeitet, kommt heute, »transdisziplinär« gedacht, eine wesentliche Funktion bei der Orientierung über die Aufgaben der Architektur und einer möglichen kulturwissenschaftlichen Architekturforschung zu. Die meisten Beiträge zu diesem Band basieren auf Vorträgen, die im Sommersemester 2013 im Rahmen der Ringvorlesung »Windows on Architecture. Erkundungen in transdisziplinärer Perspektive«9 an der Freien Universität Berlin gehalten wurden. Die gemeinsam von der Emmy Noether-Gruppe »Bauformen der Imagination. Literatur und Architektur in der Moderne« und dem Lehrstuhl Kunst- und Kulturgeschichte im Studiengang Architektur der Universität der Künste Berlin konzipierte Ringvorlesung entspricht einer vielfach gewählten akademischen Form öffentlicher Präsentation. Sie hat den unbestreitbaren Vorteil, jede Woche einem interessierten Publikum einen neuen Aspekt des übergeordneten Themas vorstellen zu können, und den Nachteil, dass die Vortragenden nur in den seltensten Fällen die Gelegenheit haben, einander zuzuhören. Nicht zuletzt aufgrund der interessierten Nachfrage des transcriptVerlages haben wir uns daher entschieden, die Beiträge in einer gemeinsamen Publikation zusammenzuführen und fehlende Positionen zu ergänzen. Glücklicherweise konnten wir weitere Kolleginnen und Kollegen überzeugen, einen Aufsatz beizusteuern, und so gelang es, zumindest einige der disziplinären Lücken zu schließen. Dass nun, im Nachhinein, Texte und AutorInnen in einen transdisziplinären Dialog treten, könnte eines der Ergebnisse dieses Buches sein. Die Ausblicke aus unterschiedlichen Disziplinen auf Architektur, die die hier versammelten »Windows on Architecture« erlauben, wurden in 9 | Die Metapher der »Windows« ist in Anlehnung an den Titel einer perspektivenreichen Konferenz gewählt, die der Stadtplanungshistoriker Friedhelm Fischer im Frühjahr 2013 an der Universität Kassel veranstaltet hat.
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der Hoffnung zusammengestellt, nicht nur zur Reflexion der Architektur, sondern auch zur Reflexion der sie thematisierenden Wissenschaften beizutragen. Die Publikation richtet sich an all diejenigen, die sich ein Bild von den unterschiedlichen Rollen von Architektur in sozial- und geisteswissenschaftlichen Kontexten und Diskursen verschaffen möchten. Unser Ziel ist es, aktuelle Perspektiven und Fragestellungen aus den Kulturwissenschaften einer architekturinteressierten Leserschaft nahezubringen und dadurch eine transdisziplinär geführte Diskussion von Architektur zu befördern. Indem die Texte die Perspektiven auf Architektur vervielfältigen, laden sie zu einer weitergehenden Theoriebildung ein. Wir danken allen Autorinnen und Autoren herzlich für ihr Engagement. Zu danken haben wir auch den studentischen Hilfskräften Rina Schmeller und Josta van Bockxmeer (FU) für das umsichtige Lektorat der Texte und die kompetente Betreuung und Koordination in allen Arbeitsphasen. Um den sorgfältigen Satz der Beiträge haben sich Muriel Merkel, Sophie Fetten und Julian Meisen (UdK) gekümmert. Die Durchsicht und Erstellung der Endfassung des Gesamtlayouts erfolgte durch Julian Meisen und Rina Schmeller. Ihnen gebührt ein kleiner Orden.
L ITER ATUR Ammon, Sabine/Froschauer, Eva Maria (Hg.): Wissenschaft Entwerfen. Vom forschenden Entwerfen zur Entwurfsforschung der Architektur, München: Fink 2013. Bredella, Nathalie/Dähne, Chris (Hg.): Infrastrukturen des Urbanen: Soundscapes, Landscapes, Netscapes, Bielefeld: transcript 2013. Feichtinger, Johannes/Mitterbauer, Helga/Scherke, Katharina: »Interdisziplinarität – Transdisziplinarität. Zu Theorie und Praxis in den Geistes- und Sozialwissenschaften«, in: Newsletter Moderne 7 (2004), H. 2, S. 11-16. Gethmann, Daniel/Sprenger, Florian: Die Enden des Kabels. Kleine Mediengeschichte der Übertragung, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2014. Gethmann, Daniel/Hauser, Susanne (Hg.): Kulturtechnik Entwerfen. Praktiken, Konzepte und Medien in Architektur und Design Science, Bielefeld: transcript 2009.
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Susanne Hauser und Julia Weber
Hauser, Susanne/Kamleithner, Christa/Meyer, Roland (Hg.): Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften. Bd. 1: Zur Ästhetik des sozialen Raumes. Bd. 2: Zur Logistik des sozialen Raumes, Bielefeld: transcript 2011, 2013. Kamleithner, Christa/Meyer, Roland/Weber, Julia (Red.): ZfM – Zeitschrift für Medienwissenschaft 12 (2015), H. 1: Schwerpunkt »Medien/ Architekturen«. Mittelstraß, Jürgen: »Die Stunde der Interdisziplinarität?«, in: Jürgen Kocka (Hg.), Interdisziplinarität. Praxis – Herausforderung – Ideologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 152-158. — Transdisziplinarität – wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit, Konstanz: Universitätsverlag 2003. Pisani, Salvatore/Oy-Marra, Elisabeth (Hg.): Ein Haus wie ich. Die gebaute Autobiographie in der Moderne, Bielefeld: transcript 2014. Rolshofen, Johanna/Omahna, Manfred (Hg.): Reziproke Räume. Texte zu Kulturanthropologie und Architektur, Marburg: Jonas Verlag 2013. Schabacher, Gabriele/Neubert, Christoph (Hg.): Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft. Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien, Bielefeld: transcript 2013. Schäffner, Wolfgang: »Elemente architektonischer Medien«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (2010), H. 1, S. 137-150. Schöttker, Detlev: »Architektur als Literatur. Zu Geschichte und Theorie eines ästhetischen Dispositivs«, in: Urs Meyer/Roberto Simanowski/ Christoph Zeller (Hg.), Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren, Göttingen: Wallstein 2006, S. 131-151. Siegert, Bernhard: »Türen. Zur Materialität des Symbolischen«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (2010), H. 1, S. 151-170. Stakemeyer, Kerstin/Witzgall, Susanne (Hg.): Macht des Materials – Politik der Materialität, Berlin: Diaphanes 2014. Weber, Julia: »›Im Hohlraum‹ – Kafka als Architekt«, in: Julia Weber/ Dorit Müller (Hg.), Die Räume der Literatur. Exemplarische Zugänge zu Kaf kas Erzählung »Der Bau«, Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 83105.
Architekturtheorie und -geschichte
Glas 1930–1970 Laurent Stalder
Die architektonische Moderne hat in der Transparenz eines ihrer mächtigsten Bilder gefunden. Im Glas hat sie deren Materialisierung erkannt. Diese Überlagerung von materieller und metaphorischer Transparenz durchzieht die Architekturgeschichte von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute, von der Rezeption des Kristallpalasts über die der heroischen Glashäuser der Moderne, der Bürobauten der Nachkriegszeit bis hin zu den jüngsten Museumsbauten. Im 19. und im frühen 20. Jahrhundert wird beim Versuch, die Eigenschaften des Glases zu beschreiben, noch in der Begrifflichkeit gezögert. In der Glasarchitektur sieht man vorerst die Dimension des »fürs Auge Unsichtbaren«,1 Wände und Decken, die abwesend zu sein scheinen, »wesenlose« Schranken,2 die sich zwischen Innen und Außen stellen. Dadurch scheint die »raumabschließende Bedeutung« der Architektur verloren zu gehen,3 die sich nur noch als »glasbedecktes Vacuum« gibt,4 »feste Gestalt« gewordene Luft zu sein scheint,5
1 | Anonym [Gottfried Semper]: »A Foreign Architects View on the Building«, in: The Edinburgh Review 94 (1851), H. 192, S. 576. 2 | Lucae, Richard: »Ueber die Macht des Raumes in der Baukunst«, in: Zeitschrift für Bauwesen 19 (1869), S. 294-306, hier S. 303. 3 | Meyer, Alfred Gotthold: Eisenbauten. Ihre Geschichte und Ästhetik, Esslingen: Paul Neff Verlag 1907, S. 66. 4 | Semper, Gottfried: Wissenschaft, Industrie & Kunst. Vorschläge zur Anregung nationalen Kunstgefühles bei dem Schlusse der Londoner Industrie-Ausstellung, Braunschweig: Vieweg & Sohn 1852, S. 71, Fn. 5 | R. Lucae: »Ueber die Macht des Raumes in der Baukunst«, S. 303.
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oder nur noch einen schattenlosen »Hellraum« definiert.6 Erst Sigfried Giedion entdeckt, als er in Bauen in Frankreich die Auflösung der Wand als Ziel der Geschichte diagnostiziert, in den »ewig offenen« Häusern von Le Corbusier eine »schwebende Transparenz«, die er in den Bildern der Kubisten gesehen hatte.7 Einige Jahre später wird er in der Konstruktion der Gebäudeecke des Bauhauses eine »weitgehende Transparenz« feststellen.8 Damit ist ein Begriff gesetzt, der Beachtung findet: bei den Künstlern und Kunsterziehern Gyorgy Kepes und László Moholy-Nagy, aber auch dem seltener erwähnten Gestaltpsychologen Wilhelm Fuchs, der seit den 1910er Jahren über das Phänomen der Transparenz arbeitet, und schließlich bei den amerikanischen Architekturtheoretikern Colin Rowe und Robert Slutzky. In der Unterscheidung zwischen »literaler« und »phänomenaler« Transparenz erhält der Begriff hier seine umfassendste und einflussreichste Formulierung: Die »literale« Transparenz beschreibe eine Eigenschaft des Materials, wie sie in der transparenten Glasecke des Bauhauses zum Ausdruck komme, die »phänomenale« Transparenz eine Form der räumlichen Staffelung, wie sie etwa im Werk Le Corbusiers lesbar sei.9 Dieses Verständnis der Transparenz entfaltet bis heute seine Wirkung in der Geschichtsschreibung: Für literale Transparenz stehen etwa die vollverglasten Bauten von Sanaa, für phänomenale Transparenz die Steinfassaden von Hans Kollhoff.10 Die beiden Haltungen zum Umgang mit Materialien könnten auf den ersten Blick widersprüchlicher nicht 6 | A. G. Meyer: Eisenbauten, S. 66. 7 | Giedion, Sigfried: Bauen in Frankreich. Eisen, Eisenbeton, Leipzig: Klinkhardt & Biermann 1928, S. 85. 8 | Giedion, Sigfried: Space, Time and Architecture: The Growth of a New Tradition, Cambridge: Harvard University Press 1941, S. 489. In der deutschen Ausgabe von 1965 spricht Giedion an gleicher Stelle von »kristallartiger Transparenz«: Ders.: Raum, Zeit, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition, Ravensburg: Maier 1965, S. 311. 9 | Vgl. Rowe, Colin/Slutzky, Robert: »Transparency: Literal and Phenomenal«, in: Perspecta 8 (1963), S. 45-54; 13/14 (1971), S. 287-301. 10 | Vgl. Neumeyer, Fritz: »Mit dem Kopf durch die Wand. Annäherung an das Unwort Fassade«, in: Hans Kollhoff [Berlin, Galerie Max Hetzler, 13. Mai – 1. Juli 1995], Berlin: Ernst & Sohn 1995, S. 6-17, sowie Colomina, Beatriz: »Unclear Vision: Architecture of Surveillance«, in: Michael Bell/Jeannie Kim (Hg.), Engineered
Glas 1930–1970
erscheinen, doch beiden ist gemeinsam, dass sie die Architektur nicht über ihre Materialität beschreiben, als zwei- oder dreifach verglaste, gekrümmte Scheiben oder als vorgehängte Steinfassade, sondern lediglich im Hinblick auf ihre Durchschaubarkeit. Sie beschreiben Transparenz nicht (nur) als physische Durchsichtigkeit, also bezogen auf das, was tatsächlich durch das Glas durchscheint, sondern als das, wofür Transparenz als Bild steht. Doch was würde es bedeuten, nicht durch das Glas zu schauen, sondern das Glas selbst in den Fokus zu nehmen, nicht über seine Erscheinung zu schreiben, sondern zuerst über das Material und seine Eigenschaften? Das Glas nicht nur als Bestätigung einer seit der Moderne gefestigten und vor allem formal geführten Geschichtsschreibung zu deuten, sondern im Gegenteil, dem Glas eine produktive Rolle im Schreiben dieser Geschichte der Architektur des 20. Jahrhunderts zuzugestehen?11 Oder umfassender formuliert, die Theorie der Architektur nicht nur als Geschichte der Theorie, sondern in ihrem ursprünglichen Sinn, als Theorie der Praxis zu verstehen?
TR ANSPARENZ Unabhängig von den jeweiligen Positionen figurieren die Bauten der Zwischenkriegsmoderne durch das 20. Jahrhundert hindurch als Inbegriff von Transparenz – an erster Stelle die übereck photographierte Werkstatt des Bauhauses von Walter Gropius. Die Bauhausecke findet sich bei Giedion an vorderster Stelle, wie auch bei Rowe und Slutzky. Die intensive Auseinandersetzung der Protagonisten der Moderne mit Glas scheint diese Geschichtsschreibung zu bestätigen: Neben Eisen und Beton gehört Glas zu den stilbildenden Elementen der Zeit. Dreißig Jahre nach der Erfindung industrieller Ziehmethoden und wenige Jahre nach dem Beginn seiner umfassenden Verwendung im Bau ist das klare Fensterglas in
Transparency: The Technical, Visual, and Spatial Effects of Glass, New York: Princeton Architectural Press 2009, S. 78-86. 11 | Vgl. Martin, Reinhold: »Spiegelglas. Widerspiegelungen«, in: Arch+ 191/192 (2009), S. 103-109, wieder abgedruckt in: Ders., Utopia’s Ghost: Architecture and Postmodernism, Again, Minneapolis: University of Minnesota Press 2010, S. 93-122.
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Theorie und Praxis allgegenwärtig.12 Über dessen Potenzial, Innen und Außen miteinander zu verbinden, sind sich die Protagonisten der Zeit wie Walter Gropius, Ludwig Hilberseimer, Le Corbusier oder Mies van der Rohe einig. Abwechselnd und sich zum Teil wiederholend, heben sie, wie Gropius, das »neue Raumgefühl«, das den Innenraum mit dem »Allraum« verbinde,13 wie Le Corbusier, die damit verbundenen Vorzüge der guten Belichtung,14 wie Hilberseimer, das Potenzial der »Leichtigkeit und Durchsichtigkeit«15 oder, wie Mies, die neuen und formalen Möglichkeiten hervor.16 Neben dem Bauhaus in Dessau, dem Hochhaus an der Friedrichstraße in Berlin, der Van-Nelle-Fabrik in Rotterdam oder dem Sowjetpalast in Moskau ist Glas von nun an auch für Büro- und Kaufhäuser, Schulen, Bahnhofsbauten, Miets- wie auch Einfamilienhäuser, Ausstellungsbauten und sogar für Kirchen ein privilegiertes Material. Wie Konrad Werner Schulze in einer der ersten Überblicksstudien zum Material 1929 feststellt, erstreckt sich die Verwendung von Glas »auf die gesamte europäische Baukunst«.17 Schulze illustriert seine Studie mit Beispielen aus Holland, Deutschland und Frankreich, aber auch aus der Tschechoslowakei, der Sowjetunion und den USA. Arthur Korn, in seinem konkurrierenden Werk aus dem gleichen Jahr, stellt darüber hinaus das »allgemeine Vordringen« des Glases nicht nur in der Architektur, sondern auch in der Innenausstattung, den Möbeln sowie den Gebrauchsgeräten fest.18
12 | Vgl. McGrath, Raymond/Frost, Albert Childerstone/Beckett, Harold Edward: Glass in Architecture and Decoration, London: Architectural Press 1937, S. 3034, sowie Völckers, Otto: Bauen mit Glas. Der Werkstoff Glas in Bautechnik und Baukunst, Stuttgart: Hoffmann 1948, S. 16-17. 13 | Gropius, Walter: »Glasbau«, in: Die Bauzeitung 23 (1926), H. 20, S. 159-162. 14 | Vgl. Le Corbusier: »5 points d’une architecture nouvelle«, in: Ders., Oeuvre complète. Bd. 1: Le Corbusier et Pierre Jeanneret 1910–1929, hg. v. Willy Boesiger u. Oscar Stonorov, Zürich: Girsberger 1967 [1929], S. 129. 15 | Hilberseimer, Ludwig: »Glasarchitektur«, in: Die Form 4 (1929), S. 521-522. 16 | Vgl. Mies van der Rohe, Ludwig: »Hochhausprojekt für Bahnhof Friedrichstraße in Berlin«, in: Frühlicht 1 (1922), S. 122-124. 17 | Schulze, Konrad Werner: Glas in der Architektur der Gegenwart, Stuttgart: Zaugg 1929, S. 42. 18 | Korn, Arthur: Glas im Bau und als Gebrauchsgegenstand, Berlin: Pollak 1929, S. 8.
Glas 1930–1970
Abb. 1, Walter Gropius: Bauhaus, Dessau 1925–1926.
Quelle: K. W. Schulze: Glas in der Architektur der Gegenwart, S. 27.
Doch blättert man durch die Publikationen dieser Zeit, so zeichnet sich ein Bild ab, das die Gleichsetzung von Glas und Transparenz relativiert. Die dort abgebildeten Glasbauten stechen nur in den seltensten Fällen – gewöhnlich auf Innenaufnahmen – durch jene Eigenschaften hervor, die Giedion oder später Rowe und Slutzky an der Ecke des Bauhauses illustrieren
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werden. Die Regel bilden im Gegenteil vielmehr spiegelnde, transluzente oder opake Fassaden. Bei Schulze wird die Werkstattfassade des Bauhauses als glatte, sich selbst bespiegelnde Oberfläche gezeigt (Abb. 1). Gropius illustriert seinen Artikel »Glasbau« mit einer Kohleperspektive des Werkstattflügels, wo die Wand als opaker, vertikal gegliederter Baukörper in Erscheinung tritt. Mit Ausnahme der bekannten Nachtaufnahmen spiegeln die runden Ecken der Geschäftshäuser Erich Mendelsohns den Himmel oder ihre Nachbarschaft. Die Häuser der Weißenhofsiedlung zeichnen sich nicht nur durch ihre weißen Volumina, sondern ebenso durch die schwarzen Flächen der Fenster aus. Auch dort, wo sich die Verspiegelungen vermeiden ließen, in den Zeichnungen vollverglaster Bauten von Alberto Sartoris, Ilja Golosov oder bei den von Schulze gelobten Bauten Eduard und Otto Fuckers, sind die Öffnungen blinde, schwarze oder weiße Felder. Mies sorgt sich bei seinem Hochhausentwurf an der Friedrichstraße denn auch weniger um die Transparenz des Glases, als vielmehr um die »tote Wirkung« flacher Glasflächen.19 Die prismatische Form des Entwurfs wird, vielleicht noch aus einer expressionistischen Sensibilität heraus, mit ihren Lichtreflexen erklärt, die Wahl des Glases als Antwort auf die neuen konstruktiven Prinzipien.20 Keine Durchdringungen von Innen und Außen also,21 wie in Picassos Arlésienne, keine »umfassenden transparenten Flächen«, wie sie Giedion an jener Ecke des Bauhauses entdeckt,22 aber auch nicht die »Transparenz des Materials«, wie sie Rowe und Slutzky beschreiben;23 es werden im Gegenteil je nach Blickwinkel, Sonnenstand oder Kontrastwirkung sich abwechselnde opake, spiegelnde oder reflektierende, manchmal transparente oder transluzide oder gar farbige Oberflächen gezeigt. So resümiert Arthur Korn 1929 die verschiedenen »Absichten«, die er in den Bauten von Mies, Gropius oder in seinen eigenen Entwürfen in Glas zu entdecken glaubt.24
19 | L. Mies van der Rohe: »Hochhausprojekt für Bahnhof Friedrichstraße in Berlin«, S. 124. 20 | Vgl. ebd. 21 | Vgl. S. Giedion: Space, Time and Architecture, S. 489-490. 22 | Ebd., S. 491. 23 | C. Rowe/R. Slutzky: »Transparency«, S. 49. 24 | A. Korn: Glas im Bau und als Gebrauchsgegenstand, S. 6.
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M ATERIAL Nicht die metaphorischen Verknüpfungen von Glas und literaler Transparenz, sondern die tatsächliche Wirkung und die Eigenschaften des Glases als Material stehen um 1930 im Vordergrund: seine durchsichtige Klarheit, die Möglichkeit seiner umfassenden Anwendung im Zusammenspiel mit dem Beton- oder Eisenbau, aber auch, wie Gropius insistiert, seine »raumabschließende«, »witterungsabhaltende« und »isolierende« Wirkung gegen Geräusch und Kälte.25 Schulze geht in seiner Studie einen Schritt weiter als seine Zeitgenossen, denn er möchte, wie er in der Einleitung schreibt, »ein Gesamtbild von den verschiedenen konstruktiven Anwendungsmöglichkeiten« von Glas aufzeigen.26 Das erstaunt wenig, wenn man bedenkt, dass er seine Studie als Fortsetzung seines Vorgängerwerkes Stahlskelettbau, Geschäftsund Hochhäuser sieht und seine Arbeit zu den Elementen der Architektur mit einer Arbeit zum Backstein begonnen hatte.27 Auch Schulze konstatiert in der Verwendung von Glas ein »neues Wollen«, welches »den Baukörpern das Raumabschließende zu nehmen sucht«28 und auf den Forderungen nach »Einblick und Ausblick und räumliche[r] Durchsicht« fußt,29 und fordert ein Überdenken des neuen Materials, das über seine rein visuellen Eigenschaften hinausgeht. Denn aus dieser Perspektive scheint ihm die Bedeutung des Glases für die Architektur limitiert. Schulze, und das zeichnet seine Schrift aus, zieht daraus die Konsequenzen. Die moderne Baukunst, so hält er am Ende in Opposition zur späteren dominierenden Geschichtsschreibung der Moderne fest, sei nicht vor allem ein optisches Phänomen, das ästhetischen Bedürfnissen zu genügen habe, sondern diene im eigentlichen Sinne als »Werkzeug«,30 das so praktisch und so wirtschaftlich als möglich zu verwenden sei. Man müsse der Form dieses Werkzeuges sofort ansehen können, welche Zwecke es im Einzel25 | W. Gropius: »Glasbau«, S. 161. 26 | K. W. Schulze: Glas in der Architektur der Gegenwart, S. 3. 27 | Vgl. Schulze, Konrad Werner: Der Stahlskelettbau. Geschäfts- und Hochhäuser, Stuttgart: Zaugg 1928, sowie Ders.: Der Ziegelbau, Stuttgart: Wedekind 1927. 28 | K. W. Schulze: Glas in der Architektur der Gegenwart, S. 3. 29 | Ebd., S. 4. 30 | Ebd., S. 91.
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nen und im Ganzen zu erfüllen habe. Das Glas sei dabei ein »notwendiges Glied der räumlichen Funktion« des Bauwerks, das sich im Entwurf der Forderung nach »maximaler Leistung« unterwerfen müsse.31 Voraussetzung hierfür ist die genaue Kenntnis des Materials und der daraus abzuleitenden Eigenschaften. Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Gemeinschaft, die sich ab der Mitte der 1920er Jahre um eine Definition des Glases und seiner chemischen und physikalischen Eigenschaften bemüht,32 wird die Frage nach seiner Beschaffenheit in der Architektur erst in den 1930er Jahren virulent. Einige Projekte nehmen diese Entwicklung sicherlich voraus, wie etwa die Verwendung von Uviol-Gläsern, die für ultraviolette Strahlung durchlässig sind und in Heilanstalten, wie dem Deutschen Haus in Agra bereits ab 1915 verwendet werden,33 oder das Vita-Glas, das bereits ab 1925 im Affenhaus des Londoner Zoos zum Einsatz kommt 34 und vom französischen Architekten Robert Mallet-Stevens für die Villa Cavroix in Croix 1928 vorgeschlagen wird.35 Le Corbusier setzt in seinem Projekt für den Palais des Nations 1927 nicht nur zum ersten Mal den mur neutralisant ein,36 sondern stattet auch die Decke des Hauptsaales mit einer doppelten Akustik-Schale aus Glasscheiben zur besseren Schalltransmission aus.37 31 | Ebd., S. 92. 32 | Vgl. Espahangizi, Kijan Malte: Wissenschaft im Glas. Eine historische Ökologie moderner Laborforschung, unveröffentliche Dissertation, Zürich 2010, S. 247-271. 33 | Vgl. Wipf, E.: »Die Heilstätte Deutsches Haus Agra bei Lugano«, in: Schweizerische Bauzeitung 66 (1915), H. 16, S. 185-187; H. 17, S. 193-196, insb. S. 195. 34 | Vgl. Sadar, John: »The Healthful Ambience of Vitaglass: Light, Glass and the Curative Environment«, in: Architectural Research Quarterly 12 (2008), H. 3/4, S. 269-281. 35 | Vgl. Anonym: »Les idées novatrices de M. Mallet-Stevens. Entretien de Robert Mallet-Stevens«, in: Le Rez-de-Chaussée 4 (1928), S. 75-77, zitiert nach Eberhard, Katrin: Maschinen zuhause. Die Technisierung des Wohnens in der Moderne, Zürich: gta Verlag 2011, S. 95. 36 | Vgl. Le Corbusier: Précisions sur un état présent de l’architecture et de l’urbanisme, Paris: Ed. Crès 1930, S. 164-165, sowie Ders.: Une maison – un palais. »À la recherche d’une unité architecturale«, Paris: Ed. Crès 1928, S. 129. 37 | Vgl. R. McGrath/A. C. Frost/H. E. Beckett: Glass in Architecture and Decoration, S. 181.
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Obwohl Schulze in seiner Studie die »Erkenntnis moderner Physik und Chemie« mehrfach betont – er erwähnt diese Wissenschaften immer wieder und leitet insbesondere seine Überlegungen zu statischen Entwicklungen im Eisen- und Betonbau von ihnen ab –,38 finden sich bei ihm keine Überlegungen zu ihren Auswirkungen für die Verwendung von Glas. Diese Frage beginnt die Architekten erst ab den späten 1930er Jahren zu beschäftigen. Als Raymond McGrath, den George Nelson zu den wichtigen modernen Architekten in Europa und den Pionieren der modernen Architektur in England zählt,39 1937 seine Studie Glass in Architecture and Decoration publiziert, ergänzt er seine historische Übersicht über die Geschichte des Glases und ihrer Produktionstechniken um eine wissenschaftliche Erörterung der »Natur und Eigenschaften des Glases«, die er einem Mitarbeiter der 1921 gegründeten Building Research Station anvertraut: Harold E. Beckett.40 Je nachdem, ob von Sonnen- oder UV-Strahlen, Wärme, Ton, Licht oder vom Blick die Rede ist, und ob es sich um flaches, geripptes, sandgestrahltes oder Opal-Glas handelt, zeige sich das Glas als isolierendes, durchlässiges, spiegelndes, refraktierendes, diffundierendes oder gar als färbendes Material.41 Die Erkenntnisse von McGrath werden mit zeitgenössischen Beispielen wie dem insulating screen des Daily Express Building in London von Ellis und Clark und dem Ingenieur Owen Williams (1930–1932, Abb. 2), der insulating wall von William Lescazes Haus in New York (1933–1934) oder dem reflector der Orchester-Plattform auf der Hamburger Gartenausstellung von 1935 illustriert. McGraths Buch bildet auch insofern eine überraschende Ausnahme, als es kaum Publikationen zum Glas gibt, die wissenschaftliche und architektonische Argumente in dieser Form miteinander verknüpfen. Mit der wachsenden Aufsplitterung der 38 | K. W. Schulze: Glas in der Architektur der Gegenwart, S. 4, 19. 39 | In der Artikelserie Nelsons’ zur modernen Architektur in Europa für Pencil Points figurieren neben McGrath auch Gropius, Mies, Le Corbusier und die Gebrüder Luckhardt, vgl. Forster, Kurt (Hg.): Building a New Europe: Portraits of Modern Architects. Essays by George Nelson 1935–1936, New Haven: Yale University Press 2007, S. 125-135. 40 | Beckett, Harold Edward: »The Nature and Properties of Glass«, in: R. McGrath/A. C. Frost/H. E. Beckett, Glass in Architecture and Decoration, S. 414523. 41 | Vgl. ebd., S. 462.
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Abb. 2, Ellis und Clark mit Owen Williams: Daily Express Building, London 1930–1932.
Quelle: R. McGrath/A. C. Frost/H. E. Beckett: Glass in Architecture and Decoration, S. 264.
Architektur in der Nachkriegszeit in spezialisierte Fachbereiche fallen Technik und Gestaltung zunehmend auseinander. Was in der zunehmenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Glas im Vordergrund steht, sind dessen materielle Eigenschaften, die
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sich unter dem Röntgengerät offenbaren. Mit einer Röntgenaufnahme illustriert denn auch Moholy-Nagy 1948 in seiner für die englische Avantgarde einflussreichen Schrift Vision in Motion seinen Eintrag zur Transparenz.42 Um seine Thesen zur neuen Raum-Zeit Dimension in Kunst und Architektur zu erörtern, verweist er nicht nur auf die Durchdringung unterschiedlicher visueller Ebenen, wie sie Giedion bereits vorgezeichnet hatte, oder auf die literarischer Ebenen, wie er sie etwa im Werk von James Joyce findet; genauso fasziniert zeigt er sich von der materiellen Transparenz, wie sie in der Röntgenaufnahme erfahrbar ist. Doch die Röntgenaufnahme lediglich als Illustration einer Raum-Zeit-Verschränkung zu deuten, würde zu kurz greifen und einmal mehr heißen, die Transparenz metaphorisch zu lesen und die visuelle Analogie von Haut und Knochen im Körperbau und in der Architektur, wie sie etwa bei Mies zu finden ist, weiterzuführen. Die Röntgenaufnahmen in Vision in Motion stehen nicht nur für Transparenz, sondern stellen die Transparenz in ihrer Mater ialität dar.43 Deshalb greifen sowohl Harold E. Beckett, der seinen Beitrag in McGraths Studie auf den neueren Studien zur Glastransparenz mittels Röntgenstrahlen basiert und die unterschiedlichen Transparenzstadien des Glases – kristallin und glasartig – mit entsprechenden Aufnahmen illustriert,44 als auch Moholy-Nagy, der Röntgenstrahlen als neues Kunstmedium verwendet,45 auf sie zurück. Und wenn Moholy-Nagy an anderer Stelle in seiner Genealogie der Glasarchitektur der von Gropius, Pevsner oder Giedion vorgezeichneten Entwicklungslinie von Paxtons Crystal Palace bis hin zum Werkbundgebäude von Gropius folgt und daran den Weg der modernen Architektur zur Transparenz nachzeichnet, dann nur, um die Bedeutung der »Stofflichkeit« (substance)46 der unterschiedlichen Materialien zu betonen, sei es Beton, Holz, Glas oder – komprimierte, rotierende oder in Form von farbigen Gasen sich zusammensetzende – Luft.47
42 | Vgl. Moholy-Nagy, László: Vision in Motion, Chicago: Theobald 1947, S. 252. 43 | Vgl. ebd., S. 253. 44 | Vgl. H. E. Beckett: »The Nature and Properties of Glass«, S. 491. 45 | Vgl. L. Moholy-Nagy: Vision in Motion, S. 252. 46 | Ebd., S. 252. 47 | Vgl. ebd., S. 258.
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F UNK TION Die Frage nach den Eigenschaften der Materialien beschäftigt zunächst die Wissenschaftler, an vorderster Stelle den Physiker John Desmond Bernal, auf den sich Moholy-Nagy in einem kleinen Exkurs zur Zukunft der Architektur beruft.48 Bernal zieht auf wenigen Seiten seines monumentalen Werkes The Social Function of Science (1939) die Konsequenz eines naturwissenschaftlichen Ansatzes für die Architektur.49 Was Bernals Ansatz von anderen zeitgenössischen Vorschlägen unterscheidet, seien es theoretische Schriften, Architekturprojekte oder auch die Studien der Building Research Station zur Glasfestigkeit,50 ist sein Anspruch, Architektur über ihre »physikalischen Funktionen« neu zu deuten.51 Auf der Grundlage dieser physikalischen Funktionen unterscheidet er – ausgehend von einem mechanischen Verständnis von Architektur – die zwei wichtigsten Elemente zeitgenössischen Bauens: diejenigen, die dem Tragen, und diejenigen, die der Isolation dienen. Daraus leitet er ab, dass einige neue Materialien, wie etwa Metall, in Zukunft lediglich dem Tragen dienen könnten, andere, wie etwa Kork, die leicht, zugleich aber windund feuerresistent genug seien, der Isolation gegen Wärme und Lärm. In Zukunft würde es so möglich sein, mit den Architekturkonventionen zu brechen, insbesondere mit der seit der Pharaonenzeit unveränderten Tradition des Aufschichtens von Stein auf Stein, von Backstein auf Backstein.52
48 | Vgl. ebd. 49 | Vgl. Bernal, John Desmond: The Social Function of Science, London: Routledge 1939, S. 350-351. 50 | Vgl. Anonym: »Glass in Wartime«, in: The Architect’s Journal 92 (1940), S. 471-486. 51 | J. D. Bernal: The Social Function of Science, S. 350. Während des Krieges nimmt Bernal an Testversuchen zur Widerstandsfestigkeit von Schutzräumen teil, zusammen mit den Ingenieuren Ove Arup und Felix Samuely; vgl. Calder, Ritchie: »Bernal at War«, in: Brenda Swann/Francis Aprahamian (Hg.), J. D. Bernal: A Life in Science and Politics, London/New York: Verso 1999, S. 166-167, sowie Saint, Andrew: Towards a Social Architecture: The Role of School-Building in Post-War England, New Haven: Yale University Press 1987, S. 12. 52 | Vgl. J. D. Bernal: The Social Function of Science, S. 350-351.
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Abb. 3, Alison und Peter Smithson: Hunstanton Secondary School, 1949–1953.
Quelle: R. McGrath/A. C. Frost/H. E. Beckett: Glass in Architecture and Decoration, 1961 [1937], S. 281.
Die Auswirkungen einer solchen Lektüre sind beachtlich: Das Fenster und das Glaspanel nicht mehr als Teile der Wand, aber als Isolatoren, nicht mehr als Bauteile, sondern über ihre physikalischen Funktionen zu interpretieren, bedeutet, eine infrastrukturelle und maschinelle Antwort auf die ästhetische Vorstellung des offenen und transparenten Hauses vorzuschlagen. Doch vorerst bleiben die Konsequenzen dieser Perspektive für die Architektur beschränkt. 1961 kann McGrath die zweite, nur leicht überarbeitete, aber durch zahlreiche Beispiele ergänzte Auflage seiner Studie auch damit begründen, dass sich in den letzten zwanzig Jahren, abgesehen von neuen Moden, Akteuren und weiterentwickelten Techniken wie Farbgläsern oder isolierenden Glasfibern, nur wenig verändert habe.53 Die wichtigsten Erfindungen stammen tatsächlich aus den Zwischenkriegsjahren: die Ultraviolett-Gläser (ab 1903), die Wärme absorbierenden Gläser (ab 1923), die Sicherheitsgläser (ab den 1928er Jahren).54 53 | Vgl. McGrath, Raymond/Frost, Albert Childerstone/Beckett, Harold Edward: Glass in Architecture and Decoration, London: Architectural Press 1961 [1937], S. 18. 54 | Vgl. ebd., S. 58-68.
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In der Schule von Hunstanton von Alison und Peter Smithson (1949– 1953) zum Beispiel, in diesem von der damaligen Architekturavantgarde für seine Radikalität in Konstruktion und Ausdruck gefeierten Bau, ist der Wärmeschutz der allseitig verglasten Fassade lediglich durch die Verdoppelung der Verglasung auf der Nord- und der Ost-Seite gewährleistet, der Sonnenschutz durch Vorhänge aus Naturleinen (Abb. 3).55 In der Bousfield Primarschule in London (Chamberlin, Powell and Bon, 1954– 1956) dienen Lamellen zum Sicht- und zum Sonnenschutz, im Kontrollturm der R.A.F. in Boscombe Down wird eine mögliche Kondensation der Gläser durch verbesserte thermische Isolation erreicht, in Marcel Breuers Van-Leer-Gebäude (1957–1959) wird der Wärmeschutz durch Hitze absorbierende Sicherheitsgläser gewährleistet, die der eigentlichen Fassade vorgehängt sind, während der fehlende Sonnenschutz der Cité du Refuge (1929–1933) in der Nachkriegszeit durch brise-soleil nachgebessert werden muss.56
U MWELT Was sich an diesen Beispielen, die McGrath aufführt, nachzeichnen lässt, ist das zögernde Streben, die Vorteile der gläsernen Fassade mit den Vorteilen der traditionellen Mauer zu vereinen. Denn das, was die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den damit verbundenen Fragen erbringt, ist die Fähigkeit, die traditionellen Funktionen der tragenden, schützenden, isolierenden Wand zu unterscheiden und die Möglichkeit, diese Funktionen an einzelne, eigenständige Elemente zu delegieren: Die Glaswand schützt gegen den Regen, der brise-soleil gegen die Sonnenstrahlen, der mur neutralisant gegen Kälte oder Hitze und die Schallisolation gegen den Lärm.57 Die Aufgabe der Architektur ist es nun, die verschiedenen »physikalischen Funktionen« einzeln zu regeln und zu optimieren. Diese werden unterschieden, individualisiert, und dadurch auch neu gestaltbar. 55 | Vgl. Anonym: »Secondary School at Hunstanton, Norfolk«, in: The Architect’s Journal 120 (1954), H. 3107, S. 549. 56 | Vgl. R. McGrath/A. C. Frost/H. E. Beckett: Glass in Architecture and Decoration, 1961 [1937], S. 252-294. 57 | Vgl. Banham, Reyner: The Architecture of the Well-Tempered Environment, London: Architectural Press 1969, S. 155-158.
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Die Produktionstechniken des 19. und vor allem des frühen 20. Jahrhunderts haben das Glas von einem Medium des Lichtes zu einem Medium des Blickes werden lassen,58 die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Glas seit den 1930er Jahren hat dieses zu einem Medium der präzisen Umweltgestaltung transformiert. Ihre Umsetzung in die Praxis findet die Vorstellung der Glasarchitektur als kontrollierte oder kontrollierbare Umwelt am Ende der 1950er Jahre in einer Reihe von Projekten in England. In der Wallasey School (1961) etwa fügen sich einzelne, teilweise patentierte Elemente zu einer regelrechten Klimamaschine: transparente Außenfassade, 60 cm Luftschicht, Innenfassade aus Kathedralglas mit drehbarem oder einsetzbarem, je nach Bedürfnis absorbierendem oder reflektierendem Flügel, verschließbare Lüftungsläden, Wärme abstrahlende Tungstenleuchten, massive Mauern, ein mit Polystyren isoliertes Betondach. Bei Glaswänden wie in Wallasey geht es nicht mehr um die Auflösung der Grenzen zwischen Innen und Außen, sondern, wie Reyner Banham treffend bemerkt hat, um ein »complete man/structure/ lighting/ventilating system«,59 welches je nach Saison angeordnet werden muss. Während in Wallasey die Glaswand lediglich einen Teil des wärmetechnischen Haushaltes darstellt, ist der Anspruch, der ab den späten 1960er Jahren an das Glas gestellt wird, umfassender. In der historischen Fakultät von James Stirling in Cambridge (erbaut 1964–1967, Abb. 4) erlaubt es das Glas, trotz der umfassenden räumlichen Durchdringung von »innen« und »außen«, »oben« und »unten«, »privat« und »öffentlich« unterschiedliche Bereiche abzusondern. Beleuchtungstechnisch gelingt dies dank des verglasten Daches mit seiner vinylbeschichteten Unterseite zur Vermeidung der Blendung, wärmetechnisch dank der mit Ventilatoren ausgestatteten doppelten Membran des steil aufsteigenden Daches, akustisch durch die räumliche Abtrennung der oberen Erschließungsgänge.60 In der Schule in Pimlico in London von John Bancroft schließlich funktioniert die Doppelverglasung der Deckenfenster mit dazwischenliegenden isolierenden PVC-Folien nur im Verbund mit dem Sonnenschutz, 58 | Vgl. Harrison, Donald Dex: »Window into Wall«, in: The Architectural Review 108 (1950), H. 644, S. 113-114. 59 | R. Banham: The Architecture of the Well-Tempered Environment, S. 283. 60 | Vgl. Banham, Reyner: »Criticism. History Faculty Cambridge«, in: The Architectural Review 146 (1968), H. 861, S. 329-341.
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den Niederdruck-Radiatorheizungen und der automatischen Lüftung dank Warmluftkonvektoren, Luftkühlung in den nach Süden gerichteten Räumen und der Warm- und Kaltluft-Zirkulation zwischen süd- und nordwärts gerichteten Klassenzimmern.61 Abb. 4, James Stirling: Cambridge University History Faculty Building, Cambridge 1964–1967.
Quelle: Stirling, James: Bauten und Projekte 1950–1974, Stuttgart: Hatje 1975, S. 95.
In den späten 1960er Jahren ist der instrumentelle Charakter, den Schulze bereits 1929 gefordert hatte, erreicht. Bis dahin war der Einfluss des Glases auf das Gebäude limitiert. Die Glaswand führte noch eine eigenständige Existenz. Das Glas funktionierte gemäß seiner eigenen Gesetzmäßigkeit und unabhängig von anderen technischen Gegenständen. Es bildete in dieser primitiven Form eine theoretische und materielle Ein61 | Vgl. Inner London Education Authority: Pimlico School, interner Bericht, London o.J.; Hanson, J./Coltman, R.: »Pimlico School. Appraisal«, in: The Architect’s Journal 153 (1971), H. 15, S. 837; Anonym: »Form in Pimlico«, in: The Architectural Review 101 (1971), H. 893, S. 16.
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heit, deren Nachteile, wie der fehlende Sonnenschutz oder der schlechte Wärmekoeffizient, nachgebessert werden konnten. Nach und nach, mit den wachsenden Forderungen etwa an Belichtung, Verschattung oder Wärmedämmung, verlor das Glas seine Unabhängigkeit. Es musste von nun an als Teil eines Verbundes unterschiedlicher Funktionen wie Lüftung, Akustik, Wärmehaushalt und Lichtführung verstanden werden, die es miteinander zu koordinieren galt, weniger in Form von Kompromissen, als vielmehr auf Grund ihrer Gleichzeitigkeit.62 Entsprechend anfällig sind diese Umweltmaschinen, sei es, dass die Ausrichtung des Gebäudes wegen Planungsfehlern gedreht werden muss (wie in Cambridge),63 dass die Klimatechnik vandalisiert wird (wie in Pimlico),64 oder dass ungeplante Faktoren wie Gerüche das wohltemperierte Innenklima in Frage stellen (wie in Wallasey).65
N ACHSPIEL 1971 versuchen Rowe und Slutzky im zweiten, reichlich verspätet publizierten Teil ihres Aufsatzes aufzuzeigen, dass sich die Frage der Transparenz nicht auf die Architektur der Moderne beschränken könne, sondern als eine normative Kategorie der Gestaltwahrnehmung in der Architektur etabliert werden müsse. Zur gleichen Zeit schließt Norman Foster die Entwurfsphase für den Bürobau der Versicherungsfirma Willis Faber & Dumas im englischen Ipswich ab, dessen Spiegelfassade die enge Verknüpfung von Glas und Transparenz, die implizit auch Rowe und Slutzky fortführen, noch einmal hinterfragt (Abb. 5). Christopher Woodward zufolge zeigt sich in der Fassade von Willis Faber & Dumas, dass das Glas sich transformiert habe »from something you look through, a mere facility, to something you look at, a high-class surface material such as 62 | Vgl. Simondon, Gilbert: Du mode d’existence des objets techniques, Paris: Aubier 1989 [1958], S. 21. 63 | Vgl. R. Banham: »Criticism«, S. 331. 64 | Padovan, Richard: »Criticism. Brief Encounter«, in: The Architectural Review 150 (1971), H. 893, S. 17. 65 | Vgl. Manning, Peter: »Technical Study. St Georges’s School, Wallasey: An Evaluation of a Solar Heated Building«, in: The Architect’s Journal 149 (1969), H. 26, S. 1715-1721, insb. S. 1719.
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Abb. 5, Norman Foster: Willis Faber & Dumas, Ipswich 1971–1975.
Quelle: Foster, Norman: Foster Associates Buildings and Projects. Bd. 2: 1971– 1978, Haslemere: Watermark 1989, S. 53.
would have made the Ancients green with envy«.66 In der Verspiegelung der schwarzen Fassade des Willis Faber & Dumas Gebäudes erkennt auch Charles Jencks ein zentrales Motiv einer postmodernen, bildlich geprägten Architektursprache und entdeckt in der Erscheinung des Gebäudes als »Big Black Piano« oder »Rolls Royce« einen »semantisch« treffenden Ausdruck für »cool office work«.67 Damit nimmt Jencks eine neue meta66 | Woodward, Christopher: »Head Office, Ipswich, Suffolk«, in: The Architectural Review 158 (1975), H. 943, S. 131. 67 | Jencks, Charles: The Language of Post-Modern Architecture, New York: Rizzoli 1977, S. 80-81.
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phorische Überlagerung vorweg, welche die Postmoderne durchdringen wird. Die Transparenz der Moderne scheint hier einer Opazität gewichen, die sich im Spiegel des Glases zeigt.68 Von James Harvey über Frederic Jameson bis hin zu Reinhold Martin wird das Spiegelglas von nun an als Merkmal eines Paradigmenwechsels gelten.69 Wie Martin gezeigt hat, sieht Harvey in der vermeintlichen Entmaterialisierung der Postmoderne den Ausdruck einer »Ökonomie mit Spiegeln« 70 und deutet entsprechend die Spiegelglasfassade als Zeichen einer auf Verschleierung ausgerichteten kapitalistischen Kultur. Jameson liest die sich verspiegelnden Glasflächen als stilbildendes Merkmal einer durch Prozesse und Reproduktionen geprägten postmodernen Kultur. Martin wiederum, die metaphorische Verknüpfung von Spiegelglas und Postmoderne bei beiden Autoren kritisierend, versteht die geknickten, sich bespiegelnden Fassaden der großen amerikanischen Firmensitze der 1980er Jahre als Ausdruck der Selbstreferenzialität einer postmodernen Architektur- oder Firmenkultur, die sich vom öffentlichen Raum absetzt. Die Spiegelglasfassade müsse folglich nicht nur als Ausdruck einer postmodernen Kultur gelesen werden, sie spiegle nicht nur die Protokolle einer neuen sozio-ökonomischen Ordnung wieder, sondern sie habe selber an deren Produktion in Raum und Zeit mitgewirkt.71 Als Firmensitz einer Rückversicherung gehört das Gebäude von Willis Faber & Dumas ohne Zweifel zu jener von Harvey beschriebenen postindustriellen ökonomischen Ordnung, die in den 1980er Jahren die westlichen Gesellschaften prägt, und seine geschwungene Fassade, die eng der mittelalterlichen Straßenführung von Ipswich folgt und die, wie es Banham treffend formuliert, »alle Perioden ostenglischer VorstadtArchitektur« in ihrer Spiegelung vereinigt,72 erzeugt jene Effekte, die Martin als Merkmal der postmodernen Kultur beschreibt. So verlockend diese metaphorische Verbindung von materieller und ideeller Ordnung 68 | Vgl. Vattimo, Gianni: Die transparente Gesellschaft, Wien: Passagen 1992, S. 11-24. 69 | Vgl. R. Martin: »Spiegelglas«. 70 | Ebd., S. 103. 71 | Vgl. ebd., S. 109. 72 | Banham, Reyner: »Grass Above, Glass Around«, in: New Society 42 (1977), H. 783, S. 22-23, zitiert nach N. Foster: Foster Associates Buildings and Projects, Bd. 2, S. 54.
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sein mag, so scheint sie doch Ursache und Wirkung zu verwechseln. Denn sie reduziert einmal mehr die Architektur auf ihre wahrnehmbaren Effekte und negiert deren konkrete Materialität. Beim Gebäude von Willis Faber & Dumas sind es das Material und seine Eigenschaften, welche die Fassade bestimmen. So besteht die Glasfassade des Willis Faber & Dumas Gebäudes aus sich spiegelndem und in der Masse gefärbtem, bronzehaltigem, zwölf Millimeter starkem und im Floatverfahren produziertem Sicherheits-Flachglas. Die zwei Meter breiten Glasscheiben, welche die unterschiedlichen Anforderungen an die Fassade aufnehmen müssen, wie Sonnen- und Wärmeschutz, Bruchsicherheit, Windkraft, Geometrie der Parzelle und auch die Transparenz für den Blick und das Licht, sind aufgrund der mit dem Gewicht verbundenen Druckkraft mit Metallplatten und Bolzen miteinander verbunden und an der Dachkante des Gebäudes aufgehängt.73 Was die Fassade von Ipswich kennzeichnet, ist denn auch weniger ihre postmoderne Opazität – bei Abend- und Morgensonne sowie nachts ist das Gebäude transparent –, sondern im Gegenteil ihre neue Technologie: Floatglasverfahren, TVS-System (Total Vision System) mit Silikondichtung, die weltweit größte Hängeverglasung, etc.74 Kein Bild von Opazität also, sondern Glas – hier: bronzehaltiges Floatglas.
L ITER ATUR Anonym [Gottfried Semper]: »A Foreign Architects View on the Building«, in: The Edinburgh Review 94 (1851), H. 192, S. 576. Anonym: »Form in Pimlico«, in: The Architectural Review 101 (1971), H. 893, S. 16. — »Glass in Wartime«, in: The Architect’s Journal 92 (1940), S. 471-486. — »Les idées novatrices de M. Mallet-Stevens. Entretien de Robert Mallet-Stevens«, in: Le Rez-de-Chaussée 4 (1928), S. 75-77. — »Secondary School at Hunstanton, Norfolk«, in: The Architect’s Journal 120 (1954), H. 3107, S. 549.
73 | Vgl. Francis, Martin: »Glass Wall Assembly Notes«, in: The Architectural Review 158 (1975), H. 943, S. 144. 74 | Vgl. Lambot, Ian: »Willis Faber & Dumas. The Glass Wall«, in: N. Foster, Foster Associates Buildings and Projects, Bd. 2, S. 34-35.
Glas 1930–1970
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Geschichte der Architektur der Geschichte Überlegungen zur Historisierung einer Disziplin Christian Freigang
Anlässlich der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit begibt sich der französische Schriftsteller und Journalist Charles Maurras 1896 von Paris nach Athen. Der daraus entstandene Text Anthinea. D’Athènes à Florence ist jedoch weit davon entfernt, die sportlichen Ereignisse zu kommentieren. Vielmehr gerät er zu einem ganzheitlichen Kulturentwurf, der in Form eines Reiseberichts die unvergänglichen Qualitäten des griechischen Geistes, des esprit grec, vermittelt und feiert.1 Dieser äußere sich in allen Erscheinungsformen der mittelmeerischen Welt zwischen Griechenland, Italien und der Provence in den Geländeformationen, den Sitten der einst wie heute dort lebenden Menschen und vor allem in den Überresten der griechischen Antike. Der geographische Parcours von Osten nach Westen sei zugleich ein zeitlicher – er reicht von der idealen Antike bis in die dekadente, nach den Prinzipien des griechischen Geistes zu reformierende Gegenwart. Die attische Welt, in der alle Erscheinungen sich zu einem harmonischen Ganzen ergänzten, müsse mit allen Organen wahrgenommen werden können, rational erkennend und sinnlich fühlend zugleich. In einer Schlüsselstelle des Reiseberichts macht der Erzähler sich nach langer Vorbereitung daran, die Akropolis als das Spitzenwerk des griechischen Geistes zu betreten. Vor den ersten Säulen der Propyläen, dem Eingangstor der Burg, hält er inne:
1 | Vgl. Maurras, Charles: Anthinea. D’Athènes à Florence, Paris: Juven 1901, wieder abgedruckt in: Ders., Oeuvres capitales. Bd. 1: Sous le signe de Minerve, Paris: Flammarion 1954, S. 167-257.
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Auch wenn ich zugebe, dass ich dabei keine Träne vergossen habe, kann ich es wagen niederzuschreiben, was dann folgte? Über dieser Säule, der ersten, der ich im Chor der jungen Propyläerinnen gewahr geworden war, breitete ich die Arme weit im Raum aus, so weit ich konnte, neigte den Kopf – nicht ohne Vorsicht, musste ich doch wegen einer Truppe von rasch sich nähernden lärmenden Amerikanern vorgeben, den Säulenumfang zu vermessen – und küsste sie wie eine Geliebte mit meinen Lippen. 2
In dem Säulenstumpf entäußert sich für Maurras gleichsam das gesamte Menschentum. Dieses architektonische Element, Resultat von gesetzmäßiger Ordnung, Proportion, Einheit und Vernunft, schön, sinnlich und verführerisch zugleich, deutet er als Resultat von belebter Vernunft: erregend und immer jung, wie die niemals alternden griechischen Götter in Stein, unsterblich in alle Ewigkeit. Auch wenn es sich bei dieser Passage nicht um einen Ausschnitt aus einem architekturtheoretischen oder fachgeschichtlichen Werk handelt, sondern um ein literarisch geformtes Motiv, um eine von vielen Variationen prinzipiell vergleichbarer Darstellungen über das Erlebnis der Athener Akropolis, tritt hier ein Stück Architekturinterpretation um 1900 im literarischen und intellektuellen Diskurs der Zeit auf, das auf wichtige Zusammenhänge zwischen literarischer Metaphorik, der zeitgenössischen Architekturdebatte und der Baupraxis verweist. Die Passage enthält in konzentriertester Form vielschichtige Vorstellungen, die mit Reformbestrebungen um 1900 verbunden sind. Insbesondere ist hier eine Schönheitsauffassung zu finden, die Schönheit in ihrem objektiven Sein wie ihrem subjektiven Erleben, rational und emotional als per fekte Einheit zwischen Form und Inhalt begreift. Vernunftgemäße proportionale Ordnung und sinnlich belebte Reaktion beschreiben zwei essenzielle Aspekte eines idealen Weltgesetzes, das Maurras als ganzheitliches Prinzip für sämtliche Bereiche des Lebens versteht. Der klassische Geist repräsentiere eine harmonisch geordnete, mit freudiger Emphase gelebte gesellschaftliche Ordnung. Ein idealer, und das heißt im Sinne Maurras’, ein autoritärer und xenophober Staat müsse darauf ausgerichtet sein, dieses Weltgesetz des klassischen Geistes auf immer zu verinnerlichen und zu verteidigen. Die Architektur – selbst in ihrem ruinösen Zustand auf der Akropolis – manifestiere in perfekter und dauerhafter Weise dieses 2 | Ebd., S. 192 [Übersetzung Ch. F.].
Geschichte der Architektur der Geschichte
Weltprinzip, das durch Raum und Zeit Geltung beanspruche. Denn die antiken Säulen seien eben nur dann ewig jung, gleichsam unsterblich, lächeln jugendlich und voller Grazie, wenn und solange die Erbin dieses Geistes – keine andere als die französische Nation – sich auf immer diesen Prinzipien verschreibe. In Maurras’ Erlebnis der sinnlichen antiken Säule schimmert die Haltung einer bedeutenden politischen und gesellschaftlichen Bewegung durch, die eng mit bestimmten Kontexten der Zeit verbunden ist, angefangen von der klassizistischen Gegenbewegung zum Jugendstil bis hin zur Entstehung einer rechtsextremen, scharf antisemitischen Gegenmoderne, die – auf bauend auf derartigen politischen Ästhetizismen – Grundlage beziehungsweise essenzieller Bestandteil der europäischen Faschismen werden wird. Die hier geschilderte Episode mag andeuten, wie Architekturgeschichte (auch) geschrieben werden kann: Nicht allein im sich selbst genügenden kennerschaftlichen Einordnen alter Gebäude, in motivgeschichtlichen »Ableitungen«, technikgeschichtlichen Bezugnahmen oder in biographisch ausgerichteten Erzählungen, sondern im Blick auf das Überblenden, Gegeneinanderstellen und sich Durchdrungensein von historischer Architekturproduktion und -theorie, Metaphern, Denkbildern und Gefühlswelten, kulturellen Praktiken und Zeichensystemen. Die klassizistische Moderne des 20. Jahrhunderts ist nicht eine unschuldige Spielart eines klassischen Paradigmas, das ein harmonisches Ineinsfallen von Form und Inhalt immer wieder neu erprobt.3 Ganz im Gegenteil ist diese klassizistische Moderne – als deren Inkunabel das Théâtre des Champs Elysées in Paris (1911–1913) gelten kann (Abb. 1) – eine Position, die vorgibt, die Auflösung des Mythos in der Moderne zu überwinden, also die Dissoziierung von Individuum, Gesellschaft, Nation, Religion, Kunst und Technik durch ganzheitliche und vitalistische Lebensentwürfe rückgängig zu machen, indem sie bestimmte Diskurshierarchien, Zeichensysteme und Wahrnehmungsweisen als ewig oder überzeitlich gültig fortschreibt.4 3 | Vgl. Borsi, Franco: Die monumentale Ordnung. Architektur in Europa 1929– 1939, Stuttgart: Hatje 1987. 4 | Vgl. Freigang, Christian: Auguste Perret, die Architekturdebatte und die »Konservative Revolution« in Frankreich 1900–1930, Berlin/München: Deutscher Kunstverlag 2003.
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Abb. 1, Auguste Perret: Théâtre des Champs Elysées, Fassade, Paris 1911–1913.
Photographie: Christian Freigang.
Es handelt sich im Speziellen darum, die repräsentationale Leistung dieser Architektur – den programmatischen Bezug auf die griechische Antike – nicht nur als bloße formale Referenz auf bestimmte Bauten beziehungsweise deren Prinzipien zu beschreiben, sondern die chronologische Relation zu verdeutlichen, in der das Heute und das Einst aufeinander bezogen sind. In der Propyläen-Anekdote verdichtet sich nämlich eine spezifische Geschichtsauffassung: Maurras’ Evokation der sinnlichen Jugend der antiken Säulen ist eingebettet in eine harsche Kritik an szientistisch-archäologischen Erforschungen der antiken Architektur und Kunst, also an den historischen Wissenschaften mit ihren kleinteiligen Grabungskampagnen und mühevollen, akribischen Textentzifferungen. Derartigen Ansätzen wird zur Last gelegt, ihr Thema zu wenig intuitiv, emotional und seelisch zu erfassen. Ebenso ist Maurras’
Geschichte der Architektur der Geschichte
Position als eine Kritik an scheinbar beliebigen, individuellen Vorlieben folgenden Stilzitaten der Zeit des architektonischen Historismus im 19. Jahrhundert zu lesen. Was wir anhand von Maurras im Speziellen, aber ebenso innerhalb der zeitgenössischen Architekturtheorie und -produktion im Allgemeinen sehen können, sind grundsätzlich unterschiedliche Vorstellungen davon, in welcher Art architektonische Repräsentation – etwa durch die formale Referenz auf Vorbilder und Bauprinzipien – chronologische und historische Logiken vergegenwärtigt. Welche Zeit- und Geschichtsauffassungen werden durch Gebäude und ihre diskursiven Verortungen offengelegt beziehungsweise durch sie konstruiert – als »Architektur der Geschichte«? Maurras’ Theorie etwa hebt Geschichte in einer Überzeitlichkeit auf, die einzig ewige Aktualität – Jugend – akzeptiert. Davon kann eine archetypische Auffassung der Geschichte unterschieden werden, die nur die großen, überindividuellen Strömungen und Themen kennt und mit Intuition und Emphase verinnerlicht werden soll. Dies wiederum setzt sich etwa von einem positivistisch-empirischen Zugang und einer scheinbar interesselosen Geschichtsschreibung oder aber von einer Auffassung ab, die auf didaktisch-moralische Umsetzung der Lehren aus der Geschichte Wert legt und sie an Exempeln entwickelt. Solche unterschiedlichen Auffassungen werden in der Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert in verschiedenen Ausprägungen implizit oder explizit diskutiert. Bemerkenswert ist nun aber – und deswegen eignet sich die Maurras-Passage besonders gut als Beispiel –, dass die Diskurse zu Geschichtsauffassungen keineswegs bloß gelehrte Debatten darstellen, sondern weit in alle Lebensbereiche eindringen, eben auch in die Architektur. – Und es wird nachgerade als deren Aufgabe verstanden, die lebensweltliche Umgebung zu schaffen, in der die jeweilige Geschichtsauffassung Wirklichkeit wird. Architekturgeschichte schreiben heißt somit auch, die damit korrelierten Geschichtsauffassungen mitzudenken. Das gilt schon deshalb, weil Geschichte, geschichtliches Denken und Fühlen ihrerseits keineswegs für alle Zeiten und Räume gültige Konstanten sind. Und das hat jeweils Konsequenzen für die Architektur wie für ihre geschichtliche Verortung, wie in der folgenden, kursorischen »Geschichte der Architektur der Geschichte« zu zeigen sein wird.
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D IE I DEE EINER U NIVERSALGESCHICHTE Generell bildet sich das Konzept der »Geschichte« als Kollektivsingular – zahllose Einzelgeschichten bündeln sich zu einem Ereigniszusammenhang – erst im 18. Jahrhundert aus. Erst seit dieser Zeit wird Geschichte als Begebenheit betrachtet, die von einem Beobachter zu ergründen und zu verstehen ist, um daraus Anweisungen für politisches, soziales und moralisches Verhalten abzuleiten. Geschichte, vom Menschen bewirkt und auf den Menschen bezogen, wird nun als unendlich verstanden, als Kontinuum eines mehr oder weniger kausal zusammenhängenden Geflechts von Begebenheiten, das unabhängig von göttlichem oder mythischem Wirken funktioniert. Die Geschichte wird Subjekt ihrer selbst, wenn etwa Hegel ein Arbeiten der Weltgeschichte annimmt, oder, allgemeiner verbreitet, bestimmte Ereignisse als Ergebnis »der Geschichte« geltend gemacht werden. Innerhalb der Geschichte als Gesamtzusammenhang lassen sich nunmehr Historien erzählen, etwa die Geschichte des Handels, der Religion, der Arbeiterbewegung, der Kunst oder eben der Architektur. Der Motor allerdings, der die Geschichte antreibt, kann ganz unterschiedlich bestimmt werden. Das Bewusstsein davon, wie essenziell solche großen, zumeist fundamental konkurrierenden Erzählungen sind, bildet sich im 19. Jahrhundert heraus, also in der Zeit, in der eine säkulare bürgerliche Gesellschaft und ihre Fraktionierungen Legitimations- und Deutungsmuster suchen. Bemühungen beispielsweise um die Geschichte des dritten Standes, die psychologische Geschichte des Lebens Jesu Christi, die Geschichte einer Nation oder die Geschichte der mittelalterlichen Architektur künden davon. All das braucht Gelehrsamkeit, um die widerständigen und fragmentierten Quellen systematisch zu ordnen, zu rekonstruieren und zu interpretieren. Die Leitdisziplin der sich professionalisierenden und ausweitenden Universität der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die Geschichtswissenschaft. Dazu zählen auch die Kunst- und Architekturgeschichte und in der Folge ein neuer Umgang mit historischen Denkmälern, sowohl in der Denkmalpflege als auch in der Architekturausbildung und -produk tion: »Nur Geschichte allein ist zeitgemäß«,5 lautet das Motto – 5 | Das Motto, ursprünglich Teil eines Bildkommentars des Malers Wilhelm Kaulbach, ist dem Titel des folgenden Tagungsbandes entnommen: Brix, Michael/
Geschichte der Architektur der Geschichte
schließlich gibt es im 19. Jahrhundert kaum ein Bauwerk, das nicht historistisch konzipiert ist. Dieser Historismus gerät bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts in eine Krise, die in dem Umstand begründet liegt, dass die Suche nach den Verläufen der Geschichte weder naturwissenschaftliche Regeln noch moralische oder politische Handlungsanweisungen hervorbringen kann. Insofern scheint Geschichte keine Relevanz für die Gegenwart zu haben. Der gelehrte Historiker wird nunmehr im übertragenen wie im buchstäblichen Sinne zum verstaubten Archivar, zwar ungemein belesen, aber ohne relevantes Wissen für die Gegenwart. Diese Sichtweise geht mit der Überzeugung einher, dass alle Phänomene in der Geschichte der Menschen rein kausal zu erklären sind, und es keine historisch begründbaren Hierarchien von Werten gibt. Diese erscheinen vollständig relativiert, umso mehr, als auch Mythos und Religion als massenpsychologische Phänomene »erklärt« werden und somit »entzaubert« sind. Dieses Problem beschäftigt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts alle sich historisch begründenden Disziplinen, von der Rechtswissenschaft über die Religion und Religionswissenschaft, die allgemeine Geschichte bis hin zur Kunst- und Architekturgeschichte. Markant hat dies Friedrich Nietzsche in seiner Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben 1874 beschrieben.6 Der neue Typus des Historikergelehrten sei zu einem Eunuchen geworden, der sein Gegenüber, die Geschichte, nur verehren, mit ihr aber keine Kinder für die Zukunft zeugen könne. Als Auswege aus dem Dilemma stellt Nietzsche neben die hier verspottete antiquarische Geschichtsschreibung eine »kritische«,7 die aus der Gegenwart heraus das Vergangene beurteilt und bewertet, vor allem aber eine »monumentalische« Geschichtsschreibung, die – die Welt läufe vereinfachend und Steinhauser, Monika (Hg.): »Geschichte allein ist zeitgemäß«. Historismus in Deutschland, Lahn-Giessen: Anabas 1978. Im Buch ist in grundlegender Weise und im Anschluss an Reinhardt Koselleck die Problematik von Geschichtsschreibung und Architektur behandelt. 6 | Vgl. Nietzsche, Friedrich: »Unzeitgemäße Betrachtungen, zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben« [1874], in: Ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe. 3. Abteilung, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–III (1872–1874), hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin/ New York: De Gruyter 1972, S. 239-330. 7 | Ebd., S. 265.
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heroisierend – dem Großen dazu dienen soll, noch größer zu werden und somit unmittelbar auf die Gegenwart zu wirken. Später, etwa bei Max Weber, wird sich die Erkenntnis durchsetzen, dass auch die antiquarische Geschichtsschreibung niemals so neutral und interesselos ist, wie dies lange ihr Anspruch war, sondern immer von einem aktuellen und vital erlebten Heute ihren Blick in die Vergangenheit richtet.8 Die um 1900 virulente Krise des Historismus macht die Konstruiertheit von Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung nachdrücklich bewusst. Wenn aber das Vertrauen in eine ehedem als objektiv gegebene und belastbare große historische Erzählung verloren gegangen ist, so muss dies auch für die auf diesem Paradigma auf bauende historistische Architektur gelten. Maurras’ Auffassung, die von zahlreichen Architekten seiner Zeit geteilt wird, ist als eine Spielart monumentaler Geschichtsschreibung zu sehen: Sie soll ein ewig wirkendes, dynamisch verstandenes Prinzip, dasjenige des »klassischen Geistes«,9 als gegenwärtige Heilsbotschaft darlegen. Sie stellt sich damit gegen die schon zeitgenössisch oft kritisierte antiquarische Haltung, die in der historistischen Architektur manifestiert ist, in der historische Stile zwar oberflächlich gewusst und präzise imitiert werden, ohne dass dabei aber ihre Relevanz für die Gegenwart offengelegt würde. Es ist ein geläufiger Topos der damaligen Architekturkritik, dass die detailgetreue Formenimitation keinerlei gegenwartsbezogene Sinnstiftung leiste, und insofern unverantwortlich und lügnerisch sei. Doch es gibt nicht nur eine Vielfalt an verschiedenen Geschichtsauffassungen. Die unterschiedlichen Verständnisweisen von Geschichte schreiben sich auch in jede einzelne ersonnene oder auch gebaute Architektur ein beziehungsweise werden durch sie mitgestaltet. Denn die Referenz auf Vergangenes in der Architektur setzt voraus, dass die Architekten zumindest implizit über Modelle verfügen, nach denen Geschichte zu beschreiben ist. Aus diesem Grund handelt es sich bei meinen Ausführungen, wie der Titel etwas kalauernd andeutet, nicht 8 | Vgl. Wittkau-Horgby, Annette: Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994; Oexle, Otto Gerhard: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996; Oexle, Otto Gerhard/Rüsen, Jörn (Hg.): Historismus in den Kulturwissenschaften, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1996. 9 | Ch. Maurras: Anthinea, S. 171.
Geschichte der Architektur der Geschichte
um eine »Geschichte der Architektur« oder »Architekturgeschichte«, sondern um eine Art »Geschichte der Architektur der Geschichte« – den Versuch einer Historisierung von Geschichtsauffassungen innerhalb der Architekturgeschichte. Diese Historisierung soll auch als kritischer Kommentar zu den Traditionen unserer Disziplin verstanden werden, die – aus dem Geist des eben angedeuteten antiquarischen Historismus im 19. Jahrhundert geboren – weiterhin vielfach primär formalistisch verfahren, Formenvorbilder oder Formenvergleiche, sogenannte »Kontexte« und vorgängige Leitideen erkunden möchten, ohne zu bedenken, welche Geschichts- und Zeitvorstellungen eigentlich jeweils mit derartigen Bezügen verbunden sind oder über sie aktiviert werden sollen.10
D IE G EGENWART DER V ERGANGENHEIT Die spezifischen Auffassungen von Geschichte zeigen sich bereits im Mittelalter, also in einer Zeit, in der gar kein Konzept von Geschichte beziehungsweise keine Historiographie im modernen Sinne eines von Menschen bewirkten, von Zufällen ebenso wie von Kausalität geprägten und von Menschen dargestellten Gesamtkontinuums existiert. Gleichwohl spielt Geschichtsbewusstsein eine eminente Rolle, da die irdische Zeit als Teil des göttlichen Schöpfungswerks zu verstehen war und ihre interpretierende Beschreibung als Aufdeckung der Offenbarung, der providentia, zu gelten hatte. Insbesondere, wenn die Narration typologisch argumentiert, also Geschehnisse auf vorbildhafte biblische oder mythische Ereignisse beziehen kann, zeigt sich göttliche Vorsehung in Bezug auf die irdische Geschichte. Insofern beruht mittelalterliches Geschichtsbewusstsein nicht auf Alterität zur Gegenwart sondern auf der beständigen »Gegenwart der Vergangenheit«.11 In ihrem selektiven 10 | Vgl. Rüsen, Jörn: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, Köln: Böhlau 2013; Koselleck, Reinhart/Lutz, Heinrich/Rüsen, Jörn (Hg.): Formen der Geschichtsschreibung, München: dtv 1982; Koselleck, Reinhart: »Geschichte«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart: Klett 1975, Bd. 2, S. 593-717. 11 | Goetz, Hans-Werner: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im hohen Mittelalter, Berlin: Akademie Verlag 1999, S. 424. Vgl. Schmale, Franz-
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Charakter ist Geschichtsschreibung im Mittelalter häufig auf Institutionen wie Fürstentümer, Klöster und seit dem späten Mittelalter auch Städte bezogen, deren Anziennität die Stellung der jeweiligen Institution im Heilsplan legitimieren konnte. Auf das architektonische Geschehen bezogen wird so verständlich, dass es eine Reihe programmatischer Bezugnahmen auf ältere Bauten, beispielsweise auf die Jerusalemer Grabeskirche, St. Peter in Rom, die Aachener Pfalzkapelle Karls des Großen oder später, ab dem 13. Jahrhundert, auf berühmte Pariser Architekturen wie etwa die Sainte Chapelle geben konnte. Doch sind solche Referenzen nicht als Anerkennung historischer Epochen, sondern als Nachfolge eines heilsgeschichtlichen exemplum zu verstehen. Zumeist geht es dabei auch nicht primär um die Wiederholung einer architektonischen Form; vielmehr ist diese das Ergebnis einer planvollen Bauinitiative des Bauherren, mit der dieser sich auf eine lobenswerte vorbildliche Person bezieht.12 Auch ein in ein Bauwerk eingeschriebener dezidierter zeitlicher Rückbezug ist als Veranschaulichung von ununterbrochener Kontinuität zu verstehen. Darstellen lässt sich dies etwa für die Kathedrale von Reims (Abb. 2). Der berühmte gotische Neubau aus den Jahren 1207 bis circa 1280 argumentiert in seinem Bildprogramm scheinbar stark »historisch«. Die herausragende Stellung der Metropolitankirche innerhalb seiner Suffragane, der direkte Rombezug sowie das Prärogativ des Reimser Erzbischof, die Salbung und damit Sakralisierung des französischen Monarchen vorzunehmen, und schließlich die kontinuierliche Genealogie der französischen Herrscher sind teilweise redundant ausformuliert. Dabei schwingt eine ekklesiologische Deutung mit, die die Spende des Sakraments der Salbung eng an die Reimser Metropolitankirche bindet. Diese Topoi entstammen insbesondere der von dem Kanoniker Flodoardus in der Mitte des 10. Jahrhunderts verfassten Historia Remensis Ecclesiae.13 Josef: Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Eine Einführung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993. 12 | Vgl. Freigang, Christian: »Imitatio in Gothic Architecture: Forms versus Procedures«, in: Zoë Opacic/Achim Timmermann (Hg.), Architecture, Liturgy and Identity: Liber Amicorum Paul Crossley, Turnhout: Brepols 2011, S. 297-313. 13 | Vgl. Flodoardus Remensis: Historia Remensis Ecclesiae, hg. v. Martina Stratmann, Hannover: Hahn 1998, sowie Sot, Michel: Un historien et son église au Xe siècle: Flodoard de Reims, Paris: Fayard 1993.
Geschichte der Architektur der Geschichte
Abb. 2, Kathedrale von Reims, Westfassade, zweite Hälfte 13. Jahrhundert.
Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Reims_Kathedrale. jpg#mediaviewer/File:Reims_Kathedrale.jpg vom 30. März 2015.
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Die Kathedrale vollendet damit den christlichen Heilsplan, indem sie gleichsam an vorderster Front die apostolische Missionierung der Menschheit betreibt und diese eng auf das französische Königtum bezieht. Mehr noch: Die vorbildhaften Erzbischöfe der Reimser Kirche, Nicasius im 4. Jahrhundert sowie Ebbo und Hinkmar im 9. Jahrhundert, agieren auch als die wesentlichen architektonischen Erbauer der Kirche. Der Neubau fügt sich in diese historische Logik ein, die dank der Zyklen der Reimser Bischöfe und der fränkischen Könige als eine genealogisch kontinuierliche ausgewiesen ist.14 Als Gründerbischof des Neubaus erscheint nunmehr aber, im Glasmalereizyklus des Obergadens des gotischen Neubaus, Henri de Braine (de Dreux, reg. 1227–1240) inmitten eines Apostelkollegiums sowie der Verbildlichungen der Suffraganbischöfe stehend.15 Die historische Dimension erscheint also als eine sich zeitlich immer wieder bestätigende Konstellation. Und somit entspricht es auch dieser Erfüllung des Heilsplans, das Bauwerk, das heißt die Kirche, nach den neuesten Techniken und Formen als Ausdruck höchster Pracht und Festlichkeit zu errichten, die solchermaßen auch die historische Suprematie ausdrückt. Geschichtlichkeit ist insoweit enthalten und ausgedrückt, als sie in der Gegenwärtigkeit des materiellen Gebäudes aufgeht, keinesfalls aber als deren Anderes, Fremdes oder Vergangenes ausgewiesen ist. Anders stellt sich dieses Verhältnis zur Geschichte seit dem 15. Jahrhundert dar. Die Konkurrenz der italienischen Stadtstaaten, aber auch der Ausbau Roms als Zentrum des Christentums befördern nun den Drang, Altehrwürdigkeit und daraus ableitbare Rechte durch einen vielfältigen Bezug auf die Antike zu untermauern. Zu dieser Strategie gehören auch die sogenannte Wiederentdeckung der antik-römischen Baukunst, ihr detailliertes Studium und ihre nun machtvoll einsetzende architektur theoretische Bewertung.16 Was hier beginnt und dem Mittelalter praktisch fremd war, ist die Konzeption von Architektur in ihrer 14 | Vgl. Lillich, Meredith Parsons: »King Solomon in Bed, Archbishop Hincmar, the ›Ordo‹ of 1250, and the Stained-Glass Program of the Nave of Reims Cathedral«, in: Speculum 80 (2005), S. 764-801. 15 | Vgl. Kurmann, Peter: »Französische Bischöfe als Auftraggeber und Stifter von Glasmalereien. Das Kunstwerk als Geschichtsquelle«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 60 (1997), S. 429-450. 16 | Vgl. Günther, Hubertus: Das Studium der antiken Architektur in den Zeichnungen der Hochrenaissance, Tübingen: Wasmuth 1988.
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bildlichen Erscheinung, unabhängig von der Qualität der Techniken und Materialien. Die richtigen Proportionen und Details einiger Schlüsselelemente wie Säulen und Gebälke steigen nunmehr zu einer dank des Bilddrucks rasch kanonisierten Bildersprache der Weltarchitektur auf.17 Die Trias »dorisch, ionisch, korinthisch« etwa dominiert weltweit bis in das 19. Jahrhundert das anspruchsvolle Bauen in europäischer Tradition. Im 15. Jahrhundert ist dies aus einer neuen Form von Geschichtsschreibung legitimiert, die die Historie als Handlungsanleitung für die Gegenwart versteht. Die explizit als renovatio benannte Erneuerung Roms versteht sich als gleichsam familiäre Pflege der Elterngeneration.18 Rom beziehungsweise die Antike gilt als »hinfällige Mutter«, die nunmehr zu verjüngen und zu beleben ist.19 Solches lesen wir schon bei Hildebert von Lavardin oder bei Petrarca, dann bei Flavio Biondo.20 Die augustinische Zweiteilung der Zeitenverläufe in eine himmlisch-überzeitliche und eine untergeordnete irdisch-zeitliche Geschichte beziehungsweise die Einteilung in vier in das römische Reich mündende Weltzeitalter weicht einer neuen Auffassung, der Profangeschichte. Diese versteht sich als unparteiische Beschreibung objektiver Begebenheiten, innerhalb derer der Antike eine unhintergehbare Größe und Integrität zu bescheinigen ist. Die Dreiteilung in Altertum, Mittelalter und Neuzeit fasst die letzte Epoche als Gegenwart, die ihre Verfasstheit aus dem Studium der Antike ableitet. Insofern gehören die neuen Renaissancebauten im Verständnis der Zeit gleichsam der Antike an, sie sind Ausdruck einer bußfertigen Überwindung der barbar ischen Zeit des Mittelalters, nach der nunmehr Gesundung und Verjüngung eintreten kann. Es ist dieser Geschichtsauffassung zu verdanken, dass Leon Battista Alberti eine Art christlichen Triumphbogen als Kirchenfassade in Rimini errichten kann (Abb. 3), oder Donato Bramante einen christianisierten antiken Rundtempel zu Ehren 17 | Vgl. Carpo, Mario: Architecture in the Age of Printing: Orality, Writing, Typography, and Printed Images in the History of Architectural Theory, Cambridge/ London: MIT Press 2001. 18 | Vgl. Muhlack, Ulrich: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München: Beck 1991, S. 164-172. 19 | Heckscher, Wilhelm Sebastian: Die Romruinen. Die geistigen Voraussetzungen ihrer Wertung im Mittelalter und in der Renaissance, Würzburg: Mayr 1936, S. 12. 20 | Vgl. ebd., S. 17-37.
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der Kreuzigungsstätte des heiligen Petrus. Die Zeit zwischen Altertum und Gegenwart wird gleichsam kontrahiert, die Distanz zwischen ihnen aufgehoben. Aus solchen Gründen sind auch in der Traktatliteratur vielfach, etwa bei Serlio oder Palladio, antike und moderne Monumente in einem Zug abgebildet und besprochen.21 Abb. 3, Leon Battista Alberti: San Francesco oder Tempio Malatestiano, Rimini um 1450.
Quelle: Bulgarelli, Massimo, et al. (Hg.): Leon Battista Alberti e l’architettura, Mailand: Silvana Ed. 2006, S. 284. 21 | Vgl. Serlio, Sebastiano: Regole generali di architettura sopra le cinque maniere degli edifici, cio e thoscano, dorico, ionico, corinthio et composito, con gli essempi dell’antiquita, che, per la magior parte concordano con la dottrina di Vitruvio, Venedig: Marcolini da Forli 1537; Palladio, Andrea: I quattro libri dell’architettura, hg. v. Licisco Magagnato u. Paola Marini, Mailand: Il Polifilo 1980 [1570]; Krufft, Hanno Walter: Geschichte der Architekturtheorie, München: Beck 1985.
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Zum Problem wird diese Kontraktion der Architekturgeschichte im Laufe des 16. Jahrhunderts, als das Wissen um die Vielfalt der historischen Architekturen vielschichtiger wird und eine systematische Einordnung in eine Entwicklung, in eine historisch fundierte Chronologie, erfordert. Grundsätzlich divergieren seit der Zeit um 1600 zwei Geschichtsauffassungen. Die angestammte Parallelisierung von Menschheits- und Architekturgeschichte, beides beginnend mit den Stammeltern beziehungsweise der bescheidenen Urhütte und beides in der Antike zu idealer Perfektion geführt, wird in der Querelle des Anciens et des Modernes um 1700 erkenntnistheoretisch problematisiert. Die Frage, ob das Jahrhundert Ludwigs XIV. die antike Perfektion erreicht habe oder sie gar übertreffe, führt nicht nur zur Relativierung von Geschmacksurteilen, sondern auch zur Erkenntnis von grundsätzlich evolutiven, aber nicht geradlinigen und zudem vielfältigen historischen Kontinuen – etwa in der Naturwissenschaft oder in den Künsten – innerhalb der Weltverläufe, die einzig durch raisonnement zu systematisieren seien.22 Dem gegenüber tritt eine gleichsam deszendierende Auffassung: Gott als oberster Architekt habe in der Superarchitektur des Jerusalemer Tempels eine nicht zu überbietende Urarchitektur geschaffen, von der sich das nachfolgende Bauen ableiten ließe. Dessen Entwicklung, die etwa bei Nicolaus Goldmann und Christoph Leonhard Sturm um 1700 ausschweifend beschrieben ist, folge einer göttlich bestimmten historischen Abfolge, die sich insbesondere im Nacheinander der fünf Säulenordnungen – toskanisch, dorisch, ionisch, korinthisch und komposit – nachweisen lasse. Anhand kleinteiligster, haarspalterischer Argumente kann Sturm eine perfekte mathematische wie evolutionäre Ordnung nachweisen, die letztendlich Ausdruck einer göttlich vorbestimmten Weltgeschichte ist. Die Säulenordnungen werden bei ihm vermittels einer Reihe axiomatischer Setzungen so sehr zur Matrix der Weltgeschichte, dass es möglich erscheint, eine sechste Säulenordnung zu deduzieren, die neben den italienschen und griechischen Ordnungen nun auch dem protestantischen »Teutschen Volke« den ihm zukommenden historischen Platz einräumen soll. Die durch göttliches Wirken mathematisch perfekte und in allen Details konstruierte Weltmechanik lasse sich, da sie grundsätzlich einer 22 | Vgl. Perrault, Charles: Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences, eingeleitet von Hans Robert Jauss, München: Eidos 1964.
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naturwissenschaftlichen Gesetzlichkeit folgt, extrapolierend ergänzen beziehungsweise rekonstruieren. Die Säulenordnungen seien eindeutige historische Indikatoren, die – natürlich zeigt sich hier ein Zirkelschluss – die harmonische Ordnung der göttlichen Schöpfung und ihrer Entwicklung erweisen sollen.23
H ISTORISCHE S TILE Eine entscheidende Wende ereignet sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts, als sich der oben umrissene moderne Geschichtsbegriff herausbildet, der sich alsbald in die Idee einer Universalgeschichte umsetzt, die die Welt als komplex kausal vernetztes und zeitlich dynamisches Gebilde zu beschreiben sucht. In bezeichnender Weise haben dabei auch Kunst und Architektur ihren Anteil, der insbesondere durch Winckelmann in der ersten Universalgeschichte der Kunst formuliert wurde.24 Das führt aber nicht, wie bisweilen zu lesen, zur Entwertung ästhetischer Kanones, sondern vielmehr zu einer neuen semantischen Aufladbarkeit von historischen Stilen. Sie gelten nunmehr als Resultate und Metonymien komplexer historischer Konstellationen. Vor allem aber wird in ihnen die grundsätzliche Trennung von historischem Objekt und inter pretierendem Subjekt deutlich, die im Zuge der modernen Geschichtsschreibung aktiviert wurde. Das bildet den Hintergrund für die spezifische Debattenkultur des architektonischen Historismus mit ihren zahlreichen Wettbewerben, Konkurrenzentwürfen und der einsetzenden Architekturkritik und -publizistik. Jedwede Architektur ist nunmehr in der Geschichte zu verorten, in der sie als das Resultat komplizierter, aber bedeutungsvoller und politisch zu verstehender Zusammenhänge erscheint. Als Beispiel für diese neue Sichtweise soll die Umgestaltung Münchens, als relativ neuer königlicher Kapitale unter Ludwig I., zu 23 | Vgl. Freigang, Christian: »Göttliche Ordnung und nationale Zeitgemäßheit: Die Querelle des Anciens et des Modernes in der deutschen Architekturtheorie um 1700«, in: Sylvia Heudecker/Dirk Niefanger/Jörg Wesche (Hg.), Kulturelle Orientierung um 1700. Traditionen, Programme, konzeptionelle Vielfalt, Tübingen: Niemeyer 2004, S. 122-142. 24 | Vgl. Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Altertums, Dresden: Walther’sche Hofbuchhandlung 1764.
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einem wahren Geschichts- beziehungsweise Architekturgeschichtsmuseum dienen. Der Monarch lässt nicht nur drei programmatische Museen als Präsentationsorte der Geschichte der Kunst errichten, die Glyptothek für die Antiken, die Alte Pinakothek für die älteren Gemälde, die Neue Pinakothek für die jüngeren Schulen. Zahlreiche historistische Bauten bestimmen darüber hinaus die umfassenden Stadterweiter ungen unter Ludwig, darunter der sogenannte Königsbau der Residenz, der repräsentative Wohnflügel des Monarchen, der sich mit seiner Neorenaissancefassade plakativ der Altstadt Münchens zuwendet (Abb. 4). Mit der Anspielung auf den Palazzo Pitti in Florenz soll sich das Mäzenatentum der Medici mit dem fördernden Wirken des bayrischen Königs verbinden. Die Hofkapelle folgt hingegen süditalienischen Modellen, eine Erinnerung an den Grand Tour des gebildeten Königs und zugleich an die Glanzzeit deutscher Herrscher in Italien. Der Festsaaltrakt im Norden paraphrasiert palladianische Modelle als Rahmen gediegener Festlichkeit. Das Siegestor am Ende der neu angelegten Ludwigsstraße rekurriert nun sowohl auf römische Triumphbögen auf dem Forum romanum wie auf ihre Reflexe in dem Pariser Arc du Caroussel. Das Ensemble um den Königsplatz mit den Propyläen und der Glyptothek wiederum resultiert aus genauen archäologischen Studien des Architekten Leo von Klenze und beansprucht insgesamt, einen Ort höchster Zivilisation als angemessenen Rahmen für die verehrten Antiken zu evozieren. Man könnte die Aufzählung mit anderen Monumenten fortsetzen, der Feldherrnhalle, der Ludwigskirche und so weiter. Insgesamt ergibt sich eine eigenartige Gemengelage unterschiedlicher historischer Referenzen mit vielfältigsten Assoziationen. Anhand der Münchener Architekturen des frühen 19. Jahrhunderts wäre gleichsam eine Geschichte der Welt zu erzählen, eine Geschichte, die keine herausgehobene Epoche betont, sondern Vielfalt kennt: attische Demokratie, römisches Weltreich, deutsch-italisches Kaisertum, florentinische Kommune, barockes Italien (in Form der schon älteren Theatinerkirche), aufgeklärtes England, Napoleon und die Befreiungskriege. Hinzu kommen in den bildlichen Ausstattungsprogrammen die bayrische Landesgeschichte sowie der Nibelungenstoff.25 25 | Vgl. Romantik und Restauration. Architektur in Bayern zur Zeit Ludwigs I. 1825–1848. Ausstellung der Architektursammlung der Technischen Universität München und des Münchner Stadtmuseums in Verbindung mit dem Zentralinstitut
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Abb. 4, Leo von Klenze: Königsbau der Residenz, München 1826–1835.
Photographie: Christian Freigang.
Insgesamt ist auffällig, dass all diese Bauten urbanistisch prominent inszeniert sind und in den meisten Fällen öffentlichen Institutionen dienen. Sie rechnen mit der historischen Bildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit, um in ihren Aussagen verstanden zu werden, und legitimieren gleichzeitig die Notwendigkeit allgemeiner Bildung. Wenn an der Ludwigstraße die Staatsbibliothek und die Universitätsbauten entstehen, dann zeigt das in signifikanter Weise den Konnex zwischen Geschichtswissenschaft, Bürgertum und historistischer Architektur. Auch wenn die theoretische Geschichtsauffassung Ludwigs beziehungsweise seiner Architekten Leo von Klenze und Friedrich von Gärtner nicht einfach zu definieren ist, so zeugen die von ihnen in Auftrag gegebenen beziehungsweise erbauten Architekturen von der eminent didaktischen Funktion einer universalen Geschichte, die – ganz im Stile der historischen Romane der Zeit – mit unendlich vielen Erzählungen aufzufüllen ist: der tragischen Geschichte des Stauferkaisers Friedrich II., dem Aufstieg und Fall der Medici-Familie oder den bedrohlichen Eroberungszügen Napoleons. Darin liegt aber zugleich der Keim zur Auflösung des Historismus, der auf einer »großen Erzählung« beruht, die eindeutig mit den Bauwerken verbunden werden kann. Sobald sich indes Geschichtserzählungen nicht mehr eindeutig auf Bauwerke projizieren lassen – für die Geschichte des für Kunstgeschichte [München, Münchner Stadtmuseum, 27. Februar – 24. Mai 1987], hg. v. Winfried Nerdinger, München: Prestel 1987.
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Proletariats gibt es zum Beispiel keine heroischen Vorbildbauten –, sobald Geschichtsschreibung ihre identitätsstiftende Funktion verliert – etwa, weil sie sich als falsch oder irrelevant erweist – und sobald historische Stilreferenzen zu beliebig verwendbaren Klischees werden, muss der Bezug von Architektur auf Geschichte neu geregelt werden. Dies geschieht, wie am Beispiel Maurras’ ausgeführt, etwa dadurch, dass strukturelle Relationen zwischen Form und Inhalt eines Gebäudes in eine archetypisch wirksame Überzeitlichkeit – etwa des »griechischen Geistes« – überführt werden.
D IE A BWICKLUNG DER G ESCHICHTE Man mag einwenden, dass die eingangs dargestellte hymnische Verehr ung des Parthenon durch einen herausragenden Vertreter der antiparlamentarischen Fundamentalopposition nichts Besonderes sei, weil ein jeder die griechische Architektur der Antike als Spitzenwerk, damals wie heute, einstufen würde. Aber solche Einstellungen lassen sich nicht einfach als Klischees entwerten. Es geht vielmehr darum, solche Klischees zu kontextualisieren, gerade in Bezug auf differierende Geschichtsauffassungen. Ganz anders als die universalistischen und holistischen Vereinnahmungen des Parthenon geht beispielsweise Le Corbusiers Präsentation des antiken Bauwerks vor. In seiner Epoche machenden Schrift Vers une architecture proklamiert er einen technokratischen Utilitarismus, der insbesondere auf das Wohnen des Menschen fokussiert ist, das – dank neuer technisch-konstruktiver Möglichkeiten sowie rationeller und standardisierter Montagetechniken des Hauses unter Beachtung ökonomischer Parameter – vor allem essenzielle biologische Funktionen zu erfüllen habe. Die ästhetische Befriedigung wird nicht länger sentimental erinnernden Stilformen und Ornamenten überlassen, sondern direkt erfahrbaren, geometrisch gereinigten Formen und Farben sowie dem Faszinosum der Maschine, die absolute Gegenwart erst erlebbar macht. Die »Wohnmaschine« ist insofern ein typisches Produkt dieser Theorie. Von zweckgerichteter Funktionalität, lässt sie sich immer weiter verbessern und erneuern, ungeachtet belastender sentimentaler Erinnerungen an Formen, Traditionen, Geschichte, Nation oder Mythos. In einer berühmten Bildmetapher parallelisiert Le Corbusier in diesem Zusammenhang die Entwicklung des griechischen Tempels, der im Athener Parthenon
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gipfelt (Abb. 5), mit der Veränderung der Formen von Automobilen. Die Evolution der antiken Architektur wird hier explizit als Produktselektion aufgefasst, deren modernes Pendant die faszinierende Maschine – Autos, Flugzeuge, Ozeandampfer und eben auch Häuser – seien beziehungsweise sein sollten. Die Provokation beruht nicht allein auf der respektlosen Kombination von ehrwürdigem Bauwerk und banaler Maschine, sondern ebenso auf der abschätzigen Präsentation der Abbildungen des Athener Parthenon: Diese sind von minderwertigster Druckqualität und vor allem ganz offensichtlich zu Fragmenten zerschnitten, auf verschiedene Seiten verteilt oder, alle graphischen und typographischen Regeln außer Acht lassend, gekippt wiedergegeben. Abb. 5, Doppelseite mit Parthenon und Propyläen.
Quelle: Le Corbusier: Vers une architecture, Paris: Ed. Crès 1924, S. 166-167.
Die respektlose Parthenonrezeption als Produktselektion – und nicht als historische Referenz/Reverenz – geht mit einer völlig fragmentierten Geschichtsdarstellung einher, die sich nicht nur hier zeigt, sondern das Gesamtwerk von Le Corbusier durchzieht. Vers une architecture rekurriert immerhin auf die griechische und römische Antike, das islamische Bauen, Altpersien und Michelangelo, unterschlägt aber die gesamte Tradition
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des europäischen – und insbesondere des französischen – Bauens, um dann paukenschlagartig eigene Villenbauten als kompletten Neubeginn der Architektur zu proklamieren. Tradition und Kontinuität sind nurmehr in offensichtlichen Klischees oder respektlosen Pervertierungen präsent, die Lücken zwischen den Epochen sind riesig, die Intonierung eines kompletten Neuanfangs in Form von vergleichsweise bescheidenen Wohnbauten eine groteske Maßstabslosigkeit. Einige Grundtheoreme der älteren Geschichtswissenschaft sind dabei zwar überdeutlich präsent, wie das Lernen aus modellhaften Lösungen, aber zugleich werden in provozierender Eitelkeit neue Akzente gesetzt: Produktselektion statt vollendete Harmonie gemäß dem historisch kontinuierlichen Prinzip der imitatio naturae. Die Abwicklung der Geschichte ist hier also vollständig im Gange. Der Versuch, aus dem historistischen Paradigma zu entkommen, wird generell zum Kennzeichen der Moderne, die unter anderen bei Walter Gropius, Ludwig Hilberseimer, Hannes Meyer und Ernst May vorwiegend anthropologisch, unter Bezug auf angebliche Grundbedürfnisse des Menschen, argumentiert und konzipiert. Diese Auffassungen kollidieren allerdings in bezeichnender Weise mit den Vorstellungen einer Weltarchitektur, wie sie im Programm für den Völkerbundpalast an den Ufern des Genfer Sees von 1926 wirksam wurde. Als Resultat des Wettbewerbs errichtete von 1932 bis 1937 ein internationales Architektenteam um Paul Nénot und Julien Flegenheimer innerhalb eines arkadischen Parkgrundstückes ein monumentales neoklassizistisches Gebäude, das den Anspruch erhob, das harmonische Zusammenwirken der Völker der Erde architektonisch auszudrücken (Abb. 6). Der monumentale Klassizismus, dessen sich die Architekten bedienten, wurde in der zeitgenössischen Diskussion zwar einerseits als eine Art synthetisierende Weltarchitektur präsentiert, die die Typologien einer starken Festung, eines Tempels von lyrischer Anmut und eines staat lichen Palasts vereine. Andererseits wurden dabei die griechisch-mediterranen Referenzen besonders herausgestellt. Klassizismus, überhistorische Kontinuität und mittelmeerische Kultur formulieren eine in die Zukunft fortschreibbare longue durée: keine Geschichte, sondern das Axiom einer ewig sich perfektionierenden Zivilisation. Noch 30 Jahre zuvor hätte man für eine vergleichbare Bauaufgabe wohl eher ein Super-Pasticcio entworfen. Konträr zu Nénot und Flegenheimer versteht sich der ebenfalls prämierte, aber nicht weiter verfolgte Entwurf von Le Corbusier. Colla-
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geartig sind einige architekturhistorische Verweise gegeben: barocke Flügelbauten, ein skulpturales Denkmal am Haupteingang. Vor allem aber werden vielfältige anthropologische und funktionalistische Faktoren ins Feld geführt, um eben dadurch dem Anspruch einer übernationalen, von allen divergierenden regionalen Traditionen befreiten Architektur gerecht zu werden. Abb. 6, Julien Flegenheimer und Paul Nénot: Verwaltungsgebäude der UNO (ehemaliger Völkerbundpalast), Genf 1927–1937.
Quelle: Archiv Christian Freigang.
Die im Zusammenhang des Völkerbundpalastes ausgetragenen Diskurse sind durchaus Teil des Historismusdilemmas und können auf dessen Lösungsversuch durch Max Weber bezogen werden.26 Dieser Versuch beruht darauf, historisches Erkennen und werteorientiertes Handeln voneinander zu trennen beziehungsweise in einer Wechselwirkung zu begreifen. Erkennen ist insofern nur für begrenzte Bereiche der Vergangenheit möglich, historische Erkenntnis kann für sich also ihre Relevanz für das 26 | Vgl. Weber, Max: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis« [1904], in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr-Siebeck 1973, S. 146-214.
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Heute gar nicht begründen, sondern es obliegt anderen Bereichen, zum Beispiel Religion und Ethik, Normen zu setzen, denen sich ein Kollektiv unabhängig von wissenschaftlichen Begründungen unterwirft. Diese Akzeptanz allerdings geschieht durch die wertorientierte Konstruktion von idealtypischen Begriffen in der Geschichte. Letztendlich ist also historische Erkenntnis dauernde Spiegelung des eigenen aktuellen Handelns in der Gegenwart. Eben solche Muster lassen sich bei Le Corbusier und anderen modernen Entwürfen nachverfolgen: Die Herauslösung aus dem historischen Paradigma antwortet auf die autoritäre, gleichwohl vergebliche Normsetzung, wie sie das penetrant klassizistisch ausgeführte Gebäude vorgibt, und fordert stattdessen die Unterwerfung unter anthropologisch begründete Normen. Absolut ist die geschichtsvergessende Moderne dennoch nicht, denn sie funktioniert nur in ihrer provokativen Absetzung vom historistischen Paradigma, das als Hintergrundfolie immer erkennbar bleiben muss, um als sentimental, ungesund, verlogen und irrelevant geächtet und somit auf Distanz gehalten zu werden. Von diesem historistischen Paradigma wird die Moderne außerdem umgehend wieder eingeholt: Le Corbusier und seinesgleichen sind natürlich sehr schnell Geschichte geworden, mit eigenen Erzählungen, Mythen, Traditionen und Symbolen.
Z EITGENÖSSISCHE E NT WICKLUNGEN Die Bedeutung von Geschichtskonstruktionen lässt sich auch für die Gegenwart trefflich veranschaulichen. Signature buildings und Themenparks in den global cities bedienen sich häufig bildgewordener Stereotypen – etwa von Venedig oder Paris – aus dem Reservoir einer populären Weltgeschichte. Wenn in Deutschland der Architekt Christoph Mäckler an vielen Orten neue Hochhausbauten – etwa den Frankfurter Opernturm oder das Zoofenster in Berlin – errichtet, so kann er sich der positiven Kommentare fast sicher sein. Dies gilt vor allem deshalb, weil es sich um renditebewusste Investorenarchitektur handelt, die zugleich eine nachhaltige Stadtreparatur verspricht. Mäcklers Bauten nehmen beispielsweise auf das alte Konzept der Korridorstraße Rücksicht, auf Blickachsen und Proportionen, legen Wert auf ein gediegenes Äußeres und vor allem auf historische Anbindungen insbesondere an die Wolkenkratzer der zwanziger und dreißiger Jahre in den USA. Für Mäckler werden damit
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dauerhafte und bewährte Kriterien des Städtebaus erfüllt und außerdem denkmalpflegerische Maßnahmen der Stadtsanierung realisiert. Für die Kritiker sind hier Klischees einer als gesund und elegant, zugleich als leistungsstark und solide konnotierten Kulturschicht aktiviert und damit der Rahmen für einen attraktiven Investitionsmix gesetzt, der auf die »gute alte Zeit« der »Roaring Twenties« abhebt.27 Auffälligerweise beherbergt der Frankfurter Turm eine Schweizer Bankgesellschaft und eine Kaufhauskette, die sich den Remakes von Haushaltsartikeln der Vorkriegszeit sehr erfolgreich verschrieben hat. In Berlin wird das Gebäude von einem Luxushotel mit alter Tradition und der Nachfolgeeinrichtung des während der Weimarer Republik berühmten Romanischen Cafés genutzt. In solchen Strategien zeigen sich die Unterschiede zu den Geschichtsauffassungen, die beispielsweise in der Münchener Ludwigstraße oder dem Théâtre des Champs Elysées wirksam wurden (Abb. 4 + 1). Geschichte erscheint bei Mäckler als Fundus von global verfügbaren, entkontextualisierten Images. Zu solchen gehören ebenso das deutsche Altstadt-Fachwerkhaus, das alpenländische Bauernhaus, die überkuppelte Moschee und eben auch der amerikanische Wolkenkratzer: Supersymbole einer Geschichte der Architektur der Geschichte.
L ITER ATUR Borsi, Franco: Die monumentale Ordnung. Architektur in Europa 1929–1939, Stuttgart: Hatje 1987. Brix, Michael/Steinhauser, Monika (Hg.): »Geschichte allein ist zeitgemäß«. Historismus in Deutschland, Lahn-Giessen: Anabas 1978. Bulgarelli, Massimo, et al. (Hg.): Leon Battista Alberti e l’architettura, Mailand: Silvana Ed. 2006. Carpo, Mario: Architecture in the Age of Printing: Orality, Writing, Typography, and Printed Images in the History of Architectural Theory, Cambridge/London: MIT Press 2001.
27 | Vgl. Dauss, Markus: »Innovative ›Höchstwerte‹? Hochhausbau und -abriss in ›Mainhattan‹«, in: Christian Freigang/Markus Dauss (Hg.), Das »neue Frankfurt«. Innovationen in der Frankfurter Kunst vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Frankfurt a.M.: Kramer 2010, S. 124-143.
Geschichte der Architektur der Geschichte
Dauss, Markus: »Innovative ›Höchstwerte‹? Hochhausbau und -abriss in ›Mainhattan‹«, in: Christian Freigang/Markus Dauss (Hg.), Das »neue Frankfurt«. Innovationen in der Frankfurter Kunst vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Frankfurt a.M.: Kramer 2010, S. 124-143. Flodoardus Remensis: Historia Remensis Ecclesiae, hg. v. Martina Stratmann, Hannover: Hahn 1998. Freigang, Christian: Auguste Perret, die Architekturdebatte und die »Konservative Revolution« in Frankreich 1900–1930, Berlin/München: Deutscher Kunstverlag 2003. — »Göttliche Ordnung und nationale Zeitgemäßheit: Die Querelle des Anciens et des Modernes in der deutschen Architekturtheorie um 1700«, in: Sylvia Heudecker/Dirk Niefanger/Jörg Wesche (Hg.), Kulturelle Orientierung um 1700. Traditionen, Programme, konzeptionelle Vielfalt, Tübingen: Niemeyer 2004, S. 122-142. — »Imitatio in Gothic Architecture: Forms versus Procedures«, in: Zoë Opacic/Achim Timmermann (Hg.), Architecture, Liturgy and Identity: Liber Amicorum Paul Crossley, Turnhout: Brepols 2011, S. 297-313. Goetz, Hans-Werner: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im hohen Mittelalter, Berlin: Akademie Verlag 1999. Günther, Hubertus: Das Studium der antiken Architektur in den Zeichnungen der Hochrenaissance, Tübingen: Wasmuth 1988. Heckscher, Wilhelm Sebastian: Die Romruinen. Die geistigen Voraussetzungen ihrer Wertung im Mittelalter und in der Renaissance, Würzburg: Mayr 1936. Koselleck, Reinhart/Lutz, Heinrich/Rüsen, Jörn (Hg.): Formen der Geschichtsschreibung, München: dtv 1982. Koselleck, Reinhart: »Geschichte«, in: Otto Brunner/Werner Conze/ Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart: Klett 1975, Bd. 2, S. 593-717. Krufft, Hanno Walter: Geschichte der Architekturtheorie, München: Beck 1985. Kurmann, Peter: »Französische Bischöfe als Auftraggeber und Stifter von Glasmalereien. Das Kunstwerk als Geschichtsquelle«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 60 (1997), S. 429-450. Le Corbusier: Vers une architecture, Paris: Ed. Crès 1924.
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Lillich, Meredith Parsons: »King Solomon in Bed, Archbishop Hincmar, the ›Ordo‹ of 1250, and the Stained-Glass Program of the Nave of Reims Cathedral«, in: Speculum 80 (2005), S. 764-801. Maurras, Charles: Anthinea. D’Athènes à Florence, Paris: Juven 1901, wieder abgedruckt in: Ders., Oeuvres capitales. Bd. 1: Sous le signe de Minerve, Paris: Flammarion 1954, S. 167-257. Muhlack, Ulrich: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München: Beck 1991. Nietzsche, Friedrich: »Unzeitgemäße Betrachtungen, zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben« [1874], in: Ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe. 3. Abteilung, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–III (1872–1874), hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin/New York: De Gruyter 1972, S. 239-330. Oexle, Otto Gerhard/Rüsen, Jörn (Hg.): Historismus in den Kulturwissenschaften, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1996. Oexle, Otto Gerhard: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. Palladio, Andrea: I quattro libri dell’architettura, hg. v. Licisco Magagnato u. Paola Marini, Mailand: Il Polifilo 1980 [1570]. Perrault, Charles: Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences, eingeleitet von Hans Robert Jauss, München: Eidos 1964. Romantik und Restauration. Architektur in Bayern zur Zeit Ludwigs I. 1825– 1848. Ausstellung der Architektursammlung der Technischen Universität München und des Münchner Stadtmuseums in Verbindung mit dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte [München, Münchner Stadtmuseum, 27. Februar – 24. Mai 1987], hg. v. Winfried Nerdinger, München: Prestel 1987. Rüsen, Jörn: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, Köln: Böhlau 2013. Schmale, Franz-Josef: Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Eine Einführung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993. Serlio, Sebastiano: Regole generali di architettura sopra le cinque maniere degli edifici, cio e thoscano, dorico, ionico, corinthio et composito, con gli essempi dell’antiquita, che, per la magior parte concordano con la dottrina di Vitruvio, Venedig: Marcolini da Forli 1537.
Geschichte der Architektur der Geschichte
Sot, Michel: Un historien et son église au Xe siècle: Flodoard de Reims, Paris: Fayard 1993. Weber, Max: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis« [1904], in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr-Siebeck 1973, S. 146-214. Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Altertums, Dresden: Walther’sche Hof buchhandlung 1764. Wittkau-Horgby, Annette: Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994.
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Philosophie
Zur Phänomenologie des architektonischen Raumes Bernhard Waldenfels
B AUEN UND W OHNEN Eine Phänomenologie, die sich auf die verschiedenartigen Höhen und Tiefen der Erfahrung einlässt, kann nicht umhin, Fragen der Architektur bis auf den Wechselbezug von Wohnen und Bauen zurückzuverfolgen. Heideggers Vortragstitel Bauen Wohnen Denken aus dem Jahre 1951 liefert nach wie vor entscheidende Stichworte, selbst wenn die Art der Reihung und deren etymologische Abstützung eine Menge Fragen aufwirft.1 Es gibt eine Standardauffassung, die nicht ganz abwegig, aber doch unzulänglich ist. Man geht aus von Bauten, die von Architekten und von Baufirmen errichtet werden und späteren Bewohnern und Benutzern zugutekommen. Das jeweilige Gebäude besteht aus geformten Materialien, die über den realen Nutzeffekt hinaus ästhetische, symbolische, politische oder religiöse Bedeutungsüberschüsse aufweisen. Ähnlich 1 | Mit bodennahen Kernsätzen wie »Bauen ist eigentlich Wohnen«, »Nur wenn wir das Wohnen vermögen, können wir bauen« (veranschaulicht durch einen Schwarzwaldhof) oder »Das Wohnen aber ist der Grundzug des Seins«, die in diesem Vortragstext zu finden sind, kann ich mich nicht anfreunden (Heidegger, Martin: »Bauen Wohnen Denken«, in: Ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen: Neske 1954, S. 145-162, hier S. 148, 161 [Hervorhebung im Original]). Einen Versuch, Heidegger für die Architekturdebatte der Gegenwart fruchtbar zu machen, unternehmen die Autoren des Bandes: Führ, Eduard (Hg.): Bauen und Wohnen/Building and Dwelling. Martin Heideggers Grundlegung einer Phänomenologie der Architektur, Münster: Waxmann 2000.
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wie in der Literaturwissenschaft wird man dann zwischen Produktionsund Rezeptionsarchitektonik unterscheiden. Versteht man Architektur mit Aristoteles als eine zielorientierte Handlung, so liegt der Primat beim Gebrauch, da dieser darüber entscheidet, ob und wieweit das Produkt seine Dienste erfüllt. Ein unbewohnbares Haus wäre ein Unhaus. Ästhetik und Technik sind dabei im Zeichen einer einheitlichen techne oder ars vereint. Diese allseitige Kunst besteht in erster Linie aus einer Kunstfertigkeit, die der Natur nacheifert und sie vollendet. Geht man dagegen mit Kant und der Moderne von einem kreativen Schaffen aus, das seine Formen nach eigenen Regeln entwirft, so löst sich die Baukunst von der Bautechnik. Das Schöne und das Nützliche bilden verschiedene Register und gehen ihre eigenen Wege. Das nutznießende Subjekt teilt sich auf in Kunstbetrachter und Werkbenutzer. Das Verhältnis bleibt gespannt, es kann sich bis zur Kluft vertiefen. So erklärt Adolf Loos angesichts einer autonomen und ornamental ausufernden Baukunst: »Das Haus hat allen zu gefallen. Im Unterschied zum Kunstwerk. Das Kunstwerk ist eine Privatangelegenheit des Künstlers. Das Haus ist es nicht.«2 Die kunstfertige Herstellung, die sich am Gebrauch orientiert, löst sich ab von der künstlerischen Gestaltung, die dem Kunstgenuss dient. Dies ist eine Debatte, die seit den Zeiten des Werkbundes nicht mehr verstummt ist, inzwischen aber zu mannigfachen Revisionen geführt hat.3 Was uns hier interessiert, ist jedoch die Frage, welche Revisionen sich ergeben, wenn die Baukunst wie erstmals bei August Schmarsow ausdrücklich als Raumkunst gefasst und am »Meridian unseres Leibes« ausgerichtet wird.4 Offensichtlich ändert sich die Sichtweise, sobald der Raum nicht mehr bloß als ein spezifischer Aspekt von herzustellenden und zu benutzenden Werkobjekten angesehen wird, sondern als ein 2 | Loos, Adolf: »Architektur« [1910], in: Ders., Über Architektur. Ausgewählte Schriften. Die Originaltexte, hg. v. Adolf Opel, Wien: Prachner 1995, S. 75-86, hier S. 84. 3 | Ich verweise auf meinen auf einer Münchener Tagung des Deutschen Werkbundes gehaltenen Vortrag »Spielräume von Kunst und Technik«, in: Bernhard Waldenfels, Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 86-99. 4 | Schmarsow, August: Das Wesen der architektonischen Schöpfung, Leipzig: Hiersemann 1894, S. 15.
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Medium, in dem sich das Bauen und Wohnen selbst vollzieht. Doch alles hängt davon ab, wie die Räumlichkeit und mit ihr das Wohnen und Bauen gedacht wird. Es genügt nicht, einen spatial turn auszurufen. Phänomenologen können auf eine lange Tradition zurückblicken, die sich allerdings auf neue technische, mediale und geopolitische Bedingungen einstellen muss.5 An dieser Stelle begnüge ich mich jedoch damit, diese Problematik auf den speziellen Charakter der architektonischen Räumlichkeit zuzuspitzen.
O RT UND R AUM Wie alle Erfahrung, so läuft auch die Raumerfahrung Gefahr, hinter einem »Ideenkleid« zu verschwinden, noch bevor sie sich als solche enthüllt hat.6 Diese Gefahr vermeiden wir, wenn wir von der Frage »Wo?« ausgehen, die eine Kette weiterer Fragen wie »Woher, Wohin, Worin oder Wieweit?« nach sich zieht. Eine solche Orientierungsfrage stellt eine »Urfrage« dar, vergleichbar dem Goethe’schen »Urphänomen« oder der Freud’schen »Urszene«. Ihre Ursprünglichkeit erweist sich darin, dass wir sie nicht aus anderen Fragen herleiten können und dass sie sich allein mit Ortsangaben beantworten lässt. Die Wo-Frage ist nicht zu verwechseln mit der geradezu kanonischen Was-ist-Frage, als wäre der originäre Raum ein vorstellbares und herstellbares Etwas, sei es ein Fluss, ein Artefakt oder eines der heute so beliebten Konstrukte. Selbst wenn wir über den Raum sprechen, sprechen wir von irgendwoher über den Raum. Aber auch die Wer-Frage steht nicht am Anfang, als stünde hinter jeder Räumlichkeit ein Subjekt, das den Raum konstituiert. Im Gegenteil, wenn Soziologen von space identity sprechen, 5 | Ich selbst habe dies anderswo versucht. Vgl. Waldenfels, Bernhard: »Architektur am Leitfaden des Leibes«, in: Ders., Sinnesschwellen, S. 200-215, sowie die Anfangskapitel in Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, hier beispielsweise Kapitel 3: »Leibliches Wohnen im Raum«, S. 65-94. 6 | Vgl. hierzu Husserls Dekonstruktion mathematisch-physikalischer »Substruktionen«: Husserl, Edmund: Husserliana. Gesammelte Werke. Bd. 6: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, hg. v. Walter Biemel, Den Haag: Nijhoff 1954, S. 52.
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so tun sie dies in der Annahme, dass Wer- und Was-Fragen, die sich in den Grenzen der Erfahrung bewegen, niemals völlig unabhängig von der Wo-Frage zu beantworten sind. Allerdings schleppen wir ein cartesianisches Erbe mit uns herum, das die räumlichen Urtatsachen verdunkelt. Die Dualität von res cogitans und res extensa führt zur Alternative eines Jemand, der als denkendes Wesen nirgendwo ist, und eines leeren Raumes als einem Behälter, in dem niemand und nichts an seinem Platz ist und alles nur irgendwo an einer Stelle des homogenen und isotropen Raumes vorkommt. Auch Bauten wären dann letzten Endes Raumschachteln, die nach Belieben angefüllt und von niemandem als zugehörig erfahren werden. Sie wären im strengen Sinne unbewohnbar. Dazu passt Kierkegaards Vorwurf an die Adresse der Systemphilosophen, man baue Paläste aus Ideen, wohne aber in der Hütte nebenan. Ähnliches ließe sich einer ungezügelten Raumplanung vorwerfen. Bauen und Wohnen klaffen auseinander, wenn die Wo-Frage übersprungen wird. Diese Tendenz wird verstärkt durch eine unbeschränkte Raumvermarktung, innerhalb derer Immobilien hin- und hergeschoben werden wie Figuren auf einem Schachbrett. Die Ökonomisierung des Wohnraums entspricht der Mathematisierung der Natur; die Wirkungen sind ähnlich, wenn formale Spielregeln und Spielbedeutungen für die Sache selbst genommen werden. Der Wohnwert eines Hauses oder Gebäudes verwandelt sich auf diese Weise in einen Marktwert, der sich ohne Anbindung an einen Wohn- oder Arbeitsplatz berechnen und verwalten lässt. Doch die Frage »Wo?« ist von Anfang an nicht eindeutig zu beantworten. Wo bin ich, wo bist du? Die Antwort »Ich bin hier« verweist auf den Ort, an dem die Rede stattfindet und der Redende situiert ist. Dieser Ort ist Zentrum eines »hodologischen Raumes«, wie Kurt Lewin ihn genannt hat.7 Er ist umgeben von einem Umfeld, er ist Knotenpunkt eines Wegenetzes, er ist von anderen Orten mehr oder weniger entfernt und von dort aus mehr oder weniger schnell zu erreichen. Er kann einen Namen tragen wie Berlin und eine Adresse wie Fasanenstraße 73. Was den Ort speziell als Ort (topos, locus) auszeichnet, ist der Bezug auf jemanden, der oder die sich dort befindet, und zwar mit Anderen; selbst das Alleinsein löscht den Bezug auf Andere nicht aus. Dieser Ort kann als vorübergehender Aufenthaltsort dienen, er kann sich als Wohnsitz oder Arbeitsplatz 7 | Vgl. Lewin, Kurt: »Der Richtungsbegriff in der Psychologie. Der spezielle und allgemeine hodologische Raum«, in: Psychologische Forschung 19 (1934), S. 249-299.
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etablieren, und er bietet sich zugleich als ein Raum an, wo Gäste empfangen werden. Der so verstandene Ort fungiert als Orientierungszentrum eines gelebten Raumes. Er umfasst auch Tiere, Pflanzen und Dinge, die sich auf je eigene Weise mit uns an einem gemeinsamen Ort befinden. Die Frage »Wo?« kann aber auch beantwortet werden durch Angabe einer Stelle in einem Raum (spatium), in dem etwas vorkommt und in den etwas eingeordnet wird. Dieser zerteilte Raum bildet ein Bezugsnetz, das beliebig anzusetzende Raumpunkte äußerlich miteinander verknüpft. Dass etwas ›im Raum‹ vorkommt, besagt jedoch nicht, dass es ›an einem Ort‹ oder auch ›an seinem Ort‹ ist. Der geometrisch vermessene Raum bildet, wie schon gesagt, einen homogenen Raum, in dem nichts hier und alles nur irgendwo ist. Er hat eine messbare Ausdehnung wie der Flächeninhalt einer Wohnung oder eines Grundstücks, und er hält einen messbaren Abstand zu anderen Raumeinheiten, der sich beispielsweise in der berechenbaren Wohndichte niederschlägt. Der geometrische Raum hat drei Dimensionen, er verläuft in die Breite, in die Höhe und in die Tiefe. Doch diese Tiefe ist keine erfahrene Tiefe; eine solche gibt es nur für jemanden, der sich selbst im Raum befindet, sodass sich etwas auf ihn zu- und von ihm wegbewegt.8 Diese Verdoppelung des Raumes in Ort und Raum führt allerdings auf cartesianische Bahnen zurück, wenn man ihr eine Dualität von psychischem, subjektivem Innenraum und physischem, objektivem Außenraum unterlegt. Ich selbst spreche deshalb von einem Ortsraum, wenn es darum geht, nicht die Räumlichkeit insgesamt, sondern die Polarität von Ort und Raum zum Ausdruck zu bringen. Die Spannung zwischen beiden Polen kann bis zu pathologischen Spaltungsprozessen führen. So nähert sich die Agoraphobie einem Außenraum ohne Innenraum, die Klaustrophobie einem Innenraum ohne Außenraum. Im größeren Maßstab betrifft dies die Dissoziation von Lokalem und Globalem: Das Lokale ohne Globales führt zur Fixierung auf das Hier, das Globale ohne Lokales zur Verflüchtigung des Hier.9 In Anknüpfung an Helmuth Plessners geläufige Unterscheidung von Leibsein und Körperhaben können wir feststellen: Ich bin an meinem Ort, aber ich 8 | Vgl. B. Waldenfels: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen, S. 55, und zum Folgenden ebd., Kapitel 2: »Polarität von Ort und Raum«, S. 31-64. 9 | Michel Serres macht demgegenüber den Versuch, Globalität und Lokalität des Raumes neu auszubalancieren. Vgl. Serres, Michel: Atlas, Berlin: Merve 2005.
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habe Raum. Der Ortsraum entspricht dann dem, was sich im Deutschen mit einem zusammengesetzten Wort als Leibkörper bezeichnen lässt. Der Ortsraum fungiert ähnlich wie der Leibkörper als »Umschlagstelle«,10 an der lebensweltlicher Ort und vermessener Raum ineinander übergehen. Im Alltag begegnet uns ein solcher Übergang, wenn wir bei der Orientierungssuche den roten Punkt auf dem Lageplan mit dem eigenen Standort koordinieren oder auf der Karte die Lage der eigenen Wohnung oder eines Amtsgebäudes ausfindig machen. Wie sich darin bereits andeutet, unterliegt auch der architektonische Raum der besagten Polarität, dies aber auf spezielle und verwickelte Weise.11
B AUPL ÄT ZE Wir neigen dazu, bei der Betrachtung des architektonischen Raumes von fertigen Bauten auszugehen, die sich vor unseren Augen erheben, die als Raumgebilde errichtet wurden und seitdem bewohnt oder benutzt werden. Doch damit überspringen wir den Vorgang des Bauens, der selbst seinen Ort hat. Dieser Ort bestimmt sich einerseits als Bauplatz, andererseits als künftiger Wohnplatz, und beide Platzsorten haben ihren Ort in
10 | Husserl benutzt diesen Ausdruck zur Beschreibung der Doppelsichtigkeit des Leibes als gelebter Leib und als materielles Körperding. Vgl. Husserl, Edmund: Husserliana. Gesammelte Werke. Bd. 4: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, hg. v. Marly Biemel, Den Haag: Nijhoff 1952, S. 286. 11 | Bei der folgenden grundlegenden Erörterung des architektonischen Raumes beziehe ich mich vorwiegend auf Wohnräume und Wohnhäuser. Doch das Gesagte ließe sich auf dem Wege einer imaginativen Variation auch auf Werkstätten, Fabriken, Geschäftshäuser, Amtsgebäude, Schulen, Museen und Kultbauten beziehen sowie auf den öffentlichen Raum, dem Ludger Schwarte einen zentralen Platz einräumt (vgl. Schwarte, Ludger: Philosophie der Architektur, München: Fink 2009). Hinzu käme die Streubreite interkultureller Varianten. Verwiesen sei auf einen von Susanne Hauser, Christa Kamleithner und Roland Meyer herausgegebenen Band: Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften. Bd. 1: Zur Ästhetik des sozialen Raumes, Bielefeld: transcript 2011, der sich mit seinen breitgefächerten Debatten an einem erweiterten Architekturbegriff orientiert.
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der Lebenswelt.12 Auf den Gedanken, von einer gleichsam präarchitektonischen Ursituation auszugehen, brachte mich der amerikanische Architekt Steven Holl, dessen Bauentwürfe in starkem Maße von der Phänomenologie der Leiblichkeit und Räumlichkeit beeinflusst sind. In einem seiner Gespräche erwähnt er, wie er sich durch die Lektüre von MerleauPonty dazu inspiriert fühlte, die tiefe Einzigartigkeit eines jeden Ortes, sein Licht, sein Aussehen, seinen Geruch, sein farbliches Ambiente, seine Geschichte oder, besser gesagt, seine vielfältigen Geschichten zu erfassen. Mir wurde klar, dass jeder Platz [site] auf der Erde ein verschiedener Ausgangspunkt war […], dazu geeignet, uns auf neue Weise zu verbinden, so wie unsere Leiber sich durch ihn hindurch bewegen und wie er sich durch unsere Leiber hindurch bewegt.13
An anderer Stelle heißt es: »Die Architektur sieht sich herausgefordert, sowohl unsere innere wie unsere äußere Wahrnehmung zu stimulieren; die phänomenale Erfahrung zu steigern und gleichzeitig Bedeutung auszudrücken; und diese Dualität zu entfalten in Antwort auf die Besonderheiten von Lage [site] und Umständen.«14 Das englische Wort site, das die Lage eines Gebäudes, aber auch speziell den Bauplatz bezeichnet, erinnert an den lateinischen Ausdruck situs, der auf wechselnde Weise die relative Positionierung der Dinge im Raum wiedergibt.15 Er ist in den anthropologischen Begriff der »Situati12 | Herder bezeichnet die Erde insgesamt als »unsern Wohnplatz«: Herder, Johann Gottfried: Werke. Bd. 3.1: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, hg. v. Wolfgang Pross, München: Hanser 2002, S. 27. 13 | Gespräch von 1998 mit Jeffrey Kipnis: »Una conversación con Steven Holl/A Conversation with Steven Holl« [1998], in: Steven Holl 1986–2003, Madrid: El Croquis 2003, S. 36-47, hier S. 42 [Übersetzung B. W.]. 14 | Holl, Steven: »Cuestiones de percepción/Questions of Perception«, in: Steven Holl 1986–2003, S. 88-89, hier S. 89 [Übersetzung B. W.]. 15 | Die Bedeutung dieses Terms wandelt sich im Zuge verschiedener Raumauffassungen von Aristoteles bis zu Descartes, Leibniz und Kant; sie spielt aber auch in der mathematischen Topologie als »Nachbarschaft« oder »Umgebung« eine besondere Rolle. Zur Korrektur der klassischen Geometrie durch eine Topologie, die sich bis auf Leibnizens analysis situs zurückverfolgen lässt, vgl. M. Serres: Atlas, S. 67, 70.
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on« eingegangen. Entscheidend ist dabei, dass die Lage keine bloße räumliche Relation bezeichnet, sondern selbst orts- und raumbildend auftritt und als günstige oder ungünstige Lage eine eigene Qualität entfaltet.16 Einer ähnlichen Ausrichtung folgt der Medien- und Lichtkünstler Mischa Kuball, indem er seine Projekte von spezifischen Orten her entwickelt wie erst jüngst wieder im Umfeld der Bochumer Jahrhunderthalle. In einem Interview erklärt er: »Ich gehe in den meisten Fällen über die Analyse des Ortes an ein Projekt heran. Da habe ich nicht das mögliche Medium im Kopf, sondern die Frage, was kann man hier machen: Oft sind ja die Orte mehrfach determiniert […].«17 Peter Weibel kommentiert dieses Vorgehen wie folgt: Mischa Kuball hat es verstanden, dass Licht immer eine Inszenierung und Dramatisierung bedeutet und dass dort, wo inszeniert und konstruiert wird, das Leben zur Bühne wird. Im Raum des Lichts wird das gesamte Leben zu einer öffentlichen Bühne, im Zeitalter der Medien mehr denn je.18
Der Bauplatz ist also der Ort, wo das Bauen geschieht. Aus einem potenziellen wird ein aktueller Wohnplatz. Bewohner ziehen oder treten in ein Gebäude ein, das als Haus errichtet wurde. Die Örtlichkeit des Bauplatzes zeichnet sich aus durch spezielle Aspekte, aus denen die allgemeine lebensweltliche Erfahrung hervorscheint. (1) Der Bauplatz ist ein Fundort. Er liegt nicht von vornherein fest, sondern wird herausgefunden. Er macht sich von sich aus bemerkbar, indem er zum Bauen auffordert. Aufforderungsqualitäten, die von der Gestalttheorie allen sinnlichen Gestalten zugesprochen werden, machen auch vor der Eigenart des Ortes nicht halt. Der Ort spricht zu jedem, der Steven Holl zufolge einen lebendigen Ortssinn entwickelt und nicht bloß 16 | Zur Bedeutung von Situation und Lage für architektonische Entwürfe vgl. Hahn, Achim: Architekturtheorie. Wohnen, Entwerfen, Bauen, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2008, S. 88-91. Bei der Berufung auf Erich Rothackers Antropologie, die den »Lebensstil« als »Totalantwort auf die Lage« begreift (ebd., S. 251), schrecke ich allerdings zurück. 17 | Matzner, Florian: »Vorwort«, in: Mischa Kuball, … in progress. Projekte/Projects 1980–2007, hg. v. Florian Matzner, Ostfildern: Hatje Cantz 2007, S. 12-13, hier S. 12. 18 | Ebd., S. 12-13.
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Raumschablonen anlegt. Das Finden hat seiner Natur nach etwas Pathisches, und ein Bauen, das solche Funde nutzt, hat etwas Responsives. Das Bauen geht von einem Ort aus, an dem der Bauende so wenig präsent war, wie wir je an unserem Geburtsort präsent waren. Wer glaubt, er sei schon am Fundort gewesen, findet nur, was er in die Erfahrung hineingelegt hat. Fund- oder Geburtsorte haben wie alles, was uns überraschend zustößt, den zeitlichen Index eines »Schon-da«, das sich erst nachträglich in ein »Hier« und »Jetzt« verwandelt. In alten Gründungs- und Bausagen, die auf ein Initiationsereignis zurückgehen,19 wird immer wieder von bedeutsamen Vorfällen berichtet. Da hält das Pferd an einer Stelle an, da bricht eine Quelle hervor, da kommt eine wunderbare Erscheinung zu Gesicht, und es fehlt auch nicht an schlechten Vorzeichen, die den Baubeginn verzögern. Narrative Märchenphantasien umkleiden das Überraschende solcher Funde, sie rufen die Grenzen der normalen Bauplanung ins Gedächtnis. Tyche lässt sich nicht völlig in Techne verwandeln. (2) Die Angebote, die von einem Bauplatz ausgehen, eröffnen variable Spielräume. Zu den Vorgaben gehören die Bodenbeschaffenheit, die geographische Fluss- oder Höhenlage, die Verteilung von Sonne und Schatten, der Wettereinfluss, die Gefahr von Erdschäden oder Erdbeben, die Nähe zum Arbeitsplatz, die Dichte der Verkehrsanschlüsse und vieles mehr. Die Vorgaben des Bauplatzes springen besonders ins Auge in exponierten Lagen wie die der Akropolis, die sich als Oberstadt über die gewöhnliche Stadt erhebt, oder in der Insellage der Pariser Île de la cité. Kirchen wie die Münchener Asam-Kirche zwängen sich förmlich in die Häuserzeile, sodass sich ihre himmlischen Triumphe ganz nach innen verlagern. Die Hufeisensiedlung, die Bruno Taut in Berlin-Neukölln anlegte, umkreist eine Mulde mit einem Rasen und einem Pfuhl in der Mitte und besteht aus Häuserzeilen mit wiederkehrenden Farb- und Formmotiven. Es gibt aber auch Ebenen, in denen Häuser sich ungehindert aufreihen wie Bleisoldaten. In den wechselnden Bauvorhaben wer19 | Das Initiatorische des Bauaktes wird besonders deutlich in dem griechischen Verb Ѩ֡ѣًџўѢѦ, das sich von dem Substantiv Ѩ֡ѣѨѪ herleitet; es bedeutet zugleich einen Ort »bewohnbar machen«, ihn »bebauen« und eine Niederlassung »gründen«. Zu den Akten des »Gründens« und des »Einrichtens«, die eine fundamentalere Rolle spielen als bloße Raumkonstruktionen, vgl. L. Schwarte: Philosophie der Architektur, S. 45-48, 88-102.
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den räumliche Vorgaben in Raumgebilde umgesetzt. Das Gelände wird bebaut und später bewohnt, es wird nicht selbst erbaut wie eine Brücke oder abgebaut wie Bodenschätze. Selbst wenn Bauten ins Meer hinein verpflanzt werden, muss der Meeresboden mitwirken. Das gilt schon für die alten Pfahlbauten, die sich in ihrem Stelzengang auf das flüssige Element einlassen. So liegt Venedig nicht nur am Meer, sondern auch im Meer. Die Wohnung, in der man wohnt, grenzt sich auf mannigfache Weise von einer Umwelt ab, die mitbewohnt wird. Der Zusammenhang von oikos und Ökologie ist nicht nur verbal. (3) Die Beschaffenheit des Bauplatzes ist weder völlig natürlich noch völlig künstlich, doch der Anteil an Natürlichkeit und Künstlichkeit wechselt. Das eine Extrem besteht aus höhlenartigen Behausungen wie die frühzeitlichen Höhlen; aus halbzivilisatorischen Randsiedlungen wie die brasilianischen Favelas, die sich gleich Kletterpflanzen den Hang hinaufziehen; aus Squatter-Siedlungen, die sich in asiatischen Megastädten einnisten; aus tiefen Straßenschluchten, in denen das Höhlenartige als zweite Natur wiederkehrt. Das andere Extrem bilden Fertighäuser, die irgendwo abgesetzt werden und erst bei individueller Nutzung das Fertige ablegen, oder Reißbrettstädte, die gleich Le Corbusiers glücklicherweise nicht gebauter »City« mit Paris reinen Tisch machen. Doch selbst extreme Eingriffe können den Austausch von Natürlichem und Künstlichem nicht völlig stilllegen. So wirken die rigorosen Straßenschneisen von Haussmann inzwischen wie Narben, die als Grands Boulevards den Stadtkörper zeichnen, ohne ihn zu verunstalten. Im Ruhrgebiet erleben wir auf dem Gelände der Essener Zeche Zollverein, wie die Natur mit ihrer Fauna die Industrieanlagen überwächst und eigentümliche Hybride und Biotope erzeugt. Das Museum Zentrum Paul Klee in Bern wurde von Renzo Piano derart in die Landschaft eingepasst, dass geschwungene Glaswände in Grashänge übergehen. Bauplätze lassen sich zum Glück nicht gänzlich zubauen. Sie bleiben lückenhaft, konfliktträchtig und rebellisch.
R AUMMODELLE UND R AUMSKIZ ZEN Betrachten wir nun das Bauen selbst als einen Prozess, der nicht nur von Bauplätzen ausgeht, sondern selbst Raumgebilde entstehen lässt. Hierbei unterscheiden wir zwischen Entwurf und Ausführung. Doch wenn es zutrifft, dass das Bauen eine Vorgeschichte hat, so ist nicht zu erwarten,
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dass der anfängliche Entwurf und die weitere Ausführung zwei säuberlich getrennte Phasen bilden.20 Zuvörderst ist der entworfene Raum ein virtueller Raum. Vorausgesetzt ist der gelebte Raum mit seinem aktuellen Hier und seinen potenziellen Dorts. Die Raumhorizonte, die das Hier umgeben, sind keine Zutaten, sondern Implikate einer raumerschließenden Bewegung. Wer hier ist, ist auf gewisse Weise auch dort, wo er war und wo er vielleicht einmal sein wird. Der aktuell durchlebte Raum verwandelt sich insgesamt in einen möglichen Raum, wenn das Hier als mögliches Zentrum andersartiger Raumkonstellationen aufscheint und ein imaginärer Als-ob-Raum zum Vorschein kommt. Hier öffnet sich ein Reich von Raumphantasien, die von Tag- und Nachträumen bis zu den Produkten poetischer und künstlerischer Einbildungskraft reichen.21 Schließlich mischt sich die mathematische Bauberechnung ein. Das jeweilige Hier lässt sich dekontextualisieren und homologisieren, sodass es sich in einen beliebigen Raumpunkt verwandelt. Dies geschieht derart, dass ein flächiger Grundriss oder Aufriss angefertigt und ein dreidimensionales Raummodell erstellt wird. Doch in einem solchen Modell kann man sich nicht leiblich bewegen. Man kann sich nur vorstellen, dass man sich darin bewegt, indem man so tut, als ob man sich an einer Stelle dieses Raumes befände. Die imaginative Situierung im Raum wird gesteigert durch dreidimensionale Computersimulationen, die es uns erlauben, nicht nur in den möglichen Raum hineinzublicken, sondern, ausgerüstet mit Datenhandschuhen und Datenhelmen, in den Raum hineinzugehen und in ihm zu hantieren. So kommt es zur technischen Realisierung 20 | In der Theorie, die Hahn entfaltet, wird das Entwerfen zwar gebührend gewürdigt (vgl. A. Hahn: Architekturtheorie, S. 178-205), aber in eine Handlungsteleologie gepresst. Das architektonische Herstellen von »Lebens-Mitteln« und das Wohnen als Gebrauchen dieser Mittel bilden dementsprechend eine geradlinige Handlungsfolge (vgl. ebd., S. 171-174). Schwarte warnt zu Recht vor einer »Planungsideologie der Architektur«, die in Anlehnung an traditionelle Handlungskonzepte Architektur als »Inbegriff des Könnens« begreift (L. Schwarte: Philosophie der Architektur, S. 342). 21 | Gaston Bachelard betont das Werk der Imagination, indem er das Haus geradezu als »corps d’images«, als »Verkörperung von Bildern« präsentiert: Bachelard, Gaston: La poétique de l’espace, Paris: Presses Universitaires de France 1957, S. 34. Vgl. auch die deutsche Ausgabe, hier übersetzt als »Verband von Bildern«: Poetik des Raumes, übers. v. Kurt Leonhard, Frankfurt a.M.: Fischer 1987, S. 43.
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eines virtuellen Raumes, der eine Quasi-Tiefe aufweist. Doch der virtuelle Raum verschmilzt nicht mit dem wirklich und leibhaft gelebten Raum; die Schnittfläche zwischen wirklichem und virtuellem Raum lässt sich nicht selbst wieder dem virtuellen Raum einverleiben, ohne dass die Virtualität hinfällig wird. Hier haben wir ein Beispiel für die oben erwähnte leibkörperliche Umschlagstelle, die das Phantasma eines »Ego-Tunnel« untergräbt. Abgesehen von der unvermeidlichen Virtualität beschränkt sich der Raumentwurf auf Raumskizzen, die lediglich typische Merkmale und Bezugsgrößen festhalten. Dazu gehört die Gestaltung der Fassade, die Form des Daches, die Anordnung der Zimmer, der Einbau von Treppen oder die Anordnung der Fenster. Eine komplette Darstellung müsste die materielle Ausführung in allen Einzelheiten miteinbeziehen, sie wäre kein Raumentwurf mehr. Skizzen sind stets unfertig. Man plant ein Haus, nicht dieses Haus. Die Singularität, die gewisse Bauwerke wie die Villa Savoye von Le Corbusier, die Kathedrale von Amiens oder den Riyoanji-Tempel in Kyoto auszeichnet, ist eine Überschussqualität, die nicht mit der Individualität eines Baus gleichzusetzen ist. Raumskizzen können ähnlich wie Malskizzen eine eigene Qualität entfalten, da sie Raummöglichkeiten andeuten, die über die gebaute Wirklichkeit hinausgehen. Man sieht, was sein könnte. Auch die Produktivität der Architektur bedarf eines »Möglichkeitssinns«. Schließlich gehört zum Raumentwurf die Berechnung; der geplante Raum ist ein metrisierter Raum. Die konkrete Raumorientierung, die sich mit der ungefähren Abschätzung von Größe und Reichweite, von Nähe und Ferne und mit Graden der Belastbarkeit begnügt, weicht messbaren Ausdehnungen, Strecken, Abständen und Gewichtungen. Allerdings hat die Genauigkeit ihre Grenzen. »Ein Ideal der Genauigkeit ist nicht vorgesehen […].«22 Auch Le Corbusiers Modulor orientiert sich an einer Standardgröße des menschlichen Körpers. Ferner hängt es von der Art der Ausführung ab, auf welche Weise und in welchem Umfang Messdaten verwendet werden. Es gibt leiblich fundierte Größeneindrücke, deren Wirkung sich nicht exakt errechnen, sondern lediglich mit mathematischen Größen korrelieren lässt wie im Falle des Golde22 | Wittgenstein, Ludwig: »Philosophische Untersuchungen«, in: Ders., Schriften. Bd. 1: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1960, S. 279-544, hier S. 336, Nr. 88 [Hervorhebung im Original].
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nen Schnitts, dessen Wirkung sich nur indirekt bemerkbar macht. Deshalb ist auch gegenüber den Versprechungen der Neuroästhetik Skepsis angebracht.
H ERGESTELLTE R AUMGEBILDE Gehen wir von der Bauplanung zur Ausführung über, so stehen wir vor der Frage, inwieweit Orte, an denen sich jemand befindet, und Räume, in denen etwas lokalisiert wird, überhaupt hergestellt werden können. Wenn Orte und Räume darüber bestimmen, wo etwas ist, so können sie nicht selbst wiederum irgendwo sein, ohne dass der Raum sich in eine unendliche Abfolge von Spiegelsälen verflüchtigt. Wenn also Räume nicht selbst etwas Reales sind, so können sie auch nicht hergestellt werden, wie man einen Würfel herstellt. Wie aber steht es dann mit Teilräumen wie Zimmer, Stockwerke oder Gefängniszellen, die sich offensichtlich individuell abzählen und bezeichnen lassen? Offensichtlich antworten sie nicht anders als das Gesamtgebäude auf die Frage, wo sich jemand befindet oder wo etwas untergebracht ist. Dies bedeutet, dass Teilräume keine realen Stücke sind, sondern dass die Bezüge zwischen den Einzelräumen selbst einen räumlichen Charakter annehmen. Die Vielzahl von Räumen lässt sich also nicht herstellen in der Art, wie man Stiel und Kopf eines Hammers oder Schrauben und Kolben einer Maschine Stück für Stück herstellt. Was hergestellt wird, sind raumbildende Dinge, die einen Raum mit entstehen lassen. Auf solch indirekte Weise löst sich das Paradox einer Herstellung von Nichtherstellbarem. Der Raum ist keine bloße Form wie der Behälterraum, der nur mit Realien gefüllt wird, oder wie der transzendentale Raum, der als reine Anschauungsform lediglich materiale Gegebenheiten des äußeren Sinnes ordnet. Der Raum ist aber ebenso wenig ein reales Ding wie das Gefäß oder eine reale Eigenschaft wie Farbe undGröße eines Tisches. Der Raum besteht in nichts anderem als dem Nebeneinander, Über- und Untereinander, Vor- und Hintereinander, Außer- und Ineinander lokalisierter Entitäten. Diese Relationen finden ihren sprachlichen Ausdruck in Verhältniswörtern wie »neben«, »auf«, »unter«, »vor«, »hinter«, »innerhalb« und »außerhalb«. Dabei handelt es sich keineswegs um reine Relationen, deren Relata sich allein aus der jeweiligen Relation bestimmen, vielmehr beziehen sie sich allesamt auf einen leiblichen Nullpunkt und auf eine sprachliche Origo, von wo aus
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polare Bestimmungen wie oben/unten, vorn/hinten und rechts/links ihre konkrete Bedeutung erhalten.23 Insofern verweisen räumliche Beziehungen samt und sonders auf einen Ort, von dem aus sie sich entfalten. Dazu gehören leibliche Präferenzen wie der aufrechte Gang, der frontale Charakter des Gesichts oder der unterschiedliche Gebrauch von rechter und linker Hand. Diese Präferenzen kehren in der Statik der Bauten oder in der Unterscheidung von Fassade und Rückwand wieder, allerdings mit baustilistischen Varianten, in denen sich die Vielfalt historischer Epochen und einzelner Kulturen widerspiegelt. Hinzu kommen soziale Faktoren, so etwa die Fixierung im Raum durch symbolische »Drehpunkte«, die zur Individuierung des Ortes beitragen.24 Der indirekte Charakter einer Raumbildung, die über raumbildende Dinge läuft, kommt darin zum Ausdruck, dass alle maßgeblichen Bauteile doppelgesichtig auftreten. Wände bestehen aus Backstein, Holz, Mörtel, Beton oder Glas, sie weisen eine bestimmte Flächenform und Flächengröße auf, sie haben eine bestimmte Dicke und Durchlässigkeit. Doch das Material, aus dem die Wand besteht, und die Form, die sie annimmt, schaffen noch keine Wand. Ein Stein- oder Holzgebilde fungiert erst als Wand, sofern es dazu dient, das Diesseits eines Innenraums gegen das Jenseits eines Außenraums abzugrenzen. Hauswände schirmen die Bewohner gegen die Außentemperatur, gegen den Straßenlärm ab; sie halten aber auch fremde Blicke fern und schränken die allgemeine Zugänglichkeit des öffentlichen Raumes ein. Diese konstitutive Differenz von Innen und Außen schließt nicht aus, dass das Hausinnere sich öffnet wie in den neapolitanischen Gassen, die sich in gemeinsame Wohnzimmer, offene Gesprächsnischen und Wäschegirlanden verwandeln, oder dass Hauswände als öffentliche Anzeigetafel dienen, auf denen der Tod der Nachbarn oder alltägliche Ortsgeschehnisse kundgetan werden. Darüber hinaus können mobile Stellwände eingesetzt werden wie in traditionellen japanischen Häusern. Die Geradlinigkeit der Wände kann aufgelockert 23 | Zum Nullpunkt der Orientierung vgl. E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie, Zweites Buch, S. 158; zur Origo vgl. Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart: Fischer 1982, S. 102-120, § 7. 24 | Vgl. Simmel, Georg: »Soziologie des Raumes« [1903], in: Ders., Gesamtausgabe. Bd. 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, hg. v. Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt u. Otthein Rammstedt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 132-183, insb. S. 146-154.
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werden durch Schrägen oder Rundungen wie bei Mansarden und Turmzimmern. All diesen Varianten ist gemeinsam, dass Wände eine Grenze ziehen zwischen einem Innenbereich des Eigenen und einem Außenbereich des Fremden. Diese Zweiteilung unterliegt einer Asymmetrie. Drinnen und Draußen lassen sich nicht gegeneinander vertauschen wie zwei Seiten einer Medaille. Das Innere ist markiert, wie es in der Systemtheorie heißt, und zwar deswegen, weil das Äußere sich vom Inneren her als dessen Äußeres konstituiert. Der sprichwörtliche Ausdruck »Zwischen den eigenen vier Wänden« drückt eine Wahrheit aus, die im Leibinneren ihre Entsprechung findet. Wände gleichen der Haut, die zugleich als Grenz- und Kontaktzone fungiert.25 Der Austausch von Innen und Außen ist auf Öffnungen angewiesen, die einen ähnlichen Doppelcharakter aufweisen wie die zugehörigen Wände. Fenster und Türen sind gerahmt, sie lassen sich öffnen und verschließen. Von Tür zu Tor, von Erkerfenster zu Dachluke weitet und verengt sich der Radius der Offenheit. Doch eine Mauerlücke dient erst als Tür und als Fenster, wenn es Wesen gibt, die ein- und ausgehen, die Einblick gewähren und Ausblick suchen.26 Gardinen drosseln den Ein- und Ausblick, ähnlich wie Augenwimpern es tun. Man kann aber auch auf Blickabschirmungen verzichten wie im Falle traditioneller 25 | Ich verweise auf meine Ausführungen zu Tasten und Berühren in: Bruchlinien der Erfahrung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, Kapitel 2: »Berührung aus der Ferne«, S. 64-98. Zur Asymmetrie von Drinnen und Draußen vgl. meine Ausführungen in Der Stachel des Fremden, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, Kapitel 2: »Eigenes und Fremdes«, S. 43-82, sowie in Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen, S. 76-80; vgl. außerdem G. Bachelard: Poetik des Raumes, Kapitel 9: »Die Dialektik des Draußen und des Drinnen«, S. 211-228. 26 | Mit seiner Bemerkung, Fenster seien fast ausschließlich für das Hinaussehen, nicht für das Hineinsehen da, verlässt Georg Simmel sich zu sehr auf das, was er das »teleologische Gefühl« nennt, vgl. Simmel, Georg: »Brücke und Tür« [1909], in: Ders., Gesamtausgabe. Bd. 12: Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918, hg. v. Rüdiger Kramme u. Angela Rammstedt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 55-61, hier S. 59. Dass die Betrachtung anderer Menschen ex fenestra in Descartes’ Zweiter Meditation einen Automatenverdacht auslöst, sollte uns nachdenklich stimmen. Jedenfalls verdienen Motive wie Tür und Fenster besondere Aufmerksamkeit, mitsamt ihrer Metaphorik, die von Albertis Blick durch das Bildfenster bis zu Leibnizens fensterlosen Monaden reicht.
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holländischer Wohnhäuser, die ihr Inneres bildartig zur Schau stellen, als gebe es nichts zu verbergen. Fenster und Türen sind Zwischendinge, die sich als Schwelle betätigen. Ein Haus nähert sich dem Gefängnis, ein Gebäude dem Festungsbau, wenn der Schwellenverkehr stockt oder unterbunden wird.27 Ein Gebäude, das bewohnt und benutzt wird, ist nicht denkbar ohne den Boden unter den Füßen und ohne die Decke über dem Kopf. Schon in dieser schlichten Formulierung deutet sich an, dass der Fußboden mehr bedeutet als eine Befestigung von Kacheln und Fliesen und ein Auslegen von Teppichen, und dass bloße Mörtelschichten oder Balkengefüge noch keine Zimmerdecke ergeben. Etwas bildet sich erst als Boden, wenn es als Geh- oder Standfläche dient, und etwas wird erst zur Decke, wenn jemand zu ihr auf blickt oder sich unter ihr geborgen fühlt. Der Blick nach unten kann durch Bodenmosaiken oder wie bei der Berliner Künstlerin Eva Koethen durch überraschende Bodenbilder aufgehalten werden; der Blick nach oben kann durch Deckengemälde in himmlische Fernen entführt werden. Die Decke kann aber auch so bedrückend auf den Bewohnern lasten, dass sie ihnen geradezu auf den Kopf fällt. Zu Wohn- und Arbeitsräumen gehört eine Innenausstattung, darunter der Farbanstrich der Wände und die Verteilung von Geräten, Möbeln und Garnituren jeglicher Art. Ein Raum wird zum Wohnraum mit der Verteilung von Einrichtungsstücken, die den Raum mehr oder weniger füllen und ihm eine Gestalt verleihen. Fülle und Leere sind nicht zu verwechseln mit dem Vorhandensein einer abzählbaren Menge von Dingen, die einen Raumbehälter anfüllen oder entleeren. Fülle und Leere sind Qualitäten des Raumes, an dessen Ausgestaltung die Dinge als stille Mitbewohner beteiligt sind. Räume können den Eindruck zu großer Fülle oder aber zu großer Leere erwecken, gemessen an den Ansprüchen und Bedürfnissen der Bewohner. Eine überbelegte Wohnkaserne oder ein vollgestopftes Wohnzimmer lässt den Bewohnern und den Wohndingen wenig Platz für ein Eigenleben. Jeder bewohnbare Raum braucht Freiräume, Atemräume. Was die Leere der Räume angeht, so ist sie ambivalent wie die Wüste. Sie kann als Mangel und als Ausdruck der Vereinsamung erlebt werden, aber auch als schweigende Leere, die Stimmen weckt. 27 | Zum Schwellenmotiv vgl. Achilles, Jochen/Borgards, Roland/Burrichter, Brigitte (Hg.): Liminale Anthropologien, Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, darin mein Beitrag »Fremdheitsschwellen«, S. 15-27.
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C HIASMA VON W OHNEN UND B AUEN Bauen und Wohnen gehen ihre eigenen Wege, doch diese sind nicht völlig getrennt. Wenn es einen lebensweltlichen Ursprungsort gibt, der sich zugleich als Wohnplatz und als Bauplatz anbietet, so bedeutet dies, dass Wohnen und Bauen von Anfang an miteinander verflochten sind. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft, wie sie sich schon im zweiten Buch von Platons Politeia abzeichnet, löst sich die Herstellung von Bedarfsdingen von deren Nutzung. Doch daraus folgt nicht, dass Bauen und Wohnen oder Wohnen und Bauen aufeinander folgen wie zwei unabhängige Phasen. Nehmen wir also an, dass sich das Wohnen an einem Ort abspielt, an dem sich die Bewohner befinden, und dass das Bauen Raumgebilde herstellt, in denen künftige Bewohner ihre Bleibe finden,28 so stellt sich erneut die Frage, wie bewohnter Ort und gebauter Raum ineinandergreifen oder, anders gesagt, wie der Hiatus zwischen gelebtem Raum und gebauter Welt zu überbrücken ist.29 Damit kehren wir zurück zu der komplexen Verbindung, die wir als Ortsraum bezeichnet haben. Zur Klärung dieser komplexen Einheit eignet sich die Figur des Chiasma und, verwandt damit, die des Chiasmus. Beide Ausdrücke leiten sich her von dem griechischen Buchstaben chi. Während der physiologische Ausdruck »Chiasma« das Überkreuz der Sehnerven im Gehirn bezeichnet, bezieht sich die rhetorische Figur des »Chiasmus« auf die kreuzartige Stellung zweier Satzglieder. Merleau-Ponty macht sich diese Ausdrücke ebenso wie das Motiv des Geflechts zunutze, um die Verquickung von Innen und Außen im Verhältnis von Leib und Welt, von eigenem und fremdem Leib oder von Aktivität 28 | Vgl. den französischen Ausdruck demeure, der sich von dem Verb demeurer (= wohnen, bleiben) herleitet. 29 | Ich empfehle als architektonisches Pendant zu diesen Überlegungen eine neuere Untersuchung von Hebert, Saskia: Gebaute Welt/Gelebter Raum. Vom möglichen Nutzen einer phänomenologischen Raumtheorie für die städtebauliche Praxis, Berlin: Jovis 2012. Wie der Untertitel ankündigt, geht es um die architektonische Umsetzung phänomenologisch gewonnener Einsichten; siehe besonders das Kapitel »Gräben und Brücken: Praxistransfer«, S. 113-132. Die Autorin nutzt als Erprobungsfeld die Siedlung Halle-Neustadt, indem sie das spezifische »Expertenwissen« der Bewohnerinnen und Bewohner und deren Wohngeschichte mit einfließen lässt.
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und Passivität zu kennzeichnen. Das französische Wort entrelacs gewinnt eine architekturnahe Bedeutung mit der Bezeichnung der verschlungenen Bänder, die romanische Kapitelle durchziehen. Für alle diese Fälle gilt, dass sich eines im anderen findet, ohne sich mit dem anderen zu decken.30 Der Architekt Steven Holl bezog sich ausdrücklich auf Merleau-Ponty, als er dem Museum für Gegenwartskunst, das in den neunziger Jahren in Helsinki entstand, den Namen Kiasma gab. Die Wege, die in das Gebäude hineinführen und sich durch den Bau hindurchwinden, sind schneckenförmig ineinander verschlungen. Gekrümmte Wände ziehen den Raum nach innen; Galerien überlappen sich. Der Besucher sieht sich noch dort, wo er soeben war. Der Innenblick kehrt sich nach außen, der Außenblick nach innen. Der Betrachter ist nie ganz hier, sondern immer auch anderswo. Hier zeigt sich, wie dem Bauen ein Denken innewohnt, das sich mit einem Denken in Bildern vergleichen lässt. Das Chiasma von Wohnen und Bauen, um das es uns geht, lässt sich in beiden Richtungen beschreiben; eines kippt sozusagen in das andere über, sodass örtliche Situationen sich in räumliche Konstellationen verwandeln und umgekehrt.31 Zunächst vollzieht sich das Bauen durch das künftige Wohnen hindurch. Wie wir gesehen haben, lässt sich die Räumlichkeit als solche nicht herstellen; sie entsteht erst damit, dass raumbildende Dinge hergestellt werden. Der daraus resultierende Überschuss an Räumlichkeit entspringt einer Anforderung, die dem Bauenden von den künftigen Bewohnern her entgegenschlägt, wenngleich in der Regel auf anonyme und typische Weise.32 Der Bauende baut zuallererst nicht 30 | Vgl. hierzu Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare, übers. v. Regula Giuliani u. Bernhard Waldenfels, München: Fink 1986, S. 274 [mit Bezugnahme auf Paul Valéry], wie auch S. 328-333. Husserl spricht schlicht von einem »Ineinander«. Mehr dazu in Waldenfels, Bernhard: Deutsch-Französische Gedankengänge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, Kapitel 20: »Verflechtung und Trennung. Wege zwischen Merleau-Ponty und Levinas«, S. 346-382. 31 | Das Kippmoment, das aus der Gestalttheorie bekannt ist, benutzt Saskia Hebert, um das Pendeln zwischen gelebtem und geplantem Raum zu erfassen, vgl. Dies.: Gebaute Welt/Gelebter Raum, S. 106-107, 113-122. 32 | An dieser Stelle finden Prozesse der Typisierung, wie Alfred Schütz sie analysiert hat, ihren Platz. Vgl. Schütz, Alfred: Gesammelte Aufsätze. Bd. 1: Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag: Nijhoff 1971.
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zugunsten Anderer, die ihn dazu beauftragen oder dafür bezahlen, sondern baut im Zuge eines Fremdbauens von Anderen her. Jedes Bauen ist eine Art von Fremdbauen. Ähnlich wie das Heilen sich in der Perspektive des Patienten vollzieht, selbst wenn das Leiden des Kranken vielfach hinter Krankheitsbildern und Kassenzahlen verschwindet, ähnlich vollzieht sich das Bauen in der Perspektive der Wohnenden, auch wenn die Wohnperspektive mitunter geradezu verbaut wird. Diese Fremdorientierung ist wörtlich zu nehmen als ein Ingrediens des Baugeschehens, nicht als altruistische und empathische Zutat oder als Ausfluss eines moralischen Imperativs. Raumbildende Dinge wie Wände, Böden, Fenster und Türen wären nicht raumbildend ohne Bezugnahme auf den Ort, an dem sich Bewohner befinden werden. In diesem Sinne verschränkt sich das Bauen mit dem Wohnen, ähnlich wie sich das Sprechen mit dem Hören verschränkt. Das Wohnen findet zwar nachträglich statt, aber es kommt mit seinen Aufforderungen und Anforderungen dem Bauen zuvor. Anders gesagt, Bauen bedeutet insgesamt eine Form des Antwortens, ungeachtet aller Berechnungen und Bearbeitungen, die sich in den Köpfen der Bauenden abspielen und in deren Händen liegen, und ungeachtet allen Nutzens, den die Beteiligten daraus ziehen. Der Bauherr und seine Belegschaft sind niemals völlig Herr ihrer eigenen Produkte. Allgemeiner gesprochen ist das Bauen keine rein zweckrationale Handlung, sondern eine soziale Handlung. Der Bewohner gleicht darin Wolfgang Isers implizitem Leser. Umgekehrt vollzieht sich das Wohnen durch das Eigenleben der Bauten hindurch. Die Bewohner sind niemals gänzlich Herr im eigenen Hause, bis zu einem gewissen Grad sind sie Gast im sogenannten Eigenheim. Sie sind nicht völlig bei sich, chez soi; denn sie werden unweigerlich geprägt durch die Raumgebilde, die sie als Wohnung benutzen, und dies selbst dann, wenn sie gegen ihre vier Wände anrennen wie gegen ein Gehäuse. Das aktuelle und flüchtige Hier, das einen Ort markiert, findet seine Stütze in wiederkehrenden Raumzeichen, die all unsere Sinne mit Beschlag belegen. Der gelebte Raum findet darin seine Verkörperung. In der gehörten Körper- oder Flötenstimme melden sich die akustischen Qualitäten eines Klangraumes, der die ausgesandten Laute echoartig verstärkt oder sie verschluckt. Aus der Nachbarschaft dringen Stimmen und Geräusche durch Fenster und Türen. Bei dem nicht sonderlich musikfreudigen Kant ist es der Chorgesang aus dem nahe gelegenen Gefängnis, der den Denkenden durch seine »lärmende Andacht« aus der Ruhe bringt. Die
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Zimmer und Räume einer Wohnung spenden Licht und Schatten je nach Baulage und je nach Abschirmung durch Jalousien und Rouleaus. Eingezwängte Wohnräume können sich in Dunkelkammern verwandeln. Die Gerüche, die sich in den Räumen ausbreiten und festsetzen, sorgen für ein angenehmes oder unangenehmes Flair; sie sind unter allen Sinneseindrücken besonders erinnerungsträchtig wie das Toilettenhäuschen auf den Champs-Élysées, dem Proust zu literarischem Ruhm verholfen hat. Der Zuschnitt der Wohnung verstärkt oder schwächt den sozialen Kontakt. Virginia Woolfs Titel A Room of One’s Own klingt wie der Stoßseufzer einer Autorin auf der Suche nach einem Leben am eigenen Platz. Allzu eng bemessene Wohnräume widerstreiten dem Bedürfnis nach Diskretion. Auf diese und ähnliche Weise verleihen die Raumzeichen dem bewohnten und benutzten Raum eigentümliche Strukturen und Qualitäten. Die räumliche Verkörperung des Wohnens kann schließlich fetischistische Züge annehmen und Spukgestalten erzeugen, die den Bewohner im Eigenen »heimsuchen« wie in Edgar Allan Poes The Fall of the House of Usher. Der gern beschworene genius loci ist noch ein freundlicher Rest davon. Der Verkörperung des Wohnens in den Dingen entspricht die Einverleibung des Raumes in der Raumgewöhnung. Der aktuelle Leib festigt sich zu einem habituellen Leib. Wie alle Habitualitäten kommen auch die raumbildenden Gewohnheiten durch wiederholtes Tun und durch wiederkehrende Bewegungen zustande. Die Schwierigkeiten einer solchen Eingewöhnung schildert Proust gleich am Eingang seiner Recherche; das allmorgendliche Aufwachen steigert sich zu einem Abenteuer, aus dem ihn nur die Gedächtniskraft des Leibes errettet. Man wird an einem Ort heimisch oder bleibt eben fremd. Die sprachliche Verwandtschaft von »Gewohnheit« und »Wohnen«, von habitude und habiter wurde schon oft genug vermerkt.
TOPIKEN Das Ineinander von Wohnen und Bauen impliziert, dass wir als Wohnende nie völlig in der Welt der Bauten heimisch sind und dass umgekehrt Bauten niemals völlig auf den Leib der Bewohner und Benutzer zugeschnitten sind. Dieser Spalt würde sich nur schließen, wenn die gebauten Städte sich in ein heiliges Jerusalem oder in ein schattenloses Utopia
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verwandeln würden oder wenn umgekehrt die Architektur die Bewohner ihrer Bauten gleich mitfabrizieren würde. Hier öffnet sich das Feld für Visionen, Utopien und Horrorszenen jeglicher Art, aber auch für Möglichkeiten eines offenen Bauens, das Spielräume lässt, und eines phantasievollen Wohnens, das Improvisationen zulässt. Bleibt der Spalt zwischen Wohnen und Bauen offen, so reihen sich Bauten ein in eine Zwischensphäre von Instanzen, die weder auf objektive Materialien und Daten noch auf subjektive Intentionen, Wünsche und Setzungen zurückgeführt werden können. Es handelt sich um Modalitäten der Erfahrung, die das Wie unserer Erfahrung bestimmen und die aus keinem Was oder Wer hergeleitet werden können. Diese mediale Sphäre umfasst Praktiken, Diktionen, Szenen, Techniken, Optiken, Rituale, Symbole, Lichteffekte und entsprechende Topiken, in denen die Wo-Frage ihre wechselnden Antworten findet. Hierzu gehört eben auch die Vielfalt der Wohn- und Bauweisen. Da der Mensch als »nicht festgestelltes Tier« auf keine bestimmte Lebensweise festgelegt ist, sieht er sich genötigt, sie zu erfinden. Damit geht die phänomenologische Betrachtung des architektonischen Raumes in eine kulturhistorische Betrachtung über. Diese hat es nicht nur mit Bautechniken, Baustilen, Bauplätzen und Raumbedürfnissen zu tun, sondern ebenso sehr mit politisch und rechtlich zu lösenden Baukonflikten sowie mit spezifischen Bau- und Wohnpathologien, von denen die Agoraphobie und Klaustrophobie nur zwei eklatante Beispiele liefern. Die Wo-Frage mag also geschichtlich und weltweit variierende architektonische Antworten hervorrufen, doch eine endgültige und allumfassende Antwort wird sich nicht finden. Dies liegt nicht an unserem Unvermögen oder am mangelnden Entwicklungsstand, es liegt vielmehr am Bauen und Wohnen selbst. Wenn das herstellende Bauen von einer Grundfrage angetrieben wird und auf Ansprüche und Angebote antwortet, die es nicht selbst herstellt, so zeigt sich in allem Bauen ein Ungebautes und Nicht-Baubares, das sich nur indirekt fassen lässt, nämlich als eine Art Rohbau inmitten aller technischen und ästhetischen Raffinesse. Der Ort des Bauens ist wie der des Wohnens zugleich ein Nicht-Ort, der für andere Orte Raum lässt. Zukunftsutopien, die das Blaue vom Himmel versprechen, erscheinen uns inzwischen mehr als fraglich. Doch solange nicht Nietzsches »Normalmensch« regiert und sich in einem Normalraum niederlässt, gibt es keine Topik ohne die Schatten von Atopie und Heterotopie.
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A RCHITEK TUR IN FRÜHEN PHILOSOPHISCHEN TE X TEN Notwendigkeiten und Naturgesetze beherrschen den Kosmos seit jeher. So scheint es uns, denn so hat es die Philosophie seit ihren Anfängen gelehrt. Ohne die Philosophie würden wir von der Grundordnung, auf die alle Erscheinungen zurückzuführen sind, jedoch gar nichts wissen; wir könnten sie nicht erforschen; sie würde nicht in derselben Weise wirken. Schaut man genauer auf die Anfänge der Philosophie, versteht man, auf welchen Kontingenzen auch sie beruhen und gegen welche Auffassungen sie gerichtet sind: Gegen die Idee eines Schöpfergottes, der spontan in den Weltlauf eingreift, gegen eine unverständliche Vielfalt von Ereignissen und gegen Denkgewohnheiten wie diejenige, etwas Zufälliges (vorzugsweise das Eigene) zum Prinzipiellen (zum Eigentlichen) zu stilisieren. Wer in philosophischem Denken geschult ist, findet hinter den Schwankungen natürlicher Ereignisse eine Erklärung durch einheitliche Prinzipien, die die Elemente regieren, durch Gesetze, die mit dem Zwang der Notwendigkeit durch alle Veränderlichkeit und Einzigartigkeit hindurch agieren. Diese Form der Erklärung wird, wie die Schulung in philosophischem Denken insgesamt, handlungsleitend. Natürliche und soziale Ereignisse werden so gleichermaßen gerahmt. Die Physik wird in der frühen europäischen Philosophie gewissermaßen zur Grundlage des Politischen. Der Kosmos ist die gerechte Ordnung, der Leitstern des Rechts ist die überzeitliche Gleichheit. Der Lauf der Welt scheint somit einem Plan zu folgen und damit der Entscheidung und dem Eingriff entzogen zu sein; es gilt, sich verstehend
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zu ihm zu verhalten. Dementsprechend lautet der erste Glaubenssatz der anfänglichen Philosophie, dass die Welt keinen Anfang habe. Alle Verursacher seien dem Kosmos untergeordnet. Den Kosmos regiere die Zeit. Aber dies ist nicht nur ein Glaubenssatz, sondern legt den Grundstein für eine umfassende Architektur der Lebenswelt, die mit dem Wirken dieser Philosophie aufkommt. Dies zeigt sich deutlich in den Sätzen, die von Heraklit (circa 520 bis 460 v. Chr.) überliefert sind. Er betont mehrfach die Diversität der Lebensformen und der damit verbundenen Werte und Umweltbeziehungen: »Wäre das Glück in leiblichen Lüsten, so hätten wir das Vieh glücklich zu nennen, wenn es Erbsen zu fressen findet [...]. Esel mögen Spreu lieber als Gold [...]. Schweine haben am Dreck mehr Lust als an sauberem Wasser [...]. Schweine baden in Schlamm, Geflügel in Staub.«1 Dieser Vielfalt setzt Heraklit den Kosmos entgegen: Diese Weltordnung hier hat nicht der Götter noch der Menschen einer geschaffen, sondern sie war immer und ist und wird sein: immer-lebendes Feuer, aufflammend nach Maßen und verlöschend nach Maßen. Feuers Wende: zuerst Meer, des Meeres eine Hälfte Erde, die andere flammendes Wetter [...]. Das Meer zerfließt und erfüllt sein Maß nach demselben Sinn, der auch galt, bevor es Erde wurde. 2
Den Kosmos erkennen wir nicht, indem wir das Wirken der Elemente in unzähligen Einzelereignissen auflisten, sondern indem wir es auf das Eine zurückführen: einen überpersonalen Willen, ein Weltprogramm, kosmische Kybernetik. Hier trennt sich die Philosophie nicht nur von der Theologie,3 sondern auch von der empirischen Wissenschaft und der historischen Gelehrsamkeit: »Vielwisserei lehrt keine Vernunft; sonst hätte sie Hesiod belehrt und Pythagoras, auch Xenophanes und Hekataios. 1 | Heraklit: Fragmente. Griechisch und deutsch, hg. v. Bruno Snell, Zürich: Artemis & Winkler 1995, S. 7, 9, 17; B 4, 9, 13, 37. 2 | Heraklit: Fragmente, S. 15; B 30, 31. 3 | »Auch zu den Götterbildern dort beten sie, wie wenn einer mit Häusern schwatzte und wüßte nicht, was Götter und Heroen in Wahrheit sind.« (Ebd., S. 9; B 5.) Diese und ähnliche Passagen, die sich bereits in den Anfängen der Philosophie finden, artikulieren nicht nur eine Religionskritik, sondern ein neues Wissen, eine neue Denkweise, von der es korrekter ist zu sagen, dass sie sich von der Theologie abgrenzt als, wie oft behauptet wurde, vom Mythos.
Einen Anfang bauen
Denn das Weise ist das Eine: den einsichtsvollen Willen zu verstehen, der alles durch alles hindurchsteuert.«4 Das Maß der Ereignisse ist, aus Sicht der anfänglichen Philosophie, die Zeit. Die Philosophie aber ist es, die die Zeit erst inthronisiert. So ist es gleichermaßen Erkenntnis wie Setzung, wenn Heraklit schreibt: Die Zeit ein Kind, – ein Kind beim Brettspiel; ein Kind sitzt auf dem Throne [...]. Und Lehrer der meisten ist Hesiod: sie sind überzeugt, am meisten wüßte er, der Tag und Nacht nicht kannte: sie sind doch eins! [...] Das Steuer des Alls aber führt der Blitz [...]. Zu wissen aber tut not: der Krieg führt zusammen, und Recht ist Streit, und alles Leben entsteht durch Streit und Notwendigkeit. 5
Das Spiel der Zeit ereignet sich blitzartig, aber nicht blind, sondern in »Wider-Spännstige[r] Fügung«6: »Das, was ist, zerstreut sich und tritt zusammen und geht heran und geht fort. (Fest ist nichts.)« 7 So etabliert die anfängliche Philosophie die Vorstellung einer unabhängig von der jeweiligen Lebensform und den historischen Umständen effizient eingerichteten Weltordnung, an der sich jeder Mensch qua Vernunft orientieren solle: Hesiod wußte nicht, daß das Wesen eines jeden Tages dasselbe sei [...]. Verständiges Denken ist höchste Vollkommenheit, und die Weisheit ist, Wahres zu sagen und zu tun nach dem Wesen der Dinge, auf sie hinhorchend. Gemeinsam ist allen das Denken. Um beim Reden Verständiges zu meinen, muß man sich stützen auf das dem All Gemeine, wie auf das Gesetz die Stadt sich stützt, und viel stärker noch. Nähren sich doch alle menschlichen Gesetze von dem Einen, dem Göttlichen: denn das herrscht soweit es will und reicht hin im All und setzt sich durch. 8
In der Welt des Hesiod (wie Heraklit ihn karikiert) ist jeder Tag anders, neu, einzigartig, unterschiedlich lang, unterschiedlich intensiv, und dem folgt jede Nacht mit ganz eigenen Gesetzen und Ereignissen. In der Welt des Heraklit dagegen hat jeder Tag 24 Stunden. »Wenn die Sonne nicht 4 | Ebd., S. 17; B 40, 41. 5 | Ebd., S. 19, 21, 23, 27; B 52, 57, 64, 80. 6 | Ebd., S. 18; B 51. 7 | Ebd., S. 29; B 91. 8 | Ebd., S. 33, 35; B 106, 112, 113, 114.
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wäre, trotz der übrigen Sterne wäre Nacht.«9 Die Inthronisierung der Zeit stellt das menschliche Leben auf eine neue Grundlage mit normativen Implikationen: »Kämpfen muß das Volk für sein Gesetz wie für die Mauer.«10 Genauer können wir sagen: Die anfängliche Philosophie stellt das menschliche Leben in eine Architektur. Architektur ist ein lateinisches Wort (architectura) mit griechischen Wurzeln: das Hauptwort architektón (կѩѯѢѬזѣѬѱѦ) verweist auf den »Baumeister […] der etwas veranlaßt u. ausführen läßt«.11 Architektur bedeutet das Bauen (tektainomai) eines Anfangs, eines Grundes oder Prinzips (archè), die Freilegung einer Quelle. Das lateinische Fremdwort architectura lässt das Be- und Entdecken, das Errichten und Überdachen, das Auskleiden und Bemalen der archè, ein Einräumen und Zugestehen der Befremdung, anklingen. Im Griechischen bedeutet archè Anfang, Ursprung oder Quelle; dann auch Ursache, Grund, Prinzip und schließlich Anführung, Herrschaft, Regierung. Es rührt vom Verb archein (կѩѯўѢѦ) her, das anfangen, veranlassen, vorangehen und versuchen bedeutet. Schon seit dem ersten philosophischen Gebrauch des Wortes durch Anaximander (circa 610 bis 545 v. Chr.), dessen Denken großen Einfluss auf Heraklit ausgeübt hat, ist dieser Anfang als Grundlegung und Ausgangspunkt zugleich physisch und politisch zu verstehen. Der erste Anfang ist die Kombination von Politik und Physik durch den Logos. In seiner Schrift Über die Natur (Peri physeós) definiert Anaximander den Anfang, archè, als to apeiron.12 Apeiron kann übersetzt werden als »das Unbegrenzte«, das »unbestimmte Unendliche« oder als das »unendlich Unbestimmte«. Anaximander konzipiert mit dieser Doppeldeutigkeit die Voraussetzung von natürlicher (ontologischer) und logischer Entwicklung als ein und dasselbe. Das apeiron, das Unbegrenzte, erklärt Anaxi9 | Ebd., S. 33, 35; B 106, 112, 113, 114. 10 | Ebd., S. 17; B 44. 11 | Pape, Wilhelm: Handwörterbuch der griechischen Sprache. Bd. 1: Griechisch-deutsches Handwörterbuch, bearbeitet von Maximilian Sengebusch, Braunschweig: Vieweg 1908, Bd. 1, S. 366. 12 | Vgl. Anaximander: »Fragmente und Zeugnisse«, in: Die Vorsokratiker. Griechisch – lateinisch – deutsch, hg. u. übers. v. M. Laura Gemelli Marciano, Düsseldorf: Artemis & Winkler 2007, Bd. 1, S. 32-51, hier S. 34-39, sowie Gemelli Marciano, M. Laura: »Anaximander. Leben und Werk«, ebd., S. 52-61, hier S. 52, 54.
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mander, ist das, was alles umgreift und kontrolliert.13 In seiner Hauptbedeutung kann dieses apeiron als die ewige Zeit, in der sich das Werden und Vergehen abspielt und berechenbar wird, verstanden werden. Es ist gegenwärtig und gültig sogar für das, was außerhalb der Grenzen unserer Erkenntnis ist und mit dem wir nichts gemein haben. Die archè bestimmt die Grenze hin zum Unbestimmten. Diogenes Laertius berichtet, Anaximander habe nicht nur den Begriff apeiron geprägt, sondern zugleich das gnomon erfunden: ein Modell des Kosmos, über das sehr wenig bekannt ist, aber dessen verschiedene Teile anscheinend eine Himmelssphäre, eine Weltkarte und eine Sonnenuhr enthielten.14 Die Fähigkeit zur Vorhersage, die er dadurch erreichte, geht einher mit der Modellierung der menschlichen Sphäre als großes Uhrwerk.15 Dieses Modell war sowohl Erkenntnisinstrument, da es die Vorausberechnung von Himmelsbewegungen erlaubte, als auch Theater, denn es führte dem Betrachter die Ordnung der Welt vor, in deren Mitte er sich befand. Das Ereignis des Zusammentreffens von Modell und Umwelt, von Voraussage und Vergegenwärtigung, hängt folglich nicht nur von der Konstruktion des Modells ab, sondern auch von den Planetenbewegungen und vom Betrachter. Der Mensch lebt umso mehr in einem Modell, in einem Theorie-Gebäude, je umfassender er seine Lebensform an der aus einer architektonischen Raumgestaltung gewonnenen Zeitmessung ausrichtet. 13 | Vgl. Diels, Hermann: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch, hg. v. Walther Kranz, Berlin: Weidmann 1956, Bd. 1, S. 89; B 1, 2, 3. 14 | Vgl. Diogenes, Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Buch I-X, hg. v. Klaus Reich u. Hans Günter Zekl, übers. v. Otto Apelt, Hamburg: Meiner 1967, Bd. 1, Buch II, S. 73. Theophrast folgend bezeichnet Simplikios Anaximander als Erfinder des Begriffs archè, vgl. H. Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 1, S. 83, 89; A 9, B 1. 15 | Vgl. McEwen, Indra Kagis: Socrates’ Ancestor: An Essay on Architectural Beginnings, Cambridge: MIT Press 1993, S. 19f., und Hahn, Robert: Anaximander and the Architects: The Contributions of Egyptian and Greek Architectural Technologies to the Origins of Greek Philosophy, New York: Albany 2001, S. 6, 13. Zur Bedeutung des gnomon für die Mathematik vgl. Serres, Michel: »Gnomon. Die Anfänge der Geometrie in Griechenland«, in: Ders. (Hg.), Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 109-175.
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In politischer Hinsicht ist die archè die Errichtung einer zivilen Ordnung, einer Verfassung. Die archè ist das, was Grenzen durchdringt, das Unbegrenzte. Das Anfangen schafft etwas aus dem Nichts, es betont die Grundlosigkeit des geordneten Mannigfaltigen, im Gegensatz zu demjenigen Denken, das sich von seinen Ursprüngen her zu begreifen versucht.16 Die archè basiert nicht länger auf einem Mythos, sondern auf wechselseitigen Begründungszusammenhängen.17 Der politische Kontext, dem Anaximander seinen Begriff zuordnet, ist nicht auf eine einzigartige Persönlichkeit an der Spitze der sozialen Organisation ausgerichtet. Er konzentriert sich vielmehr auf die Offenlegung der Bedingungen des Zusammenspiels. In der politischen Dimension bedeutet die archè die Distribution des öffentlichen Lebens in einem gemeinsamen Raum, dessen Maß das Zentrum der Polis ist, ihr meson, und dessen Symmetrie alle als Gleiche miteinander verbindet. Die archè ist die Durchsetzung eines gemeinsamen Maßes, der isonomia. Dieses Gleichheit gewährende Maß ist der Ausgangspunkt rechtsstaatlicher Verfassungsgebung. Mit dieser Auffassung von archè überträgt Anaximander sein Weltmodell auf die Ebene der Stadtkonstruktion. Anaximanders gnomon ist dasjenige Instrument, mit dem beim Städtebau, abhängig vom Sonnenstand, regelmäßig gerasterte schachbrettartige Straßennetze entworfen wurden. Die griechischen und römischen Stadtgründungszeremonien legten die zentrale Straßenkreuzung mithilfe des gnomon fest. Diese Kreuzung markierte den Schnittpunkt der Himmelsrichtungen und ordnete das soziale dem kosmischen Geschehen zu. Bei Plinius findet sich eine exakte Beschreibung dieses Rituals.18 In 16 | Vgl. Cacciari, Massimo: Dell’inizio, Mailand: Adelphi 1990, und Angehrn, Emil: Die Überwindung des Chaos. Zur Philosophie des Mythos, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 101. 17 | Vgl. Vernant, Jean-Pierre: Les origines de la pensée grecque, Paris: Presses Universitaires de France 1975, S. 23ff., 112ff., und Payot, Daniel: Le philosophe et l’architecte. Sur quelques déterminations philosophiques de l’idée d’architecture, Paris: Aubier Montaigne 1982, S. 54. 18 | Vgl. Plinius Secundus, Gaius: Naturalis historiae libri XXXVII. Volumen III: Libri XVI-XXII, hg. v. Karl Mayhoff, Stuttgart: Teubner 1967 [1892], S. 235, Buch XVIII, §§ 76-77; vgl. auch Rykwert, Joseph: The Idea of a Town: The Anthropology of Urban Form in Rome, Italy and the Ancient World, Princeton: Princeton University Press 1976, S. 48ff.
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jeder hippodamisch oder römisch angelegten Stadt findet sich die Kreuzung von cardo (Nord-Süd-Achse) und decumanus (Ost-West-Achse). Die Straße ist daher immer schon an einer außerhalb der sozialen Ordnung liegenden Bewegung orientiert; die Menschen bewegen sich auf den so gezogenen Straßenlinien in einem Modell des Kosmos. Doch die performative Kraft der Architektur wirkt auch in die andere Richtung: Erst die Einrichtung der Welt nach diesem Modell verleiht den Vorstellungen und Berechnungen des Kosmos ihre Evidenz. Die Architektur der Lebenswelt kann die Regelmäßigkeit der Naturordnung und die Herrschaft der Zeit demonstrieren.
A RCHITEK TUR , S TADT UND P OLITIK So beginnen wir zu verstehen, wie sich Philosophie und Architektur seit ihren Anfängen wechselseitig durchdringen. Doch es ist nach wie vor ein Forschungsdesiderat, der Spur des architektonischen Denkens in der Geschichte der Philosophie zu folgen. Im Folgenden soll anhand der Texte von drei Philosophen – Platon, Aristoteles und Hegel – kursorisch aufgezeigt werden, was man herausfindet, wenn man in klassischen Texten der Philosophie auf Aussagen zur Architektur achtet. Platons und Aristoteles’ Beschreibungen von Idealstädten spiegeln ihre abweichenden Vorstellungen davon wider, was eine Stadt ausmacht. Platon gründet seine Stadt auf die jedem Bürger angemessene Bedürfnisregulierung, die durch eine arithmetisch optimierte Administration an das Göttliche heranreicht. Aristoteles dagegen bindet das Zusammenleben an die gemeinschaftliche Erfahrung des Schönen. Platons Stadtkonzept sieht vor, dass die Bedürfnisse eines jeden in dem Maße befriedigt werden, in dem er an der für ihn vorgesehenen Stelle seine Aufgaben erfüllt. So sollen alle Bürger die funktionale Integrität der Stadt als etwas Heiliges erfahren. Die Grundlage der platonischen Stadtkonstruktion ist daher der heilige Raum. Er wird vor allem durch die geometrisch einheitliche Parzellierung hergestellt.19 Die Distribution 19 | Vgl. Platon: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Griechisch und deutsch. Bd. 9: Nomoi, hg. v. Karlheinz Hülser, übers. v. Friedrich Schleiermacher u. Franz Susemihl, Frankfurt a.M.: Insel 1991, 737c; vgl. auch Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, München: Hanser 1974, S. 15f.
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von Parzellen kann hervorgehoben werden und erscheint würdevoller, so Platon, wenn jeder Distrikt von Bildern, Obelisken, Orakeln, Tempeln und heiligen Bezirken gesäumt und gezeichnet wird. Die heiligen Bezirke (témenos exairétos)20 erfüllen drei Funktionen: Die Bevölkerung kann sich zu bestimmten Zeiten versammeln, sie kann Dinge für die Bedürfnisbefriedigung erwerben und sie kann sich gegenseitig kennenlernen.21 Platons Idealstadt hat eine Kreisform, ist ohne Stadtmauer in einer wüstengleichen Umgebung gegründet und weist keine sichtbare Vergangenheit auf.22 Schutz gegen fremden Einfluss bietet die Wahl einer Gegend, die günstig bezüglich der Winde und der Wasserquellen und in genügendem Abstand von der Küste liegt, wo die Fremden landen.23 Ihre Identität findet Platons Stadt in der Verehrung der Götter, verkörpert von der Akropolis. Sein Buch Gesetze (Nomoi) sieht eine Stadtkonstruktion vor, die von der Akropolis in ihrer Mitte ausgeht, sodass der Stadtraum zugleich der Tempelbezirk ist und die kosmologische Ordnung auf der Erde widerspiegelt. Platon besteht darauf, dass es rund um den Markt Schreine und Altäre geben muss, an die sich wiederum Verwaltungs- und Gerichtsgebäude, Schulen und Theater anzuschließen haben. Der Effekt dieser Konstruktion der Stadt als nach geometrischen Regeln organisiertes Haus ist die Kommunalisierung alles dessen, was zuvor als persönlicher Besitz galt, sodass »Augen, Ohren und Hände zusammen zu sehen, zu hören und zu arbeiten scheinen«.24 Durch das Gesetz vereinigt wird der kollektive Körper »eine Stimme in Lob und
20 | Im griechischen Verb temnein klingt das Auswerfen eines Raum-Zeit- Radius, das Einschreiben einer höheren Ordnung, das Festlegen eines Sinnhorizontes während des Konsekrationsrituals eines antiken Tempels an. Vgl. Heidegger, Martin: »Der Ursprung des Kunstwerkes«, in: Ders., Gesamtausgabe. 1. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914–1970. Bd. 5: Holzwege, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M.: Klostermann 1977, S. 1-74, hier S. 27ff., 68f., Ders.: »Wozu Dichter?«, ebd., S. 269-320, hier S. 286, sowie Ders.: Gesamtausgabe. 2. Abteilung: Vorlesungen 1923–1944. Bd. 40: Einführung in die Metaphysik, hg. v. Petra Jaeger, Frankfurt a.M.: Klostermann 1983, S. 153, 200. 21 | Platon: Nomoi, 738d. 22 | Ebd., 704c. 23 | Ebd., 747d. 24 | Ebd., 738c-d.
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Kritik« erheben.25 So ermöglicht die Stadtplanung – wie sie sich in Platons Nomoi einschreibt – die Erfahrung einer auf Gleichheit basierenden Gerechtigkeitsidee.26 Aristoteles dagegen plädiert in seiner Schrift Politik (Politeia) dafür, jede Stadt solle sich ihrer Umwelt entsprechend entwickeln. Damit sind zum einen die klimatischen und geologischen Rahmenbedingungen des Ortes, der florieren soll, gemeint, zum anderen die historischen. Auch die Pluralität politischer Rahmenbedingungen erkennt er an und unterscheidet nach der jeweiligen Staatsverfassung eine oligarchische, aristokratische und demokratische Stadtplanung. Die Letztere sei durch Offenheit gekennzeichnet. Platon widersprechend behauptet er, dass die Bürger nicht vorwiegend zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse in Städten zusammenleben, sondern aufgrund deren luzider Schönheit. Anders als Platon ist Aristoteles folglich nicht daran interessiert, die Diskrepanzen im Besitz auszugleichen, das Land gleichmäßig zu verteilen oder die Menschen an die Religion zu binden. Vielmehr trennt er die politische von der ökonomischen Sphäre, was sich besonders darin manifestiert, dass er zwei zentrale Stadtplätze plant: einen Marktplatz und eine »freie Agora«, die der Politik und der Verwaltung gewidmet ist und zu der die gewöhnlichen Bürger keinen Zutritt haben. Diese zwei Plätze sind Teil eines Programms zur einfacheren Kontrolle der Stadt. Das Prinzip dahinter lautet: Das Gebiet muss den Fremden den Zutritt schwer, aber den Einwohnern das Verlassen leicht machen. Die Masse der Menschen und die Plätze müssen auf einen Blick überschaubar sein. Aristoteles begründet dies mit der Aussage, bei Unübersichtlichkeit und Überbevölkerung werde es für Fremde und Metöken leicht, sich in die Bürgerversammlung einzuschleichen. Der Transport müsse schnell, die Informationsübertragung leicht, die Körper der Bürger müssten gemäß ihrer sozialen Stellung markiert sein. Fremde müssten jederzeit erkennbar bleiben.27 Im Zuge der Konstruktion müssen die konstitutiven Elemente der »panoptischen« Stadt dem Gesetz gemäß im Raum positioniert 25 | Ebd., 738c-d. 26 | Darin besteht auch der historische Bezug zwischen der pythagoreischen Idee der zahlenförmigen Konstruktion des Universums und der hippodamischen Stadtplanung. Vgl. Aristoteles: Philosophische Schriften in sechs Bänden. Bd. 4: Politik, übers. v. Eugen Rolfes, Hamburg: Meiner 1995, 1267b. 27 | Ebd., 1326b 24, 1327a.
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werden; die Anordnung des Raumes muss dem Gesetz entsprechen und die klare Aufteilung der Macht zwischen Regierenden und Regierten erleichtern.28 Aristoteles kritisiert Platons Konzept der Staatsbürgerschaft: Wer wie Platon die Staatsbürgerschaft nach der causa materialis abhängig von der chôra, dem Raum, bestimme, der spreche automatisch Gästen, Residenten und Sklaven dieses Recht zu. Aristoteles fügt hinzu, dass es nicht ausreiche, die Peleponnes mit einer Mauer zu umgeben, um aus den Einwohnern eine Stadt zu machen. Die Mauer, die Grenze einer Stadt, sei vielmehr in deren Zentrum zu suchen: Die Akropolis bilde die Einheit der Stadt. Die äußeren Grenzen des Stadtstaates sollten nicht als Linien gedacht werden.29 Zwei Dörfer fügen sich nicht allein dadurch zu einem einheitlichen Raum, dass sie von einer Mauer eingekreist werden. So definiert Aristoteles das Wesen des Stadtraumes politisch nach der causa formalis als die durch bestimmte Rechte geformte Einheit der Bürger.30 Das Leben an einem Ort ist nur die materielle Bedingung. Aber die Ausbildung eines gemeinsamen Lebensstils, öffentliche Opfer und gemeinsames Teilen transzendieren diese Bedingung.31 Aristoteles ist großzügig genug, in seiner Stadt nicht nur den Freien und Gebildeten das kathartische Theater zu gönnen, sondern auch der unkultivierten Masse die Gymnastik der Virtuosen.32 Sein Stadtentwurf sieht für jede Klasse verschiedene künstlerische Institutionen vor. Diese Institutionen sollen ihr Publikum darüber instruieren, was »zentral, möglich und taktvoll« ist.33 Es ist offensichtlich, dass die Unterprivilegierten nicht aufgrund ihrer ökonomischen Situation, sondern lediglich aufgrund ihrer Zuteilung zu spezifischen Unterhaltungsräumen und Geschmacksklassen zu einer bloßen Masse werden.
28 | Ebd., 1326a. Der Foucault’sche Begriff »panoptische Stadt« wurde auf Aristoteles’ Stadtplanung angewendet, vgl. Bertrand, Jean-Marie: Cités et royaumes du monde grec. Espace et politique, Paris: Hachette 1997, S. 60. 29 | Aristoteles: Politik, 1276a 24-30. Vgl. Vilatte, Sylvie: Espace et temps. La cité aristotélicienne de la politique, Paris: Les Belles Lettres 1995, S. 114. 30 | Aristoteles: Politik 1276b 1-2. 31 | Ebd., 1280b 17-38. 32 | Ebd., 1342a 18-27. 33 | Ebd., 1342b 34.
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In beiden Fällen, im Stadtentwurf Platons wie in dem Aristoteles’, hat die Architektur nicht nur einem philosophischen Ideal zu folgen, ihr kommt darüber hinaus auch die Aufgabe zu, die Staatsordnung ebenso unausweichlich wie plausibel erscheinen zu lassen. Weder für Platon noch für Aristoteles rückt die Architektur als Baukunst in den Bereich ästhetischer Erwägungen; sie kommt nur als politisches Instrument in Betracht, insofern dieses das jeweilige philosophische Programm zu stützen geeignet ist. Es gibt jedoch auch Spuren eines architektonischen Denkens in der Philosophiegeschichte, das stark von dem philosophischen Programm, in dem es auftritt, abweicht. Gerade die Aufmerksamkeit für architektonische Fragen lässt innerhalb traditionsstiftender Philosophien oft andere Akzentuierungen und Entwicklungsmöglichkeiten auf blitzen; so fordert Platon radikale Gleichheit bei der Landverteilung, und Aristoteles bemerkt, ein Haus sei eine »für das tägliche Zusammenleben bestehende natürliche Gemeinschaft«;34 Hausgemeinschaften hätten sich zunächst Tisch und Herd geteilt und hätten sich erst dann, in alter Zeit und bei ausländischen Völkern unter der patriarchalischen Gewalt eines Königs, mit gleichen Einrichtungen im Raum verteilt. Denn die Zyklopen, von denen [Homer] da redet, lebten zerstreut, und so hausten die Menschen in der Urzeit überhaupt. Ebendarum ist es auch die allgemeine Sage, daß die Götter einen König haben, weil die Menschen teils noch gegenwärtig von Königen regiert werden, teils im Altertum es wurden. Wie nämlich der Mensch die Gestalt der Götter der seinigen ähnlich denkt, so urteilt er auch über ihre Lebenseinrichtungen. 35
Freie und gleiche Menschen leben in anderen Häusern und unter einem anderen Himmel. In den Bemerkungen von Georg Wilhelm Friedrich Hegel zur Architektur kann man bei genauerem Hinsehen einen Widerspruch zwischen den von ihm konstatierten künstlerischen Entwicklungsgesetzen und seinen tatsächlichen architektonischen Präferenzen ausmachen. Diese Divergenz erlaubt es, auch bei Hegel ein städtebauliches Ideal zu rekonstruieren, das aber, weil es im Kontext seiner Ästhetik
34 | Ebd., 1252b 13-14. 35 | Ebd., 1252b 23-26.
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auftaucht, in einiger Spannung zu den Prinzipien seiner in anderen Schriften explizierten politischen Philosophie steht. Hegel beschreibt drei Entwicklungsstufen des Architektonischen, seinem Verständnis der Funktion als Zweck gemäß organisiert: a) Symbolische Architektur etabliert sich, ohne eine Trennung von Funktion und Mitteln zu behaupten, b) klassische Architektur artikuliert ein Gleichgewicht zwischen beiden, und c) romantische Architektur überschreitet die Dominanz der Funktion.36 Im Durchlauf der drei Stadien, die Hegel systematisch und historisch differenziert, wird die Gestaltung zunehmend auf die Vermittlung von Geistigem und Materiellem im Ausdruck hin angelegt: mit der bloßen Zeichenwerdung des Materiellen im Symbol ist die erste Stufe erreicht, mit der Operationalisierung dieses Symbols für äußerliche Bedeutungen die zweite Stufe und mit der Autonomie des reflexiven Zeichens die dritte Stufe. In Hegels Schriften finden sich jedoch auch Passagen, in denen er die Materialität der Architektur unabhängig von dieser Teleologie durchdenkt. Er spricht beispielsweise von einer ironischen, beredten, unökonomischen Erwartung des Nichts zwischen den Säulen von Tempeln, aus dem die Spannung von Innerem und Äußerem hervordrängt.37 Die Ermöglichung des Wandelns, der Öffnung und der Lenkung des Blickes nach außen verdeutlicht die Kapazität der Architektur, derartige Grund36 | »Die Architektur […] ist die Kunst am Äußerlichen, so dass hier die wesentlichen Unterschiede darin bestehen, ob dies Äußerliche an sich selbst seine Bedeutung erhält oder als Mittel behandelt wird für einen ihm anderen Zweck oder sich in dieser Dienstbarkeit zugleich als selbständig zeigt.« (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: »Das System der einzelnen Künste. Erster Abschnitt: Die Architektur«, in: Ders., Werke. Bd. 14: Vorlesungen über die Ästhetik II. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 266-350, hier S. 271.) 37 | »Im Innern der Umschließung ist zwar ein tiefer Ernst zu vermuten, doch auch hier finden wir eine mehr oder weniger und besonders in den ausgebildetsten Bauten ganz nach außen offene Umgebung, welche darauf hindeutet, dass es auch mit diesem Ernst so streng nicht gemeint sein müsse. Und so bleibt denn auch der Eindruck dieser Tempel zwar einfach und großartig, zugleich aber heiter, offen und behaglich, indem der ganze Bau mehr auf ein Umherstehen, Hin- und Herwandeln, Kommen und Gehen als auf die konzentrierte innere Sammlung einer ringsum eingeschlossenen, vom Äußeren losgelösten Versammlung eingerichtet ist.« (Ebd., S. 320f.)
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erfahrungen zu generieren und zu rhythmisieren. So offerieren diese Wandelgänge einen Begegnungsraum, in dem das Werden nicht asymmetrisch zugunsten des Seins oder gar des Bewusstseins abgedrängt wird. In diesen [...] einfachen und doppelten Säulengängen, die unmittelbar ins Freie führen, sehen wir die Menschen offen, frei umherwandeln, zerstreut, zufällig sich gruppieren; denn die Säulen überhaupt sind nichts Einschließendes, sondern eine Begrenzung, die schlechthin durchgängig bleibt, so dass man [...] überall unmittelbar ins Freie treten kann. In derselben Weise lassen auch die langen Wände hinter den Säulen kein Gedränge nach einem Mittelpunkte zu [...]; im Gegenteil wird vielmehr das Auge von solchem Einheitspunkte ab nach allen Seiten hingelenkt, und statt der Vorstellung einer Versammlung zu einem Zweck sehen wir die Richtung nach außen und erhalten nur die Vorstellung eines ernstlosen, heiteren, müßigen, geschwätzigen Verweilens. 38
Was Hegel hier skizziert, zeigt nicht nur die Abhängigkeit gelingender Sozialität von Architekturen, worauf bereits Platon und Aristoteles hingewiesen hatten, sondern dringt auf eine mögliche Entwicklung der Architektur und des Städtebaus nach anderen Parametern als solchen des (subjektiven) Ausdrucks und der kulturellen Zuordnung; auf eine freie, dispersive, auf die Umwelt ausgerichtete Organisation. Dies steht im eklatanten Gegensatz zu Hegels bekannten politischen Setzungen: Das Volk, ohne seinen Monarchen und die eben damit notwendig und unmittelbar zusammenhängende Gegliederung des Ganzen genommen, ist die formlose Masse [...]. In einem Volke, das [...] als eine in sich entwickelte, wahrhaft organische Totalität gedacht wird, ist die Souveränität als die Persönlichkeit des Ganzen, und diese in ihrem Begriffe gemäßen Realität, als die Person des Monarchen. 39
So lässt sich feststellen, dass die Frage nach der Architektur von Anaximander und Heraklit über Platon und Aristoteles bis hin zu Hegel in unterschiedlichen Kontexten gestellt wird. Der Begriff der Architektur wird 38 | Ebd. 39 | Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in der Textedition von Johannes Hofmeister, fünfte, neu durchgesehene Auflage, Hamburg: Meiner 1995, S. 245 [Hervorhebung im Original].
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anders konturiert und angereichert, je nachdem, ob er im Rahmen der Kosmologie, der Politik oder der Ästhetik erscheint, und das Gespür für die große Tragweite architektonischer Entscheidungen wird im Spiegel philosophischer Texte entsprechend geschärft. Die Beispiele zeigen, was zu tun und was zu gewinnen wäre, wollte man den Spuren architektonischen Denkens im Dickicht der Philosophiegeschichte nachgehen. Jörg Gleiter etwa hat an Nietzsches spätem architektonischem Denken vorgeführt, wie eine solche Relektüre vorgehen kann.40 Ähnliches wäre aus meiner Sicht für Walter Benjamins Passagenwerk zu leisten, das Paris als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts thematisiert. Es wäre damit ebenso zu den Gründungsschriften der Architekturphilosophie zu zählen wie Michel Foucaults Schriften Wahnsinn und Gesellschaft, Überwachen und Strafen, Die Geburt der Klinik und Von anderen Räumen.
A RCHITEK TURPHILOSOPHIE : E INE SICH FORMIERENDE D ISZIPLIN Die Architekturphilosophie ist nicht zu verwechseln mit der Theorie der Architektur. Die Erstere bildet sich erst seit wenigen Jahrzehnten innerhalb der Philosophie heraus, während die Letztere auf eine jahrtausendealte Tradition zurückblicken kann. Annähernd kann man sagen: Die Architekturtheorie beantwortet die Frage »Wie sollen wir bauen?«, die Architekturphilosophie stellt die Frage »Was heißt Architektur?« Die Architekturtheorie setzt in der Regel voraus, dass Architektur im Planen und im gekonnten Bauen besteht; für sie ist Architektur eine »Kunst der Notwendigkeit«.41 Die Architekturphilosophie dagegen wird fragen, ob und warum das so ist und wie es anders sein könnte. Sie unterstellt nicht ohne weiteres, dass das Wesentliche an der Architektur das Planen und Ausführen von Gebäuden ist.
40 | Vgl. Gleiter, Jörg: Der philosophische Flaneur. Nietzsche und die Architektur, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009. 41 | Nouvel, Jean: »Die Architektur als Verlangen nach Allmacht«, in: Jean Baudrillard/Jean Nouvel, Einzigartige Objekte. Architektur und Philosophie, hg. v. Peter Engelmann, Wien: Passagen 2004, S. 89-90, hier S. 89.
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2009 habe ich vorgeschlagen, Architektur als Konstruktion von Möglichkeiten zu definieren, oder genauer, um den performativen Aspekt herauszuheben, als Ermöglichung.42 In Abgrenzung zur Architekturtheorie käme folglich der Architekturphilosophie die Funktion zu, die Grundlagen des Bauenkönnens und der Interaktion wie auch die Negation des Bauens und negative Architektur zu erörtern, um auf dieser Basis die Gestaltung der Lebenswelt durch die Architektur begreifen zu können. Zunächst aber entstanden architekturphilosophische Überlegungen dort, wo systematische Studien zu architektonischen Fragen aus der Warte der Philosophie vorgelegt wurden, die das Spezifische der Architektur gegenüber anderen Künsten und Techniken herausstellten, wie auch die umfassende Bedeutung ihrer Fragestellungen. Dies gilt sicher schon für Paul Valérys Eupalinos ou l’architecte (1921) und Martin Heideggers Bauen Wohnen Denken (1951). Für die Architekturphilosophie im engeren Sinne lässt sich eine formative Phase ausmachen, die aus meiner Sicht ungefähr von 1968 bis 2001 reicht. In dieser Phase erscheinen grundlegende, ausschließlich architektonischen Fragen gewidmete philosophische Studien.43 Es ist eine Phase, in der fast jede dieser Publikationen die Dringlichkeit einer Auseinandersetzung mit der Architektur innerhalb der Philosophie unterstreicht und originär an das Thema herangeht, ohne auf die anderen Publikationen Bezug zu nehmen. Die Autoren scheinen sich ebenso wenig darum zu kümmern, was bereits über die Architektur in der Philosophie gesagt wurde, wie sie Anstalten machen, die Relevanz ihrer Äußerungen für die architektonische Profession unter Beweis zu stellen. Inzwischen gibt es eine Reihe von Verbänden und Netzwerken, in denen aus unterschiedlichen intellektuellen Perspektiven zur Wechsel42 | Vgl. Schwarte, Ludger: Philosophie der Architektur, München: Fink 2009, S. 20. 43 | Vgl. Lefèbvre, Henri: Droit à la ville, Paris: Anthropos 1968; Michelis, Panagiotis A.: Esthétique de l’architecture du béton armé, Paris: Dunod 1963; Ders.: Esthétique de l’architecture, Paris: Klincksieck 1974; Scruton, Roger: Aesthetics of Architecture, Princeton: Princeton University Press 1979; D. Payot: Le philosophe et l’architecte; Agacinski, Sylviane: Volume. Philosophies et politiques de l’architecture, Paris: Galilée 1992; Harries, Karsten: The Ethical Function of Architecture, Cambridge: MIT Press 1997; Attali, Jean: Le plan et le détail. Une philosophie de l’architecture et de la ville, Nîmes: Chambon 2001; Goetz, Benoît: La dislocation, architecture et philosophie, Paris: Ed. de la Passion 2002.
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beziehung von Architektur und Philosophie geforscht wird. Meist wird dabei die Architektur als ein spezieller Anwendungsfall hochspezialisierter philosophischer Disziplinen wie Ästhetik oder Ethik verhandelt.44 Allerdings fehlt es auch nicht an Bestandsaufnahmen der vorliegenden Ansätze.45 Ein Bewusstsein dessen, dass die Architekturphilosophie, vielleicht ähnlich wie seinerzeit die Phänomenologie oder die Medientheorie, auch methodisch in unterschiedlichste philosophische Bereiche ausstrahlt, macht sich in systematisierenden Ansätzen46 ebenso bemerkbar wie in Arbeiten, in denen von der Architektur ausgehend allgemeine philosophische Fragestellungen bearbeitet werden.47 44 | Vgl. Hill, Richard: Designs and their Consequences: Architecture and Aesthetics, New Haven: Yale University Press 1999; Carlson, Allen: Aesthetics and the Environment: The Appreciation of Nature, Art and Architecture, London/New York: Routledge 2000; Führ, Eduard (Hg.): Bauen und Wohnen, Münster u.a.: Waxmann 2000; Vesely, Dalibor: Architecture in the Age of Divided Representation: The Question of Creativity in the Shadow of Production, Cambridge: MIT Press 2004; Böhme, Gernot: Architektur und Atmosphäre, München: Fink 2006; Fewings, Peter: Ethics for the Built Environment, London/New York: Taylor & Francis 2009; Baumberger, Christoph: Gebaute Zeichen. Eine Symboltheorie der Architektur, Frankfurt a.M.: Ontos 2010; Düchs, Martin: Architektur für ein gutes Leben. Über Verantwortung, Ethik und Moral des Architekten, Münster u.a.: Waxmann 2011. 45 | Vgl. Leach, Neil (Hg.): Rethinking Architecture: A Reader in Cultural Theory, London/New York: Routledge 1997; Winters, Edward: Aesthetics and Architecture, London: Continuum 2007; Illies, Christian/Ray, Nicholas: »Philosophy of Architecture«, in: Anthonie Meijers (Hg.), Philosophy of Technology and Engineering Sciences, Amsterdam: North Holland 2009, S. 1199-1256; Hauser, Susanne/ Kamleithner, Christa/Meyer, Roland (Hg.): Architekturwissen. Grundlagentexte der Kulturwissenschaften, 2 Bde., Bielefeld: transcript 2011, 2013; Baumberger, Christoph (Hg.): Architekturphilosophie. Grundlagentexte, Münster: Mentis 2013. 46 | Vgl. Mitias, Michael H.: Philosophy and Architecture, Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1994; Benjamin, Andrew: Architectural Philosophy, London: Continuum 2000; Kremer, Christian: Architekturphilosophie. Eine Einführung in ein architekturphilosophisches Verständnis, Saarbrücken: VDM 2011. 47 | Vgl. Grosz, Elizabeth: Architecture from the Outside: Essays on Virtual and Real Space, Cambridge: MIT Press 2001; Kwinters, Sanford: Architectures of Time: Toward a Theory of the Event in Modernist Culture, Cambridge: MIT Press 2001; Sloterdijk, Peter: Sphären. Bd. 3: Schäume, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004.
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A UFGABEN DER A RCHITEK TURPHILOSOPHIE Erst seit wenigen Jahren beginnt man also, in unterschiedlichen Bereichen der Philosophie (der Ästhetik, der Ethik, der Technikphilosophie, der Ökonomie) auf die besondere Problematik der Architektur aufmerksam zu werden und die unterschiedlichen Ansätze zu sichten und zu systematisieren. Zu den Forschungsdesideraten einer Architekturphilosophie zählen: (1) Geschichte: Wie in den obigen Beispielen skizziert, gälte es, der Spur der Architektur in der Philosophiegeschichte zu folgen. Allerdings wäre es völlig unzureichend, alle Texte der Geschichte nur nach dem Auftauchen der Begriffe Architektur und Bauen zu durchmustern. Ein philosophisch informierter Zugriff wird vielmehr verschiedene relevante Themenfelder sondieren, er wird differenzieren zwischen dem, was in der Tradition zum Ackerbau, zur kosmischen Orientierung, zum Hausbauen, zum Planen, zum Handeln (als dēmiourgós beziehungsweise architektón), zum Entwurf von Idealstädten und zu Umweltrelationen gesagt wird. (2) Relationen von Architektur und Philosophie: Architektur und Philosophie haben sich im Laufe der Zeit oft berührt und gegenseitig befruchtet. Platon und Hippodamos, Fichte und Schinkel, das Bauhaus und der Wiener Kreis sind jeweils auf vielschichtige Weise miteinander verknüpft. Eine Reihe wichtiger Arbeiten zu derartigen Verflechtungen und historischen Konstellationen liegen bereits vor, unter anderen die von Peter Bernhard oder Petra Lohmann.48 (3) Fröhliches Dilettieren: Immer wieder hat es »architekturierende« Philosophen (wie beispielsweise Ludwig Wittgenstein) und philosophierende Architekten (wie Peter Eisenman oder Rem Koolhaas) gegeben, für 48 | Vgl. Bernhard, Peter: »Die Einflüsse der Philosophie am Weimarer Bauhaus«, in: Christoph Wagner (Hg.), Das Bauhaus und die Esoterik: Johannes Itten – Wassily Kandinsky – Paul Klee, Bielefeld: Kerber 2005, S. 29-34; Lohmann, Petra: Architektur als Symbol des Lebens. Zur Wirkung der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes auf die Architekturtheorie Karl Friedrich Schinkels von 1803 bis 1815, München/Berlin: Deutscher Kunstverlag 2010; Galison, Peter: »Aufbau/Bauhaus: Logical Positivism and Architectural Modernism«, in: Critical Inquiry (1990), H. 4, S. 709-752; Schabert, Tilo: Die Architektur der Welt. Eine kosmologische Lektüre architektonischer Formen, München: Fink 1997.
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die der Übertritt in die andere Disziplin, in das andere Denksystem, in die anderen Arbeitsweisen eine wichtige Befreiung und Inspiration war. Es gälte, allgemeiner zu untersuchen, was die Vorbildung der Autoren jeweils bewirkt hat und welche Wechsel- und Rückwirkungen festzustellen sind.49 (4) Verflechtung praktischer und symbolischer Dimensionen des Bauens: Um auf die gegenseitige Beeinflussung praktischer und symbolischer Dimensionen in der Architektur zu reflektieren, gälte es, wie es in den einschlägigen Arbeiten von Indra Kagis McEwen50 oder, auf völlig andere Weise, von Pierre Bourdieu 51 vorexerziert wird, Untersuchungen jenseits der Texte und Diskurse durchzuführen und die Materialkultur, die Technik- und Kulturgeschichte, die politischen und religiösen Praktiken eines Ortes und einer Zeit zu erfassen. (5) Systematik: Architekturphilosophie ist aus meiner Sicht eine transversale Disziplin, die die traditionellen Felder der Philosophie nicht nur um eine völlig neue Fragestellung bereichert, sondern sie auch auf neue Weise miteinander verknüpft. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass architekturphilosophische Untersuchungen, die sich mit systematischem Blick auf eine einzelne philosophische Teildisziplin beziehen, von großem intellektuellem Gewinn sowohl für diese wie für die Architekturphilosophie insgesamt sein werden. Dies ist bereits innerhalb der praktischen Philosophie durch Arbeiten zur Ästhetik und zur Ethik der Architektur gezeigt worden; ergänzt durch Positionen, die ihren Fokus eher auf den Bereich der Politik oder der Handlungstheorie legen. Ähnliches ist zu erwarten, wenn Forschungen sich zum Ziel setzen, systematisch die Felder der theoretischen Philosophie unter die architekturphilosophische Lupe zu nehmen – vor allem die Ontologie, die Epistemologie oder die Wahrnehmungslehre werden in neuem Licht erscheinen. 49 | In dieser Richtung sind auch die Arbeiten von Sabine Ammon wegweisend. Vgl. Ammon, Sabine/Froschauer, Eva Maria (Hg.): Wissenschaft entwerfen. Vom forschenden Entwerfen zur Entwurfsforschung der Architektur, München: Fink 2013, sowie Ammon, Sabine: »ANT im Architekturbüro. Eine philosophische Metaanalyse«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 57 (2012), H. 1, S. 127-149. 50 | Vgl. I. K. McEwen: Socrates’ Ancestor. 51 | Vgl. Bourdieu, Pierre: Esquisse d’une théorie de la pratique, précédé de trois études d’ethnologie kabyle, Genf/Paris: Droz 1972.
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Allerdings nähren offene Fragen sogleich Zweifel an Versuchen wie diesen, das Feld der abzuarbeitenden Aufgaben systematisch abzustecken. Denn Bemühungen, die Verhältnisse zwischen Technikphilosophie und Umweltphilosophie oder zwischen Physik und Metaphysik zu bestimmen beziehungsweise als architektonische zu betrachten, werden, auf der einen Seite, sogleich zu begrifflichen Schwierigkeiten führen. Auf der anderen Seite haben sich im weiteren Sinne der Erkenntnistheorie zuzurechnende Theorien entwickelt, die ohne ein architekturphilosophisches Vokabular auszukommen scheinen und doch im Kern von einem ähnlichen Ansatz ausgehen; so beispielsweise die Forschungen zu Experimentalsystemen in der Wissenschaftstheorie oder diejenigen zu Artefakten in der Sozialontologie.52
G RUNDSÄT ZLICHE B EDEUTUNG Architekturphilosophie ist allein schon deshalb von grundsätzlicher Bedeutung, weil sie die Genese von so etwas wie »grundsätzlicher Bedeutung« zu verstehen hilft, das heißt den gemeinsamen Wurzelgrund von Lebensformen und sprachlichen Ordnungen. In seinem Werk Zehn Bücher über Architektur schreibt Vitruv, Architektur bringe Ideen in eine wahrnehmbare Relation zu Dingen.53 In diesem Sinne kann man sagen, dass die Architektur zeigt, was die Philosophie meint. Die Architektur verwirklicht die Philosophie. Sie richtet die Welt sinnvoll ein, indem sie die Lebenswelt nach kosmischen Modellen ausrichtet. Anordnungen von Häusern und Straßennetze schaffen Möglichkeiten, sich zu orientieren und einzuordnen, Bewegungen zu messen, Distanzen zu kartographieren, Handlungen an Zwecken auszurichten. Die Zeit ist erst dann messbar, wenn die Welt einem kosmischen Modell entsprechend umgestaltet und eingerichtet wird. Sie regiert uns in dem Maße, wie wir uns in einem gebauten Wahrnehmungsmodell der Zeit bewegen, in einem Uhrwerk, das es uns ermöglicht, Längen, 52 | Exemplarisch wären die Arbeiten von Peter Galison, von Hans-Jörg Rheinberger und von Bruno Latour zu nennen. 53 | Vgl. Vitruv: Zehn Bücher über Architektur. Lateinisch und deutsch, übers. v. Curt Fensterbusch, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1964, S. 22, 45, 143.
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Größen und Bewegungen abzuschätzen. Die Umgestaltung der Erde nach einem solchen Wahrnehmungsmodell liefert die physische Grundlage für die Konvertibilität von Struktur und Schema, von Körper und Zahl, von räumlicher Bewegung und zeitlicher Anordnung. Die Evidenz dieser in ein Maß verwandelten Erde, dieser Geometrie, beruht auf dem Schneiden, Schleifen und Polieren der lebensweltlichen Oberflächen. Die transsubjektive, universelle Orientierung und die Gewissheit über Strukturen wie Raum und Zeit rühren keineswegs aus einem apriorischen Wissen oder aus dem Körper-Schema. Vielmehr wird die Räumlichkeit durch Artefakte vorkonstruiert.54 Die räumlichen und zeitlichen Strukturen der Wahrnehmung hängen von einer geometrisierenden Architektur ab. Die Welt ist darin der Ort, an dem die Zeit zählt. Subjekte müssen sich, um als solche zu gelten, in ihr nach der Zeit richten. So werden die Bewegungen von Körpern messbar, werden Konsequenzen beurteilbar. Diese Einrichtung ist die Voraussetzung dafür, dass wir planvoll handeln können. Auf diese Weise ist die Architektur, in der wir leben, die Manifestation einer hegemonialen Philosophie, die Heidegger den »ersten Anfang« nennt.55 Aufgabe der Architekturphilosophie wäre es demgegenüber, in einem ersten Schritt die Optionen und Kontingenzen, auf denen die Strukturen der hegemonialen Lebenswelt beruhen, sichtbar zu machen – wie auch die Möglichkeiten, die diese Architektur zum Verschwinden bringt. Denn sie legt fest: was überhaupt als Eigenschaft gilt; welches die Parameter des Erscheinens und Existierens sind; nach welchen Koordinaten wir uns Orientierung verschaffen: beispielsweise anhand von Raum, Zeit und Farben; wie der Zusammenhang der Sinne untereinander und mit den Dimensionen von Sinn und Erfahrung organisiert wird; welche Handlungsmöglichkeiten wir haben. Anhand von diesen Fragen kann man dann über das Bauen eines anderen Anfangs nachdenken oder über verschiedene mögliche Weisen des Anfangens. Das philosophische Nachdenken über Architektur kann zu einer neuen Weise führen, Architektur zu betreiben. 54 | Vgl. Janich, Peter: Das Maß der Dinge. Protophysik von Raum, Zeit und Materie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 113. 55 | Heidegger, Martin: Gesamtausgabe. 3. Abteilung: Unveröffentlichte Abhandlungen, Vorträge – Gedachtes. Bd. 65: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M.: Klostermann 1989, S. 178ff.
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Die Architektur, in der wir leben, organisiert den sprachgeleiteten Alltag; sie stellt die Gültigkeit von Zwecksetzungen durch die Möglichkeit von Planungen, durch die Evidenz baukünstlerischer Indizes und durch die Wirkmächtigkeit von Absichtserklärungen unter Beweis. Die Befolgung dieses Anspruchs auf Planung, Formung und Führung, das heißt die Tatsache, dass die Menschen die architektonische Einrichtung akzeptieren, stützt sich auf eine architektonisch generierte Macht, das heißt auf eine Welt, in der uns Dinge als Aussagen, wenn nicht als Befehle begegnen, und in der wir das Handeln als ein bestimmtes Machen, ein Können, begreifen. Die Architektonik als technische Festschreibung der Macht und des Könnens im Horizont des alltäglichen Erlebens ist die historisch dominante Weise des Anfangens. Sie ist eine Machttechnologie, die die Individuen dressiert, als Masse produziert und durch Wenige beherrschbar macht. Sie erzwingt ein beherrschtes Verhalten, ein bestimmtes Fühlen und Denken. Es könnte jedoch auch andere Architekturen geben, beispielsweise eine Grundlegung, die freistellt und nicht festlegt oder zwingt. Eine Architektur, welche – ähnlich Hegels Säulenhalle – die anarchischen Impulse, die jedem Handeln als einem spontanen, freien, unbeherrschten Akt innewohnen, freisetzt und beantwortbar macht, anstatt sie zu unterbinden oder zu konditionieren. Dies setzt offene Räume voraus. Eine Möglichkeit wäre dann keine Zwecksetzung mehr, kein zu realisierendes Programm, keine das Können anleitende Struktur, sondern eine Ressource, aus der Interaktion, der Konfrontation und der Zuneigung gedacht. Die Offenheit dieser Räume geht auf Asymmetrien, das heißt auf gestaltete Spannungen zurück und läuft auf eine prinzipielle Ergebnisoffenheit und Zweckfreiheit zu. Der offene Raum ist als Zusammenspiel aus Asymmetrien begreif bar, denn nur darin hat das Inkommensurable eine Chance, sich zu zeigen. Es käme darauf an, Architektur nicht länger als Inbegriff des Könnens, der geplanten Ausführung und der Manifestation von Ordnung zu denken, sondern als Ermöglichung und Ressource der Emanzipation.
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Literatur- und Filmwissenschaft
Architektur als Argument der Literaturwissenschaft Der Fall Kafka Gerhard Neumann
»[...] es ist nicht das Haus eines Architekten [...] sondern der Architekt wird zum Haus; es ist nicht das Haus eines Lebens, sondern das Leben ist zum Haus geworden.« TOMASO B UZZI1
Bauen und Wohnen sind zwei komplementäre Tätigkeiten, bei deren Zusammentreffen Architektur am Werke ist.2 Architekturen sind Gewerke, die Natur in Kultur verwandeln. Sie sind, wenn man es so sagen will, anthropologische Grundausstattung. Es war Sigmund Freud, der, in seinem Essay Das Unbehagen in der Kultur von 1929, als eine der wich1 | Buzzi, Tomaso: »Città ideale, 1957–1981«, in: Winfried Nerdinger et al. (Hg.), Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur, Salzburg: Pustet 2006, S. 511-514, hier S. 513. Der hier vorgelegte Text greift Thesen und Argumente auf, die in einem Vortrag in Zürich zuerst von mir entwickelt wurden: »Chinesische Mauer und Schacht von Babel. Franz Kafkas Architekturen«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 83 (2009), H. 3, S. 452-471. 2 | Vgl. den Aufsatz »Bauen Wohnen Denken« [1951] von Martin Heidegger, abgedruckt u.a. in dem vorzüglichen Sammelwerk: Hauser, Susanne/Kamleithner, Christa/Meyer, Roland (Hg.): Architekturwissen. Grundlagen aus den Kulturwissenschaften. Bd. 1: Zur Ästhetik des sozialen Raums, Bd. 2: Zur Logistik des sozialen Raums, Bielefeld: transcript 2011, 2013, hier Bd. 2, S. 38-48.
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tigsten Aufgaben der Kultur den Schutz vor den Unbilden der Natur bezeichnet hat. So gesehen ist der aus der Natur geborene Mensch der Konstrukteur von Lebensarchitektur. In einer Phantasie aus dem sogenannten Oktavheft B zeigt Franz Kafka den Architektur bildenden Menschen selbst als Inbild solcher schützenden und Wege durch die Natur schaffenden Kräfte.3 Es heißt da: Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einem Abgrund lag ich, diesseits waren die Fußspitzen, jenseits die Hände eingebohrt, in bröckelndem Lehm hatte ich mich festgebissen. Die Schöße meines Rockes wehten zu meinen Seiten. In der Tiefe lärmte der eisige Forellenbach. Kein Tourist verirrte sich zu dieser unwegsamen Höhe, die Brücke war in den Karten noch nicht eingezeichnet. So lag ich und wartete; ich mußte warten; ohne abzustürzen kann keine einmal errichtete Brücke aufhören Brücke zu sein. (KKA NI, 304) 4
Soweit Kafka: der Mensch, der zur Brücke wird. Hier erscheint dieser als Konstrukteur von Lebensarchitektur, den Organismus, der er ursprünglich ist, in Konstruktion verwandelnd als einer, der den Lebensweg bahnt und das Risiko seines Scheiterns trägt. Dabei ist es der Menschenkörper als Medium, der beides, den Schutz vor der Natur und die Bahnung für den Menschenverkehr, ins Wirkliche bringt: indem er selbst zur Brücke wird. Denn die Brücke, als vielleicht wichtigstes Element der Baukunst neben der Erfindung des Fensters, leistet hier dreierlei: Sie überspannt Grenzen; sie stiftet Verbindungen; sie überwindet Abgründe. Der Mensch, der zur Brücke wird, ist kulturgewordene Natur; er ist unver3 | Es war Gabriele Brandstetter, die auf diese Stelle als zentralen poetologischen Text Kafkas aufmerksam gemacht hat: Brandstetter, Gabriele: »Brücken schlagen. Zu einem Bild aus metapherntheoretischer Sicht – Kafkas Die Brücke und Von den Gleichnissen«, in: Richard Hoppe-Sailer/Claus Volkenandt/Gundolf Winter (Hg.), Logik der Bilder. Präsenz – Repräsentation – Erkenntnis, Berlin: Reimer 2005, S. 271-283. 4 | Kafka, Franz: Nachgelassene Schriften und Fragmente I, hg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt a.M.: Fischer 1993 (= Schriften – Tagebücher – Briefe. Kritische Ausgabe), S. 304. Zitatnachweise nach der historisch-kritischen Ausgabe (KKA) erfolgen mit jeweiliger Chiffre und Seitenzahl im laufenden Text. Bei Zitaten aus Apparatbänden der KKA wird der Seitenzahl das Kürzel »App.« vorangestellt, ansonsten ist der jeweilige Textband heranzuziehen.
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hoffte Eintragung in die Karte der Zivilisation. Er ist der Architekt von Ich und Welt, ineins damit also Architekt seiner selbst im Verhältnis beider. Dass ihm diese Architektur-Leistung bei Kafka zuletzt versagt bleibt, ist einer schmerzhaften »Wendung« des Brückenkörpers am Ende der Überbrückungsstrategie zuzuschreiben: »Brücke dreht sich um! Ich war noch nicht umgedreht, da stürzte ich schon, ich stürzte und schon war ich zerrissen und aufgespießt von den zugespitzten Kieseln, die mich so friedlich immer angestarrt hatten aus dem rasenden Wasser.« (KKA NI, 305) Es ist die hier zum Ausdruck kommende enge Verbindung zwischen Individualitätserfahrung und Architektur in Kafkas Werk, auf die es mir in meinen folgenden Überlegungen ankommen soll. Auf den ersten Blick sind es zwei verschiedene Szenarien dieser Situation, die sich im Werk Kafkas auffinden lassen: einerseits Architektur, durch welche Gemeinschaft erfahren und dadurch zugleich organisiert wird; andererseits Architektur, durch die das Subjekt in seiner Eigentümlichkeit und in Abgrenzung von allen anderen Subjekten konstruiert werden soll. Ich möchte für jede dieser Möglichkeiten ein Beispiel geben. Ein altes Blatt (KKA D, 263-267)5 soll mir als Exempel für den ersten Sachverhalt dienen, die Erzählung Das Urteil (KKA D, 41-61), geschrieben im September 1912, für den zweiten. Da ist also zunächst, als ein Szenario der Gemeinschaft, der Text Ein altes Blatt, den Kafka 1919 im Landarzt-Band publizierte. Dieser schmale Text gibt einen Augenblicks-Eindruck wieder: den Eindruck von der Invasion einer Stadt durch eine Horde Nomaden; also von der Außerkraftsetzung von »Kultur« durch Anarchie. Dabei ist es einer der Bürger der Stadt, der zum Erzähler wird; der berichtet, wie die Nomaden aus dem Norden die Stadt überschwemmen und sich – zum Schrecken der in ihre Häuser verkrochenen Stadtbürger – von rohem Ochsenfleisch nähren. »Ihrer Natur entsprechend«, sagt der das Geschehen beobachtende Stadtbewohner, »lagern sie unter freiem Himmel, denn Wohnhäuser verabscheuen sie. [...] Aus diesem stillen, immer ängstlich rein gehaltenen Platz haben sie einen wahren Stall gemacht.« (KKA D, 264) Und er fügt hinzu: »Sprechen kann man mit den Nomaden nicht.« (KKA D, 264) Die Situation, die hier gezeigt wird, setzt Kultur, als das durch Architektur Geordnete, 5 | Kafka, Franz: Drucke zu Lebzeiten, hg. v. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch u. Gerhard Neumann, Frankfurt a.M.: Fischer 1994 (= Schriften – Tagebücher – Briefe. Kritische Ausgabe), S. 263-267.
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einer Horde von Barbaren entgegen, die, ihrer »Natur« entsprechend, Wohnhäuser verabscheuen, unter freiem Himmel kampieren und keine menschliche Sprache haben. Zwischen beidem – Architektur und Anarchie – ist aber ein Drittes, das durch den Kaiser, den höchsten Souverän, repräsentiert wird, der, von einem Fenster des Palastes aus, den Konflikt zwischen Nomadismus unter freiem Himmel auf dem Marktplatz und architekturaler Kultur in den Wohnhäusern der Bürger – von einer zweiten Ebene, einem höheren Stockwerk aus – beobachtet. »[N]iemals sonst«, heißt es da vom Kaiser, »kommt er in diese äußeren Gemächer, immer nur lebt er in dem innersten Garten; diesmal aber stand er, so schien es mir wenigstens, an einem der Fenster und blickte mit gesenktem Kopf auf das Treiben vor seinem Schloß.« (KKA D, 266) Weiter heißt es: »Der kaiserliche Palast hat die Nomaden angelockt, versteht es aber nicht, sie wieder zu vertreiben.« (KKA D, 266) Die Kluft zwischen beiden Welten ist unüberbrückbar. Damit aber, mit diesen wenigen Andeutungen über den kurzen, unerschöpflichen Text,6 sind wesentliche Elemente von Kafkas architektonischem Kulturkonzept sichtbar gemacht: Da sind die Wohnhäuser, die Schutz vor den Unbilden der Natur gewähren; da ist der Marktplatz, auf dem die Gemeinschaft im Gespräch sich ihrer selbst bewusst werden könnte; da ist die Anarchie der nomadisierenden Horde, die sich stattdessen auf dem Markt breitmacht; da ist das Fenster, von dem aus der Kaiser die konfliktuelle Situation sinnierend wie distanziert betrachtet; und da sind zuletzt die einzelnen Subjekte, die Stadtbürger, die ihren Platz im Spannungsfeld von Ordnung und Anarchie suchen. Es sind diese genannten Elemente, die in Kafkas Architektur-Phantasien von kulturellen Szenarien immer wiederkehren werden. In ihnen verdichten sich die Argumente einer Literaturwissenschaft, die sich architekturaler Bilder und Vorstellungen bei der Beobachtung der »Herstellung von Individualität« 7 im Text bedient.
6 | Vgl. die minuziös argumentierende Studie von Rainer Nägele über Ein altes Blatt: Nägele, Rainer: »Es ist als wäre. Zur Seinsweise eines alten Blattes«, in: Elmar Locher/Isolde Schiffermüller (Hg.), Franz Kafka, »Ein Landarzt«. Interpretationen, Bozen: Ed. Sturzflüge 2004, S. 61-72. 7 | Diesen Begriff beziehe ich von Niklas Luhmann: »Copierte Existenz und Karriere. Zur Herstellung von Individualität«, in: Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.),
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So auch in meinem zweiten Beispiel-Text, der Erzählung Das Urteil, in der es nun nicht um die Diagnose von Gemeinschaft, sondern um die architekturale Formung von Individualität – und ihr letztliches Scheitern – geht. Der Anfang dieses Textes lautet: Es war an einem Sonntagvormittag im schönsten Frühjahr. Georg Bendemann, ein junger Kaufmann, saß in seinem Privatzimmer im ersten Stock eines der niedrigen, leichtgebauten Häuser, die entlang des Flusses in einer langen Reihe, fast nur in der Höhe und Färbung unterschieden, sich hinzogen. Er hatte gerade einen Brief an einen sich im Ausland befindenden Jugendfreund beendet, verschloß ihn in spielerischer Langsamkeit und sah dann, den Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, aus dem Fenster auf den Fluß, die Brücke und die Anhöhen am anderen Ufer mit ihrem schwachen Grün. (KKA D, 43)
Hier ist es nicht der Raum der Gemeinschaft, mit ihrem beobachtenden Souverän am Palast-Fenster, der als Architektur-Ensemble den Gang der Erzählung und die Schürzung des Konflikts vorgibt, sondern es ist der Einzelne am Fenster seines Privatzimmers, der, sich orientierend, in die Öffentlichkeit der Stadtlandschaft blickt; der, mit dem Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, einen Brief in der Hand hält, in dem er über sich selbst und seine Stellung in der Welt nachgedacht hatte: über seinen Bildungsgang, seine familiale, seine ökonomische und seine sexuelle Karriere – den Brief will er gleich seinem Vater im Hinterzimmer zur Beurteilung vorlegen. Georgs Blick ist, aus dem Schutz des Privathauses heraus, auf die Brücke gerichtet: auf dasjenige Architektur-Element also, das vor allen anderen Kommunikation und »Menschenverkehr«, wie Kafka gern sagt, ermöglicht.8 Kafka gesteht in einem Brief an Felice Bauer, der er Das Urteil widmen wird, dass er ursprünglich in seiner Erzählung »einen Krieg« habe »beschreiben« wollen und vorhatte, über diese Brücke eine »Menschenmenge« »herankommen« zu lassen – dann aber habe sich ihm Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 191-200. 8 | Siehe hierzu die Studien von M. Heidegger: »Bauen Wohnen Denken«, und Georg Simmel: »Brücke und Tür« [1909], in: Ders., Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, hg. v. Michael Landmann u. Margarete Susman, Stuttgart: Koehler 1957, S. 1-7.
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die Geschichte »unter den Händen« (F394) gedreht und sei aus der Vision eines öffentlichen, militärischen Konflikts mit dem Feind in den privaten Konflikt mit dem Vater eingemündet.9 Für beide »Visionen«, den Blick aus dem Fenster und den Blick auf die Brücke, stellen sich Leitmetaphern ein; beide, das Motiv des Fensters und das der Brücke, wirken als Argumente in einem architekturalen Sinne und drücken sich unaufhaltsam in die Bilderwelt der Gemeinschaft ein. Das argumentum, in ursprünglichem Sinne, bedeutet Ins-Helle-Setzung, Veranschaulichung, also eine Evident-Machung aus dem Licht, das die Konturen der Gegenstände sichtbar macht, die Linien der »Lebensarchitektur« hervortreten lässt. Versteht man das »Argument« von der Architektur als die Gesellschaft beleuchtender und lenkender Kraft noch immer als eine Identitäts-Metapher, und bei Kafka darf man es, denn er hält sich bei aller Bedrohung daran fest, so wird es zum Medium dieser Selbstreflexion Georgs über den Menschenverkehr, die aus der Architektur-Szenerie, aus der Situation am Fenster, vom Schreibtisch aus, herausgeschrieben und erst so zu erzählbarem Leben wird; versteht man dies so, dann geht es um die von jedem zu usurpierende Redeinstanz, das Personalpronomen; verdichtet im Brief – Briefe, so lautet eine antike Formel, seien sermo absentis ad absentem.10 Es heißt im Text: Mit diesem Brief in der Hand war Georg lange, das Gesicht dem Fenster zugekehrt, an seinem Schreibtisch gesessen. [...] Endlich steckte er den Brief in die Tasche und ging aus seinem Zimmer quer durch einen kleinen Gang in das Zimmer seines Vaters, in dem er schon seit Monaten nicht gewesen war. (KKA D, 49)
An der architektonischen Struktur der Wohnung und ihrer Möglichkeiten – »Du sitzt hier im Dunkel, und im Wohnzimmer hättest Du schönes Licht« (KKA D, 52f.), sagt Georg verlogen-vorwurfsvoll dem Vater – 9 | Kafka, Franz: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, hg. v. Erich Heller u. Jürgen Born, Frankfurt a.M.: Fischer 1967, S. 394: »[...] ein junger Mann sollte aus seinem Fenster eine Menschenmenge über die Brücke herankommen sehn […].« 10 | Zur Funktion von Brief und Briefpost in der modernen Kultur (und auch bei Kafka) vgl. Siegert, Bernhard: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post. 1751–1931, Berlin: B & B 1993. Die genannte Formel stammt von dem Sophisten Flavius Philostratus II.
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entzündet sich dann Schritt um Schritt das Rededuell zwischen Vater und Sohn, das zu einem Kampf auf Leben und Tod wird und zur Verurteilung des Sohnes »zum Tode des Ertrinkens« (KKA D, 60) führt; einem Urteil, dem dieser sich am Ende widerstandslos unterwirft. Georg stürzt über die Treppe, »über deren Stufen er wie über eine schiefe Fläche eilte« (KKA D, 60), nach unten, springt aus dem Tor, schwingt sich, »als der ausgezeichnete Turner, der er in seinen Jugendjahren zum Stolz seiner Eltern gewesen war« (KKA D, 61), über das Geländer und wirft sich hinab in den Fluss; der Brief in seiner Tasche geht – eine Flaschenpost gewissermaßen – mit ihm unter. Der letzte Satz der Erzählung gilt der Brücke, die diesmal nicht, als ein Weg und Transfer gewordener Mensch, selbst in die Tiefe stürzt, sondern, als Architektur, den Sturz des menschlichen Körpers kaschiert, den Blick vom Individuum, das gerade im Fluss verlischt, auf die Gemeinschaft umlenkt. »In diesem Augenblick«, heißt es nämlich im Text, »ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr« (KKA D, 61). So erweist sich die Erzählung Das Urteil als die Geschichte eines Ich und seiner Entwicklung – seiner Karriere in der Kultur –, die hier aus der Architektur heraus, der Konstruktion im Raum, gestaltet und gelenkt erscheint. Die Suche nach einer Lebensordnung, nach einem kulturellen Bildungs- und Sozialisierungskonzept, formiert sich als Bewegung durch ein architektonisches Gebilde, wobei bis zuletzt die Frage offenbleibt, ob es Georg ist, der sich durch die Architektur und ihre Wirrungen bewegt; oder ob es die Architektur ist, die Georgs Leben »lenkt« und in Bewegung bringt? Dabei steht – am Anfang wie am Ende des Textes – die Öffentlichkeit der Brücke im Blickpunkt: aus dem Privatzimmer heraus fixiert. Sie ist das Ziel dieser bio-graphischen Bewegung, aus dem Wunsch des Helden Georg Bendemann geboren, in den Menschenverkehr einzutreten – und zwar aus dem sicheren (aber sich als trügerisch erweisenden) Gefühl heraus, ein Privathaus zu bewohnen und den Weg nach draußen auch finden zu können. Diese Suche, förmlich ein Bildungsroman en miniature, endet nun aber im Absturz. Das »individuelle Scheitern« wird, wie es im Text heißt, »übertönt« vom »unendlichen Verkehr«: »Noch hielt er sich mit schwächer werdenden Händen fest, erspähte zwischen den Geländerstangen einen Autoomnibus, der mit Leichtigkeit seinen Fall übertönen würde [...] und ließ sich hinabfallen.« (KKA D, 61) Was das architektonische Szenario, das Kafka hier entwirft, offenbart, ist der unversöhnbare Riss zwischen beidem, dem Individuum in der Familienkrise und dem von ihm erstrebten »äußeren« Menschenverkehr.
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Erzählen von Leben, sei es nun als Form der Gemeinschaft oder der Individualität verstanden, entwickelt sich also bei Kafka aus der architektonischen Struktur, die den Raum dieses Erzählens bildet. Das Eine kann nicht ohne das Andere gedacht werden. Dabei gewinnt für Kafka die Position des Beobachtenden und Sinnierenden am Fenster – vom Schreibtisch aus und mit dem geschriebenen Brief in der Hand – entscheidende Bedeutung.11 Die Position des Menschen auf der Schwelle zwischen Innen und Außen, zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, ist der Ausgangspunkt für die Konstruktion von Lebenssinn; der Ausgangspunkt für das ordnende Erzählen von Leben. »Architektur ist die Mutter der Künste« – so hat man seit der Antike gesagt –, weil sie Regeln gibt, nach denen Leben modelliert und verstanden werden kann. Und ihr bedeutendster konstruktiver Akt war wohl die Erfindung des Fensters: die Schaffung der Bedingung der Möglichkeit des gerahmten Blickes nach außen; mit dem Ziel der sinnvollen Organisation des Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt. Mit anderen Worten: Der schwellenüberschreitende und rahmende Blick aus dem Fenster erweist sich als Dispositiv für die Herstellung von Individualität in der Kultur. Es ist, so könnte man paradoxerweise behaupten, die Erfindung von Innerlichkeit, die sich allererst im Blick hinaus durch das gerahmte Fenster einstellt. Der Fensterblick verwandelt Natur in Kultur. Das Haus, dessen Wände von Fenstern durchbrochen sind, inszeniert, so gesehen, ein Paradox der Raumerfahrung. Es bietet Schutz vor den »Un-Bilden« der Natur und gestattet doch, ihnen zugleich ins Angesicht zu sehen, sich den »Bildern«, die von außen kommen, zu stellen. Literarische Realisierungen dieses Modells der Fenster-Schau reichen von der Bekehrungsszene des Augustinus im Gespräch mit seiner Mutter Monica am Fenster in Ostia, wie er sie im neunten Buch seiner Konfessio-
11 | Kafkas Beobachterfiguren liefern einen Schlüssel zum Verständnis des Kafka’schen Werks. Schon in seinem ersten als Buch veröffentlichten Text, dem Band mit dem Titel Betrachtung, konzentriert sich Kafka auf das Problem des bewegten Beobachters im Sinne Einsteins, dessen Relativitätstheorie er kannte. Im ersten Text des Bandes Betrachtung, Kinder auf der Landstraße betitelt, wird dieses Experiment in Szene gesetzt. Vgl. meinen in Oxford gehaltenen Vortrag, der demnächst als Aufsatz erscheinen wird: »Der Beobachter auf der Schaukel. Betrachtung. Zu Franz Kafkas frühen Bewegungsstudien«.
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nen beschreibt,12 über die berühmte Klopstock-Szene Werthers und Lottes in Goethes Jugendroman bis zu E.T.A. Hoffmanns Novelle Des Vetters Eckfenster und E.A. Poes The Man of the Crowd.13 Was aber seit der Antike gegolten hatte, dass nämlich der Blick aus dem Fenster »Theorie«, das heißt »strukturierte Welt« schafft, tritt nun außer Kraft.14 In vollem Bewusstsein dieser zur Aporie gewordenen Orientierungs-Situation am Fenster schreibt Kafka am 12. Mai 1914 an Grete Bloch: »Übrigens ein alter unerfüllbarer Wunsch: Vor dem Tisch bei einem großen Fenster sitzen, eine weite Gegend vor dem Fenster haben und bei Sonnenuntergang ruhig schlafen ohne die Last des Lichtes, des Ausblicks zu fühlen, unbeirrt ruhig zu atmen. Was für Wünsche!« (F 574) »Aus dem Fenster sehen, ohne die Last des Ausblicks zu fühlen« – das ist die Formel, die nun, nach dem Theorie-Sturz der Moderne, gilt. In Kafkas Werk gibt es zahlreiche Fensterszenen, die diesen paradoxen, desorientierenden Blick des Augenschließens nach draußen, wenn man es so ausdrücken darf, in Szene setzen. Es sei nur an den Anfang des Prozeß-Romans erinnert; an den Anfang der Verwandlung; an den Blick Karl Roßmanns im Verschollenen aus dem Haus des Onkels auf die Straßen von New York.15 Bei Kafka steht die Fensterszene – als architektonischer 12 | Vgl. Augustinus: Bekenntnisse. Lateinisch und deutsch, übers. v. Joseph Bernhart, Frankfurt a.M.: Insel 1987. 13 | Die wichtigsten Einsichten in dieses Raummodell verdanken wir den großen Studien Heinz Brüggemanns zu diesem Thema, die sich freilich mehr um den Einblick von außen als den Fensterblick von innen kümmern: Brüggemann, Heinz: Das andere Fenster: Einblicke in Häuser und Menschen. Zur Literaturgeschichte einer urbanen Wahrnehmungsform, Frankfurt a.M.: Fischer 1989, sowie Ders.: Architekturen des Augenblicks. Raum-Bilder und Bild-Räume einer urbanen Moderne in Literatur, Kunst und Architektur des 20. Jahrhunderts, Hannover: Offizin 2002. 14 | Zur Ikonisierung dieser Situation in der Literatur seit Augustinus vgl. meinen Aufsatz: »Landschaft im Fenster. Liebeskonzept und Identität in Robert Musils Novelle Die Vollendung der Liebe«, in: Neue Beiträge zur Germanistik 3 (2004), H. 1, S. 15-31. 15 | Der Onkel warnt Karl Roßmann vor dem ungerahmten Blick von seinem Balkon – »Er selbst habe Neuankömmlinge gekannt, die z.B. statt nach diesen guten Grundsätzen sich zu verhalten, tagelang auf ihrem Balkon gestanden und wie verlorene Schafe auf die Straße heruntergesehen hätten.« (Kafka, Franz: Der
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Ort – ganz zweifellos im Zentrum des Erzählsystems. Aber sie ist, im Gegensatz zur langen Tradition seit Augustinus, durch zwei moderne Komplikationen in der Weltwahrnehmung geprägt: zum einen durch die Kafka’sche Theorie vom riskantesten Augenblick des Erwachens des Subjekts zur Welt; zum anderen durch die Kafka’sche Auffassung von der unheilbaren Gebrochenheit in der Lebens-Performanz. Zunächst einige Bemerkungen zum Problem des »riskantesten Augenblicks«. Kafkas Fensterszenen sind, in ihren wichtigsten Ausformungen, wie zum Beispiel in der Verwandlung, Aufwach-Szenen. Der Anfang des Prozeß-Romans ist hierbei exemplarisch. Es heißt da: Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. [... Er] sah von seinem Kopfkissen aus [durch das Fenster] die alte Frau die ihm gegenüber wohnte und die ihn mit einer an ihr ganz ungewöhnlichen Neugierde beobachtete [...]. (KKA P, 7) 16
Das Aufwachen, mit dem Kaf ka seine Fensterszenen ausstattet, hat aber nichts von einem Orientierungsakt, sondern vielmehr den Charakter eines Schocks. In einer Variante zum Prozeß-Roman charakterisiert Kafka, beziehungsweise Josef K., diesen Augenblick des Erwachens-Schocks folgendermaßen: Jemand sagte mir, ich kann mich nicht mehr erinnern, wer es gewesen ist, dass es doch sonderbar sei, dass man, wenn man früh aufwacht, wenigstens im allgemeinen, alle(n>s) unverrückt an der gleichen Stelle findet, wie es am Abend gewesen ist. Man ist doch im Schlaf und im Traum wenigstens scheinbar in einem vom Wachen wesentlich verschiedenen Zustand gewesen und es gehört ‹wie jener Verschollene, hg. v. Jost Schillemeit, Frankfurt a.M.: Fischer 1983 (= Schriften – Tagebücher – Briefe. Kritische Ausgabe), S. 56.) Währendessen versucht Karl, mit seiner Klaviermusik den Blick nach draußen zu ersetzen: »Karl erhoffte in der ersten Zeit viel von seinem Klavierspiel und schämte sich nicht wenigstens vor dem Einschlafen an die Möglichkeit einer unmittelbaren Beeinflussung der amerikanischen Verhältnisse durch dieses Klavierspiel zu denken. Es klang ja allerdings sonderbar, wenn er vor den in die lärmerfüllte Luft geöffneten Fenstern ein altes Soldatenlied seiner Heimat spielte [...].« (Ebd., S. 60.) 16 | Kafka, Franz: Der Prozeß, hg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt a.M.: Fischer 1990 (= Schriften – Tagebücher – Briefe. Kritische Ausgabe), S. 7.
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Mann ganz richtig sagte› eine unendliche Geistesgegenwart oder besser Schlagfertigkeit dazu, um mit dem Augenöffnen alles, was d(as>a) ist, gewissermassen an der gleichen Stelle zu fassen, an der man es am Abend losgelassen hat. Darum sei auch der Augenblick des Erwachens der riskanteste Augenblick im Tag, sei er einmal überstanden, ohne dass man irgendwohin von seinem Platze fortgezogen wurde, so könne man den ganzen Tag über getrost sein. (KKA P App., 168)
Diese Erfahrung des Erwachens-Schocks ist für die Ordnungsfindung in der Welt durch Architektur für die Helden Kafkas – die menschlichen wie die tierischen – von entscheidender Bedeutung. Der Schock kann die menschliche Brücke, die Orientierung zu schaffen verspricht, jeden Augenblick zum Einsturz bringen. Und noch ein zweites Moment tritt hinzu, das in Kafkas Welt die Lebensordnung durch Architektur – vom Blick durch das Fenster hinaus gewonnen – in Gefahr bringt: der sprunghafte Wechsel des Protagonisten beim Wahrnehmungsvorgang von Welt zwischen performativer Teilnahme am Leben und distanzierter Beobachtung von diesem; in architektonischer Perspektive ausgedrückt: der Wechsel zwischen Wohnen im Haus-Inneren und nomadischer Beobachtung dieses Wohnens von außen. Oder abermals anders gesagt: die tödliche Dialektik von Handeln und Beobachten, von Implikation ins Leben und Distanz zu diesem. Es ist eine Erfahrung, die für Kafka aus dem Schreiben erwächst: beispielsweise aus der Erfahrung Georg Bendemanns im Urteil, aus dem Schreiben des Briefs, auf dem Schreibtisch am Fenster, an den Petersburger Freund – mit dem Blick auf die Brücke über den Fluss. Im Tagebuch notiert sich Kafka zu dieser gleitenden Dialektik von Handeln und Beobachten, deren Problem ihn von Anfang an begleitet hatte, am 27. Januar 1922: Merkwürdiger, geheimnisvoller, vielleicht gefährlicher, vielleicht erlösender Trost des Schreibens: das Hinausspringen aus der Totschlägerreihe Tat – Beobachtung, Tat – Beobachtung, indem eine höhere Art der Beobachtung geschaffen wird, eine höhere, keine schärfere, und je höher sie ist, je unerreichbarer von der »Reihe« aus, desto unabhängiger wird sie, desto mehr eigenen Gesetzen der Bewegung folgend, desto unberechenbarer, freudiger, steigender ihr Weg. (KKA T, 892) 17 17 | Kafka, Franz: Tagebücher, hg. v. Hans-Gerd Koch, Michael Müller u. Malcolm Pasley, Frankfurt a.M.: Fischer 1990 (= Schriften – Tagebücher – Briefe. Kritische Ausgabe), S. 892.
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Diese Aufzeichnung spricht von der Gespaltenheit des Lebensvollzugs – dem fortwährenden Oszillieren und Alternieren zwischen Handeln und Beobachten, zwischen performativen und konstativen Akten, zwischen Lebensteilnahme und Lebensdistanz. Und es ist das Schreiben, das dichterische Schreiben zumal, das, auf einer höheren Ebene, eine merkwürdig zwiespältige Art dieses Zusammenspiels von Handeln und Beobachten darstellt. Die »Freudigkeit« des steigenden Wegs zu finden, war zeitlebens das Bestreben Kafkas. Entscheidend blieb aber, dass durch dieses »Hinausspringen aus der Totschlägerreihe« der ruhige Blick auf das Leben und das Wahrnehmungsspiel zwischen Subjekt und Objekt zunehmend unmöglich gemacht wird: also gleichsam das Fenster, das den Blick auf die Welt gestattet, sich öffnet und gleichzeitig schließt. Es ist, so gesehen, der Zwang, fortgesetzt zu wechseln: zwischen dem Blick von innen, durch das Fenster, auf die Welt einerseits; der Beobachtung dieses Blicks und seiner Individualität stiftenden Kraft von außen andererseits. Eine Tagebuchaufzeichnung Kafkas aus der gleichen Zeit, nämlich vom 9. März 1922, geht sogar so weit, die Öffnung des Blicks auf die Welt überhaupt in Frage zu stellen, weil es ausgerechnet die Selbstbeobachtung ist, die sie unmöglich macht. Das »Hinausspringen aus der Totschlägerreihe Tat – Beobachtung« führt, so betrachtet, zu gänzlichem Weltverlust. Was passiert, fragt Kafka sich in dieser Aufzeichnung, wenn »durch drängende Selbstbeobachtung die Öffnung, durch die man sich in die Welt ergießt, zu klein oder ganz geschlossen würde?« Und er gibt sich die Antwort: »Weit bin ich zu Zeiten davon nicht. Ein rücklaufender Fluß.« (KKA T, 910)
A RCHITEK TUR ALS D ISPOSITIV DES L EBEN -E RZ ÄHLENS Wenn Marcel Proust die Komposition seiner Recherche mit dem Auf bau einer mittelalterlichen Kathedrale vergleicht, so könnte man es vielleicht die Illustration eines Schreibaktes durch ein Architekturgleichnis nennen. Bei Kafka liegen die Dinge anders. Es geht ihm nicht um eine Allegorie des Schreibaktes. Vielmehr bewegen sich seine Protagonisten selbst durch komplexe ambigue Architekturen; aber freilich sind es umgekehrt auch die Architekturen, aus denen das Handeln und Verhalten der Protagonisten sich entwickelt. Es geht, so könnte man sagen, bei Kafka um ein
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bauliches Ordnungs- oder Unordnungsprinzip, das narrative Konstruktionsimpulse gibt: von den geschilderten Bauten hin zu den erzählten Akteuren und Geschichten – und in umgekehrter Richtung wieder zurück. Wie kann man sich das vorstellen? In Kafkas Fragmenten findet sich ein Text, der das Leben in einer Karawanserei zum Thema hat. Er zeigt das Problem einer solchen »alltäglichen Verwirrung« in wünschenswerter Deutlichkeit. Da heißt es: Es war nur ein kleiner Ort, eine winzige Oase, aber sie war ganz von der Karawanserei ausgefüllt und die war nun allerdings riesenhaft. Es war für einen Fremden, so schien es mir wenigstens, unmöglich sich dort zurechtzufinden. Die Bauart verschuldete das auch. Man kam z.B. in den ersten Hof, aus dem führten etwa zehn Meter von einander entfernt zwei Rundbögen in einen zweiten Hof, man gieng durch den einen Bogen und kam nun statt in einen neuen großen Hof, wie man erwartet hatte, auf einen kleinen finstern Platz zwischen himmelhohen Mauern, erst weit in der Höhe sah man beleuchtete Loggien. Nun glaubte man sich also geirrt zu haben und wollte in den ersten Hof zurückgehn, man ging aber zufällig nicht durch den Bogen zurück durch den man gekommen war, sondern durch den zweiten nebenan. Aber nun war man doch nicht auf dem ersten Platz, sondern in einem andern viel größeren Hof voll Lärm, Musik und Viehgebrüll. Man hatte sich also geirrt, ging wieder auf den dunklen Platz zurück und durch den ersten Türbogen. Es half nichts, wieder war man auf dem zweiten Platz und man mußte durch einige Höfe sich durchfragen ehe man wieder in den ersten Hof kam, den man doch eigentlich mit paar Schritten verlassen hatte. (KKA NII, 355f.)18
Auf den ersten Blick würde man diese Topographie – und die Bewegung des Fremden, der sie durchmisst – als eine labyrinthische bezeichnen, als ein Spiel mit einem Architekturrätsel. Aber sie ist nicht nur das. Bei genauerem Zusehen ist es eher ein irritierendes Auseinanderklaffen von Bewegungsplan des Subjekts und »Bauart« des architektonischen Ensembles, auf das es hier ankommt. Subjektive Absicht und vorgegebene Raumarchitektur lassen sich nicht aufeinander abstimmen: Dies ist es eigentlich, was die Fremdheit ausmacht, von der im Text die Rede ist. Daraus ergeben sich auch die Widersprüche in der Erfahrung dieser 18 | Kafka, Franz: Nachgelassene Schriften und Fragmente II, hg. v. Jost Schillemeit, Frankfurt a.M.: Fischer 1992 (= Schriften – Tagebücher – Briefe. Kritische Ausgabe), S. 355f.
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architektonisch artikulierten Welt: Da ist eine winzige Oase – in der eine riesenhafte Karawanserei errichtet ist; da sind zwei Rundbögen an einem Platz – die doch nicht als Eingang und Ausgang in dieselbe Lokalität fungieren; da ist die Erwartung, auf einen großen Hof zu treffen – und dieser erweist sich dann als kleiner, finsterer Platz; da ist Helligkeit – die ins Dunkel führt; da ist Stille – die in Lärm und Viehgebrüll umschlägt. Und dann aber, als ubiquitäre und unauflösbare Widersprüchlichkeit: Die Wohnungen scheinen von ständigen Gästen besetzt. Andererseits aber sind es nur Karawanen und Nomaden, die hier momentlang Station machen, bald draußen, bald drinnen kampierend. (KKA NII, 356f.) Die Situation, die Kafka in diesem Text über die riesige Karawanserei in der kleinen Oase schildert, ist gewissermaßen die Urszene schlechthin der Fremderfahrung des Subjekts in Kafkas Schriften, die sich als Erzählen am Leitfaden der Architektur präsentiert: im Alternieren von Weg-Findung und Abirren vom Weg zugleich. Und so richtet sich die ganze Aufmerksamkeit der Protagonisten von Kafkas Texten denn auch darauf, ob es sich um lügnerische Inszenierung oder erlebte Wahrheit handelt;19 und sie richtet sich darauf, zur Auflösung dieses Auseinanderklaffens von Wegplan und Baulichkeit architekturale Strategien zu entwickeln, die gegen alle Wahrscheinlichkeit kulturelle Ordnung stiften und es vermöchten, dem planenden Subjekt seinen Platz in der Welt zu schaffen. Dieser Prozess des Auseinanderklaffens von Weg-Findung und Abirren steht aber im Zeichen der Verwandlung. Verwandlung ist Kafkas performativer Schlüsselbegriff schlechthin. Es geht, wie in der abendländischen Literatur seit Ovid, um die Bewahrung des Individualitätskerns in der ständigen Verwandlung des menschlichen Subjekts. Es ist das 19 | Hierzu die großartige, gleich darauf folgende Stelle, Kafkas ganze Theorie von »Spiel« und »Theater« zusammenfassend: »Das ist ein Leben zwischen Kulissen. Es ist hell, das ist ein Morgen im Freien, dann wird gleich dunkel und es ist schon Abend. Das ist kein komplicierter Betrug, aber man muß sich fügen, solange man auf den Brettern steht. Nur ausbrechen darf man, wenn man die Kraft hat, gegen den Hintergrund zu, die Leinwand durchschneiden und zwischen den Fetzen des gemalten Himmels durch, über einiges Gerümpel hinweg in die wirkliche enge dunkle feuchte Gasse sich flüchten, die zwar noch immer wegen der Nähe des Teaters Teatergasse heißt, aber wahr ist und alle Tiefen der Wahrheit hat.« (KKA NII, 358)
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Paradox, ständig in Verwandlung begriffen und doch immer noch derselbe zu sein: auf der Suche nach jenen Strategien, die vermitteln könnten: zwischen Mensch und Tier, zwischen kultureller Konstruktion und lebendem Organismus.20 Diese Strategien gehen in drei Richtungen. Sie werden zum einen auf transgressiv orientierte Architekturelemente ausgerichtet. Exemplarisch hierfür ist der Mensch, dessen Körper zur Brücke wird. Zum anderen richten sie sich auf horizontal orientierte Bauwerke, wie zum Beispiel die große Chinesische Mauer, die ein unabsehbar sich dehnendes Kaiserreich umschließt und gegen Nomaden schützt, wie in den Nachlassfragmenten mit dem Titel Beim Bau der chinesischen Mauer. Innerhalb solcher Bauwerke sind es Labyrinthe, die den architekturalen Kern von Mauern, Höfen, Palästen, Ein- und Ausgängen sowie Freitreppen bilden, wie in der Sage von der Kaiserlichen Botschaft (KKA D, 280-282), die Kafka zunächst inmitten des Fragments Beim Bau der chinesischen Mauer ansiedelte und dann separat im Landarzt-Band veröffentlichte. Drittens aber und zuletzt richten sich die Einräumungs-Strategien der Kafka’schen Protagonisten auf vertikal orientierte Baulichkeiten, also Türme, die in den Himmel gebaut, und Schächte, die in die Tiefe des Bodens gegraben werden. Von dieser in ihrer Ausrichtung indefiniten Bewegung im Raum nach oben und nach unten ist vor allem in jenen Texten Kafkas die Rede, die vom Turmbau zu Babel handeln,21 wie zum Beispiel die kleine NachlassErzählung Das Stadtwappen (KKA NII, 318f., 323); oder in jenen anderen Texten, die von der Grabung in die Tiefe berichten, wie zum Beispiel das späte Fragment einer Erzählung mit dem Titel Der Bau (KKA NII, 576-632). Paradoxe Sätze Kafkas wie die folgenden aus verschiedenen Epochen seines Lebens suchen diese doppelte Bewegung nach oben und nach unten zu fassen. So heißt es in einem Brief an Max Brod aus dem Jahre 1913: »[...] das was ich gestern zeigte [...] ist natürlich nur der Vorgang in einem Stockwerk des innern babylonischen Turmes, und was oben und
20 | Vgl. hierzu meinen Vortrag, gehalten an der Universität Princeton am 1. April 2014, der demnächst als Aufsatz erscheinen wird: »Franz Kafka: Die Verwandlung – ein Deutungsversuch«. 21 | Es war Friedrich Beißner, der zuerst auf diese architekturalen Strukturen aufmerksam gemacht hat: Beißner, Friedrich: Der Schacht von Babel. Zu Kafkas Tagebüchern, Stuttgart: Kohlhammer 1963.
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unten ist, weiß man in Babel gar nicht.« (Br 119)22 Ein Tagebucheintrag aus dem Jahre 1914 lautet dann: »[...] ich versinke [...] lotrecht [...] durch einen Schacht, der genau den Durchmesser meines Körpers aber eine endlose Tiefe hat. Diese Endlosigkeit verlockt zu keinen besondern Leistungen, alles was ich täte wäre kleinlich, ich falle sinnlos und es ist das Beste.« (KKA T, 528) Und die berühmteste Äußerung Kafkas zu dieser Umkehrung im vertikalen Sinne richtet sich auf die Lebenstopographie seiner eigenen Generation, jenes »Wir« der Anfangsjahrzehnte des 20. Jahrhunderts: »Wir graben den Schacht von Babel« (KKA NII, 484) – verstanden als Widerruf der Sünde der Kinder Noahs, die sich mit dem babylonischen Turmbau, wie es im alten Testament heißt, »einen Namen machen« wollten (1. Mos. 11,4). Im Hinblick auf diese Versuche Kafkas und der Kafka’schen Protagonisten, Architekturkonzepte zu entwickeln, die kulturelle Ordnung stiften, um dem in der Welt fremden Subjekt einen Platz in der Lebensordnung einzuräumen, möchte ich noch einmal zwei architekturale Szenarien Kafkas einander gegenüberstellen, zwei entgegengesetzte Raumordnungs-Paradigmen, wenn man so will: nämlich das horizontale Modell, wie es im Fragment Beim Bau der chinesischen Mauer entwickelt wird; und das vertikale Modell, das die späte Erzählung Der Bau entwirft. Zunächst also zu dem Text Beim Bau der chinesischen Mauer, der im März 1917 entstanden ist. Was hier erzählt wird, ist die Baugeschichte eines Jahrhundertwerks der Architektur, des Weltwunders23 der großen Chinesischen Mauer. Berichterstatter ist ein Ethnologe, ein Kenner der »vergleichenden Völkergeschichte« (KKA NI, 348), wie er selbst sich nennt,24 der sich als Spezialist für Baugeschichte ausgibt. Die Mauer, so seine Diagnose, diene zum Schutz der Bewohner des Chinesischen Reichs und der Kaiserstadt vor den Nomaden aus dem Norden. Während des Baus der Mauer sei, so berichtet er, die Baukunst die wichtigste 22 | Kafka, Franz: Gesammelte Werke. Briefe 1902–1924, hg. v. Max Brod, Frankfurt a.M.: Fischer 1966, S. 119. 23 | Die »große Mauer« gehört offiziell weder zu den alten sieben Weltwundern, noch zu den modernen. 24 | »Ich habe mich schon teilweise während des Mauerbaues und nachher bis heute fast ausschließlich mit vergleichender Völkergeschichte beschäftigt – es gibt bestimmte Fragen denen man nur mit diesem Mittel gewissermaßen an den Nerv herankommt – […].« (KKA NI, 348)
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Wissenschaft im Reich gewesen (KKA NI, 339). Die wichtigste Strategie des Baus aber wiederum sei die des »Systems des Teilbaus« (KKA NI, 341) gewesen: also der Fragmentierung der Arbeitsschritte, mit der Folge, dass die Mauer als Umgrenzung des Reiches nicht konsequent geschlossen werden konnte. Hier ruht das eigentliche Paradox des Kafka’schen Architekturkonzepts: das große, auf Vollkommenheit orientierte Meisterwerk auf der einen Seite;25 das Stückwerk und die »Bastelei« (KKA NII, 586f.), die Fragmentierung im Einzelnen, die das Ganze zuletzt scheitern lässt, auf der anderen Seite. An dieser prekären Stelle der Argumentation führt der Berichterstatter – zur Erläuterung dieses Grunddilemmas – den Vergleich der großen Chinesischen Mauer mit dem Turmbau zu Babel ins Feld. Ein Gelehrter, so heißt es, habe ein Buch über diesen Vergleich geschrieben und gezeigt, dass der Bau des Turms »an der Schwäche des Fundaments scheiterte und scheitern mußte«; daraus aber zugleich die Folgerung gezogen, dass »erst die große Mauer [...] zum ersten Mal in der Menschenzeit ein sicheres Fundament für einen neuen Babelturm« (KKA NI, 343) geschaffen habe, also zuerst die Mauer und dann der Turm gebaut werden müsse, damit das Bauwerk gelinge. Auf diese Unmöglichkeit in der Theorie des Mauerbaus – nämlich dass die Chinesische Mauer erst das Fundament für den glückenden Babelturm abgeben könne – wird nun aber noch eine zweite Unmöglichkeit getürmt: nämlich die Auffassung von der Zwiespältigkeit der den Bau verwaltenden Institutionen im Chinesischen Reich. Diese seien nämlich klar und unklar zugleich. So erklärt der Experte für vergleichende Völkergeschichte denn auch, er habe herausgefunden, »daß wir Chinesen gewisse volkliche und staatliche Einrichtungen in einzigartiger Klarheit, andere wieder in einzigartiger Unklarheit besitzen« (KKA NI, 348). Und er fährt fort: »Den Gründen insbesondere der letztern Erscheinung [also der Unklarheit der Institutionen] nachzuspüren, hat mich immer gereizt, reizt mich noch immer und auch der Mauerbau ist von diesen Fragen wesentlich betroffen.« (KKA NI, 348) Und der Völkergeschichtler wird bei seiner Suche fündig. Das Resultat seiner Überlegungen lautet: »Nun gehört zu unsern allerundeutlichsten Einrichtungen jedenfalls das Kaisertum« (KKA NI, 349) – also die höchste Spitze aller Institutionen. 25 | »[…] die Ungeduld den Bau in seiner Vollkommenheit endlich erstehn zu sehn.« (KKA NI, 340)
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An dieser Stelle fügt der Erzähler eine Sage ein (KKA NI, 351), die diese undeutliche Einrichtung des Kaisertums, als einer sozialen Kommunikationsfigur, beleuchtet. Diese Sage, die zugleich eine Kulturdiagnose gibt, bietet die wohl eindrucksvollste Architekturphantasie Kafkas; eine Kommunikationsaporie, wenn man so sagen will, architektonisch verdeutlicht.26 Es handelt sich um den Text mit dem Titel Eine kaiserliche Botschaft, den Kafka zu Lebzeiten in seinem Landarzt-Band veröffentlichte. Seine paradoxe Einsicht lautet: je vollkommener die Kommunikationsbedingungen, desto unwahrscheinlicher die Ankunft der Botschaft. Der Text beginnt so: Der Kaiser – so heißt es – hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. Den Boten hat er beim Bett niederknieen lassen und ihm die Botschaft ins Ohr zugeflüstert; so sehr war ihm an ihr gelegen, daß er sich sie noch ins Ohr wiedersagen ließ. Durch Kopfnicken hat er die Richtigkeit des Gesagten bestätigt. Und vor der ganzen Zuschauerschaft seines Todes – alle hindernden Wände werden niedergebrochen und auf den weit und hoch sich schwingenden Freitreppen stehen im Ring die Großen des Reichs – vor allen diesen hat er den Boten abgefertigt. Der Bote hat sich gleich auf den Weg gemacht […]. (KKA D, 280f.)
Und Kafkas Text berichtet weiter, wie der Bote sich den Weg durch die Menge bahnt, auf das »Zeichen der Sonne« auf seiner Brust deutend; wie er sich »nutzlos« abmüht; sich »durch die Gemächer des innersten Palastes« zwängt; »die Treppen hinab […]; die Höfe wären zu durchmessen; und nach den Höfen der zweite umschließende Palast«; »und so weiter durch Jahrtausende« (KKA D, 281f.) … Hierauf aber heißt es weiter: […] und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor – aber niemals, niemals kann es geschehen – liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes. Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. – Du aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt. (KKA D, 282) 26 | Dieser Aporie zwischen »Herr und Knecht« wird, komplementär, mit dem Text Das Schweigen der Sirenen (KKA NII, 40-42) die Kommunikationsaporie zwischen »Mann und Frau« zugeordnet.
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Dieser einzigartige Text kombiniert die vertikale mit der horizontalen Architektur-Struktur. Er setzt die Hierarchie des Babelturms auf das Fundament des von der Chinesischen Mauer umschlossenen Reichs und zeigt die aporetische Struktur dieser Konstruktion. Er verknüpft Schutzfunktion – gegen die Nomaden – mit der Kommunikationsfunktion, der kulturellen Errungenschaft des Dialogs, personifiziert im Boten, der die Paläste, die Höfe und die Residenzstadt durcheilt. Beide Funktionen werden aber zuletzt ad absurdum geführt: weil das Fundament, wegen des »Systems des Teilbaus«, nicht trägt,27 und weil der Weg, in seiner hierarchischen Struktur, unendlich ist, vom sterbenden Kaiser zum »in die fernste Ferne« geflüchteten Untertan. Am Ende dieser Flucht aus einer keinen Schutz gewährenden und keine Kommunikation stiftenden Architektur steht aber dann der jämmerliche Untertan, das Subjekt, das sub-iectum, und erträumt sich, am Fenster sitzend, beides, den Schutz und das letzte erlösende Wort des sterbenden Souveräns – in Kafkas architekturaler Schlüsselposition, dem Fensterblick. Es ist nun die Traumarchitektur, die an die Stelle der institutionellen Architektur tritt: ihrer unauflöslich miteinander verwobenen »einzigartigen Klarheit« und ihrer »einzigartigen Unklarheit« zugleich. Ich möchte nun noch etwas zu dem zweiten Architektur-Szenario Kafkas sagen, das sich in der späten Erzählung Der Bau und ihrem vertikalen Baukonzept auffinden lässt. Während es im Bau der chinesischen Mauer um die Architektur-Geschichte einer Gemeinschaft geht, handelt es sich hier, im Text Der Bau, um die Konstruktion – oder Rekonstruktion – einer extremen Individualgeschichte; um die Geschichte eines Tiers, das selbst erzählt, wie es für sich zum Schutz einen Bau in den Erdboden gräbt – und diesen gegen potenzielle Feinde befestigt. Der Bau, heißt es im Text, »ist so gesichert, wie eben überhaupt auf der Welt etwas gesichert werden kann« (KKA NII, 576). Gleichzeitig aber, während das Tier »im innersten seines Baues in Frieden lebt« – und das ist das Heikle an der Situation –, »bohrt sich langsam und still der Gegner von irgendwoher an mich heran« (KKA NII, 577), wie es heißt. Das Tier sieht sich in der Position des Hausbewohners, ja »Hausbesitzers« (KKA NII, 580), der sich gegen nomadisierende Feinde zur Wehr setzt. Man könnte 27 | Die »Nomaden«, die »wie Heuschrecken ihre Wohnsitze wechselten«, hätten, so der Völkergeschichtler, »deshalb vielleicht einen bessern Überblick über die Baufortschritte [...] als selbst wir die Erbauer« (KKA NI, 338f.).
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fast von einer Art Bildungsroman – oder gar autobiographischer Erinnerung eines in radikaler Einsamkeit aufwachsenden Wesens28 – sprechen. So bezeichnet sich das Tier als »alter Baumeister« (KKA NII, 628), der sich auf dem Höhepunkt seines Lebens befindet (KKA NII, 577) und auf seine unreifen Lehrlings-, Jünglings- und Mannesjahre zurückblickt (KKA NII, 610, 628).29 Der Bau ist nun, in den Augen des Tiers, gesichert und wohlbefestigt, komponiert um die Keimzelle eines Labyrinths. Das Tier sagt von sich: [...] und so tobte sich dort die erste Arbeitsfreude in einem Labyrintbau aus, der mir damals [als ich Lehrling war] die Krone aller Bauten schien, den ich aber heute wahrscheinlich richtiger als allzu kleinliche, des Gesamtbaues nicht recht würdige Bastelei beurteile [...]. (KKA NII, 586f.)
Aus diesem Labyrinth ist dann die Architektur des ganzen späteren Baus hervorgegangen: fünfzig gesicherte Ruheplätze; ein großer Burgplatz mit Essvorräten in der Mitte; von diesem ausgehend zehn Gänge; zwei Ausgänge ins Freie – Kafka liebt Auf-Zählungen, die sein Er-Zählen steuern! Die Konstruktion dieses Baus ist für das Tier aber nicht nur »Lebenssicherung« (KKA NII, 600), sondern zugleich die Konstruktion seiner selbst, seiner Lebensordnung, seines Daseinsplans. Es heißt im Text: Zuviel beschäftigt mich der Bau. Schnell bin ich vom Eingang fortgelaufen, bald aber komme ich zurück. Ich suche mir ein gutes Versteck und belauere den Eingang meines Hauses – diesmal von außen – tage- und nächtelang. [...] Mir ist dann, als stehe ich nicht vor meinem Haus, sondern vor mir selbst, während ich schlafe, und hätte das Glück gleichzeitig tief zu schlafen und dabei mich scharf bewachen zu können. (KKA NII, 590f.) 28 | Vgl. die Sequenz autobiographischer Anfänge im Tagebuch unter dem Titel Der kleine Ruinenbewohner (KKA T, 17-28), in denen Kafka, ganz zu Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn, einen Sozialisationsprozess außerhalb der Familie imaginiert – und zwar an einem exterritorialen Ort zwischen Natur und Kultur, »in einer Ruine in den Bergen« (KKA T, 17); auch hier findet sich die Fenstersituation: »[…] noch bin ich selbst ich der jetzt die Feder weggelegt hat, um das Fenster zu öffnen, vielleicht die beste Hilfskraft meiner Angreifer.« (KKA T, 25f.) 29 | Ein kaum überhörbarer Anklang an Goethes Spiel mit dem Namen »Wilhelm Meister«, »Wilhelm Schüler«.
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Es ist dieser Punkt, an dem Kafka die Instabilität der Lebensarchitektur seines Protagonisten in einem Augenblick offenbart: als den Versuch eines »Hinausspringens aus der Totschlägerreihe Tat – Beobachtung, Tat – Beobachtung«. Das eben noch grabende Tier schlüpft in seinen Bau, verschmilzt mit ihm, und ist gleichzeitig scharfer Beobachter dieses Vorgangs, dieser performativen Vereinigung. Das Tier entwickelt in diesem prekären Augenblick folgenden Gedankengang: Ich hätte den ersten Gang so anlegen müssen, daß er, in gehörigem Abstand von einander zwei Eingänge gehabt hätte, so daß ich durch den einen Eingang [...] hinabgestiegen wäre, rasch den Anfangsgang bis zum zweiten Eingang durchlaufen, die Moosdecke dort, die zu dem Zwecke entsprechend hätte eingerichtet sein müssen, ein wenig gelüftet und von dort aus die Lage einige Tage und Nächte zu überblicken versucht hätte. (KKA NII, 598)
Es geht offenbar, bei diesem Hinausspringen, um die Erzielung einer vollkommenen Lebensarchitektur. So heißt es im Text weiter: Und damit verliere ich mich in technische Überlegungen, ich fange wieder einmal meinen Traum eines ganz vollkommenen Baues zu träumen an, das beruhigt mich ein wenig, entzückt sehe ich mit geschlossenen Augen klare und weniger klare Baumöglichkeiten, um unbemerkt aus- und einschlüpfen zu können. (KKA NII, 599)
Dieser Vollkommenheitstraum geht denn auch so weit, dass der Bau selbst zur Person, zum Alter Ego des Tieres wird. Das Tier beginnt den Bau als ein »Du« zu apostrophieren: Euretwegen Ihr Gänge und Plätze, und Du vor allem Burgplatz, bin ich ja gekommen [...]. Was kümmert mich die Gefahr jetzt, da ich bei Euch bin. Ihr gehört zu mir, ich zu Euch, verbunden sind wir, was kann uns geschehn. [...] Und mit seiner Stummheit und Leere begrüßt nun auch mich der Bau und bekräftigt was ich sage. (KKA NII, 605)
Diese Konstruktion des Selber-Lebens durch die Architektur, nach einem Modell der Selbstbezüglichkeit, wird aber dann gefährdet, als »das Rauschen der Stille auf dem Burgplatz« (KKA NII, 612) durch das SichHeranbohren des Feindes, durch ein zischendes Geräusch bedroht wird
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(KKA NII, 606). Dieses fremde Geräusch oder Geräusch der Fremdheit weckt nun in dem Tier die selbstzerstörerische Phantasie, dass es nicht, wie bisher geglaubt, im eigenen architektonischen System lebt, sondern, ohne es zu wissen, »in einem fremden Bau«: »und der Besitzer gräbt sich jetzt an mich heran« (KKA NII, 627). Nicht mehr der eigene Lebensplan des Tiers, im Bau verkörpert, gilt fortan, sondern der Bauplan des anderen, fremden Angreifers.30 Damit aber bricht alle Selbstbehauptungskraft des Tieres in sich zusammen: In meinem Erdhaufen kann ich natürlich von allem träumen, auch von Verständigung, trotzdem ich genau weiß, daß es etwas derartiges nicht gibt und daß wir in dem Augenblick, wenn wir einander sehn, ja wenn wir einander nur in der Nähe ahnen, gleich besinnungslos, keiner früher keiner später, mit einem neuen andern Hunger, auch wenn wir sonst völlig satt sind, Krallen und Zähne gegeneinander auftun werden. (KKA NII, 630f.)
D ER » KLEINE R UINENBE WOHNER « Kafkas Versuche, Leben zu erzählen, sind Akte der Architektur, der räumlichen Konstruktion, der »Baukunst«. Er experimentiert dabei mit der baulichen Gestaltung von Gemeinschaft, wie in den Texten Ein altes Blatt und Beim Bau der chinesischen Mauer. Er experimentiert mit der Herstellung von Individualität durch Zuordnung von Räumen, wie in den Texten Das Urteil und Der Bau. Dass diese Baumaßnahmen zu Ruinen oder Gefängnissen führen, wie etwa im Bericht für eine Akademie, oder aber zum Einsturz kommen, wie der Text Die Brücke zeigt: diesen Gedanken hat Kafka immer wieder mit seinen Entwürfen umkreist. Die Protagonisten seiner Texte sind bestenfalls »kleine Ruinenbewohner« – wie der sprechende Titel eines frühen autobiographischen Entwurfs lautet.31 Das Bild- und Strukturen-Repertoire der Architektur erweist 30 | »Im übrigen suche ich den Plan des Tiers zu enträtseln. Ist es auf Wanderschaft oder arbeitet es in seinem eigenen Bau?« (KKA NII, 630) 31 | Siehe die Sequenz der Anfänge des Textes Der kleine Ruinenbewohner am Beginn von Kafkas Tagebuch (KKA T, 17-28). Vgl. hierzu Neumann, Gerhard: »›Wie eine regelrechte Geburt mit Schmutz und Schleim bedeckt‹. Die Vorstellung von der Entbindung des Textes aus dem Körper in Kafkas Poetologie«, in: Christian
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sich so als ein Schlüsselmoment von Kafkas Konzeption der Lebensordnung. Hiermit verbinden sich mehrere Argumente zum Verständnis von Kafkas Poetologie. Ein erstes Argument lautet: Die Vorstellung der »Architektur« scheint Kafka im Sinne einer »Kunst der Künste« aufzufassen, deren Merkmal es ist, Träger des Geheimnisses der Konstruktion in der Kultur zu sein: als Widerpart des »Organismus«, der seinen Weg aus der Natur in die Kultur sucht. Immer wieder thematisiert Kafka in seinen Texten den problematischen kulturellen Doppelakt der Verwandlung im Spiel von Konstruktion und Destruktion – der Herstellung und der Zerstörung von Raumordnung und Sinnordnung. Ein zweites Argument kommt hinzu: Architektur offenbart für Kafka das Risiko der Innerlichkeit und ihrer Konstruktion als eigentliches poetologisches Problem der Moderne. Was geschieht, so lautet die Frage, bei der Erfindung des Subjekts zwischen Innen und Außen: auf dem Platz am Schreibtisch vor dem Fenster, als dem Rahmen, der den Blick auf Fluss und Brücke freigibt? Auf ein drittes Argument ist des Weiteren hinzuweisen: Architektur befördert das Spiel des »Hinausspringens aus der Totschlägerreihe Tat – Beobachtung, Tat – Beobachtung«, als das eigentliche, gefährliche Spiel der Kunst. Mithin als das Spiel, sich dem Haus, das man gebaut hat, anzuvertrauen und doch zugleich von außen, als der Exilierte, darauf zu blicken – und scharf zu beobachten, wie man hineinschlüpft, wie man es verlässt, wie man daraus vertrieben wird. Ein viertes Argument dann aber: Lebens-Architektur ist für Kafka stets das Beobachtungsfeld eines Ethnologen der eigenen Kultur, einer »teilnehmenden Beobachtung« also, wie sie der Experte für vergleichende Völkergeschichte im Text Beim Bau der chinesischen Mauer praktiziert, oder der Forschungsreisende in der Erzählung In der Strafkolonie.32 Der ethnographische Blick offenbart die Spannung zwischen Hausbesitzer und Nomaden, zwischen gerahmtem Fensterblick und Begemann/David E. Wellbery (Hg.), Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, Freiburg: Rombach 2002, S. 293-324. 32 | Verwandte Figuren sind der Forscherhund in Forschungen eines Hundes oder der Volksschullehrer im Riesenmaulwurf – aber auch auf die Impresarios könnte verwiesen werden, die, im Hungerkünstler oder im Bericht für eine Akademie, aber auch in der späten Erzählung Erstes Leid, (vergeblich) als Manager kultureller Integration agieren.
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freiem Himmel als schwelender Dichotomie in der Kultur. Und ein fünftes Argument zuletzt: Das ganz Besondere an Kafkas Vorstellung und Konzept von Architektur scheint mir darin zu bestehen, dass er »Baukunst« nicht als (naheliegende) Allegorie des literarischen Verfahrens begreift, sondern als Dispositiv im narrativen Raum vor Augen stellt, als Organon und Dilemma zugleich der Konstruktion von Welt. Die genaue Einsicht Kafkas, die er sich selbst nur gelegentlich und contre coeur eingesteht, liegt darin, dass sich ihm zwar der Prozess der Kultur als ein Prozess architekturaler Ordnungsstiftung zeigt, zielend auf Ganzheit und Abgeschlossenheit hervorzubringender Werke – um »die Welt ins Reine, Wahre, Unveränderliche« (KKA T, 838) zu heben, wie er einmal gesteht; dass dieser Prozess aber zuletzt auf Fragmentarisches geht, auf »Bastelarbeit«, um mit dem Tier im Bau zu sprechen,33 also auf ein »System des Teilbaus« hinausläuft, wie es beim Bau der Chinesischen Mauer Anwendung findet. Kultur, so Kafkas Voraussetzung, setzt und verwirklicht sich nicht mehr in vollendeten »Werken«, sondern in Hybridisierungen oder Korrosionen von Ordnungen, als Auslaufen in wuchernde Offenheit oder als Zerfallen in ein formloses Chaos aus Bruchstücken. Kafka war sich vollkommen im Klaren darüber, dass sein Konzept der Lebensarchitektur im Zeichen des Werkgedankens in der Moderne, die er mit seinen Texten mittrug, poetisch nicht realisiert werden konnte; und zwar, da das architekturale Konzept des Lebensplans eines Subjekts mit dem Ort, dem Raum für die Errichtung dieses Baus, nicht übereinzubringen war. In einer gestrichenen Variante zu der Erzählung Der Bau wird diese Einsicht aufs genaueste formuliert. Es spricht das mit der Architektur seines Baus beschäftigte Tier:
33 | Vgl. auch den Brief an Hans Mardersteig vom 6. Mai 1922: »[...] auch was ich in allerletzter Zeit bei zarter Gesundheitsbesserung zu schreiben versucht habe, ist mangels der vollständigen Vorbedingungen und vielleicht auch aus sonstigen unkontrollierbaren Gründen jämmerliches Zeug, öde Strickstrumpfarbeit, mechanisch gestückelte, kleinliche Bastelei. Max hat einiges davon gehört; wenn vielleicht in München die Rede darauf kam, hat er dieses mein Urteil gewiß bestätigt, allerdings nur verhältnismäßig, denn alles was ich ihm vorlese, erzähle ich in den schönen Traum hinein, den er von mir träumt und es wird gleich traumhaft erhöht. Man kann eben zweierlei zugleich sein: eines Freundes guter Traum und das eigene böse Wachsein.« (Archiv der Kritischen Kafka Ausgabe Wuppertal)
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Etwas Baumeistermässiges muss aber immer in meinem Blut gewesen ‹sein›, schon als Kind zeichnete ich Zick-zack- und Labyrinthpläne in den Sand und eilte im Geiste auf weichen Pfoten über die [schönen stillen Wege] ‹vielen Striche› hin. Und überall suchte ich einen passenden Ort für den Bau und nirgends konnte ich ihn finden, nirgends passte der Ort zum Plan, kein Ort schien würdig, den Plan aufzunehmen und kein Plan schien stark genug sich einem Ort einzudrücken. (KKA NII App., 429f.)
Der Plan ist nicht stark genug, sich einem Ort einzudrücken, kein Ort scheint würdig, den Plan aufzunehmen: Dies ist die Kafka’sche aporetische Formel der Lebenskonstruktion. Das Subjekt, das die Brücke zwischen beidem, Plan und Ort, als Lebensarchitektur schlagen könnte, stürzt in sich zusammen und endet – bestenfalls – als »Ruinenbewohner«. In einem Brief an Max Brod vom 5. Juli 1922 aus Planá diagnostiziert Kafka seine Situation folgendermaßen: Ich sitze hier in der bequemen Haltung des Schriftstellers, bereit zu allem Schönen, und muß untätig zusehn – denn was kann ich anderes als schreiben –, wie mein wirkliches Ich, dieses arme, wehrlose (das Dasein des Schriftstellers ist ein Argument gegen die Seele, denn die Seele hat doch offenbar das wirkliche Ich verlassen, ist aber nur Schriftsteller geworden, hat es nicht weiter gebracht; sollte die Trennung vom Ich die Seele so sehr schwächen können?) aus einem beliebigen Anlaß [...] vom Teufel gezwickt, geprügelt und fast zermahlen wird. Mit welchem Recht erschrecke ich, der ich nicht zuhause war, daß das Haus plötzlich zusammenbricht; weiß ich denn, was dem Zusammenbruch vorhergegangen ist, bin ich nicht ausgewandert und habe das Haus allen bösen Mächten überlassen? (Br 386)
L ITER ATUR Augustinus: Bekenntnisse. Lateinisch und deutsch, übers. v. Joseph Bernhart, Frankfurt a.M.: Insel 1987. Beißner, Friedrich: Der Schacht von Babel. Zu Kaf kas Tagebüchern, Stuttgart: Kohlhammer 1963. Brandstetter, Gabriele: »Brücken schlagen. Zu einem Bild aus metapherntheoretischer Sicht – Kafkas Die Brücke und Von den Gleichnissen«, in: Richard Hoppe-Sailer/Claus Volkenandt/Gundolf Winter (Hg.), Logik
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der Bilder. Präsenz – Repräsentation – Erkenntnis, Berlin: Reimer 2005, S. 271-283. Brüggemann, Heinz: Architekturen des Augenblicks. Raum-Bilder und Bild-Räume einer urbanen Moderne in Literatur, Kunst und Architektur des 20. Jahrhunderts, Hannover: Offizin 2002. — Das andere Fenster: Einblicke in Häuser und Menschen. Zur Literaturgeschichte einer urbanen Wahrnehmungsform, Frankfurt a.M.: Fischer 1989. Buzzi, Tomaso: »Città ideale, 1957–1981«, in: Winfried Nerdinger et al. (Hg.), Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur, Salzburg: Pustet 2006, S. 511-514. Hauser, Susanne/Kamleithner, Christa/Meyer, Roland (Hg.): Architekturwissen. Grundlagen aus den Kulturwissenschaften. Bd. 1: Zur Ästhetik des sozialen Raums, Bd. 2: Zur Logistik des sozialen Raums, Bielefeld: transcript 2011, 2013. Heidegger, Martin: »Bauen Wohnen Denken«, in: Susanne Hauser/ Christa Kamleithner/Roland Meyer (Hg.), Architekturwissen. Grundlagen aus den Kulturwissenschaften. Bd. 2: Zur Logistik des sozialen Raums, Bielefeld: transcript 2013, S. 38-48. Kafka, Franz: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, hg. v. Erich Heller u. Jürgen Born, Frankfurt a.M.: Fischer 1967. — Der Prozeß, hg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt a.M.: Fischer 1990 (= Schriften – Tagebücher – Briefe. Kritische Ausgabe). — Der Prozeß. Apparatband, hg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt a.M.: Fischer 1990 (= Schriften – Tagebücher – Briefe. Kritische Ausgabe). — Der Verschollene, hg. v. Jost Schillemeit, Frankfurt a.M.: Fischer 1983 (= Schriften – Tagebücher – Briefe. Kritische Ausgabe). — Drucke zu Lebzeiten, hg. v. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch u. Gerhard Neumann, Frankfurt a.M.: Fischer 1994 (= Schriften – Tagebücher – Briefe. Kritische Ausgabe). — Gesammelte Werke. Briefe 1902–1924, hg. v. Max Brod, Frankfurt a.M.: Fischer 1966. — Nachgelassene Schriften und Fragmente I, hg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt a.M.: Fischer 1993 (= Schriften – Tagebücher – Briefe. Kritische Ausgabe). — Nachgelassene Schriften und Fragmente II, hg. v. Jost Schillemeit, Frankfurt a.M.: Fischer 1992 (= Schriften – Tagebücher – Briefe. Kritische Ausgabe).
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— Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Apparatband, hg. v. Jost Schillemeit, Frankfurt a.M.: Fischer 1992 (= Schriften – Tagebücher – Briefe. Kritische Ausgabe). — Tagebücher, hg. v. Hans-Gerd Koch, Michael Müller u. Malcolm Pasley, Frankfurt a.M.: Fischer 1990 (= Schriften – Tagebücher – Briefe. Kritische Ausgabe). Luhmann, Niklas: »Copierte Existenz und Karriere. Zur Herstellung von Individualität«, in: Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 191-200. Nägele, Rainer: »Es ist als wäre. Zur Seinsweise eines alten Blattes«, in: Elmar Locher/Isolde Schiffermüller (Hg.), Franz Kaf ka, »Ein Landarzt«. Interpretationen, Bozen: Ed. Sturzflüge 2004, S. 61-72. Neumann, Gerhard: »Chinesische Mauer und Schacht von Babel. Franz Kafkas Architekturen«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 83 (2009), H. 3, S. 452-471. — »Landschaft im Fenster. Liebeskonzept und Identität in Robert Musils Novelle Die Vollendung der Liebe«, in: Neue Beiträge zur Germanistik 3 (2004), H. 1, S. 15-31. — »›Wie eine regelrechte Geburt mit Schmutz und Schleim bedeckt‹. Die Vorstellung von der Entbindung des Textes aus dem Körper in Kafkas Poetologie«, in: Christian Begemann/David E. Wellbery (Hg.), Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, Freiburg: Rombach 2002, S. 293-324. Siegert, Bernhard: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post. 1751– 1931, Berlin: B & B 1993. Simmel, Georg: »Brücke und Tür« [1909], in: Ders., Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, hg. v. Michael Landmann u. Margarete Susman, Stuttgart: Koeher 1957, S. 1-7.
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Der Blick von/nach außen Das Fenster im Film Malte Hagener
Auf den ersten Blick scheint die Differenz zwischen den beiden Ausdrucks- und Kunstformen Architektur und Film selbstevident und unhintergehbar zu sein. Die Architektur schafft gestaltete Räume zum Begehen und Bewohnen, der Film erzeugt flächige Bilder zum Betrachten. Es lässt sich auf dieser Grundlage eine ganze Reihe von Gegensatzpaaren finden: Raum versus Fläche, Materie versus Bild, Ding versus Repräsentation, Haptik versus Visualität. Auf den zweiten Blick ist das Verhältnis jedoch weit weniger eindeutig: Auch jenseits des derzeit so populären dreidimensionalen (also: räumlichen) Films oszilliert das Kino schon immer zwischen diesen beiden Polen, wie Rudolf Arnheim bereits 1932 in seiner klassisch gewordenen filmtheoretischen Studie bemerkte: »Filmbilder sind zugleich flächig und räumlich.«1 Der Film kann durch seine Mittel Räume wirklichkeitsgetreu darstellen, sodass wir diese zwar nicht mit realen verwechseln, aber doch die Vorstellung einer intimen Vertrautheit mit ihnen gewinnen können. Film kann uns Raum derart präsentieren, dass wir ihn für begeh- und bewohnbar, also für real, halten: und das gilt eben nicht nur für real existierende Räume, sondern auch für Traumarchitektur – von Dream of a Rarebit Fiend (USA 1906, R: Edwin S. Porter) über Geheimnisse einer Seele (DE 1926, R: Georg Wilhelm Pabst) und Spellbound (USA 1945, R: Alfred Hitchcock) bis hin zu Inception (USA 2010, R: Christopher Nolan) – und für phantastische Welten, wie sie in der Harry Potter-Reihe (USA/GB 2001–2011, 8 Teile, R: Chris Columbus, Alfonso Cuarón, Mike Newell, David Yates) und der Lord of the Rings-Tri1 | Arnheim, Rudolf: Film als Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002 [1932], S. 27.
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logie (USA/NZ 2001–2003, 3 Teile, R: Peter Jackson) Darstellung finden. Andererseits ist der Architektur die Tendenz zur Bildwerdung immer schon eingeschrieben – ob man nun an die gotischen Kathedralen, die barocken Verschachtelungen von Raum und Malerei, die Stuckfassaden des Historismus oder die zahlreichen kinematographischen Bauten seit der Postmoderne denkt.
W AS WILL DER F ILM VON DER A RCHITEK TUR , WAS WILL DIE A RCHITEK TUR VOM F ILM ? Gibt man die Schlagwörter »Film« und »Architektur« in herkömmliche Suchmaschinen und Datenbanken ein, so sieht man sich mit einem sehr weiten Spektrum an Treffern konfrontiert, das sich heuristisch in vier Felder einteilen lässt.2 Zum ersten gibt es die Architektur als Thema des Films, was wiederum verschiedene Aspekte umfasst, etwa den biographischen Film über Baumeister – von der Frank Lloyd Wright-Paraphrase The Fountainhead (USA 1949, R: King Vidor) über Peter Greenaways barocke Phantasien The Draughtsman’s Contract (GB 1982) und The Belly of an Architect (IT/GB 1987) bis hin zum DDR-Abgesang Die Architekten (DE 1990, R: Peter Kahane). Doch gibt es nur wenige erinnerungswürdige (fiktive) Filmfiguren, die dieser Profession nachgehen, und auch Leben und Werk von (realen) Architekten werden erstaunlicherweise sehr viel seltener verfilmt als dies etwa bei Malern, Politikern, Wissenschaftlern oder Musikern der Fall ist. Dagegen floriert das Genre des Dokumentarfilms über zeitgenössische Architekten – es gibt wohl keinen lebenden »brand name architect«, der etwas auf sich hält, über den es noch keinen Film gibt, der ihn (sic!) bei der Arbeit zeigt. Daneben gibt es Filme, die sich auf eher experimentelle Weise mit Architektur, also baulich gestaltetem Raum, und Film auseinandersetzen, die auf reflexive Weise danach fragen, wie unsere Wahrnehmung und Erfahrung von Raum und Zeit immer auch durch die Mittel der Betrachtung konstituiert werden. Zuvörderst sollte man hier die Filmreihe Photographie und jenseits von Heinz 2 | Breite Überblicke, die mehrere dieser Themenbereiche umfassen, bieten etwa Lamster, Mark (Hg.): Architecture and Film, New York: Princeton Architectural Press 2000, und Penz, François/Thomas, Maureen (Hg.): Cinema and Architecture: Méliès, Mallet-Stevens, Multimedia, London: British Film Institute 1997.
Der Blick von/nach außen
Emigholz nennen, der mit meist statischen und langen Einstellungen Ansichten und Räume vor allem der architektonischen Moderne erkundet (Sullivans Banken, DE 1999; Maillarts Brücken, DE 1999; Goff in der Wüste, DE 2003; Schindlers Häuser, DE 2007; Loos Ornamental, DE 2008; Parabeton – Pier Luigi Nervi und römischer Beton, DE 2012). Emigholz sucht die Werke bekannter Architekten der klassischen Moderne auf und trachtet danach, deren Raumwirkung mit langen Einstellungen abzubilden – diese Filme rücken Dauer, Licht, Ton und andere kontingente Aspekte der Zeitlichkeit in den Vordergrund, da sie Ort, Datum und Zeit der Aufnahme stets genau nennen und uns so auf deren Veränderlichkeit hinweisen. Ein zweites Feld beschäftigt sich mit dem Film als Darstellung von gestaltetem Raum speziell für den Film, also im Sinne der Filmarchitektur oder des »production design«.3 Das Spektrum reicht von historischen Übersichten – von Das Cabinet des Dr. Caligari (DE 1920, R: Robert Wiene) bis Blade Runner (USA 1982, R: Ridley Scott)4 – über das Werk einzelner Vertreter5 bis hin zu Einzeluntersuchungen zu spezifischen Aspekten.6 Dabei fällt auf, dass bestimmte Epochen besonders starkes Interesse hervorgerufen haben, etwa der deutsche Film der Weimarer Republik, der revolutionäre sowjetische Film der 1920er und 1930er Jahre oder der postmoderne Hollywoodfilm. Dieses besondere Interesse mag damit zusammenhängen, dass in diesen Epochen ein besonders enges Verhältnis zwischen Filmbauten und architektonischen Diskursen herrschte. In diesen Epochen finden sich auch die klassischen Beispiele für Filme, deren Architektur zu zahlreichen Betrachtungen Anlass gegeben haben: Das Cabinet des Dr. Caligari, Metropolis (DE 1926, R: Fritz Lang), Berlin – Die Sinfonie der Großstadt (DE 1927, R: Walter Ruttmann), Celovek s kino3 | Vgl. Eue, Ralph/Jatho, Gabriele (Hg.): Production Design + Film. Schauplätze, Drehorte, Spielräume, Berlin: Bertz & Fischer 2004. 4 | Vgl. Neumann, Dietrich (Hg.): Film Architecture: Set Designs from » Metropolis« to »Blade Runner«, München/New York: Prestel 1999. 5 | Vgl. Sennett, Robert S.: Setting the Scene: The Great Hollywood Art Directors, New York: Abrams 1994, und Smoltczyk, Alexander: James Bond – Berlin – Hollywood. Die Welten des Ken Adam, Berlin: Nicolai 2002. 6 | Vgl. für Frankreich in den 1920er Jahren etwa Weihsmann, Helmut: Cinetecture. Film – Architektur – Moderne, Wien: PVS 1995; für Hans Richters Architekturfilme vgl. Janser, Andres/Rüegg, Arthur: Hans Richter, New Living: Architecture, Film, Space, Baden: Müller 2001.
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apparatom (SU 1929, R: Dziga Vertov, Der Mann mit der Kamera), Dark City (USA 1998, R: Alex Proyas), The Matrix (USA 1999–2003, 3 Teile, R: Geschwister Wachowski). In allen drei genannten Epochenschwerpunkten geht es zumeist gar nicht speziell um einzelne Gebäude oder Stile, sondern eher um den Zusammenhang von Stadt, also Urbanität, und Film, was als ein dritter Schwerpunkt im Feld von Architektur und Film zu bestimmen ist.7 Das Kino als urbanes Phänomen hängt auf vielfältige Weise mit der modernen Großstadt zusammen, ja man könnte sogar so weit gehen, die beiden als co-emergent und co-existent zu beschreiben. Die spezifische mediale Form des Films, charakterisiert durch Bewegung auf einer ganzen Reihe von Ebenen – Bewegung von Menschen und Dingen vor der Kamera, Bewegung der Kamera selbst, Bewegung durch Montage, innere Bewegung des Zuschauers durch Affizierung –, weist strukturelle Ähnlichkeiten zur Stadt auf, vor allem in der Herausforderung, die die Bewegung für den menschlichen Wahrnehmungsapparat darstellt. Diese wesenshafte Verwandtschaft hat zu zahlreichen Betrachtungen Anlass gegeben, aber auch die sogenannte »modernity debate« angeheizt, in der es um die Angemessenheit wie um die Reichweite dieser Analogie ging.8 Sichtbarster Ausdruck des engen Zusammenhangs von Stadt und Film zu Anfang des 20. Jahrhunderts sind die sogenannten »Stadtsinfonien«, die die »Dynamik der Großstadt«, so der Titel einer frühen Skizze von László Moholy-Nagy zum Thema, abzubilden trachteten. Schließlich wäre, viertens, ganz allgemein der Zusammenhang von Raum und Kino zu nennen – sowohl Architektur wie Film schaffen Räume, die auf bestimmte Art entworfen und gestaltet wurden, um sich damit für bestimmte Nutzungen anzubieten. Natürlich hat sich die Filmwissenschaft schon immer für Raum interessiert, etwa für die Frage nach der 7 | Vgl. Clarke, David B. (Hg.): The Cinematic City, London/New York: Rout ledge 1997; Schenk, Irmbert (Hg.): Dschungel Großstadt. Kino und Modernisierung, Marburg: Schüren 1999; Barber, Stephen: Projected Cities: Cinema and Urban Space, London: Reaktion 2002. Für einen Überblick vgl. Vogt, Guntram: Die Stadt im Kino. Deutsche Spielfilme 1900–2000, Marburg: Schüren 2001. 8 | Zur »modernity debate« vgl. etwa Pomerance, Murray (Hg.): Cinema and Modernity, New Brunswick: Rutgers University Press 2006, sowie Gunning, Tom: »Early American Film«, in: John Hill/Pamela Church Gibson (Hg.), The Oxford Guide to Film Studies, Oxford: Oxford University Press 1998, S. 255-271.
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räumlichen Diskontinuität und jenen Raum im Off, der (zunächst) nicht zu sehen ist,9 aber auch für die systematische Artikulation des Raumes.10 Im Zuge des spatial turn ist in den letzten Jahren ein verstärktes Interesse an der interdisziplinären, kulturwissenschaftlichen Schnittstelle zwischen Film, Kunst, Kognition und visueller Kultur entstanden.11
B AUFORMEN DES F ILMS : O FFEN UND GESCHLOSSEN Der Film hat schon immer Räume geschaffen und gestaltet, präsentiert und transformiert, das Filmemachen ist also auch eine raumbildnerische Aktivität. In dieser Hinsicht kann man Filmemacher als Architekten verstehen, gerade wenn sie die Herausforderung einer visuellen Konzeption explizit annehmen. Grundsätzlich sei hier auf zwei Pole des Films verwiesen, die der Filmwissenschaftler Leo Braudy als offene und geschlossene Form beschrieben hat. Während eine Schule des Films sich für das Fließen der Realität, die Offenheit und Unabgeschlossenheit der Wirklichkeit, das Hereinragen und das Sichtbarmachen von Kontingenz in den geplanten Bildern, Abläufen und Bewegungen interessierte – von den Brüdern Lumière kann man hier eine Linie ziehen über Jean Renoir und die italienischen Neorealisten bis hin zu John Cassavetes und zu den Dardenne-Brüdern – so gibt es andere Filmemacher, die eine geschlossene Form präferieren. Die geschlossene Form ist zentripetal und strebt nach innen, die Totalität der Welt endet an den Grenzen des Bildrahmens. Die offene Form ist dagegen zentrifugal und strebt nach außen, hier steht der Rahmen eher für einen veränderbaren Ausschnitt aus einer potenziell grenzenlosen Welt: 9 | Vgl. Burch, Noël: Theory of Film Practice, New York: Praeger 1973. 10 | Vgl. etwa Heath, Stephen: Questions of Cinema, Bloomington: Indiana University Press 1981. 11 | Vgl. Steinlein, Almut: Der Raum im Film/L’espace dans le film, Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2002; Khouloki, Rayd: Der filmische Raum. Konstruktion, Wahrnehmung, Bedeutung, Berlin: Bertz & Fischer 2007; Engelke, Henning/Fischer, Ralf Michael/Prange, Regine (Hg.): Film als Raumkunst. Historische Perspektiven und aktuelle Methoden, Marburg: Schüren 2012 (hierin einführend Prange, Regine: »Zur Theoriegeschichte der filmischen Raumkonstruktion und ihrer Aktualität als Gegenstand einer historischen Bild- und Medienwissenschaft«, S. 12-53).
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The difference may be the difference between finding a world and creating one: the difference between using the preexisting materials of reality and organizing these materials into a totally formed vision; the difference between an effort to discover the orders independent of the watcher and to discover those orders the watcher creates by his act of seeing. Voyeurism is a characteristic visual device of the closed film, for it contains the proper mixture of freedom and compulsion: free to see something dangerous and forbidden, conscious that one wants to see and cannot look away. In closed films the audience is a victim, imposed on by the perfect coherence of the world on the screen. In open films the audience is a guest, invited into the film as an equal whose vision of reality is potentially the same as that of the director.12
In Hinblick auf die geschlossene Form, die in ihrem Gestaltungswillen der Architektur wohl näher steht als die offene, welche in dokumentarischen Formen zur Erforschung von kontingenten und prä-existenten Wirklichkeiten tendiert, sei hier auf zwei große Regisseure verwiesen, die Söhne von Architekten waren und Ingenieurwesen studierten, also quasi von Haus aus eine intime Vertrautheit mit der Formung von Raum hatten: Fritz Lang und Sergei Eisenstein. Sowohl Lang als auch Eisenstein haben sich in ganz unterschiedlicher Weise für Welten interessiert, welche durch Kräfte bestimmt sind, die zunächst unsichtbar bleiben, aber dennoch schier grenzenlose Macht besitzen und nicht nur die Handlung determinieren, sondern bis in die Bildgestaltung hinein Einfluss haben. Bei Eisenstein ist dies der historische Materialismus, der die Geschichte antreibt und ihr die Richtung vorgibt, während sich in Langs Filmen stets eine »Schicksalsmaschine« findet, die unerbittlich das Individuum in seine Fänge nimmt und zermahlt.13 Architektur meint also im Fall des Films nicht notwendigerweise gebaute, materielle Umgebung, sondern es kann auch eine Architektur aus Licht, Figuren und Blickperspektiven sein.
12 | Braudy, Leo: The World in a Frame: What We See in Films, Garden City: Anchor Press & Doubleday 1976, S. 49. 13 | Für Eisensteins Geschichtsphilosophie sei verwiesen auf Goodwin, James: Eisenstein, Cinema, and History, Urbana/Chicago: University of Illinois Press 1993; der Begriff der »destiny machine« wurde geprägt von Gunning, Tom: The Films of Fritz Lang: Allegories of Vision and Modernity, London: British Film Institute 2000.
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Neben den bereits genannten Lang und Eisenstein wären Stanley Kubrick und Wes Anderson zwei weitere Vertreter, deren geplante und durchstrukturierte Bilder fast schon statisch den Zustand einer Welt in Erstarrung zeigen. Und schließlich könnte man natürlich auch Alfred Hitchcock als Architekt geschlossener Welten bezeichnen, von dem man sich nicht nur berichtet, er habe Dreharbeiten gehasst, weil er ohnehin schon den Film im Kopf fertig gedreht hatte, sondern der auch immer wieder gezeigt hat, wie der Einzelne Kräften ausgeliefert ist, die er weder kontrollieren noch verstehen kann. Dazu kommt Hitchcocks ausgesprochenes Interesse an ganz unterschiedlichen Bauformen in Bezug auf ihre narrative Funktionalisierung – man denke an die Mühlen in Foreign Correspondent (USA 1940), an das Wright-Haus in North by Northwest (USA 1959), den Hinterhof in Rear Window (USA 1954) oder den Kontrast zwischen der Horizontalität des Motels und der Vertikalität des Wohnhauses in Psycho (USA 1960). Aus der Fülle an Möglichkeiten, die sich damit einer Untersuchung anbieten, sei das Fenster als ein paradigmatisches Element herausgegriffen, das auch bei Hitchcock einige denkwürdige Auftritte hat.
D AS F ENSTER : E IN MOTIVISCHER S TREIF ZUG Architektonische Elemente wie Fenster, Wände, Türen oder Durchgänge können in Filmen zumindest zweierlei sein – zum einen fungieren sie als Motiv, das innerhalb eines Werkes durch systematische Verwendung mit Bedeutung aufgeladen werden kann.14 Im Fall des Fensters könnte man verweisen auf die Person, die alleine am Fenster steht und in die Ferne schaut, ein Motiv, das sich ebenso in der Malerei (Caspar David Friedrich, Salvador Dalí, Edward Hopper) wie in der Literatur (E.T.A. Hoffmann, Jean-Paul Sartre) findet. Zum anderen wird durch die architektonischen Elemente immer eine bestimmte räumliche Ordnung evoziert, die im Film eben nicht statisch ist und einfach abgefilmt, sondern durch die 14 | Vgl. zum Motiv in der Filmwissenschaft Wendler, André/Engell, Lorenz: »Medienwissenschaft der Motive«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 1 (2009), S. 38-49; Walker, Michael: Hitchcock’s Motifs, Amsterdam: Amsterdam University Press 2005; Brinckmann, Christine N./Hartmann, Britta/Kaczmarek, Ludger (Hg.): Motive des Films. Ein kasuistischer Fischzug, Marburg: Schüren 2011.
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filmischen Mittel (Montage, Kadrage, Kamerabewegung) dynamisch in Bewegung gesetzt werden kann. Das Fenster impliziert eine Teilung und eine Distanz, doch besteht stets noch die Möglichkeit des visuellen Kontaktes – anders als eine Wand kann man durch das Fenster hindurchsehen; anders als eine Tür ist ein Fenster nicht zum Durchschreiten gedacht; anders als ein Balkon befindet man sich innerhalb des Gebäudes und nicht in einer Zwischenzone, hängend über dem Abgrund des Außen. Ein Fenster trennt und verbindet Innen und Außen, es erlaubt dank seiner Transparenz Durchblick und bietet Schutz vor Wetter, Gefahr und anderen unerwünschten Einflüssen – und dies (zumindest potenziell) in beide Richtungen. Es rahmt den Blick und strukturiert somit Wahrnehmung. Das Glas als modernes Material par excellence lässt das Fenster in Form und Größe zudem zu einem Indikator der Entstehungszeit eines Gebäudes werden – von den winzigen Butzenglasscheiben des Mittelalters, die kaum Durchsicht gestatten, bis zu den heutigen Glasfassaden, die zumindest seit Walter Gropius’ Dessauer Bauhausgebäude (1925/1926) state of the art sind. Doch ein Fenster bietet auch Handlungsoptionen: man kann in beide Richtungen hindurchsehen, es lässt sich meist öffnen, man kann es einschlagen und es lädt unter Umständen sogar zum Ein- und Ausstieg ein. Derartige räumlich-architektonische Motive sind besonders interessant, da sie zum einen Handlungsoptionen eröffnen, zweitens spezifische Raum- und Blickverhältnisse artikulieren und drittens die Beziehung des Menschen zu den Dingen und der Lebenswelt thematisieren. Indem der Film durch seine vielfältigen Mittel und Techniken der Sequenzierung und Montage (also des Auswählens und Anordnens) immer wieder in so grundlegende Parameter der menschlichen Erfahrung wie Raum und Zeit oder Licht und Materie eingreift, eröffnet er vielfältige Optionen, diese architektonischen Elemente in Szene zu setzen und ihre Bedeutungsvielfalt zu artikulieren. Das Fenster als durchsichtige, aber trennende Membran ist häufig als metaphorische beziehungsweise allegorische Darstellung der Kinosituation verstanden worden. Als Zuschauer haben wir einen privilegierten optischen (und akustischen) Zugang zu Geschehnissen, befinden uns aber zugleich zu den dargestellten Handlungen in einer Distanz, die uns Sicherheit verspricht. Wir sind Zeuge eines Vorgangs, ohne direkt involviert zu sein. Exemplarisch wird diese paradigmatische Situation in
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Rear Window entfaltet und durchgespielt.15 Der Photograph L.B. Jefferies (James Stewart) – schon seine Profession deutet an, dass er ein professioneller Bildgestalter ist und dem Film demnach eine reflexive Haltung innewohnt – ist nach einem Unfall vorübergehend an den Rollstuhl gefesselt und vertreibt sich die Zeit damit, die Nachbarn in seinem Hinterhof zu beobachten. Der auf seinen Sitzplatz fixierte Zuschauer ist dabei zunächst gänzlich getrennt von den Beobachtungsobjekten, interagiert nicht mit ihnen, wird von ihnen auch nicht bemerkt und füllt imaginativ jene Lücken, die aus den Fragmenten der Beobachtung hervorgehen. Mit einem Fernglas und dem Teleobjektiv seiner Kamera kann er die Brennweite verändern und somit die Personen und ihre Mini-Dramen visuell unterschiedlich nah heranholen. Auf diese Art gleichen sich die mediale Form des Films – eine Montage von Einstellungen in unterschiedlichen Größen, aus denen in der Betrachtung eine kontinuierliche Handlung entsteht – und die Perspektive Jefferies’ an, dessen Blickpunkt sich der Film visuell, kognitiv und emotional zu eigen macht. Erst als die trennende und schützende Distanz, die das Fenster impliziert, aufgehoben ist, nämlich als seine Freundin Lisa (Grace Kelly) in die Wohnung des vermuteten Mörders Thorwald (Raymond Burr) eindringt, tritt die Realität in ihrer ganzen Gefährlichkeit an ihn heran. Jetzt kann auch Thorwald in Jefferies’ Wohnung eindringen, in der der durch das Gipsbein Immobilisierte bis dahin in seiner abgedunkelten Beobachterperspektive sicher war. In moralischer Hinsicht ist es Jefferies’ Neugierde – seine déformation professionnelle als Photograph –, die zugleich als Problem (die voyeuristische Neigung wird von seiner Freundin kritisiert) wie als Lösung (sie bringt ihn dazu, seine Bindungsunfähigkeit zu überwinden) fungiert. Sie stürzt ihn zunächst in Schwierigkeiten, weil er sich in seiner aufgezwungenen Untätigkeit allzu stark für das Leben der Anderen interessiert. Zu15 | Der klassische Text hierzu ist Douchet, Jean: »Hitch et son public«, in: Cahiers du cinéma 113 (1960), S. 7-15, insb. S. 8-10 (auf Englisch erschienen als »Hitch and His Audience«, in: Jim Hillier (Hg.), Cahiers du Cinéma. Bd. 2: 1960–1968: New Wave, New Cinema, Reevaluating Hollywood, Cambridge: Harvard University Press 1986, S. 150-157); vgl. auch Stam, Robert/Pearson, Roberta: »Hitchcock’s Rear Window: Reflexivity and the Critique of Voyeurism«, in: Enclictic 7 (1983), H. 1, S. 136-145, wieder abgedruckt in: Marshall Deutelbaum/Leland Poague (Hg.), A Hitchcock Reader, Ames: Iowa State University Press 1986, S. 193-206.
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gleich bringt ihn die Konfrontation mit unterschiedlichen Lebensentwürfen, die er im Hinterhof beobachtet, dazu, seine eigene Haltung zu festen privaten Bindungen zu überdenken und macht ihn letztlich zu einem heiratsfähigen Kandidaten (nebenbei klärt er auch noch ein Verbrechen auf). Das Fenster, das einen begrenzten Einblick in andere Existenzen erlaubt, fungiert als Katalysator für eine einzelne Figur, der Blick von innen nach außen dient in letzter Konsequenz der Selbstveränderung, also der Transformation des Inneren. Ist es in Rear Window noch der Protagonist, der das Fenster als Ausblick nutzt, so beginnt nur wenige Jahre später Psycho mit einer radikalisierten Geste, nämlich mit einer Kamera, die durch ein Fenster in einen privaten Raum eindringt. Die leichtbekleidete Marion Crane (Janet Leigh) und die eingeblendete Zeit (2:43 pm) zeigen direkt und unmissverständlich an, dass die dargestellte Intimität in der Mittagspause stattfindet, was in der damaligen Zeit (1960) vermutlich nicht legitim war. Gestattet Rear Window dem Zuschauer noch, den Voyeurismus einer Figur zuzuschreiben und sich derart in Sicherheit zu wiegen, so legt die selbstbewusste Geste des Eindringens durch einen schmalen Spalt der fast geschlossenen Jalousien in Psycho die moralisch zweifelhafte Schaulust offen, der wir als Filmzuschauer frönen. Sehr deutlich wird uns hier insofern die Lust am Grenzübertritt vor Augen geführt, als die Privatsphäre der Personen missachtet wird und wir zugleich wissen, dass wir in der Dunkelheit des Zuschauerraums keine Rechenschaft über unsere Gelüste und geheimen Wünsche ablegen müssen, sondern diese auf den Film projizieren. Gerade die scheinbar mühelose Durchquerung des Fensters – das Überschreiten einer Grenze, die Privatheit und Schutz impliziert – weist zurück auf den Status des Zuschauers vor der Leinwand, der keine Konsequenzen fürchten muss. Da die Geste des Heranholens und des Eindringens keiner fiktionalen Figur zugeschrieben werden kann, scheint hier entweder eine metafiktionale Erzählerinstanz am Werk zu sein oder aber wir werden als Zuschauer unvermittelt und schutzlos in den Film hineingeworfen, vielleicht auf ähnlich brutale Weise wie die Duschszene später den Raum und den Körper der Frau fragmentiert. Eine Steigerung und Wendung erfährt das Hitchcock’sche Fenster der voyeuristischen Beobachtung in Brian De Palmas frühem Thriller Sisters (USA 1973), über weite Strecken eine extensive Paraphrase von
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klassischen Hitchcock-Motiven.16 Die Verdoppelung der Hauptfigur in Dominique beziehungsweise Danielle Breton (Margot Kidder), siamesische Zwillinge, von denen eine bei der Trennungsoperation starb, die andere nun schizophren beide verkörpert, steht im Zentrum der Handlung, die sich zahlreicher Verweise auf Hitchcocks klassische Thriller erfreut. Die Grundstruktur des Plots stammt aus Psycho, denn die vermeintliche Hauptfigur, der sympathische Philip Woode (Lisle Wilson), wird nach einem Drittel des Films brutal ermordet, eine andere Person, die Journalistin Grace Collier (Jennifer Salt), nimmt gemeinsam mit dem Privatdetektiv Joseph Larch (Charles Durning) die Spur auf, ähnlich wie dies in Psycho Lila Crane (Vera Miles) und der Privatdetektiv Arbogast (Martin Balsam) tun. Dazu kommen zumindest noch Elemente aus Vertigo (USA 1958, R: Alfred Hitchcock) – die traumähnlichen Verfolgungen in Autos wie auch eine surreale Sequenz, in der die back story eingeführt wird – und aus Rear Window – die Beobachtung einer Wohnung von einer anderen aus, die Durchsuchung der fremden Wohnung, während die Bewohner zurückkommen, die Polizei, die nicht an einen Mord glauben mag. Auch Anklänge an Rope (USA 1948, R: Alfred Hitchcock) waren geplant, nämlich die Aufnahme einer Hausdurchsuchung in einer einzigen langen Plansequenz, was sich dann aus technischen Gründen nicht realisieren ließ.17 Gleichwohl weist die in einem Möbelstück verborgene Leiche, um die herum die folgende Szene inszeniert ist, auf dieses Vorbild hin. Schließlich ist die Musik von Bernard Herrmann zu nennen, die die großen Hitchcock-scores der 50er Jahre evoziert.
16 | Generell könnten hier noch weitere Filme von Brian de Palma angeführt werden, die das Motiv des Voyeurismus durch technische Hilfsmittel zum Einsatz bringen, etwa Phantom of the Paradise (USA 1974) – hier wird der Voyeur, der durch ein Dachfenster einen sexuellen Akt beobachtet, selbst mit einer Videokamera gefilmt – und Body Double (USA 1984), in dem ein arbeitsloser Schauspieler eine verführerische Blondine durch ein Teleskop beobachtet. 17 | Vgl. Rubinstein, Richard: »The Making of Sisters: An Interview with Brian De Palma«, in: Filmmakers Newsletter, September 1973, wieder abgedruckt in: Laurence F. Knapp (Hg.), Brian De Palma: Interviews, Jackson: University Press of Mississippi 2003, S. 3-14, hier S. 7.
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In Sisters ist eine Splitscreen-Sequenz an zentraler Stelle entscheidend,18 die in zwei Teile zerfällt. Zunächst sehen wir die unmittelbaren Folgen des Mordes aus zwei Perspektiven: Der tödlich verwundete Philip Woode schleppt sich zum Fenster und schreibt mit seinem eigenen Blut »Help« an die Fensterscheibe. Dieses sehen wir von innen, im Hintergrund das Haus gegenüber, von dem aus Collier dieses Drama beobachtet – der zweite Bildrahmen, der vertikal und in gleicher Größe daneben zu sehen ist, zeigt nun aus Colliers Perspektive, wie der Hilferuf an die Fensterscheibe geschrieben wird (Abb. 1). Abb. 1
Quelle: Sisters (USA 1973, R: Brian De Palma).
Zwei Effekte dieser Operation seien hervorgehoben: Einerseits rückt die Simultaneität der beiden Teilbilder in den Vordergrund, andererseits werden aber auch die unterschiedlichen optischen Perspektiven von innen und von außen betont. Man könnte sagen, dass der Film die halbdurchlässige Fensterscheibe, die einerseits den visuellen Durchblick erlaubt und andererseits eine Trennung vornimmt, als Einschreibefläche dramatisiert. Insofern als Philip auf dieser Scheibe um Hilfe bittet, wird das Fenster allegorisch zum Kontaktpunkt zweier unterschiedlicher 18 | Vgl. allgemein zu den Splitscreen bei De Palma Hagener, Malte: »Montage im Bild: Die Splitscreen bei Brian De Palma«, in: Montage AV 20 (2011), H. 1, S. 121-132.
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Räumlichkeiten und Blickpyramiden, die sich genau in dem auf das Fenster geschriebenen Wort treffen. Das Fenster wird zu einer Art semipermeabler Leinwand, auf der sich das Drama einschreibt, das sowohl Beobachter als auch Beobachtete benötigt; dem Zuschauer wird sehr deutlich eine Beobachterposition zweiter Ordnung zugewiesen: Man beobachtet eine andere Figur beim Beobachten einer weiteren Person. Auch die Trennung und Distanz der Kinosituation wird aufgerufen, die in Sisters noch sehr viel stärker als moralische Handlungsaufforderung fungiert als in Rear Window. Während in Rear Window ein reiner Indizienprozess abläuft, da die Frau bereits verschwunden ist, sieht die Beobachterfigur in Sisters einen tätlichen Angriff und den Hilferuf einer schwerverletzten Figur, sodass unmittelbar Handlungsbedarf besteht. Nun sind Hitchcock und De Palma Regisseure, deren Weltsicht gemeinhin als schicksalshaft und fixiert gilt, die also ihre Figuren in sich unerbittlich entfaltende Netze von Vorbestimmung und tragischer Determination einspinnen, aus denen es kein Entrinnen zu geben scheint. Wie verhält es sich dagegen mit dem Fenster in den Filmen des italienischen Neorealismus, welche weniger die tragische Destination des Individuums zum Thema haben, sondern eher seine soziale Integration in Kollektive und seine Handlungsfähigkeit angesichts der Offenheit der vielgestaltigen Realität verhandeln? Welche Aufgaben und Funktionen übernimmt das architektonische Element des Fensters in solchen Filmen, die der vorher diskutierten Kategorie des »offenen Films« nahekommen? Roberto Rossellinis Roma, città aperta (IT 1945), der hier als Beispiel für realistische Filmformen gelten mag,19 ist geprägt von der Gliederung und Strukturierung von Raum. Dieser erscheint hier aber nicht als fixierter und statischer Ort ohne Verbindung; vielmehr präsentiert der Film eine ganze Reihe von sich ständig im Austausch befindlichen Topologien: Treppen und Türen ermöglichen nicht nur Zugänge, sondern sind auch Kommunikationsorte, Korridore und Dachterrassen dienen als Passagen und Fluchtwege, Stadtpläne und Photographien helfen bei der Orientierung im Raum, aber auch bei seiner Kontrolle. Zunächst scheinen Fenster hierbei eine eher marginale Rolle zu spielen, geht es doch um die Zirkulation von Körpern und Objekten innerhalb des Kollektivs der italienischen Bevölkerung beziehungsweise um die Kontrolle und Über19 | Als Grundlage zum Begriff des Realismus in Bezug auf den Film sei verwiesen auf Kirsten, Guido: Filmischer Realismus, Marburg: Schüren 2013.
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wachung durch die deutschen Besatzer. Wiederholt zeigt der Film in aufsichtigen Totalen, die als subjektive Einstellungen Figuren an Fenstern zugeordnet werden, den Aufmarsch deutscher Truppen auf Straßen und Plätzen. Dabei alterniert das Fenster als Blickpunkt, der einen zeitlichen Vorsprung in der Antizipation kommender Ereignisse ermöglicht, mit anderen Formen der Wissensvermittlung, etwa dem Blick im Treppenhaus oder dem Bericht von Augenzeugen. Zugang zur und Wissen über die Welt sind hochgradig verteilt, asymmetrisch und potenziell fehlerhaft, anders als der subjektzentrierte, perfekte und symmetrische Überblick, den Jefferies (und mit ihm der Zuschauer) in Rear Window noch hat. Jefferies’ Preis hierfür ist freilich die Immobilisierung (dies gilt auch für die anderen Figuren im Film), während sich im italienischen Neorealismus in der Offenheit und Durchlässigkeit des Fensters die Fluidität der Sozialbeziehungen ausdrückt. Diese Funktion des Fensters als Schnittstelle, die in beide Richtungen wirkt, findet sich auch in späteren Filmen, die dieselbe Epoche behandeln. Besonders intensiv ist dies etwa in Roman Polanskis The Pianist (FR/UK/DE/PL 2002) zu beobachten, in dem das Fenster fast die einzige Kontaktfläche der Hauptfigur zur Außenwelt bietet. Der Pianist Władysław Szpilman (Adrien Brody) versteckt sich im deutsch besetzten Warschau in unterschiedlichen Wohnungen und wird anfangs noch von Mitgliedern des Untergrunds mit Essen und Nachrichten versorgt, während er später auf sich allein gestellt ist. Das Fenster ist meist die einzige Öffnung hin zur Welt, durch die Szpilman herannahende Bedrohung frühzeitig wahrnehmen, die aber auch zum Gefahrenort werden kann. Besonders deutlich wird diese Ambivalenz des Fensters, als Szpilman zum Augenzeugen wird, wie die Deutschen einen polnischen Nachbarn, der im Rollstuhl sitzt und deshalb nicht wie verlangt aufstehen kann, vom Balkon werfen. Hier wird die moralische Verantwortung durch Zeugenschaft zum Thema: der Beobachter ist zur Untätigkeit verdammt, obwohl er gerne eingreifen würde. Gegen Ende des Films hält sich Szpilman in einem beschädigten Krankenhaus versteckt, als er einen deutschen Trupp bemerkt, der mit Flammenwerfern Häuser in Brand setzt. Nur mit Mühe kann er sich durch den rückwärtigen Teil des Gebäudes retten, als die Flammen schon durch das Fenster nach innen dringen. Die leeren Fensterhöhlen – Öffnungen ohne Glas – sind ein feststehender Topos der Darstellung kriegszerstörter Städte; der erste deutsche Nachkriegsfilm Die Mörder sind unter uns (SBZ 1946, R: Wolfgang Staudte) war sicherlich
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einflussreich darin, die zerborstenen Scheiben als expressionistisches Bildmotiv einzusetzen. Das bisher Gesagte bezieht sich vornehmlich auf das klassische Fenster, das im Hochformat einen bestimmten Blick vom (vermeintlich sicheren) Innen nach außen bietet. Nun hat die Architektur seit der Moderne zunehmend andere Fensterformen erprobt und in der Glasfassade eine zumindest optische Aufhebung der klaren Trennung vorgenommen, die ja eigentlich in der Fassade impliziert ist. Einer der ersten Regisseure, den dies zu weitreichenden filmischen Ideen anregte, war Sergei Eisenstein, der Ende der 1920er Jahre ein Projekt mit dem Titel Glashaus entwickelte, das nie gefilmt werden sollte. Eisenstein nahm die in den 20er Jahren intensiv geführten Debatten um Glas als neuen Baustoff auf (Bruno Taut, Mies van der Rohe), diskutierte die Ideen mit Le Corbusier, als dieser Ende der 1920er Jahre in Moskau weilte, und entwickelte in seiner Hollywoodzeit (1930/1931) ein Drehbuch für Paramount. Die Hauptrolle im Film sollte ein gläsernes Hochhaus spielen, das herkömmliche Unterscheidungen von öffentlich und privat, von Innen und Außen aufhob.20 Das Fenster verliert hier in seiner Beziehung zur Wand oder Tür die deutliche Unterscheidbarkeit, ähnlich wie dies zeitgenössische Bauten (Mies van der Rohe, Walter Gropius) erprobten. Wurden diese Ideen in der Zwischenkriegszeit noch als befreiend, wenn nicht gar utopisch wahrgenommen, so findet die Auseinandersetzung in der Nachkriegszeit eher im Modus der Kritik oder der Satire statt. Sehr deutlich wird dies in Jacques Tatis Playtime (FR 1967) – überhaupt einer der ganz großen Architekturfilme. In einer Szene findet sich Hulot (Tati) bei Dunkelheit in einem modernen Mehrfamilienhaus wieder, dessen beleuchtete Wohnräume aufgrund ihrer riesigen Fenster wie Setzkästen oder Schaufenster wirken (Abb. 2). Die Kamera folgt ihm nicht ins Haus, sondern bleibt vor der Fassade und zeigt die Handlungen von außen. Diese Perspektive wird dadurch unterstrichen, dass der Außenton weiterhin zu hören ist, wir also dem Geschehen im Inneren wie einem Stummfilm folgen. Als Zuschauer werden wir wie Passanten auf der Straße platziert, können aber zugleich auch die immer wieder komischen Beziehungen der Vorgänge in den jeweiligen Wohnungen wahrnehmen. Das Fenster ist hier nicht länger ein Fenster zur Welt, 20 | Vgl. Bulgakowa, Oksana: »Eisenstein, the Glass House and the Spherical Book: From the Comedy of the Eye to a Drama of Enlightenment«, in: Rouge 7 (2005), http://www.rouge.com.au/7/eisenstein.html vom 13. Juni 2014.
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das einem zentrierten Subjekt einen kontrollierten und fokussierten Blick nach außen gestattet, sondern ist eine Art von Bildschirm geworden, der das Geschehen im Inneren nach außen transportiert. Ähnlich wie die von Gilles Deleuze in seinen Kinobüchern beschriebene Leinwand des digitalen Kinos, die zu einer Informationstafel geworden ist, auf der sich immer wieder andere Daten einschreiben lassen, 21 transportiert hier die Membran der Scheibe einen Teil (den visuellen) der Informationen nach außen, während andere Sinneskanäle (die auditiven, haptischen, olfaktorischen) nicht aktiviert werden. Abb. 2
Quelle: Playtime (FR 1967, R: Jacques Tati).
Noch offenkundiger, aber auch noch radikaler in seinem kritischen Gestus ist Themroc (FR 1973, R: Claude Faraldo), in dem der Anstreicher Themroc (Michel Piccoli) durch den Blick in ein Fenster (innen macht sich sein Chef an die Sekretärin heran) derart in Aufregung gerät, dass er sämtliche zivilisatorische Regeln über Bord wirft, ein Loch in die Außenwand seiner Wohnung schlägt und dort wie ein Höhlenmensch haust. Wiederum geht der Blick hier nicht von innen nach außen, wie dies in einer Logik der Zentrierung des Subjekts naheliegen würde, sondern der voyeuristische Blick von außen setzt eine Entwicklung in Gang, die her21 | Deleuze, Gilles: Kino. Bd. 2: Das Zeit-Bild, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 340ff.
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kömmliche architektonische Standards außer Kraft setzt. Das klaffende Loch in der Wand ist hier weniger Zeugnis einer kriegerischen Gewalterfahrung, denn ein Menetekel für die Gewaltausübung, die dem kapitalistischen Lebens- und Familienregime zugesprochen wird. Die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen (herkömmliche Vorstellungen von Arbeit, Sexualität und Lebensführung) ist an die Befreiung von herkömmlicher Architektur gebunden und geht einher mit dem Verlust der Sprache. Das Fenster, das machen die Beispiele Playtime und Themroc deutlich, steht in Verbindung mit dem kapitalistischen »shop window« der Warenauslage, ist also eine Zurschaustellung, ein »display« von Konsumgütern, das zum Kauf anregen soll. Ware, Bild und Begehren gehen hier ein spannungsreiches Wechselverhältnis ein, in dem auch die bereits angesprochene Oszillation des Films zwischen zwei und drei Dimensionen eine Rolle spielt. Das Bild wird zu einer Ware, mit der gehandelt werden kann, und das Objekt wird insofern bildförmig, als es als etwas Visuelles präsentiert wird. Helmut Färber hat diesen Zusammenhang exemplarisch herausgearbeitet: Die Verbindung von Bildern mit Waren wirkt in beiden Richtungen. Es werden, wie die Reklame es in ihrem Wachbewußtsein beabsichtigt, durch die Verbindung mit den Bildern die Waren vielversprechend; es werden zugleich, dies die vorbewußte Absicht, durch die Verbindung mit den Waren die Bilder den Waren zugehörig, nur als Waren denkbar, und mit den Bildern die Wirklichkeit selbst. Die sichtbare Wirklichkeit ist am stärksten gegenwärtig in Bildern, ist selbst auch arrangiert zu Bildern, die den Waren zugehörig sind. Sie selbst wird damit etwas, wozu man durch Kaufen, Besitzen, Wegwerfen von Waren in Beziehung tritt. 22
Seit jeher hat sich das Kino in seiner industriellen Form der Konsumgüterindustrie zugehörig gefühlt, was durch die starke Durchdringung beider Industrien unterstrichen wird, die zur gleichen Zeit in den Vereinigten Staaten entstanden sind.23 In diesem Sinne kann der Kinobesuch zum Schaufensterbummel werden – ein Zusammenhang, der nicht zuletzt 22 | Färber, Helmut: Baukunst und Film. Aus der Geschichte des Sehens, München: Färber 1977, S. 24f. 23 | Vgl. hierzu die Texte in Hediger, Vinzenz/Vonderau, Patrick (Hg.): Demnächst in ihrem Kino. Grundlagen der Filmwerbung und Filmvermarktung, Marburg: Schüren 2006.
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durch die Ansiedelung der modernen Form der Großkinos (Multiplex) in Einkaufszentren betont wird.24 Shopping Malls wären mit ihrer gänzlich veränderten Relation von Innen und Außen, in der die Fassade meist gar keine Fenster mehr aufweist, weil man sich mit dem Auto oder der U-Bahn in das Gebäude begibt, einen eigenen Beitrag wert, gibt es doch ganz unterschiedliche Filme, die diese neuen Beziehungen artikulieren: Dawn of the Dead (USA 1978, R: George A. Romero), Clueless (USA 1995, R: Amy Heckerling), Die Schöpfer der Einkaufswelten (DE 2001, R: Harun Farocki), Dawn of the Dead (USA 2004, R: Zack Snyder), Angaadi Theru (IN 2010, R: Vasanthabalan, Shopping Mall).
F A ZIT Im Kunstwerk-Aufsatz hat Walter Benjamin das Argument vertreten, dass sich neue Wahrnehmungsformen zunächst nicht über die Konzentration und Kontemplation bilden, sondern eher im haptischen Gebrauch und in der zerstreuten Aneignung. Hierbei ähneln sich Film und Architektur insofern, als sie einem breiten Publikum eine allmähliche Aneignung durch Nutzung gestatten: Bauten werden auf doppelte Art rezipiert: durch Gebrauch und durch Wahrnehmung. Oder besser gesagt: taktil und optisch. […] Es besteht auf der taktilen Seite keinerlei Gegenstück zu dem, was auf der optischen die Kontemplation ist. Die taktile Rezeption erfolgt nicht sowohl auf dem Wege der Aufmerksamkeit als auf dem der Gewohnheit. Der Architektur gegenüber bestimmt diese letztere weitgehend sogar die optische Rezeption. […] Diese an der Architektur gebildete Rezeption hat aber unter gewissen Umständen kanonischen Wert. Denn: Die Aufgaben, welche in geschichtlichen Wendezeiten dem menschlichen Wahrnehmungsapparat gestellt werden, sind auf dem Wege der bloßen Optik, also der Kontemplation, gar nicht zu lösen. Sie werden allmählich nach Anleitung der taktilen Rezeption, durch Gewöhnung, bewältigt.25 24 | Vgl. Friedberg, Anne: Window Shopping: Cinema and the Postmodern, Berkeley: University of California Press 1993. 25 | Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Ders., Medienästhetische Schriften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 351-383, hier S. 380 [Hervorhebung im Original].
Der Blick von/nach außen
Die Aneignung durch Gebrauch und Gewohnheit – im Gegensatz zur kontemplativen Versenkung – verbindet bei Benjamin das damals neue Medium des Films mit der Architektur. Damit könnte zumindest eine mögliche Aufgabe des Films benannt sein: In einer Art Beobachtersituation zweiter Ordnung die Veränderungen und Transformationen der Welt zu beobachten und sie in immer neuen Kombinationen und Verkettungen darzustellen, um so dem Publikum die allmähliche Gewöhnung zu erlauben. Die Art und Weise, wie Medien inzwischen eine Art zweite Hülle geworden sind, eine eigene Welt, in der wir uns wie in einer Blase durch die Wirklichkeit bewegen, lädt diese Parallele mit zusätzlicher Bedeutung auf. Aufgabe audiovisueller Narrationen wäre dann (um 1900 ebenso wie im 21. Jahrhundert), uns immer wieder neu Orientierungsmöglichkeiten zu geben, durch Verkettungen, Handlungen und Operationen Optionen aufzuzeigen, die uns als Individuen und Kollektive handlungsfähig machen angesichts einer sich stets und rapide verändernden Wirklichkeit.
F ILME Angaadi Theru (IN 2010, R: Vasanthabalan, Shopping Mall) Berlin – Die Sinfonie der Großstadt (DE 1927, R: Walter Ruttmann) Blade Runner (USA 1982, R: Ridley Scott) Body Double (USA 1984, R: Brian De Palma, Der Tod kommt zweimal) Celovek s kinoapparatom (SU 1929, R: Dziga Vertov, Der Mann mit der Kamera) Clueless (USA 1995, R: Amy Heckerling) Dark City (USA 1998, R: Alex Proyas) Das Cabinet des Dr. Caligari (DE 1920, R: Robert Wiene) Dawn of the Dead (USA 1978, R: George A. Romero) Dawn of the Dead (USA 2004, R: Zack Snyder) Die Architekten (DE 1990, R: Peter Kahane) Die Mörder sind unter uns (SBZ 1946, R: Wolfgang Staudte) Die Schöpfer der Einkaufswelten (DE 2001, R: Harun Farocki) Dream of a Rarebit Fiend (USA 1906, R: Edwin S. Porter) Foreign Correspondent (USA 1940, R: Alfred Hitchcock) Geheimnisse einer Seele (DE 1926, R: Georg Wilhelm Pabst) Goff in der Wüste (DE 2003, R: Heinz Emigholz)
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Malte Hagener
Harry Potter (USA/GB 2001–2011, 8 Teile, R: Chris Columbus, Alfonso Cuarón, Mike Newell, David Yates) Inception (USA 2010, R: Christopher Nolan) Loos Ornamental (DE 2008, R: Heinz Emigholz) Lord of the Rings (USA/NZ 2001–2003, 3 Teile, R: Peter Jackson) Maillarts Brücken (DE 1999, R: Heinz Emigholz) Metropolis (DE 1926, R: Fritz Lang) North by Northwest (USA 1959, R: Alfred Hitchcock, Der unsichtbare Dritte) Parabeton – Pier Luigi Nervi und römischer Beton (DE 2012, R: Heinz Emigholz) Phantom of the Paradise (USA 1974, R: Brian De Palma) Playtime (FR 1967, R: Jacques Tati) Psycho (USA 1960, R: Alfred Hitchcock) Rear Window (USA 1954, R: Alfred Hitchcock, Fenster zum Hof ) Roma, città aperta (IT 1945, R: Roberto Rossellini) Rope (USA 1948, R: Alfred Hitchcock, Cocktail für eine Leiche) Schindlers Häuser (DE 2007, R: Heinz Emigholz) Sisters (USA 1973, R: Brian De Palma, Schwestern des Bösen) Spellbound (USA 1945, R: Alfred Hitchcock, Ich kämpfe um dich) Sullivans Banken (DE 1999, R: Heinz Emigholz) The Belly of an Architect (IT/GB 1987, R: Peter Greenaway) The Draughtsman’s Contract (GB 1982, R: Peter Greenaway) The Fountainhead (USA 1949, R: King Vidor, Ein Mann wie Sprengstoff ) The Matrix (USA 1999–2003, 3 Teile, R: Geschwister Wachowski) Themroc (FR 1973, R: Claude Faraldo) The Pianist (FR/UK/DE/PL 2002, R: Roman Polanski) Vertigo (USA 1958, R: Alfred Hitchcock, Aus dem Reich der Toten)
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Der Blick von/nach außen
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Medienwissenschaft
Übertragung und Speicherung Architektonische Beiträge zur Medientheorie der Wand Daniel Gethmann »Yet the history of the wall as a means of moral, aesthetic and social exclusion (for the three categories seem to converge at this point), is unwritten.« R OBIN EVANS1
Nachdem jahrzehntelang die medialen Repräsentationsformen von Bauten und Entwurfsergebnissen im Vordergrund gestanden haben, richtet sich der Einsatz der Medienwissenschaft auf dem Feld der Architektur gegenwärtig auch auf epistemologische Belange: So fragt sie nach den medientechnologischen Bedingungen spezifischer Architekturentwicklungen in historischer Perspektive,2 oder abstrahiert die Verwendung von Medien im architektonischen Entwurfsprozess und stellt die Frage nach einer medialen Konstitution der Kulturtechnik Entwerfen,3 um schließ1 | Evans, Robin: »The Rights of Retreat and the Rites of Exclusion: Notes toward the Definition of Wall« [1971], in: Ders., Translations from Drawing to Building and Other Essays, Cambridge: MIT Press 1997, S. 34-53, hier S. 50. 2 | Vgl. Florian Sprengers Beitrag zum vorliegenden Band: »Elektrifizierte Schwellen. Zur Kulturtechnik der Klingel«, sowie Gethmann, Daniel/Sprenger, Florian: Die Enden des Kabels. Kleine Mediengeschichte der Übertragung, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2014. 3 | Vgl. Gethmann, Daniel: »Interaktionen. Zur medialen Konstitution des Entwerfens«, in: Daniel Gethmann/Susanne Hauser (Hg.), Kulturtechnik Entwerfen. Praktiken, Konzepte und Medien in Architektur und Design Science, Bielefeld: transcript 2009, S. 359-371.
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lich die Architektur selbst als Medium zu untersuchen.4 Der Blick richtet sich bei Letzterem auf architektonische Objekte in ihrer raumöffnenden oder raumbegrenzenden Funktion sowie auf die Organisation einer spezifischen Durchlässigkeit, Eindämmung oder technischen Erzeugung von Licht, Wärme, Luft, Schall und anderen Faktoren unserer entworfenen und konstruierten Umgebungen. Indem die eingesetzten architektonischen Elemente nicht mehr nur über ihren Beitrag zur Errichtung eines Gebäudes, sondern auch über ihren jeweiligen Grad an Durchlässigkeit für Licht, Wärme, Luft, Schall und andere Faktoren, also sowohl über ihre Übertragungsrate, wie über ihre Kapazitäten als Wärmespeicher, ihre raumklimatischen Fähigkeiten oder ihre akustischen Eigenschaften definiert werden, stehen mediale Aspekte der Übertragung und Speicherung im Vordergrund der architektonischen Analyse dieser materiellen Elemente und geben dadurch »die Architektur selbst in elementarer Weise als Medium zu verstehen«,5 wie Wolfgang Schäffner angeregt hat. Ein solches Verständnis leitet sich vor allem von dem Umstand ab, dass sich neben der Öffnung6 als einem der von Alberti genannten sechs architektonischen Elemente als ein weiteres auch die Mauer beziehungsweise die Wand als ein Übertragungskanal definieren lässt,7 dessen Übertragungsfunktion eine entscheidende Rolle bei der Beantwortung der Frage spielt, ob nun Licht, Wärme, Luft und Schall eindringen und austreten sollen oder vielmehr nicht. Das damit skizzierte Verständnis von Architektur als Medium hat auch im Architekturdiskurs selbst bereits eine längere Geschichte; es leitet sich von spezifischen Experimenten ab, die eine mediale Funktion architektonischer Elemente erprobt haben oder in Gang setzten und dabei davon ausgingen, dass diese Elemente durch ihre Gebrauchsfunktionen vor4 | Vgl. Schäffner, Wolfgang: »Elemente architektonischer Medien«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (2010), H. 1, S. 137-149. 5 | Ebd., S. 137. 6 | Vgl. zur Theorie der Öffnung ebd., S. 143-147, und Siegert, Bernhard: »Türen. Zur Materialität des Symbolischen«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (2010), H. 1, S. 151-170. 7 | Vgl. R. Evans: »The Rights of Retreat and the Rites of Exclusion«, und Siegert, Bernhard: »Nach der Wand. Interferenzen zwischen Rastern und Schleiern/After the Wall: Interferences among Grids and Veils«, in: Graz Architektur Magazin/Graz Architecture Magazine 9 (2013), S. 18-33.
Über tragung und Speicherung
züglich zu bestimmen seien. So haben die Architekten Heinz und Bodo Rasch bereits im Jahre 1931 den operativen Vorgang architektonischer Gebäudeöffnungen, also das Öffnen und Schließen von Fenstern und Türen, in den Vordergrund einer Studie über solche »Verschlusselemente« gestellt, die sie programmatisch durch die alternativen Optionen »zu« und »offen« kategorisierten.8 Fenster und Türen werden in dieser Unterscheidung als schaltbare architektonische Elemente aufgefasst; ihre Bestimmung konzentriert sich auf ihre operationalen Aspekte als funktionale Verbindungselemente.9 Dadurch geben sich Fenster und Türen analog zu Relais oder Schaltern als Knoten und Operatoren von Kommunikation in einem erweiterten Sinne zu denken, deren technische Bedingungen über ihre Funktionsweisen entscheiden. Folgerichtig differenzieren die Gebrüder Rasch in ihrer katalogähnlichen Publikation Fenster und Türen nach den technischen Gegebenheiten, die eine Differenz zwischen »zu« und »offen« ermöglichen. Um die Unschärfe der bisherigen terminologischen Bestimmung zu beheben, klassifizieren sie architektonische Öffnungen nach ihren materiellen Bedingungen für das Öffnen und Schließen und unterscheiden sie anhand ihrer »Verbindungselemente«10: Scharniere und Bänder, Laufschienen, Rollen und Kugellagerung, lösbare Verbindungen wie Anschlag und Dichtung oder mechanische Feststeller. Exakte Begriffe sind »Türen« und »Fenster« keineswegs. Wie ist es z.B. bei einer Schafkoppel, die man einfach öffnet, indem man an irgendeiner Stelle eine Hürde fortnimmt. Besteht die Schafkoppel aus Türen? Wie ist es in dem modernen Wohnhaus, in dem die Wände verstellbar sind, zeitweilig fortgenommen werden können je nach Wunsch? Sind diese Wände Türen?11
8 | Rasch, Heinz/Rasch, Bodo: Zu – offen. Türen und Fenster, Stuttgart: Wedekind 1931, S. 3. 9 | »Unter Türen und Fenster verstehen wir im allgemeinen Verschlusselemente für Öffnungen eines Hauses, und zwar verschließen Türen im allgemeinen solche Öffnungen, die dazu dienen, um in das Haus hinein oder heraus zu gelangen. Fenster verschließen solche Öffnungen, die vor allem dazu dienen, Licht hereinzulassen.« (Ebd., S. 7.) 10 | Ebd., S. 4. 11 | Ebd., S. 7f.
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Ausgehend von der modernen Architekturentwicklung schlagen Heinz und Bodo Rasch vor, »Fenster und Türen als Teile der Wände des Hauses überhaupt [zu] betrachten und diese einer Untersuchung [zu] unterziehen. Die Wände des Hauses sollen uns gegen äußere Angriffe schützen, sie sind Isolatoren. Türen und Fenster sind auch nichts anderes.«12 Allerdings gehe es nun nicht mehr darum, so die Gebrüder Rasch, ein Gebäude von seiner Umgebung zu isolieren, sondern es vielmehr für seine Umgebung zu öffnen, um auch unterschiedliche Umgebungen im Innern des Gebäudes zu ermöglichen und steuerbar zu machen. In dieser Intention erscheinen die »Isolatoren« dann als mechanische Verschlusselemente, die sich nach ihrem operativen Gebrauch als Klappen oder Schübe unterscheiden (Abb. 1-3). Abb. 1, Systematik der mechanischen Isolatoren.
Quelle: H. Rasch/B. Rasch: Zu – offen, S. 83. 12 | Ebd., S. 3.
Über tragung und Speicherung
Abb. 2, Klappen.
Quelle: H. Rasch/B. Rasch: Zu – offen, S. 82.
Abb. 3, Schübe.
Quelle: H. Rasch/B. Rasch: Zu – offen, S. 82.
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Der funktionalistische Begriff der »Verschlusselemente« leitet sich also aus ihrer Handhabung bei sich permanent abwechselnden Schließungsund Öffnungsvorgängen ab; als Folge dieser Ableitung unterliegen auch sämtliche anderen »Isolatoren« einer medialen Bedingung: der Oszillation zwischen »zu« und »offen«. Daraus ergibt sich als zentrale architektonische Konsequenz schließlich die Forderung: »Eine universelle Ausbildung der Wände müsste so beschaffen sein, dass wir je nach Wunsch ihre verschiedenen Partien für den einen oder anderen Einfluss von außen durchlässig machen können.«13 Bereits im Jahre 1931 entwerfen Heinz und Bodo Rasch das architektonische Grundelement Wand äquivalent zu Fenstern und Türen als eine steuerbare Öffnung, wodurch die Wand selbst zu einem Medium wird. Ihre Durchlässigkeits- beziehungsweise ihre Übertragungsrate im Entwurfsprozess festzulegen, zählt zu den grundlegenden Aufgaben der Architektur. Aus baukonstruktiver Perspektive wird hier einmal mehr deutlich, dass die architektonische Leitdifferenz zwischen Innen und Außen nicht nur kulturtechnisch konstruiert ist, sondern dass ihr entscheidendes Merkmal für den Architekturentwurf in einer graduellen Veränderbarkeit der konstruktiven Differenz von »zu« und »offen« besteht;14 diese erfordert grundlegende Entwurfsentscheidungen für die Planung und den Bau so elementarer architektonischer Elemente wie der Wände15 und der Gebäudeöffnungen,16 um davon ausgehend auch weitere architektonische Differenzen wie die zwischen »öffentlich« und »privat« zu verräumlichen. Die innerhalb dieser Kategorien dann folgenden Binnendifferenzierungen in halböffentliche oder halbprivate Räume und so weiter erhalten erst in ihrem Zusammenhang mit Entwurfsentscheidungen
13 | Ebd., S. 11. 14 | Vgl. zur Leitdifferenz Baecker, Dirk: »Die Dekonstruktion der Schachtel. Innen und Außen in der Architektur«, in: Niklas Luhmann/Frederick D. Bunsen/ Dirk Baecker (Hg.), Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld: Haux 1990, S. 67-104, hier S. 82ff.; vgl. zu ihrer kulturtechnischen Konstruktion B. Siegert: »Nach der Wand/After the Wall«. 15 | Vgl. die Ausgabe des Graz Architektur Magazin/Graz Architecture Magazine 9 (2013) zum Thema »Walls: Spatial Sequences«. 16 | Vgl. Teyssot, Georges: »Fenster. Zwischen Intimität und Extimität«, in: Arch+ 191/192 (2009), S. 52-59.
Über tragung und Speicherung
über den Grad der Durchlässigkeit von Wänden und Öffnungen ihre entsprechende Bedeutung. Entscheidend ist für alle kulturtechnischen Konstruktionen solcher grundlegender Unterscheidungen, dass die für sie konstitutiven architektonischen Elemente ihrerseits auf Operationen zurückgehen, die sie als architektonische Elemente überhaupt erst hervorbringen – genau in diesem Sinne führen Heinz und Bodo Rasch Fenster und Türen auf die Differenz zwischen »öffnen« und »schließen« zurück – und die es andererseits ermöglichen, Räume hinsichtlich elementarer Handlungsalternativen – wie Durchgehen oder Verweilen beispielsweise – im Entwurf zu differenzieren. Während sich in architektonischen Objekten somit Handlungsformen und Operationsketten materialisieren, geben die architektonischen Elemente gleichzeitig auch ihrerseits spezifische Operationsformen und Gebrauchsfunktionen vor. Werden diese Operationen nun als das entscheidende Kriterium wahrgenommen, das eine kulturtechnische Differenzbildung mittels architektonischer Elemente organisiert, so ergibt sich hieraus die Option zu einer medientheoretischen Bestimmung der Architektur. Denn es wird möglich, Wände, Fenster und Türen zugleich hinsichtlich ihrer operativen Qualität zur Isolation von Innen und Außen – und damit zur Erzeugung dieser Differenz – wie auch hinsichtlich ihrer Übertragungsqualitäten zwischen Innen und Außen zu untersuchen und sie dadurch als architektonische Medien zu bestimmen, deren Kanal ihre Übertragungen aktiv konfiguriert oder zerstört – in jedem Falle aber handelt. So gesehen entwerfen bereits Heinz und Bodo Rasch Wände, Fenster und Türen als Akteure in Übertragungsprozessen. Um das Potenzial eines solchen medientheoretischen Verständnisses architektonischer Elemente nicht nur für entwerferische Zugänge, sondern auch für Architekturanalysen entfalten zu können, stellt sich die weiterführende Frage nach dem Beginn einer solchen Entwurfsplanung, die mediale Faktoren in den Mittelpunkt des Architekturentwurfs gestellt hat: Welche Entstehungsbedingungen und Orte, welche Brüche einer historischen Entwicklung haben dazu geführt, dass ausgerechnet die bautechnische Konzeption der Übertragungsrate von Wänden in einem medialen Sinne zum vordringlichen Ziel einer architektonischen Entwurfsserie werden konnte? Die genealogische Beantwortung dieser Frage reicht weiter zurück als bis zum Funktionalismus des 20. Jahrhunderts, denn bereits während des 19. Jahrhunderts hat man
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im Rahmen des Entwurfs, der Planung und der Konstruktion der Wand als architek tonisches Element damit begonnen, in konkreten Situationen ihre medientechnischen Faktoren der Übertragung und ihrer Verhinderung durch Isolation vorrangig zu behandeln, während die Traditionen der Gestaltung, des Materials oder der konstruktiven Form von Wänden hintangestellt wurden. Eine solche Umwälzung architektonischer Prioritäten setzt äußere Anlässe voraus, die im konkreten Fall des folgenden Beispiels auf dem Feld der Raumakustik dazu beigetragen haben, das Paradigma der Schallübertragung in Gebäuden in einen erweiterten Kontext zu stellen und gleichzeitig die Wand als Medium neu zu denken. Gilt die Suche der Architekten seit der Antike einer möglichst umfassenden Erweiterung und Verstärkung des Klangs durch den Raum der Theater und Bühnen und damit einem architektonischen Konnex von Kommunikation und Raum, der sich auf eine Verbesserung der klanglichen Eigenschaften von Stimmen für möglichst viele Zuhörer richtet, so ereignet sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine einschneidende Erweiterung dieses Verhältnisses von Klang und Raum. Denn einer architektonischen Ermöglichung von Kommunikation durch eine möglichst weitgehende räumliche Integration der Stimme tritt deren Inter nierung zur Seite, was sich in einer neuartigen Anforderung an die Architektur speziell von Gefängnissen äußert, jede Kommunikation zwischen den Zellen der Gefangenen möglichst zu verhindern. Im Zusammenhang mit einer »Modernisierung« des Strafvollzugs wird eine weitgehende Separierung der Gefangenen voneinander angestrebt, die mit architektonischen Mitteln in Einzelzellen durchgesetzt werden soll. Konstruktiv erhält die trennende und tragende Funktion der Wand dadurch ein zusätzliches architektonisches Anforderungsprofil: sie soll zukünftig Schall bis zur Unhörbarkeitsschwelle dämpfen sowie einen Informationsaustausch der Gefangenen untereinander durch Klopfzeichen oder andere Signale so weit wie möglich erschweren.17 17 | Ein Bericht der von Lord John Russell, dem Secretary of State for the Home Department, im Jahre 1836 gegründeten Aufsichtsbehörde »Inspectorate of Prisons«, die William Crawford und Reverend Whitworth Russell leiteten, führt dieses neue architektonische Anforderungsprofil so aus: »It is our object, by means of good construction, to guard, with the greatest possible success, against the carrying on of intercourse between prisoners confined in contiguous apartments.« (Extracts from the Second Report of the Inspectors of Prisons for the Home
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Die Absicht einer Verhinderung des Informationsaustauschs mit architektonischen Mitteln ist in Großbritannien im Jahre 1836 so bedeutsam, dass das neu gegründete »Inspectorate of Prisons« eine interdisziplinäre Gruppe von Fachleuten beruft, um neuartige Gefängniswände zu entwerfen, die diesen Anforderungen genügen. Dieser Beratergruppe gehören der französische Architekt und Spezialist für Gefängnisbauten Abel Blouet an, der zuvor zahlreiche neu erbaute und als vorbildlich geltende amerikanische Gefängnisse besichtigt hat,18 der Physiker David Boswell Reid, der mit wichtigen Anregungen zu akustischen und klimatischen Aspekten beim Wiederauf bau des 1834 abgebrannten House of Commons hervorgetreten ist,19 der Architekt George Thomas Bullar, der für die einflussreiche »Society for the Improvement of Prison Discipline« an Modellentwürfen von Gefängnisbauten arbeitet,20 der Architekt Robert Smirke21 sowie der Physiker Michael Faraday. Alle Beteiligten haben sich bereits im Vorfeld mit akustischen Fragen der räumlichen Schallausbreitung oder der Übertragung von Klang beschäftigt – so auch mit der Frage, wie die gute Hörsamkeit einer Kommunikation von unterschiedlichen Positionen im Raum aus gewährleistet werden kann (bei District; Addressed to the Right Honourable the Secretary of State for the Home Department, London: Clowes & Sons 1837, S. 32.) 18 | Vgl. Demetz, Frédéric-Auguste/Blouet, Guillaume-Abel: Rapports sur les pénitenciers des États-Unis, Paris: Imprimerie Royale 1837. 19 | Vgl. Reid, David Boswell: »On the Construction of Public Buildings in Reference to the Communication of Sound«, in: Notices of Communications to the British Association for the Advancement of Science at Dublin in August 1835, London: John Murray 1836, S. 14-16; Ders.: Brief Outlines Illustrative of the Alterations in the House of Commons, in Reference to the Acoustic and Ventilating Arrangements, Edinburgh: Neill & Company 1837; Ders.: Illustrations of the Theory and Practice of Ventilation, with Remarks on Warming, Exclusive Lighting, and the Communication of Sound, London: Longman, Brown, Green & Longmans 1844. 20 | Vgl. Steadman, Philip: Building Types and Built Forms, Kibworth Beauchamp: Matador 2014, S. 307f. 21 | Robert Smirke (1780–1867) war zwischen 1815 und 1821 der ausführende Architekt beim Bau des Londoner Millbank-Gefängnisses als einem geplanten Modellgebäude für weitere Gefängnisbauten in Großbritannien; Smirke beteiligte sich ebenfalls an der Innenraumplanung des House of Commons nach dem Brand von 1834.
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Abb. 4, Millbank Prison Plan.
Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Millbank_Prison_Plan. jpg?uselang=de vom 30. September 2014.
politischen Debatten beispielsweise)22 – jedoch bislang noch nicht mit der Umkehrung dieser Frage: der Verhinderung von Schallausbreitung durch architek tonische Wandkonstruktionen. Im Londoner Millbank Gefängnis (Abb. 4), wo durch einen Brand einige Räume zerstört worden sind, werden von Robert Smirke zunächst »zwei experimentelle Zellen« errichtet.23 Um unterschiedli22 | Vgl. den Bericht über David Boswell Reids Vortrag über raumakustische Fragen der architektonischen Konstruktion am 11. August 1835 in der Sektion A: »Mathematics and Physics« der »British Association for the Advancement of Science«, in: Proceedings of the Fifth Meeting of the British Association for the Advancement of Science, Dublin: Philip Dixon Hardy 1835, S. 36-37. 23 | Extracts from the Second Report of the Inspectors of Prisons for the Home District, S. 32 [Übersetzung D. G.].
Über tragung und Speicherung
Abb. 5, Experimentelle Wandkonstruktionen von Abel Blouet, George Thomas Bullar, Michael Faraday, David Boswell Reid und Robert Smirke im Millbank Gefängnis im Jahr 1836.
Quelle: F.-A. Demetz/G.-A. Blouet: Rapports sur les pénitenciers des États-Unis, Tafel 41.
che architek tonische Optionen für die bauliche Trennung dieser beiden Zellen zu untersuchen, nutzt man ihren Raum auf Faradays Vorschlag hin als ein Labor für experimentelle Wandkonstruktionen zur Verhinderung von Kommunikation. Innerhalb kurzer Zeit ziehen die Forscher zwölf unterschiedliche Wände als 1:1 Modelle ein (Abb. 5), deren Eigenschaften zur Übertragung von Klang und zur Dämmung dieser Übertragung sorgfältig getestet und notiert werden.24 Bei den Untersuchungen geht es zunächst um die Erforschung der Eigenschaften von unterschiedlichen Materialien und konstruktiven Varianten zur Schallübertragung; dazu werden Tests an zwei unterschiedlichen Wandserien aus Ziegeln und aus Naturstein durchgeführt, wobei sich Ziegel als das geeignetere Material erweisen. Zum Testprogramm gehört es, durch die einzelnen Wände Sprechversuche in unterschiedlichen Tonlagen und Lautstärken 24 | »At Professor Farraday’s [sic] suggestion, we proceeded to erect a series of walls between the two experimental cells already noticed, and we carefully recorded the successive experiments which we made upon each wall, before it was removed to be replaced by another.« (Ebd., S. 33.)
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durchzuführen25 und die Übertragungsqualität von Klopfzeichen durch die Wände zu messen sowie die Ergebnisse zu protokollieren. In ihrem Bericht präsentiert die Kommission schließlich »different results of the experiments which we have made, and which we consider important, as conveying information and faithfully recording facts with reference to the transmission of sound«.26 Um eine lineare Schallausbreitung durch die Wand zu verhindern, schlägt Michael Faraday möglichst irreguläre Mauerwerksstrukturen unterschiedlicher Dicke vor, die dem damaligen baukonstruktiven Wissen über Mauerwerke seine physikalische Theorie der Schallausbreitung und deren bestmöglicher Unterbrechung hinzufügen und sich schließlich als die zweckdienlichste Variante erweisen. Ein doppelwandiges Ziegelmauerwerk mit einem gezackten Hohlraum in der Mitte, der beidseitig durch abgeschlagene Ziegel mit unregelmäßigen Bruchflächen gebildet wird, vermindert bereits die Verständlichkeit der Schallübertragung: […] the difficulty of communicating was increased: the efforts of the speaker to make himself understood became quite painful, and could not be kept up for more than a few minutes. Monosyllables alone could be heard, and those only by allowing long intervals between each: words of two or three syllables were confused, and quite unintelligible. 27
Als auf Faradays Vorschlag hin noch zwei Lagen Segeltuch in den Hohlraum zwischen den beiden Wänden eingehängt werden, lässt sich die Bedeutung der Aussagen aus der anderen Zelle nicht mehr verstehen: »We have the satisfaction of stating that through this partition we could not succeed in transmitting any intelligible sound.«28 Der Fehlschlag der Kommunikation erweist sich als Triumph der Konstruktion. Die Wand gibt sich in dem Moment als Medium zu denken, 25 | »The tests were carried out by enclosing someone in a cell on one side of the wall and getting him to shout at various pitches and volumes to a second party, on the other side of the wall, who recorded the amount of information he received.« (R. Evans: »The Rights of Retreat and the Rites of Exclusion«, S. 47.) 26 | Extracts from the Second Report of the Inspectors of Prisons for the Home District, S. 36. 27 | Ebd., S. 33f. 28 | Ebd., S. 34.
Über tragung und Speicherung
als es darum geht, die von ihr ermöglichte architektonische Unterscheidung zwischen Innen und Außen zu restituieren und dort neu zu implementieren, wo aus dieser Unterscheidung ihre radikalste architektonische Konsequenz gezogen werden soll: im Gefängnisbau. Aus Sicht der architektonischen Leitdifferenz zwischen Innen und Außen ist die Wand immer schon ein Kommunikationsmedium, da jede Unterscheidung erst durch ihre Überschreitung sichtbar wird und wir deshalb das »Außen« auch als solches wahrnehmen müssen, um es von einem »Innen« zu unterscheiden und umgekehrt. Dazu genügt häufig bereits ein Schritt über die Schwelle oder ein Blick aus dem Fenster. Wände als Kommunikationsmedien zwischen Innen und Außen aufzufassen und daraufhin neu zu entwerfen, wird in der Architektur aber erst zu dem Zeitpunkt zum Gegenstand weiterführender interdisziplinärer Forschung, als es darum geht, die grundlegende Leitdifferenz der Architektur baulich weiterhin aufrechterhalten zu können. Konkret gerät die mediale Eigenschaft der Übertragung durch die Wand also in dem Moment in den Blickpunkt einer architektonischen Experimentalserie zur Wandkonstruktion, in dem sie bekämpft werden soll. Ausdrücklich hebt der Kommissionsbericht am konstruktiven Modellbau daher den medialen Gesichtspunkt einer Wiederherstellung der Kommunikationsgrenze zwischen Innen und Außen hervor: […] that any one of those partitions, which we have caused to be constructed renders the communication so extremely difficult, that, for all practical purposes, entire separation is secured; and all attempts at intercommunication are rendered hopeless by the almost insurmountable barrier which these partitions present against the transmission of sound. 29
Die Wand erweist im Jahre 1836 ihren Status als Medium der Architektur angesichts einer konkreten architektonischen Bauaufgabe, die paradoxerweise darauf abzielt, ihre medialen Eigenschaften möglichst weitgehend zu reduzieren. Architektonische Gestaltung, konstruktiver Modellbau und naturwissenschaftliche Forschung bilden integrative Bestandteile dieses wissenschaftlichen Experiments zur Verhinderung von Informationsübertragung mittels Mauerwerksstruktur. Bereits vor über vierzig Jahren hat der Architekturhistoriker Robin Evans darauf hingewiesen, dass gerade die bei diesem Experiment angestrebte Verhinderung von Informationsübertragung 29 | Ebd., S. 36.
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durch Wände ein neues architektonisches Anforderungsprofil generiere, »the birth, if you like, of the science of information destruction. […] The important thing to note in this procedure is that the general aim was not reduction of noise transmission, but reduction of the transmission of significant message.«30 Seine Feststellung macht deutlich, dass die Medientheorie der Wand in der architekturhistorischen Arbeit von Robin Evans ihren Widerhall und ihre erste Ausprägung als eine »environmental history of the war against information« gefunden hat.31 Seine grundlegenden Forschungen zu Wänden, die gebaut werden, um den Informationsgehalt von gesprochener Sprache zu reduzieren, geben klar zu erkennen, dass eine Medientheorie der Wand bisher keineswegs nur von Seiten der Medienwissenschaft an die Architektur herangetragen wurde, sondern vielmehr bereits seit langem ein genuin architektonisches Forschungsthema darstellt, das spannende und innovative Resultate erbringt. Ob sich diese Ergebnisse nun in der entwurfsorientierten Auffassung von Wänden, Fenstern und Türen als »Isolatoren« artikulieren, die Heinz und Bodo Rasch in eine Aufforderung zur konzeptionellen Planung ihrer Durchlässigkeit im Entwurf übersetzen, oder ob architektonische Experimentalserien von Wandkonstruktionen zur »Zerstörung von Information« analysiert werden: solche inspirierenden architekturhistorischen Positionen bilden eigenständige Beiträge zur Medientheorie der Wand aus architektonischer Perspektive.
L ITER ATUR Baecker, Dirk: »Die Dekonstruktion der Schachtel. Innen und Außen in der Architektur«, in: Niklas Luhmann/Frederick D. Bunsen/Dirk Baecker (Hg.), Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld: Haux 1990, S. 67-104. Demetz, Frédéric-Auguste/Blouet, Guillaume-Abel: Rapports sur les pénitenciers des États-Unis, Paris: Imprimerie Royale 1837. Evans, Robin: »The Rights of Retreat and the Rites of Exclusion: Notes toward the Definition of Wall« [1971], in: Ders., Translations from Drawing to Building and Other Essays, Cambridge: MIT Press 1997, S. 34-53. 30 | R. Evans: »The Rights of Retreat and the Rites of Exclusion«, S. 46f. 31 | Ebd., S. 36.
Über tragung und Speicherung
Extracts from the Second Report of the Inspectors of Prisons for the Home District; Addressed to the Right Honourable the Secretary of State for the Home Department, London: Clowes & Sons 1837. Gethmann, Daniel/Sprenger, Florian: Die Enden des Kabels. Kleine Mediengeschichte der Übertragung, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2014. Gethmann, Daniel: »Interaktionen. Zur medialen Konstitution des Entwerfens«, in: Daniel Gethmann/Susanne Hauser (Hg.), Kulturtechnik Entwerfen. Praktiken, Konzepte und Medien in Architektur und Design Science, Bielefeld: transcript 2009, S. 359-371. Graz Architektur Magazin/Graz Architecture Magazine 9 (2013): »Walls: Spatial Sequences«. Proceedings of the Fifth Meeting of the British Association for the Advancement of Science, Dublin: Philip Dixon Hardy 1835. Rasch, Heinz/Rasch, Bodo: Zu – offen. Türen und Fenster, Stuttgart: Wedekind 1931. Reid, David Boswell: Brief Outlines Illustrative of the Alterations in the House of Commons, in Reference to the Acoustic and Ventilating Arrangements, Edinburgh: Neill & Company 1837. — Illustrations of the Theory and Practice of Ventilation, with Remarks on Warming, Exclusive Lighting, and the Communication of Sound, London: Longman, Brown, Green & Longmans 1844. — »On the Construction of Public Buildings in Reference to the Communication of Sound«, in: Notices of Communications to the British Association for the Advancement of Science at Dublin in August 1835, London: John Murray 1836, S. 14-16. Schäffner, Wolfgang: »Elemente architektonischer Medien«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (2010), H. 1, S. 137-149. Siegert, Bernhard: »Nach der Wand. Interferenzen zwischen Rastern und Schleiern/After the Wall: Interferences among Grids and Veils«, in: Graz Architektur Magazin/Graz Architecture Magazine 9 (2013), S. 18-33. — »Türen. Zur Materialität des Symbolischen«, in: Zeitschrift für Medienund Kulturforschung 1 (2010), H. 1, S. 151-170. Steadman, Philip: Building Types and Built Forms, Kibworth Beauchamp: Matador 2014. Teyssot, Georges: »Fenster. Zwischen Intimität und Extimität«, in: Arch+ 191/192 (2009), S. 52-59.
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Elektrifizierte Schwellen Zur Kulturtechnik der Klingel Florian Sprenger
E LEK TRIFIZIERTE S CHWELLEN Weil Türen verschließbar sind, gibt es Klingeln. Jede Tür verfügt über zwei sich ausschließende Zustände: geöffnet oder geschlossen. Die sie ergänzende Klingel kann hingegen – anders als ein Schlüssel – eine Form der Öffnung erzeugen, die zugleich mit der Schließung der Tür existiert: sie zeigt an, dass jemand um Einlass bittet und die Tür geöffnet werden sollte, sie signalisiert das Anliegen des Klingelnden. Indem die Klingel durch die geschlossene Tür und die unüberwindbare Wand hindurch kommuniziert, erzeugt sie ein neues Verhältnis von Trennung und Öffnung. Architektonische Elemente und Medien der Schwelle – beispielsweise Fenster, Gegensprechanlagen oder auch Ornamente – modifizieren in diesem Sinne den Übergang zwischen Innen und Außen. An der jeweiligen Gestaltung dieses Zwischenraumes lässt sich ablesen, wie grundlegende soziale und kulturelle Verhältnisse der Verbindung und Trennung verhandelt werden. Die Schwelle eines Hauses, der liminale Raum des Übergangs zwischen zwei durch ein Hindernis getrennten Bereichen, ist seit jeher ein Ort der Öffnung nicht nur von Räumen, sondern auch von Entscheidungsund Unterscheidungsmöglichkeiten. Schwellen verbinden über die Trennung der Wand hinweg, auf die sie notwendig bezogen bleiben. Sie werden als Übergänge gestaltet und prägen, was sich auf beiden Seiten befindet, indem sie deren Verhältnis bestimmen.1 Privat und öffentlich, offen und 1 | Vgl. Nierhaus, Irene: »Schwellen. Von der Dingfülle zur Materialdichte«, in: Susanne Scholz/Claudia Breger/Gisela Ecker (Hg.), Dinge. Medien der Aneig-
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geschlossen oder innen und außen gehen an der Schwelle als dem Ort, an dem die Unterscheidung getroffen wird, ineinander über. Die Tür zeigt, so Georg Simmel 1909, »wie das Trennen und das Verbinden nur die zwei Seiten ebendesselben Aktes sind«.2 Die folgenden Überlegungen zum sogenannten »Haussignalwesen«3 spüren Verbindungen von Architektur und Elektrizität nach. Zwischen entfernten Räumen erzeugt die elektrische Klingel neue Verbindungen, deren Bedeutung und Möglichkeiten erst ausgehandelt werden müssen. Sie bildet im Sinne Simmels eine überbrückende »Korrelation von Getrenntheit und Vereinigung«, bei welcher der »Akzent auf die letztere« fällt.4 Das Klingeln ist nur temporär, besteht nur für einen kurzen Moment. So lange die Klingel nicht läutet, existiert keine Verbindung außer der potenziellen, die sich materiell in der Wand manifestiert und mitunter das ganze Gebäude durchzieht. Denn zusätzlich zu ihrer zumeist akustisch angezeigten Wirkung zwischen zwei Orten existiert eine technische Verbindung von Kabeln, Schaltern und Geräten, die gestalterische Herausforderungen stellt und neue architektonische Lösungen erfordert. Der Installation von Glocken, Glühlampen oder Geräten, die sich am Ende von Kabeln in den Wohnräumen finden und ein- oder ausgeschaltet werden können, geht die Verlegung einer Infrastruktur voraus, die an den Orten des Gebrauchs Elektrizität bereitstellt. Kabel, Schalter und Stecker werden damit zu architektonischen Elementen im klassischen Sinne. Ihre materielle Verteilung als Bestandteile solcher elektrischer Distributions- und Kommunikationswege führt – so die im Folgenden am Beispiel der Türklingel ausgeführte These – zu Veränderungen innerhalb der räumlichen Anordnungen und der architektonischen Konzeptionen. Durch die zweifache Transgression des gebauten Raums, nung, Grenzen der Verfügung, Königstein: Helmer 2002, S. 17-36, hier S. 18, sowie Teyssot, Georges: »Heim, heimlich, unheimlich oder Wohnen lernen«, in: Freibeuter 22 (1984), S. 64-75. 2 | Simmel, Georg: »Brücke und Tür«, in: Der Tag. Moderne illustrierte Zeitung, 15. November 1909, S. 1-3, hier S. 2. 3 | Jenisch, Paul: Haustelegraphie, Berlin: Rockenstein 1897, S. 1. Vgl. auch Scharnweber, L.: Die Elektrische Haustelegraphie und die Telephonie, Berlin: Springer 1887, sowie Stalder, Laurent: »Prä_liminarien«, in: Arch+ 191/192 (2009), S. 24-25, hier S. 25. 4 | G. Simmel: »Brücke und Tür«, S. 2.
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nämlich durch die Infrastrukturen der Übertragung und die Übergänge des Über tragenen, hat die Klingel teil an der Konstitution eines für das 19. Jahrhundert charakter istischen Schwellenraumes. Die Schwelle wird durch sie zugleich konkreter und abstrakter: Konkreter, weil sie durch den Klingelschalter und das Kabel räumlich fixiert wird, abstrakter, weil die Orte, die sie verbindet und trennt, nicht länger aneinandergrenzen müssen. Der Architekturhistoriker Adrian Forty hat ausgehend von der Auffassung, dass die Elektrifizierung des Haushalts einen größeren Einfluss auf die Gebäudeentwicklung und die Häuslichkeit gehabt habe als die entwerferische Formenentwicklung oder neue Materialien, bereits im Jahre 1975 notiert: »[...] the principal change in the home environment this century has not occurred through improvements in architecture or building standards, but as a result of the equipment that has become available for people to buy to put in their homes.«5 Und doch ist es um den Zusammenhang von Häuslichkeit, Architektur und elektrischen Infrastrukturen bisher bemerkenswert still geblieben. Trotz der von Forty diagnostizierten Bedeutung dieser Vorgänge wurden sie bisher weder architektur- noch mediengeschichtlich eingehend reflektiert. Das Potenzial einer solchen medienarchitekturhistorischen Perspektive, die an das Instrumentarium der Medienarchäologie anschließt,6 liegt darin, die räumlichen Veränderungen durch technische Medien und die ihnen zugrunde liegenden Infrastrukturen auf architektonische Lösungen zu beziehen. Um diese Leerstelle aufzuarbeiten, sollen auf den folgenden Seiten am Beispiel der Türklingel einige Überlegungen zur Vorgeschichte der häuslichen Elektrifizierung und zu den gestalterischen und medienhistorischen Konsequenzen dieses Prozesses vorgestellt werden. Der Technikhistoriker David Nye hat eindringlich davor gewarnt, in diesem Prozess lediglich eine Fortsetzung des Bestehenden zu sehen: »It is […] fundamentally mistaken to think of ›the home‹ or ›the factory‹ 5 | Forty, Adrian: »The Electric Home: A Case Study of the Domestic Revolution of the Inter-War Years«, in: Arts: A Third Level Course. History of Architecture and Design 1890–1939. Bd. 19/20: British Design, Walton Hall: Open University Press 1975, S. 37-64, hier S. 40. Ähnliche Überlegungen finden sich in Forty, Adrian: Objects of Desire: Design and Society since 1750, London: Thames & Hudson 1986. 6 | Vgl. Parikka, Jussi: What Is Media Archaeology? Cambridge: Polity 2012.
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or ›the city‹ as passive, solid objects that undergo an abstract transformation called ›electrification‹. Rather, every institution is a terrain, a social space that incorporates electricity at certain historical junctures as part of its ongoing development.« 7 Im Inneren von Wohngebäuden sind technische und soziale Entwicklungen besonders eng verflochten. Was ins Haus gebracht und »domestiziert«8 wird, ist mit diesem Akt Gegenstand sozialer Praktiken und den jeweiligen Bedürfnissen angepasst. Die enge Verflechtung der Elektrifizierung mit den gebauten Verbindungen, Trennungen, Öffnungen und Schließungen, welche die Bewegung von Menschen und Dingen im Haus bestimmen, wird besonders deutlich, wenn man von priorisierten menschlichen Akteuren absieht und Handlungsmacht vielmehr als verteilt begreift. Mit einer Technik, die im Fall der Elektrizität selbst auf Distributionen beruht, wird die Ordnung an häuslichen Schwellen zur Verteilung derjenigen Handlungsmacht, mit der sich diese Ordnung von Strömen aus Dingen und Menschen auf Knopfdruck und vor allem aus der Ferne herstellen lässt.
Ü BERTR AGUNGEN IN DIE F ERNE Das Verhältnis von elektrischen Übertragungen zu Raum und Zeit ist in der Geschichte der Erforschung der Elektrizität immer wieder verhandelt worden. Zunächst soll ein kurzer Abriss der Entwicklung von Kabeln, Schaltern und Steckern das Verhältnis der Elektrizität zum gebauten 7 | Nye, David E.: Electrifying America: Social Meanings of a New Technology, 1880–1940, Cambridge: MIT Press 1990, S. 6. 8 | Vgl. Gooday, Graeme: Domesticating Electricity: Expertise, Uncertainty and Gender, 1880–1914, London: Pickering & Chatto 2008. Roger Silverstone hat das Konzept der Domestizierung 1992 geprägt, um zu beschreiben, wie Technik in den häuslichen Alltag, den Tagesablauf und angesichts häuslicher Bedürfnisse assimiliert wird und dabei ihre möglichen Anwendungen – auch gegen die Intentionen der Hersteller – ausgehandelt werden. In diesem Prozess »disziplinieren« Verbraucher Geräte wie Geräte Verbraucher. Das Ziel dieser Prozesse, so Silverstone, ist die Produktion von Verlässlichkeit und Routine, vgl. Silverstone, Roger: »Domesticating Domestication: Reflections on the Life of a Concept«, in: Thomas Berker et al. (Hg.), Domestication of Media and Technology, Maidenhead: Open University Press 2006, S. 229-248.
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Raum am Ende des 19. Jahrhunderts verdeutlichen. Seit der Engländer Stephen Gray 1729 erstmals eine elektrische Wirkung durch einen Kupferdraht übertragen hat, gilt Elektrizität als überaus schnell, vielleicht sogar als instantan, das heißt als Übertragung, die keine Zeit braucht, sondern unmittelbar von A nach B gelangt und damit als Fernwirkung an zwei Orten zugleich ist. Die ersten Experimente zur Übertragbarkeit von Elektrizität drehen sich um die Länge dieser Distanz. Gray kann gänzlich ohne Sichtkontakt und nur durch den Schall der Stimme, so bezeugt es sein Freund Granvile Wheler am anderen Ende des Drahts, von der einen Seite eines Gartens bis zur anderen eine »electrick vertue«9 hervorrufen: eine elektrische Anziehung, eine elektrische Kraft. 666 Fuß misst der Draht, den Gray »Line of Communication«10 nennt (Abb. 1). Abb. 1, Grays Kabel.
Quelle: Doppelmayr, Johann Gabriel: Neu-entdeckte Phaenomena von Bewunderns-würdigen Würckungen der Natur, welche bey der fast allen Cörpern zukommenden electrischen Krafft, und dem dabey in der Finstern mehrentheils erscheinenden Liecht […] Herr Hauksbee und Herr Gray […] durch viele Experimenta, zu unsern Zeiten glücklich hervorgebracht […], Nürnberg: Fleischmann 1744, Tafel 2.
Über einen Begriff wie »Kabel« verfügt er noch nicht, Isolation, Ladungszustände und Elektronen sind ihm noch unbekannt. Für das physikali9 | Gray, Stephen: »A Letter to Cromwell Mortimer, M. D. Secr. R. S. Containing Several Experiments Concerning Electricity«, in: Philosophical Transactions of the Royal Society of London 37 (1731), S. 18-44, hier S. 27. 10 | Ebd.
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sche Wissen seiner Zeit ist Kommunikation die kausale Verbindung einer Ursache mit einer Wirkung, zwischen denen Übertragung statthat: die Notwendigkeit eines kausalen Zusammenhangs. Damit Elektrizität in diesem Sinne kommunizieren kann, sind drei Elemente zwingend nötig: zwei Kommunizierende auf jeder Seite und das Dazwischen. Ohne die Unterscheidung von Sender und Empfänger und ihre Distanz zueinander gäbe es keinen Kanal und keine Verbindung, also keine Kommunikation. Die Elektrizität überwindet nicht nur die Distanz, die Übertragung voraussetzt, sondern scheint sie aufzuheben. Sie vertreibt den Raum und macht die Differenz der Zeit unwahrnehmbar. Ursache und Wirkung sind zwar getrennt und voneinander entfernt, ereignen sich aber doch scheinbar gleichzeitig – verbunden durch einen langen Draht. Ein ganzer Garten kann dazwischen liegen und bald die ganze Welt, Wände oder Etagen, aber keine Sekunde, kein Augenzwinkern, kein Aufschub. Elektrizität, die erst mit der Erforschung des Elektromagnetismus durch Hans Christian Oersted, Michael Faraday, William Thomson und James Clerk Maxwell zu anwendbaren Technologien werden kann, gilt seitdem als Räume überspringende Kraft. Sie verbindet entfernte Orte durch Signale oder Energie, lässt vermeintlich gleichzeitig etwas an ihnen geschehen. Auf diese Weise stehen von der elektromagnetischen Telegraphie über die ersten Kraftmaschinen und Küchengeräte bis hin zu Telefon, Radio und Fernsehen elektrische Medien auch für den Hausgebrauch bereit. Potenziert wird die Domestizierung, die mit der Türklingel einsetzt, als Thomas Edison 1879 nicht nur die Glühbirne, sondern auch ein integrales elektrisches Distributionssystem mit Generatoren, Kabelnetzwerken, genormten Steckern und Schaltern sowie elektrischem Licht auf den Markt und damit Elektrizität endgültig in die Häuser bringt. Zunächst nur für das elektrische Licht gedacht, werden nach und nach auch andere Geräte an den Stromkreis angeschlossen: Heizungen und Zigarrenanzünder, Bügeleisen und Herde, Staubsauger und Wasserkocher. Zwar dauert es einige Jahrzehnte, bis die Verteilung des Stroms, die Effizienz der Geräte und die ökonomische Verwertung so weit stabilisiert sind, dass nicht nur wohlhabende Haushalte über die modischen neuen Geräte verfügen. Seitdem aber gehört häusliche Elektrizität zum Mindeststandard der westlichen Welt.11 11 | Ihre Durchsetzung ist nicht nur ökonomisch von enormer Bedeutung. Auch die kulturellen Auswirkungen häuslicher Elektrifizierung sind, wie zahlreiche
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Selbstredend sind zu dieser Zeit bereits bestimmte Infrastrukturen vorhanden, die Wände durchbrechen: Es gibt Wasserrohre, Ventilationsschächte, Rohrpost, Klimaanlagen und Gasleitungen;12 auch mechanische Klingeln sind seit langem bekannt.13 Doch im Unterschied zu Gas oder Wasser zirkuliert Elektrizität nicht. Sie ist keine Substanz, die wieder abgeleitet werden muss, und ihr Verbrauch hinterlässt keine Reste. Es handelt sich eher um eine Distribution von Zuständen als um eine Zirkulation von Rohstoffen. Elektrizität kann nur dort erscheinen, wo ihre Medien sind. Im Vergleich zur Installation von Gas- und Wasseranlagen ist der Einbau von Kabeln, ob für Klingeln oder seit 1880 zur Stromversorgung und für Telefone, geradezu simpel und sicherlich kein revolutionärer Umbruch. Doch zeichnen sich Kabel durch die Kapazität ihrer Kommunikation aus: sie verbinden über Raum und Zeit hinweg, indem sie durch Wände hindurch, Etagen querend und zwischen einzelnen Gebäuden Verbindungen schaffen.
K ULTURTECHNIKEN DER G LOCKE Elektrische Klingeln, Alarmanlagen,14 Türöffner und Haustelegraphen, die alle auf dem gleichen technischen Prinzip des telegraphischen Dispositivs der Übertragung beruhen, gehören zu den ersten elektrischen Schaltkreisen, die in zumeist wohlhabende Häuser Einzug halten. Sie werden zunächst nicht an Stromnetze angeschlossen, da für die nötige geringe Spannung galvanische Batterien, Thermoelemente oder sogar Kurbeln von Elektrisiermaschinen praktikabler sind. Während ihre Technik geradezu trivial anmutet, sollte ihr Einfluss – durchaus im Sinne Untersuchungen gezeigt haben, überaus tiefgreifend. Vgl. Heßler, Martina: »Mrs. Modern Woman«. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Haushaltstechnisierung, Frankfurt a.M.: Campus 2001. 12 | Vgl. Roderick, Ian: »Household Sanitation and the Flow of Domestic Space«, in: Space and Culture 1 (1997), S. 105-131. 13 | Franz Maria Feldhaus gibt hierfür das Jahr 1520 an. Andere Quellen konnten bislang nicht gefunden werden. Vgl. Feldhaus, Franz M.: Der Weg in die Technik, Leipzig: Seemann 1935, S. 23. 14 | Vgl. Billings, Richard M.: Burglar- and Housealarms, US-Patent (1874), Nr. 146, 641.
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einer Epistemologie des Randständigen, wie sie Markus Krajewski vorgestellt hat15 – nicht unterschätzt werden. Das legt Artur Fürst bereits 1923 in Das Weltreich der Technik nahe: »Die Feld- und Wiesenblume Klingel sollte ebenso sorgfältig gepflegt werden wie die großartigen technischen Pflanzungen nach Art der Kraftwerke.«16 Als Kulturtechniken markieren Klingeln und Glocken seit jeher verschiedene Formen von Schwellen. Die Türklingel verfügt nicht über die gleiche Symbolik wie die Kirchenglocke, und doch zeigt deren Geschichte, dass die Töne geschlagener Metallkörper in einer langen Tradition des Umgangs mit Schwellen stehen und ihre Funktion darin besteht, Räume zu verbinden. Glocken bezeichnen Übergänge und Beziehungen, die sich dem Visuellen entziehen, akustisch; sie markieren Orte oder Bewegungen für diejenigen, die nicht anwesend, aber in akustischer Reichweite sind. Im Ritual begleitet ihr Klang das Über treten von räumlichen und kulturellen Schwellen durch Geburt, Initiation, Hochzeit oder Tod.17 Welche Bedeutung ihnen neben der kunstvollen Fertigung aus seltenen Metallen oder gar Gold weltweit zukommt, zeigen die sieben Glockenformen, welche Antike und Mittelalter kennen: tintinnabulum, petasus, codon, nola, campana, dodonai lebetes und squilla.18 Diese Glocken üben unterschiedliche soziale Funktionen aus, die regional stark variieren: sie richten die allgemeine Aufmerksamkeit auf die jeweils tragende Person, versammeln die Dorfgemeinde auf dem Markt oder später in der Kirche, geben den Aufenthaltsort von Herdentieren an, dienen als rituelle Musikinstrumente oder zum Feueralarm, vertreiben Geister und erlauben – wie die Glocken, die im griechischen Heiligtum Dodona an Bäumen aufgehängt und durch den Wind bewegt werden – Zwiesprache 15 | Vgl. Krajewski, Markus: Der Diener. Mediengeschichte einer Figur zwischen König und Klient, Frankfurt a.M.: Fischer 2010. 16 | Fürst, Artur: Das Weltreich der Technik. Entwicklung und Gegenwart. Bd. 1: Telegraphie und Telephonie. Der Verkehr im Draht und im Äther, Berlin: Ullstein 1923, S. 123. 17 | Vgl. Van Gennep, Arnold: Übergangsriten, Frankfurt a.M.: Campus 2005, sowie zur Vorgeschichte der Glocke Stuhlfauth, Georg: »Glocke und Schallbrett«, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 41 (1919), S. 162-167. 18 | Vgl. Reverend Alfred Gatty in seiner immer noch aufschlussreichen Geschichte der Glocke von 1848: Gatty, Alfred: The Bell: Its Origin, History, and Uses, London: Bell 1848, S. 6-8.
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mit den Göttern.19 Die später einsetzende Tradition, in Glockenklängen eine Verbindung zwischen Himmel und Erde sowie die Verkündigung des Evangeliums durch die Apostel zu sehen, setzt vorchristliche Bräuche fort.20 Kirchenglocken werden, so viel steht fest, erst im 4. Jahrhundert als Instrumente zur Strukturierung des klösterlichen Alltags eingesetzt. Bekannt ist ihre Verwendung in nordafrikanischen Klöstern unter Pachomius, wo sie den Mönchen in Stundenintervallen Zeichen zum Beten und Versammeln geben und Geburt und Tod anzeigen: signum dare.21 In der Folge werden Glocken mit dem Zeichen gleichgesetzt.22 Insofern sie Gottesdienste eröffnen und die Zeit nach kirchlichem Maß strukturieren, übernehmen sie innerhalb der Gemeinde eine Kontrollfunktion. Wer die Glocke hört, soll zur Messe kommen oder sich zumindest bekreuzigen. Im Rahmen dieser christlichen Tradition werden große Glocken, campana genannt, auf Türmen angebracht und vom Boden aus mit Seilzügen geläutet. Erst spät werden Glocken durch mechanische Läutvorrichtungen aus Seilen und pneumatischen Anlagen technisiert: ein komplexerer elektrischer Motor ersetzt nun das Läutwerk am Relais, das Prinzip der Signalisierung bleibt gleich. 1898 berichtet eine Notiz in Dingler’s Polytechnischem Journal von einer »unseres Wissens erste[n] praktische[n] Ausführung des Gedankens, schwere Kirchenglocken statt von Menschenhand durch ein Maschinengetriebe läuten zu lassen«.23
19 | Vgl. ebd., S. 8. 20 | Vgl. Kramer, Kurt: Die Glocke. Eine Kulturgeschichte, Kevelaer: Butzon & Bercker 2012. Kramers Angaben sind mit Vorsicht zu genießen, schreibt er doch die Geschichte der Glocke allein vom Christentum her. 21 | Vgl. Schmidt, Albert: »Geschichte und Symbolik der Glocken«, in: Kurt Kramer (Hg.), Glocken in Geschichte und Gegenwart, Karlsruhe: Badenia 1986, S. 11-19. 22 | Vgl. K. Kramer: Die Glocke, S. 34. Zum Zusammenspiel von Zeichen und Signal vgl. Siegert, Bernhard: »›Erzklang‹ oder ›missing fundamental‹. Kultur geschichte als Signalanalyse«, in: Till A. Heilmann/Anne von der Heiden/Anna Tuschling (Hg.), Medias in res. Medienkulturwissenschaftliche Positionen, Bielefeld: transcript 2011, S. 231-246. 23 | Anonym: »Die elektrisch geläuteten Glocken der Georgenkirche in Berlin«, in: Dingler’s Polytechnisches Journal 307 (1898), S. 288.
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F RÜHE K LINGELN Ein Erfinder der Türklingel lässt sich nicht angeben, dafür ist ihr technisches Prinzip, das in den 1830er Jahren geradezu in der Luft liegt, zu einfach. Ihre Entwicklung erfolgt in vielen kleinen Schritten, die in verschiedene Richtungen ausdifferenziert werden und unterschiedlichen Bedürfnissen entsprechen. Zwar gibt es mechanische Klingeln und Läutewerke bereits spätestens seit der frühen Neuzeit, doch es ist die seit den späten 1830er Jahren als Prinzip bekannte elektrische Klingel, die mit den räumlichen Wirkungen der Elektrizität neue architektonische Möglichkeiten schafft, durch Schwellen die Grenzen eines Gebäudes oder Übergänge innerhalb eines Gebäudes zu bestimmen.24 Elektrische Klingeln ersetzen unzuverlässige Schellen und Zugklingeln aus Seilen oder unelektrischen Drähten, doch da es sich nicht um einfache Verbindungen zwischen zwei Orten, sondern um Distributionssysteme handelt, die einer eigenen Zeitlichkeit gehorchen und ein zusätzliches Netz aus Drähten über das der Architektur legen, sind ihre Auswirkungen weitaus tiefgreifender. Einen ersten Auftritt hat die domestizierte Elektrizität im Jahre 1832, als Joseph Henry ein einfaches Modell einer elektromagnetischen Klingel zur Verbindung einiger Räume der Albany Academy verlegt.25 Wozu genau dieser »Municipal Electric Telegraph«26 genutzt wurde, lässt sich leider nicht mehr rekonstruieren. Das Relais, als dessen Erfinder Henry gilt, ist das Herzstück dieses technischen Ensembles wie auch aller aus ihm folgenden Anlagen. Es bildet die Grundlage des Dispositivs der 24 | Vgl. Krämer, Josef: »Sprachrohre, Haus- und Zimmer-Telegraphen«, in: Handbuch der Architektur. Dritter Theil: Hochbau-Constructionen, Darmstadt: Bergsträsser 1892, Bd. 3.2, S. 200-241, sowie Koch, Hugo: »Fenster, Thüren und andere bewegliche Wandverschlüsse«, ebd., Bd. 3.1 [1896], S. 24-387. Zur Geschichte des Türklopfers vgl. Thomas, C. J.: »A History of Door Knockers«, in: Build ing Age and the Builder’s Journal 45 (1923), S. 50-51. 25 | Vgl. Henry, Joseph: »Statement in Relation to the History of the ElectroMagnetic Telegraph«, in: Ders., Scientific Writings, Washington: Smithsonian Institution 1886, Bd. 2, S. 426-437. 26 | Channing, William F.: »On the Municipal Electric Telegraph; Especially in Its Application to Fire Alarms«, in: The American Journal of Science and Arts 13 (1852), S. 58-83.
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Abb. 2, Henrys Relais.
Quelle: J. Henry: »Statement in Relation to the History of the Electro-Magnetic Telegraph«, S. 434.
elektromagnetischen Telegraphie und besteht aus einem Auslöser, einem Kabel und einer elektromagnetischen Spule mit einem Metallstift, in dessen Schlagweite Henry eine Glocke befestigt (Abb. 2). Im Zuge der viralen Forschungstätigkeit im Anschluss an Oersteds Entdeckung des Elektromagnetismus hatte Henry dünnen Draht um einen Hufeisenmagneten gebunden und dessen Wirkung elektromagnetisch verstärkt. Nun muss nur mehr ein kleiner Strom übertragen werden, der mittels der Spule einen lokalen Stromkreis schließt, ein codiertes Signal anzeigt oder mittels des Metallarms die Glocke anschlägt. Der Strom aus der Ferne soll schalten und in einem »Abhängigkeitsverhältnis nach Zeit und Intensität« den Arbeitskreis aktivieren;27 hierbei soll die Energie nicht umgewandelt, sondern die Tatsache ihrer An- und Abwesenheit nutzbar gemacht werden, sprich: Anschlagen der Glocke oder kein Anschlagen der Glocke. 27 | Horwitz, Hugo T.: »Das Relais-Prinzip«, in: Ders., Das Relais-Prinzip. Schriften zur Technikgeschichte, Wien: Löcker 2008, S. 77-117, hier S. 85. Für Horwitz, einen Pionier der Technikgeschichte, stellt das elektromagnetische Relais ein allgemeines epistemologisches Paradigma moderner Technik dar.
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Mit dem Wagner’schen Hammer, den der Buchhalter Johann Philipp Wagner 1836 in Frankfurt am Main auf bauend auf Experimenten von Michael Faraday und Charles Grafton Page entwickelt, wird es möglich, den Hammer nicht nur einmal gegen die Glocke schlagen zu lassen, sondern den Stromkreis in beständiger Unterbrechung aufrechtzuerhalten, sodass das charakteristische dauerhafte Klingeln der Glocke ertönt.28 Bereits 1845 präsentiert Gustave Froment in Paris ein Klingelsystem für Hotels oder Mietshäuser mit mehreren Appartements oder Zimmern, wenige Jahre später folgt ein vergleichbarer Apparat von Jules Mirand, dem für seine Erfindungen auf der Weltausstellung von 1855 eine Medaille verliehen wird.29 Die erste Klingel mit Kontaktfeder wird 1850 von Polydoor Lippens in Brüssel patentiert. Von einer verbesserten Alarmanlage berichtet der Scientific American 1860; von elektrischem Feueralarm ist im gleichen Jahr die Rede.30 Über die Anwendungen in dieser Frühzeit lassen sich kaum belastbare Aussagen treffen, zu vage ist die Quellenlage. Vor allem in Villen und Hotels sind elektrische Klingeln früh im Einsatz, denn obwohl die Kosten für einen lokalen Stromkreis relativ hoch sind, wirkt der exotische Faktor der Elektrizität anziehend. So spricht die International Library of Technology in ihrem Band über Verkabelung noch 1901 von »ordinary dwellings«,31 die bezeichnenderweise über drei Klingeln verfügen: eine Türklingel, die in der Eingangshalle läutet, eine Verbindung zwischen 28 | Wagner selbst veröffentlicht nichts über seine Erfindung. Vorgestellt wird sie in Neeff, Christian Ernst: »Über einen neuen Magnetelektromotor; von Dr. Neeff in Frankfurt am Main«, in: Annalen der Physik 122 (1839), H. 1, S. 104-109, hier S. 108. Technisch verquickt sich in diesen Erfindungen die Vorgeschichte elektrischer Motoren mit dem telegraphischen Signalwesen. 29 | Vgl. Du Moncel, Théodore: Exposé des applications de l’électricité. Bd. 3: Applications mécaniques, physiques et physiologiques, Paris: Hachette 1857, S. 83. 30 | Vgl. Anonym: »Improved Magneto-Electric Burglar Alarm«, in: Scientific American 3 (1860), S. 305, sowie Anonym: »The Electric Fire Alarm«, in: Railway Times 12 (1860), S. 312. 31 | Electric Transmission, Electric Lighting, Interior Wiring, Scranton: Inter national Textbook Company 1901 (= International Library of Technology: A Series of Textbooks for Persons Engaged in the Engineering Professions and Trades 13), § 28, S. 27.
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Küche und Dienstboteneingang und eine Klingel aus dem Speisezimmer in die Küche. Haus- und Hoteltelegraphen, die nach dem gleichen Prinzip funktionieren, aber statt einer Klingel beschriftete Metallplättchen bewegen und so differenzierte Botschaften erlauben, überlagern die häuslichen Befehlsstrukturen und ordnen den Raum, in dem die Befehle verteilt werden. Sie machen einzelne Zimmer adressierbar und erlauben es zugleich, von den Zimmern oder Fluren aus konkrete Wünsche an eine Zentrale zu senden. Gerade für die Grandhotels der Jahrhundertwende bieten diese später von Telefonanlagen abgelösten Neuerungen enorme Potenziale. Die Zeitschrift für praktische Baukunst berichtet erstmals 1862 über die »Anwendung der electrischen Telegraphie zu häuslichen Zwecken« und im Speziellen über eine Anlage in einem Pariser Restaurant: Jenes Etablissement umfaßt zwölf Kabinetts oder Zimmer, vier in jeder Etage. Man wollte dabei die Anlage der Art organisieren, daß sich das Signal jedes Kabinetts nicht allein in der Etage, worin es sich befindet, durch einen Glockenton und ein sichtbares Zeichen an einer Tafel kundgiebt, sondern auch in der ersten Etage durch ein Glockensignal, welches die Nummer des Kabinetts angiebt, von welchem der Ruf ausgeht, und durch ein sichtbares Signal auf einer Zeichentafel, welche mit allen Kabinetten in Verbindung steht. 32
Schalter werden zu diesem Zeitpunkt noch »Manipulators oder Druckschrauben« genannt.33 Im Detail wird beschrieben, wie man aus den Wohnungen mit »Schmiegsamkeit und Leichtigkeit«34 Signale an den Portier senden kann, die besagen, ob man gewillt ist, Besuch zu empfangen oder nicht. Dank der Klingel an der Schwelle »prallt die rohe Kraft eines Hitzkopfes, dem die Thür nicht gleich im ersten Augenblick geöffnet wird, ab – die Elektrizität geht ihren Gang, mag er nun fest oder leise drücken, stets lässt sie dasselbe Signal ertönen«.35 An diesem Satz 32 | Anonym: »Anwendung der electrischen Telegraphie zu häuslichen Zwecken«, in: Zeitschrift für praktische Baukunst 22 (1862), S. 319-328, hier S. 319. 33 | Ebd., S. 320. 34 | Ebd., S. 328. 35 | Wagner, Carl: Die elektrische Haustelegraphie; allgemein verständlich dargestellt, Berlin: Modes 1892, S. 27. Vgl. auch Allsop, Frederick Charles: Practical Electric Bell Fitting: A Treatise on the Fitting-Up and Maintenance of
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aus einem der zahlreichen in Auf bau und Inhalt nahezu identischen Ratgeber zum Selbstbau von Klingeln, die um 1900 erscheinen, ist zweierlei bemerkenswert: Erstens hebt die elektrische Klingel, um es mit Hans Blumenberg zu formulieren, den adäquaten Nexus von Eingabe und Ausgabe zugunsten des bloßen Schaltens auf.36 Im Gegensatz zu mechanischen Klingeln erfordert sie keinen Kraftaufwand, um Stangen, Seile und Räder zu bewegen, sondern löst stets das gleiche Signal aus. Zweitens geht die Elektrizität »ihren Gang« – einen Gang, der mit dem der Hausbewohner nicht übereinstimmen muss. Sie legt eine neue Verbindung zwischen Tür und Zimmer. In beidem steht sie charakteristisch für einen technisch induzierten Wandel, der vor Schwellen nicht haltmacht.
Z UR D ISTRIBUTION VON S CHWELLENORDNUNGEN Derartige Verbindungen beruhen auf einem Netzwerk der Distribution, das auf verschiedenen Ebenen zur Kontrolle von Bewegungen dient. Der Kaiserliche Telegraphen-Inspektor Oskar Canter, der selbst ein Läutsystem erfindet,37 resümiert in Band 14 der Elektro-technischen Bibliothek 1883 den diesbezüglichen Stand der haussignaltechnischen Möglichkeiten. Elektrische Alarmanlagen, so Canter, besetzen die Schwellen eines Hauses, um ihr Übertreten zu melden, Türschlösser können aus der Ferne verschlossen werden und Thermometer zeigen in Kontrollanlagen Electric Bells and All the Necessary Apparatus, London: Spon 1890; Bottone, Selimo Romeo: Electric Bells and All about Them: A Practical Book for Practical Men, London: Whittaker 1889; Redfern, J. B./Savin, J.: Bells, Indicators, Telephones, Fire and Burglar Alarms, Etc., New York: Constable 1913; Hasluck, Paul N.: Electric Bells: How to Make and Fit Them, Including Batteries, Indicators, Pushes, and Switches, New York: Cassell 1900; Badt, Francis B.: Bell Hangers’ Handbook, Chicago: Electrician Publishing Company 1901. 36 | Blumenberg hat die Türklingel als Symptom der technischen Kausalität beschrieben, vgl. Blumenberg, Hans: »Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie«, in: Ders., Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart: Reclam 1981, S. 7-54, hier S. 35f. 37 | Vgl. Canter, Oskar: »Ein Läutesystem für Haustelegraphen mit Rücksignal«, in: Dingler’s Polytechnisches Journal 226 (1877), S. 508-509.
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die Temperatur entfernter Räume an.38 Kontakte werden ausgelöst und Stromkreise geöffnet oder geschlossen, damit das gewünschte Ereignis des Klingelns, Läutens oder Leuchtens eintritt. All diese Vorgänge dienen dazu, die Ströme von gebetenen und ungebetenen Gästen, von Energien und Objekten zu regulieren – oder jedenfalls Maßnahmen zu diesem Zweck nahezulegen. Das Betreten des Hauses durch das Übertreten der Schwelle wird zu einem aus der Ferne überwachten Akt; der Eindringling kann an der Schwelle aufgehalten, kontrolliert oder gar automatisiert eingelassen werden. Mit den technischen und ökonomischen Innovationen des 19. Jahrhunderts werden, so hat es James Beniger in The Control Revolution detailliert geschildert, Kontrollmöglichkeiten prekär und parallel hierzu neue Beziehungs- und Kommunikationsformen produktiv.39 Die Notwendigkeit der Kontrolle beschränkt sich nicht mehr auf die erreichbare Umgebung und Face-to-Face-Absprachen zwischen Fabrikdirektoren und Händlern, sondern sie umfasst nun auch Orte, die räumlich entfernt liegen. Um deren unterschiedliche Zeitebenen auf einen Nenner zu bringen, werden zeitkritische Medien der Synchronisation benötigt. Kontrolle als die Fähigkeit, an entfernten Orten Macht auszuüben, wird in immer stärkerem Maße von der Übertragungsgeschwindigkeit abhängig – diese muss möglichst schneller sein als die Eisenbahn oder das Schnellboot, schneller also als der materielle Transport von Gütern. Mit den neuen Transportmitteln beginnen Fabriken, on-the-fly zu produzieren, das heißt Rohstoffe sofort nach der Lieferung zu verarbeiten, anstatt sie zu lagern. Hierfür muss die zeitkritische Verteilung dieser Rohstoffe sichergestellt werden und es braucht eine Form der Kommunikation, die schneller ist als der Transport: elektromagnetische Telegraphie. Die Krise der Kontrolle, von der die Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt ist, weil zwar Güter schnell verschickt, ihre Verarbeitung und Verwendung jedoch nicht kontrolliert werden können, wird durch die telegraphische Übertragung besänftigt. Mit der Kontrolle durch das elektrische Signalwesen und das telegraphische Dispositiv, auf dem auch die Klingel beruht, 38 | Vgl. Canter, Oskar: Die Haus- und Hoteltelegraphie, Wien: Hartleben 1883 (= Elektro-technische Bibliothek. Eine Darstellung des ganzen Gebietes der angewendeten Elektricität nach dem Standpunkte der Gegenwart 14), S. 150f. 39 | Vgl. Beniger, James R.: The Control Revolution: Technological and Economic Origins of the Information Society, Cambridge: Harvard University Press 1986.
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wird die von James Beniger benannte »Information Society« begründet. Telegraph und Eisenbahn sowie moderne Brücken, Kanäle, Kabelnetze und im kleinen Maßstab auch die Türklingel erlauben im Verbund ein Kontingenzmanagement durch Kontrolle und Zeitbeherrschung, wie es sich die London Times 1858 angesichts der ersten transatlantischen Telegraphenverbindung erhofft: »Distance as a ground of uncertainty will be eliminated from the calculation of the statesman and the merchant.«40 Neben ihrer Kontrollfunktion an der Schwelle dienen Klingeln der Adressierung. Besonders deutlich wird die architektonische Bedeutung elektrischer Adressierung angesichts der Klingelbretter an den Eingangstüren von Mietshäusern, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem in europäischen Metropolen das Stadtbild prägen. Einzelne Wohnungen werden von der Schwelle des Hauses aus adressierbar; die Klingeln und Klingelbretter tragen insofern bei zu einem Prozess der »Entmischung«, durch den ein disziplinarischer Raum erzeugt wird. Ein Mietshaus ohne elektrische Klingel und Gegensprechanlage ist einem chaotischen Verkehr und ungeordnetem Zusammentreffen ausgesetzt, weil der Zugang zu Passagen, Treppenhäusern und Korridoren nicht reguliert ist. Adressierbarkeit bringt Kontrolle durch Unterteilung mit sich: bestimmte Zimmer oder einzelne Wohnungen werden als abgeschlossene Orte behandelt, die durch Leitungen mit der Eingangstür des Hauses als zentralem Ort der Schwelle verbunden sind. Die Eingangstür verliert tendenziell ihren Status als Ort der Begegnung und gewinnt Bedeutung für die Kontrolle von Personen-, Energie- und Objektströmen. Von ihr aus werden Signale im Haus verteilt.41 Der Architekturhistoriker Robin Evans hat erörtert, dass gestalterische Lösungen für Gebäude im Zuge der Transformation der Verbindungen zwischen ihren Räumen nicht nur unter ästhetischen, sondern auch unter kommunikativen Gesichtspunkten entwickelt
40 | The London Times, 6. August 1858, zitiert nach Holtorf, Christian: Das erste transatlantische Telegraphenkabel von 1858 und seine Auswirkungen auf die Vorstellungen von Raum und Zeit, Dissertation, Berlin 2009, S. 24. 41 | Andreas Bernard hat dies in Bezug zur Vertikalisierung des architektonischen Raums gesetzt, die er am elektrischen Aufzug festmacht, vgl. Bernard, Andreas: Die Geschichte des Fahrstuhls. Über einen beweglichen Ort der Moderne, Frankfurt a.M.: Fischer 2006, S. 58.
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werden.42 Die Möglichkeiten des Verkehrs zwischen Räumen verschieben in historischen Etappen das Verhältnis von Privatsphäre und Öffentlichkeit, das sich architektonisch manifestiert. Im 19. Jahrhundert treten, dies zeigt Evans an zahlreichen Beispielen, Korridore, Flure und Vorzimmer als Schwellenräume dazwischen. Räume werden zunehmend funktional differenziert, etwa in Wohn- und Schlaf bereich, Bereiche der Essenszubereitung und des Verzehrs sowie der Freizeit. Dank des Korridors kann jedem Raum eine spezifische Funktion zugeteilt werden, weil ein separater Eingang den Zugang sanktioniert und die Küche nicht durchquert werden muss, um das Bad zu erreichen.43 Was Evans für Türen und Korridore herausarbeitet, wird durch elektrische Signalanlagen fortgesetzt, deren Infrastrukturen die Architektur überlagern und zugleich neue Verbindungen und Ausschlüsse erzeugen.
D URCHBRUCH DER W AND Elektrische Infrastrukturen durchbrechen Wände – senkrecht stehende Elemente, die architektonisch der Begrenzung und Aufteilung sowie der Stabilisierung dienen.44 Es mag trivial erscheinen, dass ein Kabel immer auch anderswo ist, doch in Bezug auf die Differenz von Innen und Außen wird diese Tatsache zum entscheidenden Faktor. In seiner Materialität und räumlichen Ausdehnung kann ein Kabel an zwei (oder mehreren) Orten zugleich sein, die es durch Elektrizität miteinander verbindet. Die Trennung von Innen und Außen muss dahingehend neu verhandelt werden. Für frühe elektrische Infrastrukturen ist die Durchbrechung oder Perforation von Wänden kennzeichnend, die Stabilität und Permeabilität zusammenbringen. Die Lokalisierung der Kabel, Schalter und Stecker, die in der Wand, an ihr entlang oder durch sie hindurch angebracht sind, 42 | Vgl. Evans, Robin: »Menschen, Türen, Korridore«, in: Arch+ 134/135 (1996), S. 85-97, hier S. 96. 43 | Vgl. Warnke, Martin: »Zur Situation der Couchecke«, in: Jürgen Habermas (Hg.), Stichworte zur »Geistigen Situation der Zeit«. Bd. 2: Politik und Kultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 673-687. 44 | Vgl. Hildner, Claudia/Hübener, Simone: Wand. Materialität, Konstruktion, Detail, München: Deutsche Verlags-Anstalt 2010, S. 10.
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wird in hohem Maße standardisiert und folgt, so eine zeitgenössische Schrift, vorgegebenen Normen im Sinne einer »Einheitlichkeit der Formensprache« und einer »Materialgerechtigkeit der Form«.45 Die Kabel, die die Wände durchziehen, setzen die zwei Seiten der Wand auf eine neue Weise miteinander in Beziehung (Abb. 3). Kabel, Schalter und Stecker durchbrechen als architektonische Elemente elektrischer Infrastrukturen die Wand. Architektur von der Wand her zu denken und diese weniger in ihrer stützenden oder tragenden als vielmehr in ihrer abschirmenden oder öffnenden, trennenden oder verbindenden Funktion zu verstehen, ist architekturhistorisch keineswegs selbstverständlich, sondern ein voraussetzungsreicher Schritt. Gebäude und Zimmer sind Körper mit Innen- und Außenseite, in denen Wände diese Unterscheidung durch ihre Anordnung und ihre ornamentale Ausstattung strukturieren. Letztere überführt die Innenseite als Repräsentation nach außen.46 So gesehen sind architektonische Schwellen der kulturtechnische Umgang mit Unterscheidungen. Die Wand, so Christoph Feldtkeller in seinem Buch über den Funktionalismus des architektonischen Raums, ist raumgebend und fügt zugleich eine Trennung ein. Sie unterscheidet, indem sie einen Bezug herstellt. Die Wand muss »die aneinandergrenzenden Areale […] nicht trennen, denn als getrennte Einheiten, die verbunden werden könnten, sind sie gar nicht erst gegeben«.47 Dem architektonischen Raum geht kein »ungetrennter« »wandloser« Raum voraus, denn die Räume, die die Wand aneinander grenzen lässt, gibt es ohne die Wand nicht. Wände sind Wände und zugleich Orte ihrer Durchbrechung. Fenster und Türen oder Kabel, Schalter und Stecker müssen, mit Simmel gesprochen, »immer trennen und [können] ohne zu trennen nicht 45 | Dettmar, Georg: Elektrizität im Hause; in ihrer Anwendung und Wirtschaftlichkeit dargestellt, Berlin: Springer 1911, S. 24; vgl. auch – mit identischem Wortlaut – Stern, Paul: »Verschönerung oder Verunzierung des Hauses durch die elektrische Installation«, in: Elektrotechnische Zeitschrift 32 (1908), S. 801-803, 818-819, hier S. 803. 46 | Vgl. Colomina, Beatriz: Privacy and Publicity: Modern Architecture as Mass Media, Cambridge: MIT Press 1994. 47 |Feldtkeller, Christoph: Der architektonische Raum: eine Fiktion. Annäherungen an eine funktionale Betrachtung, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1989, S. 83-84.
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Abb. 3, Verkabelung eines Hauses, aus einer Werbe-Broschüre.
Quelle: The Home of a Hundred Comforts, Bridgeport: General Electric Company, Merchandise Division 1925, o.P.
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verbinden«.48 Dirk Baecker und Bernhard Siegert haben, aufbauend auf ähnlichen Überlegungen, die Unterscheidung von Innen und Außen als Leitdifferenz der Architektur beschrieben, deren Einheit nicht zu beobachten ist, da man sich nur entweder außen oder innen befinden kann.49 Schwellen haben, da beide Seiten notwendig zusammengehören und nicht voneinander losgelöst werden können, einen oszillierenden Status. Architektur teilt – so könnte eine basale Definition lauten – den Raum durch Wände auf, um dann punktuelle, funktionale Verbindungen herzustellen, die von den Wänden abhängig sind. Baecker zufolge zeugen Details wie Ornamente, Türklinken oder Fensterbänke vom Umgang mit der Einheit der Differenz von Innen und Außen, da sie die Grenze ausstellen und die Schwelle gestalten. Hier artikuliert die Architektur ihre Leitdifferenz. Fenster und Türen, die »quer« zur Unterscheidung der Wand und durch sie hindurch einen Austausch erlauben, präsentieren in diesem Sinne die Durchlässigkeit der Wand. Architekturhistorisch gelten sie in der Tradition Albertis als die relevanten Durchbrüche von Wänden,50 während andere Formen des Durchbruchs – Kabel, Wasserleitungen, Gasrohre und Antennen – in ihrer Gestaltung bis heute häufig Fachingenieuren überlassen bleiben.51 Leon Battista Albertis klassische Definition der Öffnung umfasst »alles, wodurch und wo immer bei einem Gebäude den Inwohnern und Sachen Ein- und Austritt gewährt wird«.52 Auf die Elektrizität trifft dies nicht zu, denn sie ist kein Objekt, das von außen nach innen transpor48 | G. Simmel: »Brücke und Tür«, S. 3. 49 | Vgl. Siegert, Bernhard: »Türen. Zur Materialität des Symbolischen«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (2010), H. 1, S. 151-170, hier S. 153, sowie Baecker, Dirk: »Die Dekonstruktion der Schachtel. Innen und Außen in der Architektur«, in: Niklas Luhmann/Frederick D. Bunsen/Dirk Baecker (Hg.), Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld: Haux 1990, S. 67-104. 50 | Vgl. zur Öffnung allgemein Oechslin, Werner: »Leon Battista Albertis apertio. Die Öffnung schlechthin«, in: Daidalos 13 (1984), S. 29-39. 51 | Auch bei Feldtkeller werden sie nur im Modus des »eventuell« bedacht, vgl. Ch. Feldtkeller: Der architektonische Raum, S. 84. 52 | Alberti, Leon Battista: Zehn Bücher über die Baukunst, übers. v. Max Theuer, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975 [Nachdruck Wien/Leipzig: Heller & Co 1912], S. 22.
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tiert wird. Sie ist nicht mobil, sondern mobilisiert. Sie tritt nicht ein und aus, sondern verändert Zustände und benötigt hierfür eine Infrastruktur. Wo Wände sind, muss die Elektrizität hindurch, weil ihre Wege nicht mit denen der Verteilung von Menschen oder Dingen übereinstimmen. Die Verbindungen durch Elektrizität überlagern in Form von Türklingeln und Türöffnern, Lichtschaltern und Kaffeekochknöpfen, Steckdosen und Lampengewinden die architektonische Ordnung. Nur an einigen wenigen Stellen wird die Oberfläche der Wand durch Ein- und Ausgänge eines Netzes durchbrochen, das ansonsten unsichtbar in der Wand verborgen liegt. Diese Ein- und Ausgänge stellen Verbindungen zwischen baulich unverbundenen Räumen her und reorganisieren durch Energie- und Informationsströme die Austauschmöglichkeiten zwischen Räumen, also auch die Verhältnisse von privat und öffentlich, offen und geschlossen, innen und außen. »Der despotische Schrecken der Klingel, der über der Wohnung waltet, hat seine Kraft […] aus dem Zauber der Schwelle.«53 Mit diesen Worten umreißt Walter Benjamin den akustisch-elektrisch schwellenlosen oder vielmehr auf einer neuen Schwelle beruhenden Eintritt des Außen in das Innen beziehungsweise des einen Raums in den anderen. Die Klingel ist für Benjamin ein Signal: »Gellend schickt etwas sich an, die Schwelle zu überschreiten.«54 Sie unterbricht, wie in potenzierter Form das Telefon, den Ablauf des Alltags und damit die Souveränität des oikos. Die Privatheit im abgeschlossenen Innen wird von den Anrufungen des Außen durchdrungen. Dem Läuten, das, so Benjamin, eine »weltgeschichtliche Epoche« beim Mittagsschlaf stört,55 kann sich niemand entziehen, keine Wand, keine Tür hält es auf. In der Epoche der Domestizierung der Elektrizität verändert sich mit den Schwellen und der Raum und Zeit modulierenden Übertragung der Elektrizität auch der Status des Hauses als das »Andere« der Welt – als der Ort, an dem die Welt in ihr Gegenteil verkehrt wird, weil Innen und Außen hier neu gefasst und ineinander verschränkt werden. 53 | Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. 5.1: Das Passagen-Werk, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 141. Vgl. auch Teyssot, Georges: »A Topology of Thresholds«, in: Home Cultures 2 (2005), S. 89-116. 54 | W. Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 141. 55 | Benjamin, Walter: »Das Telephon«, in: Ders., Gesammelte Schriften. Bd. 4.1: Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen, hg. v. Tillman Rexroth, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 242-243, hier S. 243.
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Vor diesem Hintergrund können die gegenwärtigen Veränderungen von Architektur, medialen Infrastrukturen und Wohnräumen in smarten Umgebungen und intelligenten Netzen als Eskalationsstufe der um 1900 beginnenden Elektrifizierung gelesen werden. Benjamin bezeichnet die Gestalten des Zwischen als »Urphänomen«56 des 19. Jahrhunderts. Ihr aktuelles Nachleben lässt sich in smart homes, ubiquitous computing und ambient technologies beobachten, deren Räume weniger durch Mauern und Wände als durch die Enden von Kabeln, die Reichweite von Wellen und die Distribution von Strömen definiert sind.57
L ITER ATUR Alberti, Leon Battista: Zehn Bücher über die Baukunst, übers. v. Max Theuer, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975 [Nachdruck Wien/Leipzig: Heller & Co 1912]. Allsop, Frederick Charles: Practical Electric Bell Fitting: A Treatise on the Fitting-Up and Maintenance of Electric Bells and All the Necessary Apparatus, London: Spon 1890. Anonym: »Anwendung der electrischen Telegraphie zu häuslichen Zwecken«, in: Zeitschrift für praktische Baukunst 22 (1862), S. 319-328. — »Die elektrisch geläuteten Glocken der Georgenkirche in Berlin«, in: Dingler’s Polytechnisches Journal 307 (1898), S. 288. — »Improved Magneto-Electric Burglar Alarm«, in: Scientific American 3 (1860), S. 305. — »The Electric Fire Alarm«, in: Railway Times 12 (1860), S. 312. Badt, Francis B.: Bell Hangers’ Handbook, Chicago: Electrician Publishing Company 1901. Baecker, Dirk: »Die Dekonstruktion der Schachtel. Innen und Außen in der Architektur«, in: Niklas Luhmann/Frederick D. Bunsen/Dirk Baecker (Hg.), Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld: Haux 1990, S. 67-104.
56 | W. Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 574. 57 | Ich danke Moritz Gleich, Daniel Gethmann und den Herausgeberinnen dieses Buches für ihre Kommentare und Hinweise.
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Beniger, James R.: The Control Revolution: Technological and Economic Origins of the Information Society, Cambridge: Harvard University Press 1986. Benjamin, Walter: »Das Telephon«, in: Ders., Gesammelte Schriften. Bd. 4.1: Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen, hg. v. Tillman Rexroth, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 242-243. — Gesammelte Schriften. Bd. 5.1: Das Passagen-Werk, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982. Bernard, Andreas: Die Geschichte des Fahrstuhls. Über einen beweglichen Ort der Moderne, Frankfurt a.M.: Fischer 2006. Billings, Richard M.: Burglar- and Housealarms, US-Patent (1874), Nr. 146, 641. Blumenberg, Hans: »Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie«, in: Ders., Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart: Reclam 1981, S. 7-54. Bottone, Selimo Romeo: Electric Bells and All about Them: A Practical Book for Practical Men, London: Whittaker 1889. Canter, Oskar: Die Haus- und Hoteltelegraphie, Wien: Hartleben 1883 (= Elektro-technische Bibliothek. Eine Darstellung des ganzen Gebietes der angewendeten Elektricität nach dem Standpunkte der Gegenwart 14). — »Ein Läutesystem für Haustelegraphen mit Rücksignal«, in: Dingler’s Polytechnisches Journal 226 (1877), S. 508-509. Channing, William F.: »On the Municipal Electric Telegraph; Especially in Its Application to Fire Alarms«, in: The American Journal of Science and Arts 13 (1852), S. 58-83. Colomina, Beatriz: Privacy and Publicity: Modern Architecture as Mass Media, Cambridge: MIT Press 1994. Dettmar, Georg: Elektrizität im Hause; in ihrer Anwendung und Wirtschaftlichkeit dargestellt, Berlin: Springer 1911. Doppelmayr, Johann Gabriel: Neu-entdeckte Phaenomena von Bewundernswürdigen Würckungen der Natur, welche bey der fast allen Cörpern zukommenden electrischen Krafft, und dem dabey in der Finstern mehrentheils erscheinenden Liecht […] Herr Hauksbee und Herr Gray […] durch viele Experimenta, zu unsern Zeiten glücklich hervorgebracht […], Nürnberg: Fleischmann 1744. Du Moncel, Théodore: Exposé des applications de l’électricité. Bd. 3: Applications mécaniques, physiques et physiologiques, Paris: Hachette 1857.
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Anthropologie
Raumordnung und Körperordnung Zum historischen Verhältnis von Architektur und Anthropologie Kirsten Wagner
Die Architektur sagt es ihrer Etymologie nach selbst: Sie ist ihrem Begriff nach anthropologisch, vom Menschen her bestimmt. Aus dem griechischen archē und tektainomai zusammengesetzt, bezeichnet sie ein elementares Gestalten mit der Axt in Holz oder Stein.1 Das Verb tektainomai ist vom tektōn als demjenigen abgeleitet, der sowohl Häuser als auch Schiffe baut. Tektōn als Substantiv geht ebenso wie das Adjektiv technē auf die indoeuropäische Wurzel tek- und eine daraus gebildete, historisch nicht mehr greif bare Verbform zurück.2 Aufgrund dieser gemeinsamen Wurzel ist davon auszugehen, dass sich technē als ein Wissen und praktisches Können, das nach bestimmten Regeln ausgeführt wird, zunächst 1 | Umgekehrt zeigt das griechische Wort demas für Körper, das auf die Wurzel dem- und das Verb demo zurückgeführt werden kann – demo im Sinne von etwas von Grund auf in Schichten zu einem wohl gefügten Ganzen bauen –, eine frühe Konzeption des menschlichen Körpers in Begriffen des Gebauten bzw. des aus Teilen gut Zusammengefügten. Zur Etymologie von Architektur sowie zu den Bedeutungsfeldern von demo und tektainomai vgl. Karvouni, Maria: »Demas: The Human Body as a Tectonic Construct«, in: Alberto Pérez-Gómez/Stephen Parcell (Hg.), Chora 3. Intervals in the Philosophy of Architecture, Montreal: McGill-Queen’s University Press 1999, S. 101-124. 2 | Vgl. Löbl, Rudolf: TEXNH – TECHNE. Untersuchung zur Bedeutung dieses Wortes in der Zeit von Homer bis Aristoteles. Bd. 1: Von Homer bis zu den Sophisten, Würzburg: Königshausen & Neumann 1997, S. 6-8.
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nur auf die Fertigkeiten der tektōnes bezog. Erst später fand es auch auf andere Fertigkeiten Anwendung und verlor darüber die unmittelbare, lediglich im Wortstamm sichtbar gebliebene Anbindung an die in Holz und Stein arbeitenden Gewerke. Der mythischen Überlieferung der griechisch-römischen Antike nach ist die Architektur wie die anderen technai von den Göttern auf die Menschen gekommen. Sie gehört Hephaistos an, dem Gott der Schmiedekunst im Besonderen und des Handwerks im Allgemeinen.3 Aus anthropomorpher Perspektive ließe sich hingegen sagen, dass sich in den menschengestaltigen Göttern die technai als Fertigkeiten des Menschen objektivieren,4 Hephaistos also eine Verkörperung der zum Metallhandwerk und anderen Gewerken gehörenden Fertigkeiten ist. Welche Sichtweise auch eingenommen wird, die Architektur benennt eine technē, die von Menschen ausgeübt wird. Alle anderen Architekturen, etwa von Tierbauten oder von Maschinen, Rechnern und Gehirnen, wären Übertragungen, die entweder darauf basieren, dass nicht nur Menschen etwas trennen und zusammenfügen können – so die engere Wortbedeutung von tektainomai –, oder darauf, dass ein Gegenstand in seinem Getrennten und Zusammengefügten der Architektur verglichen wird. Wenn Rudolf Löbl für den Begriff der technē feststellt, dass er ein anthropologischer Begriff ist, »mit dem Aussagen über den Menschen« getroffen werden,5 dann gilt das entsprechend für die Architektur. Sie zeigt den Menschen als einen homo faber, der die Welt einrichtet, indem er aus Holz, Stein oder anderem Material Bauten schafft, die in ihrer materiellen und symbolischen Ordnung zugleich kulturstiftend sind. Gleichwohl geht Architektur nicht in dieser aktiven Setzung auf. Es gehört zu ihren pathischen Qualitäten, ihrerseits Körper anzuordnen, Bewegung und Wahrnehmung vorzugeben. Von einer Anthropologie der Architektur oder einer Architekturanthropologie zu sprechen, erscheint demnach als Widerspruch in sich. Vor diesem paradoxen Hintergrund setzt sich der Beitrag mit den gegenwärtigen und den historischen Versuchen auseinander, Architektur und Anthropologie aufeinander zu beziehen. Kennzeichnend für die 3 | Auch Athene und Prometheus sind Überbringer der technai. 4 | Vgl. Heinrich, Klaus: Anthropomorphe. Zum Problem des Anthropomorphismus in der Religionsphilosophie, Basel/Frankfurt a.M.: Stroemfeld 1986. 5 | R. Löbl: TEXNH – TECHNE, S. 2.
Raumordnung und Körperordnung
jüngere Diskussion der Architekturanthropologie ist, dass sie vollkommen heterogene, sowohl kulturalistische wie auch biologistische Ansätze in sich vereint. Zudem werden die historischen Anschlüsse der Architektur an die Anthropologie als Disziplin weitgehend ausgeklammert beziehungsweise auf eine Randnotiz in der Geschichte der Architekturanthropologie verkürzt. Im Folgenden sollen beide Diskursformationen zur Darstellung kommen. In einem ersten Teil geht es um die aktuellen Verbindungen von Architektur und Anthropologie, die so vielgestaltig sind, dass man anstatt von einer eher von mehreren Architekturanthropologien sprechen müsste. Im zweiten Teil wird nach den historischen Verschaltungen zwischen den Humanwissenschaften des 19. Jahrhunderts und der Architektur gefragt.
A RCHITEK TUR -A NTHROPOLOGIEN : Z UM S TAND DER D ISKUSSION Legt es die Etymologie auch anders nahe, die Verbindung zwischen Architektur und Anthropologie scheint keineswegs selbstverständlich zu sein. Dem schweizerischen Architekten und Architekturanthropologen Nold Egenter zufolge wird sie sogar erst in den späten 1980er Jahren hergestellt. So schreibt er 1991 in einer seiner Publikationen zum Thema: Architekturanthropologie ist ein recht junger Begriff. Zwar blickt die Suche nach neuen theoretischen Grundlagen der Architektur unter allen möglichen Vorzeichen auf gut zwei Jahrzehnte zurück. Dass sich jedoch der Begriff Architektur gezielt, umfassend und in wissenschaftlicher Form mit dem Begriff Anthropologie verbindet, dürfte hier erstmalig sein.6
Der Anschluss der Architektur an die Anthropologie geht bei Egenter mit einer Kritik an der »euro-mediterrane[n] Baukunstgeschichte« einher,7 die die Geschichte und Theorie der Architektur auf eine von Vitruv 6 | Egenter, Nold: »Einführung: Das Mosaik der endlosen Mikrotheorien und die Funktion von Makrotheorien. Theoretische Anmerkungen zur Geschichte der Anthropologie und zur Architekturtheorie«, in: Ders., Die Aktualität des Primitiven in der Architektur, Lausanne: Structura Mundi 1992, S. 19-88, hier S. 22. 7 | Ebd., S. 74.
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abgeleitete ästhetische Tradition verkürzt hat und zudem nur das einbezieht, was auf die Autorenschaft ausgebildeter Architekten zurückgeht. Damit sind von der klassischen Architekturhistoriographie traditionelle und lokale Bau- und Wohnformen weitgehend ausgeschlossen worden, nach Schätzungen Paul Olivers immerhin 95 Prozent dessen, was auf der Welt an Behausungen existiert.8 Für Egenter sind es dabei gerade die jenseits des antiken Tempels liegenden Uranfänge des Bauens, an denen das Wesen sowohl des Menschen als auch der Architektur evident werden soll. Egenter ermittelt diese im Anschluss an die Studie The Great Apes von Ada und Robert Yerkes aus dem Jahr 19299 in den Nestbauten von Groß- oder Menschenaffen und reiht sich damit in die lange Rekonstruktionsgeschichte einer archetypischen Behausung ein, die sich nicht erst im 20. Jahrhundert von Tierbauten hat inspirieren lassen.10 Als Voraussetzung der Hominisation erweist sich Egenter zufolge der durch veränderte Umweltbedingungen verursachte Übergang von Nestbauten in Bäumen zu solchen auf der Erde.11 Dieser im späten Pliozän angesiedelte Prozess ist von zweifacher Bedeutung: Erstens sollen für die terrestrischen Nester zur Bearbeitung von Pflanzenfasern, dem ersten Baustoff, Steinwerkzeuge verwendet worden sein; Werkzeuggebrauch aber gilt als Kennzeichen der Hominisation. Zweitens erfordert die Konstruktion der terrestrischen Nester nach Egenter eine aufrechte Körperhaltung, auch sie gilt als ein Merkmal des Menschen. Egenter wandelt hier eine in der Humanpaläontologie vertretene Evolutionstheorie ab,12 nach der sich die Entwicklung des Menschen über den aufrechten Gang und eine damit einhergehende Entwicklung von Werkzeug- und Sprachgebrauch vollzieht, wobei von einer 8 | Vgl. Oliver, Paul: Dwellings: The House across the World, Oxford: Phaidon 1987, S. 8. 9 | Yerkes, Robert Mearns/Yerkes, Ada Watterson: The Great Apes: A Study of Anthropoid Life, New Haven/London: Yale University Press/Oxford University Press 1929. 10 | Vgl. Rykwert, Joseph: On Adam’s House in Paradise: The Idea of the Primitive Hut in Architectural History, Cambridge/London: MIT Press 1981 [1972], S. 18-21. 11 | Vgl. Egenter, Nold: »The Deep Structure of Architecture: Constructivity and Human Evolution«, in: Mari-Jose Amerlinck (Hg.), Architectural Anthropology, Westport: Bergin & Garvey 2001, S. 43-81. 12 | Vgl. Leroi-Gourhan, André: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988 [Frz. 1964/1965].
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Koevolution des Menschen und seiner Werkzeuge auszugehen ist. Architektur, verstanden als ein von Gibbons, Großaffen und Menschen Gebautes,13 wäre nicht nur eine Bedingung des Menschwerdens und -seins – unter den in der Humanpaläontologie aufgestellten Menschheitskriterien, »[a]ufrechter Gang, kurzes Gesicht, Hände, die bei der Fortbewegung frei bleiben, […] der Besitz beweglicher Werkzeuge«14 und der damit korrelierenden Erweiterung des Gehirns, käme ihr sogar eine gewisse Priorität zu. Weiter lässt sich eine anthropologische Definition der Architektur kaum treiben: »[…] architectural anthropology proposes a hidden architectural revolution as the prime mover for the development of the hominid brain. The process was triggered by the early use of stone tools.«15 Stellt der Übergang in den Nestbauformen den Beginn des Menschen wie der Architektur dar, ist die weitere Entwicklung zunächst durch Markierungen und Aneignungen von Plätzen sowie architektonisch überformte Kulte gekennzeichnet. Der Hausbau stellt eine vergleichsweise späte Stufe dar. Sowohl hinsichtlich der Identifizierung der ersten Baustoffe, pflanzlicher Faserstoffe, die verwebt wurden und also einer textilen Verarbeitung unterlagen, als auch hinsichtlich der Überlegung, dass die Wände gegenüber dem Dach das Primäre des Bauens sind, schließt Egenter implizit an die Architekturtheorie Gottfried Sempers aus der Mitte des 19. Jahrhunderts an.16 13 | »Architectural anthropology […] defines architecture as all that hominoids and hominids built and build.« (N. Egenter: »The Deep Structure of Architecture«, S. 43.) Demgegenüber treffen Yerkes und Yerkes eine konkrete Unterscheidung zwischen dem, was Halbaffen, Menschenaffen und Menschen bauen: Während Halbaffen keine Nester bauen, sondern lediglich einige Arten von Schutzvorrichtungen für die weiblichen und die Jungtiere errichten, sind für Menschenaffen neben solchen Vorrichtungen Nester zum Schlafen und Ruhen bekannt. Sie sind jedoch temporär und keineswegs zum Schutz vor Witterung und Feuchtigkeit geeignet. Zu ebendiesem Schutz und auf Dauer angelegt sind hingegen die komplexeren Behausungen des Menschen. In diesen Bauweisen spiegelt sich zugleich eine Entwicklung des Adaptionsverhaltens an die natürliche Umgebung von der Selbstanpassung bis hin zur Manipulation und Transformation der Umgebung. Vgl. R. M. Yerkes/A. W. Yerkes: The Great Apes, S. 564. 14 | A. Leroi-Gourhan: Hand und Wort, S. 36. 15 | N. Egenter: »The Deep Structure of Architecture«, S. 54. 16 | Egenter würdigt Semper auch hinsichtlich der Einbeziehung außereuropäischer Architekturen und Kulturen, vgl. N. Egenter: »Introduction«.
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Abb. 1, Die Entwicklung des Menschen, der Siedlungsweise und der Architektur. Zweifüßige Fortbewegung und aufrechter Körper in Beziehung zur Entwicklung der Architektur.
Quelle: N. Egenter: »The Deep Structure of Architecture«, S. 51.
Die einzelnen Stufen der Koevolution von Mensch und Architektur werden über eine Graphik (Abb. 1) veranschaulicht. Mit dem Auftauchen des modernen Menschen, des homo sapiens sapiens, der sich aufrecht gehend vor urbanen Siedlungsstrukturen bewegt, verbindet Egenter offensichtlich einen Bruch in der Entwicklung. Wie der Illustration zu entnehmen ist, werden anthropologische Konzepte des Raumes im Zeitalter des modernen Menschen nicht einfach durch das Konzept eines homogenen Raumes (homogeneous space) abgelöst, sie werden zerstört (destruction of anthropological concepts of space). Lediglich an vormodernen beziehungsweise traditionellen Bau- und Wohnformen lässt sich demzufolge noch der ursprüngliche Zusammenhang von Mensch und Architektur auffinden. Egenter richtet sich nicht nur gegen die klassische Architekturtheorie, sondern auch gegen das Konzept eines homogenen Raumes, der in keiner Beziehung zum Menschen steht und insbesondere durch die moderne Architektur und ihren universalistischen Funktionalismus verkörpert wird. Bedeutet doch die willkürliche Aufteilung des Raumes nach den Funktionen von Arbeit, Wohnen, Verkehr und Freizeit, wie sie für die Moderne kennzeichnend ist, eine Negierung pluraler historischer und semantischer Räume.
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Auch in anderen architekturanthropologischen Ansätzen kommt diese Kritik an der Moderne deutlich zum Ausdruck, sodass die jüngere Architekturanthropologie insgesamt als postmoderne Reaktion auf die Moderne verstanden werden kann. Und für die meisten dieser Ansätze erweist sich der Raum als eine zentrale Kategorie. Trotzdem lässt sich kaum von einem einheitlichen Bild der Architekturanthropologie sprechen. Zu heterogen sind die wissenschaftlichen Traditionen und Gegenstände, die sich seit drei Jahrzehnten unter der Bezeichnung Architekturanthropologie versammelt haben.17 Während bei Egenter ein biologistischer und evolutionstheoretischer Ansatz auszumachen ist, der in der Tradition der Humanwissenschaften des 19. Jahrhunderts steht, sich dabei jedoch von deren rassenideologischen Grundlagen distanziert,18 herrscht in anderen Ansätzen ein am Kulturellen orientierter Zugriff vor. Architektur erscheint dort weniger als quasi natürliche conditio humana, sondern als sozial hergestellte Ordnung des Raumes. Unter dem Einfluss von Soziologie und Ethnologie, insbesondere geprägt durch die Arbeit von Marcel Mauss und Émile Durkheim über räumlich basierte protoklassifikatorische Ordnungssysteme19 sowie die Epoche machenden Studien von Claude Lévi-Strauss und Pierre Bourdieu zu den Bororo und den Kabylen, stehen hierbei die strukturalen Ordnungen des Raumes im Vordergrund, nach denen sich die Wohn- und Siedlungsformen sozialer Gruppen organisieren.20 17 | Vgl. die Beiträge in M.-J. Amerlinck (Hg.): Architectural Anthropology. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die wesentlich von Amos Rapoport ausgehenden Environment-Behavior Studies. Rapoport selbst grenzt diese von der (Architektur)Anthropologie ab, vgl. Rapoport, Amos: »Architectural Anthropology or Environment-Behavior Studies?«, in: M.-J. Amerlinck (Hg.), Architectural Anthropology, S. 27-41, sowie Ders.: House Form and Culture, Englewood Cliffs: Prentice-Hall 1969. 18 | Vgl. N. Egenter: »Introduction«. 19 | Durkheim, Émile/Mauss, Marcel: »De quelques formes primitives de classification. Contribution à l’étude des représentations collectives«, in: Année sociologique 6 (1903), S. 1-72. 20 | Lévi-Strauss’ und Bourdieus Arbeiten stehen ihrerseits in einer Reihe vergleichbarer, bis auf das späte 19. Jahrhundert zurückgehender Studien. Vgl. hierzu im Überblick Waterson, Roxana: »Visual Anthropology and the Built Environment: Interpenetrations of the Visible and the Invisible«, in: Marcus Banks/Jay Ruby (Hg.),
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Lage, Ausrichtung, Grundriss und Ausstattung der einzelnen Häuser innerhalb dörflicher Gemeinschaften, wie sie als Teil der sogenannten einheimischen Architektur21 inzwischen weltweit untersucht werden, erweisen sich vielerorts abgeleitet von kosmologischen Systemen, die auf bipolaren Strukturen beruhen.22 Den unterschiedlichen Traditionen gemäß wird Architektur auf der einen Seite naturalisiert und ontologisiert, indem nach dem im Wesen des Menschen liegenden Wesen des Bauens – und umgekehrt – gefragt wird. Auf der anderen Seite wird Architektur als Teil einer symbolischen Ordnung rezipiert, die sich in der materialen Kultur, unter anderem auch im gebauten Raum, verkörpert. Dabei ist lange Zeit die jeweils komplementäre Perspektive vernachlässigt worden, nämlich zum einen die Frage, inwieweit Architektur nicht nur einen bestimmten Körper voraussetzt,23 sondern ihn in seinen Bewegungen, Haltungen und Affekten hervorbringt, und zum anderen die Frage, inwieweit architektonische Räume nicht nur Ausdruck einer symbolischen oder sozialen Ordnung sind, sondern sie ebenfalls wesentlich mit bedingen. Diese Fragen beschreiben den Versuch, die Architektur von ihrer Materialität und, wenn man so möchte, von ihrer eigenen Agency und Performanz her zu denken. Das Verhältnis der beiden in der Architekturanthropologie zusammenkommenden Disziplinen bleibt indessen prekär. Zwar ist eindeutig, dass die Architektur für die Anthropologie einen bedeutsamen Gegenstand materialer Kultur darstellt, bedeutsam deshalb, weil über die in der Architektur verkörperten und auf Dauer gestellten Praktiken und symbolischen Ordnungen Rückschlüsse auf soziale Gruppen Made to Be Seen: Perspectives on the History of Visual Anthropology, Chicago/ London: University of Chicago Press 2011, S. 74-107, hier S. 79-81. 21 | Zum Begriff der einheimischen Architektur (vernacular architecture) vgl. P. Oliver: Dwellings, S. 9. 22 | Vgl. hierzu exemplarisch die Untersuchungen von Christian Coiffier und Antonio Guerreiro über dörfliche Siedlungsstrukturen in Papua-Neuguinea und Indonesien in Robin, Christelle (Hg.): Architectures et cultures, Marseille: Ed. Paren thèses 1992. 23 | Einen Körper, der vielfach noch essenziell gedacht wird. Zu den Körperbildern in der Architektur vgl. Wagner, Kirsten/Cepl, Jasper (Hg.): Images of the Body in Architecture: Anthropology and Built Space, Tübingen: Wasmuth 2014.
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möglich erscheinen. Auch der Nutzen der Anthropologie für die Architektur scheint zweifelsfrei: zu wissen, was der Mensch an sich und in Beziehung zur Architektur ist, erweist sich als Voraussetzung für ein humaneres Bauen, das aus dem Unbehagen an der Moderne heraus eingefordert wird. Die Frage aber, wie sich im Einzelnen die Zusammenarbeit zwischen Architektur und Anthropologie darstellen soll, wirft offensichtlich Schwierigkeiten auf. Wie die Sozialanthropologin Roxana Waterson erst kürzlich festgestellt hat, kommt die jeweils andere Disziplin in der Architektur- und Anthropologieausbildung noch immer kaum vor.24 Das Ideal gemeinsamer Feldforschung, so sie denn überhaupt stattfindet, kranke zugleich daran, dass sich Architekten nicht damit zufrieden geben, ihre Qualifikationen vornehmlich in den Dienst der visuellen Dokumentation zu stellen, das heißt Aufmaße, Risse und Schnitte anzufertigen, und die gesamte Interpretation den Anthropologen zu überlassen. »Most architects are too ambitious for that«, auch würden sie die einheimischen Architekturen nach eigenen disziplinären Kriterien bemessen.25 Einrichtungen wie das 1981 an der École d’Architecture de Paris-La Villette gegründete Laboratoire Architecture Anthropologie, an dem schon früh interdisziplinäre Forschungen zu einheimischen Architekturen durchgeführt worden sind, stellen in dieser Hinsicht Ausnahmen dar. Hervorgegangen aus der Einführung der Sozial- und Humanwissenschaften in die Architekturausbildung in den späten 1960er Jahren, 26 hat sich die französische Architekturanthropologie aus einer Auseinandersetzung mit dem Raum entwickelt. Bereits in einem der ersten Tagungsbände zu anthropologischen Lesarten der Architektur aus dem Jahr 1987 stellen die Feldforschungen zu außereuropäischen Wohnund Siedlungsformen Raumkonzepte in den Vordergrund, werden Orientierung und Richtung als zentrale Begriffe der sozialen Organisation eingeführt oder aber auf wissenschaftsgeschichtlichem Hintergrund
24 | Vgl. R. Waterson: »Visual Anthropology and the Built Environment«. Vgl. auch P. Oliver: Dwellings. 25 | R. Waterson: »Visual Anthropology and the Built Environment«, S. 83. 26 | Vgl. zu diesen historischen Entwicklungen im Überblick die Beiträge von Inès Gaulis, Marion Segaud und Christelle Robin in Bonnin, Philippe (Hg.): Architecture, espace pensé, espace vécu, Paris: Ed. Recherches 2007.
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Raumbegriffe verhandelt.27 Verbindend erweist sich die Kritik an dem, was Egenter in seinem späteren Entwurf einer Architekturanthropologie den homogenen Raum genannt hat. Wie sehr dieses Raumkonzept die Architektur bis in die 1960er Jahre bestimmt hat, verdeutlicht rückblickend auch Christelle Robin: Si, depuis Babel, la multiplicité des langues et leur clôture sont reconnues, l’espace, lui, malgré Panofsky, semblait universel. En architecture, l’espace lui-même, l’espace en général, semblait plus une donnée objective, un contenant invariant, que l’ensemble des concepts pratiques, construits sur la longue durée à l’intérieur de mondes culturels distincts, qu’il faut se donner la peine de comprendre tels qu’ils ont été élaborés par ces mêmes mondes. 28
Die Provokation anthropologischer und ethnologischer Fragestellungen bestand für die Architektur darin, zwei andere Ebenen des Raumes und seiner Organisation aufzuzeigen, »celui qui relève des capacités spatialisantes générales du genre humain et celui qui relève des structurations spatiales particulières«.29 In Analogie zur Sprache ist dies für Robin zum einen ein von allen Menschen als Gattungswesen (genre humain) geteiltes Verräumlichungsvermögen. Es entspricht auf Seiten der Sprache der Kompetenz. Zum anderen sind es die verschiedenen konkreten Artikulationen des Raumes, vergleichbar der Vielzahl gesprochener Sprachen auf Seiten der Performanz. Vor allem durch die bereits genannten Arbeiten von Lévi-Strauss, Durkheim und Mauss, sicher auch von Michel Foucault, sah man sich mit Räumen konfrontiert, die jenem Behälterraum in der Architektur deutlich zuwiderliefen; mit Räumen, die nicht auf ein willkürliches funktionales Programm, sondern auf andere kulturelle Faktoren zurückzuführen waren. Über diese Einflüsse wurden architektonische Räume 27 | Der in der Reihe Penser l’espace erschienene Band Espaces des autres. Lectures anthropologiques d’architectures, Paris: Ed. de la Villette 1987, geht auf eine 1983 im Pariser Musée de l’Homme unter dem Titel Espace, habitat, société. Rencontre entre architectes et ethnologues veranstaltete Tagung der École d’Architecture de Paris-La Villette zurück. 28 | Robin, Christelle: »De l’anthropologie de l’espace aux cultures spatiales«, in: P. Bonnin (Hg.), Architecture, espace pensé, espace vécu, S. 55-71, hier S. 63. 29 | Ebd.
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jenseits der in der Architekturgeschichte etablierten stilgeschichtlichen und ästhetischen Deutungen hinsichtlich ihrer »Orientierung, Hierarchie, sozialen Aufteilung, funktionalen Trennung und Verlagerung« beschreibbar.30 Hier liegen die Anfänge des Zweiges der Architekturanthropologie, der sich mit der Architektur als einer Raumordnung beschäftigt, die aus kulturellen Praktiken hervorgeht und diese gleichermaßen prägt. Derzeit scheint er in einem größeren Forschungsfeld zu einer »Sozialanthropologie des Raumes« aufzugehen, das über die Architekturanthropologie hinaus an die Sozialraumkonzepte aus der französischen Stadtsoziologie anknüpft.31 Egenters Annahme, dass die Verbindung von Architektur und Anthropologie Anfang der 1990er Jahre etwas vollkommen Neuartiges ist, muss entsprechend revidiert werden. Mit dem französischen Zweig der Architekturanthropologie ist sie um rund zehn Jahre vorzuverlegen. Hinzu kommen die Epoche machende Ausstellung von Bernard Rudofsky Architecture without Architects aus dem Jahr 1964 und die Arbeiten Paul Olivers seit den späten 1960er Jahren, mit denen die einheimische Architektur breitere Aufmerksamkeit fand.32 Die Anschlüsse zwischen Architektur und Anthropologie reichen jedoch noch weiter zurück, bis tief in das 19. Jahrhundert hinein, in dem die Wissenschaft vom Menschen zu einer eigenständigen Disziplin wird und sich mit der Gründung der ersten anthropologischen Gesellschaften und Schulen institutionalisiert. Wohl bezieht sich auch Egenter auf die Anthropologie als historische Wissenschaft, hinterfragt jedoch nicht, welche Schnittstellen es zwischen der Architektur und der Anthropologie in der Geschichte bereits gegeben hat. Diese Schnittstellen nehmen in zwei jüngeren Pub30 | So die von Pierre Clément im Zusammenhang mit einer konkreten Feldforschung zu Bau- und Wohnformen in Laos abgeleiteten Kategorien, die Modelle des Wohnens oder – weiter gefasst – Regeln der Raumorganisation zu erklären erlauben. Vgl. Clément, Pierre: »De l’architecture aux sciences sociales«, in: P. Bonnin (Hg.), Architecture, espace pensé, espace vécu, S. 83-96, hier S. 89. 31 | Vgl. hierzu Philippe Bonnins Anschlüsse an Paul-Henry Chombart de Lauwe: Bonnin, Philippe: »L’émergence d’une anthropologie sociale de l’espace et de l’architecture«, in: Ders. (Hg.), Architecture, espace pensé, espace vécu, S. 13-27. 32 | Vgl. Rudofsky, Bernard: Architecture without Architects. An Introduction to Non-Pedigreed Architecture, New York: Museum of Modern Art 1964, Oliver, Paul (Hg.): Shelter and Society, New York: Praeger 1969, sowie Ders.: Dwellings.
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likationen zur Architekturanthropologie deutlich mehr Raum ein. Allerdings ist dabei das Wissen der physischen oder anatomischen Anthropologie, das im 19. Jahrhundert wesentlich vom ideologischen Begriff der Rasse geprägt ist, weder an sich noch in seinem Einfluss auf die Theoriebildung der Architektur problematisiert worden.33 Die Verbindungen ließen sich im Übrigen noch weiter zurückverfolgen. Bereits Vitruv dokumentiert, dass die Bau- und Wohnformen anderer Kulturen das Nachdenken über Architektur ebenso von Beginn an begleitet haben wie die Frage nach der »Urhütte« und nach ihren Bewohnern.34 Im zweiten Buch seiner Architekturtheorie strengt er Überlegungen über den Ursprung der Gebäude an. Dabei findet er in anderen Ländern nicht nur andere Bauformen vor, die er auf unterschiedliche Baustoffe und klimatische Bedingungen zurückführt, sondern sieht in ihnen auch einen historischen Stand des Bauens vergegenwärtigt, der auf die Anfänge der Architektur zurückweist.35 Auf der anderen Seite haben frühe Reiseberichte mit den Schilderungen der Sitten und Gebräuche anderer Kulturen immer auch Informationen über deren Bau-, Wohnund Siedlungsformen transportiert. Diese Bezüge blieben jedoch unsystematisch. Erst mit der modernen Naturgeschichte des Menschen wird die Verbindung zwischen Anthropologie und Architektur gleichermaßen methodisch und produktiv. Aus den weltweit vorgefundenen Architekturen liest man die Entwicklungsetappen der Menschheit heraus. »As one enters the debates of the nineteenth century«, führt Victor Buchli aus, »architectural form itself becomes the most significant analytical category with which to consider the questions of origins and ideal forms of human society and human habitation both in the past and the future«.36
33 | Vgl. Buchli, Victor: An Anthropology of Architecture, London/New York: Bloomsbury 2013, und Roesler, Sascha: Weltkonstruktion. Der außereuropäische Hausbau und die moderne Architektur. Ein Wissensinventar, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2013. Da beide Publikationen der Verfasserin erst nach der Ringvorlesung »Windows on Architecture« vorlagen, konnten sie hier nur in begrenztem Umfang berücksichtigt werden. 34 | Vgl. auch V. Buchli: An Anthropology of Architecture. 35 | Vgl. Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, übers. v. Curt Fensterbusch, Darmstadt: Primus 1996, S. 79-87. 36 | V. Buchli: An Anthropology of Architecture, S. 21.
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F RÜHE V ERBINDUNGEN Z WISCHEN A RCHITEK TUR UND A NTHROPOLOGIE Das Wissen vom Menschen Mit den zahlreichen Entdeckungsreisen und archäologischen Ausgrabungen des 18. und 19. Jahrhunderts, aber auch der vergleichenden Anatomie und experimentellen Physiologie vervielfältigen sich die Erkenntnisse über den Menschen auf eine bisher nicht gekannte Weise. Es kommt zu zahlreichen Neubestimmungen des Menschen hinsichtlich dessen, was alle Menschen als »Gattung« miteinander an Merkmalen teilen, sowie der verschiedenen Erscheinungsformen des Menschen, der »Arten« oder »Varietäten« innerhalb der Gattung, wie es in der botanischen und zoologischen Terminologie der Anthropologen heißt.37 Auf dem Hintergrund der Einordnung des Menschen in das Tierreich werden einerseits neue Distinktionen zwischen Mensch und Tier notwendig, um dann doch noch so etwas wie ein regnum humanum sichern zu können, andererseits fordert die entdeckte Vielfalt an Erscheinungsformen des Menschen auf der Erde Distinktionen innerhalb der Gattung heraus. Letztere werden anhand der Kategorie der Rasse vorgenommen, die von der vergleichenden Anatomie vor allem an körperlichen Merkmalen festgemacht wird, von der Schädelform über den Gesichtswinkel bis hin zur Haut-, Augen- und Haarfarbe. Hier liegen auch die Anfänge der physischen Anthropologie des 19. Jahrhunderts, die sich selbst als jenen Zweig der Naturgeschichte begreift, der nach Paul Topinard den »Menschen und die menschlichen Rassen behandelt«.38 Um den Menschen beziehungsweise die Rassen in ihrer Historizität zu untersuchen, bedient sie sich der Vorgeschichte und der Archäologie. Ebenso greift die Anthropologie auf die Ethnographie 37 | Dabei herrscht in der Anthropologie keine Einigkeit über die Verwendung der taxonomischen Konzepte von Art und Varietät. Polygenetische Ansätze sprechen eher von Arten, monogenetische von Varietäten. Zum Begriff der Rasse und seiner rassistischen Auslegung im 19. und 20. Jahrhundert vgl. Barkan, Elazar: »Race and the Social Sciences«, in: Theodore M. Porter/Dorothy Ross (Hg.), The Cambridge History of Science. Bd. 7: The Modern Social Sciences, Cambridge: Cambridge University Press 2003, S. 693-707. 38 | Topinard, Paul: L’anthropologie, Paris: Reinwald 1876, S. 2.
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zurück, neben der Archäologie die zweite Schwesterdisziplin, deren Grenzen zur Anthropologie fließend sind.39 Die zentralen Unterschiede werden von Topinard dahingehend benannt, dass die Ethnographie beschreibenden Charakters ist und sich auf den Menschen nicht als eine naturgeschichtliche Gattung, sondern als ein soziales Wesen bezieht. Die Ethnographie hat es demnach weniger mit Menschenrassen als unveränderlichen anthropologischen Gruppen zu tun, die sich anhand körperlicher Merkmale bestimmen lassen sollen, sondern mit veränderlichen sozialen Gruppen oder Völkern. In die Zuständigkeit der Ethnographie fällt entsprechend die materiale Kultur, angefangen von der Kleidung über Geräte und Waffen bis hin zur Architektur. Die Ordnung der durch die Ausgrabungen und überseeischen Entdeckungen sowohl geographisch als auch historisch vervielfachten Wohn- und Siedlungsformen erfolgt gleichwohl nach anthropologischen Maßstäben: Sie verfährt anatomisch beziehungsweise aus Perspektive der Architektur konstruktiv vergleichend und bedient sich der naturgeschichtlichen Systematik und ihrer Begriffe, insbesondere des Begriffs der Rasse. Die Naturgeschichte des Menschen findet ihre Verlängerung in einer Naturgeschichte der Architektur. Topinard etwa spricht von dem »genre de l’habitation«. Damit skizziert er eine Gattungsgeschichte der Behausungen mit »Bautypen«, die den verschiedenen »type[s] de la race« zuzuordnen sind. Dass die »architecture variait avec le génie propre de chaque race«,40 wird auch von Seiten der Architektur vertreten, wie ein Vortrag von César Denis Daly auf einer Sitzung der Pariser Anthropologischen Gesellschaft dokumentiert. Tatsächlich hat es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Berührungspunkte zwischen der physischen Anthropologie und der Architektur gegeben. So tauchen beispielsweise in den Publikationsorganen der Pariser Anthropologischen Gesellschaft Beiträge über die Wohn- und Siedlungsformen anderer Kulturen auf. Wie in den letzten Jahren in den Postcolonial Studies,
39 | Dies bezieht die Ethnologie mit ein. Während die Ethnographie nach Topinard auf das Einzelne aus ist, untersucht die Ethnologie das Allgemeine, vergleicht gleichsam aus der Vogelperspektive die Entwicklungen, die die verschiedenen Völker im Laufe der Geschichte durchlaufen, und versucht, deren Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, vgl. ebd., S. 441. 40 | Ebd., S. 5.
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der Kunstgeschichte und der Museologie41 herausgearbeitet worden ist, bestanden zudem enge Verbindungen zwischen einzelnen Architekten und Künstlern und den engeren, wesentlich medizinisch-anatomisch ausgerichteten anthropologischen Zirkeln. Die Architekten beziehungsweise Architekturtheoretiker Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc, César Denis Daly und Ernest Bosc gehörten neben weiteren Architekten zu den Mitgliedern der Pariser Anthropologischen Gesellschaft.
Von einer Naturgeschichte des Menschen zu einer Naturgeschichte der Architektur Viollet-le-Duc verfasste mit seiner Histoire de l’habitation humaine depuis les temps préhistoriques jusqu’à nos jours, die 1875 erschien und wie seine anderen Schriften der Zeit zur Geschichte eines Hauses oder der Ausbildung zum Zeichner eine didaktische Funktion erfüllen sollte, eine an der Naturgeschichte des Menschen orientierte Naturgeschichte der Architektur.42 Erzählt wird sie aus der Perspektive zweier Vernunft und Glaube, Fortschritt und Tradition verkörpernder Figuren: Épergos und Doxi, die die szenisch präsentierte, in Landschaftsbilder eingebettete Architekturgeschichte einem Ausstellungsparcours vergleichbar durchlaufen. Diese Geschichte reicht bis auf die Vorfahren des Menschen zurück (Abb. 2), die mehr den Tieren als dem Menschen ähneln, jedoch bereits erstes Sozialverhalten zeigen, indem sie sich gegen die feindliche Außenwelt in Form eines angreifenden Bären zusammenschließen. Im zweiten Kapitel führt 41 | Vgl. etwa Çelik, Zeynep: Displaying the Orient: Architecture of Islam at Nine teenth-Century World’s Fairs, Berkeley: University of California Press 1992; Jarrassé, Dominique: »Les historiens de l’art au pays des anthropologues. Emprunts de catégories et impasses disciplinaires«, in: Histoire de l’art 60 (2007), S. 57-68; Mersmann, Susanne: Die Musées du Trocadéro. Viollet-le-Duc und der Kanondiskurs im Paris des 19. Jahrhunderts, Berlin: Reimer 2012. 42 | Vgl. Viollet-le-Duc, Eugène Emmanuel: Histoire de l’habitation humaine depuis les temps préhistoriques jusqu’à nos jours, Paris: Pierre Mardaga 1986 [1875]; S. Mersmann: Die Musées du Trocadéro, S. 154-166, mit einem Schwerpunkt auf den Rassenkonstruktionen, die Viollet-le-Ducs Architekturgeschichte zugrunde liegen; Leniaud, Jean-Michel: Viollet-le-Duc ou les délires du système, Paris: Mengès 1994, S. 119-129.
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Viollet-le-Duc sie als rohes Fleisch und wilde Kräuter essende Rasse der Dasyus ein. Nicht wissend, wie man baut, suchen sie Schutz vor Regen und Wind unter dichten Bäumen. Der Mensch, der hom, tritt im zweiten Kapitel als sesshafte, Nutztiere haltende Rasse der Aryas auf. Die Aryas verfügen über Sprache, Religion und domestiziertes Feuer. Um sich vor der Witterung zu schützen, auch bei Viollet-le-Duc die ursprüngliche Funktion von Architektur, haben sie ihre Häuser an Felsen gebaut (Abb. 3a). In der sich gleichsam aus dem Felsen schälenden Behausung manifestiert sich noch der Übergang von natürlichem Schutz in Form von Bäumen, Felsvorsprüngen und Höhlen zu von Menschenhand gesetzten Einrichtungen. Die Konstruktion dieser ersten Häuser besteht aus Baumstämmen. Auf einer späteren Stufe wird die Holzbauweise durch den Steinbau abgelöst (Abb. 3b). Hat der in den Verlauf der Geschichte immer wieder von außen eingreifende Épergos den Dasyus bereits gezeigt, wie aus Ästen und Gezweig eine Zeltkonstruktion zu errichten ist, so übermittelt er den Aryas die Technik des Trockenmauerwerks. Holzkonstruktion und Steinbauweise erscheinen innerhalb der Naturgeschichte der Architektur als Kennzeichen der Aryas und ihrer auf Dauer angelegten, wehrhaften Wohnformen. Viollet-le-Duc greift hier Überlegungen auf, die er schon in den 1860er Jahren in Zusammenhang mit den Cités et ruines américaines angestellt hatte, einem auf Photographien und Berichten von Désiré Charnay zurückgehenden Text über die mittelamerikanische Architektur aus präkolumbischer Zeit.43 Dort schrieb er das Bauen in Holz und Stein beziehungsweise in Trockenmauern indogermanischen, das Bauen mit Mörtel und Putz hingegen asiatisch-russischen und finnischen Einwanderern zu, um auf dieser Grundlage die verschiedenen Einflüsse der sogenannten »weißen« und »gelben Rasse« auf die Konstruktionsweise der indigenen Bauten Mittelamerikas nachweisen zu können.
43 | Charnay, Désiré: Cités et ruines américaines: Mitla, Palenqué, Izamal, Chichen-Itza, Uxmal. Recueillis et photographiées par Désiré Charnay avec un texte par M. Viollet-le-Duc, Paris: Gide 1863. Wie Dominique Jarrassé im Anschluss an Daniel Schávelzon ausführt, ist dies der erste systematische Versuch Viollet-le-Ducs, eine Verbindung zwischen Konstruktionsweisen in der Architektur und Rassen herzustellen, vgl. D. Jarrassé: »Les historiens de l’art au pays des anthropologues«, S. 59.
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Abb. 2, Geschichte der menschlichen Wohnformen, der Baum als erster Schutz vor der Witterung.
Quelle: E. E. Viollet-le-Duc: Histoire de l’habitation humaine, S. 5.
Abb. 3a + 3b, Geschichte der menschlichen Wohnformen, erstes Wohnhaus zunächst in Holz, später in Stein gebaut.
Quelle: E. E. Viollet-le-Duc: Histoire de l’habitation humaine, S. 11 + S. 22.
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Viollet-le-Ducs Geschichte der Wohnformen von 1875 entwickelt ihre Dynamik aus den Migrationen der Aryas. Aus den Bergen des Himalaya in die Ebenen auswandernd, treffen sie zunächst auf die »gelbe Rasse«. In der Metallverarbeitung, der Geräteherstellung, dem Steinschnitt wesentlich entwickelter als die Aryas, werden sie dennoch von ihnen unterjocht. Gemäß den Rassenkonstruktionen des 18. und 19. Jahrhunderts 44 wird dies von Viollet-le-Duc auf verschiedene Charaktereigenschaften zurückgeführt. Die unterschiedlichen Bauformen beider Rassen gehen zwar eine Verbindung ein, bleiben ihrem Kern nach jedoch sichtbar, wobei sich die beherrschende Rasse in der Konstruktion und die beherrschte im Material zu erkennen gibt.45 Auf dem Hintergrund ebendieser Argumentation sollen sich aus der Architektur, insbesondere dann, wenn Schriftzeugnisse fehlen, die Entwicklungen und Wanderungen der einzelnen »Typen« an Wohnbauten und Rassen rekonstruieren lassen. Die Geschichte der Wohn- und Siedlungsformen verläuft weiter über die Ägypter, Semiten, Assyrer, Pelasger, Hellenen und Römer bis hin zu den Indern, den mittelamerikanischen Einwohnern und Skandinaviern, um schließlich nach der Darstellung der mittelalterlichen Architektur bei der Renaissance zu enden. Wie sehr Viollet-le-Ducs Historiographie des Wohnhauses den Rassenkonstruktionen in der Anthropologie entspricht, verdeutlichen auch die Porträtdarstellungen zu den verschiedenen Rassen, die am Ende einzelner Kapitel auftauchen. Sie verweisen auf die anthropologischen Bildkonvolute mit ihren en face und en profil dargestellten und vermessenen Köpfen und Körpern zur Rassenbestimmung. In Viollet-le-Ducs Naturgeschichte der Architektur werden körperliche, physiognomische Merkmale, daraus abgeleitete Charaktereigenschaften und Konstruktionsarten des Bauens kurzgeschlossen. Nur wenige Jahre nach Erscheinen von Viollet-le-Ducs Histoire de l’habitation humaine, anlässlich der Pariser Weltausstellung im Jahr 1889, materialisierte sich mit Charles Garniers Rue de l’habitation humaine der von Viollet-le-Duc beschriebene Parcours durch die Entwicklungs-
44 | Viollet-le-Duc orientiert sich hier insbesondere an Georges Cuvier und Arthur de Gobineau, vgl. S. Mersmann: Die Musées du Trocadéro, S. 155-159. 45 | Dies legen Viollet-le-Ducs Ausführungen zur präkolumbischen Architektur von 1863 nahe.
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Abb. 4, Geschichte der menschlichen Behausung, prähistorische Wohnformen.
Quelle: Ammann, Auguste: Guide historique à travers l’exposition des habitations humaines reconstituées par Charles Garnier, Paris: Hachette 1889, S. 15.
geschichte der Wohn- und Siedlungsformen (Abb. 4).46 Garniers gebaute Geschichte der menschlichen Behausung schließt gleichermaßen an Viollet-le-Duc und die Weltausstellungen an, auf denen sich die teilnehmenden Länder zunehmend auch über landestypische Architekturen darstellten.47 Das Spektrum reichte hierbei von der freien Reproduktion repräsentativer Herrschafts- und Wohnhausarchitektur bis hin zu einheimischen Architekturen in Form etwa von Bauernhäusern. Als Teil der Kolonialpolitik hielten zudem außereuropäische Architekturen oder »ethnographische Dörfer« in die Weltausstellungen 46 | Zur gebauten und publizierten Geschichte der menschlichen Behausung von Charles Garnier und Auguste Ammann vgl. Wörner, Martin: Vergnügung und Belehrung. Volkskultur auf den Weltausstellungen 1851–1900, Münster/New York: Waxmann 1999, S. 65-72, Bouvier, Béatrice: »Charles Garnier (1825–1898), architecte historien de L’habitation humaine«, in: Livraisons d’histoire de l’architecture 9 (2005), S. 43-51, sowie Wyss, Beat: Bilder von der Globalisierung. Die Welt ausstellung von Paris 1889, Berlin: Insel 2010, S. 138-169. 47 | Bestandteil des Ausstellungsprogramms wurden solche Bauten bereits mit der Pariser Weltausstellung von 1867, auf den Weltausstellungen in Wien 1873 und Paris 1878 kam es zur systematischen Erweiterung dieser Sparte, vgl. M. Wörner: Vergnügung und Belehrung, S. 28-144.
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Einzug.48 Garnier selbst verstand die von ihm gebaute Geschichte der menschlichen Behausung auf der Welt ausstellung von 1889 als eine Art Freilichtmuseum und verdeutlichte zusammen mit dem Historiker Auguste Ammann, dass nur diese Form der räumlichen Inszenierung von Geschichte im Gegensatz zu anderen Formen der musealen Präsentation die Vergangenheit wieder lebendig machen könne.49 Die vierundvierzig am Quai Branly am Rande des Champ de Mars errichteten, zum Teil mit Möbeln, Teppichen, Stoffen und anderen einheimischen Produkten bestückten Wohnbauten sollten eine Reise »à travers tous les âges et à travers tous les pays« ermöglichen und einen Einblick in die verschiedenen Behausungen der Menschen als dem »cadre matériel« geben, »dans lequel leurs passions se sont agitées, leurs intérêts se sont débattus, leur existence tout entière s’est déroulée«, in dem sich »leur caractère, leurs instincts, leurs habitudes« spontan zeigten.50 Die von dem Dekorationsmaler der Pariser Oper Marcel Jambon ausgestatteten Wohnbauten,51 von denen aus Kostengründen nur das Erdgeschoss voll ausgebaut wurde, sind sowohl von innen als auch von außen weniger als authentische Behausungen zu nehmen, denn als Konglomerate von gleichwohl als authentisch ausgewiesenen Versatzstücken der jeweiligen Wohnformen. In dem historischen Führer zu den Habitations humaines wurden, um die Naturtreue der Wohnformen und die Wissenschaftlichkeit des Unterfangens zu beglaubigen, die herangezogenen Quellen offengelegt.52 Diese waren überaus divers, sie beinhalteten Flachreliefs aus musealen Sammlungen oder antiker Monumente wie der Trajanssäule, Dokumente und Photographien archäologischer Ausgrabungen, Berichte von Architekten, Garniers eigene Studien in Griechenland.53 48 | Vgl. ebd., S. 49-72. 49 | Vgl. Garnier, Charles/Ammann, Auguste: L’habitation humaine, Paris: Hachette 1892, S. 3. 50 | Ebd. 51 | Vgl. Anonym: Guide du visiteur à l’exposition universelle de 1889. Itinéraire, objets remarquables à visiter, plans coloriés, Paris: Chaise 1889, S. 21-23. 52 | Vgl. A. Ammann: Guide historique. Der historische Führer erschien 1889 und nahm das drei Jahre später veröffentlichte Monumentalwerk von Garnier und Ammann zusammenfassend vorweg. 53 | Wo solche Vorlagen fehlten, wurde der jeweils älteste Typ eines bestimmten Wohnbaus aus den zur Verfügung stehenden Informationen über die künstle-
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Auswahl und Anordnung der Bauten orientierten sich desgleichen an der Naturgeschichte des Menschen.54 Sie gliederten sich in eine Vorgeschichte, die natürliche Behausungen unter Bäumen, Felsen und in Höhlen sowie erste Pfahlbauten, Hütten und Hünengräber zeigte. Ihr schloss sich eine historische Periode an, die zum einen die Bau- und Wohnformen der sogenannten civilisations primitives einschloss, angefangen von den Ägyptern über die Assyrer, Phönizier und Hebräer bis zu den Pelasgern und Etruskern, zum anderen diejenigen Formen, die Garnier und Ammann den civilisations nées des invasions des Aryas zuschrieben: Dazu zählten die Bauten der Inder, Perser, Germanen, Gallier, Griechen und Römer, gefolgt von Bauten unter anderem der Hunnen, Skandinavier, Slawen, Russen und Araber, welche für die Invasionen des west- und oströmischen Reiches standen. Ihren Abschluss fand diese Periode mit Beispielen aus spätrömischer Zeit, dem Mittelalter und der Renaissance. Eine dritte Gruppe präsentierte Bau- und Wohnformen der civilisations contemporaines des civilisations primitives beziehungsweise der civilisations isolées. Hierunter sollten alle Bauten aus Australien, Zentralafrika, Mittelamerika, Grönland, China und Japan fallen, gemäß anthropologischer Klassifikation die Bauten der »gelben«, »schwarzen« und »roten Rasse«. Zu Garniers Rue de l’habitation humaine erschien ein kleines Lehrwerk an kolorierten Vignetten, das zu den entsprechenden Bauten noch die historische Tracht und die Zeichen- beziehungsweise Schriftsysteme ihrer Bewohner präsentierte (Abb. 5). 1892, drei Jahre nach der Weltausstellung, legten Garnier und Ammann eine ausgearbeitete und mit zahlreichen Stichen versehene Buchausgabe zur Habitation humaine vor. Darin tauchen neben Reproduktionen der Ausstellungspavillons, die jetzt in entsprechende Landschaften eingebettet erscheinen, weitere Ansichten und Grundrisse traditioneller Architekturen auf sowie Darstellungen insbesondere der prähistorischen Werkzeuge, aber auch Beispiele von rischen, ökonomischen und Alltagspraktiken der entsprechenden Bewohner abgeleitet, vgl. ebd., S. 1. 54 | Zur räumlichen Abfolge auf der Weltausstellung vgl. den Guide du visiteur à l’exposition universelle. In dem historischen Führer zu L’habitation humaine (A. Ammann: Guide historique) und dem entsprechenden Buch von 1892 (C. Garnier/A. Ammann: L’habitation humaine) wird am Ende jeweils eine Übersichtsdarstellung mit den zugrunde gelegten historischen und anthropologischen Einteilungen der Geschichte der Wohnformen gegeben.
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Abb. 5, Geschichte der menschlichen Behausung, chinesisches Haus und Tracht.
Quelle: Anonym: Histoire de l’habitation. Exposition universelle de Paris 1889. 25 vignettes scolaires en couleur représentent l’évolution de l’habitation humaine, Paris: Centrale des Beaux-Arts 1889, o.P.
Schriftsystemen, die in den unterschiedlichen Kulturen Verwendung fanden. Hinzu kommt eine Reihe von Karten. Trotz der Nähe zu Viollet-le-Ducs Geschichte der Wohnformen, die von der zugrunde gelegten Einteilung nach Rassen 55 bis hin zur Adaptation des Wohnhauses der Rasse der Aryas am Berghang reicht,56 sind auch Unterschiede zu benennen. Einerseits ist es die narrative Struktur: Viollet-le-Ducs Protagonisten durchlaufen die Entwicklungsgeschichte nicht nur wie einen Parcours. Sie werden zeitlich und räumlich immer wieder aus dem Parcours herausgenommen, um die Entwicklungsgeschichte der Architektur aus einer metahistorischen Ebene des Überblicks, der Totalen eines Panoramas zu übersehen, das zwischen einem die Geschichte retardierenden (doxi) und einem sie vorantreibenden 55 | Zu den rassenideologischen Grundlagen der Habitation humaine vgl. Ammann in C. Garnier/A. Ammann: L’habitation humaine, S. 12-27. 56 | Vgl. ebd., S. 294-298.
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(épergos) Prinzip aufgespannt ist. Garniers und Ammanns Geschichte der Wohnformen orientiert sich hingegen deutlicher an der Erzählweise der Historiographie, wenn auch, gemäß den rassenideologischen Prämissen, die civilisations primitives et isolées an das Ende der Entwicklungsgeschichte der Architektur gestellt sind; nicht weil sie für Garnier und Ammann einen Höhepunkt und Abschluss dieser Geschichte darstellen, sondern weil sie schlichtweg aus der eurozentristischen Geschichtskonstruktion herausfallen, in a-historischen Räumen leben oder aber Zivilisationen sind, die wie die chinesische ihr Bauwissen für sich behalten und damit nicht zum allgemeinen Fortschritt der Menschheit beigetragen hätten. Des Weiteren binden Garnier und Ammann systematischer als Viollet-le-Duc archäologische Funde und Alltagsgegenstände mit ein, was die Architektur in einen Zusammenhang mit der materialen Kultur insgesamt stellt. Viollet-le-Duc indessen wird an den verschiedenen Bau- und Wohnformen immer wieder auch konstruktive Details betonen. Die Rezeption anthropologischen Wissens in der Architektur hat mit den Arbeiten von Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc und Charles Garnier im 19. Jahrhundert zweifelsohne einen negativen Gipfel erreicht, und das vor allem in rassenideologischer Hinsicht. Ausstellungsarchitekturen wie die Rue de l’habitation humaine führten zu einer Popularisierung dieses Wissens.
Von der Karibischen Hütte zur Architektur als Raumgestalterin Wie vielgestaltig und komplex die Anschlüsse an das neue Wissen vom Menschen sein konnten, soll abschließend an Gottfried Semper und August Schmarsow verdeutlicht werden. Erneut kommt hierbei einer Welt ausstellung eine Schlüsselfunktion zu. Auf der Londoner Weltausstellung von 1851 sah Semper den Nachbau einer indigenen Architektur aus Trinidad. In dieser der »Ethnologie entlehnten« karibischen Bambushütte fand er die wahre »vitruvianische Urhütte« vor. »An ihr«, so Semper, »treten alle Elemente der antiken Baukunst in höchst ursprünglicher Weise und unvermischt hervor: der Heerd als Mittelpunkt, die durch Pfahlwerk umschränkte Erderhöhung als Terrasse, das säulengetragene Dach und die Mattenumhegung als Raumabschluss oder
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Wand«.57 In seiner 1851 erschienenen Schrift über Die vier Elemente der Baukunst hatte sich Semper in die »Urzustände der menschlichen Gesellschaft« hineinversetzt,58 um die Anfänge der Architektur rekonstruieren zu können. Diese setzen mit dem in Form des Herdes domestizierten Feuer ein, um das die drei anderen Elemente schützend hinzutreten: der Erdaufwurf, das Dach und insbesondere die Wand als erste Umfriedung des Feuers.59 Aus diesen vier Urelementen leiten sich die »Urhütte« wie auch die ersten technai ab, aus denen die Architektur hervorgeht: aus dem Feuer die Metallarbeiten, aus dem Erdaufwurf die Wasser- und Maurerarbeiten, aus dem Dach die Holzarbeiten, aus der Wand schließlich die textilen Arbeiten.60 Indem Semper diese Elemente an der Karibenhütte festmacht, verkörpert sie nicht nur die »Urhütte«, ihre Bewohner werden gleichsam zum Spiegel des eigenen zivilisatorischen Urzustandes. Schmarsow, der sich ebenso deutlich von Semper abgrenzt wie er an ihn anknüpft, greift die »Urhütte« der Kariben in seiner Leipziger Antrittsvorlesung aus dem Jahr 1893, in der er die Architektur als Raumgestalterin zu bestimmen unternimmt, wieder auf. In einer Entwicklungsgeschichte der Architektur, die von der »Schneehütte des Eskimo und dem Zelt des Nomaden« 61 über das Pantheon in Rom und den Kölner 57 | Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik, ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde. Bd. 2: Keramik, Tektonik, Stereotomie, Metallotechnik für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst, München: Bruckmann 1863, S. 276. 58 | Semper, Gottfried: Die vier Elemente der Baukunst. Ein Beitrag zur vergleichenden Baukunde, Braunschweig: Vieweg & Sohn 1851, S. 54. 59 | Die für alle Baukunst grundlegenden Elemente treten nach Semper in verschiedenen Kombinationen auf, die abhängig sein sollen von Klima und Geographie sowie von den »Unterschieden in den Anlagen der Racen« (ebd., S. 55). Überhaupt zeigt sich auch Semper beeinflusst von bestimmten rassenideologischen Topoi des 19. Jahrhunderts, nach denen bspw. wie bei Ammann und Garnier die »chinesische Baukunst, obschon noch gegenwärtig geübt, mit Ausschluss der Hütte des Wilden, den Motiven nach die ursprünglichste [ist]« (ebd., S. 73). 60 | Vgl. ebd., S. 56. 61 | Schmarsow, August: Das Wesen der architektonischen Schöpfung. Antrittsvorlesung gehalten in der Aula der K. Universität Leipzig am 8. November 1893, Leipzig: Hiersemann 1894, S. 6.
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Dom bis zum Reichstagsgebäude reicht, gehört sie einem frühen, »primitiven« Stadium des Bauens an. Die prähistorischen Anfänge der Architektur bleiben für Schmarsow im Dunklen. Licht in dieses vermögen nicht die Geschichtswissenschaftler zu bringen, sondern die »Ethnologen und Anthropologen«, denen der Kunsthistoriker »die Hand reichen und mit ihnen zusammen zur psychologischen Erkenntnis des Homo sapiens seine Zuflucht nehmen« will.62 Der Zugang zu den Ursprüngen der Architektur erfolgt über die Wissenschaften vom Menschen. Die Einordnung der Karibenhütte in die Entwicklungsgeschichte der Architektur ermöglicht den Vergleich mit anderen Bauformen. Unter diesen sucht Schmarsow in der Art eines vergleichenden Anatomen gemeinsame Strukturmerkmale und findet sie im Raum. Die rhetorische Frage: »Sollte der Monumentalpalast eines Sultans wirklich nichts mehr von dem innersten Wesen mit dem flüchtig aufgeschlagenen Zelt eines Stammvaters gemein haben?« wird entsprechend beantwortet: […] von der Höhle des Troglodyten zu dem Zelt des Arabers, vom langen Straßenzug des ägyptischen Wallfahrtstempels bis zum säulengetragenen herrlichen Dach des Hellenengottes, von der Karaibenhütte bis zum Reichtagsgebäude, – so können wir, möglichst allgemein ausgedrückt sagen, sie sind samt und sonders Raumgebilde. 63
Liegt das Verbindende aller historisch und geographisch noch so weit voneinander entfernten Bauformen nach Schmarsow im durch sie hergestellten Raum, der ihren Kern, ihr Wesen bezeichnet, so findet dieser Raum seinerseits einen Ursprung. Er liegt im Gattungswesen Mensch. Aus der von allen Menschen geteilten Organisation des Leibes, dem aufrechten Gang, der Lage und Ausrichtung der Extremitäten und Sinnesorgane, erklärt sich bei Schmarsow der architektonische Raum. Er stellt sich als die Objektivation des axialen Leibes dar: »Die Architektur als unsere Raumgestalterin schafft als ihr Eigenstes, das keine andere Kunst zu leisten vermag, Umschließungen unserer selbst, in denen die senkrechte Mittelaxe nicht körperlich hingestellt wird, sondern leer bleibt, nur idealiter wirkt und bestimmt ist als Ort des Subjektes.« 64 In 62 | Ebd., S. 5. 63 | Ebd., S. 9-10. 64 | Ebd., S. 15.
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der späteren Auseinanderlegung seiner Raumtheorie bezieht Schmarsow weitere einheimische Architekturen mit ein (Abb. 6). Herman Frobenius’ Oceanische Bautypen liefert ihm beispielsweise Belege für die These, dass sich der aufrechte Gang nicht unvermittelt eingestellt, sondern sich über einen langen Zeitraum entwickelt hat. Der ursprünglichen Fortbewegung auf Füßen und Händen beziehungsweise der »kriechenden Haltung« entspricht als Bauform der »rohrartige Unterschlupf«, der in weiches Material gegraben wird. Schmarsow findet ihn in »vielen Konstruktionen mit leichterem Material unter freiem Himmel« wieder, »die hier zum Vergleich sich anbieten«. Es sind die von Frobenius dokumentierten »Hütten der Primitiven, die nicht mehr sind als eine halbzylindrische Schutzdecke des auf dem Bauch liegenden Körpers«.65 Abb. 6, Süd-oceanischer Baukreis.
Quelle: Frobenius, Herman: Oceanische Bautypen, Berlin: Ernst & Sohn 1899, S. 15. 65 | Schmarsow, August: »Raumgestaltung als Wesen der architektonischen Schöpfung«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 9 (1914), S. 66-95, hier S. 68.
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Die axiale Konzeption des Leibes übernimmt Schmarsow desgleichen von Semper, worauf bereits mehrfach hingewiesen worden ist.66 Ihre Visualisierung findet sie nicht bei Schmarsow, sondern Jahrzehnte später mit einer Zeichnung, die Hans Soeder in seine Urformen der abendländischen Baukunst aufgenommen hat (Abb. 7). War Semper noch von einem System an Entwicklungs- und Richtungsachsen sowohl organischer als auch anorganischer Körper ausgegangen, rückt in das Zentrum des dreidimensionalen Koordinatensystems bei Schmarsow ausschließlich der menschliche Körper in seiner aufrechten Haltung und Bewegung ein, der eben dadurch zur Origo des architektonischen Raumes wird. Dass Schmarsow den Menschen in seiner körperlichen, das heißt anatomischen und physiologischen wie davon abgeleiteten geistigen Disposition in den Mittelpunkt der Produktion und Rezeption von Architektur stellen kann, geht auf das neue Wissen vom Menschen zurück. Schmarsow bezieht es offensichtlich nicht nur über die in der ästhetischen Theorie und Kunstwissenschaft seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beheimateten physiologischen Diskurse.67 Er scheint auch auf die Handbücher der plastischen oder künstlerischen Anatomie zurückgegriffen zu haben, zumindest weisen Lektüren des Froriep,68 einer klassischen Anatomie für Künstler aus dem 19. Jahrhundert, darauf hin. Diese Handbücher versammelten die Traditionen der medizinischen Anatomie und künstlerischen Proportionslehren und waren im 19. Jahrhundert einerseits durch 66 | Vgl. Mallgrave, Harry Francis: Gottfried Semper: Architect of the Nineteenth Century. A Personal and Intellectual Biography, New Haven/London: Yale Univer sity Press 1996; Cepl, Jasper: »Ein Blick zurück auf neue Räume. August Schmarsows Barock und Rokoko«, in: Antje Johanning/Dietmar Lieser (Hg.), Stadt Land Fluß. Urbanität und Regionalität in der Moderne. Festschrift für Gertrude Cepl-Kaufmann zum sechzigsten Geburtstag, Neuss: Ahasvera 2002, S. 97-108; Jöchner, Cornelia: »Wie kommt Bewegung in die Architekturtheorie? Zur RaumDebatte am Beginn der Moderne«, in: Wolkenkuckucksheim. Internationale Zeitschrift zur Theorie der Architektur 9 (2004), H. 1, o.P. 67 | Vgl. in Bezug auf die physiologische Psychologie Wilhelm Wundts ausführlich Zug, Beatrix: Die Anthropologie des Raumes in der Architekturtheorie des frühen 20. Jahrhunderts, Tübingen/Berlin: Wasmuth 2006. 68 | Froriep, August: Anatomie für Künstler. Kurz gefasste Anatomie, Mechanik und Proportionslehre des menschlichen Körpers, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1880.
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Abb. 7, Die menschliche Gestalt in ihrer Beziehung zum geometrisch geordneten Raum.
Quelle: Soeder, Hans: Urformen der abendländischen Baukunst in Italien und dem Alpenraum, Köln: Du Mont Schauberg 1964, S. 21.
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eine Ausrichtung an lebenden Modellen und die Fokussierung auf den bewegten Körper gekennzeichnet, andererseits durch ein besonderes Interesse an den Erkenntnissen der physischen Anthropologie, die sie sofort aufnahmen. Von dort konnte Schmarsow die Beschreibungen der Organisation des Leibes beziehen, die in seinen Schriften breiten Raum einnehmen und zur Grundlage der Architektur wie auch aller anderen Künste werden. Die anthropologische Bestimmung der Architektur, die Schmarsow über die anthropologische Bestimmung des Menschen vornimmt, führt zur Konzeption der Architektur als Raumgestalterin. Wirft Schmarsow Semper auch zu Unrecht vor, dieser habe die Karibische Hütte nur im Hinblick auf die konstruktiven Elemente von Herd, Wand, Dach und Erdaufwurf gelesen und sie damit der Architekturgeschichte enthoben – tatsächlich stellt die Karibische Hütte für Semper ja nicht nur den Inbegriff, sondern auch den historischen Beginn der Architektur dar –, er selbst wird sie in diese einordnen. Zwar als »primitive« Form von Architektur, aber doch als eine Form, in der sich bereits die Raumgestaltung als Wesen der Architektur artikuliert und die insofern gleichberechtigt neben den Monumentalbauten aus Antike, Mittelalter und Neuzeit steht. Schmarsow leistet damit einen eigenen Beitrag zur Ausdehnung des architekturhistorischen Korpus auf die traditionellen und lokalen Wohn- und Siedlungsformen,69 wie an Franz Oelmanns 1927 erschienener Studie Haus und Hof im Altertum deutlich wird. Sich von den »kaum ernst zu nehmen[den]« Universalgeschichten der Wohnformen eines Viollet-le-Duc und Garnier abgrenzend,70 findet Oelmann unter anderem in Schmarsow einen Wegbereiter, der über die Betrachtung der »›Primitiven‹ heutiger und vorgeschichtlicher Zeit [...] neue und tiefere Einsichten in Wesen und Grundlagen der einzelnen Kunstgattungen« gefunden hat.71 Dazu gehört für Oelmann auch die auf Schmarsow zurückgeführte Einsicht, dass »Architekturgeschichte« vor allem eine »Geschichte von den Raumformen« ist.72 69 | Dies lässt sich freilich schon für Semper, Viollet-le-Duc, Garnier und Ammann veranschlagen. 70 | Oelmann, Franz: Haus und Hof im Altertum. Untersuchungen zur Geschichte des antiken Wohnbaus, Berlin: De Gruyter 1927, S. 2. 71 | Ebd., S. 1 72 | Ebd., S. 16.
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F A ZIT Die vorliegende Skizze zum historischen Verhältnis von Architektur und Anthropologie zeigt, dass die Verbindungen zwischen beiden Wissens- und Praxisformen nicht nur vielgestaltig sind, sondern auch eine eigene, bisher nur unzureichend erschlossene Geschichte haben. Die Einflüsse der physischen Anthropologie auf die Architekturtheorie und die Architektur der Moderne sind dort geltend zu machen, wo es zum Entwurf einer vergleichenden Naturgeschichte der Architektur kommt, dessen rassenideologische Grundlagen nach wie vor aufzuarbeiten sind. Überhaupt wird der Kontakt zu außereuropäischen Wohn- und Siedlungsformen wesentlich durch die im 19. Jahrhundert gegründeten anthropologischen und ethnologischen Gesellschaften vermittelt, die in den Weltausstellungen ein Medium der Popularisierung ihres Wissens finden. Die Kenntnis dieser Bauformen löst neue Debatten um den Ursprung der Architektur aus und führt zugleich zu einer Entgrenzung des auf Monumentalbauten enggeführten Korpus der klassischen Architekturgeschichte und -theorie. Über das neue anatomische und physiologische Wissen des Menschen, auf dem die physische Anthropologie auf baut, rückt schließlich der Mensch beziehungsweise der axiale Leib in das Zentrum des gebauten Raumes ein. Die verschiedenen Verschaltungen des architektonischen und des anthropologischen Feldes im 19. Jahrhundert spiegeln sich in der Diversität aktueller architekturanthropologischer Ansätze wider. Während auf der einen Seite nach dem unmittelbaren Verhältnis zwischen dem menschlichen Körper und dem gebauten Raum gefragt wird, stehen auf der anderen Seite die sozialen Ordnungen des gebauten Raumes im Vordergrund. Die gegenwärtige Architekturanthropologie weist demnach einen im engeren Sinn anthropologischen, das heißt auf den Menschen bezogenen, und einen ethnographischen Zweig auf. Grundsätzlich lässt sich dabei feststellen, dass mit jeder Verbindung, die Architektur und Anthropologie eingehen, neu ausgehandelt wird, was hier wie dort Natur und was Kultur sein soll. Auf den Titel der Vorlesungsreihe »Windows on Architecture« anspielend, mag am Ende ein Zugang dazu eröffnet sein, dass das Wissen über den Menschen das Wissen über die Architektur verändert, wie umgekehrt die verschiedenen Konzeptualisierungen von Architektur immer auch Aussagen über den Menschen treffen.
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Architektur als Medium des Sozialen Der Blick der Soziologie Heike Delitz
E XPOSITION Welche Funktion, welche Bedeutung hat die Architektur in der Gesellschaft? So lautet die Kernfrage der gesellschaftstheoretisch versierten Architektursoziologie. Für sie kommt dem Architektonischen – das heißt den architektonischen Artefakten und den spezifischen Wissensund Praxisformen, die mit ihnen verbunden sind – die Bedeutung eines Mediums des Sozialen zu. Die Architektur ist aus architektursoziologischer Sicht eine Kulturtechnik, die das Soziale, das Kollektiv erst zur Anschauung und damit zur Existenz bringt und es zugleich permanent transformiert. Anders formuliert: Architektonische Artefakte sind – neben anderen Artefakten und anderen Formen des Symbolischen – unerlässlich für Prozesse der Vergesellschaftung, sie sind sozial konstitutiv.1 Die These des sozial konstitutiven »Mediums«, die der Titel dieses Beitrags annonciert, ist wegen der Vieldeutigkeit des Medienbegriffes
1 | Vgl. zu diesem Konzept, das die soziale Bedeutung der Architektur hoch einschätzt, u.a. Delitz, Heike: Gebaute Gesellschaft. Architektur als Medium des Sozialen, Frankfurt a.M.: Campus 2010, und Fischer, Joachim: »Architektur als ›schweres Kommunikationsmedium‹ der Gesellschaft. Zur Grundlegung der Architektursoziologie«, in: Peter Trebsche/Nils Müller-Scheeßel/Sabine Reinhold (Hg.), Der gebaute Raum. Bausteine einer Architektursoziologie vormoderner Architekturen, Münster u.a.: Waxmann 2010, S. 63-82.
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und seiner Konjunktur in Bezug auf die »Neuen Medien«2 zunächst am besten ex negativo aus dem zu verstehen, was damit nicht gesagt sein soll: Aus Sicht der architektursoziologischen Theorie ist es nicht angemessen, dem Architektonischen lediglich die Bedeutung eines »Ausdrucks« der Gesellschaft zuzusprechen. Der Begriff »Medium« sperrt sich gegen den Begriff vom »Ausdruck«, in den die Relation von Architektur und Gesellschaft nur zu oft gefasst wird (nicht nur in der Soziologie, sondern auch in der Politikwissenschaft, der Kunstgeschichte, der Ethnologie und der Archäologie). So gesehen erscheint der architektonische »Symbolismus bloß als neutrale Hülle […], als das geeignete Instrument, einen präexistenten Inhalt, die ›eigentliche Substanz‹ der gesellschaftlichen Verhältnisse auszudrücken; eine Hülle, die nichts dazutut und nichts wegnimmt«.3 Stattdessen gilt: Ohne eine architektonische Artefaktkultur ist kollektives Leben unvorstellbar, weil es zu diesem einer kulturell spezifischen sichtund greif baren, expressiven räumlichen Gestalt bedarf. Beides zu denken, die grundlegend konstitutive Bedeutung der Architektur für das kollektive Leben und deren transformative Kraft, ist eine Herausforderung für die Soziologie (und andere Gesellschaftswissenschaften). Zu verfestigt ist es, sich das Soziale, die Gesellschaft jenseits der Artefakte und des Materiellen vorzustellen; zu intuitiv sind die Begriffe »Ausdruck«, »Spiegel«, »Anzeiger« oder »Manifestation«, wenn es darum geht, die Relation von Architektur und Sozialem zu fassen. Diese Begriffe zu nutzen, ist methodisch sicher sinnvoll, wenn es wie in der Archäologie darum geht, anhand architektonischer Funde eine Gesellschaft auszumachen. Doch die »Gesellschaft« an sich ist – als das Zusammenhängende, uns 2 | Zum Begriff des Mediums vgl. Hoffmann, Stefan: Geschichte des Medienbegriffs, Hamburg: Meiner 2002. Seit Aristoteles wird der Begriff medium philosophisch im Sinne der Wahrnehmungstheorie gebraucht – jede Wahrnehmung ist, so die Annahme, auf Medien angewiesen, die transparent (media diaphana) sein müssen: Luft, Wasser, Kristalle. Schon hier eignet den Medien eine Positivität. In der modernen Philosophie hat insbesondere Ernst Cassirer auf die Medialität, die symbolische Vermitteltheit oder Kulturalität aller Weltzugänge aufmerksam gemacht, wobei er nicht »Medium«, sondern »symbolische Form« sagt – und deren jeweilige Eigenlogik und -dynamik untersucht, etwa die der Sprache, der Kunst, der naturwissenschaftlichen Formeln. 3 | Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 201.
Architektur als Medium des Sozialen
jenseits einzelner Interaktionen Umfassende – ungreif bar und unsichtbar. Sie entzieht sich der direkten Beobachtung und ist auf das Symbolische angewiesen. Niemand hat diese Einsicht prägnanter formuliert als Cornelius Castoriadis: Das Gesellschaftliche schließt etwas ein, das sich als solches immer entzieht. [...] Das Gesellschaftliche erscheint als Struktur (in der Form und Inhalt nicht geschieden werden können) menschlicher Gruppierungen, übersteigt aber auch jede gegebene Struktur, ist ein ungreifbares Ferment, ungestaltes Gestaltendes, ein Immer-mehr-und-etwas-anderes. 4
A RCHITEK TURSOZIOLOGISCHE G ESELLSCHAF TSTHEORIE : A RCHITEK TUR ALS »M EDIUM DES S OZIALEN « Was also sind die Kernannahmen der Soziologie, und was sind die Fragen und Perspektiven der Architektursoziologie? Die Soziologie stellt im Grunde immer zwei Fragen. Die erste ist sozial- und gesellschaftstheoretischer Natur: Was ist eine »Gesellschaft«, wie konstituiert sich das »Soziale« und welche Entitäten, welche socii spielen dabei eine aktive Rolle? Die zweite Frage ist gesellschaftsanalytisch: In welcher Gesellschaft leben wir gegenwärtig? Die Architektursoziologie beschränkt sich nicht auf empirische Forschungen, vielmehr stellt auch sie – als Teilbereich einer grundlegend verstandenen gesellschaftstheoretischen Kultursoziologie – diese beiden Fragen. Dabei gibt es verschiedene Ansätze, dem vielfältigen Gegenstand »Architektur« zu begegnen, die von der Auseinandersetzung mit dem Entwurfsprozess über den Beruf des Architekten bis zu den Gebäuden und ihrer Nutzung reichen. Während die Soziologie der Frage nachgeht, wie Gesellschaften im Allgemeinen und im Besonderen funktionieren, fragt die Architektursoziologie nach der Rolle, die hierbei der Architektur zukommt. Die Architektursoziologie ist weder ästhetisch noch ethisch orientiert. Sie stellt keine ästhetischen Reflexionen an, sondern arbeitet mit einem formalen, umfassenden Begriff des Architektonischen und unterscheidet zunächst nicht zwischen Architektur und Ingenieurbau, interessiert sich also auch für Infrastrukturen und den sogenannten Tief bau. Darüber hinaus hegt sie ein besonderes Interesse für 4 | Ebd., S. 191.
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die spezifischen Architekturen verschiedener Kulturen. Hierbei behandelt sie auch jene architektonischen Aktivitäten und Dinge, die nicht auf Architekten zurückzuführen sind: das, was materialbedingt nicht buchstäblich »gebaut« ist: das Gewebte, Gefilzte, Genähte, die Zelte und Jurten nomadischer Gesellschaften beispielsweise. Die Architektursoziologie ist nicht ethisch ausgerichtet, da sie nicht danach fragt, ob die Architektur »gut« oder »richtig« ist, sondern (zunächst) »nur« beobachtet, welche Architektur mit einer Gesellschaft einhergeht, von ihr erfunden, instituiert und genutzt wird; zugleich untersucht sie anhand der Architektur einer Gesellschaft, welchen Umgang diese mit den eigenen und den Architekturen anderer Gesellschaften pflegt. Eine so gefasste Architektursoziologie ist analytisch eingestellt: Es geht ihr um die konkreten Modi, in denen sich Kollektive (auf Dauer) als je spezifische Gesellschaft herstellen, etwa auch, indem sie sich programmatisch auf das Neue einrichten, und sich, in den Worten von Lévi-Strauss, als »heiße« Gesellschaften konstituieren.5 Die Architektursoziologie ist neueren Datums.6 Sie partizipiert an und profitiert von mehreren jüngeren Theorieentwicklungen in den Sozialwissenschaften: Zunächst hat sie grundlegend teil am cultural turn, seit dem man das Symbolische oder Kulturelle nicht mehr als bloßen Sekun5 | Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 270. 6 | Vgl. für den deutschsprachigen Raum neben den bereits erwähnten Texten von H. Delitz: Gebaute Gesellschaft und J. Fischer: »Architektur als ›schweres Kommunikationsmedium‹ der Gesellschaft« vor allem die Aufsätze aus verschiedenen Theorieperspektiven in Fischer, Joachim/Delitz, Heike (Hg.): Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie, Bielefeld: transcript 2009, die Aufsätze aus der Sicht verschiedener Disziplinen in P. Trebsche/ N. Müller-Scheeßel/S. Reinhold (Hg.): Der gebaute Raum, sowie das Lehrbuch von Bernhard Schäfers (das den Disziplinentitel zuerst verwendet hat): Soziologie der Architektur und der Stadt. Bd. 1: Architektursoziologie. Grundlagen – Epochen – Themen, zweite, durchgesehene Auflage, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006. Eine ausführliche Bibliographie – inner halb der man auch die kürzlich erschienenen Arbeiten von Silke Steets, Anna-Lisa Müller/Werner Reichmann und Hanna Göbel erwähnen müsste sowie international diejenigen von Paul Jones – findet sich auf www.architektursoziologie.de vom 19. September 2014.
Architektur als Medium des Sozialen
däreffekt der Ökonomie als der »eigentlichen« sozialen Sphäre versteht; sodann ist sie an der Hinwendung zur Aktivität der Artefakte in den »neuen sozialen Ontologien« beteiligt; am material turn, dem Interesse für die Materialität der Dinge und deren Eigendynamik; und an den Hinwendungen zum Körper und seinen Affekten (affective turn). Die Soziologie hatte ihre Grundbegriffe zunächst so gefasst, dass die Architektur wie alle anderen Artefakte nur jenseits des Sozialen denkbar war. In einer geradezu »antitechnischen« und »antiästhetischen« Haltung 7 wurde der Gegenstand der Soziologie entweder als die Interaktion menschlicher Subjekte konzipiert oder als übergreifende, die Einzelnen zu Handlungen und Selbstbildern zwingende Mentalität, als ihnen vorhergehende Institution und deren Repräsentation im »Kollektivbewusstsein« (Durkheim).8 Dies erstaunt, war es doch in der Gründungsphase der Soziologie gerade die Architektur, die den Zeitgenossen ungewohnte, durchgreifend artifizielle und kontingenzbewusste, traditionsentbundene Lebenswelten vor Augen stellte; und zwar mit dem expliziten Anspruch, die Gesellschaft zu ordnen – auch ein Anspruch der Soziologie.9 Daraus mag sich die lange Ignoranz der Gesellschaftsanalyse gerade gegenüber derjenigen Kulturtechnik erklären, die doch bestimmt, was wir von einer Gesellschaft zuerst sehen, die unser gesamtes soziales Leben umstellt und einfaltet. Will die Soziologie diesen Umstand ernst nehmen, muss sie die genannten turns im Denken des Sozialen mitführen – denn die Architektur wendet sich an den Körper und affiziert uns: sie langweilt, regt uns auf, stößt uns ab. Es gilt, die repräsentationslogischen Konzepte abzulegen, jene Denkweise, die mit klaren Trennungen ansetzt, um hinterher Entsprechungen zu denken; die »die Gesellschaft« von ihrem Symbolischen und Materiellen isoliert und Letzteres als sekundär begreift. Stattdessen heißt es, eine Denkweise etablieren, welche die (stets symbolischen, expressiven, affektiven) archi7 | Eßbach, Wolfgang: »Antitechnische und antiästhetische Haltungen in der soziologischen Theorie«, in: Andreas Lösch et al. (Hg.), Technologien als Diskurse. Konstruktionen von Wissen, Medien und Körpern, Heidelberg: Synchron 2001, S. 123-136. 8 | Vgl. zu dieser Konzeption des Sozialen den Lexikonartikel von Fauconnet, Paul/Mauss, Marcel: »Sociologie«, in: La grande encyclopédie. Inventaire raisonné des sciences, des lettres et des arts, Paris: Lamirault 1901, Bd. 30, S. 165-176. 9 | Vgl. Makropoulos, Michael: Modernität und Kontingenz, München: Fink 1997.
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tektonischen Artefakte nicht vom Sozialen trennt und beider stetige Veränderung mitdenkt. In Gesellschaften verändern sich sowohl die Architekturen permanent, als auch, mit ihnen und durch sie, die Gesellschaft selbst. Zugleich gilt es, die klassische Trennung von Subjekt und Objekt aufzulösen, denn auf der Ebene der Handlungen sind Dinge und Körper faktisch stets verschränkt; Baukörper und Innenarchitekturen sind den Körperbewegungen und -haltungen nicht äußerlich, und die Wissenskulturen und Diskurse sind von den Artefakten nicht zu lösen.
THEORIE VOR AUSSE T ZUNG : D AS SOZIALE W ERDEN UND DIE G ESELLSCHAF T ALS IMAGINÄRE F IXIERUNG Die These, Architektur sei ein zur Existenz der Gesellschaft notwendiges Medium des Sozialen, folgt also einer bestimmten Perspektive der soziologischen Theorie. Für sie ist vor allem die französische Denktradition prägend, die sich aus der – nicht nur hierzulande oft schlecht verstandenen – Philosophie Henri Bergsons speist. In Hinblick auf die gesellschaftliche Bedeutung der materialen Kultur allgemein und der Architektur im Speziellen findet sich eine solche theoretische Perspektive vor allem bei Gilles Deleuze und Cornelius Castoriadis,10 die davon ausgehen, dass nicht das Sein, die Stabilität oder die Ordnung, sondern die stetige Veränderung der Wirklichkeit grundlegend ist, und zwar in jedem Seinsbereich. Auch für das Soziale gilt dann: Es gibt weder eine feste, grundlegende Struktur der Gesellschaft, noch gibt es fixe Subjekte, die mit sich identisch sind und bleiben. Vielmehr muss »Identität« individuell wie kollektiv permanent 10 | Vgl. zu dieser spezifischen Denktradition (jenseits der Architektur-Frage) Delitz, Heike: Bergson-Effekte. Aversionen und Attraktionen im französischen soziologischen Denken, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2015. Die deutsche Philosophische Anthropologie ist die zweite Theorieperspektive, die ich innerhalb der soziologischen Theorie für besonders geeignet halte, die Rolle der Architektur zu erkennen: weil sie ebenso wie die französische grundlegend nichtcartesianisch angelegt ist, also Körper, Artefakte und Diskurse, Affekte, Begehren zusammendenkt. Entsprechend habe ich beide benutzt, um die These des »Mediums« zu begründen, vgl. H. Delitz: Gebaute Gesellschaft, Kapitel 2: »Theorie«, S. 83-216. Zur Philosophischen Anthropologie in Hinsicht auf die Architektur vgl. J. Fischer: »Architektur als ›schweres Kommunikationsmedium‹ der Gesellschaft«.
Architektur als Medium des Sozialen
hergestellt werden. Die Gesellschaft besteht nicht im Vorhinein – bevor sie sich in symbolischen Dingen ausdrückt. Ganz im Gegenteil muss sie sich stets neu konstituieren, gestützt auf Symbolisches und Materielles. Wenn es am Grunde des Sozialen ein vielfältiges Leben gibt – das ständige Werden oder Anders-Werden der Einzelnen, ihrer Körper, Affekte, Ideen; was ist dann eine Gesellschaft? Sie »ist« wesentlich eine Setzung; sie besteht in der Setzung einer Bedeutung, die uns zusammenhält, einer Identität. Die Gesellschaft ist, wie Castoriadis sagt, eine »imaginäre Institution«, eine imaginäre Fixierung. Anders formuliert: Jede Gesellschaft ist eine soziale Erfindung, die ihren kontingenten Charakter zwangsläufig verdecken muss. Denn eine Gesellschaft kann sich nur etablieren und als Kollektiv erhalten, wenn sie ihren imaginativen Charakter leugnet. Sie muss sich instituieren, als spiele die Zeit keine Rolle, muss ihren eigenen, faktischen Wandel von sich weisen. Keine Gesellschaft kann sich vorstellen, je ganz anders gewesen zu sein oder es zu werden; jede schafft sich eine Geschichte, eine bestimmte Zeitlichkeit, eine Vorstellung davon, wie die Generationen zusammenhängen, und Pläne für die Zukunft: »Das Gesellschaftlich-Geschichtliche ist beständig fließende Selbstveränderung und kann doch nur sein, indem es sich zu ›stabilen‹ Gestalten gestaltet, in denen es zur Erscheinung kommt.« 11 Die so verstandene Instituierung der Gesellschaft hat reale Folgen. Jede Gesellschaft formt ihre Einzelnen zu spezifischen Subjekten, teilt sie grundlegend ein, ordnet sie in Schichten, Klassen, Generationen, Geschlechter, richtet deren Aufgaben aus, ja sogar ihr Begehren und ihren Glauben – bis in die Vorstellung eines Lebens nach dem Tod.
A RCHITEK TUR ALS SYMBOLISCHE »G ESTALT« DER G ESELLSCHAF T UND ALS ARTEFAK TISCHES »G EFÜGE « Ist jede Gesellschaft die komplexe Imagination einer nur in Grenzen veränderbaren Identität, so muss sie diese Imagination gezwungenermaßen veranschaulichen. Sie ist angewiesen auf Symbolisches und dessen Träger, das Materielle. »Das Imaginäre muß das Symbolische benutzen, nicht nur um sich ›auszudrücken‹ […], sondern um überhaupt zu
11 | C. Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 347.
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›existieren‹«;12 das Symbolische seinerseits muss sich an das Reale anlehnen, an die Natur und die Geschichte. Ohne eine sicht- und greif bare architektonische Gestalt des Kollektivs ist – aufgrund der Omnipräsenz des Gebauten, aufgrund der Tatsache, dass die Architektur alles andere (andere Medien, andere Dinge, Lebewesen) einfaltet – weder eine kollektiv geteilte Vorstellung denkbar, noch deren Dauer über die Einzelnen hinweg. Weit entfernt davon, eine Gesellschaft nur auszudrücken, ist das Architektonische an ihrer Entstehung grundlegend beteiligt. Die Architektur gibt der Hierarchisierung der Einzelnen sowie ihrer Teilung nach Geschlechtern eine spezifische Gestalt; in ihr etabliert die Gesellschaft ihr Verhältnis zur Natur; in ihrer Bauweise schafft sie sich einen spezifischen Bodenbezug; Eigentumsfragen und die Verortung der Einzelnen sind hiermit verknüpft. Im Medium der Architektur entscheidet ein Kollektiv über die Präsenz seiner Vergangenheit und über den Stellenwert der Tradition. Kurz, (auch) in der Architektur – und nicht ihr vorgängig oder von ihr unabhängig – fixiert sich ein Kollektiv als diese bestimmte Gesellschaft. So ist etwa eine industrielle Massengesellschaft nicht ohne serielle, standardisierte Bauten denkbar; ebenso wenig wie die christlich zentrierte Gesellschaft ohne Kirchen. Bei alldem gilt: Die Architektur ist nicht das einzige jener symbolischer Medien, durch die sich eine Gesellschaft konstituiert – dazu zählen unter anderem auch die Bilder sowie (grundlegend) die Sprache einer Gesellschaft. Doch das Architektonische ist in seiner sozialen Effektivität kaum zu unterschätzen. Denn die sich kontinuierlich selbst verändernde Gesellschaft existiert nur, wenn sie sich zu »stabilen« räumlichen Gestalten ausbildet. In ihrer räumlichen Gestalt »entfaltet« sich die Gesellschaft. »Die Gesellschaft erschafft sich als Figur, das heißt als Verräumlichung, und als Anderssein/Anderswerden dieser Figur; d.h. als Zeitlichkeit«.13 Folgt man dieser Gesellschaftstheorie, so ist jede Gesellschaft (auch) eine architekturvermittelte. Keine ist ohne ihre – je spezifische – Architektur möglich. Was der Einzelne von der Gesellschaft denkt und weiß, denkt und weiß er immer nur in Abhängigkeit von ihrer gebauten Gestalt. Man könnte den Baukörpern als der buchstäblichen, sicht- und greif baren Gestalt der Gesellschaft mithin die Grundlast, den basso continuo in der alltäglichen »soziologischen Imagination« zusprechen. Die Baukör12 | Ebd., S. 218. 13 | Ebd., S. 370.
Architektur als Medium des Sozialen
per begleiten jede Wahrnehmung und jedes Denken mit Bezug auf das Soziale. Sie gilt es bis in das verwendete Material hinein zu untersuchen, da jeder Baustoff seine eigenen Formen, Oberflächen und Affekte mit sich bringt. Gleichzeitig ist es wichtig, die architektonischen Artefakte einzubeziehen: Denn sie umgeben nicht nur die anderen Artefakte und Medien, sondern auch und vor allem die organischen Körper der Menschen, verbinden sich mit ihnen zu Haltungen, Bewegungen und Wahrnehmungen. Insofern sind sie den Interaktionen und Selbstbildern nicht äußerlich. Es gibt keine isolierten Akteure, sondern Netze von Akteuren und Dingen, »Gefüge« (agencements) artifizieller und organischer Körper, die von je spezifischen Diskursen durchquert werden.14 Michel Foucault hat diese »Gefüge« exemplarisch für den Fall der »Disziplinargesellschaften« untersucht, Walter Benjamin für die Konsumarchitekturen des 19. Jahrhunderts, Gilles Deleuze und Félix Guattari für den Fall nomadischer Kollektive und ihres Gegenparts, der territorialstaatlichen Gesellschaften.
G ESELLSCHAF TSANALYSE : D IE SPE ZIFISCHEN A RCHITEK TUREN UNTERSCHIEDLICHER G ESELLSCHAF TEN Die Gesellschaftsanalyse muss ihren Blick auch auf die spezifische Architektur der jeweiligen Gesellschaft (und auf deren Veränderung, deren historische Dimension) richten; welche Architektur eine Gesellschaft »wählt«, entscheidet mit über die Subjekte und die Gesellschaftsform. Jede Gesellschaft erfindet eine spezifische Identität, eine ihr allein zugehörige »Gliederung« der Welt und der Subjekte; dies geschieht immer auch im Medium der architektonischen Dinge und des architektonischen Wissens.15 Mit der konkreten Architektur etabliert sich zunächst eine bestimmte Differenzierung und Klassifikation, die Einteilung und Zuordnung der Einzelnen. Oft werden im Medium der Architektur Geschlechter, Generationen oder Schichten räumlich und visuell getrennt, was Ungleich14 | Vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Kapitalismus und Schizophrenie. Bd. 2: Tausend Plateaus, Berlin: Merve 1992, S. 12-13. Zur Analyse der »Gefüge« vgl. H. Delitz: Gebaute Gesellschaft, Kapitel 2: »Theorie«, S. 83-216. 15 | Vgl. C. Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 252.
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heiten verschärft. Um sich zu konstituieren, müssen Gesellschaften Differenzierungen vornehmen. »Gesellschaft« ist (darauf insistierte schon Durkheim) nur möglich, wenn die »Individuen und die Dinge [...] in verschiedene Gruppen aufgeteilt, also klassifiziert sind«.16 Zudem teilt jede Gesellschaft ihre Zeit ein; sie schafft sich ein Verhältnis zur eigenen Vergangenheit und eine Zukunft. Gerade in dieser Hinsicht sind die architektonischen Veränderungen in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen. Eine Gesellschaft kann sich stets dieselbe bauliche Gestalt geben – oder sich immer wieder Neues vor Augen stellen, eine architektonische Geschichte ihrer selbst erzeugend. Im Zuge der Konservierung und Rekonstruktion von Bauten etabliert sich eine spezifische, selektive Vergangenheit, ein artifizielles »kollektives Gedächtnis«.17 Ebenso instituieren die Bauten einer Gesellschaft die Relation zwischen Mensch und Natur: Ist die Bauweise sichtbar gegennatürlich, oder fügen sich die baulichen Artefakte schon von ihrem Material, ihrer Form und Struktur her in die Natur ein? Die Intensität der Affekte gegenüber den Bauten (Gebäude können, so Le Corbusier über den Parthenon, »schreckliche Maschinen« sein)18 ist entscheidend für die Dauer und Stabilität der Institutionen einer Gesellschaft, für ihre zeitliche Transzendenz sowie für das Gewicht, das sich Einzelne den Institutionen gegenüber zuschreiben. Nicht zuletzt entscheidet sich mit der jeweiligen Bauweise der Bezug des Kollektivs zum Boden – handelt es sich um eine architektonische Eingrabung, um die Fixierung der Bauten in der Erde, oder ist die Gesamtgesellschaft ständig in Bewegung, wozu es spezifischer Bauweisen und Materien bedarf (etwa Zelte aus Filz, Wolle und Leder)? Die Frage nach dem Bodenbezug architektonischer Artefakte ist entscheidend für die Differenzierung nomadischer und sesshafter Gesellschaften, die Deleuze und Guattari in ihrer Analyse vornehmen. Sesshafte Gesellschaften »kerben« den sozialen Raum durch die Errichtung fixer, immobiler Architekturen, während sich nomadische Gesellschaften mitsamt ihrer Architektur über den Boden hinweg bewegen und einen
16 | Durkheim, Émile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 592. 17 | Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart: Enke 1967. 18 | Le Corbusier: Reise nach dem Orient, Zürich: Spur-Verlag 1991, S. 323.
Architektur als Medium des Sozialen
»glatten« Raum schaffen.19 Ob der Boden zu privatem Eigentum erklärt und entsprechend abgegrenzt wird, entscheidet über die Einrichtung spezifischer Wirtschaftsformen wie auch über die Verortung und Klassifizierung der Einzelnen. Grundlegend als »architektonisch« zu definieren sind (jenseits aller ästhetischen und normativen Definitionen) all jene Artefakte, die das Territorium »separieren«, den Raum aufteilen, »Intervalle« in ihn einbringen und so einen bestimmten Rahmen für Interaktionen und Perzeptionen schaffen. Die architektonischen Artefakte etablieren ein je spezifisches Bild des Kollektivs, sie »möblieren« das Territorium, sind der permanent visuelle und haptische Aspekt des Sozialen.20 Die Architektur greift auf zahlreichen Ebenen in die Konstitution der »imaginär instituierten Gesellschaft« ein. Castoriadis spricht von einem letzten Bedeutungshorizont, einem zentralen gesellschaftlichen Imaginären, einem integrierenden Prinzip, das gleich einem schwarzen Loch alle anderen Deutungen einer Gesellschaft krümmt. Er spricht von dem »unsichtbare[n] Zement, der den ungeheueren Plunder des Realen, Rationalen und Symbolischen zusammenhält, aus dem sich jede Gesellschaft zusammensetzt«.21 Eine derart zentrale Bedeutung hatte Gott für die mittelalterlichen Gesellschaften. Eine Gesellschaft, die sich um Gott als imaginäre Größe zentriert und sich selbst mit ihr identifiziert, ist nicht denkbar ohne Kathedralen: Die Kirche ist für eine solche Gesellschaft das höchste und erste Haus am Platz. Die mittelalterlichen Gesellschaften zentrierten sich in vielerlei Hinsicht (finanziell, handwerklich, politisch und moralisch) um den Bau der Kathedralen; und sie konnten sich vermutlich nur in diesem Medium, nur angesichts der Sakralarchitektur und der mit ihrer Errichtung verbundenen gemeinsamen Anstrengungen, als Gesellschaft konstituieren.22 Ebenso wenig wie eine mittelalterliche Gesellschaft ohne Kathedralen, ist eine Gesellschaft, die sich um das zentrale Imaginäre der 19 | Vgl. G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, Kapitel 12: »Abhandlung über Nomadologie: Die Kriegsmaschine«, S. 481-586, sowie Kapitel 14: »Das Glatte und das Gekerbte«, S. 657-694. 20 | Vgl. Cache, Bernard: Earth Moves: The Furnishing of Territories, Cambridge: MIT Press 2005. 21 | C. Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 246. 22 | So das Ergebnis der Analyse von Warnke, Martin: Bau und Überbau. Soziologie der mittelalterlichen Architektur nach den Schriftquellen, Frankfurt a.M.: Syndikat 1976.
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»Pseudo-Rationalität« zentriert (so Castoriadis über die Moderne),23 ohne dezidiert ornamentfreie, nüchterne, serielle, »rationale« architektonische Gestalten denkbar, wie sie die klassische Moderne erfand.24
E IN ARCHITEK TURSOZIOLOGISCHES TABLE AU Es ist unübersehbar, dass sich nicht nur im diachronen und synchronen Vergleich der Gesellschaften, sondern auch innerhalb einer Gesellschaft sehr unterschiedliche Architekturen finden. Gleichwohl stehen sich die Architekturen mancher Gesellschaften regelrecht konträr gegenüber. So unterscheiden sich sesshafte und nomadische Gesellschaften nicht nur durch ihre Kollektive und ihre Subjektformen, sondern auch durch ihre in jeder Hinsicht differenten Architekturen, beginnend mit dem Material, das je eigene Affekt- und Symbolpotenziale mit sich bringt. Derart konträre Fälle bieten sich an für ein Tableau gesellschaftlicher Architekturen; denn die architektonischen Möglichkeiten mögen vielfältig sein – unendlich different sind sie nicht. Vielmehr siedelt sich die Vielfalt der konkreten Architekturen zwischen divergenten Vektoren an (Differenzierung und Klassifikation; Affektivität; Boden- und Naturbezug; Bezug zu Geschichte und Tradition). Nicht jedes Potenzial der Architektur wird von jeder Gesellschaft genutzt. Kollektive können sich gegen das affektive Potenzial der Architektur oder die architektonische Differenzierung gesellschaftlicher Gruppen aussprechen: die kashim beispielsweise, die Männerhäuser der Inuit, sind von außen gesehen »nichtssagende Erdhügel« – sie wollen keine Bewunderung erheischen, sind affektiv neutral; ähnlich verhält es sich mit den Zelten der Tuareg, die einander gleichen und keinerlei Ornamente aufweisen, nichts, was ihre Besitzer gegenüber anderen hervor-
23 | C. Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 268: »Die moderne Pseudo-Rationalität ist eine geschichtliche Gestalt des Imaginären. Ihre letzten Ziele unterliegen keiner Vernunft und sind daher willkürlich [...].« 24 | Für eine Analyse der Überraschungseffekte, die diese neuen architektonischen Gestalten und ihre Lebensräume zu ihrer Zeit auslösten, vgl. H. Delitz: Gebaute Gesellschaft, Kapitel 3: »Studien«, S. 217-316.
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heben würde.25 Gesellschaften können ferner das kreative Potenzial der Architektur ablehnen, indem sie sich, wie beispielsweise die Kabylen, 26 stets dieselbe bauliche Gestalt geben. Aus solchen Vektoren ließe sich ein nicht-evolutionistisches kulturenvergleichendes Tableau erstellen, das davon ausgeht, dass keine Gesellschaft in Bezug auf ihre Architektur »archaisch« oder »primitiv« ist. Vielmehr würde ein solches Tableau jede konkrete Architektur, und sei sie noch so einfach, als notwendig für die Existenzweise gerade dieser Gesellschaft erachten. Als Ausgangspunkt hierfür soll im Folgenden der architektonische Bodenbezug dienen – die Art und Weise, wie sich die Bauten auf die Erde beziehen, wie sie das Territorium separieren und aufteilen. Folgen wir Bernard Cache, so definieren sich architektonische Artefakte und Aktivitäten grundlegend über den Bodenbezug.27 Mit der jeweiligen »Möblierung des Territoriums« sind das Natur- und Technikverhältnis sowie die Komplexität des Kollektivs tendenziell vorbestimmt; ebenso die Eigentumsverhältnisse und damit die Art und Weise, in welcher die Einzelnen klassifiziert und individualisiert werden. Untersucht man differente Bodenbezüge, so hat man es nicht allein mit unterschiedlichen »Siedlungsweisen« zu tun. Divergieren die Architekturen – ihre Materialität, die zu ihrer Errichtung nötigen Techniken, die Perzeptionen und Affekte, die die architektonischen Artefakte schaffen –, so divergiert auch die Gestalt des Kollektivs und dieses selbst. Geht man also vom Bezug zur Erde aus, den die Kollektive wählen – mit diesem sind die architektonischen und sozialen Möglichkeiten vorbestimmt –, so drängen sich vier »umgekehrt symmetrische« ArchitekturGesellschafts-Konstellationen auf,28 die sich in manchem überschneiden 25 | Vgl. Delitz, Heike: »›Die zweite Haut des Nomaden‹. Zur sozialen Effektivität nicht-moderner Architekturen«, in: P. Trebsche/N. Müller-Scheeßel/S. Reinhold (Hg.), Der gebaute Raum, S. 83-106. 26 | Vgl. Maunier, René: La construction collective de la maison en Kabylie. Étude sur la coopération économique chez les Berbères du Djurjura, Paris: Institut d’Ethnologie 1926. 27 | Vgl. B. Cache: Earth Moves. 28 | »Umgekehrt symmetrisch« ist ein Begriff der strukturalen Analyse, des nicht-evolutionistischen Gesellschaftsvergleichs (vgl. etwa C. Lévi-Strauss: Das wilde Denken, S. 38ff., 47). Neben Lévi-Strauss folgt das Tableau methodisch Descola, Philippe: Jenseits von Natur und Kultur, Berlin: Suhrkamp 2011.
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mögen, in zentralen Punkten jedoch divergent sind: Wir selbst, die westlich geprägte Gesellschaft, leben (1) überwiegend in »Gesellschaften der Städte«, in urbanen, infrastrukturierten, baulich fixierten Kollektiven. Dies haben wir mit den allerersten urbanen Gesellschaften (Çatal Höyük, Uruk) gemeinsam. Konträr dazu erscheinen in vielerlei Hinsicht die nomadischen Kollektive, (2) »Gesellschaften der Zelte«, die sich gesamtgesellschaftlich bewegen, mitsamt aller Menschen und Nichtmenschen, aller Artefakte – ja, selbst der Götter. Hinzu kommen Kollektive, die sich (3) im Medium der Architektur systematisch zerstreuen, nichturbane, gleichwohl sesshafte Kollektive, die in Tropenwäldern und Savannen leben. Schließlich gibt es den Fall von (4) buchstäblich sich »eingrabenden« Kollektiven, als Beispiel mag die Bauweise des Yaodong im zentralchinesischen Lössland dienen, die unserem Hochbau konträr ist, aber (im Unterschied zu Typ 2 und 3) ähnlich dicht erscheint. Im Folgenden kann das Tableau allenfalls skizziert werden; es soll deutlich werden, wie unterschiedlich die Architekturen und damit die Gesellschaften sind. Abb. 1, Entwurf einer »Stadt der Gegenwart«.
Quelle: Le Corbusier: Städtebau, hg. u. übers. v. Hans Hildebrandt, Stuttgart/ Berlin/Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt 1929, Einlage.
(1) Gesellschaften der Städte, fixierte, infrastrukturierte Gesellschaften: Sesshafte, städtische Gesellschaften mit ihrer undurchschaubaren Menge an gebauten Artefakten und ihren Infrastrukturen sind gegennatürliche Gesellschaften mit einem affirmativen Verhältnis zur Technik (Abb. 1). Mit den zahlreichen und verhältnismäßig großen Artefakten geht eine Steigerung des Eindrucks einher: sie bilden die anschauliche Basis für hoch institutionalisierte Machtverhältnisse und für eine zunehmend funktionale Differenzierung des Sozialen. Nun gibt es viele städtische Gesellschaften;
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und vor allem haben sie eine lange Geschichte. Die ersten städtischen Gesellschaften weisen in mancher Hinsicht – trotz aller Fremdheit – große Ähnlichkeiten zu unseren auf; an ihnen können die grundlegenden Prinzipien städtischer beziehungsweise infrastrukturierter Vergesellschaftung nachvollzogen werden: die Fixierung von Bauten im Boden mit der entsprechenden lokalisierenden Einteilung der Einzelnen; die Zentrierung des Sozialen, die Komplexität der Bauten; die (in der mehrstöckigen Anlage) sichtbare Einführung von Differenzen und Hierarchien; die tendenziell funktionale Differenzierung des Kollektivs; die Abgrenzung gegenüber der Natur, das artifizielle Selbstverständnis des Kollektivs und das affirmative Verhältnis zur Technik; die bauliche Erzeugung von Geschichte.29 Gleichwohl muss den ersten städtischen Gesellschaften eine Eigenlogik zugestanden werden, die sie von den modernen städtischen Gesellschaften unterscheidet. Die in Anatolien gelegene Stadt Çatal Höyük beispielsweise, an deren Ausgrabung seit 1961 gearbeitet wird und die 7.300 bis 6.100 Jahre vor unserer Zeit zeitweilig von 10.000 Menschen bewohnt wurde,30 hat eine in unseren Augen merkwürdig komplexe, dichte Gestalt: Die Häuser sind ohne Straßen direkt aneinander gebaut, die städtische Infrastruktur fiel also mit den einzelnen Häusern zusammen. Dennoch bildeten die Häuser autonome Einheiten, es wurde in allen Häusern zugleich und gleichermaßen produziert und konsumiert. Im Inneren der Häuser finden sich Kultarchitekturen, Lehmwülste mit eingearbeiteten Tier- und Menschenknochen, Gräber und Wandmalereien, die wilde Tiere zeigen, obgleich man Tiere und Pflanzen kultivierte. Offenbar hat sich hier, im Medium dieser Architektur, eine erste zwar individualisierte, doch bewusst homogene, also wenig hierarchische Gesellschaft eingerichtet; eine Gesellschaft, die, indem sie den Ahnen innerhalb der Häuser einen Platz einräumte, ihre Einzelnen baulich verortete und deren »Geschichte« erzählte.31 Die Bautypen sind nicht funktional differenziert; das Haus allein ist in seinem verborgenen Inneren Friedhof und 29 | Vgl. Eßbach, Wolfgang: »Die Gemeinschaft der Güter und die Soziologie der Artefakte«, in: Ders., Die Gesellschaft der Dinge, Menschen, Götter, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S. 75-85. 30 | Vgl. Hodder, Ian: The Leopard’s Tale: Revealing the Mysteries of Çatalhöyük, London: Thames & Hudson 2006. 31 | Vgl. Hodder, Ian/Pels, Peter: »History Houses: A New Interpretation of Architectural Elaboration at Çatalhöyük«, in: Ian Hodder (Hg.), Religion in the Emer-
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Wohnraum, Ritual- und Produktionszentrum. Die Tatsache, dass permanent umgebaut wurde, weist darauf hin, dass die Gestalt des Kollektivs in ständiger Bewegung begriffen war; allerdings wurde nicht anderswo neu begonnen, sondern man nutzte, eine Kontinuität und Homogenität des Sozialen schaffend, die Fundamente der alten Häuser als Sockel für den Neubau. Unsere westliche Gesellschaft lässt sich diesem ersten Typ der grundlegend städtischen, infrastrukturierten Gesellschaft zuordnen. Ihre Spezifik wird schon im Vergleich zu den uns fremden städtischen Gesellschaften deutlich, richtig greifbar wird sie jedoch erst im Kontrast zu den anderen Typen, namentlich zur nomadischen Gesellschaft. Die Architektur unserer Gesellschaft zeichnet sich durch ein hohes Maß an gebauter Infrastruktur aus, durch eine komplexe funktionale Differenzierung, ein ästhetisches Verhältnis zur Natur, durch die spezielle, kontingenzbewusste Haltung der Moderne und die Vorstellung, Gesellschaft sei architektonisch machbar. Anders als in Çatal Höyük ist die funktionale Differenzierung der Bauten und Räume in unseren Städten entscheidend; ebenso die Etablierung einer Infrastruktur, die weit komplexere Kollektive erlaubt; zudem der Zug zum Neuen, das durch die Architektur veranschaulichte Anderswerden der Gesellschaft bei der gleichzeitigen Herstellung und Rekonstruktion einer spezifischen Geschichte; ferner die Säkularisierung und Technisierung der Gesellschaft. Komplementär und konträr stehen sich hierzulande aktuell drei prägnante architektonische Bewegungen gegenüber: die der Konstruktion, die der Rekonstruktion und die der Innovation. Im Weiterbau an der Moderne wird das kontingenzbewusste, artifizielle Selbstverständnis weiterhin etabliert; im Wiederauf bau von Gebäuden aus dem 18. und 19. Jahrhundert beugt sich das Kollektiv über die eigene (bürgerliche) Herkunft und eine Zeit, aus der die Grundprinzipien unserer Vergesellschaftung stammen;32 in der »Innovation« vollzieht sich die Öffnung nach vorne, das Neue als solches suchend, mit einem ebenso provokativen wie dynamischen Zug.
gence of Civilization: Çatalhöyük as a Case Study, Cambridge: Cambridge University Press 2010, S. 163-186. 32 | Vgl. Fischer, Joachim: »Rekonstruktivismus als soziale Bewegung. Die revolutionäre Rückkehr der okzidentalen Stadt«, in: Geographische Revue 14 (2012), H. 1, S. 27-42.
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Abb. 2, Tuareg-Zelt.
Quelle: Rudofsky, Bernard: Architektur ohne Architekten. Eine Einführung in die anonyme Architektur, Salzburg: Residenz 1989, Abb. 47.
(2) Gesellschaften der Zelte, nomadische Kollektive, Kollektive in Bewegung: Nomadische Gesellschaften funktionieren grundsätzlich anders als sesshafte, infrastrukturierte, städtische Gesellschaften; sie haben andere Architekturen, andere Politiken, andere Werte, andere Subjekte.33 So ist etwa die Gesellschaft der Tuareg, Nomaden der Sahara, die Tiere züchten und mit Salz und Datteln handeln, ohne die leichte, bewegliche, genähte Architektur der Zelte nicht denkbar (Abb. 2). Das Material, aneinander genähte Ziegenhäute, nimmt kaum akustische Trennungen vor; es beeinflusst insofern die Wahrnehmung und die tägliche Interaktion zwischen Geschlechtern und Generationen wie auch zwischen Mensch und Tier. Die fehlende Intimität führt zu einer umso strikteren Geschlechtertrennung im Inneren der Zelte. Die Zelte geben dem Kollektiv eine spezifische Gestalt: Sie sind einstöckig, untereinander nicht weiter differenziert und kaum verziert, also nicht affektiv gestaltet. Interessanterweise orientiert sich die politische Imagination der Tuareg begrifflich sehr eng an den Zelten, die Imagination des Stammesverbundes folgt ihrer visuel33 | Vgl. H. Delitz: »›Die zweite Haut des Nomaden‹«.
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len und konstruktiven Gestalt: So wie jede (Rand-)Stütze dieselbe Länge aufweist und dasselbe Gewicht trägt, ist der Verbund wenig hierarchisch organisiert und jeder Stamm in ihm gleichberechtigt. Als politische Begriffe dienen architektonische Lemmata. Mit dieser Architektur geht ein spezifisches Verhältnis zu anderen Kulturen wie auch ein spezifisches Verständnis des Religiösen einher. Die ständige Bewegung, welche die Zelte und die Reittiere instituieren, schafft einen sozialen Raum, in dem Grenzen entscheidender sind als Zentren – Grenzen wohlgemerkt, die sich beständig verändern. Als ebenso veränderlich gilt die soziale Position des Einzelnen (trotz der strikten stratifikatorischen Differenzierung). Die gesamtgesellschaftliche Bewegung bringt nicht nur eine spezifische Innenpolitik mit sich, sondern auch eine spezifische Außenpolitik: Die schnelle Bewegung ist die Grundlage einer ständigen, gesellschaftskonstitutiven »Kultur des Krieges«, einer ständigen Zerstreuung gegenüber jeder territorialstaatlichen Politik mit ihrem immanenten Trend zu zentral organisierten, größeren Einheiten.34 Diese auf eine spezifische Architektur angewiesene nomadische Gesellschaft ist keine »Vorstufe« zur sesshaften Vergesellschaftung. Vielmehr zeigt sie strukturelle gesellschaftliche Möglichkeiten auf, die untrennbar sind von einer spezifischen Architektur. (3) Sesshafte, nicht urbane Gesellschaften, residenzieller Atomismus: Weder nomadisch noch urban sind die Gesellschaften der Savannen und Tropenwälder. Ihre Häuser sind zwar verstreut, folgen jedoch einer strikten Anordnung zueinander und zum Fluss; meist sind sie kreisförmig um einen dominanten Bautyp angeordnet (um das Männerhaus beispielsweise oder das meeting-house). Axiale Linien, die den Raum aufteilen und die Bewohner voneinander trennen, konstituieren exogam mitein-
34 | Vgl. grundlegend G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, Kapitel 12: »Abhandlung über Nomadologie: Die Kriegsmaschine«, S. 481-586, und H. Delitz: »›Die zweite Haut des Nomaden‹«. Zur »Kultur des Krieges« bei den Tuareg vgl. Claudot-Hawad, Hélène: Éperonner le monde. Nomadisme, cosmos et politique chez les Touaregs, Aix-en-Provence: Édisud 2001, und Klute, Georg: »Kleinkrieg in der Wüste. Nomadische Kriegsführung und die ›Kultur des Krieges‹ bei den Tuareg«, in: Thomas Jäger (Hg.), Die Komplexität der Kriege, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 188-220.
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Abb. 3, Achuar-Haus.
Quelle: Descola, Philippe: La nature domestique. Symbolisme et praxis dans l’écologie des Achuar, Paris: Maison des sciences de l’homme 1986, Buchcover.
ander verbundene Verwandschaftsgruppen.35 Auch die Abstände zwischen den Dörfern sind streng vorgeschrieben. Die Architektur gibt dieser Gesellschaft eine dezidiert nicht-artifizielle Gestalt: Natur und Kultur sind eng verbunden, für den Bau werden Materialien aus dem umgebenden Welt verwendet (Abb. 3). Man hat es hier mit einer Gesellschaft zu tun, die – so Philippe Descola über die peruanischen Achuar – einen »residenziellen Atomismus«36 etabliert: Indem sie einer Logik der Zerstreuung folgt, stehe sie nahezu am »Nullgrad sozialer Integration«.37 Mit Mitteln der Architektur (und durch die »Kultur des Krieges«) werden die Kollektive bewusst klein gehalten; es handelt sich um gegenstaatliche Gesellschaften. Das Haus gilt jeweils als unabhängiges und singuläres Zentrum der Welt. Obgleich es – im Sinne der Zerstreuung – regelmäßig verlassen und andernorts neu errichtet wird, konstituiert es (so Descola) 35 | Vgl. exemplarisch Lévi-Strauss, Claude: »Contribution à l’étude de l’organisation sociale des Indiens Bororo«, in: Journal de la Société des Américanistes 28 (1936), S. 269-304. 36 | P. Descola: La nature domestique, S. 19 [Übersetzung H. D.]. 37 | Ebd.
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den einzigen Stabilitätsfaktor der Gesellschaft, den Ausgangspunkt der Imagination sozialen Zusammenhalts.38 Die Bauten haben daher eine zeremonielle Bedeutung, mitunter werden sie bis in die Baustoffe hinein als belebt verstanden. Die nordamerikanischen Tlingit beispielsweise leben mit der Vorstellung, »daß alles im Haus spricht, daß die Geister mit den Pfosten und Balken des Hauses sprechen, daß die letzteren selbst sprechen und daß auf diese Weise zwischen den totemistischen Tieren, den Geistern und den Menschen und Dingen des Hauses Dialoge geführt werden«.39 Ihre Definition, wer oder was als socius, als »Gefährte«, als Gesellschaftsmitglied gilt, ist anders gefasst als unsere: Sie inkludiert das Haus. Gesellschaften dieses Typs erfassen so gesehen die soziale Bedeutung der Architektur vollständiger als wir »Modernen«. Abb. 4, Yaodong, Zentralchina.
Quelle: Castell, Wulf Diether Graf zu: Chinaflug. Als Pionier der Lufthansa im Reich der Mitte 1933–1936, Berlin/Zürich: Atlantis 1938, S. 51. 38 | Vgl. ebd., S. 22. 39 | Mauss, Marcel: »Die Gabe. Funktion und Form des Austauschs in archaischen Gesellschaften«, in: Ders., Soziologie und Anthropologie, Frankfurt a.M.: Fischer 1989, Bd. 2, S. 9-144, hier S. 86f.
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(4) Maisons creusées, eingegrabene Gesellschaften: Noch eine Möglichkeit gibt es, sich im Medium der Architektur auf den Boden zu beziehen. »Kein Haus in Sicht, sieht man nur rauchende Felder«, schreibt George Cressey 1955 über jene bemerkenswerte Architektur Zentralchinas: das Yaodong, die Technik des vertikalen Eingrabens, die im chinesischen Lössland am Gelben Fluss praktiziert wurde (Abb. 4).40 Sechs Meter unter der Oberfläche ordnen sich um einen offenen Hof unterirdische Lebensräume einer Familie an, die nur durch eine Rampe mit der Außenwelt verbunden sind. Für diese Architektur gibt es wenig adäquate Bezeichnungen: es handelt sich nicht um Höhlen, sondern um artifizielle Architekturen in streng kodifizierter, rechteckiger Form – Architektur qua Subtraktion. Von oben betrachtet ergeben diese ein regelrechtes Muster der Gesellschaft und zugleich geben sie ihr eine merkwürdige Nicht-Gestalt; denn diese Architekturen heben sich nicht aus dem Boden hervor, jegliche soziale Differenzierungen bleiben verborgen, der Sichtbarkeit entzogen. Die »Gebäude« sind alle gleich; die unterirdischen Fassaden nach innen gewendet, in den Raum der Familie. In diesen maisons creusées isoliert sich die Familie, auf Intimität bedacht – ein zentraler Wert der traditionellen chinesischen Gesellschaft. All dies steht im Gegensatz zu unserem Hochbau mit seiner sichtbaren räumlichen Komplexität. Die Eingrabung etabliert zudem ein spezielles Verhältnis von Kultur und Natur – es ist kaum zu sagen, wo diese endet und jene beginnt. Die Anlage der Häuser, das Material und die Verteilung der Räume sind eng mit der chinesischen Kosmologie verknüpft, gemäß der sich die Gesellschaft in der Welt verortet und gemäß der sie die sozialen Positionen der Einzelnen bestimmt und legitimiert. Der zentrale, in die Erde gegrabene Hof wird »Schacht des Himmels« genannt, denn in der chinesischen Kosmologie strukturieren die Elemente Himmel und Erde die Welt.41 Das Yaodong ist 40 | Cressey, George B.: Land of the 500 Million: A Geography of China, New York: McGraw-Hill 1955, S. 263 [Übersetzung H. D.]. Vgl. zum Yaodong Loubes, JeanPaul: Maisons creusées du Fleuve Jaune. L’architecture troglodytique en Chine, Paris: Ed. Créaphis 1988. 41 | Zur traditionellen chinesischen Gesellschaft vgl. die Studien Marcel Granets; zum rituellen und kosmologischen Bezug auf die Erde besonders instruktiv: Granet, Marcel: »Le dépôt de l’enfant sur le sol. Rites anciens et ordalies mythiques«, in: Ders., Études sociologiques sur la Chine, Paris: Presses Universitaires de France 1953, S. 159-202.
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kein nebensächliches Phänomen. Es findet sich in dem für die kollektive Identität Chinas entscheidenden Gebiet am Gelben Fluss; eben dort liegt auch die berühmte Terrakotta-Armee, das Grab des Gründers des ersten geeinten Chinas. Die Importe westlicher Architektur führen, auch hier, zu irreversiblen Transformationen: Sie geben der Gesellschaft eine neue Gestalt, die ihre imaginäre Institution und ihre Subjekte nicht unberührt lassen wird.42
R EPRISE So verschieden die Architekturen sind, so verschieden sind die Gesellschaften. Auch andere symbolische Medien und deren Materien (Texte, Bilder, Rituale) spielen in diese Differenz hinein, andere Bereiche und Formen des Wissens (Mythologien, Rationalisierungen), andere Aktivitäten als die architektonische (ökonomische, ökologische, politische, familiale, und so weiter). Doch im Sozialen ist alles mit allem verknüpft, die Bauten stehen und sprechen nie für sich allein. Durch sie präsentieren sich die Kollektive ihren Einzelnen als die Gesellschaft, die sie sind und sein wollen: als städtische, komplexe, funktional differenzierte und individualisierte Gesellschaft beispielsweise; oder als nomadische Gesellschaft, die sich in räumlicher und sozialer Hinsicht in permanenter Bewegung befindet; oder als Gesellschaft mit zentripetalem Mechanismus, die sich (im kollektiven Unbewussten) »absichtlich« 43 architektonisch zerstreut; oder als »eingegrabene« Gesellschaft, deren Architektur einer 42 | Vgl. dazu ausführlicher Delitz, Heike: »Yao Dong: Die sich eingrabende Architektur und Gesellschaft in Zentralchina«, in: Oliver Berli/Julia Reuter (Hg.), Dinge befremden. Essays zu materieller Kultur, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2015, im Druck. Andeutungen mit Bezug auf das Yaodong finden sich auch bei Hernig, Marcus: China. Ein Länderporträt, Berlin: Links 2012. 43 | Vgl. zur (strukturalistischen) Denkfigur der kollektiv unbewussten »Absicht« oder Entscheidung Clastres, Pierre: »Die Gesellschaft gegen den Staat«, in: Ders., Staatsfeinde. Studien zur politischen Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 179-209, und Richir, Marc: »Quelques réflexions épistémologiques préliminaires sur le concept de Société contre l’État«, in: Miquel Abensour (Hg.), L’esprit des lois sauvages. Pierre Clastres ou une nouvelle anthropologie politique, Paris: Ed. du Seuil 1987, S. 61-71.
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spezifischen Kosmologie entspricht. Ohne räumliche Strukturen und die symbolischen Gestalten ihrer Architekturen sind Gesellschaften weder vorstellbar, noch existent. Hat man ein Tableau mit divergenten Architektur-GesellschaftsKonstellationen erstellt, so lassen sich prinzipiell alle Gesellschaften einschließlich ihrer architektonischen Transformationen verorten. Das Tableau ist gesellschaftsanalytisch angelegt, es ermöglicht im kontrastiven Vergleich unterschiedlicher Gesellschaftstypen und Bauweisen Antworten auf die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben. Der Architektursoziologie geht es insgesamt darum, aufzuzeigen, wie tief die gesellschaftliche Bedeutung der Architektur reicht, inwiefern die Architektur als Kulturtechnik zur Konstitution einer Gesellschaft beiträgt und welche unerwarteten Bewegungen gerade eine auf das Neue, auf Innovation angelegte Gesellschaft in ihren Bauten vollzieht. Darüber hinaus kann es der Architektursoziologie ein Anliegen sein, die Transformationen, die der Export der eigenen Architektur in anderen Gesellschaften auslöst, (kritisch) zu analysieren.
L ITER ATUR Cache, Bernard: Earth Moves: The Furnishing of Territories, Cambridge: MIT Press 2005. Castell, Wulf Diether Graf zu: Chinaflug. Als Pionier der Lufthansa im Reich der Mitte 1933–1936, Berlin/Zürich: Atlantis 1938. Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984. Clastres, Pierre: »Die Gesellschaft gegen den Staat«, in: Ders., Staatsfeinde. Studien zur politischen Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 179-209. Claudot-Hawad, Hélène: Éperonner le monde. Nomadisme, cosmos et politique chez les Touaregs, Aix-en-Provence: Édisud 2001. Cressey, George B.: Land of the 500 Million: A Geography of China, New York: McGraw-Hill 1955. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Kapitalismus und Schizophrenie. Bd. 2: Tausend Plateaus, Berlin: Merve 1992. Delitz, Heike: Bergson-Effekte. Aversionen und Attraktionen im französischen soziologischen Denken, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2015.
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Schäfers, Bernhard: Soziologie der Architektur und der Stadt. Bd. 1: Architektursoziologie. Grundlagen – Epochen – Themen, zweite, durchgesehene Auflage, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006. Trebsche, Peter/Müller-Scheeßel, Nils/Reinhold, Sabine (Hg.): Der gebaute Raum. Bausteine einer Architektursoziologie vormoderner Architekturen, Münster u.a.: Waxmann 2010. Warnke, Martin: Bau und Überbau. Soziologie der mittelalterlichen Architektur nach den Schriftquellen, Frankfurt a.M.: Syndikat 1976.
Musik-, Theater- und Tanzwissenschaft
Hausmusik
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Susanne Fontaine
Im Begriff »Hausmusik« scheint der Bezug zwischen Architektur und Musik evident. Er erweist sich jedoch als immer weniger eindeutig, je genauer man hinsieht. Weder ist die Vorstellung des »Hauses« eindeutig, wenn sie denn überhaupt reflektiert wird, noch ist das musikalische Repertoire klar definiert. Überdies geht es um mehr als Musik und den Raum, in dem sie gespielt wird. Seit dem 19. Jahrhundert ist der Diskurs über Hausmusik ein Ort ideologischer Debatten, die diese Form der Musikausübung spätestens nach 1968 in Verruf gebracht haben: Hausmusik ist nicht nur Hausmusik. Seitdem sich häusliches Musizieren nicht mehr von selbst versteht, gilt die Pflege von Hausmusik nicht nur als etwas Vergnügliches, sondern als etwas Auszeichnendes: wer Hausmusik treibt, gehört zur geistigen (teilweise im Gegensatz zur gesellschaftlichen) Elite, die die höheren Werte, die ewigen, wie sich versteht, nicht nur schätzt, sondern ihnen ›dient‹. Darüber hinaus pflegt der Hausmusiker das deutsche Gemüt; und da das Gemüt eben 1 | Der vorliegende Text basiert auf einem Vortrag der Autorin im Rahmen der Ringvorlesung »Durchlöcherte Tradition«, die im Wintersemester 2013/2014 an der Universität der Künste stattfand. Er führt Gedanken aus zwei Aufsätzen weiter: Fontaine, Susanne: »Gebaute Palimpseste. Dahlem und das Haus von Peter Behrens für Theodor und Marie Wiegand«, in: Dörte Schmidt/Cordula HeymannWentzel/Matthias Pasdzierny (Hg.), Traveling Sounds. Dokumentation zum 6. Berliner Salon des Leo-Baeck-Instituts am 29. April 2009, Berlin: Universität der Künste 2009, S. 60-86; Dies.: »Keine Kindersache. Literarische Zeugnisse als Zugang zu einer kulturellen Praxis«, in: Caroline Roeder (Hg.), Blechtrommeln – Kinder- und Jugendliteratur & Musik, München: Kopaed 2012, S. 117-128.
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etwas den Deutschen Auszeichnendes ist, darf er sich als besseren Deutschen, als Bewahrer deutscher Innerlichkeit, fühlen. […] Er ist sich seiner höheren Kulturstufe und seiner Sendung voll bewußt. 2
Über den engen Bezug zwischen der Musik und den Orten, für die sie geschrieben wurde oder in denen sie aufgeführt wurde, geben von jeher viele Bezeichnungen Aufschluss.3 Auch die traditionelle Einteilung der Musik als Kirchen-, Theater- oder Kammermusik greift auf den Aufführungsort zurück, um jeweils an ihm angemessene stilistische Merkmale festzumachen.4 Bezeichnungen wie »Hausmusik« oder »Salonmusik« setzen reale Aufführungsräume in Bezug zur Faktur von Kompositionen und ihrer Aufführungspraxis, zu ästhetischen wie sozialen Räumen. Der Begriff »Hausmusik« ist heikel, denn er meint mehr als den Bezug zwischen einem Gebäudetyp und seiner musikalischen Nutzung. Er konnotiert eine soziale Ansiedlung im Übergangsgebiet zwischen Adel und Bürgertum, eine konservative Einstellung seiner Trägerschicht, verbunden mit einer elitären Praxis, so wie sie Pierre Bourdieu als Inbegriff von bürgerlichem Distinktionsverhalten beschrieben hat.5 Vor diesem Hintergrund wird der Begriff »Hausmusik« oft wertend verwendet: Einerseits aus politisch wie ästhetisch konservativer Position heraus als positiver Gegenentwurf zum jeweils gegenwärtigen Kulturverfall, aus progressiv sich verstehender Perspektive heraus als prätentiöse und gesellschaftlichen Ausschluss betreibende kulturelle Praxis. Ihren Hautgout verdankt die Hausmusik einerseits dem Schillern zwischen ihrer Defizienz zulassenden Ausführung durch Amateure und dem hohen Sozialprestige einer solchen Praxis, das durch diese Unzulänglichkeiten nicht gemindert wird. Andererseits hat vor allem die nationalsozialistische Vereinnah2 | Stephan, Rudolf: »Überlegungen zur Funktion der Hausmusik heute«, in: Ders. (Hg.), Über das Musikleben der Gegenwart. Sieben Beiträge, Berlin: Merseburger 1968, S. 26-38, hier S. 32. 3 | Man denke z.B. an die Begriffe »Chor« und »Orchester«, die zunächst den Ort, danach die an ihm positionierten Ensembles bezeichneten. 4 | Eigens gebaute Konzertsäle für Orchester- oder Kammerkonzerte gab es zunächst nicht, sodass diese Klassifikation aus dem 18. Jahrhundert alle (Kunst-) Musik abdeckt. 5 | Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, insb. S. 134.
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mung die Hausmusik verdächtig gemacht. Um das Phänomen »Hausmusik« unter der Fragestellung nach der solchermaßen bezeichneten Musik und den Gebäuden beziehungsweise Räumen, in denen sie gespielt und gehört wurde, zu diskutieren, ist zunächst ein terminologischer Exkurs notwendig. Sodann werden Quellen zu dieser ephemeren musikalischen Praxis befragt, die sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht explizit mit den Gebäuden und Räumen befassen, in denen Hausmusik gepflegt wurde. In den meisten vorgestellten Bild- und Textquellen werden eigentlich andere Dinge verhandelt, sodass sie gegen den Strich gelesen werden müssen, um über die Frage der Beziehung von Hausmusik und Architektur Auskunft geben zu können.
Z UR TERMINOLOGIE Ähnliche, allerdings mit dem Begriff »Hausmusik« nicht synonyme Bezeichnungen lauten »Kammermusik«, »Salonmusik«, »Spielmusik« und, mit letzterer oft synonym verwendet, »Gemeinschaftsmusik«. Einige von ihnen geben jeweils den Ort des Musizierens an und sagen damit implizit auch etwas über das Repertoire und seinen ästhetischen Anspruch sowie über die spielend beteiligten Personen aus. Als frühester Nachweis des Begriffs gilt Bartholomäus Gesius’ 1605 in Wittenberg erschienene, vierstimmige Christliche Hauß und Tisch Musica. Darin sehr schöne Gesänge des H. Paschasij Reinicken, durch den Catechismum D. Mart. Lutheri, auf alle Tag […] zu singen, eine Publikation, die das Haus neben Schule und Kirche als Ort der Verkündigung nennt.6 Bereits hier wird festgeschrieben, dass Hausmusik (auch) von Amateuren betrieben wird, und zwar als generationsübergreifende Praxis von Familienangehörigen und Freunden, die nicht auf den Adel festgelegt ist und in einem Rahmen gepflegt wird, den man heute als privat bezeichnen würde. »Kammermusik« ist ein verwandter Begriff, bezieht sich jedoch zunächst einmal auf die europäische Adelskultur. Der Begriff bezeichnete in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Musik, die weder für die Opernbühne noch 6 | Vgl. Busch-Salmen, Gabriele: »Hausmusik«, in: Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, zweite, neubearbeitete Ausgabe, Kassel u.a.: Bärenreiter u.a. 1996, Sachteil, Bd. 4, Sp. 227-235, hier Sp. 228f.
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für den Gebrauch in der Kirche gedacht war.7 Der Ausdruck »Kammern« bezeichnet höfische Privaträume. Die Musik war dort nicht an die Regeln der offiziellen Repräsentation gebunden, auch nicht an die Erfordernisse von Liturgie oder Bühne. Sie durfte, an ein Publikum mit Sachverstand gerichtet, komplizierter, anspruchsvoller und innovativer sein. Als Ausführende kamen sowohl die adeligen Bewohner der Kammern selbst als auch professionelle Musiker in ihren Diensten in Betracht; gemischte Ensembles waren ebenfalls möglich. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde Kammermusik als besondere Kommunikationsform interessant, als eine nicht durch Hierarchie und soziale Rollen vorgegebene Umgangsform mehrerer Personen, die wie im Gespräch gemeinsam Gedanken entwickeln.8 Der Ort dieses Umgangs miteinander ist die Halböffentlichkeit der Salons.9 Kammermusik bezog 7 | Vgl. Reimer, Erich: »Kammermusik« [1971], in: Hans Heinrich Eggebrecht/ Albrecht Riethmüller (Hg.), Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, Loseblattausgabe, Wiesbaden: Steiner 1972, Bd. 3, S. 1-13; Schwindt, Nicole: »Kammermusik«, in: L. Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil, Bd. 4, Sp. 1629-1631; Finscher, Ludwig: »Hausmusik und Kammermusik«, in: Richard Baum/Wolfgang Rehm (Hg.), Musik und Verlag. Karl Vötterle zum 65. Geburtstag am 12. April 1968, Kassel u.a.: Bärenreiter 1968, S. 67-76; Fuhrmann, Wolfgang: »Private Space, Intimacy, Homeliness: Listening to (and Performing) Chamber Music in the 19th Century«, in: Christian Thorau/Hansjakob Ziemer (Hg.), The Art of Listening and Its Histories: New Approaches to a History of Music Listening, 1800 to Present, im Druck. 8 | Zum Konversationsideal als Vorbild für kompositorische Struktur vgl. Finscher, Ludwig: »Galanter und gelehrter Stil. Der kompositionsgeschichtliche Wandel im 18. Jahrhundert«, in: Sabine Ehrmann-Herfort/Ludwig Finscher/Giselher Schubert (Hg.), Europäische Musikgeschichte, Kassel/Stuttgart: Bärenreiter/Metzler 2002, Bd. 1, S. 587-665, sowie Ruf, Wolfgang: »Instrumentalmusik als Klangrede«, ebd., Bd. 1, S. 530-534. 9 | Petra Dollinger-Wilhelmy hat darauf hingewiesen, dass »Konversation« zunächst nicht »Unterhaltung« oder »Gespräch«, sondern »Umgang miteinander« bedeutet, vgl. Dollinger-Wilhelmy, Petra: »Singen, Konzertieren, Diskutieren. Musikalische Aktivitäten in den Salons der ›Berliner Klassik‹«, in: Eduard Mutschelknauss (Hg.), Urbane Musikkultur. Berlin um 1800, Hannover: Werhahn 2011, S. 141-169, insb. S. 143, Fn. 9. Anschauliche Beschreibungen dieser Welt liefert Reichardt, Johann Friedrich: Vertraute Briefe geschrieben auf einer Reise
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Abb. 1, Wolfgang Amadeus Mozart, Streichquartett d-Moll KV 421 (417b), 1. Satz, Takte 1-19, insb. 12-14.
Quelle: Mozart, Wolfgang Amadeus: Die zehn berühmten Streichquartette, hg. v. Ludwig Finscher, Kassel u.a.: Bärenreiter 1990, S. 33, textidentisch mit Ders.: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Serie 8: Kammermusik. Werkgruppe 20: Streichquartette und Quartette mit einem Blasinstrument. Abteilung 1: Streichquartette, hg. v. Ludwig Finscher, Kassel u.a.: Bärenreiter 1962, Bd. 2, S. 38f.; © Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel.
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ihren besonderen Reiz daraus, dass hier, räumlich, zeitlich und personell umgrenzt, die Standesgrenzen außer Kraft gesetzt waren. Zunächst eine Angelegenheit des Adels, fand sie gerade deshalb im (Groß-)Bürgertum lebhafte Nachahmung. In der Musik wird das Ideal der Konversation am deutlichsten in der motivisch-thematischen Arbeit im klassischen Streichquartett. An ihr sind alle Instrumente gleichermaßen beteiligt, wenn zum Beispiel ein musikalisches Motiv von der ersten Geige abwärts »durchgereicht« wird bis zum Cello wie in den Takten 12-14 des Notenbeispiels (Abb. 1). Hierarchiefreiheit beim Spielen, Beteiligung aller am Geschehen bei zugleich höchster Qualität dessen, was gespielt wird – das ergab eine höchst attraktive Mischung, die auch das emanzipationslustige Bürgertum gerne übernahm. Die Pflege der Kammermusik nahm ab dem späten 18. Jahrhundert ihren Weg von den adeligen und später auch großbürgerlichen Salons in die bürgerlichen Wohnzimmer, später auch in den Konzertsaal.10 Demgegenüber bezeichnet »Salonmusik« abgesunkenes Kulturgut, Musik aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die den künstlerischen Anspruch weitgehend verlor, aber vorgab, ihn beanspruchen zu können.11 »Spielmusik« schließlich kam im frühen 20. Jahrhundert im Kontext der Jugend- und der Jugendmusikbewegung auf und benach Wien und den Österreichischen Staaten zu Ende des Jahres 1808 und zu Anfang 1809, München: Müller 1915, leider ohne auf die Räume einzugehen, in denen sich das Geschehen abspielt. Nur in seltenen Fällen wie dem Wiener Palais Lobkowitz lassen sich heute noch Bezüge zwischen Beschreibungen des musikalischen Geschehens zu den Räumen herstellen, in denen es stattfand. 10 | Vgl. L. Finscher: »Hausmusik und Kammermusik«; W. Ruf: »Instrumentalmusik als Klangrede«, S. 530-534; Borchard, Beatrix: »Quartettabend bei Bettine«, in: Elisabeth Schmierer et al. (Hg.), Töne – Farben – Formen. Musik und die Bildenden Künste, Laaber: Laaber 1995, S. 243-255; Dies.: »Quartettspiel und Kulturpolitik im Berlin der Kaiserzeit«, in: Cornelia Bartsch/Beatrix Borchard/ Rainer Cadenbach (Hg.), Der ›männliche‹ und der ›weibliche‹ Beethoven. Bericht über den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongress vom 31. Oktober bis 4. November 2001 an der Universität der Künste Berlin, Bonn: Beethoven-Haus 2001, S. 369-398; Schmidt, Dörte: »›...in vierfach geschlungener Bruderumarmung aufschweben‹. Beethoven und das Streichquartett als ästhetische, politische und soziale Idee in der zeitgenössischen Publizistik«, ebd., S. 351-368. 11 | Vgl. Widmaier, Tobias: »Salonmusik« [1989], in: H. H. Eggebrecht/A. Riethmüller (Hg.), Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, Bd. 5, S. 1-16.
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zeichnet spieltechnisch einfach zu realisierende Musik, bei der vor allem das gemeinsame Musizieren im Zentrum steht: Musik aus dem 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, Bearbeitungen von klassischem Repertoire und leicht spielbare Neukompositionen. Statt des Klaviers und der Streichinstrumente kamen nun preiswert herstellbare und zum Wandern taugliche Instrumente zum Einsatz, in erster Linie Gitarren und Blockflöten. Nach 1933 setzte hier die nationalsozialistische Pädagogik an, indem sie das Musizieren zur politischen Erziehung instrumentalisierte. Selbst antibürgerlich, machte sie sich das hohe Prestige der Hausmusik zunutze. So nimmt es nicht wunder, dass nach dem Zweiten Weltkrieg das Image des privaten Amateurmusizierens in westdeutschen, gebildeten und erst recht sich als intellektuell verstehenden Milieus als reaktionär beargwöhnt wurde. »Hausmusik« lässt sich definieren als Oberbegriff für privates, von Amateuren und Professionellen gepflegtes Spielen von Musik mit Kunstanspruch in einem bürgerlich geprägten Rahmen.12 Hausmusik wird insofern zur Nobilitierungsmaßnahme, als die Standesgrenzen zwischen Adel und Bürgertum überschritten werden und das gespielte Repertoire Hausmusik und Kammermusik in eins fallen lässt. In der Bezeichnung »Hausmusik« schwingt diese Nobilitierungsmaßnahme mit, schließlich bedeutet »Haus« nicht nur die Räumlichkeit, in der gespielt wird; es wird zugleich die Bedeutung des »Hauses« als Adelsfamilie und damit der Bezug zu genealogischen Verbindungen, Traditionspflege und gesellschaftlichem Status aufgerufen.13 Dass die Identifikation von Hausmusik mit Kammermusik, am besten mit dem Streichquartett, die Vorstellung von bürgerlicher Hausmusik ästhetisch wie sozial adelt, gelingt vor allem dadurch, dass die adeligen Kammern und Salons mit bürgerlichen Wohnzimmern gleichgesetzt werden. 12 | Vgl. S. Fontaine: »Keine Kindersache«, S. 119, Salmen, Walter: Haus- und Kammermusik. Privates Musizieren im gesellschaftlichen Wandel zwischen 1600 und 1900, Leipzig: Deutscher Verlag für Musik 1969, sowie G. Busch-Salmen: »Hausmusik«. 13 | Ich danke an dieser Stelle Marcus Twellmann (Konstanz), der mich auf Heinrich Riehls Gebrauch des Begriffes »Haus« in doppeltem Sinne aufmerksam gemacht hat (vgl. vor allem Riehl, Wilhelm Heinrich: Hausmusik. Fünfzig Lieder deutscher Dichter in Musik gesetzt von W. H. Riehl, Stuttgart/Augsburg: Cotta 1855, »Zur Einleitung. Des Tonsetzers Geleitsbrief«, S. III-XVI).
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R ÄUME FÜR DIE H AUSMUSIK Interieur- und Genrebilder lassen sich bis zu einem gewissen Grad als Quellen für die Untersuchung der Hausmusik heranziehen. Allerdings dienen sie ursprünglich anderen Zwecken als der Dokumentation dieser Praxis. Das änderte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts grundlegend, als das Interesse an Bauen und Wohnen in Deutschland vor allem im Zusammenhang mit dem Wachsen der Städte anstieg. Zum einen begannen um 1900 Architekten wie Henry van de Velde oder Peter Behrens in der Nachfolge des »Arts and Crafts Movement« sich um die Ausstattung der Innenräume der von ihnen entworfenen Gebäude zu kümmern. Zum anderen kamen mit Zeitschriften wie Wasmuths Monatshefte für Baukunst oder Die Dame illustrierte Zeitschriften auf, in denen Wohnen zum Thema wurde. Unter den Architekten der Wende zum 20. Jahrhundert, aus deren Entwürfen sich etwas über die Praxis der Hausmusik ablesen lässt, nimmt Hermann Muthesius (1861–1927) eine herausragende Stellung ein. Entlang seiner zwischen 1904 und 1920 erschienenen Schriften14 ließe sich eine Studie über Glanz und Elend der deutschen Hausmusik schreiben. Dass die eigene aktive Musikpflege zum Leben gehörte, zeigen Muthesius’ Entwürfe für Wohnhäuser. Die meisten bürgerlichen Privathäuser aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg verfügen über ein Musikzimmer, das manchmal zugleich das Zimmer der Dame ist – ganz die Tradition fortschreibend, dass üblicherweise die Dame Klavier spielte, während an den Streichinstrumenten vor allem die Herren tätig wurden. Der Flügel ist, wie andere Ausstattungsstücke der Wohnungen, per Schablone im Grundriss eingezeichnet, ebenso wie ein bis zwei Hocker beziehungs-
14 | Muthesius, Hermann: Das englische Haus. Entwicklung, Bedingungen, Anlage, Aufbau, Einrichtung und Innenraum, zweite, durchgesehene Auflage, 3 Bde., Berlin: Wasmuth 1908–1911 [1904–1905]; Ders.: Wie baue ich mein Haus?, München: Bruckmann 1919 [1917]; Ders.: Kleinhaus und Kleinsiedlung, München: Bruckmann 1918; Ders.: Kann ich auch jetzt noch mein Haus bauen? Richtlinien für den wirklich sparsamen Bau des bürgerlichen Einfamilienhauses unter den wirtschaftlichen Beschränkungen der Gegenwart mit Beispielen, München: Bruckmann 1920; Ders.: Landhäuser. Ausgeführte Bauten mit Grundrissen, Gartenplänen und Erläuterungen, zweite, ergänzte Auflage, München: Bruckmann 1922.
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weise eine Bank vor dem Instrument, damit vierhändig gespielt werden konnte.15 1904 teilte Muthesius in Das englische Haus mit, was er zwischen 1896 und 1903 während seiner Tätigkeit als »technischer Berichterstatter«16 der deutschen Botschaft in London über das private Wohnen und Bauen seines Gastlandes kennen und schätzen gelernt hatte und was für ihn später modellbildend werden sollte.17 Ausdrücklich den Flügel18 nennt er für den drawing room als unverzichtbares Ausstattungsstück, das um zweckmäßige Sitzgelegenheiten und einen Notenschrank zu ergänzen sei. Im Kapitel über das Musikzimmer in Wie baue ich mein Haus? 19 gibt er detaillierte Anregungen zur Ausstattung des Zimmers mit zweckmäßiger Beleuchtung, Sitzgelegenheiten für Zuhörer, mit Pulten für weitere Musiker, Schränken zur Auf bewahrung von Streichinstrumenten und liefert außerdem Grundrisse, aus denen die akustisch und von der Beleuchtung her zweckmäßige Aufstellung des Flügels ersichtlich wird. In Kann ich auch jetzt noch mein Haus bauen?, 1920 erschienen, wird das Musikzimmer nicht mehr behandelt, stattdessen werden neben dem Einfamilienhaus jetzt auch das Doppel-, Siedlungs- und Reihenhaus bedacht.20 15 | Vgl. Posener, Julius: Berlin auf dem Weg zu einer neuen Architektur. Das Zeitalter Wilhelms II. 1890–1918, München: Prestel 1971, S. 127-151. 16 | Stalder, Laurent: Hermann Muthesius 1861–1927. Das Landhaus als kulturgeschichtlicher Entwurf, Zürich: gta Verlag 2008, S. 17. 17 | Vgl. Muthesius, Hermann: »Vorwort zur ersten Auflage«, in: Ders., Das englische Haus. Bd. 1: Entwicklung des englischen Hauses, zweite, durchgesehene Auflage, Berlin: Wasmuth 1908 [1904], S. I-IV, hier S. III. 18 | Muthesius verweist auf das Ärmliche und Vorläufige eines Klaviers. Geltend machen ließe sich ferner, dass ein aufrechtes Klavier zum Zusammenspielen mit anderen Instrumenten oder Sängern unpraktisch ist; die Sitzordnung, in der einer den anderen den Rücken zukehrt, ist dem Kontakt unter den Beteiligten abträglich. Vgl. Muthesius, Hermann: Das englische Haus. Bd. 3: Der Innenraum des englischen Hauses, zweite, durchgesehene Auflage, Berlin: Wasmuth 1911 [1905], S. 201f. 19 | H. Muthesius: Wie baue ich mein Haus?, S. 186-195. 20 | Vgl. H. Muthesius: Kann ich auch jetzt noch mein Haus bauen?, S. 115-166. Mit Kleinhaus und Kleinsiedlung widmet Muthesius diesen Bauformen eine eigene Veröffentlichung und reagiert damit auch auf die kriegsbedingten Veränderungen von Bauen und Wohnen.
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In mehreren der dem Band beigegebenen Beispiele finden sich allerdings auch nach dem Ersten Weltkrieg weiterhin Flügel und – aus Platzgründen – Klaviere. Bei aller neuen Bescheidenheit bleibt aber die Etagenwohnung nur eine Notlösung, nicht nur wegen der gegenseitigen Störungen: »Im Mietshause tritt ein ganz anderes Verhältnis zur Wohnung ein, diese wird gleichgültig, das Heimgefühl entfällt und damit das Behagen des Wohnens und die Stetigkeit des häuslichen Lebens überhaupt.«21 Muthesius wusste, wovon er schrieb. Er war mit einer Sängerin verheiratet, und dass bei ihm musiziert wurde, zeigen Photographien sowie der Grundriss des Hauses, das er 1904 in Berlin nach seiner Rückkehr aus London für sich selbst baute (Abb. 2 + 3).22 Abb. 2, Hermann Muthesius, Blick in das Musikzimmer.
Quelle: H. Muthesius: Landhäuser, S. 69, Abb. 127. 21 | H. Muthesius: Kann ich auch jetzt noch mein Haus bauen?, S. 102. 22 | Vgl. auch die Abbildungen in H. Muthesius: Landhäuser, S. 65-72. Hier sind sowohl die Grundrisse als auch die Innenausstattung der Räume zu sehen. Über die Hausmusik bei Muthesius berichtet Karla Höcker, ohne allerdings auf die Räume einzugehen, vgl. Dies.: Hauskonzerte in Berlin, Berlin: Rembrandt 1970, S. 57f.
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Abb. 3, Hermann Muthesius, Grundriss seines eigenen Hauses.
Quelle: H. Muthesius: Landhäuser, S. 67, Abb. 123.
Hermann Muthesius’ Häuser und ihre Ausstattung sind vielleicht die deutlichsten Beispiele für das Zusammenspiel von Architektur und der Praxis der Hausmusik zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg. Sie sind aber keineswegs Sonderfälle, wie zahlreiche Interieuraufnahmen belegen. Besonders aufschlussreich sind die Aufnahmen des Photographen Waldemar Titzenthaler (1869–1937) für Die Dame.23 In vielen der abgebildeten Räume gehören Flügel zur Ausstattung; in einer Wohnung steht sogar ein Virginal.24 Die einzige photographierte Musiziersituation 23 | Vgl. Kaufhold, Enno: Berliner Interieurs 1910–1930. Photographien von Waldemar Titzenthaler, Berlin: Nicolai 1999. 24 | Vgl. ebd., S. 96, Tafel 57.
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zeigt den Geiger Fritz Kreisler und seine Frau in einer Etagenwohnung am Klavier.25 Vereinzelt sind Gitarren beziehungsweise Gitarrenspieler abgebildet, Reflexe gleichermaßen auf die Biedermeier-Mode des frühen 20. Jahrhunderts wie auf das Revival dieses Instruments im Zusammenhang mit dem Wandervogel und der Jugendmusikbewegung.26 Im Unterschied zu Muthesius zeigt Titzenthaler Interieurs sowohl aus Einzelhäusern, zumeist Villen, als auch aus prächtigen Etagenwohnungen vor allem im Berliner Neuen Westen, die also am Kurfürstendamm und seinen Seitenstraßen lagen und zu Beginn des 20. Jahrhunderts vermutlich noch als Neubauten wahrgenommen wurden.27 Aus diesem Rahmen fällt eine Photostrecke aus dem Jahrgang 1919/1920 der Dame, die die Wohnung des Ullstein-Mitarbeiters Kurt Szafranski vorstellt, eine Neubauwohnung der Heimstätten-Siedlung AG von 1919 in Berlin-Wilmersdorf.28 Hier überlagern sich Biedermeier und Neues Bauen zu einer klaren, leichten Bescheidenheit. So ist es kein Zufall, dass das Instrument in dieser Wohnung wiederum eine Gitarre ist, leise und platzsparend (Abb. 4).
W IDER DEN K ULTURVERFALL NACH 1918 Die Etagenwohnung wird in den Textquellen zur Hausmusik erst nach dem Ersten Weltkrieg ein Thema, im Zusammenhang mit allgemeinen Debatten über den Kulturverfall und der Kritik an der Moderne. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrt dieses Diskurselement wieder, jetzt noch ergänzt durch den Hinweis auf den knappen Wohnraum infolge des Krieges. Insgesamt aber verzichten die Textquellen zur Hausmusik auch nach 1918 auf Ausführungen über die konkreten Räume, in denen sie stattfand. Hausmusik wird als Element einer positiv gesehenen Vergan25 | Vgl. ebd., S. 54, Tafel 19. 26 | Man beachte in diesem Zusammenhang besonders die Gitarrenlaute auf einer Photographie von 1912, vgl. ebd., S. 41, Tafel 7. 27 | Eine Mischung aus Räumen in Etagenwohnungen und Einzelhäusern kennzeichnet auch die Photos im (unpaginierten) Bildteil von K. Höcker: Hauskonzerte in Berlin. Charakteristisch ist hier die bürgerliche Ausstattung der Wohnräume mit Flügel, Büchern, Bildern, Teppich und improvisierter Pultbeleuchtung für die Streicher. 28 | Vgl. E. Kaufhold: Berliner Interieurs, S. 82-85, Tafeln 45-47.
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Abb. 4, Wohnung von Kurt Szafranski, Photographie von Waldemar Titzenthaler.
Quelle: E. Kaufhold: Berliner Interieurs, S. 84, Tafel 46.
genheit aufgerufen, die dem negativ erlebten Modernisierungsschub der eigenen Gegenwart entgegengesetzt wird. So heißt es in Hugo Riemanns Musik-Lexikon im Jahr 1919: Hausmusik. Musik, die zur privaten Aufführung im häuslichen Raume und engen Kreise bestimmt ist, im Gegensatz zu der für die große Öffentlichkeit bestimmten Musik, ein leider heute fast unverständlich gewordener Begriff, den derjenige der fragwürdigen ›Salonmusik‹ verdrängt hat. Seitdem man auch das Streichquartett, Trio und Duo, das intime Lied und das Genrestück für Klavier in den großen Konzertsaal verpflanzt hat, gibt es für die H. keine Heimstätte mehr. […] Der unheilvolle Prozeß der Vergrößerung der Konzerträume, der ausführenden Instrumentalkörper und auch der Verstärkung der Chormassen hat den Sinn für einen hochwertvollen Zweig der musikalischen Literatur stark abgestumpft. Es wird Zeit, Einkehr bei uns selbst zu halten und uns wieder ein wenig zu verinnerlichen!29 29 | Riemann, Hugo: »Hausmusik«, in: Ders., Hugo Riemanns Musik-Lexikon, vom Verfasser noch vollständig umgearbeitete Auflage, nach seinem Tode [10. Juli 1919] fertiggestellt von Alfred Einstein, Berlin: Hesse 1922, S. 473f.
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Hier ist nur ex negativo, durch den Gegensatz zu den öffentlichen Konzertsälen, etwas über die Räume für Hausmusik zu erfahren. Ähnlich sieht es bei dem Genrebild aus, das Arnold Schering (1872–1941) wenige Jahre später entwirft: Das schöne Wort ›Hausmusik‹ hat für uns alle, die wir Musik treiben und Musik hören, einen besonderen Klang. Fällt es im Gespräch oder lesen wir es auf Büchern oder Noten, so stellt sich ungewollt die Vorstellung eines traulichen Familienabends ein: Das Klavier des Hauses steht geöffnet, Pulte ihm zur Seite mit improvisierter Beleuchtung, Geigen werden gestimmt, ein Violoncell dazwischen, Noten werden herangeholt, verteilt und aufgelegt, erwartungsvoll und festlich harrt der Raum derjenigen, die – vom Vater des Hauses angefangen bis zum Schulfreund des Aeltesten und den Alt singenden Tanten – heute nach Herzenslust einige Lieblingsstücke zwischen Mozart und Brahms dahermusizieren wollen. Wir denken dabei berühmter Hausmusiken [sic], etwa im Hause Luthers, Seb. Bachs, Glucks, Mozarts, und der ganze Zauber dessen, was seliges, hingegebenes, weltvergessenes gemeinsames Musizieren bedeutet, umfängt uns. Denn hier darf jeder sich geben wie er ist; kein rezensierendes Publikum, kein Pressekritiker, kein neidischer Kollege blickt uns auf die Finger, und die Aufstellung des Programms entzieht sich jeder unbefugten ästhetischen Zensur. Was tuts, wenn der Anfang des heiklen Haydnschen Finalsatzes fünfmal wiederholt werden muß, bis alle ins rechte Tempo gekommen! Wir Menschen der Gegenwart blicken mit einem gewissen Neid in eine Vergangenheit, die in solchen Hausmusiken den Kern und das Wesen eines regen Musiklebens sah […]. 30
Im Folgenden nennt Schering, der »Welt von gestern« (Stefan Zweig) angehörend, die Bedrohungen seiner Gegenwart von 1928: die als beschleunigt erlebte Großstadt und ihr kommerzialisiertes, öffentliches Musikleben. Neu verglichen mit Einstein ist bei Schering die Kritik an der Jugendmusikbewegung, an einem Gemeinschaftsmusizieren, das die rechte Gesinnung und Tätigkeit als solche vor die Qualität des Muszierens stellt.31 Auf die veränderte Wohnsituation nach dem Ersten Weltkrieg und überhaupt auf reale Räumlichkeiten für die Hausmusik geht er jedoch mit keinem 30 | Schering, Arnold: »Künstlerische Hausmusik«, in: Jahresbericht des Stern’schen Konservatoriums der Musik 79 (1928/1929), S. 5-8, hier S. 5. Ich danke Dr. Cordula Heymann-Wentzel herzlich für den Hinweis auf diesen Text. 31 | Vgl. ebd., S. 7.
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Wort ein. Anders ist das in Ernst Heimerans (1902–1955) und Bruno Aulichs (1902–1987) berühmtem Text Das stillvergnügte Streichquartett.32 Das Buch ist in keiner Weise zeitbedingt ideologisch beeinflusst, es verzichtet auf den hohen Ton und auf die Beschwörung der Menschheitsverbesserung durch heimisches Quartettspielen. Es tritt vielmehr einen Rückzug ins Private und Selbstironische an, und vielleicht ist allein schon diese Komik anstelle des Pathos im Jahr 1936 ein nicht-konformes Verhalten. Wie Schering liefert auch Heimeran ein Genrebild der Hausmusik. Hier wird auf die Wohnsituation eingegangen, wenngleich nur beiläufig und in einer Reihe mit anderen Dingen aus den Niederungen des Alltags: Der Quartettabend wird eingeleitet von Vorbereitungen. Die Vorbereitungen erstrecken sich über die ganze Woche und bestehen zunächst in Zu- und Absagen, in Postkarten, Beschwörungen, Verwünschungen und Telephongesprächen. Einer muß die Sache in die Hand nehmen, am besten der, bei dem der Abend stattfinden soll. Denn der muß rechtzeitig Bescheid wissen, damit er Pulte und Stühle herrichten kann, eine entsprechende Beleuchtung, Aschenbecher, Brötchen, Gläser. Er muß den Teppich herausrollen, der Akustik und des Cellos halber, das mit dem Stachel sonst Löcher bohrt; er muß ein wenig aufräumen, damit die Geigenkästen abgestellt werden können und die Noten zugänglich sind. Er tut gut daran zu lüften, denn verrauchte Luft trägt nicht; er muß sich um die Heizung kümmern, 32 | Aulich, Bruno/Heimeran, Ernst: Das stillvergnügte Streichquartett, München: Heimeran 1936. Der Band ist im Verlag Heimeran erschienen, dessen Programmschwerpunkte bei Altphilologie und Kochbüchern lagen. Festzuhalten ist, dass auch die kommentierte Werkliste, die den Band zu einem Handbuch für Amateurquartette macht, keine nationalsozialistischen Spuren aufweist; Mendelssohn, Debussy, Milhaud und russische Komponisten zählen selbstverständlich zum Repertoire. Mendelssohn wird zwar kritisiert, aber ohne jeden Rassismus. Aulich arbeitete ab den 1930er Jahren für den Rundfunk, nach dem Zweiten Weltkrieg auch in der SBZ bzw. der DDR, bis er sich 1953 in München niederließ; vgl. den Eintrag zu Bruno Aulich in Riemann, Hugo: MusikLexikon, hg. v. Wilibald Gurlitt, Personenteil, Bd. 1, Ergänzungsband, hg. v. Carl Dahlhaus, zwölfte, völlig neu bearbeitete Auflage, Mainz: Schott 1972, S. 43. Über den Verleger Heimeran, der der Schwabinger Bohème nahestand, informiert Haacke, Wilmont: »Heimeran, Georg Arthur Ernst«, in: Neue deutsche Biographie, hg. v. der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: Duncker & Humblot 1969, Bd. 8, S. 275f.
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denn zu große Trockenheit macht den Ton stumpf, bei zu großer Wärme hält die Stimmung nicht, bei zu großer Kälte bleiben die Finger steif. Auch mache er bei seinen Nachbarn Besuch und teile schonend mit, es sei heute abend Musik – denn es dauert doch über die erlaubte Stunde. 33
Das stillvergnügte Streichquartett erlebte viele Auflagen und Überarbeitungen und ist bis heute für Amateurmusiker ein unverzichtbares und nützliches Nachschlagewerk. Auch in seiner humoristischen Stilistik hat es Maßstäbe gesetzt.34 Hier wird ein Rückzug ins lustige, scheinbar harmlose Biedermeier der Privatheit gezeigt, der bisweilen in seiner Betulichkeit unangenehm berührt. Möglicherweise wirkt das »Stillvergnügte« aber nur im Sinne seiner Autoren, wenn man ihr Buch in Kontrast zu den zahlreichen zeitgenössischen Veröffentlichungen zum Thema aus den deutschen dreißiger Jahren liest, etwa den Einleitungstext einer Handreichung der Reichsmusikkammer aus dem Jahr 1939 über die Bedeutung des 1932 installierten »Tages der deutschen Hausmusik«. Nach 1933 wurde der 21. November, der Tag der heiligen Cäcilie, auf diese Weise als einer der zum christlichen Jahrkreis alternativen NS-Feiertage weitergeführt. Diese neuerliche Bereitschaft der Öffentlichkeit, die Hausmusik als wichtigen Bestandteil unserer musikalischen Kultur anzuerkennen, ist wesentlich bedingt durch den Sieg der deutschen Revolution und die von ihr bewußt betonte Pflege der deutschen Familie als Urzelle jedes gesunden Volkslebens und Staatsaufbaues. Denn die Hausmusik ist im Leben der deutschen Familie unersetzbar. […] Nicht als ob der Mensch außerhalb des Hauses nicht auch von der Musik im Innersten gepackt werden könnte – im Grunde rührt die Musik immer an tiefe Schichten des Menschseins – aber die Vorbedingungen, daß der Anruf echten Widerhall findet und nicht nur einmalig ein rauschhaftes Erleben bringt, sondern daß der Angesprochene sich ganz ihren bildenden Kräften hingibt, die sind wohl nirgends so elementar gegeben wie im Hause (mit Ausnahme wohl von Lager und Fahrt der HJ, 33 | B. Aulich/E. Heimeran: Das stillvergnügte Streichquartett, S. 12. 34 | Vgl. z.B. Jochum, Annemarie: Geigespielen. Ein Ratgeber für Liebhaber, Kassel u.a.: Bärenreiter 1994; Schmieder, Hans-Heinrich: Das wohltemperierte Klaviertrio. Ein Leitfaden für Freunde der Hausmusik mit Klavier, Zürich/Mainz: Atlantis 1995; Ders.: Wohltemperierte Hausmusik. Neuentdeckungen für Freunde der Kammermusik mit Klavier und Generalregister von Duo bis Nonett, Zürich/ Mainz: Atlantis 1996.
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wo die Musik ebenfalls in eine, wenn auch nur kurzfristige Lebensgemeinschaft eingebettet ist). Im Hause liegt also die Musik der Lebensmitte am nächsten und damit den elementaren Kräften des Daseins überhaupt und es ist darum nicht mehr als selbstverständlich, daß der Musiker, der Musikfreund wie der Kulturpolitiker sich eine Gesundung der Musikübung und des Musiklebens bis in alle Verästelungen des Volkskörpers hinein von der Brunnenstube des Volkslebens aus, vom Hause und der Familie aus, verspricht. 35
Abschließend heißt es: »Der Sinn des ›Tages der deutschen Hausmusik‹ ist erfüllt, wenn jeder Tag im deutschen Hause von Hausmusik erfüllt ist.«36 Die kleine Schrift von 45 Seiten liefert Informationen zu staatlicherund parteiseits geförderter Hausmusikpflege, inklusive der Gesetzesund Verwaltungsvorschriften, Auskünften zur Konzeption, praktischen Vorschlägen für die Umsetzung einschließlich Repertoirelisten sowie Tipps für Pressearbeit, Werbung und Finanzierung. Eingerahmt werden die Texte von einem Hitler- und einem Luther-Zitat. An der Durchführung des Tages der deutschen Hausmusik sollen öffentliche und Parteiinstitutionen beteiligt sein. Stillschweigend werden hier dem Terminus »Hausmusik« Veranstaltungsformen und ein Repertoire unterschoben, die auf eine Umdeutung des Begriffs unter Beibehaltung seines Prestiges schließen lassen. So werden zehn zur Feier geeignete Veranstaltungsformen genannt, die vom »repräsentativen Hauskonzert bei einer maßgebenden Persönlichkeit«, zum Beispiel dem Bürgermeister, vor geladenen Gästen inklusive der Presse bis hin zu Vorträgen reichen. Zwischen Schulveranstaltungen und »Ortsgruppen-, Zellen- und Heimabenden der NS-Frauenschaft« taucht schließlich auch »Musizieren in Privathäusern« auf, als die am schwierigsten zu organisierende Form.37 Hinsichtlich des Repertoires äußert sich Kurt Sydow (1908–1981) unter Hinweis auf die jüngst wieder aufgekommenen leisen, also für das Haus geeigneten, Instrumente Blockflöte, Gambe, Spinett: 35 | »Der ›Tag der Hausmusik‹«, in: Die Förderung der Hausmusik und die Durchführung des »Tages der deutschen Hausmusik«. Vorschläge, Erfahrungen und Arbeitsmittel, hg. v. der Arbeitsgemeinschaft für Hausmusik in der Reichsmusikkammer, verantwortlich: Herbert Just, Berlin: Reichsmusikkammer 1939, S. 5-17, hier S. 5. 36 | Ebd., S. 6. 37 | Ebd., S. 12-14.
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Man musiziere diesen Instrumenten entsprechende Musiken, man singe gesellige Kanons und Madrigale, sowie Volksliedsätze. Man denke an die Feste in der Familie, das Ständchen beim Geburtstag, Tischmusiken an der festlichen Tafel, Morgenlieder, Tischlieder und Abendlieder, wie sie in den Familienkreis gehören. Mit allen Anwesenden wird in der Form der Singstunde ein solches Lied eingesungen, das nun weiter klingt und so zur Hausmusik wird. 38
Alte Musik (vielmehr der Teil von ihr, der dazu nutzbar war), Spielmusik und »musikpädagogische Musik« treten hier an die Stelle des von Amateuren noch darstellbaren Teils der Kammermusik als Repertoire von Hausmusik. Dieser Austausch des Repertoires entspricht dem Austausch der Trägerschaft, wenn Schule und Parteiorganisationen etwas praktizieren, das korrekterweise mit »Gemeinschaftsmusizieren«, nicht aber mit »Hausmusik« im Sinne von Einstein, Schering oder Aulich und Heimeran zu bezeichnen wäre. Die spielende Teilhabe am »großen Repertoire« wird zurückgestutzt auf Ausnahmefälle, auf Bearbeitungen oder Schwundstufen wie das Veranstaltungsmotto »Ein Nachmittag beim jungen Mozart«.39 Vom künstlerischen und ästhetischen Anspruch her eher einfach, ist das Buch sehr handfest in seinem praktischen Teil. Es stellt die Organisationsstruktur zur Durchführung dieses Tages ebenfalls als Mischung aus Partei- und öffentlichen Institutionen dar. Außerdem liefert das Büchlein Informationen über bereitgestelltes Material zur Durchführung des »Tages der deutschen Hausmusik«, zum Beispiel Lehrfilme, Vortragsmaterial, Plakate oder Spruchbänder. 38 | Sydow, Kurt: »Grundsätze der Programmgestaltung«, in: Die Förderung der Hausmusik, S. 21-24, hier S. 23. Sydow studierte an der Berliner Musikhochschule, war Lehrer an der Schule am Meer auf Juist und Dozent am Musikheim Frankfurt/Oder. Ab 1954 lehrte er an der Pädagogischen Hochschule Osnabrück, vgl. die Einträge zu Sydow in Frank, Paul/Altmann, Wilhelm: Kurzgefaßtes Tonkünstler-Lexikon [1936]. Zweiter Teil: Ergänzungen und Erweiterungen seit 1937, fortgeführt von Burchard Bulling, Florian Noetzel und Helmut Rösner, Wilhelms haven: Heinrichshofen 1978, Bd. 2, S. 343, sowie in Sehlke, Stephan: Pädagogen – Pastoren – Patrioten. Biographisches Handbuch zum Druckgut für Kinder und Jugendliche von Autoren und Illustratoren aus Mecklenburg-Vorpommern von den Anfängen bis einschließlich 1945, Norderstedt: Books on Demand 2009, S. 375f. 39 | »Beispiele aus der Praxis«, in: Die Förderung der Hausmusik, S. 28-30, hier S. 29.
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N ACH 1945 : W O MAN SPIELT, DA L ASS DICH NIEDER ?40 Wie reagiert das musikalische Schrifttum nach 1945 auf diesen Etikettenschwindel? Und welche Rolle spielen die Räume, in denen weiterhin Hausmusik gepflegt werden soll? Exemplarisch sei im Folgenden auf die Rede über die Hausmusik des Philosophen und Gründervaters der Pädagogik als Wissenschaft, Eduard Spranger (1882–1963), eingegangen.41 Spranger lehrte und forschte von 1911 bis 1945 an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität als Professor für Philosophie. Als Nationalkonservativer war er kein Freund der Weimarer Republik, zwar stand er in Kontakt mit Beteiligten am Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944, war aber dennoch nicht unanfechtbar gegen die Indienstnahme der Wissenschaft durch den Nationalsozialismus eingestellt. Nach 1945 wechselte er an die Universität Tübingen. Sein Bildungsideal war dem deutschen Idealismus verpflichtet: Als einem Verfechter des humanistischen Gymnasiums ging es ihm um eine Individualentwicklung auf der Basis kultureller Tradition als Kern des Sozialwesens. Spranger ist einer der einflussreichsten Repräsentanten der westdeutschen Erziehungswissenschaft vor 1980. Bereits in der Einleitung seiner Rede erscheint das Narrativ von der Menschheitsverbesserung durch selbstgespielte Musik: Aber in einem ganz anderen Sinne scheint es mir, als ob die Ausübung guter Musik das Haus retten könnte, das Haus verstanden als eine durchseelte und vertiefte Familiengemeinschaft. Die Pflege dieser Kunst wäre einer der schönsten Wege, eine manchmal etwas verödete Stätte von innen heraus wieder zu beleben. 42
40 | Das Diktum »Wo man singt, da laß dich nieder / Böse Menschen haben keine Lieder« geht vermutlich auf Johann Gottfried Seume (1763–1810) zurück: »Wo man singet, laß dich ruhig nieder, / Ohne Furcht, was man im Lande glaubt; / Wo man singet wird kein Mensch beraubt: / Bösewichter haben keine Lieder.« (Seume, Johann Gottfried: Gedichte, zweyte, vermehrte und verbesserte Ausgabe, o.O. 1804, S. 264.) 41 | Spranger, Eduard: Rede über die Hausmusik, Kassel/Basel: Bärenreiter 1955. Genannt seien in diesem Zusammenhang Lemacher, Heinrich: Handbuch der Hausmusik, Graz/Salzburg/Wien: Pustet 1948, und Valentin, Erich: Musica Domestica. Von Geschichte und Wesen der Hausmusik, Trossingen: Hohner 1959. 42 | E. Spranger: Rede über die Hausmusik, S. 7.
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Spranger verlagert den sozialen und realen Raum der Hausmusik ins Bürgertum und in die Privatsphäre. Dabei knüpft er ausdrücklich an die Zwischenkriegszeit und an die nach dem Zweiten Weltkrieg aktuelle Situation an. Als Voraussetzung nennt er das Vorhandensein eines »Heims« im emphatischen Sinne: Wo kein ›Haus‹ mehr ist, da gibt es vielleicht noch jene ›Salonmusik‹; aber der Salon ist nicht mehr durchweht von dem Geist des gediegenen, tiefere Werte pflegenden Bürgertums, aus dem bei uns in Deutschland das Beste hervorgegangen ist, nicht nur auf dem Gebiete der Tonkunst. Dieses schlichte bürgerliche Heim befindet sich seit mehr als 40 Jahren in einer Dauergefährdung. Auch ohne die unseligen Folgen des letzten Krieges ist das Zusammenleben der Familie bedroht. Ich rede nicht ausführlich von dem Elend vieler Heimatvertriebenen und Zonenflüchtlinge, nicht von der allgemeinen Beengung des Wohnraumes und den daraus unvermeidlich folgenden seelischen Reibungen, nicht von der wirtschaftlichen Bedrängnis gerade der geistig strebenden Kreise. Der Stil des modernen Lebens überhaupt ist dem stillen Glück der vier Wände nicht mehr hold. Die Familie wird von fremden Kräften auseinandergesprengt. Der Vater kommt über Mittag nicht heim, die Mutter übt vielleicht auch noch einen Beruf aus, die Kinder haben zu ganz verschiedenen Zeiten Schule. Alles im Haushalt klappt gerade noch zur Not. Ist man doch einmal beisammen, so ist jeder übermüdet und gereizt. Kaum hat einer angefangen, etwas zu lesen, so rasselt das Telefon, dieser privilegierte Hausfriedensbrecher. Der Hauptpunkt aber ist: jeder will nur das Seine treiben, wenn er einmal Ruhe hat. Der Individualismus, das entschiedene Fürsichselbstseinwollen, greift schon bis in den Kern des Familienlebens und des Hauses hinein. 43
Nun konkret auf die Wohnsituation bezogen fährt er fort: »Was heißt überhaupt ›Haus‹ in unseren Tagen? Meistens ist es eine Mietswohnung mit Übermietern und Untermietern, nicht zu vergessen den Hauswirt, der nervös ist.« 44 An dieser Stelle drängt sich der Verdacht auf, dass hier nach dem Zweiten Weltkrieg der Vertreter einer sich zu unrecht entthront fühlenden Statusgruppe über einen erneuten Verlust an Prestige und Wohlstand spricht. Warum aber »Hausmusik«? Hier spricht Spranger den Raum im realen wie im übertragenen Sinne an: »Das betrifft den 43 | Ebd., S. 8f. 44 | Ebd., S. 9.
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Raum des Musizierens und die eigentümliche Seele, die jeder Raum insgeheim hat«,45 und er führt aus: Wir hier reden […] von der häuslichen Atmosphäre, die die Musik, und zwar nur eine bestimmte Gattung, mitträgt, wie sie umgekehrt von ihr durchseelt wird. […] Zu der Hausmusik, für die wir hier eine Lanze brechen, gehören drei Merkmale: Erstens handelt es sich nur um Liebhaber der Kunst, zweitens um einen wirklich intimen Kreis von Verwandten oder Freunden; drittens geht es trotz allen Eifers nicht nur um die ehrliche Leidenschaft, sondern auch um ihre veredelnde Rückwirkung auf die Menschen, die sich dabei eben in einem Heim fühlen. 46
Was das Repertoire angeht, so betont er, dass »gute Musik« entscheidend sei; es könne sich dabei um »Kunstmusik«, »Volksmusik« und »Schulmusik« handeln.47 Konkrete Namen, Gattungen und Werke bleiben rar. Genannt wird Streicherkammermusik in Quartett- und Quintettbesetzung, auch mit Klavier, von Kollegen in akademischen Berufen gespielt, unter denen die Berufsgruppe der Ärzte explizit genannt wird. Die Frage der Wirkung der Musik beantwortet Spranger mit einer Argumentation, die auf die ästhetische Identifikation zurückgreift: Musik als »wogende Innerlichkeit«48 erhebe und beglücke, sie habe, wenn sie »gut« sei, ethische und veredelnde Wirkung und stelle eine Bereicherung der eigenen seelischen Ausstattung dar. Kernstück Sprangers ist eine Passage mit eher beschwörendem denn argumentativem Charakter: Kein Zweifel, daß der Umgang mit dem Hohen und Reinen eine veredelnde Wirkung auf die ganze Seele ausübt. Affekte werden wohl musikalisch hervorgerufen, aber auch gebändigt und gemäßigt. Wieder der alte Gedanke von der moderatio affectuum: die Kunst – ein Regulator des Affektlebens! Die Seele wird erweitert, indem sie Schwingungen kennenlernt, die der Alltag nicht bietet. Sie wird aber durch das innerlich folgerichtige Spiel der Formen zugleich in ihren Mittelpunkt zurückgeführt. Musik ist wesentlich zur Charaktererziehung; sie ist nicht etwa nur eine läßliche und erläßliche Zutat. Sie gehört jedoch zu den vielen besonders wichtigen Erziehungsmitteln, deren Wirkung nicht stündlich unmittel45 | Ebd., S. 11. 46 | Ebd., S. 11f. 47 | Ebd., S. 13. 48 | Ebd., S. 24.
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bar an einem Pegel der Humanität abgelesen werden kann. Daher verkennt man oft ihre tiefwirkende Kraft, die sich nur langsam durchsetzt. Ich vermag mir nicht zu denken, daß jemand etwas Schlechtes begehen könnte, wenn er gleichzeitig die Arietta aus Beethovens letzter Klaviersonate ganz deutlich im Ohr hätte. 49
Bis hierher konnte man Spranger als Repräsentanten einer bürgerlichen bis großbürgerlichen Welt aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg lesen, sozialisiert in jenen Häusern, die Architekten wie Muthesius mit Musikzimmer versehen hatten. Die obige Passage ist allerdings von so fataler Verkennung der Wirklichkeit, dass es leicht verständlich scheint, dass rund ein Jahrzehnt später die Hausmusik unter Generalverdacht geriet, zumal auch andere Fürsprecher der Hausmusik sich nicht durch Distanz zum Nationalsozialismus auszeichneten. Nach solchem Engagement für die Hausmusik verwundert es nicht, dass sie mit dem Generationswechsel, für den »1968« steht, ins Kreuzfeuer der Kritik geriet. Der eingangs zitierte Aufsatz von Rudolf Stephan gehört in diesen Zusammenhang. Er wurde in einem Band des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung veröffentlicht, einer Institution mit dem ausdrücklichen Ziel, den zwischen 1933 und 1945 erzeugten weißen und braunen Flecken auf der Landkarte der Musikpädagogik entgegenzuarbeiten. Stephan, Jahrgang 1925, war seit 1967 Ordinarius an der Freien Universität Berlin. Zwischen 1964 und 1976 organisierte er die Tagungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung, 1970 bis 1976 als dessen Vorsitzender. Er gehörte zusammen mit Carl Dahlhaus – bis beide von der Studentenbewegung überholt wurden – zum linken Flügel der westdeutschen Musikwissenschaft (allein schon dadurch, dass er sich wissenschaftlich mit Gustav Mahler oder den Repräsentanten der Wiener Schule beschäftigte). Selbst Geiger und in dieser Funktion als teilnehmender Beobachter im Feld unterwegs, geht es ihm darum zu überlegen, ob und wie Hausmusik trotz der ideologischen Vorbelastung durch den Nationalsozialismus und die davon befallene Musikpädagogik zu retten sei. Im Gegensatz zu den bisher zitierten Autoren der westdeutschen Nachkriegszeit verhandelt er direkt die ideologische Vereinnahmung der Hausmusik durch den Nationalsozialismus. Stephan zeigt die Denkfehler von Konzepten, die Historizität und Wesen von Erscheinungsformen nicht auseinanderhalten und historisch klittern, indem sie fürstliche 49 | Ebd., S. 30f.
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Kammermusik umstandslos zum Vorläufer bürgerlicher Hausmusik machen. Er reklamiert die Hausmusik ausdrücklich als eine bürgerliche Praxis. Seine Zwischenbilanz bezeichnet die Hausmusik als anachronistisch, elitär und politisch suspekt und setzt ihre verdächtige Beschaulichkeit in Beziehung zu den bundesdeutschen gesellschaftlichen Verhältnissen der 1960er Jahre, ohne allerdings auf reale Räume einzugehen. Aber dieser Anachronismus paßt ganz gut zu unserer gesellschaftlichen Situation, die durch eine anachronistische Restauration – aber keine liebenswürdige – gekennzeichnet ist. Ob sich neuere Formen des Musiklebens, und dann vor allem der Hausmusik entwickeln werden, wird davon abhängen, ob eine neue Gesellschaftsordnung sich durchsetzen wird und ob in dieser Gesellschaftsordnung das Haus, die Familie und der private Freundeskreis – der ja ohnehin schon lange fast ausschließlich ein Kollegenkreis ist – eine bemerkenswerte, wichtige Rolle spielen werden. Die Familie hat jedenfalls heute schon eine bedeutend geringere soziale Funktion als vor hundert Jahren, wie übrigens auch das Individuum selbst. Ob alle diese Funktionen an Gruppen (Verbände, Kollektive oder sonstige Organisationen) übergeben werden, das läßt sich noch nicht absehen. Wie immer die Entwicklung auch weitergehen mag, die alten Formen des häuslichen Musizierens werden mehr und mehr für die Gesamtgesellschaft bedeutungslos. 50
Das Ende des bürgerlichen Zeitalters, die ideologische Diskreditierung durch den Nationalsozialismus und die Veränderungen nach 1968 haben keineswegs zum Aussterben der Hausmusik geführt.51 Vor allem in den letzten Jahren ist ein neues Interesse an halböffentlichen Veranstaltungsformen erwacht, zu denen neben literarischen Salons und gastronomischen Veranstaltungen auch die Hausmusik zählt. Sie wurden erst möglich durch das Internet, über das man sich anmeldet, um die Adresse der Veranstaltung zu erfahren. Auch die Dokumentation von Hausmusik über YouTube, wie die Aufführung von Bachs Weihnachtsoratorium am 27. Dezember 2012 durch den Kirchenmusikstudenten Felix Pätzold und seine KommilitonInnen in einer Leipziger Wohngemeinschaft, zählt zu neuen Formen des Halböffentlichen.52 Vergleichs50 | R. Stephan: »Überlegungen zur Funktion der Hausmusik heute«, S. 38. 51 | Eine gesonderte Studie wäre die Hausmusik als Attribut von Bürgerlichkeit in der DDR wert. 52 | http://www.youtube.com/watch?v=Wi0ekhf6_J0 vom 21. April 2014.
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weise niederschwelliger sind die Angebote der Initiative »Singing Wohnzimmers«, die unter dem Motto »Let’s Build a Neighbourhood in a Digital World – Nachbarn singen, musizieren bei Nachbarn für Nachbarn« am 26. April 2014 Wohnzimmerkonzerte über das Internet vermittelten.53 Die ideologischen Debatten über die Hausmusik hingegen sind weitgehend verschwunden, und es scheint doch – entgegen Stephans Diktum – so etwas zu geben wie Hausmusik, die nur Hausmusik ist. Wenngleich eher im Verborgenen und ohne die Zuschreibung großer ethischer Leistungen lebt sie fort; neben Garagenbands gibt es auch weiterhin Amateurgruppen in unterschiedlichsten Formationen, sei es in Häusern, Wohnungen oder Kneipen. Viele davon singen seit einigen Jahren in Chören, ohne sich dem Verdacht von Gleichschaltung auszusetzen, manche spielen aber auch mit großem Vergnügen Streichquartette, ganz ohne die Ambition, damit dem Untergang des Abendlands entgegenzuwirken.54
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53 | http://www.pollyandbob.com vom 21. April 2014. 54 | Wenngleich in gewandelter Form, lebt die Vorstellung von der Verbesserung des Menschen durch das Musikmachen heute in den Debatten zur Legitimation des Schulfachs Musik über die sogenannten »Transfereffekte« fort.
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Architektur-Theater Wissensräume des Theaters bei Joseph Furttenbach (1591–1667) Jan Lazardzig
Am Beginn der Theaterwissenschaft als eigenständiger universitärer Disziplin steht ein mit großer Vehemenz ausgetragener Disput über die Rekonstruktion einer historischen Bühnenform des 16. Jahrhunderts. Ausgangspunkt der publizistischen Auseinandersetzungen zwischen Max Herrmann, dem Gründer des Berliner Instituts für Theaterwissenschaft (1923), und dem Leipziger Literaturhistoriker und Theaterwissenschaftler Albert Köster (sowie ihren Parteigängern) ist die detailreiche Rekonstruktion der Nürnberger Hans-Sachs-Bühne, die Herrmann im ersten Kapitel seiner Forschungen zur deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance (1914) unter der Überschrift »Das Theater der Meistersinger von Nürnberg« vornimmt. Herrmanns Rekonstruktion, die die theaterwissenschaftliche Forschung über Jahrzehnte in ein Für und Wider fraktioniert hat, ist mittlerweile zu den Akten gelegt. Aus heutiger Perspektive erscheint sie vor allem als ein Konstrukt des epistemologischen Begehrens der frühen theaterwissenschaftlichen Forschung.1 1 | Max Herrmann ging es, wie Stefan Corssen betont, nicht allein um die authentische Rekonstruktion eines konkreten materiellen Spielortes, sondern auch um »ein erstes Beispiel für die Anwendung einer spezifischen theaterwissenschaftlichen Methodik«. (Corssen, Stefan: Max Herrmann und die Anfänge der Theaterwissenschaft. Mit teilweise unveröffentlichten Materialien, Tübingen: Niemeyer 1998, S. 100.) Die Akribie der Rekonstruktionsbemühungen Herrmanns und der Furor, mit dem die nachfolgenden Streitigkeiten mit Albert Köster um ihre Korrektheit ausgetragen wurden (vgl. Köster, Albert: Die Meistersingerbühne des sech-
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Hans Sachs war von der deutschen Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts zum »Ursprung und Gründer des deutschen Theaters« stilisiert worden.2 Die theaterphilologische Rekonstruktion einer nach ihm benannten Bühne und ihre Abstraktion zu einer Bühnenform war insofern eine Fortschreibung der nationalphilologischen Tradition der Germanistik. Doch in Herrmanns Bemühen, den Raum der Aufführung von Sachs’ einzigem Nibelungendrama (Tragedj des hüernen Sewfried) in der Nürnberger St. Martha Kirche so detailliert wie möglich zu rekonstruieren, liegt ein über diese Fortschreibung hinausweisendes Moment, denn die Aufführung wird hier zum eigentlich raumgebenden Ereignis. Der Chorraum der Kirche wird nicht nur als physikalischer Raum eines theatralen Geschehens thematisch, sondern wird auch zum Gegenstand eines qualitativ neuartigen epistemologischen Interesses am Theater als Aufführung. Während die historische Analyse der Hans-Sachs-Bühne durch Herrmann heute allein in wissensgeschichtlicher Hinsicht Aufmerksamkeit erfährt, werden die Schlussfolgerungen aus seiner Rekonstruktion, die er programmatisch in der Einleitung seiner Forschungen platziert, nach wie vor als Ausgangspunkt für die theaterwissenschaftliche Raumanalyse genommen: »Theaterkunst ist eine Raumkunst – in erster Linie kommt es darauf an, den Raum der Vorstellung [im Sinne der Aufführung, J. L.] und die Art seiner Benutzung genau zu kennen.«3 zehnten Jahrhunderts. Ein Versuch des Wiederaufbaus, Halle: Niemeyer 1920), müssen vor dem Hintergrund des Bemühens um universitäre Anerkennung von »Theater« als epistemologischer Gegenstand gegenüber dem Drama verstanden werden. Eine Fundamentalopposition von germanistischer Philologie und früher Theatergeschichtswissenschaft kann hieraus nicht abgeleitet werden, vgl. Hulfeld, Stefan: Wie Wissen über Theater entsteht. Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis, Zürich: Chronos 2007, S. 271-280. 2 | Prutz, Robert Eduard: Vorlesungen über die Geschichte des deutschen Theaters, Berlin: Duncker & Humblot 1847, S. 63, zitiert nach Kirschstein, Corinna: Theater Wissenschaft Historiographie. Studien zu den Anfängen theaterwissenschaftlicher Forschung in Leipzig, Leipzig: Universitätsverlag 2009, S. 46. 3 | Herrmann, Max: Forschungen zur deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance, Berlin: Weidmann 1914, S. 14. Zu den epistemischen Voraussetzungen des Raum-Paradigmas in der Gründungsphase der Theaterwissenschaft vgl. die Dissertation von Stefan Corssen Max Herrmann und die Anfänge der Theaterwissenschaft, S. 38-41, 96-102, sowie Herrmann, Hans-Christian von:
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Der »Kunstraum« beziehungsweise »Erlebnisraum« des Theaters sei, so Herrmann in einem zu Lebzeiten unpubliziert gebliebenen Aufsatz über Das theatralische Raumerlebnis (1931), ein Produkt theatraler Vorgänge und werde durch das Zusammenspiel von Zuschauern und Akteuren im Verlauf einer Aufführung und unter den spezifischen Bedingungen des physikalischen Raumes hervorgebracht.4 Jens Roselt unterscheidet mit Bezug auf Max Herrmanns aufführungsbasierten Zugang zum Raum des Theaters drei Dimensionen des Raumes, die für die theaterwissenschaftliche Raumanalyse zentral sind: eine soziale, eine funktionale und eine ästhetische. Die soziale Dimension bezieht sich auf den Platz, den das Theater innerhalb einer Gesellschaft einnimmt, wobei vorausgesetzt ist, dass Theater grundsätzlich überall stattfinden kann: »seine Räume werden durch die Benutzung definiert«, da Aufführungen »nicht auf institutionalisierte Theaterbauten angewiesen« sind.5 Die funktionale Dimension zeigt sich in der Art und Weise, wie durch den Raum Zuschauer und Akteure zueinander in Beziehung gesetzt werden: Die räumliche Anordnung weist den Beteiligten ihre spezifische Funktion zu, zugleich schränkt sie deren Wirkungskreis ein.6 Die Zuordnung der strukturellen Einheiten des Bühnenraums und des Zuschauerraums ist historisch variabel. Sie kann auf einer strikten Trennung basieren (»vierte Wand«), oder aber einer wechselseitigen Entgrenzung unterliegen (etwa im Straßentheater). In der Theaterhistoriographie werden diesbezüglich eine Reihe von räumlichen GrundDas Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters und seiner Wissenschaft, München: Fink 2005, insb. S. 243-253. 4 | Vgl. Herrmann, Max: »Das theatralische Raumerlebnis« [1931], in: S. Corssen, Max Herrmann und die Anfänge der Theaterwissenschaft, S. 270-281, hier S. 271. Die bei Max Herrmann angelegte Dichotomie von physikalischem Raum und Erlebnisraum findet sich in der aktuellen theaterwissenschaftlichen Theoriebildung in der Unterscheidung von Raum und Räumlichkeit, vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. Zur Frage der Raumbildung vgl. Eke, Norbert Otto/Haß, Ulrike/Kaldrack, Irina (Hg.): Bühne. Raumbildende Prozesse im Theater, Paderborn: Fink 2014. 5 | Roselt, Jens: »Raum«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart u.a.: Metzler 2005, S. 260-267, hier S. 260. 6 | Vgl. ebd.
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formen unterschieden, die jeweils eine epochenspezifische Signatur besitzen: Amphitheater, Simultanbühne, Sukzessionsbühne, Guckkastenbühne, Relief bühne, Raumbühne und Black Box. Für eine Analyse der ästhetischen Dimension des Aufführungsraumes wird schließlich jene Differenz zwischen physikalischem Raum (homogen, isotrop, objektiv) und Wahrnehmungsraum (inhomogen, anisotrop, subjektiv-imaginär) relevant, die durch die Raumtheorien des 20. Jahrhunderts (etwa durch Ernst Mach) etabliert wurde. Im Folgenden möchte ich diese Felder der Raumanalyse um eine weitere, nämlich eine epistemische Dimension ergänzen und die Frage nach dem Wissensraum des Theaters stellen. Diese Dimension erscheint mir zentral, auch mit Blick auf den Entstehungszusammenhang einer theaterwissenschaftlichen Raumanalyse (in Hinblick auf den Streit um die Hans-Sachs-Bühne), da sie gerade nicht in einem aufführungsbezogenen Raumverständnis aufgeht, sondern auf jene räumlichen Konfigurationen abzielt, in denen Wissen, Architektur und Theater sich verschränken.
W ISSENSR ÄUME DES THE ATERS Ausgehend von einem neuen Interesse an Fragen der Materialität und Medialität von Wissen hat die Frage nach den räumlichen Bedingungen und Voraussetzungen der Akkumulation, Produktion, Organisation, Darstellung und Verbreitung von Wissen in den letzten zwei Dekaden sowohl aus wissens- und wissenschaftsgeschichtlicher als auch aus kunst- und kulturwissenschaftlicher Perspektive viel Aufmerksamkeit erfahren. Konkrete soziale Räume und mit ihnen verbundene Techniken des Beobachtens, Experimentierens und Demonstrierens, des Sammelns und Ausstellens, der Versammlung und des kommunikativen Austausches wurden auf epistemisch relevante Strategien und Praktiken sowie ihren materialen Eigensinn hin befragt.7 Private, semi-öffentliche und institutionelle Netzwerke der Kommunikation, des Transfers von Wissen, des Handels mit und des Austausches von Wissensobjekten (etwa im Kontext von Akademien) gerieten in den Blick. 7 | Vgl. Schramm, Helmar/Schwarte, Ludger/Lazardzig, Jan (Hg.): Kunstkammer, Laboratorium, Bühne. Räume des Wissens im 17. Jahrhundert, Berlin/New York: De Gruyter 2003.
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Folgt man einer von Mitchell G. Ash für die Wissenschaftsgeschichte vorgenommenen Aufteilung, dann lassen sich Wissensräume nach drei analytischen Kategorien unterscheiden, die sich allerdings vielfältig überlagern und durchdringen.8 Ausgangspunkt seines Systematisierungsversuches ist die Einsicht, dass Wissensräume nicht mit Räumen und Institutionen der Wissenschaft gleichzusetzen sind (zum Beispiel mit Universitäten, Akademien oder Laboratorien), sondern häufig erst durch Praktiken und Techniken in Erscheinung treten (wie es beispielsweise bei Netzwerken der Fall ist). Ash unterscheidet zwischen physischen (auch geographischen), sozialen (beziehungsweise gesellschaftlichen) und symbolischen (beziehungsweise repräsentativen) Wissensräumen. Unter den physischen Räumen versteht er Räumlichkeiten und Stätten der Forschung, Instrumente und apparative Ensembles, regionale oder weltweite Netzwerke, geographisch deutlich eingegrenzte und klar definierte Gebiete sowie Regionen, Nationen oder Kulturgebiete, »die metaphorisch als Wissensräume dargestellt und begriffen werden«.9 Als soziale oder gesellschaftliche Wissensräume lassen sich Ash zufolge sowohl die jeweiligen Binnenverhältnisse der physikalischen Wissensräume beschreiben als auch der konkrete Umgang mit ihnen und der Austausch zwischen ihnen. Die Grenzen zwischen den Kategorien sind insofern unscharf, als sich beispielsweise der physische oder geographische Raum erst durch soziale Tätigkeit herstellt. Eine in historiographischer Perspektive ganz besonders schwer isoliert zu betrachtende Kategorie ist 8 | Vgl. Ash, Mitchell G.: »Räume des Wissens – was und wo sind sie? Einleitung in das Thema«, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), H. 3, S. 235-242. Konzeptuelle Überlegungen zum Begriff »Wissensraum« finden sich aus philosophischer Perspektive bei Busche, Hubertus: »Wissensräume. Ein systematischer Versuch«, in: Karen Joisten (Hg.), Räume des Wissens. Grundpositionen in der Geschichte der Philosophie, Bielefeld: transcript 2010, S. 17-30, und aus medientheoretischer Perspektive bei Müller, Dorit/Scholz, Sebastian: »Räume des Wissens«, in: Dies. (Hg.), Raum Wissen Medien. Zur raumtheoretischen Reformulierung des Medienbegriffs, Bielefeld: transcript 2012, S. 10-14. Vgl. mit Bezug auf konkrete frühneuzeitliche Architekturen Rößler, Hole: »Das barocke Schloss als Wissensraum. Einleitende Überlegungen«, in: Berthold Heinecke/ Hole Rößler/Flemming Schock (Hg.), Residenz der Musen. Das barocke Schloss als Wissensraum, Berlin: Lukas Verlag 2012, S. 9-33. 9 | M. G. Ash: »Räume des Wissens«, S. 238.
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die der symbolischen, das heißt »durch Darstellungen und Repräsentationen geschaffenen Wissensräume«10 (von zoologischen und botanischen Gärten über Ausstellungen, Museen und anatomische Theater bis hin zu Graphen und Tabellen), da uns »Wissen« hier in der Regel nur in symbolischer Form zugänglich ist. Gegenstand meiner Analyse von Wissensräumen ist das Werk des »Architekten-Ingenieurs«11 Joseph Furttenbach des Älteren (1591–1667).12 Für die frühere theaterwissenschaftliche Forschung war er vor allem aus nationalgeschichtlicher Sicht interessant, denn ihm wird die Errichtung des ersten Stadttheaters im deutschsprachigen Raum, 1641 in Ulm, zugeschrieben.13 In seinen unterschiedlichen Theaterentwürfen vom Kunstkammer-Theater über die frühbarocke Illusionsbühne bis hin zum Feuerwerks- und Festtheater spiegelt sich das weite Spektrum des barocken Theaterbegriffs. Darüber hinaus wird in seinen aufwendig illustrierten Architekturbüchern wie auch in der von ihm eingerichteten Kunstkammer architektonisches und konstruktives Wissen inszenatorisch auf bereitet, enzyklopädisch nobilitiert und zum Gegenstand eines durch vielfältige Verweise vernetzten Wissensraumes, den ich nachfolgend als »Architektur-Theater« charakterisieren möchte.
10 | Ebd., S. 239. 11 | Vgl. zu dem weiten, im vitruvianischen Ideal stehenden Berufsbild des frühneuzeitlichen Architekten-Ingenieurs Schütte, Ulrich: »Architekt und Ingenieur«, in: Ulrich Schütte/Hartwig Neumann/Andreas Beyer (Hg.), Architekt und Ingenieur. Baumeister in Krieg und Frieden, Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek 1984, S. 18-31. 12 | Zu Joseph Furttenbach vgl. Berthold, Margot: Joseph Furttenbach (1591– 1667). Architekturtheoretiker und Stadtbaumeister in Ulm, unveröffentlichte Dissertation, München 1951. Der aktuelle Forschungsstand zu Furttenbach findet sich in der Edition seines tagebuchartigen Lebenslaufes, vgl. Furttenbach, Joseph: Lebenslauff 1652–1664, hg. v. Kaspar von Greyerz et al., Köln/Weimar/ Wien: Böhlau 2013. Die nachfolgenden Ausführungen zu Furttenbach basieren auf Forschungen, die ich im Rahmen meiner Dissertation durchgeführt habe, vgl. Lazardzig, Jan: Theatermaschine und Festungsbau. Paradoxien der Wissensproduktion im 17. Jahrhundert, Berlin: Akademie Verlag 2007, S. 87-142. 13 | Vgl. Nagler, Alois M.: »The Furttenbach Theatre in Ulm«, in: The Theatre Annual 10 (1953), S. 45-63.
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W ISSENSR ÄUME DES THE ATERS BEI J OSEPH F URT TENBACH Wie viele der zeitgenössischen Künstler, Architekten und Ingenieure schöpft auch Joseph Furttenbach (1591–1667) sein handwerkliches sowie ingenieur- und architekturtheoretisches Wissen aus einer langjährigen Ausbildungszeit in Italien.14 Furttenbach entstammt einer altadligen Patrizier- und Kaufmannsfamilie aus Leutkirch bei Ulm. Im Alter von sechzehn Jahren tritt er nach zweijähriger Kanzleitätigkeit seine Ausbildungsreise an. Er lernt in Mailand die Landessprache und hält sich – unterbrochen von ausgedehnten Reisen, die ihn bis nach Rom führen – sieben Jahre in Genua und vermutlich zwei Jahre (1617, 1619/1620) in Florenz auf. War es zunächst sein Ziel, die für den Kaufmannsberuf notwendigen Erfahrungen zu sammeln, so wendet sich Furttenbach schließlich der Baukunst, dem Ingenieur- und Artilleriewesen, der Geschützkunde und dem Festungsbau zu. Durch seinen Lehrmeister, den heute wenig bekannten Genueser Ingenieur und Architekten Paolo Rizio, wird er in die Festungsbau-, Grottenwerk- und Prospektivbaukunst eingeführt. Bei dem Augsburger Büchsenmeister und Feuerwerker Hans Veldhauser erwirbt er sich einen Lehrbrief in den »Arte delle Bombardieri«. Die für seine späteren Theaterentwürfe und -einrichtungen entscheidenden Eindrücke gewinnt Furttenbach jedoch im Rahmen der von Giulio Parigi (1571–1635) privat geführten Florentiner Accademia.15 Giulio Parigi, Sohn des am Bau der Uffizien beteiligten Alfonso Parigi des Älteren und Schüler von Bernardo Buontalenti, arbeitet als Architekt, Bühnenbildner und Kupferstecher am Hof der Medici. Bei ihm studiert Furttenbach die Kunst der Szenographie, Architektur und Gartengestaltung.16 Zu den Szenographen und Architekten, die Parigi aufsuchen und bei ihm lernen, zählen neben Furttenbach auch Jacques Callot (Frankreich), Inigo Jones (England) und Cosimo Lotti (Spanien). Der Accademia von Parigi kommt für die Herausbildung der barocken Bühne in Europa somit eine 14 | Vgl. Paulus, Simon: Deutsche Architektenreisen. Zwischen Renaissance und Moderne, Petersberg: Imhof-Kulturgeschichte 2011. 15 | Vgl. Negro Spina, Annamaria: Giulio Parigi e gli incisori della sua cerchia, Neapel: Società Ed. Napoletana 1983. 16 | Vgl. Zaugg, Roberto: »›bey den Jtalienern recht sinnreiche Gedancken [...] gespürt‹. Joseph Furttenbach als kultureller Vermittler«, in: J. Furttenbach, Lebenslauff 1652–1664, S. 25-43.
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entscheidende Bedeutung zu.17 Furttenbach legt hier nicht nur einen großen Vorrat an Stichvorlagen an, sondern wird auch mit dem Mechanismus der Verwandlungsbühne (Periaktenbühne) und ihren Typendekorationen bekannt gemacht.18 Aus Italien in seine schwäbische Heimat zurückgekehrt, beginnt Furttenbach ab 1627 eine umfangreiche publizistische Tätigkeit.19 In dichter Folge erscheinen seine italienische Reisebeschreibung (Newes Itinerarium Italiae, 1627), ein Artilleriebuch (Halinitro Pyrobolia: Beschreibung einer newen Büchsenmeisterey, 1627), ein Traktat zur Zivilbaukunst (Architectura civilis, 1628), zur Schiff baukunst (Architectura navalis. Das ist: Von dem Schiffgebäw / auff dem Meer und Seekusten zugebrauchen, 1629) und ein Traktat zum Festungsbau (Architectura martialis. Das ist: 17 | Der amerikanische Kunsthistoriker Arthur Blumenthal urteilt: »As a link between Bernardo Buontalenti (1535–1608) and the seceinto scenographer Giacomo Torelli (1608–1678), Parigi assisted in the creation of the Baroque stage, in fact, of a whole era.« (Blumenthal, Arthur: Giulio Parigi’s Stage Designs: Florence and the Early Baroque Spectacle, unveröffentlichte Dissertation, New York 1984, S. 1.) Vgl. ferner Baroni Vannucci, Alessandra: »A scuola d’incisione da Giulio Parigi. Cantagallina e altri«, in: Paragone. Rivista mensile di arte figurativa e letteratura fondata da Roberto Longhi 60 (2009), S. 88-93. 18 | Die insgesamt sechs Theaterentwürfe Furttenbachs, insbesondere die von ihm verwandte Periaktenbühne, sind – zumeist unter Missachtung des Gesamtwerkes – seitens der theatergeschichtlichen Forschung immer wieder dargestellt und diskutiert worden, vgl. etwa aus technikgeschichtlicher Perspektive Reinking, Wilhelm: Die sechs Theaterprojekte des Architekten Joseph Furttenbach 1591– 1667, Frankfurt a.M.: Tende 1984. Zur Bedeutung Furttenbachs für die Herausbildung einer deutschsprachigen Theaterbautheorie im 17. und 18. Jahrhundert vgl. Zielske, Harald: »Die Anfänge einer Theaterbautheorie in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert«, in: Rolf Badenhausen/Harald Zielske (Hg.), Bühnenformen – Bühnenräume – Bühnendekorationen. Beiträge zur Entwicklung des Spielorts. Herbert A. Frenzel zum 65. Geburtstag, Berlin: Schmidt 1974, S. 28-63. 19 | Links zu qualitativ hochwertigen Digitalisaten aller Schriften Furttenbachs (sowie zu den zehn Architekturtraktaten, die unter dem Namen seines früh verstorbenen Sohnes Joseph Furttenbach des Jüngeren publiziert wurden) und zu zahlreichen biographischen Quellen sind von Hole Rößler (Berlin/Wolfenbüttel) zusammengestellt worden, http://www.holeroessler.de/furttenbach.html vom 23. Mai 2014.
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Außführliches Bedencken / uber das / zu dem Geschütz vnd Waffen gehörige Gebäw, 1630). Nach dem Antritt des Amtes als Stadtbaumeister in Ulm 1631 erscheinen ferner eine universalarchitektonische Schrift zu Zivilund Kriegsbau (Architectura universalis. Das ist: Von Kriegs: Statt- und Wasser-Gebäwen, 1635), ein weiteres Traktat zur Zivilbaukunst, das auch die berühmten Entwürfe seiner Periaktenbühne enthält (Architectura recreationis. Das ist: Von Allerhand Nutzlich: vnd Erfrewlichen Civilischen Gebäwen, 1640), eine Schrift über das von ihm 1640 erbaute Wohn- und Arbeitshaus in Ulm (Architectura privata, 1641), ein weiteres Artilleriebuch (Büchsenmeisterey-Schul, 1643), ein Instrumentenbuch (Mechanische ReißLaden / Das ist / Ein gar geschmeidige / bey sich verborgen tragende Laden, 1644) und schließlich sein umfangreichstes Werk, in dem er noch einmal all seine Kenntnisse zusammenfasst (Mannhaffter Kunst-Spiegel / Oder Continuatio, vnd fortsetzung allerhand Mathematisch- vnd Mechanischhochnutzlich-So wol auch sehr erfrölichen delectationen, 1663). Parallel zu seiner publizistischen Tätigkeit kümmert sich Furttenbach um den Auf bau und Ausbau einer bald weit über die Landesgrenzen bekannten und von vielen Reisenden aufgesuchten Rüst- und Kunstkammer. Ab 1640 befindet sie sich in eigens geschaffenen Räumen seines Ulmer Bürgerhauses.20 Vor dem oben skizzierten Hintergrund möchte ich nachfolgend drei Wissensräume unterscheiden, die in ihrem zeitlichen Nach- und Nebeneinander sowohl die Transformation als auch den Transfer von Wissen durch den »Architekten-Ingenieur« Furttenbach beinhalten: a) den apodemisch konzipierten Kulturraum Italien (als geographischen Wissensraum), b) die bürgerliche Kunstkammer (als sozialen und symbolischen Wissensraum) und c) das technische Schaubuch (als symbolischen Wis20 | Ein von Furttenbachs Augsburger Verlegern herausgegebenes Kunstkammerinventar bietet Aufschluss über die Ausstattung und die Nutzung seiner Ausstellungs- und Arbeitsräume, vgl. Schultes, Johann/Rembold, Matthäus: Inventarium, Viler Nutzbaren / immer denckwürdigen Militar: Civil: Naval: und dergleichen Architectonischen Modellen, und Abrissen: auch andern wolfundirten Mannhafften Sachen / welche in deß Heyl: Reichs Statt Ulm / und daselbsten in deß Herrn Joseph Furttenbachs deß Raths / und Bawherrns / [et]c. Rüst: und KunstCammer / in natura zufinden seind, Augsburg: Schultes & Rembold 1660. Ein Jahr vor Furttenbachs Tod, 1666, erscheint noch ein weiteres Inventar, herausgegeben von nahen Verwandten Furttenbachs.
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sensraum). Alle drei Wissensräume zeichnen sich durch konkrete Techniken und mediale Strategien der Inklusion und Exklusion aus, die eine Vermittlung von esoterischem, einem Kreis von Spezialisten vorbehaltenen architektonischen Wissen und von exoterischem, für einen weiteren Adressatenkreis bestimmten Wissen vornehmen. Sie setzen universalistische Ordnungen des Architektur-Wissens auf unterschiedliche Weise strategisch in Szene.
D ER K ULTURR AUM I TALIEN ALS GEOGR APHISCHER W ISSENSR AUM . F URT TENBACHS PEREGRENATIO ACADEMICA Furttenbach bereist Italien zu einer Zeit, die sich im Rückblick als einschneidend für die europäische Theatergeschichte charakterisieren lässt.21 Innerhalb kurzer Zeit vollzieht sich im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts sowohl eine Entwicklung von den für einen spezifischen Aufführungsanlass eingerichteten Saaltheatern zu freistehenden, monofunktionalen Theatergebäuden als auch der Wandel von der statischen Winkelrahmen- zur beweglichen Kulissenbühne. Diese Entwicklungen lassen sich anhand markanter Stationen beschreiben, die von der Renaissance römisch-antiker Bühnenformen im Teatro Olimpico, errichtet in Vicenza (1580–1585) nach Plänen von Andrea Palladio und Vincenzo Scamozzi, über das ebenfalls nach Scamozzis Plänen in der Idealstadt Sabbioneta (1587/1588–1590) errichtete gleichnamige Teatro Olimpico bis hin zur Kulissenbühne des Teatro Farnese reichen, errichtet in Parma (1617–1618) nach Plänen von Giovanni Battista Aleotti. Von dieser Innovationsgeschichte, die ihr Narrativ einer aufführungsfokussierten, vor allem an Bühnenformen interessierten Theater- und Kunstgeschichte verdankt, ist in Furttenbachs Schriften jedoch wenig zu finden. Bis in die Gegenwart hinein ist er daher in der theatergeschichtlichen Forschung als innovationsresistent charakterisiert worden.22 Zu einem ganz ande21 | Vgl. Albrecht, Siegfried: Teatro. Eine Reise zu den oberitalienischen Theatern des 16.–19. Jahrhunderts, Marburg: Jonas Verlag 2001. 22 | Vgl. Bruggen, Stijn van: »Bühnentechnik der italienischen Renaissance in Deutschland«, in: Bühnentechnische Rundschau 92 (1998), H. 3–5, S. 34-36, 48-52, 54-60. Dass Furttenbach mit den theatertechnischen Innovationen seiner Zeit vertraut war, zeigt sich eindrucksvoll anhand eines jüngst durch Hole Rößler
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ren Befund gelangt man, wenn man die spezifischen Strategien näher beleuchtet, mit denen Furttenbach sein in Italien erworbenes Wissen in den gemischt-konfessionellen deutschen Sprachraum transferiert und in Entwürfe umsetzt. Nach seiner Rückkehr aus Italien publiziert Furttenbach zuerst einen chorographisch angelegten Reise- und Architektur-Führer für Nord- und Mittelitalien, Newes Itinerarium Italiae (1627), der die von ihm beschrittenen Reiserouten nachzeichnet.23 Die genaue Kenntnis dieses Kulturraumes, die er hier demonstriert, stellt das soziale und symbolische Kapital für seine Karriere als publizierender Architekturtheoretiker bereit. Entsprechend ruft seine italienische Reisebeschreibung nicht nur ein in der Apodemik der Frühen Neuzeit etabliertes Format auf, sondern ist zugleich eine ex post inszenierte peregrenatio academica, ein Nachvollzug der Ausbildungsstationen des angehenden Architekten-Ingenieurs.24 Die Reise führt durch die Lombardei, Ligurien, die Toskana und entlang der Mittelmeerküste bis nach Rom, durch Umbrien, dann der Adriaküste folgend durch die Romagna bis nach Venedig (Abb. 1). Sie erschließt ein Territorium, das für Furttenbach aufgrund der Baudenkmäler sowie der ausführenden und ansässigen Künstler, Architekten und Ingenieure in mehrfacher Hinsicht Ideal- und Modellraum ist. Die von Furttenbach beschriebenen Architekturen sind exakt verdatet: Er prüft und wägt Materialien, schreitet Kirchen- und Palastgebäude ab, vermisst Grotten und Gärten. Seinem registrierenden Blick entgehen auch nicht die feinen Unterschiede in Klima-, Boden- und Straßenbeschaffenheit. Sprach- und Charaktereigenheiten der Bevölkerung werden ebenso sensibel aufgenommen wie deren Trink- und Essgewohnheiten. Gleichwohl zeigt sich in dem durch zahlreiche praktische Hinweise (zum Beispiel identifizierten Manuskripts von Furttenbach über Theatermaschinen und Festspektakel in Florenz (circa 1620): München, Bayerische Staatsbibliothek, Codex iconographicus 401. 23 | Vgl. Furttenbach, Joseph: Newes Itinerarium Italiae: In welchem der Reisende nicht allein gründtlichen Bericht, durch die herrlichste namhaffteste örter Italiae sein Reiß wol zubestellen, sonder es wirdt jhme auch […] beschrieben, was allda […] an fürstlichen Hoffhaltungen […] denckwürdig zu sehen […], Ulm: Saur 1627. 24 | Vgl. R. Zaugg: »›bey den Jtalienern recht sinnreiche Gedancken [...] gespürt‹«, S. 33.
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Abb. 1, »Chorographische Wegweisung«.
Quelle: J. Furttenbach: Newes Itinerarium Italiae, Nr. 1.
Tavernen und Pferdeschenken) und Handreichungen (zum Beispiel Umrechnungstabellen für Währungen) ausgezeichneten Itinerar eine – wie Roberto Zaugg herausgearbeitet hat – auffallende Tendenz zur Extrapolation und Dekontextualisierung. Dies betrifft zum einen die geschilderten Bauten, deren gesellschaftliche Funktionen und Verflechtungen konsequent ausgeblendet bleiben und die auf den begleitenden Kupferstichen in schematischen Grundrissen und Frontalansichten eine »dekontextualisierte Modellisierung« erfahren.25 Zum anderen wird der italienische Kul25 | Ebd., S. 39.
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turraum durch den tiefgläubigen Lutheraner Furttenbach konfessionell weitgehend neutralisiert. Der Autor verzichtet auf jede konfessionelle Polemik und religionskritische Tendenz. So vermag er sich anlässlich einer durch Giulio Parigi im Palazzo Pitti gestalteten Karfreitagsaufführung für eine die Sinne affizierende Beleuchtungstechnik zu begeistern, ohne deren gegenreformatorische Kommunikationsmodi zu thematisieren.26 Die curiositas als das Leitmotiv der ars apodemica trägt zu einer Schaulust bei, die zur Indifferenz tendiert: Überall entdeckt der Autor »Heroisches«, alles erscheint staunenswert. So wird das Teatro Olimpico in Vicenza als »trefflich schön nach Prospectiuischer Art« beschrieben und ein in unmittelbarer Nachbarschaft befindlicher »trefflich schöne[r] Irrgarten« mit großer Begeisterung geschildert, denn dergleichen habe der Reisende »in Italia nie gesehen«.27 Die Begräbniskapelle der Medici bei San Lorenzo in Florenz erscheint als die »köstlichste Capell / so in gantz Europa zu finden«28 und St. Peter in Rom, dessen Kuppel »gar allegro lustig und ringfertig mit vilen habenden Fenstern auffgeführt«,29 geht als der »grösste und köstlichste Tempel, so man in gantz Europa finden möchte«,30 in die Darstellung ein. Insgesamt folgt die Gestaltung des Kulturraums »Italien« Mustern der Modellierung und konfessionellen Neutralisierung, die in der Reiseliteratur für den Transfer kulturellen Wissens etabliert sind.31 Furttenbach setzt diese Muster in seinem Itinerar für den Transfer architektonischen und technischen Wissens ein. Auf der strukturellen Ebene bedient er sich mit der Chorographie einer in der ars apodemica etablierten kartographischen Methode. Diese Methode erlaubt es ihm, die sinnliche Ebene des subjektiv erfahrenen »Schauraumes« 26 | Vgl. ebd., S. 35. 27 | J. Furttenbach: Newes Itinerarium Italiae, S. 246. Auch das Teatro Farnese von Aleotti, welches zum Zeitpunkt seines Italienaufenthaltes gerade vollendet wurde, ist Furttenbach nicht mehr wert als einen Satz. Zum Teatro Olimpico vgl. Deborre, Ingeborg: Palladios Teatro Olimpico in Vicenza. Die Inszenierung einer lokalen Aristokratie unter venezianischer Herrschaft, Marburg: Jonas Verlag 1996. 28 | J. Furttenbach: Newes Itinerarium Italiae, S. 97. 29 | Ebd., S. 112. 30 | Ebd., S. 111. 31 | Vgl. R. Zaugg: »›bey den Jtalienern recht sinnreiche Gedancken [...] gespürt‹«, S. 39f.
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Italien mit dem quantifizierten, abstrakten »Datenraum« Italien zu synchronisieren.32 Kartographiegeschichtlich geht die Chorographie auf Ptolemäus (90–168 nach Christus) zurück, der im ersten Buch der Geographia zwei Verfahren der Raumschrift (griechisch graphein = ritzen, schreiben) unterscheidet.33 Das eine Verfahren ist das der Geographie (griechisch ge = Erde, Erdboden); es hat die Aufzeichnung der gesamten bekannten und bewohnten Erde, der Ökumene, zum Zweck.34 Das andere Verfahren ist das der Chorographie (griechisch chora hier im Sinne eines von etwas eingenommenen Platzes); seine Aufgabe besteht in der Darstellung einzelner lokaler Bereiche der Ökumene, von Häfen, Gebäuden, Dörfern oder Flussläufen.35 Zielt die Geographie auf das Ganze, so ist der Gegenstand der Chorographie ein kleiner Ausschnitt dieses Ganzen. Ptolemäus veranschaulicht das entsprechende Verhältnis anhand einer Analogie: Die Geographie soll der Darstellung eines Kopfes gleichen, von dem die Chorographie lediglich das Auge oder Ohr zur Anschauung bringt. Mit Auge und Ohr ist der Chorographie die sinnliche Wahrnehmung zugeordnet, der Geographie mit dem Kopf hingegen der Verstand. Der darin zutage tretende Widerstreit zwischen sinnlich-qualitativer und mathematischquantitativer Erfassung setzt sich auf der Ebene der Darstellungstechniken zwischen der Malerei und Mathematik beziehungsweise Geometrie 32 | Vgl. zum Begriffspaar »Schauraum« und »Datenraum« Schäffner, Wolfgang: »Telemathische Repräsentation im 17. Jahrhundert«, in: Erika Fischer-Lichte (Hg.), Theatralität und die Krisen der Repräsentation. DFG-Symposion 1999, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2001, S. 411-428. 33 | Die nachfolgenden Ausführungen zur Kartographiegeschichte verdanke ich der Zusammenarbeit mit Kirsten Wagner (Bielefeld), vgl. Lazardzig, Jan/Wagner, Kirsten: »Raumwahrnehmung und Wissensproduktion. Erkundungen im Interferenzbereich von Theorie und Praxis«, in: Christina Lechtermann/Kirsten Wagner/ Horst Wenzel (Hg.), Möglichkeitsräume. Zur Performativität von sensorischer Wahrnehmung, Berlin: Schmidt 2007, S. 123-140. 34 | »Geographia designatrix imitatio est totius cogniti orbis.« (Ptolemaeus, Claudius: Geographia, eingeleitet von R. A. Skelton, Amsterdam: Theatrum Orbis Terrarum 1969 [Nachdruck Venedig: Iacobus Pentius 1511], Buch 1, Kapitel 1, o.P.) 35 | »Na chorographia particularius a toto loca abscidens / per se de quolibet ipsorum agit; describens ferme singula etiam minima conceptorum a se locorum. quemadmoduque Portus; Villas; Vicos; Fluuiorum conuersiones; ac huiusmodi localia.« (Ebd.)
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fort.36 In der Kartographie des 17. Jahrhunderts ist der abgebildete Raum der Chorographie ein dynamischer Wegeraum.37 Die verschiedenen visuellen Eindrücke sind nicht zu einem totalen, von einem einzigen Blickpunkt aus erfassten Bild synthetisiert; es wird nur das ausgewählt und dargestellt, was von Bedeutung erscheint. Das chorographische Subjekt befindet sich inmitten der Umgebung, es steht nicht in einer räumlichen Distanz zu ihr. Das Itinerar Furttenbachs changiert zwischen der abstraktmathematischen Ordnung der Geographie und der sinnlich-malerischen Ordnung der Chorographie. Während auf der inhaltlichen Ebene des Itinerars eine strategische Formatierung des Kulturraumes zum Zweck des Kulturtransfers zu konstatieren ist, entscheidet sich Furttenbach auf der formalen Ebene für eine kartographische Technik, die es ihm ermöglicht, quantifizierende und qualifizierende Beschreibungen, subjektiv Erfahrenes und objektiv Gültiges miteinander in Einklang zu bringen.
D IE R ÜST- UND K UNSTK AMMER ALS SOZIALER UND SYMBOLISCHER W ISSENSR AUM Furttenbach scheint also in seinem Itinerar für die Schauspielbühnen Oberitaliens, für das Teatro Olimpico in Vicenza und das Theater in Parma, kein besonderes Interesse aufzubringen. Auffallend ist demgegenüber seine Aufmerksamkeit für die zahlreichen, zumeist fürstlichen Raritätenkabinette und Naturaliensammlungen, die er im Laufe seines Italienaufenthaltes besucht.38 Der erste von ihm konzipierte Theaterentwurf, den er im Jahr nach dem Erscheinen seiner Reisebeschreibung in den Band Architectura civilis (1628) aufnimmt, ist eine in seiner Form wohl einzigartige Umsetzung der in Italien gesammelten Eindrücke. Es handelt sich um den Entwurf eines kleinen Saaltheaters, welches 36 | Vgl. Nuti, Lucia: Ritratti di città. Visione e memoria tra Medioevo e Settecento, Venedig: Marsilio 1996, S. 23ff. 37 | Vgl. ebd., S. 101ff. 38 | Vgl. J. Furttenbach: Newes Itinerarium Italiae, S. 85f., 89, 116, 191, 239243. Zu Furttenbachs Rüst- und Kunstkammer vgl. J. Lazardzig: Theatermaschine und Festungsbau, S. 123-132, sowie Siebenhüner, Kim: »Entwerfen, Modelle bauen, ausstellen. Joseph Furttenbach und seine Rüst- und Kunstkammer«, in: J. Furttenbach, Lebenslauff 1652–1664, S. 45-65.
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Kunstkammer und Theatersaal zu einem Kunstkammer-Theater verbindet (Abb. 2). Abb. 2, Kunstkammer-Theater.
Quelle: J. Furttenbach: Architectura civilis, Nr. 22.
Dieses für ein bürgerliches Stadthaus in Circus-Form konzipierte Saaltheater weist an den Stirnseiten eine Grotte sowie eine einfache Winkelrahmenbühne (»Sciena di Comedia«) auf. Furttenbach sucht hier im Kleinen Anklang an die mit Säulen umhegte Galerie der Uffizien, die er in seinem Itinerar ausführlich und mit Begeisterung schildert.39 Dieses Kunstkammer-Theater wird von ihm als Wissensraum der Architektur 39 | Zum Uffizien-Rundgang vgl. J. Furttenbach: Newes Itinerarium Italiae, S. 85ff. Die Parallele des Kunstkammer-Theaters zu den Uffizien hat bereits
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und des Ingenieurwesens konzipiert, der sowohl für den Laien als auch für den erfahrenen Architekten und Konstrukteur eine phantasiemobilisierende Funktion haben soll. An den Längsseiten des Raumes befinden sich insgesamt neun hölzerne Nischen, in denen hinter Vorhängen Modelle der Schiffs- und Zivilbaukunst, astronomische Instrumente samt Globus, Sphera und Sonnenuhr, geometrische und arithmetische Instrumente und Tabellen, Geschützmodelle und Artillerie-Instrumente sowie eine Vielzahl pyrotechnischer Gerätschaften verborgen sind. Kurz: Das ganze Spektrum architektonisch-mechanischer Kreation ist im Modell zugegen. Dieses Kunstkammer-Theater erfüllt nun keineswegs eine museale Funktion, sondern »verender[t]« gerade aufgrund seiner theatralen Anordnung »die gedancken« des Betrachters, der »alda Speculiert«, im Geiste neue Architekturen entwirft und die »Modelli gleich im gesicht hat«: Unnd wann diß Gebäw [...] also angestellt / so wirdt Der Liebhaber der Arte Ingegnio dieses würcklich vor Augen zu sehen nicht geringe ergötzlichkeit empfinden / auch in betrachtung derselben die gedancken also verendern / daß ihme etlich stund darvor zu speculieren die zeit kurtz werden wird / Anbelangt die Kästen / da sollen dieselbige mit vorhengen bedeckt / darauff aber von Geographischen mappen gar zierlich unnd lustig gemahlt [...]. Sonsten aber mag in Disem Theatro ein Bibliotheca, oder Liberey doch allain mit hinein gestelten bencken gericht / Also daß vor einem jeden kasten ein banck mit bücher verordnet / welche samentlich von derselben Arte, warbey sie am negsten stehn tractieren. Das macht dem studioso wann er alda Speculiert und die visierungen oder Modelli gleich im gesicht hat / grosse recreation. Dise Liberey kan aber zu jederzeit behend abgehöbt / die benck weg genommen / Alßdann nach belieben in disem Theatro ein Comedien Agiert / oder ein Pangett / oder Dantz darinnen gehalten werden. 40 Harald Zielske gesehen, vgl. H. Zielske: »Die Anfänge einer Theaterbautheorie«, S. 31. 40 | Furttenbach, Joseph: Architectura civilis. Das ist: Eygentliche Beschreibung wie man nach bester form, und gerechter regul, Fürs Erste, Palläst, mit dero Lust: und Thiergartten, darbey auch Grotten; Sodan Gemeine Bewohnungen: Zum Andern, Kirchen, Capell Ɲ, Altär Gotshäuser: Drittens, Spitäler, Lazaretten und Gotsäcker aufführen unnd erbawen soll. Alles auß vielfaltiger Erfahrnuß zusammen getragen beschrieben, und mit 40. Kupfferstucken für Augen gestellt, Ulm: Saur 1628, S. 54 [Hervorhebung J. L.].
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Abb. 3, Grundplan der Rüst- und Kunstkammer.
Quelle: J. Furttenbach: Architectura privata, Nr. 8.
Die wichtigste Funktion dieses Raumes ist zweifellos das Spekulieren; durch die Modelle, Pläne, Bücher und Instrumente soll die architektonische und technische Phantasie zu neuen Erfindungen angeregt werden. Dabei ist die Doppeldeutigkeit des Wortes »Rekreation« (im Sinne des Neuerschaffens und der Ergötzlichkeit) hervorhebenswert, mit der Furttenbach auch in seinen nachfolgenden Werken immer wieder die Synthese von Nutzen und Unterhaltung propagiert. Damit wird eine Leserschaft adressiert, die sowohl aus Liebhabern der »Arte Ingegnio«, der Ingenieurs-kunst, als auch aus (angehenden) Architekten und Ingenieuren (»studios[i]«) besteht. Dem entspricht auf der räumlichen Ebene, dass sich das Kunstkammer-Theater, das zunächst die Form eines Arbeitsraumes hat, in kurzer Zeit zu einem Tanz-, Theater- oder Bankettsaal umwandeln lässt. Diese Programmatik seines Kunstkammer-Theaters findet eine Entsprechung in Furttenbachs eigener Rüst- und Kunstkammer (Abb. 3), mit deren Aufbau er nach der Rückkehr aus Italien begann. In seinem 1640 fertiggestellten Bürgerhaus in Ulm finden die aus Italien mitgebrachten
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Modelle, Entwürfe und Kuriositäten schließlich einen dauerhaften Platz. In den folgenden Jahren erweitert Furttenbach den Objektbestand seiner Kunstkammer kontinuierlich; sie findet überregionale und später auch internationale Beachtung.41 In der Architectura privata von 1641 schildert er die Anlage der Sammlungsräume und deren Verwendungsweise. Die Räumlichkeiten wurden von Furttenbach als Parcours gestaltet (er spricht von einem »Spaziergang«), anhand dessen der Besucher (und Leser) die wichtigsten Stationen der Furttenbach’schen peregrenatio nacherleben konnte. Zugleich bot sich dem Besucher ein Einblick in beinahe alle Gebiete der artes mechanicae.42 Im Mittelpunkt des Raumes stand ein als »Kasten« bezeichneter Tisch, der unter gläsernen Klappen Furttenbachs Architekturmodelle darbot. Diese waren nach den Teilbereichen 41 | Eine Kontextualisierung der Furttenbach’schen Kunstkammer im Europa des 17. Jahrhunderts und im Kontext der barocken Sammlungspraxis sowie eine detaillierte Analyse des in- und ausländischen Besucherverkehrs bietet K. Siebenhüner: »Entwerfen, Modelle bauen, ausstellen«, insb. S. 49. Siebenhüner betont die Originalität der Furttenbach’schen Kunstkammer, da sie weder dem Modell einer humanistisch-künstlerisch geprägten Kunstkammer noch dem Modell der Naturaliensammlung folgt. 42 | Vgl. Furttenbach, Joseph: Architectura privata. Das ist: Gründtliche Beschreibung / Neben conterfetischer Vorstellung / inn was Form und Manier / ein gar Irregular, Burgerliches Wohn-Hauß: Jedoch mit seinen sehr guten Commoditeten erbawet / darbey ein Rüst: und Kunst Kammer auffgericht: Ingleichem mit Garten / Blumen: Wasser: neben einem Grottenwercklin versehen / unnd also schon zu gutem Ende ist gebracht worden: Darbey dann auch gar vertrewlich / und à pert zu erlehrnen / in was Gestalt / man die Berlemuttere Meer-Schnecken / neben denselben Muscheln / sowol auch die Corallen Zincken palliren / und das Beste Kitt / zu verfertigung der Grotten zubereiten solle; Und zu noch besserem Verstand / mit vierzehen sehr gerechten / gar nutzlichen Kupfferstucken geziert / [...]. Allen Liebhaberen der Civilischen Gebäwen zu sonderem Gefallen an das Liecht gegeben [...], Augsburg: Rembold & Schultes 1641, S. 20-52. Zur performativen Praxis in frühneuzeitlichen Sammlungen vgl. Welzel, Barbara: »Verhüllen und Inszenieren«, in: Robert Felfe/Angelia Lozar (Hg.), Frühneuzeitliche Sammlungspraxis und Literatur, Berlin: Lukas Verlag 2006, S. 109-129. Welzel weist nach, inwiefern die Ordnung von Kunst- und Wunderkammern als dynamischer Handlungsraum zu verstehen ist, der sich erst über »performative Rezeptionshandlungen« erschließt (ebd., S. 111).
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der Architektur geordnet – von der architectura civilis, navalis, martialis bis hin zur Feuerwerkerei. An den Wänden fanden sich zahlreiche Kupferstiche, Instrumente, Bücher, Materialproben und Raritäten, die dem universalen Wissenskosmos Gestalt gaben. Sitzmöbel in den Nischen sollten die Möglichkeit zur ungestörten Reflexion des Gesehenen geben. Der Sammlungsraum diente Furttenbach als eine Art materielles Widerlager seiner eigenen Entwurfs- und Publikationstätigkeit, aber auch als ein Ort des Experimentierens und des Unterrichtens. Darüber hinaus stellte er einen persönlichen Erinnerungsraum für die Ereignisse und Gefahren dar, die den Ausbildungsweg des Architekten begleitet hatten. Auch rezente Begebenheiten fanden in Form von Erinnerungsstücken Eingang in den Sammlungsraum. Bemerkenswert ist das Changieren zwischen der Erfahrungs- und Erinnerungsfunktion einerseits und einer das technische und architektonische Wissen systematisierenden beziehungsweise theoretisierenden Perspektive andererseits. So wie der Leser der Architectura privata vom Autor Furttenbach durch einen mit zahlreichen Anekdoten und Erzählungen gespickten Parcours geführt wird, so dürften erst die erfahrungsgesättigten Ausführungen des Architekten den Kunstkammerbesuch zum Ereignis gemacht haben. Viele an sich nichtssagende Objekte wurden durch Furttenbachs Erläuterungen zu mirabilia, zu staunenswerten Objekten. Unter den über 700 Besuchern, die Furttenbach für die Jahre 1626 bis 1656 erwähnt, dürften – dies legen die Aufzeichnungen in seinem Lebenslauff für den Zeitraum Juni 1652 bis Januar 1656 nahe – über ein Drittel vornehme Bürger gewesen sein, das heißt Patrizier, Rats- und Handelsherren, Ärzte, Architekten, städtische Juristen und Amtspersonen.43 Ein weiteres Drittel bildeten Personen aus dem Dienst- und Militäradel, junge Männer auf Kavalierstour und Hofangestellte. Die übrigen Besucher waren Verwandte, Studenten und Gelehrte sowie geistliche Würdenträger. Konversation und Informationsaustausch standen im Mittelpunkt der Besuche.44 Neben ihrer Funktion als dynamischer Sammlungs-, Experimentalund Memorialraum stand die Kunstkammer in einem engen referenziellen Zusammenhang mit dem schriftstellerischen Werk Furttenbachs. Nahezu alle in der Kunstkammer angeführten Modelle, Instrumente 43 | Ich folge hier der Analyse des Besuchsaufkommens durch K. Siebenhüner: »Entwerfen, Modelle bauen, ausstellen«, S. 61-63. 44 | Vgl. ebd., S. 63.
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und Maschinen sind durch einen Verweis auf ihren Ort im architekturtheoretischen Werk Furttenbachs ausgezeichnet (und vice versa). Dieser Verweiszusammenhang wird im Kunstkammer-Theater durch ein signifikantes Detail unterstrichen: Vor der Tür des »Scriptorio«, des Schreibund Arbeitsraumes des Architekten, zeigt sich dem Besucher eine »von Oelfarb gemahlte Tafel nemblich la Dama Scienzia genant […] welche vor ihr ein rein weissen Bogen Papier ligend / in dero rechten Hand aber / ein Zirckel vnnd Lineal haltet«.45 Diese Figur leitete über in das Zimmer, in dem sich die »von deß Autoris eigen Handen geschribene[n] Bücher« befanden;46 hier konnten die Kunstkammerbesucher die Bücher Furttenbachs einsehen und erwerben.
D AS TECHNISCHE S CHAUBUCH ALS SYMBOLISCHER W ISSENSR AUM Die Architekturbücher Furttenbachs, die ich abschließend als symbolischen Wissensraum charakterisieren möchte, lassen sich in den Kontext der technischen Schaubücher der Frühen Neuzeit stellen.47 Wie diese stellen auch Furttenbachs Bücher zahlreiche Bezüge zum Theater her und verbinden Nutzen und Vergnügen, technischen Utilitarismus und Technoutopismus, Expertologie und Technophilie. Bei Furttenbach, dessen Hauptwerke überwiegend vor dem Hintergrund der Zerstörungen durch den Dreißigjährigen Krieg erscheinen, findet die Synthese von Nutzen und Vergnügen ihren Ausdruck in dem programmatischen Leitbegriff der »Rekreation«. Die rekreative Programmatik ist für seine Pläne, Entwürfe und Modelle bestimmend. Rekreativ sind sowohl die von ihm entworfenen Architekturen als auch die technischen Schaubücher selbst, die Neuschöpfungen propagieren. Angesichts eines durch den 45 | J. Furttenbach: Architectura privata, S. 50f. 46 | Ebd. 47 | Vgl. Bacher, Jutta: »Das Theatrum machinarum. Eine Schaubühne zwischen Nutzen und Vergnügen«, in: Hans Holländer (Hg.), Erkenntnis, Erfindung, Konstruktion. Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2000, S. 509-518, sowie Roßbach, Nikola: Poiesis der Maschine. Barocke Konfigurationen von Technik, Literatur und Theater, Berlin: Akademie Verlag 2013.
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Krieg devastierten Territoriums, der »Wüsteney unnd Einöde«, gilt es zu »restaurirn / oder gar von newem auß der Aschen aufführen«, wie es in der Architectura recreationis von 1640, fünf Jahre nach Abschluss des Ulmer Separatfriedens der Reichsstadt mit dem Kaiser, heißt.48 Stets mitgedacht ist dabei die bewusstseinsverändernde Funktion, die der Errichtung einer »gleichsam gantz Newen Welt« innewohnt,49 wenn sich alles nutzbringend und sinnreich ineinanderfügt, sich »dem Aug Frewd und Ergötzlichkeit« bietet50 und wohlgefällige Perspektiven, Durchsichten und Einblicke »ein täglichen Augenlust und Erquickung deß Menschen Gemüts mit sich bringen«.51 Die Programmatik der Rekreation findet sich auch auf der strukturellen Ebene seiner Werke. In seiner architekturtheoretischen Hauptschrift von 1663, dem Mannhafften Kunst-Spiegel, einem umfangreichen Schaubuch der Architektur, bringt Furttenbach das Substrat all seiner bisherigen Schriften an die Öffentlichkeit. Die Einteilung des Buches in »16. unterschidliche Acte[]« strukturiert die unterschiedlichen Wissensgebiete seines Schaffens (Abb. 4). Mit der Akteinteilung verweist der Verfasser auf die lateinische Bedeutung von Spiegel (speculum) als gleich48 | Furttenbach, Joseph: Architectura recreationis. Das ist: Von Allerhand Nutzlich: vnd Erfrewlichen Civilischen Gebäwen: In vier Vnterschidliche Hauptstuck eingetheilt. Erstlich / wie man für die Privat Personen / vnd Burgersleut [...] angenehme Wohnhäuser [...] erbawen kann. Zum Andern / in was Form vnnd Gestalt die Adeliche Schlösser [...] Palläst / Lust: Thiergärten / vnd Grottenwerck [...] mögen zu Werck gesetzt werden. Drittens / ein newe Manier / die Fürstliche Palläst [...] zuerbawen. Zum Viertten / wie die Rathhäuser / so wol auch die Dogana, oder Zoll: vnd Geschawhäuser / gleichfahls die Zimmer: vnd Werckhäuser [...] auffzurichten seyen / Alles auß selbst eigener vil-Jähriger Praxi, vnd Experienza auffgemerckt / vnd zusamen getragen / allhier mit 36. Kupfferstucken delinirt / vnnd beschriben, Augsburg: Schultes 1640, Vorrede. 49 | Furttenbach, Joseph: Mannhaffter Kunst-Spiegel / Oder Continuatio, vnd fortsetzung allerhand Mathematisch- vnd Mechanisch-hochnutzlich-So wol auch sehr erfrölichen delectationen, vnd respective im Werck selbsten experimentirten freyen Künsten. Welche in hernach folgende 16. vnterschidliche Acten abgetheilt / von ieder derselben aber / auch mit schönen gantz neuen Inventionen gar klärlich seind vorgebildet worden [...], Augsburg: Schultes 1663, Vorrede. 50 | J. Furttenbach: Architectura recreationis, S. 51. 51 | Ebd., S. 52.
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Abb. 4
Quelle: J. Furttenbach: Mannhaffter Kunst-Spiegel, Titelblatt.
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bedeutend mit Bühne oder Schauplatz, denn als »Speculum« oder, häufiger noch, als »Theatrum« werden zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert enzyklopädisch angelegte Kompilationswerke betitelt.52 Die titelgebende Metapher »Kunst-Spiegel« fungiert insofern sowohl gegenstands- als auch darstellungsbezogen: sie lässt sich nicht nur auf den behandelten Gegenstand der Architektur beziehen, der zur »Bühne« wird, sondern spielt auch an auf das Verhältnis des Lesers zum enzyklopädisch angelegten Buch als Schauplatz des Wissens.53 Furttenbachs Kunst-Spiegel betont nicht nur die bühnenhafte Anordnung seiner Inventionen auf den unterschiedlichen Feldern der Architektur und Mechanik, sondern auch die rekreative, das heißt die schöpferische Qualität seiner Architektur. Dass Furttenbach das Kapitel über die »Prospectiva«, über die Verwandlungskunst der Bühne, buchstäblich in die Mitte des Kunst-Spiegels rückt, ist wohl kein Zufall. Auch in der Architectura recreationis ist durch das Kapitel über den Theaterbau die exakte Mitte des Buches markiert. Die Verwandlungskunst des Theaters kann als exemplarisch für die Bühne des Buches gelten (Abb. 5). Der Sinneszwang, den das Theater auf den Betrachter ausübt, sei so groß, heißt es im Kunst-Spiegel, dass dieser »mit seiner Vernunfft in einer andern newen liebreichen Welt umbschweiffen thut«.54 In all seinen Theaterentwürfen betont Furttenbach die Kraft der Bühnenkunst, »dar52 | Zur Ordnung und Repräsentation von Wissen durch die mit »Theatrum« betitelten enzyklopädisch ausgerichteten Werke in der Frühen Neuzeit vgl. die Klassi fizierungsversuche bei Kirchner, Thomas: »Der Theaterbegriff des Barocks«, in: Maske und Kothurn 31 (1985), S. 131-140, West, William N.: Theatres and Encyclopedias in Early Modern Europe, Cambridge: Cambridge University Press 2002, Friedrich, Markus: »Das Buch als Theater. Überlegungen zu Signifikanz und Dimension der Theatrum-Metapher als frühneuzeitlichem Buchtitel«, in: Theo Stammen/Wolfgang E. J. Weber (Hg.), Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien, Berlin: Akademie Verlag 2004, S. 205-232, sowie die umfangreiche digitale Erschließung von »Theatrum«-Literatur der Frühen Neuzeit unter der Leitung von Nikola Roßbach an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel (www.theatra.de vom 25. Mai 2014). 53 | Vgl. M. Friedrich: »Das Buch als Theater«, insb. S. 205ff. Darüber hinaus fand der »Theatrum«-Titel mitunter als reines Modephänomen Anwendung, wie Friedrich zu Recht betont. 54 | J. Furttenbach: Mannhaffter Kunst-Spiegel, S. 111 [Hervorhebung J. L.].
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Abb. 5, Perspektivbühne.
Quelle: J. Furttenbach: Mannhaffter Kunst-Spiegel, Nr. 11 ½.
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durch die schwäre Gedancken gar bald in lieblichen Standt verändert« werden.55 So erscheint im Zeichen der territorialen Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges das kreative, weltschaffende Vermögen der Bühne beispielgebend für das konstruktive Vermögen des Architekten und Ingenieurs.
S CHLUSSBEMERKUNG : W ISSENSR ÄUME DES THE ATERS Max Herrmanns Diktum von der »Theaterkunst als Raumkunst« hat sich, losgelöst von den Fragestellungen und Problemkonstellationen einer in ihren Anfängen vor allem historisch geprägten und sich durch historische Forschung legitimierenden Disziplin, bis heute als bündige Gründungs- und Selbstbegründungsformel einer »Wissenschaft von der Aufführung« erhalten. Dahinter steht die leidige Opposition von Drama versus Theater, die das Fach Theaterwissenschaft bis heute als eine Art disziplinären Verhaltensimperativ mit sich herumträgt, ohne deren Ursprünge in der bürgerlichen Theaterreform des 18. Jahrhunderts als eine (wenngleich wirkmächtige) Ausprägung von Theater konsequent zu historisieren. Die dichotomischen Aufladungen, die diese Formel vital halten, lauten heute etwa »Aufführung versus Werk« oder »Performativität versus Textualität«. Wissens- und fachgeschichtliche Untersuchungen der letzten Dekaden haben unter anderem die konkreten Entstehungsbedingungen des Aufführungsparadigmas für die Theaterwissenschaft untersucht. Sie tragen dazu bei, überkommene Analysekategorien und Begrifflichkeiten auch für die Gegenwart zu überdenken und neue Wege einzuschlagen. So sollte eine aufführungsbasierte Beschäftigung mit den Räumen des Theaters, die davon ausgeht, dass potenziell jeder Raum zum Theaterraum werden kann, nicht vergessen lassen, dass auch die scheinbar sehr offene und buchstäblich raumeröffnende Formel klare Begrenzungen aufweist und – gerade mit Blick auf Architekturen – regelrecht erkenntnishemmende Folgen haben kann. In diesem Sinne habe ich am Beispiel des universalarchitektonischen Werkes Joseph Furttenbachs zu zeigen versucht, wie eine Beschäftigung mit den konkreten Transfer- und Transformationsbedingungen von Wissen dazu beitragen kann, überkommene Raumtypologien und die mit ihnen verbundenen Wert55 | J. Furttenbach: Architectura civilis, S. 30.
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maßstäbe neu zu denken. Die Herausbildung technisch und räumlich vergleichsweise homogener Theater- und Illusionsräume in der Frühen Neuzeit wäre nicht vorstellbar ohne jene Formen und Verfahrensweisen des kulturellen Transfers, wie sie im umfassenden Architektur-Theater Joseph Furttenbachs vor Augen treten.
L ITER ATUR Albrecht, Siegfried: Teatro. Eine Reise zu den oberitalienischen Theatern des 16.–19. Jahrhunderts, Marburg: Jonas Verlag 2001. Ash, Mitchell G.: »Räume des Wissens – was und wo sind sie? Einleitung in das Thema«, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), H. 3, S. 235-242. Bacher, Jutta: »Das Theatrum machinarum. Eine Schaubühne zwischen Nutzen und Vergnügen«, in: Hans Holländer (Hg.), Erkenntnis, Erfindung, Konstruktion. Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2000, S. 509-518. Baroni Vannucci, Alessandra: »A scuola d’incisione da Giulio Parigi. Cantagallina e altri«, in: Paragone. Rivista mensile di arte figurativa e letteratura fondata da Roberto Longhi 60 (2009), S. 88-93. Berthold, Margot: Joseph Furttenbach (1591–1667). Architekturtheoretiker und Stadtbaumeister in Ulm, unveröffentlichte Dissertation, München 1951. Blumenthal, Arthur: Giulio Parigi’s Stage Designs: Florence and the Early Baroque Spectacle, unveröffentlichte Dissertation, New York 1984. Bruggen, Stijn van: »Bühnentechnik der italienischen Renaissance in Deutschland«, in: Bühnentechnische Rundschau 92 (1998), H. 3-5, S. 34-36, 48-52, 54-60. Busche, Hubertus: »Wissensräume. Ein systematischer Versuch«, in: Karen Joisten (Hg.), Räume des Wissens. Grundpositionen in der Geschichte der Philosophie, Bielefeld: transcript 2010, S. 17-30. Corssen, Stefan: Max Herrmann und die Anfänge der Theaterwissenschaft. Mit teilweise unveröffentlichten Materialien, Tübingen: Niemeyer 1998. Deborre, Ingeborg: Palladios Teatro Olimpico in Vicenza. Die Inszenierung einer lokalen Aristokratie unter venezianischer Herrschaft, Marburg: Jonas Verlag 1996.
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Eke, Norbert Otto/Haß, Ulrike/Kaldrack, Irina (Hg.): Bühne. Raumbildende Prozesse im Theater, Paderborn: Fink 2014. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. Friedrich, Markus: »Das Buch als Theater. Überlegungen zu Signifikanz und Dimension der Theatrum-Metapher als frühneuzeitlichem Buchtitel«, in: Theo Stammen/Wolfgang E. J. Weber (Hg.), Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien, Berlin: Akademie Verlag 2004, S. 205-232. Furttenbach, Joseph: Architectura civilis. Das ist: Eygentliche Beschreibung wie man nach bester form, und gerechter regul, Fürs Erste, Palläst, mit dero Lust: und Thiergartten, darbey auch Grotten; Sodan Gemeine Bewohnungen: Zum Andern, Kirchen, Capell Ɲ, Altär Gotshäuser: Drittens, Spitäler, Lazaretten und Gotsäcker aufführen unnd erbawen soll. Alles auß vielfaltiger Erfahrnuß zusammen getragen beschrieben, und mit 40. Kupfferstucken für Augen gestellt, Ulm: Saur 1628. — Architectura privata. Das ist: Gründtliche Beschreibung / Neben conterfetischer Vorstellung / inn was Form und Manier / ein gar Irregular, Burgerliches Wohn-Hauß: Jedoch mit seinen sehr guten Commoditeten erbawet / darbey ein Rüst: und Kunst Kammer auffgericht: Ingleichem mit Garten / Blumen: Wasser: neben einem Grottenwercklin versehen / unnd also schon zu gutem Ende ist gebracht worden: Darbey dann auch gar vertrewlich / und à pert zu erlehrnen / in was Gestalt / man die Berlemuttere Meer-Schnecken / neben denselben Muscheln / sowol auch die Corallen Zincken palliren / und das Beste Kitt / zu verfertigung der Grotten zubereiten solle; Und zu noch besserem Verstand / mit vierzehen sehr gerechten / gar nutzlichen Kupfferstucken geziert / [...]. Allen Liebhaberen der Civilischen Gebäwen zu sonderem Gefallen an das Liecht gegeben [...], Augsburg: Rembold & Schultes 1641. — Architectura recreationis. Das ist: Von Allerhand Nutzlich: vnd Erfrewlichen Civilischen Gebäwen: In vier Vnterschidliche Hauptstuck eingetheilt. Erstlich / wie man für die Privat Personen / vnd Burgersleut [...] angenehme Wohnhäuser [...] erbawen kann. Zum Andern / in was Form vnnd Gestalt die Adeliche Schlösser [...] Palläst / Lust: Thiergärten / vnd Grottenwerck [...] mögen zu Werck gesetzt werden. Drittens / ein newe Manier / die Fürstliche Palläst [...] zuerbawen. Zum Viertten / wie die Rathhäuser / so wol auch die Dogana, oder Zoll: vnd Geschawhäuser / gleichfahls die Zimmer: vnd Werckhäuser [...] auffzurichten seyen / Alles auß selbst eige-
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ner vil-Jähriger Praxi, vnd Experienza auffgemerckt / vnd zusamen getragen / allhier mit 36. Kupfferstucken delinirt / vnnd beschriben, Augsburg: Schultes 1640. — Lebenslauff 1652–1664, hg. v. Kaspar von Greyerz et al., Köln/Weimar/ Wien: Böhlau 2013. — Mannhaffter Kunst-Spiegel / Oder Continuatio, vnd fortsetzung allerhand Mathematisch- vnd Mechanisch-hochnutzlich-So wol auch sehr erfrölichen delectationen, vnd respective im Werck selbsten experimentirten freyen Künsten. Welche in hernach folgende 16. vnterschidliche Acten abgetheilt / von ieder derselben aber / auch mit schönen gantz neuen Inventionen gar klärlich seind vorgebildet worden [...], Augsburg: Schultes 1663. — Newes Itinerarium Italiae: In welchem der Reisende nicht allein gründtlichen Bericht, durch die herrlichste namhaffteste örter Italiae sein Reiß wol zubestellen, sonder es wirdt jhme auch […] beschrieben, was allda […] an fürstlichen Hoff haltungen […] denckwürdig zu sehen […], Ulm: Saur 1627. Herrmann, Hans-Christian von: Das Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters und seiner Wissenschaft, München: Fink 2005. Herrmann, Max: »Das theatralische Raumerlebnis« [1931], in: Stefan Corssen, Max Herrmann und die Anfänge der Theaterwissenschaft. Mit teilweise unveröffentlichten Materialien, Tübingen: Niemeyer 1998, S. 270-281. — Forschungen zur deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance, Berlin: Weidmann 1914. Hulfeld, Stefan: Wie Wissen über Theater entsteht. Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis, Zürich: Chronos 2007. Kirchner, Thomas: »Der Theaterbegriff des Barocks«, in: Maske und Kothurn 31 (1985), S. 131-140. Kirschstein, Corinna: Theater Wissenschaft Historiographie. Studien zu den Anfängen theaterwissenschaftlicher Forschung in Leipzig, Leipzig: Universitätsverlag 2009. Köster, Albert: Die Meistersingerbühne des sechzehnten Jahrhunderts. Ein Versuch des Wiederauf baus, Halle: Niemeyer 1920. Lazardzig, Jan/Wagner, Kirsten: »Raumwahrnehmung und Wissensproduktion. Erkundungen im Interferenzbereich von Theorie und Praxis«, in: Christina Lechtermann/Kirsten Wagner/Horst Wenzel (Hg.), Möglichkeitsräume. Zur Performativität von sensorischer Wahrnehmung, Berlin: Schmidt 2007, S. 123-140.
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Architektur-Theater
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Die Architektonik der Bewegung Raum, Körper und Wahrnehmung im Tanz Sabine Huschka »Leib sein [...] heißt an eine bestimmte Welt geheftet sein, und unser Leib ist nicht zunächst im Raum: er ist zum Raum. [...] Suche ich dergestalt die Bewegung klar und deutlich zu denken, so vermag ich nie zu verstehen, daß Bewegung je für mich zu beginnen und mir als Phänomen gegeben zu sein vermag. Und gleichwohl laufe ich, habe ich allen Forderungen und Alternativen des klaren Denkens zum Trotz die Erfahrung der Bewegung [...].« M AURICE M ERLEAU -P ONT Y1
Das gestalterische Potenzial choreographierter Bewegungen ist mit Wahrnehmungsprozessen verflochten, denen der Raum und das Räumliche inhärent sind. Raum, Wahrnehmung und Körper sind aufs Innigste miteinander verwoben, ist doch der Raum – so wissen es künstlerische Praktiken des Tanzes wie vielleicht keine andere Kunstform – als Dispositiv, strukturelles Gebilde und Medium dem Körperlichen immer schon eingelagert. Bewegungstechnische und choreographische Prak tiken gestalten Existenzweisen des Körpers im und als Raum. Im Räumlichen finden Körperbewegungen zu jener vielgestaltigen Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit, die das Ästhetische der Tanzkunst ausmacht: Körper können sich räumlich lokalisieren oder diffundieren, sie können sich auswei1 | Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. v. Rudolf Boehm, Berlin: De Gruyter 1966, S. 178, 313.
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ten oder sind beengt, richten sich im Raum aus oder sind desorientiert. Räumliche Strukturen und Materialitäten zeigen sich dem Körper, geben ihm festen Stand oder bringen ihn in labile Lagen, kurz: Das Räumliche bringt das Körperliche in Erscheinung und bedingt die Gestaltung seiner Bewegungen und Beweglichkeit. Ein Blick in die Geschichte des Bühnentanzes zeigt, dass verschiedene Modelle, Theorien und Praktiken des Raumes das Räumliche zum ästhetischen Gestaltungszugang von Körperbewegungen machen. Das Wissen um das räumliche Gestaltungspotenzial des Körpers ist in die alltäglichen Praktiken des modernen und zeitgenössischen Bühnentanzes eingegangen. Wie selbstverständlich wird das Räumliche mit seinen phänomenologischen und architektonischen Modellen als Wahr nehmungsdispositiv körperlicher Bewegung und Beweglichkeit gehandhabt. Gleichwohl ist dieses Wissen als explizit choreographisches Gestaltungsparadigma historisch markiert: Mit Beginn der Tanzmoderne werden Raummodelle prägend, die Bewegung mit einem architektonischen Gestaltungswissen verschränken.2 Paradigmatisch erhält das Architektonische eine choreographische Prägnanz, mit der Körperbewegungen – im Sinne einer »lebendige[n] Architektur«3 – als erfahrungsgeleitete Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen an ästhetischer Tragweite gewinnen. Mit Blick auf drei historische Schauplätze des Bühnentanzes und die für die Bewegungsorganisation von Körpern jeweils angewandten Raumtheorien – ausgearbeitet von Rudolf von Laban (1879–1958), Carlo Blasis (1797–1878) und William Forsythe (geb. 1949) – lassen sich paradigmatische Veränderungen im ästhetischen Verständnis von Bewegung 2 | »[...] dance modernism followed a broader shift in performance away from the pictorial mode, characteristic of the 18th and 19th centuries. [...] In the later part of the 19th century this pictorial mode gave way to an architectural mode: the stage became a space, the performer its inhabitant and sole animator. The interplay between performer and space became an important theatrical resource.« (Manning, Susan: »Modernist Dogma and Post-Modern Rhetoric: A Response to Sally Banes’ Terpsichore in Sneakers«, in: The Drama Review. A Journal of Performance Studies 2 (1988), H. 4, S. 32-39, hier S. 37.) Zur Tanzmoderne vgl. Huschka, Sabine: Moderner Tanz. Konzepte Stile Utopien, Reinbek: Rowohlt 2012. 3 | Laban, Rudolf von: Choreutik. Grundlagen der Raumharmonielehre des Tanzes, übers. v. Claude Perrottet, Wilhelmshaven: Noetzel 1991, S. 14.
Die Architektonik der Bewegung
als (architektonisches) Raumwissen nachzeichnen. Die bis heute in der Tanzausbildung angewandte Raumharmonielehre, kurz Choreutik,4 von Rudolf von Laban wandelt den im 19. Jahrhundert virtuos perfektionierten stereometrischen Ordo des klassischen Balletts zu einem sphärischen Gestaltungsmodell für ausdrucksspezifische Bewegungen. Ein Jahrhundert zuvor hatte der italienische Ballettmeister Carlo Blasis seinen SchülerInnen mit dem Traité élémentaire, théorique et pratique de l’art de la danse (1820) ein Handbuch zur anatomisch-wissenschaftlich-ästhetischen Schulung aufrechter Körperhaltung im »perfekten Equilibrium« vorgelegt,5 das eine geometrische Raumkonzeption zur Körperpräsentation konzipiert. Blasis’ Körperrichtungsmodell zielt auf jene für den klassischen Tanz zur ästhetischen Kulminationsfigur avancierte Arabesque,6 die William Forsythe nahezu zwei Jahrhunderte später in seiner Arbeit an einem Ballett für das 21. Jahrhundert architektonisch dekonstruieren wird. Nicht zuletzt im Rückgriff auf die Raumtheorie von Laban fügt Forsythe räumliche Vorstellungswelten eines radikalen Außen in seine Tanztechnik ein,7 welche bewegungsorganisatorisch einen von geradezu explodierender Entleerung durchsetzten Erfahrungsraum praktizieren.
4 | Vgl. ebd., sowie Laban, Rudolf von: The Language of Movement: A Guidebook to Choreutics, hg. v. Lisa Ullmann, Boston: Plays 1974. Aus dem Vorwort von Lisa Ullmann, Labans lang jähriger Assistentin, geht hervor, dass Laban das Manuskript schon Ende der 30er Jahre verfasst hat. 5 | Blasis, Carlo: Traité élémentaire, théorique et pratique de l’art de la danse contenant les développements et les démonstrations des principes généraux et particuliers, qui doivent guider le danseur, Mailand: Beati & Tenenti 1820, S. 27. 6 | »Arabeske« bedeutet in der Schreibweise mit »k« ursprünglich »Zierrat« und »ornamentale Bildgebung«, vgl. Kotzinger, Susi: »Arabeske-Groteske: Versuch einer Differenzierung«, in: Susi Kotzinger/Gabriele Rippl (Hg.), Zeichen zwischen Klartext und Arabeske, Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1994, S. 219-228. Vgl. aus tanzwissenschaftlicher Perspektive Jeschke, Claudia/Wortelkamp, Isa/Vettermann, Gabi: »Arabesken. Modelle ›fremder‹ Körperlichkeit in Tanztheorie und -inszenierung«, in: Claudia Jeschke/Helmut Zedelmaier (Hg.), Andere Körper – fremde Bewegungen. Theatrale und öffentliche Inszenierungen im 19. Jahrhundert, Münster: Lit Verlag 2005, S. 169-210. 7 | Vgl. Forsythe, William: Improvisation Technologies: A Tool for the Analytical Dance Eye, hg. v. dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, dem
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Die Generierungsmodi von Körper-/Räumen im Sinne einer Architektonik der Bewegung werden im Folgenden historisch als Ent würfe bewegungs- und wahrnehmungstechnischer Praxeologien und ihrer Raummodelle beleuchtet. Tatsächlich ist der Bühnentanz in doppelter Weise über das Räumlich-Architektonische informiert und nutzt dessen Modelle und philosophische Konzepte als optische und kinästhetisch-visuelle Medien. Architektoniken strukturieren die Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit von Bewegung im sinnlichen Feld des Körperlichen und im konstruktiven Feld des Bühnenraumes. Beidseitig verschränkt fungieren sie als bewegungs- und bühnentechnische Wahrnehmungsdispositive und stecken den sensuellen Wahrnehmungshorizont von Bewegung ab, optisch auf den Zuschauer ausgerichtet, kinästhetisch-visuell primär auf den Tänzer. Ausschnitthaft fokussieren die weiteren Analysen zunächst die Frage, wie Tanzästhetiken und Schulen architektonisches Wissen von Bewegung als Bewegungsgestalt generieren und als Raummodelle implementieren. Wie werden durch die Bewegung der Körper Räume gestaltet und transformiert und wie lassen sich diese begreifen? Welche Bedeutung kommt Architektoniken als Wahr nehmungsorganisationen körperlicher Bewegung zu?8
Deutschen Tanzarchiv Köln und der SK Stiftung Kultur, Ostfildern: Hatje Cantz 2003. 8 | Meine Untersuchungen richten sich auf die wahrnehmungsspezifische Formung von Bewegungsgestalten als Architekturen und nicht auf das Verhältnis von Bewegung und Architektur als Verfahren von Choreographie oder Kartographie, wie sie Isa Wortelkamp untersucht. Sie erläutert etwa: »Dabei formt und formuliert Architektur die Bewegungen des Körpers, gibt dem Körper Raum oder beengt ihn, weist ihm Wege durch das Sichtbare, zeichnet eine Karte. Sich durch Architektur zu bewegen heißt [...] ihre Wege zu lesen. Architektonische Elemente zeichnen Wege und Bewegungen des Körpers vor, begrenzen und entgrenzen sie [...]. Der gestaltete Raum der Architektur motiviert und strukturiert – er choreographiert Bewegungen des Körpers.« (Wortelkamp, Isa: »Choreographien der Architektur. Bewegung schreiben, Wege lesen«, in: Kerstin Hausbei et al. (Hg.), Erfahrungsräume/Configurations de l’expérience, München: Fink 2006, S. 174-181, hier S. 177.) Vgl. auch Dies.: »Choreographien der Landschaft. Feldstudien von Junko Wada und Hans Peter Kuhn«, in: Armen Avanessian/Franck Hofmann (Hg.), Raum in den Künsten. Konstruktion, Bewegung, Politik, München: Fink 2010, S. 127-136.
Die Architektonik der Bewegung
D IE K INESPHÄRE ALS R ICHTUNGSMODELL : R UDOLF VON L ABAN UND SEIN E NT WURF EINER B E WEGUNGSARCHITEK TUR Um eine neue Sicht von Bewegung und Raum zu erwerben, braucht es eine grundlegende Kenntnis der Choreographie, durch welche die verschiedenartigen choreutischen Elemente erst erfaßt werden können. 9
Entscheidend für den ästhetischen Paradigmenwechsel zur Choreographie als Architektonik ist Rudolf von Labans Raumtheorie und Praxis der Choreutik. Verstanden als Raumharmonielehre lehrt die Choreutik, Körperbewegungen über zwei vermittelnde Prinzipien zu gestalten: Der Bewegungsraum des Menschen wird als eine dem Körper unmit telbar zugehörige Räumlichkeit verstanden, die Kinesphäre. Diese Sphäre ist in ihrer tanzästhetischen Relevanz von geometrisch beschreibbaren Organisationsstrukturen durchzogen, die ausdrucksspezifische Bewegungsgestalten des Körpers hervorzubringen vermögen. Ihren raumtheoretischen Ausgang nimmt die Choreutik vom Entwurf der Kinesphäre. Begrifflich dem griechischen kinesis (»Bewegung«) und sphaira (»Ball/Sphäre«) entlehnt, bezeichnet die Kinesphäre zunächst schlicht den körperlichen Bewegungsraum des Menschen, den er als Bewegungswesen gestalterisch quasi bewohnt und in den er zentrisch eingelassen ist. Kinetisch und kin-/ästhetisch durchdringt die Kinesphäre den menschlichen Körper in Gänze. Sie bildet einen dynamisch geformten Bewegungsbereich, der dem individuellen Körper zugehört. Der menschliche Körper generiert und manifestiert aus jeglicher Lage oder Bewegung heraus die Kinesphäre, die ihm – egal ob lokalisiert an einem Ort oder in Fortbewegung begriffen – zugehört. Beschrieben ist damit also das individuelle Bewegungsfeld des Körpers, entsteht die Kinesphäre doch relational zur individuellen Körpergröße, Anatomie und damit zur Reichweite der Glieder. Laban geht es mit dem begrifflichen und praxeologisch ausgearbeiteten Modell der Kinesphäre ästhetisch jedoch um weit mehr. In seiner 1966 erstmals posthum veröffentlichten »Raumharmonielehre« führt er aus:
9 | R. v. Laban: Choreutik, S. 8.
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The human body is constructed so as to favour the extension and contraction of the limbs in certain directions, but all points of the kinesphere can be reached by simple movements [...]. The spheric form of the kinesphere is simplified by our cubic conception of space. We recognise the cube inside the kinesphere as being representative of the most important space directions. 10
Dem Körperraum wohnt als Sich-Bewegendem damit nicht nur stets eine kinesphärische Gestalt ein, vielmehr sind in die Kinesphäre Richtungsweisen eingelassen, die körperspezifisch von richtungsräumlichen Gesetzmäßigkeiten geprägt sind (Abb. 1). In jenen Richtungsbahnen, die vom Kopf über den Torso und die Glieder bis zu den Füßen reichen, vollzieht sich Laban zufolge die natürliche Bewegungsführung des gesamten Organismus. Ihrer kunstfertigen Ausgestaltung zu einer »Linienkomposition« von organisch harmonischer Ordnung gilt Labans analytischsystematisierendes und ästhetisches Interesse. Abb. 1, Zeichnung und Entwurf des kinesphärischen Raummodells mit drei Schwungskalen im Ikosaeder von Rudolf von Laban; aus dem LabanNachlass des Tanzarchivs Leipzig.
Quelle: Bergelt, Martin/Völckers, Hortensia (Hg.): Zeit-Räume. Zeiträume – Raumzeiten – Zeitträume, München/Wien: Hanser 1991, S. 273. 10 | R. v. Laban: The Language of Movement, S. 18.
Die Architektonik der Bewegung
Abb. 2, Tänzerin in Rudolf von Labans Raummodell, Bewegungsneigung rechts der A-Schwungskala.
Quelle: Laban, Rudolf von: Choreographie, Jena: Diederichs 1926, S. 34.
Im Laufe der 1910er und 20er Jahre entwirft und baut Laban (Abb. 2) am Lago Maggiore in der dortigen Künstlerkolonie des Monte Verità architektonische Raummodelle – unter anderem das Ikosaeder, das Dodokaeder, das Tetraeder und das Oktoeder –, in deren stereometrische Strukturen die TänzerInnen eintreten, um zu trainieren. Bewegungstechnisch lernen sie ihre Körper dergestalt räumlich zu mobilisieren, dass durch das Weiten und Zusammenziehen, das Strecken, Beugen und Verwringen in Schwungkreisen und im wechselnden Bewegungsfluss strukturierte Bewegungsgestaltungen entstehen: »sozusagen lebendige Architektur«.11 Movement is, so to speak, living architecture – living in the sense of changing emplacements as well as changing cohesion. This architecture is created by human movements and is made up of pathways tracing shapes in space, and these we may call ›trace-forms‹.12 11 | R. v. Laban: Choreutik, S. 14. 12 | R. v. Laban: The Language of Movement, S. 5.
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Abb. 3, Bewegungsfolge der B-Schwungskala nach Rudolf von Laban.
Quelle: R. v. Laban: Choreographie, S. 33.
Die Bewegungen folgen in abwechselnder Reihung den Grundrichtungen (hoch – tief, seit – rechts, seit – links, vor – rück) und verlaufen dabei diagonal (Abb. 3). Diesen »Richtungsverwandtschaften und Richtungsgegensätzen«13 weist Laban eine Folge von Hoch- und Tiefschwüngen zu, die im »Wechsel zwischen energischer Anschwungsspannung [...] und abgespanntem Hinausführen der Glieder in den Raum«14 das Harmoniegesetz körperlicher Bewegung zum Ausdruck bringen. Es entsteht eine Harmonie des Raumes, die durch Proportion, Plastizität, Perspektive und Rhythmus geprägt ist und der – ich komme darauf noch zu sprechen – eine
13 | Laban, Rudolf von: Die Welt des Tänzers. Fünf Gedankenreigen, Stuttgart: Seifert 1920, S. 18. 14 | Ebd., S. 228.
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qualifizierende Emotionslogik inhärent ist.15 Die Trainingsform dieser dergestalt gerichteten Körperschwünge geht aus den sogenannten Schwungskalen hervor, der A-Skala und der B-Skala.16 Die natürlichen Schwungskalen des Menschen, die auch schon von altersher bekannt sind, ergeben sich aus den verschiedensten Erwägungen heraus als außerordentlich zweckmäßig. Sie sind in der Natur unseres Körperbaues begründet. [...] Das Wesentliche bei dieser Schwungskala liegt nun darin, daß der Körper in allen seinen anatomischen Details tatsächlich so gebaut ist, daß diese merkwürdige Reihenfolge am allereinfachsten und harmonischsten begangen werden kann. 17
Praxeologisch durchlaufen die Schwungskalen damit das Netz eines Ikosaeders. Seine zwölf Eckpunkte markieren die Ausrichtung der geschwungenen Einzelbahnen. Laban präferiert das platonische Raumgebilde des Ikosaeders, denn mit ihm sieht er Körperbewegungen analog einer natürlich angenommenen Physiologie formalisierbar. Ausgehend von der Konstruktion des 20-seitigen, durch zwölf Eckpunkte definierten Raumes, der die vier Eckpunkte von drei Raumebenen – Sagitalebene (»Rad«), Horizontalebene (»Tisch«) und Frontalebene (»Tür«) – und damit die Flächen selbst in einen Verbund bringt, verbinden die Schwungskalen in ihrem Bewegungsablauf jene zwölf Eckpunkte der Grundebenen, die auf die räumliche Verfasstheit physikalischer Körper verweisen. Die Struktur des Ikosaeders fasst, so Laban, das Richtungsnetz des Körpers in Gänze ein. Seine physisch nachvollzogene geometrische Richtungsstruktur erachtet Laban als Widerhall des menschlichen Bewegungsapparats, die Schwungskalen spiegeln also das ursprüngliche Bewegungsstreben des Körpers wider. Labans 15 | Vgl. Laban, Juana de: »Basic Laban Principles and Methods«, in: Frederick Rand Rogers (Hg.), Dance: A Basic Educational Technique, New York: Macmillan 1941, S. 193-213, hier S. 199. 16 | Die raumsystematisierende Konzeption der Schwungskalen wird erstmals 1926 veröffentlicht. Die festgelegte Reihenfolge der Richtungen kann körperbezogen rechts- und linksseitig im Raum ausgeführt werden. Vgl. R. v. Laban: Choreographie, S. 29-34, sowie Ders.: Gymnastik und Tanz, Oldenburg: Stalling 1926, S. 49f. Die A- und B-Skalen sind zudem geschlechtsspezifisch konnotiert. Die A-Skala, die eine Abwehrbewegung verkörpert, wird dem Weiblichen zugerechnet, die B-Skala, die den Angriff verkörpert, dem Männlichen. 17 | R. v. Laban: Choreographie, S. 24f.
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SchülerInnen trainieren mit den Schwungskalen, die nach Juana de Laban zur technischen Grundlage der Ausbildung avancierten, körperliche Flexibilität und einen räumlich klar und komplex koordinierten Orientierungssinn. Mittels der schrägen, verschränkten und gegenläufigen Bewegungen bildet sich ein harmonisch-zweckmäßiges Wissen von der körpereigenen Raumtiefe aus,18 mit dem sich das plastisch-dynamische Gestaltungspotenzial des sich bewegenden Körpers merklich ausdifferenziert.
D AS A RCHITEK TONISCHE ALS CHOREOGR APHISCHES G ESTALTUNGSPAR ADIGMA : A USDRUCK ALS F ORMBILD Our own movements and those we perceive around us are basic experiences. Forms of objects, as well as the shapes assumed by living organisms, wax and wane uninterruptedly. [...] Empty space does not exist. On the contrary, space is a superabundance of simultaneous movements. [...] Today we are perhaps still too accustomed to understanding objects as separate entities, stand ing in stabilised poses side by side in an empty space. Externally, it may appear so, but in reality continuous exchange and movement are taking place. [...] Movement is, so to speak, living architecture – living in the sense of changing emplacements as well as changing cohesion.19
Die ästhetische Ausformung spezifischer Bewegungsgestalten wird von Laban bemerkenswerterweise durch ein architektonisches Bewegungsmodell erzielt, das raumtheoretisch den Entwurf eines phänomenologischen Leibraumes mit einem geometrischen Raummodell verschränkt.20 Das Ikosaeder lagert sich als stereometrisches Netzwerk in die leibliche Struk18 | Vgl. J. d. Laban: »Basic Laban Principles and Methods«, S. 202. 19 | R. v. Laban: The Language of Movement, S. 3ff. 20 | Vgl. Hermann Schmitz zu Rudolf von Laban in Schmitz, Hermann: System der Philosophie. Bd. 3: Der Raum. Teil 1: Der leibliche Raum, Bonn: Bouvier 1988, S. 41ff.
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tur der Kinesphäre ein, um eine dynamische Ausformung des Körpers in gestalterischer Vielfalt zu bewirken.21 Ihre ästhetische Funktion gewinnt die Kinesphäre demnach als richtungsgebendes Raummodell zur tänzerischen Erarbeitung plastischer Bewegungsgestalten. Bewegungen werden mithilfe der eingelagerten stereometrischen Strukturen tatsächlich körperplastisch gebaut. Die Schwungskalen sind mehr als ein bewegungstechnischer Trainingsraum zur Flexibilisierung und Mobilisierung des muskulären Bewegungsapparats: sie lehren, einen spezifischen Bewegungsaufbau im Körper zu etablieren und der eigenen Kinesphäre durch spezifische Gestaltungsbilder-in-Bewegung Form zu geben. Dieser moderne Entwurf vom Körper als gestaltendes Raumwesen wird die ästhetische Konzeption von Choreographie als Bewegungsarchitektur im Laufe des 20. Jahrhunderts grundlegend bestimmen. Als äußerste – aber wichtigste – Beobachtung erscheint uns das Formbild, das der Körper in den Raum schreibt. Diese bewegte Form hat bestimmte Eigen schaften. Sie ist immer plastisch, d.h. im Körper treten Gleichgewichtsspannungen auf, die neben der Senkrechten die Masse des Körpers seitlich und vorrück [sic] im Raum verteilen. 22
Der Körper führt demnach in Bewegung eine dynamische Raumexistenz, die über das innere Gefüge seiner Bewegungskräfte und Energien vermittelt ist. Diese spannen den Körper dynamisch und richtungsgebunden in den Raum. Bewegung hat demnach im Körper stets eine raumplastische 21 | Entgegen Kirsten Maars Annahme bildet nicht das Ikosaeder Labans Modell der Kinesphäre, sondern das Ikosaeder wird der Kinesphäre raumgliedernd eingelagert und als geometrische Strukturbahnung zur Bewegungsorganisation genutzt. Vgl. Maar, Kirsten: »Korrespondenzen zwischen Tanz und Architektur. Imaginäre und improvisatorische Raumkonzepte bei William Forsythe«, in: Annette Geiger/Stefanie Hennecke/Christin Kempf (Hg.), Imaginäre Architekturen. Raum und Stadt als Vorstellung, Berlin: Reimer 2006, S. 219-236, hier S. 224. In einer späteren Veröffentlichung zu Forsythes Installationen fasst Maar die Kinesphäre korrigierend als analytisches Raummodell, das »sich immer [mit dem Tänzer] mitbewegt«. (Dies.: »Unheimliche Verbindungen. William Forsythes choreographische Installation«, in: Erika Fischer-Lichte/Benjamin Wihstutz (Hg.), Politik des Raumes. Theater und Topologie, Paderborn: Fink 2010, S. 163-176, hier S. 173.) 22 | R. v. Laban: Choreographie, S. 3f. [Hervorhebung im Original].
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Wirkung; Körper und Raum gehen eine Beziehung gegenseitiger Durchdringung und Bedingtheit ein.23 Die Körperkräfte und Energien, die stets das Räumliche aktivieren und dessen Architektoniken stabilisieren, betrachtet Laban – ganz anders als im klassischen Ballett – als kaum auf der vertikalen Körperachse wirksam, wo sie eine stabile oder auch labile Haltung erzeugen. Vielmehr begreift er sie im muskulär-organischen Spiel von An- und Abspannung als räumliche Dispositive, mit denen etwa Prozesse der Ausdehnung, Verwringung, Schrumpfung oder Weitung initiiert werden. Es geht ihm um das Grundbegehren des Menschen, sich zu bewegen. »Man’s movement arises from an inner volition which results in a transference of the body or one of its limbs from one spatial position to another. The outer shape of each movement can be defined by changes of position in space.«24 Als energetisch verwurzelte Raumexistenz liegt das ästhetische Potenzial des Tanzkörpers darin, veränderbare raum-rhythmische Bewegungsprozesse gestaltend hervorzubringen, deren Organisationsgabe Laban mit kristallinen Ordnungsprinzipien gleichsetzt. »Immer ist es die Form, die Raumspannung, die zu uns spricht. Jede Spannung ist ein unsichtbarer Kristall. Sie baut sich nach feststehenden Formgesetzen auf.«25 Durch Richtungsführung, Beherrschung und Mobilisierung spezifischer Spannungszustände werden raumstrukturierte Ausdrucksgebärden bewegungsgestalterisch ausgearbeitet. Es werden plastische Formbilder eines veränderlichen Körper-/Raumes wahrnehmbar gemacht, die choreographisch eine Raummusterung architektonischer Körperbewegungsgestalten zeigen.26 23 | Das architektonische Raumverständnis von Laban unterscheidet sich damit wesentlich von Oskar Schlemmers körperplastischen Tanzentwürfen, die auf einem rein stereometrischen Raummodell basieren. Schlemmer entwarf raumplastische Körperfigurinen, deren Formen unabhängig vom kinetischen Potenzial des Körpers im Mittelpunkt seiner Ästhetik standen. Vgl. Berger, Renate: »Vorstellungen des Abstrakten und Absoluten in Ausdruckstanz und Triadischem Ballett«, in: Susanne Deicher (Hg.), Die weibliche und die männliche Linie. Das imaginäre Geschlecht der modernen Kunst von Klimt bis Mondrian, Berlin: Reimer 1993, S. 221-239, hier S. 229. 24 | R. v. Laban: The Language of Movement, S. 10. 25 | R. v. Laban: Die Welt des Tänzers, S. 31. 26 | Labans Bewegungssystematik mit ihren Faktoren von Raum, Zeit, Gewicht und Bewegungsfluss (flow) legt in den 1940er und 50er Jahren den Grundstein für
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B LICKE UND R ÄUME : A RCHITEK TUREN DER K ÖRPERWAHRNEHMUNG Laban verankert sein Modell der Choreutik im Körper und dessen Gestaltungsradius; anders als im geometrischen Ordo des klassischen Tanzes ist der Körper nicht perspektivisch auf den Blick der Zuschauer ausgerichtet. Der Körper-in-Bewegung tritt als architektonisches Bewegungsgefüge auf, durch das ein tänzerisch gebauter Raum wahrnehmbar und substanziell wird. Damit unternimmt Laban den Versuch, einen tänzerischen Raumbegriff zu etablieren, der sich freimacht vom Newton’schen Modell des absoluten, unendlichen, homogenen, unteilbaren und von den Körpern in ihm existenziell unabhängigen Raumes. Laban entwickelt einen tänzerischen Raumbegriff, der sich vom Raumschema eines zentralperspektivisch strukturierten Bühnenraumes löst. Als »lebendige Architektur[en]«27 bauen die bewegten und sich bewegenden Körper plastisch dynamische Bewegungsräume, deren verändernde Gefüge das Choreographische bilden. Der damit vollzogene paradigmatische Wandel der ästhetischen Disposition des tanzenden Körpers und des Choreographischen wird mit Blick auf den klassischen Ballettordo deutlich. Der klassische Tanz konzipiert den Bewegungsraum des Körpers als geometrisiertes Objektgefüge, das nicht an den Strukturen und Spannungsgefügen des Körper(innen) raumes orientiert ist, sondern von einem absoluten Außenraum an ihn herangetragen wird (Abb. 4). Die Geometrie bildet hier das Diktat des Körperschemas und platziert den Körper inmitten eines leeren, homogenen Raumes, der an der zentralperspektivischen Blickarchitektur des Büheine psychologische Ausarbeitung, Eukinetik genannt, die dynamische Qualitäten der Bewegung gemäß ihrer mental-emotionalen Konfiguration klassifiziert. Laban qualifiziert mithilfe einer polaren Werteskala von direkt – indirekt (Raum), schnell – langsam (Zeit), leicht – stark (Gewicht/Kraft) und gebunden – frei (Bewegungsfluss) acht grundlegende Antriebs-Qualitäten oder efforts, die die emotionalen Grundwerte von Bewegung repräsentieren. Auf der Grundlage der Eukinetik und ihrer Weiterentwicklung durch Irmgard Bartenieff (1900–1981) findet die Lehre noch heute im therapeutischen Bereich zur Interpretation von Körperhaltung, Ausdruck und Bewegungsverhalten Anwendung. Vgl. Bartenieff, Irmgard/Lewis, Dori: Body Movement: Coping with Environment, New York: Gordon & Breach 1980. 27 | R. v. Laban: Choreutik, S. 14.
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Abb. 4, Raummodell des Balletts (Space-Module of the Arms and Legs).
Quelle: Kirstein, Lincoln: The Classic Ballet: Basic Technique and Terminology, Gainesville: University Press of Florida 1998, S. 30.
nenraumes orientiert ist.28 Als Medium einer kalkulierten Bühnenblickarchitektur legt sich die geometrische Ordnung der Zentralperspektive über den Bühnenraum, in dessen Wahrnehmungsgefüge die Tanzkörper – ausgerichtet auf den Blick des Zuschauers – eintreten, erscheinen und agieren. Für eine gelingende Figuration der tanzenden Körper im Büh28 | Vgl. zur historischen Genese von Bühnenblickarchitekturen Haß, Ulrike: Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München: Fink 2005.
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nenraum projiziert der klassische Tanz geometrische Raumstrukturen auf den Körper und legt einen Ordo aus Lagen und Abständen über seine Gestaltwerdung. Geometrische Figuren werden zum Maß liniengeführter Bewegungen und dienen insofern einer figuralen Formung der Körpergestalt, als das Geometrische die Positionen und Ausrichtungen der Glieder definiert und homogenisiert.29
B LICK ARCHITEK TUREN UND TANZ -F IGURINE : C ARLO B L ASIS UND SEINE K ÖRPER -/S TRICHMODELLE Das klassische Ballett implementiert und beantwortet die geometrisch organisierte Blickarchitektur der Bühne durch eine doppelte ästhetische Strategie: Der Bewegungskörper wird figural ausgestaltet und führt malerische Bilder vor Augen. So instruiert der Ballettmeister Carlo Blasis zu Beginn des 19. Jahrhunderts die TänzerInnen einer danse théâtrale: »Dessinez-vous avec goût, et naturellement, dans la moindre des poses. Il faut que le danseur puisse, à chaque instant, servir de modèle au peintre et au sculpteur.«30 Um dergestalt modellierte Körperbilder für ein ortsräumlich strukturiertes Sehfeld hervorzubringen, ist ein Training zum figuralen Auf bau des Körpers notwendig, welches diesen als stereometrisches Raumgefüge erschafft, das heißt primär ortsräumlich koordiniert und stabilisiert. Im Unterschied zu Labans moderner Raumtheorie von körperzentrierten plastischen Ausdrucksgestalten zielt die angewandte Geometrie des klassischen Tanzes im Verbund mit mechanischen Bewegungsprinzipien – so lässt sich an Blasis’ instrukti29 | »Doch der zentralperspektivische Raum ist ein unendlicher, stetiger, homogener, also ein mathematischer Raum, der mit dem psychophysischen Raum menschlicher Leiblichkeit, für den oben und unten, rechts und links, vorne und hinten gerade nicht homogen sind, keineswegs zur Deckung kommt. Linearperspektive schafft eine visuelle Syntax, in deren Medium das, was ein Körper ist, auf neue Weise bestimmt und sichtbar gemacht wird: Körper [...] gelten als Verkörperungen geometrischer Verhältnisse und werden dadurch homogenisiert [...].« (Krämer, Sybille: »Verschwindet der Körper? Ein Kommentar zu computererzeugten Räumen«, in: Rudolf Maresch/Niels Werber (Hg.), Raum Wissen Macht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 49-68, hier S. 59.) 30 | C. Blasis: Traité élémentaire, S. 23.
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ver Ballettmethodik deutlich machen – auf eine architektonisch und optisch strukturierte Bildwerdung des Tanzkörpers. Blasis hat zwei aufeinander auf bauende theoretische Werke veröffentlicht, von denen der Traité élémentaire (1820) im Unterschied zu The Code of Terpsichore (1828) explizit an TänzerInnen adressiert ist, um deren Ausbildung zu professionalisieren.31 Dank der Explizierung und Differenzierung der grundständigen und distinguierten Regeln vom klassischen Tanzen findet der Traité bis ins 20. Jahrhundert Anerkennung und gilt als zentrales tanztechnisches Kompendium des klassischen Balletts. Das Buch versammelt pädagogische Vorschriften, anatomische Ratschläge, wissenschaftliche Modelle, ästhetische Leitgedanken und Zeichnungen, die dem Tanzeleven einen Leitfaden mit systematischen Übungsfolgen an die Hand geben. Die Abhandlung bildet ein Wissenskompendium aus verschiedenen Disziplinen, gerahmt von einem normativen Regelwerk für die Ausübung des Tänzerberufs. Anatomie, Physik (Mechanik), Mathematik und bildende Kunst verbinden sich zu einem ästhetischen Anwendungsfeld, um den tanzenden Körper in ikonographischer Intensität zu einer komponierten Gesamtgestalt zu führen.32 31 | Die französische Fassung des Traité gibt im Vorwort als Beweggrund und Qualitätsmerkmal der Abhandlung das Wissen vom Tanzen an. Für die Übertragung des Bandes in das enzyklopädische Gesamtwerk The Code wurde das Vorwort durch die historiographische Abhandlung Rise and Progress of Dancing ersetzt. The Code integriert den Traité, erweitert um Darlegungen von Tanzstücken, ihrer Dramaturgie und Szenographie, vgl. Blasis, Carlo: The Code of Terpsichore: The Art of Dancing. Comprising Its Theory and Practice, and a History of Its Rise and Progress, from the Earliest Times. Intended as well for the Instruction of Amateurs as the Use of Professional Persons, London: Bulcock 1828. Vgl. auch die zwei Jahre später erschienene französische Fassung Manuel complet de la danse. Comprenant la théorie, la pratique et l’histoire de cet art depuis les temps les plus reculés jusqu’à nos jours, Paris: Librairie Encyclopédique de Roret 1830. Der Traité ist hier als zweites Kapitel unter der Überschrift »Théorie de la danse théatrale« enthalten. 32 | Vgl. Huschka, Sabine: »Wissen vom Tanzen. Carlo Blasis’ Instruktionen zur Anmut«, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.), Souvenirs de Taglioni. Bd. 2: Bühnentanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, München: Kieser 2007, S. 113-136.
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Zentrales Merkmal und Voraussetzung dieser figuralen Ausgestaltung ist die Ausbildung eines – im wörtlichen Sinne – festen Standes. Aufrecht und in seinen Kräften ausgeglichen strebt der Tanzkörper eine korrekte Haltung an, die der Balance zwischen Eigengewicht und Gegenspannung bedarf, und ausladende Emotionen und Affekte zurückhält. Blasis überträgt das naturwissenschaftliche Prinzip der Bewegung von Masse durch Krafteinwirkung, der Mechanik als ältestem und grundlegendem Zweig der Physik 33 entlehnt, auf den Körper. Das bewegungstechnische Augenmerk liegt auf der Austarierung von Kräften, um dem Körper jene klare Kontur und Geschmeidigkeit zu geben, die seine Figurationen mit malerischer und anmutiger Wirkung auszeichnen.34 To hold your body in perfect equilibrium; to which end never let it depart from the perpendicular line that should fall from the centre of the collar bone down through the ankles of both feet. [...] Take especial care to acquire perpendicularity and an exact equilibrium. In your performance be correct, and very precise; in your steps, brilliant and light; in every attitude, natural and elegant. A good dancer ought always to serve for a model to the sculptor and painter. This is perhaps the aim of perfection and the goal that all should endeavour to reach. 35
Fixier- und Referenzpunkt der Bewegungsfigurationen bildet eine stets stabile Aufrechte im Körper. Diese trägt Blasis in gestrichelter Linie in seine Zeichnungen von Bewegungsfigurinen ein. Die senkrechte Linienführung markiert die angenommene Kräfteachse im Körper, in Wirklichkeit aber entspricht sie der mathematischen Lotrechte, die Blasis explizit als Perpendikularlinie ausweist. Zeitliche Aspekte oder Spannungsverhältnisse der Glieder finden in diesem Modell keine Reprä33 | Vgl. Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Historisch-kritisch dargestellt, hg. v. Renate Wahsner u. Horst-Heino von Borzeszkowski, Berlin: Akademie Verlag 1988. 34 | Die Mechanik wird, wie Gabriele Brandstetter hervorhebt, zur absoluten Matrix der tänzerischen Anmut, vgl. Dies.: »The Code of Terpsichore. Carlo Blasis’ Tanztheorie zwischen Arabeske und Mechanik«, in: Gabriele Brandstetter/Gerhard Neumann (Hg.), Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 49-72, hier S. 57f. 35 | C. Blasis: The Code of Terpsichore, S. 72, 52. Vgl. auch C. Blasis: Traité élémentaire, S. 23.
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sentation. Wichtig ist allein, sich ein Bild von dem zentralen Wirkungsfeld der primären Bewegungskraft im Körper zu machen, die es zur Stabilisierung des Körpers mit festem Stand zu beherrschen gilt. Innerhalb des Wirkungsfeldes zwischen der Schwerkraft des Eigengewichts, der Fliehkraft der Bewegungen und der Muskelkraft des Organismus überträgt das Ballett dem Körper die Aufgabe, die Kräfte harmonisierend in ein stabiles Äquilibrium zu überführen, innerhalb dessen sich die Architektonik von Bewegungsfigurinen entfalten kann. Bewegungssystematisch fungiert die Linie geradezu als Magnet im Kräftespiel der Gliederpositionen und ihrer richtungsräumlichen Figuration.36 Über das visuelle Programm der imaginären Lotrechte soll sich der Eleve ein Wissen über seine räumlich exakt strukturierte Gestalt und seine Gliederpositionen erarbeiten. Il est nécessaire que l’élève étudie ces lignes géométriques et celles qui en dérivent. En se soumettant à cette tâche, que je hasarde d’appeler mathématique, parce qu’elle exige du travail, l’élève est certain de se diriger correctement luimême, et de montrer qu’il a reçu des notions de bon goût dans l’école où il a étudié. 37
Mit seinen Körperzeichnungen und Linienfiguren erschließt Blasis dem klassischen Ausbildungssystem einen neuen Repräsentationsraum des Wissens (Abb. 5). Historisch ist dieser bedeutsam, denn der eingeforderte korrigierende Blick auf den Körper appelliert konstitutiv an eine selbstverantwortliche Wissensökonomie. Eingebettet in ein ausgeklügeltes pädagogisches Programm, soll jeder Schüler zu Hause 36 | Blasis reflektiert die Kräfte des Körpers allerdings nicht als ein eigendynamisches Zusammenspiel aus energetischen Intensitäten, wie es die moderne Bewegungskonzeption entsprechend der physiologischen Forschungen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte. Der belebt-dynamische Innenraum des Körpers ist Blasis als bewegungsphysiologischer Regelzusammenhang noch unbekannt. Vgl. Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, übers. v. Heinz Jatho, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. 37 | C. Blasis: Manuel complet de la danse, S. 104. Der Manuel complet legt präziser als der Traité die Anwendung der Linienzeichnungen dar. Dem früheren Schlusskapitel »Maître« gibt Blasis den Zusatz »Nouveau mode d’instruction« und erläutert hier die geometrische Linienführung, die zuvor im Fußnotenapparat des Traité zu finden war.
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Abb. 5, Blasis’ Strichfiguren zur Körperausrichtung.
Quelle: C. Blasis: Traité élémentaire, S. 15.
diesen Zeichnungstypus anfertigen, um mit ihm zu üben. Initiiert wird damit die Erarbeitung einer individuellen und selbstdisziplinatorischen Haltungskorrektur, die fortan das tägliche Training mit dem Ballettmeister ergänzt. Darüber hinaus wird ein neues Paradigma der Beherrschung und Memorierung von Körperpositionen eröffnet, das sich an einer mathematisch überprüf baren Eloquenz orientiert. So bilden die Linienfiguren die mechanischen Bewegungsoperationen des Körpers in einer geometrischen Skizze nach, ja sie fassen den Bewegungsvorgang in eine mathematische Matrix ein, anhand derer jede(r) TänzerIn ungeachtet der eigenen physischen Konstitution die Bewegungsfiguration körperlich ausbilden soll. Das Training richtet sich mittels einer Selbstorganisation des körperlichen Spannungsgefüges auf den Auf bau eines geometrisch operierenden Haltungs- und Figurenschemas. Dabei werden die TänzerInnen gleichsam zu dem Kunstgriff angehalten, ein durch die Wahrnehmung auferlegtes Haltungsmuster raumkörperlich spürbar zu machen. Es wird ein imaginärer Wahrnehmungsprozess angezettelt, der Raum und Körper als Bewegungsgestalt zu verschränken sucht.
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D IE A R ABESQUE UND DAS I MAGINÄRE Die Forschung bewertet Blasis’ geometrisch abstrahierende Anleitung bisweilen als Disziplinierungsstrategie, da sie, so die Annahme, auf einer radikalen, körperlichen Einschreibung der Geometrie basiere.38 Die Geometrie bewirke eine radikale Grenzziehung, die gefühlsbetonte und sinnliche Wahrnehmungszugänge oder Erfahrungen von der Bewegungsgenerierung und -gestaltung fernhalte. Die Tanztechnik sei, so der Vorwurf, durch das Auge, das Wort, die Ratio und deren Disziplinierungsmächte bestimmt. Doch dieser Forschungsperspektive entgeht der gefühlvolle Respons seitens der TänzerInnen, der im Umgang mit abstrahierten Strichbildern notwendig ist; sie übersieht die Spannung zwischen dem geometrisierten Körperentwurf und dessen Verwirklichung im Kräftespiel von Bewegung und Imagination. Blasis überführt das unbeständige energetische Potenzial der Körperbewegung ästhetisch in einen phantasmatischen Raum der Transgression, in dem das Regelwerk der mechanisch verankerten Mathematik notwendigerweise überschritten wird. Da der Körper im Tanz eben nicht im cartesianischen Körperbegriff aufgeht, der durch seine Lage im umgebenden Raum bestimmt ist, sondern ihm räumlich stets ein Aktions- und Bewegungsaspekt angehört, gehorcht seine räumliche Disposition in Bewegung nicht der stereometrischen Raumordnung. Tatsächlich übersteigt Blasis’ visuell-architektonische Systematik der stets aufrechten Balletthaltung ihren eigenen mechanischen Ordo, ohne allerdings mit dem geometrisierten Raumkonzept zu brechen. Dies wird am Beispiel der Ballettfigurinen der Attitude und Arabesque deutlich. Markiert wird eine Linie, die einen Fehler auf der anatomischen und mechanischen Ebene darstellt und doch ästhetisch mit einem energetischen Kraftmoment der Bewegungsfigurine übereinzukommen sucht (Abb. 6). Als Figur, die sich gegen den Wind bewegt, agiert die Attitude mit einem Kraftmoment, das auf das statische Gleichgewichtsmoment dergestalt einwirkt, dass die Perpendikularlinie nicht annähernd die Kraftlinie der Bewegung anzuzeigen vermag. Die Körperhaltung überschreitet in ihrem Gleichgewicht notwendigerweise die Lotrechte und übersteigt mit ihrem Orientierungsnetz eine darstellbare Raum38 | Vgl. Foster, Susan Leigh: Choreographing Empathy, London/New York: Routledge 2011, S. 39-43.
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geometrie. Erschlossen wird ein ästhetischer Raum der Transgression, dessen Architektonik nicht im euklidischen Raummodell denkbar ist. Über die Arabesque schreibt Blasis: »[...] the central line of gravity [can] not be attended to in the same manner as it is in the figures of the [other] plates.«39 »Let your body be, in general, erect and perpendicular on your legs, except in certain attitudes, and especially in arabesques, when it must lean forward or backward according to the position you adopt.« 40 Abb. 6, Carlo Blasis’ Attitude und Arabesque.
Quelle: C. Blasis: Traité élémentaire, Tafel 8.
Blasis behandelt die Arabesque, die das Bildprogramm des Traité durchzieht, stets als Ausnahme innerhalb seines systematischen geometrischmechanischen Ordo des klassischen Codes. In ihr gerät das statische, an der Perpendikularlinie orientierte Äquilibrium aus dem Lot und wächst einer organischen Ordnung zu, die den Körper dynamisch in eine Kippfigur führt. Die Arabesque steigert das Prinzip der Attitude, da sie eine Figuration von geradezu perfekt ausgeglichenen und in der Schwebe 39 | C. Blasis: The Code of Terpsichore, S. 73. 40 | Ebd., S. 65.
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gehaltenen Kräften darstellt. Blasis weiß um den Schwierigkeitsgrad dieser Figur, die ihm zufolge nur durch außerordentliche technische Bravour gemeistert werden kann. Sie gilt als Prüfstein verkörperter Meisterschaft im Ballettfach und avanciert zum ästhetischen Topos des klassischen Tanzes schlechthin. Das Gleichgewicht selbst gerät in der Arabesque in die Schwebe. Gefragt ist ein Grad an physischer Perfektion und Virtuosität, der an das Unmögliche reicht, um ein spezifisches Bewegungsbild »reiner Bewegung« zu produzieren. Tatsächlich ist eine Arabesque – so hat es William Forsythe deutlich herausgestellt – niemals gänzlich zu verkörpern.41 Sie markiert eine imaginäre Figur und wird zum Phantasma des klassischen Tanzes.
A RCHITEK TUREN DES I MAGINÄREN : W ILLIAM F ORSY THE UND DIE A RBEIT AN B E WEGUNG (S)-/ZUSTÄNDEN Mein Körper ist das genaue Gegenteil einer Utopie, er ist niemals unter einem anderen Himmel, er ist der absolute Ort, das kleine Stück Raum, mit dem ich buchstäblich eins bin. Mein Körper ist eine gnadenlose Topie. [...] Mein Körper ist der Ort, von dem es kein Entrinnen gibt, an den ich verdammt bin. 42
William Forsythe versteht seine künstlerische Arbeit als Exploration der Ballettkunst für das 21. Jahrhundert. Vergleichbar mit Labans grundlegendem Interesse an einer ästhetisch-philosophischen und analytisch-wissenschaftlichen Erforschung tänzerischer Bewegungs41 | »You will never do arabesque – arabesque exists as an idea – you will approach arabesque, and you will move through arabesque, and you will sustain yourself in arabesque in motion toward arabesque for a greater or lesser time.« (William Forsythe in: Sulcas, Roslyn: »William Forsythe: The Poetry of Disappearance and the Great Tradition«, in: Dance Theatre Journal 13 (1991), H. 2, S. 4-7, 32-33, hier S. 32.) 42 | Foucault, Michel: »Der utopische Körper«, in: Ders., Die Heterotopien. Der utopische Körper/Les hétérotopies. Le corps utopique. Zwei Radiovorträge, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 23-36, hier S. 25f.
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kunst, kommt auch Forsythes tanztechnische und choreographische Auseinandersetzung einer ästhetisch-wissenschaftlichen Exploration gleich. Bis 2004 entwickelte Forsythe mit seinem Ballett Frankfurt und darauffolgend mit der in Dresden und Frankfurt beheimateten The Forsythe Company abendfüllende Tanzstücke, die verstärkt von Architekturund Performance-Installationen, Film-Arbeiten, Solo-Performances und einer analytisch-systematisierenden Reflexion und mediengestützten Erforschung bewegungstechnischer und choreographischer Gestaltungsformen begleitet wurden.43 Unter Forsythes Leitung entstanden interdisziplinäre Forschergruppen, wie beispielsweise die Gruppe Motion Bank, von 2010 bis 2014 in Deutschland beheimatet, die digitale online-Partituren verschiedener Stücke von GastchoreographInnen erarbeitete und zu einem digitalen Archiv choreographischer Praktiken zusammenführte, oder das das an der Ohio State University von 2005 bis 2009 geförderte Forschungsprojekt Synchronous Objects, bei dem in Auseinandersetzung mit Forsythes Choreographie One Flat Thing Reproduced (2000) ein erstes webbasiertes, digitales Bewegungsarchiv erarbeitet wurde. Die CD-ROM Improvisation Technologies: A Tool for the Analytical Dance Eye (1994) fokussiert im Kontext jener analytisch-systematisierenden Forschungen über Choreographie die bewegungstechnische Organisationsgabe der TänzerInnen. Die ästhetischen und kulturellen Interessenslagen von Forsythe unterscheiden sich von denen Labans, da sie sich nicht auf eine explizite Ausformulierung von Gesetzmäßigkeiten, sondern auf einen Akt der interdisziplinären und kulturellen Auseinandersetzung mit den gestalterisch-organisierenden Wissenspotenzialen von Tanz richten.44 All seine Projekte versuchen, Bewegungsabläufe als kreative, sich räumlich organisierende und regulierende Prozesse erkennbar zu 43 | http://synchronousobjects.osu.edu und http://www.motionbank.org vom 6. Januar 2015. 44 | Die Webportale bilden interaktive Bewegungsarchive und zwar in der doppelten Funktion von Archiven: Sie versammeln Bewegungsaufzeichnungen und rufen zu einer benutzerorientierten Handhabung auf, sind also Gedächtniskulte und Gedächtnisorte unserer Gesellschaft und verweisen auf eine Erinnerungs- und Gedächtnispraxis, die das Bewegungsgedächtnis des Tanzes über ein prozessuales Lernen erschließen will.
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machen, und präsentieren auf der Grundlage analytischer Verfahren in visuellen Graphiken choreographische Bewegungslogiken. Die visuellen Nachzeichnungen zeigen Bewegungsabläufe im virtuellen Raum und geben damit »Spurformen« einer Bewegungsarchitektur zu erkennen, deren graphisch-bildliche Repräsentationen die vormals gebauten Bewegungsarchitektoniken, etwa innerhalb eines Ikosaeder, ersetzen und selbst der Repräsentation von Körpern nicht mehr bedürfen.45 Gleichwohl lässt sich insbesondere für die Erarbeitung des ersten analytischen Projektes Improvisation Technologies eine komplexe, körperzentrierte Auseinandersetzung mit diversen architektonischen Raummodellen, Dingen und Gegenständlichkeiten nachzeichnen, die die tanztechnische und performative Basis der choreographischen Arbeit von Forsythe bildet. Die Bewegungsprinzipien der Improvisation Technologies sind – wie Thomas McManus, Tänzer und Ballettmeister der Forsythe Company, in einem Gespräch mit Reinhild Hoffmann, Christina Cuipke und Anna Till erläutert und im Rahmen der Produktion Undo Redo Repeat vorführt – wesentlich durch einen trainierten körperlichen Respons auf Architekturen und Objekte entstanden.46 Hierbei kam ein doppeltes Moment zum Tragen: Die TänzerInnen zeichneten reale Gegenstände, wie etwa einen Heizkörper im Trainingssaal, körperlich nach und nahmen imaginierte Architekturen, etwa das Sofa bei ihnen zu Hause, zum Anlass für das Generieren und Strukturieren von Bewegungen. Das Architektonische betritt damit im Sinne von Gaston Bachelard als gelebter, erinnerter und erträumter Raum47 den Schauplatz des Körper45 | Vgl. Huschka, Sabine: »Mediale Transformationen choreographischen Wissens. Das Internetportal Synchronous Objects von William Forsythe«, in: Gabriele Brandstetter/Birgit Wiens (Hg.), Theater ohne Fluchtpunkt. Das Erbe Adolphe Appias: Szenographie und Choreographie im zeitgenössischen Theater, Berlin: Alexander Verlag 2010, S. 182-204. 46 | Vgl. die Gespräche zwischen McManus, Hoffmann, Cuipke und Till (Berlin, August 2013) über die Prinzipien der Bewegungsorganisation in den Improvisation Technologies und über ihre Arbeit mit Labans Choreutik, veröffentlicht auf der Projektseite des Tanzfonds Erbe Projekts von Christina Cuipke und Anna Till: ht tp://www.undo-redo-repeat.de/aspek te-der-weitergabe/methodetechnik. html?page _n17=2 vom 6. Januar 2014. 47 | Vgl. Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes, übers. v. Kurt Leonhard, Frankfurt a.M.: Fischer 2003, S. 60-89.
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lichen. Durch die Einbildungskraft werden Gegenstände in die räumliche Organisationslogik der Bewegung projiziert und initiieren einen Wahrnehmungsrespons in der Bewegung. Die Improvisation Technologies repräsentieren Reste dieses Arbeitsprozesses, wie etwa das Kapitel »Writing«, in dem McManus nach dem Prinzip room writing imaginäre Möbelstücke (Tisch und Stuhl) dekonstruiert. Das Architektonische schafft im Wahr nehmungs- und Bewegungsfeld einen imaginierten Raum, der Prozesse des Umlagerns, Verschiebens und Zerlegens mit unverhoffter Bewegungsqualität anzettelt.48 Raumtheoretisch dekonstruiert Forsythe damit Labans Choreutik, an die er insofern anknüpft, als er Labans stereometrisch informiertes Raummodell, gemäß dem der Körper stets als Ganzes gestalterischer Mittelpunkt ist, zu einem geradezu sich zersetzenden Raumkaleidoskop aufsprengt. Die von Laban angestrengte zentrische Fixierung einer Bewegungsarchitektur – die ja stets einen sphärisch umhüllten Körper zum Zentrum hat – faltet Forsythe inwendig, rückwendig und nach außen gekehrt auf, sodass es nicht mehr um einen Körper, sondern um eine heterogene Pluralität von Bewegungsrichtungen geht. Forsythes Bewegungskörper splitten, schieben, weiten und verstreuen die Kinesphäre mittels einer Multiplizierung der bewegungsinitiierenden Punkte in sich überlagernden Raumtiefen. Es ist nicht mehr ein Körper, dem sphärisch sein Bewegungsraum zuwächst, vielmehr arbeiten mehrere, sich überlagernde und mitunter widerständig operierende sphärische Bewegungsradien gleichzeitig in multiplen Körperräumen. Die Tänzer bringen zeitlich überlappende Bewegungsgefilde hervor, 48 | Insofern handelt es sich meines Erachtens nicht um eine »Architektur des Verschwindens«, mit der Forsythes Ästhetik irreführend identifiziert wird, vgl. Baudoin, Patricia/Gilpin, Heidi: »Vervielfältigung und perfektes Durcheinander. William Forsythe und die Architektur des Verschwindens«, in: Gerald Siegmund (Hg.), William Forsythe. Denken in Bewegung, Berlin: Henschel 2004, S. 117-124. Bei Baudoin und Gilpin steht ein Architekturbegriff der gebauten Konstruktion zentral und nicht – wie im vorliegenden Band – ein »erweiterter Architekturbegriff« als sozialer und ästhetischer Prozess im Umgang und in »der Aneignung und Transformation von Architektur«. (Hauser, Susanne/Kamleithner, Christa/Meyer, Roland: »Das Wissen der Architektur«, in: Dies. (Hg.), Architekturwissen: Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften. Bd. 1: Zur Ästhetik des sozialen Raumes, Bielefeld: transcript 2011, S. 9-13, hier S. 9.)
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die enthierarchisiert an allen denkbaren Gelenk- und Führungsstellen des Körpers ausgeführt werden und ein Geflecht verschiedenster Mittelpunkte verstreuen. Es präsentieren sich Bewegungen, deren Richtungsgliederungen keinem geschlossenen oder unteilbaren und harmonischen Raummodell mehr zugehören und die zudem durch immense Geschwindigkeiten verstärkt werden. Forsythe nimmt nicht nur Labans geometrisierter Ordnung einer im Körperlichen stabilisierten Bewegungsarchitektur49 gezielt ihren Fixpunkt, sondern auch der Ordnung einer geometrisierten Blickarchitektur klassischer Tanzfigurinen. Forsythe arbeitet sich mit imaginär-beweglichen Architekturen, die sich heterogenen Körper- und Wahrnehmungszuständen verdanken, gewissermaßen durch moderne und klassische geometrische Netzstrukturen der Körper- und Bewegungsorganisation hindurch und entleert ihre raumästhetischen Referenzen. Hierzu hat er sich als Ballettchoreograph zunächst intensiv mit dem Blickordo der Ballettfigurinen auseinandergesetzt und ihre Ordnungen geometrischer Bewegungsführung wahrnehmungstechnisch und imaginativ invertiert.50 Er trainiert mit seinen TänzerInnen die De- und Reorganisation der richtungsgebenden Körperwahrnehmung, die er dis-focus nennt. Dabei wird, wie die Tänzerin Prue Lang darlegt, »eine Art von gleitender, instabiler Körperlichkeit« erzeugt.51 Die klassischen Bewegungsfiguren, wie etwa das épaulement, werden geradezu umgestülpt. Dana Caspersen, prima inter pares der Forsythe Company, erläutert: 49 | Wenn Laban von ausdrucksspezifischen Formbildern spricht, in denen er das Choreographische seiner Bewegungsarchitekturen realisiert sieht, so manifestiert sich ein ästhetischer Begriff vom Körperlichen als räumlich eingefasstes Wesen. Gleichwohl es dynamische Bewegungsgestaltungen sind, die aus der Auseinandersetzung mit geometrisierten Richtungsmodellen erwachsen, arbeitet Laban mit einem geschlossenen Raummodell platonischer Körper, in die das Körperliche eingelassen agiert. 50 | Vgl. Huschka, Sabine: »Intelligente Körper. Bewegung entwerfen – Bewegung entnehmen – Bewegung denken«, in: Bernhard Boschert/Franz Bockrath/ Elk Franke (Hg.), Körperliche Erkenntnis. Formen reflexiver Erfahrung, Bielefeld: transcript 2008, S. 135-156. 51 | Lang, Prue: »Denken, Bewegung und Sprache«, in: G. Siegmund (Hg.), William Forsythe, S. 125-132, hier S. 131.
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Die Kinesphäre ist der Raum, den die Bewegungen des Körpers einnehmen. Innerhalb dieser Sphäre Informationen zu speichern, bedeutet, sich den Körper dort vorzustellen, wo er nicht gesehen werden kann. So kann man zum Beispiel sein Schulterblatt nicht sehen, aber man kann spüren, wo es sich im Raum im Verhältnis zum Rest des Körpers befindet. Diese Fähigkeit des Körpers, ein inneres Bild von sich zu schaffen, ermöglicht ihm auch, sich selbst an eine Stelle zu projizieren, an der er sich gar nicht befindet. Wenn wir unsere Augen von dem üblichen funktionalen Verhältnis zum Körper ablösen, wie in der Methode des dis-focus, erleben wir eine Phantom-Eigenwahrnehmung: das Gefühl eines Körpers, der außer sich ist und der sich im Verhältnis zu unseren losgelösten Augen bewegt. [...] Es ist ein umgestülpter Körper, der rückwärts vom Blick wegfließt. 52
Erzeugt wird eine, wie Lang ergänzt, »internally refracted coordination«,53 die interessanterweise mit einem architektonisch generierten und strukturierten Wissen arbeitet und auf das kinesphärisch ausgebildete Bewegungsgedächtnis verortbarer leiblicher Raumorientierungen zurückgreift. Der weitere Erfahrungsbericht von Caspersen über die Probenarbeit zu Decreation (2003) und ihre Auseinandersetzung mit der eingeführten Bewegungs- und Wahrnehmungstechnik des shearing (»Abscheren«) – »einem Zustand, in dem der Körper sich weder stimmlich noch körperlich jemals direkt artikuliert«54 – verdeutlicht die Bedeutung der eingesetzten Einbildungskraft: Schließlich wurde mir klar, dass ich, um mich in diese gedrehten, für meinen Körper eigentlich schädlichen Zustände versetzen zu können, verstehen musste, was mein Körper denkt. Ich musste erst begreifen, dass er bereits damit beschäftigt war, über den ganzen Raum zu denken [...]. So stellte ich zum Beispiel fest, dass ich das Abprallen und Querschlagen von Augen, Kiefer, Brustkorb und Hüften tatsächlich dann bewerkstelligen konnte, wenn ich es mir nicht als Aktivität vorstellte, sondern als Zustand, der durch meinen Körper hindurch wandert und mich mit dem ganzen Raum verbindet. 55
52 | Caspersen, Dana: »Der Körper denkt. Form, Sehen, Disziplin und Tanzen«, in: G. Siegmund (Hg.), William Forsythe, S. 107-116, hier S. 110. 53 | P. Lang: »Denken, Bewegung und Sprache«, S. 130. 54 | D. Caspersen: »Der Körper denkt«, S. 110. 55 | Ebd., S. 114.
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Sprachbilder eines »Stell Dir vor…« rufen architektonische Gegenbilder auf. Caspersen arbeitet mit einer stark verwachsenen Wirbelsäulenverkrümmung und reagiert auf ihre physischen Einschränkungen mit einem mentalen Training, um sich einen Raum zwischen dem jetzigen und dem zu erreichenden Zustand des Körpers zu erarbeiten.56 Michel Foucault hat diese beiden Körperzustände als absoluten Ort und Phantasma ausgewiesen. Erschlossen wird ein imaginärer Raum, aus dem sich Bewegungsbilder quasi in den Körper zurücksenken. Geöffnet ins Phantasmatische tritt der Körper ein in einen Bewegungszustand imaginärer Architekturen, zu dem Foucault bemerkt: Aber vielleicht müssen wir unter die Kleidung und bis auf die Haut gehen, um zu erkennen, dass der Körper in manchen Grenzfällen seine utopischen Fähigkeiten gegen sich selbst richtet und den ganzen Raum des Religiösen und des Heiligen, den ganzen Raum der anderen Welt, den ganzen Raum der Gegenwelt in den ihm selbst vorbehaltenen Raum einbringt. In diesem Fall wäre der Körper in seiner Stofflichkeit und Fleischlichkeit gleichsam das Produkt seiner eigenen Fantasmen. Dehnt doch zum Beispiel der Körper des Tänzers sich über einen Raum aus, der für ihn zugleich ein innerer und äußerer Raum ist. 57
William Forsythe drängt seine Tänzer, sich Wahrnehmungsräume außerhalb ihres habitualisierten Körperschemas zu erschließen, aus deren inwendiger Ausweitung sich Bewegungen in ständiger Reorganisation generieren. Damit gesteht Forsythe dem Räumlichen eine Zeitlichkeit disparater Körperzustände zu. Multizentrisch mobilisiert koordinieren die Körper ihre Beweglichkeit durch einfallende imaginäre Prozesse, 56 | »Ich habe eine Deformation der Wirbelsäule, die mir seit Jahren beständig gehörige Schmerzen bereitet. Diese Fehlbildung ist Ursache dafür, dass das Zusammenwirken einzelner Körperteile gestört ist. Mithilfe der Alexander-Technik habe ich gelernt, trotz dieser potenziell lähmenden Verformungen geschmeidig und mit meinem Körper eins zu bleiben. (Diese Technik lehrt praktische Methoden, die gewohnten Bewegungsmuster, welche die Schmerzen verursachen, zu erkennen und den Impuls zu unterdrücken, sie erneut auszuführen.) Durch das Training habe ich entdeckt, dass nicht mein ›fehlerhafter‹ Körperbau das Problem verursacht, sondern mein ungenügendes und ungeübtes Denken. Ich musste die Kunst erlernen, meinen Körper zu einem Ganzen zusammenzudenken.« (Ebd., S. 107.) 57 | M. Foucault: »Der utopische Körper«, S. 33.
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in die wahrnehmungsspezifische Auseinandersetzungen mit Objekten (Gegenständen und Bauteilen) und mit Bildern eingeschleust werden. Der Entzug ästhetischer Referenzpunkte der geometrischen Blickarchitektur ebenso wie jener einer formbildenden Bewegungsarchitektur befeuert geradezu zeiträumlich zersplitternde Wahrnehmungszustände, die sich in körperlichen Bewegungskaskaden äußern.
Z UM V ERHÄLTNIS VON C HOREOGR APHIE UND A RCHITEK TUR : E IN BEFR AGENDER A BSCHLUSS Architektoniken der Bewegung scheinen – darauf ließe sich die knappe historische Skizze weiter befragen – ästhetischen Regimen des Blicks, des Bildes und der Geschwindigkeit zu unterliegen. Es konkretisieren sich in ihnen Umgangsweisen mit geometrischen Konstruktionen, die historisch unterschiedliche Gestaltungs- und Wahrnehmungsprozesse von Körperbewegungen anfachen und grundlegende Verfahren der Organisation, Stabilisierung, Ausweitung und Imagination zur Ausrichtung und Überschreibung von Körper-/Räumen bewirken. Geleitet vom unterschiedlichen Gebrauch und der unterschiedlichen Auseinandersetzung mit geometrischen Raum- und Baumodellen geben die Architektoniken der Bewegung historische Merkmale des Ästhetischen zu erkennen. So formt der klassische Tanz, ausgerichtet auf eine Blickarchitektur der Bühne, Körperfigurinen mit malerischer Bildwirkung. Im Unterschied dazu wandelt die Moderne den Umgang mit einer geometrischen Organisationsformung des Körpers, wie sich mit Blick auf Laban zeigen ließ, zu einem ästhetischen Entwurf körperzentrierter Bewegungsarchitekturen. Mit dem Bau platonischer Körpermodelle, in denen sich die TänzerInnen räumlich orientiert mobilisieren, erwächst eine belebte Stereometrie, die die ästhetischen Maßgaben statischer Lage- und Abstandsverhältnisses notwendig verliert, um in ein har monisches Ausdrucksbegehren des Menschen zu münden.58 58 | Interessanterweise orientiert sich Labans frühes Werk Choreographie (1926) mit seiner ersten Systematik der Formgesetze von Bewegung am Ordo des klassischen Tanzes. Als eine grundlegend strukturierende, wenn auch von Laban missachtete »statische Formenlehre« fußt sie auf einer raumgliedernden Systematik der Stereometrie, die Laban, ungeachtet seiner Kritik, als Folie für eine Konzep-
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Das Zentrum der erbauten Bewegungsarchitekturen ist der lebendige Organismus, der einen ideellen Fluchtpunkt in der geometrischen Ordnung darstellt. Obschon William Forsythe im Rückgriff auf Labans Choreutik die Idee von Harmoniegesetzen kristalliner Ordnung, denen Labans Bewegungsarchitekturen unterliegen, radikal verabschiedet, operieren seine beweglichen Architekturen mit ästhetischen Referenzen. Forsythes Dekonstruktion der geometrisierten Organisationsgabe seiner Ballett tänzer, die – über eine imaginative (und reale) Einschleusung von Objekten – zu einer reorganisierenden, multizentrischen Bewegungsgestaltung führt, sucht eine Aktivierung und körperliche Indienstnahme jener Kräfte zu bewirken, die das Körperliche als Raumexistenz überwinden und Zustände einer sich organisierenden Eigenzeitlichkeit freilegen.
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tion der »räumlichen Richtungseinstellung« des Körpers nutzt (R. v. Laban: Choreographie, S. 3f., 6, 12). Die Choreographie steht deutlich unter dem Eindruck der danse d’école. Es ist zu vermuten, dass Laban seinen Buchtitel in Hommage an Raoul-Auger Feuillets Choréographie ou l’art de décrire la danse, par caractères, figures et signes démonstratifs (1700) wählte.
Die Architektonik der Bewegung
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Diskussion
Space and Architecture in the Artistic Process Panel Discussion with Ute Meta Bauer, Marjetica Potr þ, and Sasha Waltz, Moderated by Lukas Feireiss
It is mainly in art – in the performance arts, installations, film, or painting – where new ways of dealing with our spatial and architectural surroundings are explored and put on public display. In the following conversation, Sasha Waltz, a dancer and choreographer, Ute Meta Bauer, a curator and educator, and Marjetica Potrč, an artist and architect, will discuss the role of architecture in the artistic process in a panel discussion moderated by artist, editor, and curator Lukas Feireiss. All four of them have investigated spatial strategies in their respective artistic and curatorial practices in exceptional ways, and will discuss their experiences working in the interface between art and architecture. Lukas Feireiss: Architecture shows an impressive flexibility as a partner for art. It is both a subject of investigation and a venue for experience. This partnership between art and architecture truly enriches our definitions of architecture and space, and challenges classical or traditional domesticated modes of architectural practice and representation. As a medium of exploration, spatial practices – and architecture is one of them – can be read as concrete manifestations of social, political, economical, and cultural conditions, and also as transformations of these conditions within society. With this, architecture becomes something like a storage-medium of our historic situation and also a testimonial, or maybe a symbol of the cultural fabric we all live in. This is the static or concrete »nature« of the built environment. The built environment is nevertheless one of constant fluctuation. According to French sociologist and philosopher
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Henri Lefebvre, space is never static or given, but is continuously produced by relationships which are basically spatial, multiple, and coexistent. All of your works, as diverse as they seem at first glance, have in common that they create spaces and places of artistic and spatial explorations or encounters. Generally speaking, your pieces, Sasha, can be described as intense encounters between vision, visual artists, dancers, and choreographies in specific spaces. I am thinking of your Dialogues series, in which you staged your choreographies in empty public buildings just before they were opened: for example the Jewish Museum, the Neues Museum, the Sophiensäle, Radialsystem, or Palast der Republik all here in Berlin, or the Scarpa building in Venice and the MAXXI in Rome. The architecture of these venues seems to play a prominent role in these works. How do you actually prepare yourself and engage in questioning the given architecture, and does some kind of analysis of the rhetoric or the language of the building come before anything else? Sasha Waltz: Yes, this is true. I actually started the Dialogues as a series twenty years ago, when I had my own studio for the first time. It was in Künstlerhaus Bethanien, which was actually a venue for visual artists and not for dancers. I invited people from different disciplines to do research for one or two weeks and then do a performance. The main idea was to explore the intersections between the different disciplines, and each of the one or two weeks had a specific focus. This is also the idea of Dialogues: they can focus on music, on space and the encounter with architecture, or on history, where you maybe do research on the surrounding city. This is what I did with the Dialogues project in the Schaubühne am Lehniner Platz which was called »17-25/4« [2001], a name that actually refers to the area where the Schaubühne is located. When I arrived at the Schaubühne, this area caught my interest. I had been based in East Berlin in the years before, and in 2000, West Berlin was sort of a neglected area. So I went out into the streets with the dancers, we did excursions into the neighborhood, and then we planned the project to work inside the theater. It was only at the very beginning of the time I worked at the Schaubühne that the whole interior space was empty, because in fact, the theater is usually divided into three sections – A, B, and C – but we could, at this time, connect the whole space into one. You could actually walk in from the Ku’damm, go through the whole building, and reach the residential area behind the theater. We guided the public through this enormous empty
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space inside the theater and out into the neighborhood and onto the amazing roof of the Schaubühne, and then brought them back inside again. My research was about discovering where we are situated within the city, and it reflects on how theater could open its doors to the surrounding area. So in this case, the focus was directed more towards the city, while at other times I just specifically look into the area of the given space. For example, at the opening of the Radialsystem [2006], I wanted to make people discover the space, because it was being given a new function – it was a space that hadn’t existed before in that capacity. For this, I tried to create a very open path where people were free to wander and see the performance from whichever perspective they wanted. Only at the very end would people come together and be in the central performance rooms of the Radialsystem, and become one group with a central focus. This may also be something of an ongoing idea behind the Dialogues: to give the public different viewpoints, to expand our understanding of performance and our view of the space but also of ourselves, or of the public. The choreography of the public is a very important part of the Dialogues process, because most of the time I don’t have seating in these projects, people are just wandering around, so they actually create their own paths, patterns, and flow. It’s about managing the organic traffic, almost like traffic planning in a way: »How do I guide people through the space so that there is no blockage or stagnation, so that people do not feel claustrophobic or lost, so that they can come close but also stay far?« Most of the time when I am doing a Dialogue, I’m dealing with these questions. Of course, I’m also looking into how I can make the space strong and powerful and how I can let the space speak through the performance, and suddenly open it up like the public has never seen it before. LF: Ute, in one of your interviews you said that you always aim at creating a spatial narrative or a spatial script through your exhibitions, similar to what Sasha just explained. Could you give an example of such a spatial narrative or of curatorial architecture? I would also be interested in to what extent your background as a stage designer plays a role in this. Ute Meta Bauer: I think it’s really interesting to relate my work to Sasha’s, because it’s true, I am very influenced by my early years studying stage design and visual communication; we would actually explore different forms of theatricality as a group back then. I think to a certain
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extent, this is still an important part of my practice today. From the beginning, I was very interested in working in dialogue with other people, something that also comes naturally from my theater experience: you don’t work alone, you always work in a team and try to explore a topic. A play is not just a script, it’s really a topic, it has a history and a place. There’s so much involved that might be interesting to experience, when you discover other forms of art as well, because generally art doesn’t come out of itself. There is always a connection between people, it comes from a specific place, there are more histories and strings attached than in just putting an artwork on a white wall. I think coming from theater and film, I wanted to bring that into the world of exhibitions; it is true there is a close connection. Later on, in most of my exhibitions – except in the big ones, like Documenta or the Berlin Biennale, as they function differently – I work as a team with the artists. For The Future Archive [2012], I asked a former architecture student from MIT, Luis Berríos-Negrón, who is based in Berlin, to come up with a spatial idea of how we could connect the different elements of the show and turn them into a space that connects to the Center for Advanced Visual Studies. This meant that we left the whole space dark, and the only light came from the artworks themselves. For Architectures of Discourse [2001] with the Antoni Tàpies Foundation, our starting point was the library, which is actually an essential part of the museum: Tàpies collected more than three hundred periodicals during the Franco period, when no access to such magazines was possible. But visitors to the exhibition never went into the library, so we tried to bring this history into the exhibition space. To me, the history of a place where I show art is crucial. Another example would be the exhibition NowHere [1996] at the Louisiana Museum of Modern Art, Denmark, which was my first museum show. I worked mainly with the artist Fareed Armaly, with whom I also did the spatial design for Architectures of Discourse, to create a kind of a scripted space. So I think, although Sasha works as a choreographer and I as a curator, our work is similar in that sense and there are many overlaps. And Lukas, you mentioned Lefebvre: for me Lefebvre and the Situationists have always been very important, even when I was a stage designer – people like Nathalie Sarraute or Antonin Artaud who questioned the status of theater. It was also always important to me to question what an exhibition is.
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LF: Marjetica, your architectural interventions and installations, both on-site and within an exhibition space, seem to act as models for further discussion of new strategies in urban thinking and planning. You are trained both as an architect and as an artist. How do you approach a specific location or site? And could you also talk about the influence of your two professional backgrounds? Marjetica Potrč: Yes, I am both an artist and an architect, and it is beautiful to merge the two disciplines. I always saw it as an amazing opportunity, and I have discovered new worlds. When I was invited to Caracas in 2003 to do research on the informal city, I was very impressed by informal architecture. It was quite obvious to me then – and architects talk about it now, but at the time no one was saying it – that 98 percent of the architecture in the world is actually not built by architects. I was interested in the kind of architecture used by ordinary people. Now, what was very interesting – this was maybe ten years ago – is that when I talked about a barrio or informal architecture, I was often attacked by professional architects and others, because it was considered almost immoral to bring up the subject. I’m glad that today people are talking about informal cities, because it means there’s been a shift in perception, from the perspective of architects too, in how we understand, let’s say, »the other.« We have learned that the informal city is in fact highly regulated, not only by written regulations – the form we are used to – but also by oral ones. There is no public space per se in the informal city, but there is community space. This shift in perception – and a new appreciation for community space – can also be seen today in Berlin, when we praise the Prinzessinnengärten in Kreuzberg, where people produce public space by practicing community gardening. I think if you ask, »Which came first, the city or the citizen, the chicken or the egg?« I would have to say it’s the citizens. They’re the ones who produce the city. And it’s also the citizens who create the culture. So if you ask, »Which comes first, the culture or the architecture?« I would say, the culture. Because when the culture changes, so does the architecture, and the role of architects and artists changes as well. UMB: I also think architecture strongly determines how we perceive our surroundings. I remember when I started to teach in Vienna at the Academy of Fine Arts, where the doors are extremely tall – it is basically a three-hundred-year-old art school of the Austrian Empire. If you enter
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the building, you feel this historic presence. As artists, we always had the feeling that we had to work against the power of this building. So I think, of course, the culture that produces architecture comes first, but then the architecture influences us very much. So it’s always interrelated. MP: Yes, but the culture is not only »culture,« it is the culture of living as well. When I work on a site with my students, we make what we call relational objects: objects that create relationships. Using these relational objects, we work in collaboration with the local residents to develop participatory practices that change the culture of living. What we do actually creates discourse in the culture. LF: I would like to pick up what you just said, Ute, in reference to the Academy of Fine Arts in Vienna, where you are dealing with a given space, because I would like to reflect again on the role of architecture in the presentation or the display of art. I think you once said that the exhibition space or the venue doesn’t exist anymore – »Wherever there is art, there is also its possible venue« – which goes in line with you, Sasha, taking the audience out around the Schaubühne, or you, Marjetica, involving the community. What are the possible counter-effects of this development, and what effect has the statement »Wherever there is art, there is its venue« had on the role of institutional spaces of display or representation: whether it’s the theater, the academy, the opera house, the gallery, or the museum? I also remember an interview with you, Ute, where you gave the example of Malevich’s famous painting Black Square on a White Ground from 1915. You said whenever this painting is put into a gallery it loses its original meaning, because originally the artist meant it to be put in the corner where icons are displayed in Eastern Orthodox houses. For you as a curator, how important is the space in the presentation of art? UMB: The space is very important in the presentation of art. There are two sides to it, though. As Foucault writes, spaces like the theater or the museum are heterotopias. They determine the way we perceive everything that’s inside – not just the art, but also the way we move as an audience. So of course in a way space creates meaning and a certain kind of value system. But on the other hand, I think it’s interesting to see what we can generate if we interrupt those systems, if we establish, for example, what
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informal cities have, unregulated neighborhoods. If a dancer is outside and not inside a predetermined space, or if an artwork appears next to something that has nothing to do with art, we actually create new discourses, and something interesting happens. This is something all of us might be interested in: establishing a kind of discourse and a different kind of perception, asking »What happens if you dislocate something?« And of course, you could ask »When did the museum start?« Today we think that it is the natural place for art, but that’s maybe just three hundred years of art. Art history, as we know, is much older. So again, what is the space for something? The notions about this change every few centuries, sometimes even faster. LF: Sasha – we just mentioned the Dialogues series – you are very familiar with such institutional spaces, whether it’s the museum or the opera. You also engage with the personalities who designed these buildings, whether it’s the architecture of Daniel Libeskind, David Chipperfield or Carlo Scarpa. When you prepare your projects, do you get into a dialogue with the architects themselves? And what are the limitations and opportunities for your artistic involvement with these institutional architectures? SW: I think we have to separate the museum projects and the theater projects, because when Ute said »dislocate,« dance does not belong in a museum. So in a way, we don’t have the same circumstances as in a theater space. In a museum, I work in a different way, and I often use my research, my dialogue with the space when I return to more traditional spaces like theaters. My dialogue is with the building, with the thinking of the architect, his creation, but not with the architect himself. Most of the time, I had the opportunity to say »hello,« but that was it. For me, it’s very inspiring to put myself in situations where the limitation of the space is a given, and I try to listen to that limitation as much as I can. Usually I don’t touch it, I don’t change it, I just try to strip it completely and to accept it how it is, and that generates new questions. The museum is not a totally empty space, like a dance studio or a theater that can always be completely transformed. Most of the time it’s not only the architecture itself, but it’s what the architecture houses: when I worked in the Neues Museum it was also the collections that would come there. I was thinking, »In this space there will be this collection,« so I related to these non-existent exhibits. In
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the Jewish Museum it was a historic dialogue; it was all about the history of the Holocaust. So it shifts. And then there’s this other part: I usually take some interesting questions that I cannot solve out of these museum projects. I bring them with me into the theater spaces, and, a lot of times, starting from there, I develop the spatial environment for the choreography. I think I always start with the space and with Thomas Schenk, who trained as an architect and with whom I’ve done almost all of the projects in my career: before we begin, we always think about the space. And then comes the movement. That can still change, it can transform, but I need a limitation to work with. LF: Marjetica, how do you make this transition – or shift – in your lyrical works from the research-based on-site projects to the institutional gallery space with drawings and architectural installations? Could you explain in a bit more detail how we can imagine this process of translation from basically real life, »the living world,« as you call it, into the white cube of the gallery? MP: Well, I think architecture is like an open book: it has a story to tell; it is a narrative. It tells you about the people who built the civilization, and I think it’s fantastic to analyze this process of construction. When I work on architectural case studies, like the Caracas barrio houses I showed at the Hamburger Bahnhof last year, every detail tells us about the values of the people who built such buildings. When we installed it in the exhibition space, it became a body, a portrait of the city. It was representative of the Caracas barrio. But what I think is very important is that it was a body in space, a body made of architecture, a body that was architecture. What was also very interesting in this particular case was that we used tree trunks. Why? Because sometimes people try to intellectualize the architectural discourse, but basically we all understand what, for example, a column is. We are talking about an architectural archetype, in a sense: a man is a tree and a tree is a column for a house. Every one of us understands this without reading any books. I think this is what’s amazing about architecture – that it has a story to tell. When we show an architectural case study in the exhibition space, I ask myself: How does the visitor encounter the structure? After all, these are two personalities meeting for the first time. That’s why I never place an architectural case study parallel with the gallery walls. I want the visitor to have a conversation with this stranger who
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appears out of nowhere – not with a wall, which itself represents a wellknown cultural structure. It’s about the power of dislocation. How do you behave in such a space? UMB: I think that’s very crucial: it’s bodies and space, and of course in the theater that’s more obvious. As an artist you often think, »There is the artwork and then there is the space,« but you forget the other people. Usually, when there is an exhibition, there is an audience. To us it was always crucial to ask, especially when we worked on the bigger exhibitions: »How do we really imagine the space, the artwork, and the people?« Of course, things change when you perceive the work in the presence of others; sometimes it’s really amazing if you are just with three people or alone with an artwork, or if you share the place with a hundred people. I think then architecture really comes into place. The same, I think, happens in the theater. Are you sitting frontally and something is happening on a stage? Are you on the same level with the actors or are you actually in the middle of them? Do you know if, next to you, this is an actor or another member of the audience? All those questions are very interesting. At MIT, for example, we had performance classes, wonderfully taught by Joan Jonas to architects, urban planners, and astrophysics students. Of course, the people from my architecture department always said, »Why do our architecture students have to have a performance class?« And I said that it’s really amazing for them to understand the relationship between bodies and space and movement in space. I think it’s essential to understand architecture not as a fixed entity. I mean, a city, of course, is dynamic, but I think architecture is dynamic, too. MP: Performative action is one of the tools the students use in my participatory practice class Design for the Living World at the HFBK. LF: I am grateful for your point here, because this brings me to another point. When I was preparing this talk, I realized that what connects all of your work is a relational quality, as you said, to bodies and spaces. All of your works consciously stimulate the spectator for an artistic goal. Let’s say, the common denominator in your practices is their link with the relational sphere. The French art critic Nicolas Bourriaud coined the term »relational aesthetics.« He said that the role of artworks is no longer to form imaginary and utopian realities, but to actually be ways
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of living and modes of action within the existing real, whatever scale is chosen by the artist, meaning basically that the artist is becoming more a catalyst than the center of attention. Marjetica, apparently you aim to raise awareness about our immediate built environment and conventional models of managing it, but you describe your work in Bourriaud’s terms as a »relational object.« You call it an object that the community uses as a tool to articulate a new culture of living in their city and to make the city their own. How do these relational objects, spontaneous urbanisms, or instant activisms transform architecture and urbanism, and the way we live in our cities and how they are built? MP: It’s interesting, because I’ve been asked about Bourriaud’s relational aesthetics before, but I haven’t read his books and I don’t have any direct connection to him. When I started to use the term »relational object,« I was thinking about Lygia Clark and how she worked with human bodies in space. So this was very important. I think that in the on-site projects we are mediators – I say »we« because I always work in collaboration, it’s always a co-authorship. It’s okay to be a mediator. I have various roles: that of artist or thinker or architect. When I write a text, I need to sit at home in peace and focus my thoughts; when I make my drawings, it’s the same. But when I work in a city, I am often an artist-mediator. This is an important role, because it’s not just about mediating between the residents and the municipality, it’s actually about thinking together with the residents about the kind of city they want to live in. The future of the city is really important to me, and the involvement of the citizens in it is just as important. This is why I think it’s essential for an artist or architect to be a mediator at this particular time. LF: Sasha, I was introduced to your work many years ago when you showed Insideout [2003] for the first time. It was basically a piece about the modern city in miniature: about personal life, community life, how these things engage. It was also a piece where the audience was not sitting; you had to walk through the entire stage design, become part of it in one way or another. I remember how I, as a participant, more or less started to develop my own choreographies or tried to follow the narrative. My personal experience was that you created new modes of access. I’m wondering how far you can anticipate these interhuman, intersubjective encounters in your pieces as a choreographer.
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SW: Well, we did a lot of research before. We built sort of test models in the studio of variously sized squares and different configurations of space and stairs, and then we connected them in different ways. So we would constantly change the way the public would walk until we thought we had the right amount of flow where people would feel totally free and be drawn inside at the same time, because the space was actually quite small. I wanted intimacy, because the piece was based on the biographies of the dancers. So I wanted the public to be close to the performance and to really invite them into the spaces. But at the same time we needed to balance that with the number of tickets we could offer for sale. So we invited people to walk and we observed what they were doing, what kind of choices they were making, and then, bit by bit, we would develop a pathway. This was also a project I developed with Thomas Schenk and another stage designer who had a background in architecture. So there were architects involved who were not coming from stage design directly. I think this was the only project where I really wanted to sort of create my own architecture, to make it function exactly according to our needs, while afterwards, for me, it was in a way almost more interesting to enter a given space and do research there. For example, Scarpa’s building is so small! Or the Zaha Hadid building, the MAXXI: the spatial composition and definition is completely different there, so I am forced to react in a different language, and I like that. But I would like to say one more thing: what separates us is that I work with time. I do not set an object in space and then it is there, and we can approach it and maybe share it as a public. We are working with the time factor, because the dancers are moving. When we enter a museum, we still have to deal with that factor of time, so I am still creating a dramaturgy and a line. Thus I am shifting between the fact that the dancers can actually become objects, almost like an exhibit within the museum, but then again, they can come back to life, they can change, and they can disappear. In the museum, you perceive this even more, you know, when they suddenly appear somewhere and you think, »Oh! Before they were part of another space.« I find that fascinating. LF: But in architecture, even in exhibitions, you have the time component as well. You can only experience a building or an exhibition by walking through it, and so the temporal aspect comes into play … Ute, you understand yourself as a curator, as a mediator, just like Marjetica said, and as a co-producer. You have also always aimed to turn the passive spec-
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tator into a participant. This is particularly true in your latest exhibition The Future Archive at the Neue Berliner Kunstverein, which deals with the legacy of the Center for Advanced Visual Studies established in 1967 by György Kepes at MIT. This center was very, let’s say, civic in nature, with a lot of cooperative projects. I would like you to elaborate on your understanding of yourself as a curator or mediator, and your conceptual stance in regard to this kind of relational, civic, communal idea. UMB: It’s a good thing that we are in a bookstore here, which reminds us that nothing is really new and that ideas flow through space and time. Kepes came from the Bauhaus and collaborated closely with Moholy-Nagy. Both were Hungarian, both had to emigrate from Nazi-Germany, first to London and then to the U.S. So I think it’s this idea of the Bauhaus, of artistic intervention, that »Gestaltung« is part of life, that its place isn’t in a museum. Again, it’s a very old idea. I mean my point is that I am a little worried about the homogenization of spaces. I really enjoy different spaces, cities, experiences, not in the sense of »everyday a different experience or spectacle,« but to understand difference and its importance – that we are able to recognize difference. In that sense, relational experience – I would go back much further, maybe to Bourdieu, to understand how much we are determined, even if we enter a certain context, how we perceive something. Of course, the museum is one specific context, the theater another. I am little worried by what I see in architecture today. In the past, when an artist made a work, it came out of a studio. So the artist’s studio is a very specific space. Then, it often moved to a gallery or to a museum, or it moved to a collector’s home, which are very different architectural, historical, and cultural spaces. Now what we experience is that the gallery looks like a museum and the collector’s home looks like a museum and the museum looks a little bit like an artist’s studio. So we face a kind of homogenization of spaces, and that worries me. This is why I appreciate artistic practices that insist on those differences. Or when the artwork or the artist escapes the homogenization. I think sometimes as citizens we can escape the homogenization of the global city that looks the same as every other. MP: I love it that as an artist I can work in a museum or in a gallery, but then I can also work on on-site projects and it’s a different practice. I
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learn from each different practice, just as I learn from different disciplines, which is why it’s good to work with others, to do collaborative projects. LF: In a way all of your spaces, whatever experimental spaces you create and whichever way you do it, contain spaces of creative research. Marjetica, you call your projects »laboratories for the living world.« Ute, your exhibitions are maybe less laboratories and more »accessible archives« of world history which people can appropriate. Your Dialogues series, Sasha, is explicitly meant, you said before, as a form of research that eventually transforms into a production. When I am looking at a Dialogues piece, I am actually part of a creative research process. It therefore seems that the notion of open research and the experimental laboratory approach very much contribute to the processual nature of all of your works. MP: When you do a project in a city, you really have to do in-depth research. It may be similar to doing a play or an exhibition. For me, research is crucial; it’s a tool for understanding different ways of thinking. And of course it’s only then, once you’ve done the research, that you can start working with the people who live there, because we all have preconceived ideas: you always come with some idea that is actually your idea and not theirs, not the residents’ idea, and as a result it doesn’t fit the specific environment you want to work in. So I think it’s very important to first get to know the location. And then you have to be able to change … SW: Yes, the research is sort of oxygen. I need to do research, otherwise I think I would get bored. I need it, it’s like my life. I also wanted to stress what both of you said, that it’s very important to change. As an artist you have the intimacy of your studio and then, suddenly, you have to go to a space that is like three or ten times bigger. You always transform: you blow up the space, you shrink it, you go to another theater, you suddenly lack depth. So you have to adapt to spaces all the time, but that is our practice. After I do a project in a museum, I’m so happy to come back to the theater, where I can better direct the attention of the audience. Whereas in the open museum situations I cannot know if a part of the audience might be missing a particular beautiful situation. So I lose something at the same time. But I need the research to stir it up, to open it, also at times to destroy something. I mean, it is all always happening in the space, but the research also has to bring me into other areas. Sometimes I do inter-
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views as part of my research. For my project Allee der Kosmonauten [1996], I went to Marzahn and I did interviews with people living in one block. I started to develop the piece from that. So research points me in different directions, which is essential. UMB: For me it’s not just the research, as you said, it’s also the kind of discourse you can establish with the people who perceive the artwork. I think it’s important to understand that a work is perceived very differently in different cultural contexts. This is why I am so afraid of homogenization – or against it. To me it’s interesting to experience an artwork first in a studio, then in a museum, then in a collector’s home, where it’s maybe way too big. I think that’s great, because you understand scale. If everything is simply moved somewhere else without changes, you’d lose the ability to differentiate. It has so much to do with what you perceive and I have to say it was maybe less Nicolas Bourriaud than some of my other teachers. I have to say that only much later can you understand how important your teachers are to you. Of course studying with Karl-Ernst Herrmann in the Schaubühne when he carried trees on the stage, or Piotr Nathan, my schoolmate, also a stage designer, who brought real trees into the theater … and you suddenly smelled them … Of course, from an environmental perspective you probably wouldn’t do that today. It’s a completely different experience of space. He didn’t want to have something as a »Kulisse,« he wanted to have the real thing, because he said that the actors would react very differently if they were in a real space with real elements than if they were on a stage that just has a front. So that was quite important to me. And then my theory teacher, Michael Lingner, always said that there is no artwork without the receiver, without somebody who sees it. Only then does it become art, only if it’s activated – the rest is just material. It’s not erotic in itself, it only has a kind of meaning when it’s presented in space and when it’s perceived. So that would bring us back to Lefebvre. Again, this is something what we share, and you might call it research. Of course, I come from a research university, but I still think we have to demystify the notion of research and encourage people to have experiences by themselves again, or to start learning something by themselves, and to be open to differences. LF: Maybe curiosity is a better term to fit all of your work. But now at the end let us come back to architecture as a model of understanding. In
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the last couple of years, I would say, we have witnessed quite a renaissance of diverse critical spatial practices in the arts. It has been around before, particularly in the sixties, but it is interesting enough that simultaneously a shift has been proclaimed in cultural or social studies: the spatial or topological turn. This is basically a paradigm shift that does not take space for granted, again going back to Lefebvre, but regards space as a culturally constituted and a historically unstable phenomenon. Against this backdrop, architecture seems to act beyond its functional denotation as a performative and apprehensive model of understanding. So as diverse or similar your approaches may be, where do you see the cognitive, epistemological surplus of architecture in the aesthetic process? Simply speaking: what can you learn from architecture, or what does architecture offer on an epistemological level that maybe other arts can’t? MP: I would like to talk about space rather than architecture. When we had a discussion in Linz, I said that space today really matters. Today people talk about the digitalization of space, a notion that is very abstract. I learned through the on-site projects that space really matters. Any group of people who wants to be officially recognized needs its own physical space. So suddenly space becomes an important idea. We also talked about rituals and the rites of transition. Suddenly all these new notions are entering the books around us; they are entering the architectural discourse. UMB: That is really interesting. If you take the Occupy movement or what is just happening now at Gezi Park, it is really about space, it’s about reclaiming physical space. It’s crucial to ask who owns space, what determines space. But to come back to what we call architecture: architecture as a profession derived from mainly ritual contexts. The architect who built a temple had a particular designation. Yet everything else was built by people and was not called architecture. I think what we are all interested in is everything that is not architecture with a big A and maybe what is beyond art with a big A. What exactly is that, that in-between? Or what is that which we cannot yet determine as an experience? To me a lot of architecture that is built today is too pre-codified. There is no room to appropriate it in multiple ways. Maybe I’m prejudiced, but I think there is too much thought about exactly how it should be, and it is very difficult for people to then do something else with this architecture.
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SW: I’m just thinking about the perspective of formal theater, where you have an empty space, where the space can be transformable, and thinking that on a larger scale in terms of the city. It sometimes happens that some things grow slower or maybe fall apart; we also need to accept this. It’s powerful and fantastic to think that architecture can stay for centuries, but we also need to acknowledge that architecture can be more transformable and can follow the change and flow of what people need in a city. Thinking about multi-functional spaces, not in the sense of multifunctional centers, but spaces that can be used according to what is needed at a certain moment. In a way a theater is this kind of space, but I think theaters should still have more of that, because already the seating is wrong – there should be no seating, it should just be an empty space and then, if you need seats, you can put them in as you want them. If you take this idea on a bigger scale into a city or just into a certain area, it could be very interesting. MP: This past week I met three developers who are trying to think differently about cities – they work with communities. This is a big question in cities around the world now. Cities want to understand small-scale community projects, because the existing architecture will be with us a long time, although not necessarily in its present state, but there is also a different city being produced right now by ordinary residents, and there is a lot we can learn from it. LF: Ute once said, »the exhibition space or venue does not exist anymore. Wherever there is art, there is its possible space or venue.« What possible counter-effects could this development have on the role and potential of institutional spaces of display and (re)presentation, such as museums, theaters, galleries? MP: Institutions change. This change is not counterproductive; it is part of life. I just want to add something else related to art production. Twenty years ago everyone expected to see object sculptures in public spaces. Public art was understood as object sculpture. But then things changed, and public art became performance or temporary structures. Along the way, art institutions adapted to the new forms of art production. They had to change the way they worked. It was a difficult process because object sculpture is permanent, and now they had to do temporary
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art, which corresponded better to the needs of the city. What we are experiencing today is another change, from the temporary back to the permanent. This time, temporary projects want to remain in place, and they are managed not by the city, but by the communities. LF: Whether permanent or temporary, I would like to thank you all for contemplating with me the role of architecture in the artistic process.
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Autorinnen und Autoren
Ute Meta Bauer ist Kuratorin und Gründungsdirektorin des Centre for Contemporary Art in Singapur. Heike Delitz vertritt derzeit die Professur für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie an der Bergischen Universität Wuppertal. Lukas Feireiss ist Kurator und Autor. Er leitet das Studio Lukas Feireiss in Berlin. Susanne Fontaine ist Professorin für Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Christian Freigang ist Professor für Architekturgeschichte an der Freien Universität Berlin. Daniel Gethmann ist Assistenzprofessor am Institut für Architekturtheorie, Kunst- und Kulturgeschichte der Technischen Universität Graz. Malte Hagener ist Professor für Medienwissenschaft an der PhilippsUniversität Marburg. Susanne Hauser ist Professorin für Kunst- und Kulturgeschichte im Studiengang Architektur der Universität der Künste Berlin. Sabine Huschka ist Tanz- und Kulturwissenschaftlerin. Sie lehrt als Privatdozentin am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig.
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Windows on Architecture
Jan Lazardzig ist Associate Professor for Theatre Studies an der Universität Amsterdam. Gerhard Neumann ist Professor (em.) für Neuere Deutsche Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin. Marjetica Potrč ist Professorin für Social Design an der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Ludger Schwarte ist Professor für Philosophie an der Kunstakademie Düsseldorf. Florian Sprenger forscht als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Digitale Kulturen der Leuphana Universität Lüneburg. Laurent Stalder ist Professor für Architekturtheorie an der ETH Zürich. Kirsten Wagner ist Professorin für Kultur- und Kommunikationswissenschaften an der FH Bielefeld. Bernhard Waldenfels ist Professor (em.) für Philosophie an der RuhrUniversität Bochum. Sasha Waltz ist Choreographin, Tänzerin und Opernregisseurin. Sie leitet mit Jochen Sandig die Tanzkompagnie Sasha Waltz & Guests. Julia Weber ist Leiterin der Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe »Bauformen der Imagination. Literatur und Architektur in der Moderne« an der Freien Universität Berlin.
Architekturen Eduard Heinrich Führ DIE MAUER Mythen, Propaganda und Alltag in der DDR und in der Bundesrepublik Juni 2016, ca. 352 Seiten, Hardcover, durchgehend vierfarbig bebildert, 24,99 €, ISBN 978-3-8376-1909-6
Jörn Köppler Die Poetik des Bauens Betrachtungen und Entwürfe Mai 2016, ca. 180 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,99 €, ISBN 978-3-8376-2540-0
Ekkehard Drach (Hg.) Das Verschwinden des Architekten Zur architektonischen Praxis im digitalen Zeitalter Mai 2016, ca. 210 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3252-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Architekturen Gianenrico Bernasconi, Thomas Hengartner, Andreas Kellerhals, Stefan Nellen (Hg.) Das Büro Zur Rationalisierung des Interieurs, 1880-1960 Februar 2016, ca. 330 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2906-4
Alexander Gutzmer Architektur und Kommunikation Zur Medialität gebauter Wirklichkeit September 2015, 138 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3269-9
Susanne Hauser, Christa Kamleithner, Roland Meyer (Hg.) Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften Bd. 2: Zur Logistik des sozialen Raumes 2013, 448 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1568-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de