Dialoge und Positionen: Architektur in Japan 9783035607277, 9783035608458

Im Osten Neues Das Buch gibt einen Überblick über die aktuelle japanische Architektur, ihre Gestaltungskonzepte sowie

211 28 20MB

German Pages 272 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Architektur in Japan: Vorstellungen, Entwicklungen und Verflechtungen
Dialoge
Fumihiko Maki
Toyo Ito
Osamu Ishiyama
Ryoji Suzuki
Riken Yamamoto
Hiroaki Kimura
Makoto Sei Watanabe
Jun Aoki
Hiroshi Nakao
Sou Fujimoto
Ryuji Nakamura
Junya Ishigami
Go Hasegawa
Positionen
Kulturelle Übersetzungsprozesse: Japanische Architektur zwischen Ost und West
Einflüsse aus Japan auf die moderne Architektur in Europa
Zwischen Tradition und Moderne: Die zwei Seiten der japanischen Vorkriegsarchitektur
Traumata der Modernisierung: Die Architektur in Japan nach 1945
Das System der Architekturproduktion in Japan
Bezüge zu Traditionen in der zeitgenössischen Architektur Japans
Anhang
Herausgeber und Autoren
Namensregister
Bildnachweis
Danksagung
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Dialoge und Positionen: Architektur in Japan
 9783035607277, 9783035608458

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D I ALOGE UND P OS I T I O N EN ARCHITEKTUR IN JAPAN

SUSANNE KOHTE HUBERTUS ADAM DANIEL HUBERT (HRSG.)

DI ALOGE UND POSITIONEN ARCHITEKTUR IN JAPAN

BIRKHÄUSER BASEL

Inhalt EINLEITUNG 6 Architektur in Japan: Vorstellungen, Entwicklungen und Verflechtungen Hubertus Adam / Daniel Hubert /  Susanne Kohte

DIALOGE 20 Fumihiko Maki 34 Toyo Ito 50 Osamu Ishiyama 62 Ryoji Suzuki 76 Riken Yamamoto 90 Hiroaki Kimura 106 Makoto Sei Watanabe 120 Jun Aoki 134 Hiroshi Nakao 148 Sou Fujimoto 162 Ryuji Nakamura 176 Junya Ishigami 190 Go Hasegawa

POSITIONEN 206 Kulturelle Übersetzungsprozesse: Japanische Architektur zwischen Ost und West Christian Tagsold 214 Einflüsse aus Japan auf die moderne Architektur in Europa Hyon-Sob Kim 226 Zwischen Tradition und Moderne: Die zwei Seiten der japanischen Vorkriegsarchitektur Benoît Jacquet 238 Traumata der Modernisierung: Die Architektur in Japan nach 1945 Jörg H. Gleiter 250 Das System der Architektur­produktion in Japan Jörg Rainer Noennig / Yoco FukudaNoennig 258 Bezüge zu Traditionen in der zeit­ genössischen Architektur Japans Philippe Bonnin

ANHANG 266 268 270 271

Herausgeber und Autoren Namensregister Bildnachweis Danksagung

Architektur in Japan: Vorstellungen, Entwicklungen und Verflechtungen Hubertus Adam / Daniel Hubert / Susanne Kohte

Japan ist in vieler Beziehung das Land, das sich einem zu träumenden Paradiese am innigsten nähert.1 HERMANN MUTHESIUS, 1903

Geht man davon aus, dass der Orient – also der Nahe, Mittlere und Ferne Osten – kontrastierende Bilder, Ideen, Vorstellungen und Erfahrungen liefert, Projektionen mithin, die auf den Westen zurückwirken und dessen Selbstdefinition prägen,2 so fällt auf, dass Japan auf eine fast durchweg positive Rezeption stieß. Seit dem Bericht von Marco Polo war mit Japan stets die Vorstellung von einem Land verbunden, das Rätsel aufgibt und zugleich fasziniert, dessen Tradition Bewunderung auslöst und dessen Entwicklungen erstaunen. Das gilt auch und gerade für den Bereich der Architektur. Vom 19. Jahrhundert an über die Moderne und Postmoderne hinweg bis zur Gegenwart faszinierte und fasziniert die Architektur in Japan. Dabei blieben die westlichen Vorstellungen von der Architektur in Japan nicht gleich, sondern veränderten sich mit der Zeit – entsprechend dem jeweiligen Erkenntnisinteresse und dem jeweiligen Stand des Architekturdiskurses. Die Blickrichtung war aber nicht einseitig, denn die Vorstellungen von der Architektur im Westen veränderten sich in Japan ebenfalls und beeinflussten die Architektur dort genauso wie es die sich wandelnden Vorstellungen, was typisch japanische Architektur sei, im Westen taten. Die zeitgenössische Architektur in Japan ist ein Resultat dieser Entwicklungen zwischen Eigenem und Fremdem sowie zwischen Tradition und Moderne, sie ist heterogener, als sie bisweilen wahrgenommen wird, und sie umfasst unterschiedliche Positionen. Die vorliegende Publikation dokumentiert die Vielschichtigkeit der gegenwärtigen Architektur in Japan. Sie versammelt 13 Interviews mit japanischen Architekten und sechs Texte zu Hintergründen und Bezügen, welche die Aussagen der Interviews kontextualisieren. Die Auswahl der Interviewpartner wurde so getroffen, dass mehrere Generationen vertreten sind – von Fumihiko Maki, Jahrgang 1928, bis hin zu Go Hasegawa, Jahrgang 1977. Nicht nur altersbedingt stehen die 13 befragten Architekten für unterschiedliche Haltungen und Positionen; prominente Gesprächspartner wechseln mit Vertretern des Berufsstands, die ganz spezielle Wege gehen und außerhalb Japans (oder auch innerhalb des Landes) wenig Publizität genießen. Die sechs ergänzenden Texte fokussieren auf unterschiedliche Weise die Architektur in Japan, ihre Entwicklung, Rezeption und gegenwärtige Verfasstheit, sowie den wechselseitigen Austausch zwischen den Kulturen. Den Blickwinkel zu weiten ist Ziel dieser Publikation. Japan fasziniert nicht allein durch das Bild, das Architekturmedien oft zeichnen, sondern durch die Vielfalt von Haltungen, die sich unter der Oberfläche verbergen.

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Beständige Faszination Der eingangs zitierte Hermann Muthesius verbrachte die Jahre 1887 bis 1889 in Tokio. Aufgrund seiner berufspraktischen Erfahrungen vor Ort3 zeigte sich Muthesius gegenüber der zeitgenössischen europäischen Japaneuphorie durchaus ­skeptisch, bewunderte aber weiterhin die japanische Kultur, vor allem in ihrer ­traditionellen Ausprägung, die durch Modernisierungstendenzen im 19. Jahrhundert infolge der Öffnung des Landes und der starken Orientierung am Westen gefährdet war. Eine Ideologie der Überlegenheit, die den Diskurs gegenüber anderen Ländern im Orient bestimmte, hat der Westen gegenüber Japan nicht ausgebildet, wobei die Tatsache, dass der Inselstaat nicht vom System des Kolonialismus betroffen war, zweifelsohne eine entscheidende Rolle gespielt hat. Auch nach dem Ende des zwei Jahrhunderte währenden Isolationismus im Jahr 1853 dauert die Faszination Japan an, wobei die Wahrnehmung sich durchaus wandelte, aber doch – unabhängig vom jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Kontext – stets unter dem Strich positiv konnotiert war. Ein aktuelles Beispiel im Bereich der Architektur ist die Ausstellung „A Japanese Constellation“, die im Frühjahr 2016 im Museum of Modern Art in New York zu sehen war. Der verantwortliche Kurator Pedro Gadanho hatte zunächst eine monografische Schau über Toyo Ito erarbeiten wollen, sich dann aber für eine Gruppenausstellung entschieden, die „das Netzwerk von Architekten und Designern in den Blick nimmt, das sich um die Pritzker-Preisträger Toyo Ito und SANAA gebildet hat“.4 Die Ausstellung zeigte Projekte von Architekten aus drei Generationen, wobei Toyo Ito als historischer Fluchtpunkt fungierte. Die zweite Generation wurde von seiner Schülerin Kazuyo Sejima und ihrem Büro­ partner Ryue Nishizawa repräsentiert, die dritte durch die SANAA-Schüler Junya Ishigami und Akihisa Hirata sowie durch Sou Fujimoto. Als Hauptwerke präsentierte Gadanho Toyo Itos Mediathek in Sendai (2001) sowie das „21st Century Museum of Contemporary Art“ (2004) in Kanazawa von SANAA. Ausstellungen sind Konstruktionen, und bei Gadanho wurde der Versuch erkennbar, eine bestimmte Traditionslinie der japanischen Architektur herauszuarbeiten und für den zeitgenössischen Architektur­diskurs zu operationalisieren.5 Der Kurator verwies auf den neuen Umgang mit Transparenz und Leichtigkeit, aber auch auf die konstruktive Innovation, welche die Arbeiten der Architekten verbänden. Bestätigt sah er die weltweite Bedeutung der japanischen Architektur durch die Erfolge anderer SANAA-Schüler, wobei er insbesondere Florian Idenburg sowie die Gewinner des Guggenheim-Wettbewerbs für Helsinki, Moreau Kusonoki Architectes, anführte. Das Bild, das die Ausstellung im MoMA vermittelte, kann als paradigmatisch für die zeitgenössische Wahrnehmung der japanischen Architektur gesehen werden. Konstruktive Eleganz, Transparenz, Leichtigkeit, Purismus, Minimalismus bestimmen die Wahrnehmung der Architektur des Inselstaats und werden in den Arbeiten der besagten Architekten eingelöst. Unter den zahlreichen Publikationen, die dieses Bild untermauern, sei auf eine Zusammenstellung aktueller Architektur und aktuellen Designs aus Japan unter dem charakteristischen Titel Sublime hingewiesen.6 Die diversen Kapitelüberschriften bilden zusammen gleichsam eine tag cloud, mit der sich die Vorstellung von japanischer Architektur umschreiben lässt: Transparenz, aufgelöste Grenzen, innen – außen, neue räumliche Strukturen, Haus im Haus, Tradition/Moderne, Natur/Technologie/Materialien, Überwindung der Schwerkraft etc.

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Shigeru Ban, Curtain Wall House, Tokio, 1995

Vorstellung und Wirklichkeit Den Vorstellungen von japanischer Architektur im Westen und den Themen, die in Ausstellungen und Büchern behandelt werden und die auch Architekten in Europa beeinflussen, ist zumindest mit Vorsicht zu begegnen. Besonders präsent in den westlichen Medien waren in den letzten Jahren die kleinen Häuser in den japanischen Metropolen. Shigeru Bans „Curtain Wall House“, das „Small House“ von SANAA oder das „House NA“ von Sou Fujimoto sind als Beispiele für Minihäuser zu Ikonen geworden, die nicht nur in Fachzeitschriften und Internetblogs auf große Resonanz stoßen, sondern auch die Feuilletons von Tageszeitungen erreicht haben. Angesichts banaler Baukonvention in Deutschland avancieren die Minihäuser in Japan zu Häusern der Zukunft, als wegweisende Bausteine einer Stadt von morgen.7 Die Euphorie ist angesichts mancher ebenso herausragender wie frappierender Bauten durchaus verständlich. Doch „Pet-Architecture“, wie Atelier Bow-Wow die Kleinhäuser in den Städten, vor allem in Tokio, nennt, ist ohne die spezifische Tradition der Verdichtung, den ökonomischen Druck sowie die Lebensgewohnheiten in den japanischen Metropolen nicht zu verstehen. So faszinierend diese Bauten sind, so problematisch ist doch die eindimensionale Fokussierung in gegenwärtigen westlichen Publikationen.8 Ebenso fällt auf, dass die viel publizierten Ikonen angesichts des alltäglichen Anbauens und Umbauens, angesichts der Allgegenwart von Bricolage und Fertighäusern in der Realität bei weitem nicht so spektakulär wirken wie auf den bearbeiteten Hochglanzfotos. Ein besonders eklatantes Beispiel hierfür ist das „Curtain Wall House“ von Shigeru Ban in Tokio. Bekannt wurde es durch ein nachgerade zur Ikone gewordenes Foto, das die Eckansicht mit dem wehenden, zwei Geschosse übergreifenden Vorhang zeigt.9 Bei einem Besuch vor Ort gibt es keine Spuren der Existenz des Vorhangs, dafür treten die metallenen Protuberanzen der Treppen und Nasszellen in Erscheinung, die sich an der benachbarten Ecke übereinanderstapeln. Das „Curtain Wall House“ hat seinen ätherischen Charakter verloren und fügt sich vermittels seiner organisch geformten und auch etwas gebastelt wirkenden Blechverkleidungen perfekt in die unmittelbare Umgebung ein. Vorstellung und Realität driften hier auseinander, da Vorstellungen stark von zeitabhängigen

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Junzo Sakakura, Museum of Modern Art, Kamakura, 1951

Takamasa Yoshizaka, Inter-University Seminar House, Tokio, 1965

Wahrnehmungsdispositiven geprägt sind. Je nach Zeit, Umständen und vorherrschenden Ideologien haben sich die Vorstellungen und Fokussierungen gewandelt – und die Entwicklung der Architektur in Japan und im Westen mitgeprägt. Dominante Perspektiven, die den Blick auf Japan bestimmen, gibt es seit langem. So hat Reyner Banham dargelegt, dass die Wahrnehmung der japanischen Gegenwartsarchitektur in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts einer ähnlichen Optik folgte, wie wir sie heute kennen.10 Grundlegend hierfür war Bruno Tauts Interpretation der Villa Katsura; Klarheit und Einfachheit avancierten zu den wichtigsten Kriterien japanischer Architektur, der historischen ebenso wie der zeitgenössischen. Eingelöst wurden die Kriterien insbesondere im Japanischen Pavillon der Pariser Weltausstellung 1937 von Junzo Sakakura, der die Zeit zwischen 1930 und 36 im Büro von Le Corbusier in Paris verbracht hatte. Der Pavillon war extrem filigran ausgebildet und Banham zufolge im Detail puristischer als die Bauten Mies van der Rohes; die kanonische Publikation erfolgte durch Alfred Roth, der ihn 1940 als einziges japanisches Projekt zu den 20 Bauten zählte, die für ihn programmatisch die „Neue Architektur“ verkörperten.11 Konditioniert durch Tauts Katsura-Elogen reiste Walter Gropius 1954 zum ersten Mal nach Japan. Zur Verwunderung seiner Gastgeber galt das Hauptinteresse des einstigen Bauhausgründers der historischen Architektur. Das wird nicht zuletzt vor dem Hintergrund verständlich, dass Gropius sich schon in Deutschland, dann aber vor allem in den USA mit Präfabrikation und Standardisierung auseinandergesetzt hatte und in der strukturellen Logik der Holzarchitektur Japans historische Parallelen erkennen konnte. Dass die jungen Architekten andere Wege beschritten, konnte er indes nicht recht nachvollziehen: „Aber heutzutage ist der junge japanische Architekt oft nur zu gerne bereit, alle diese Vorteile wegzuwerfen, weil sie für ihn gedanklich verknüpft sind mit der feudalen Vergangenheit […] Seine Liebe gehört der undurchdringlichen, unbeweglichen Betonwand, die für ihn die Festigkeit und Widerstandskraft verkörpert, die er gern seinen modernen Gebäuden geben möchte.“12 Binnen weniger Jahre hatte sich die japanische Architektur gewandelt. Zwar konnte Sakakura mit seinem Museum of Modern Art in Kamakura, dem ersten Museumsbau für moderne Kunst in Japan, hinsichtlich Eleganz und Leichtigkeit an seinen

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Antonin Raymond, Gunma Music Center, Takasaki, 1961

Antonin Raymond, St. Paul’s Chapel, Rikkyo Niiza Junior and Senior High School, Niiza, 1963

Pariser Pavillon anknüpfen, doch der allgemeine Trend wies zu einer massigen Betonarchitektur. Wichtige Vertreter waren Kunio Maekawa, der mit großen kommunalen und Kulturbauten den staatlichen Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg prägte, und Takamasa Yoshizaka. Beide hatten bei Le Corbusier gearbeitet und verarbeiteten die Formensprache von dessen plastischem Spätwerk auf je eigene Weise. Yoshizakas Hauptwerk ist das „Inter-University Seminar House“ in Hachioji, einem westlichen Vorort von Tokio. Das wuchtige Betonvolumen ist in Form einer umgekehrten Pyramide in den Hang gebohrt, die rohe Schalung verstärkt den kräftigen Charakter, wobei man die Idee des auf die Spitze gestellten stereometrischen Körpers als postmoderne Geste avant la lettre zu lesen versucht ist.

Die metabolistische Dekade Das Jahr 1965, in dem Yoshizakas „Seminar House“ fertiggestellt wurde, fällt in die Mitte jener Dekade, die Japan durch die Bewegung des Metabolismus internationale Aufmerksamkeit bescherte.13 In der Außenwahrnehmung avancierte Kenzo Tange gleichsam zum Übervater und Neubegründer der japanischen Architektur nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch Tange war, anders als selbst heute mitunter vereinfachend behauptet wird, nicht der Gründungsheros der japanischen Nachkriegsmoderne, sondern stand selbst in einer Traditionslinie. Das plastische Gestalten mit Beton hatte er bei Kunio Maekawa gelernt, bei dem er von 1937–41 gearbeitet hatte, also vor dem Beginn seiner akademischen Karriere und vor der Eröffnung seines eigenen Büros. Maekawa wiederum war nicht allein Schüler Le Corbusiers, sondern hatte auch bei dem tschechisch-amerikanischen Architekten Antonin Raymond gearbeitet, der als Mitarbeiter Frank Lloyd Wrights nach Japan gekommen war. In den Folgejahren avancierte Raymond zu einem der wichtigsten modernen Architekten in Japan: Von den Wright-Adaptionen der frühen Jahre führte sein Weg über den International Style der frühen 1930er Jahre bis hin zu expressiven Betonskulpturen der 1950er und 60er Jahre, etwa dem „Gunma Music Centre“ (1956–61) oder der „St. Paul’s Chapel“ auf dem Niiza Campus der Rikkyo

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Kenzo Tange, St. Mary’s Cathedral, Tokio, 1965

University in Saitama (1963). Wie Maekawa ist auch Raymond außerhalb von Japan nur wenig bekannt. Dasselbe gilt für Togo Murano, der von 1930 an über mehr als fünf Jahrzehnte erfolgreich als Architekt praktizierte und ein äußerst vielgestaltiges Werk realisierte. In seinen besten Werken gelangen ihm spannungsreiche Legierungen aus westlichen Ideen und östlicher Tradition, besonders in den 1960er Jahren entwarf er einige herausragende Bauten in einem organisch-expressiven Stil. Robin Boyd schreibt in seiner Tange-Monografie über die exzeptionelle Bedeutung der World Design Conference in Tokio 1960. Zuvor „sozusagen eine architektonische Kolonie Europas“,14 habe sich Japan nach der wie eine Unabhängigkeitserklärung wirkenden Konferenz in der Weltarchitektur etabliert – und Tange seine Position „als der vom Westen anerkannteste japanische Architekt“15 bestätigt. Die 1960er Jahre sahen Tange auf dem Höhepunkt seines Schaffens, und sie waren zugleich die Dekade des Metabolismus, der mit der Veröffentlichung des Manifests anlässlich der World Design Conference 1960 ins Leben gerufen wurde. Der wesentliche Grund dafür, dass Tange und die Metabolisten-Gruppe gleichsam als Inbegriff der japanischen Gegenwartsarchitektur wahrgenommen wurden, lag in deren internationaler Vernetzung, mit der Maekawa, Raymond oder Murano nicht in vergleichbarem Maße aufwarten konnten. Tange war 1949 durch den Wettbewerbsgewinn für das „Hiroshima Peace Memorial“ über Japan hinaus bekannt geworden. 1954 nahmen Tange, Isozaki und weitere japanische Architekten an

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Junichiro Ishikawa, Insho Domoto Museum, Kioto, 1966

einem Seminar teil, das Konrad Wachsmann 1954 in Tokio und anschließend in weiteren japanischen Städten durchführte. Für die metabolistische Idee wuchernder Großstrukturen, wie sie die vom Ingenieur und Tange-Partner Takashi Asada organisierten Architekten ab 1959 entwickeln sollten, können Wachsmanns Ideen als entscheidendes Ferment angesehen werden. Auf Vermittlung von Maekawa nahm Tange überdies 1951 erstmals an einer CIAMTagung (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne) teil, nämlich an CIAM VIII (The heart of the city) in Hoddesdon, Großbritannien. Hatte es vor dem Krieg schon vereinzelte Kontakte zwischen japanischen Architekten und den CIAM gegeben – Maekawa beispielsweise war 1929 im Gefolge Le Corbusiers zum CIAM II nach Frankfurt am Main, Deutschland, gereist –, so traten nun Maekawa, Sakakura und Tange als japanische Gruppe auf.16 1959 reiste Tange zum letzten CIAM-Kongress in Otterlo, Niederlande,17 und knüpfte hier weitere Kontakte unter den internationalen Kollegen, so dass er im Folgejahr unter anderen Peter und Alison Smithson, Louis Kahn, Jean Prouvé und Paul Rudolph zur World Design Conference in Tokio einlud. War die World Design Conference der Beginn der metabolistischen Dekade, so markiert die Expo 1970 in Osaka gleichsam das Ende. Gegenüber den Visionen der Zeit um 1960 wirkten die Bauten der Weltausstellung eher enttäuschend, die ganze Expo sei, wie Arata Isozaki vermerkte, von Technokraten geprägt gewesen. Und ihre überzeugendsten Bauten hatten Tange oder Kikutake ohnehin in den Jahren zuvor errichtet. Letztlich ereignete sich um 1970 ein gesellschaftlicher und ökonomischer Wandel, der in Japan wie im Westen dazu führte, dass die Nachkriegsmoderne an Verbindlichkeit verlor. Die Studentenunruhen von 1968, die Ölkrise und der Bericht des Club of Rome über „Die Grenzen des Wachstums“ entzogen überspannten großmaßstäblichen Planungen die Grundlage. Schon 1968 hatte Robin Boyd in seinem Überblick über New Directions in Japanese Architecture festgehalten, dass das, was im Ausland als die neue japanische Architektur wahrgenommen werde, nur einen – wenn auch markanten — Ausschnitt aus dem Spektrum zeitgenössischen Bauens darstelle.18 Um zu zeigen, dass es durchaus auch andere stilistische Tendenzen gab, bildete Boyd das „Insho Domoto Art Museum“ (1966) von Junichiro Ishikawa in Kioto ab,19 das mit seiner überbor-

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Takamitsu Azuma, Azuma Residence, Tokio, 1967

Seiichi Shirai, Noa Building, Tokio, 1974

Togo Murano, Japan Lutheran Seminary, Mitaka, 1969

denden grafischen Fassadengestaltung an den Art Nouveau erinnert und zugleich auf die Dekorativität der 1980er Jahre vorausweist. Boyd stellt eine ganze Anzahl von Architekten vor, wobei er den Bogen von Maekawa und Sakakura über Tange und die Metabolisten bis hin zu Togo Murano und Kazuo Shinohara spannt.

Diversität und Postmoderne Die 1970er und 80er Jahre in Japan waren von verschiedenen gegenläufigen Strömungen geprägt, die nicht mehr die Meinungsführerschaft für sich beanspruchen konnten. Fumihiko Maki widmete sich der Adaption des International Style, Tadao Ando verschmolz die Perfektion des Betons mit der japanischen Tradition, Osamu Ishiyama kombinierte Bricolage und Hightech-Ästhetik, Shin Takamatsu vereinte Beton und Stahl zu skulpturalen Bauten von beinahe martialischer Wucht. Kazuo Shinohara, der als extremer Individualist und langjähriger Professor am Tokyo Institute of Technology den Gegenpol zu dem an der University of Tokyo lehrenden Kenzo Tange darstellte, widmete sich Bauten im kleinen Maßstab. Dabei entwickelte er Strategien, wie man mit dem Chaos und der scheinbaren Irrationalität der Stadt umgehen kann – das Chaos der Metropole wurde in den Interieurs seiner Häuser sozusagen verdichtet. Wie mit Architektur auf die rasant steigenden Grundstückspreise in Tokio zu reagieren wäre, hatte Takamitsu Azuma schon 1967 in Shibuya gezeigt: Auf einer Grundfläche von lediglich gut 20 Quadratmetern errichtete er einen sechsgeschossigen Betonturm mit insgesamt 65 Quadratmetern Nutzfläche. Damit schuf er ein frühes Vorbild für die „kleinen Häuser“ in Tokio, die in der jüngsten Zeit große Aufmerksamkeit erregen. Eine Reihe weiterer architektonischer Positionen der damaligen Zeit ist heute bedauerlicherweise aus dem Blickfeld geraten. Dazu zählt Seiichi Shirai, der zunächst unter Karl Jaspers in Berlin Philosophie studiert hatte, bevor er als Autodidakt zur Architektur kam. Wie ein gewaltiger Totempfahl steht sein „Noa Building“ (1974) in Tokio. Eine höchst eigenwillige Position nahm auch Team Zoo ein, das 1971 von einigen Studenten von Takamasa Yoshizaka an der Waseda University gegründet worden war.

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Einen der besten architektonischen Überblicke über die Architektur in Japan vom Beginn der 1960er bis zur Mitte der 80er Jahre gibt immer noch Reyner Banhams und Hiroyuki Suzukis Modernes Bauen in Japan. Die Autoren präsentierten 92 Bauten und vermieden dabei eine verengende Schwerpunktsetzung. Architekten der Geburtsjahre 1891 (Togo Murano) bis 1948 (Shin Takamatsu) sind vertreten und belegen die Vielgestaltigkeit der japanischen Architektur zwischen Spät- und Postmoderne.20 Michael Franklin Ross behandelte die 1960er und 70er Jahre, wobei er den Schwerpunkt auf die Tendenzen nach dem Metabolismus legte.21 Japans Bedeutung für die Postmoderne zeigt sich daran, dass Charles Jencks auf dem Titelblatt seines 1977 erstmals veröffentlichten Standardwerks The Language of Post-Modern Architecture22 ein japanisches Beispiel präsentierte, nämlich das Ni-Ban-Kahn in Tokio von Minoru Takeyama.23 Auch wenn Jencks seinen umfangreichen Essay „Der Pluralismus der japanischen Architektur“ in sein etwas später erschienenes Buch über spätmoderne Architektur auslagerte, 24 tauchen doch japanische Referenzen verschiedentlich in seinem Postmoderne-Band oder auch in Bizarre Architecture 25 und anderen Titeln auf. Darunter finden sich Shirais „Noa Building“, Bauten von Toyokazu Watanabe und Monta Mozuna, Kazumasa Yamashitas „Face House“ in Kioto, später auch verstärkt Projekt von Arata Isozaki, dessen „Gunma Museum of Modern Art“ in Takazaki (1974) er aufgrund seiner technokratischen Ausdrucksweise noch abgelehnt hatte. 26 Tatsächlich zeigte die Postmoderne in der japanischen Architektur ein vielfältigeres Spektrum als in Europa oder in den USA. Kengo Kumas „M2 Building“ ist eines der markanten Beispiele. Zu den in Japan immer wieder auftretenden Exoten zählt Von Jour Caux, ein Pseudonym, hinter dem sich der Architekt Toshiro Tanaka verbirgt. Die Bubble Economy in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre führte dazu, dass eine große Anzahl ausländischer Architekten Projekte in Japan realisieren konnte: Zaha Hadid und Aldo Rossi, Nigel Coates und David Chipperfield, Christopher Alexander, Peter Eisenman und Philippe Starck. Manche davon waren erst am Beginn ihrer architektonischen Karriere und konnten in Japan ihre ersten Bauten umsetzen. Das wäre heute, wo nur noch wenige ausländische Büros in Japan tätig sind, nahezu undenkbar.

Team Zoo – Atelier Zo, Miyashiro Municipal Center, Saitama, 1980

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Kazumasa Yamashita, Face House, Kioto, 1974

In den 1980er und 90er Jahren war Arata Isozaki ohne Zweifel der wichtigste Akteur im Lande, der den kulturellen Austausch zwischen westlichen und japanischen Architekten beförderte. 1988 wurde er zum Intendanten der Kumamoto Artpolis, eine Position, die er zehn Jahre später an Toyo Ito übergab. Öffentliche Bauten in der Präfektur Kumamoto wurden seither an herausragende, zum Teil auch junge Architekten vergeben, und so ist über die Jahre ein auch stolz vermarktetes Freilichtmuseum moderner Architektur entstanden. 1989 entwickelte Isozaki den Masterplan für „Nexus World“ in Fukuoka, ein acht Hektar großes Terrain, auf dem auf seine Einladung Projekte von Steven Holl, Rem Koolhaas, Mark Mack, Osamu Ishiyama, Christian de Portzamparc und Oscar Tusquets realisiert wurden. Zwischen 1994 und 2001 war Isozaki schließlich für die Planung einer großen Wohnsiedlung in Gifu verantwortlich. Es wurden nur Architektinnen beteiligt: Elizabeth Diller, Catherine Hawley, Kazuyo Sejima und Akiko Takahashi planten die vier Wohnblocks, Martha Schwartz erhielt den Auftrag für die Landschaftsgestaltung. 1990 kuratierte Isozaki das Programm „Osaka Follies“ für die International Garden and Greenery Exposition in Osaka; zwölf Architekturbüros errichteten Pavillons, darunter Bolles + Wilson, Zaha Hadid, Ryoji Suzuki, Coop Himmelb(l)au und Daniel Libeskind.27 Mit dem „Tsukuba Center Building“ (1978–83) und dem „Mito Art Tower“ (1986–90) errichtete Isozaki zwei japanische Schlüsselwerke der Postmoderne, doch vor allem trat er als Theoretiker hervor. Bemerkenswert sind insbesondere seine Auseinandersetzungen mit der japanischen Tradition,28 mit dem Thema der Ruine,29 das in Japan aufgrund von Kriegszerstörungen, Erdbeben und Tsunami seit langem ungebrochen aktuell ist und in der Zeit der Postmoderne zudem an Bedeutung gewann, und seine Beiträge zu den ANY-Konferenzen der 1990er Jahre, den wohl wichtigsten Foren des zeitgenössischen Architekturdiskurses.30

Seit dem Jahr 2000 Das Ende der Bubble Economy hat erneut zu einer Veränderung der japanischen Architekturlandschaft geführt. Im Jahr 2000 veranstaltete das Nederlands

Arata Isozaki, Gunma Museum of Modern Art, Takazaki, 1974

Kengo Kuma, M2 Building, Tokio, 1991

Von Jour Caux, Waseda Eldorado, Tokio, 1983

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Terunobu Fujimori, Jinchokan Moriya Historical Museum, Chino, 1991

Terunobu Fujimori, Dandelion House, Tokio, 1995

Architectuur Instituut (NAI) in Rotterdam eine große Überblicksausstellung über das Bauen in Japan, die den Titel Towards Totalscape trug.31 Die Schau zeigte Planungen vom Minihaus bis zum Städtebau, wobei auch rein kommerzielle, architektonisch nur bedingt interessante Projekte berücksichtigt wurden. Tokio unterliegt seit den 1990er Jahren einem stetigen Wandel, was sich insbesondere in den Hochhausquartieren zeigt. Doch der Investoren-Städtebau bietet keinen Platz für bemerkenswerte Architektur. Anders sieht es in den Stadtquartieren aus, in denen sich Modelabels angesiedelt haben, vor allem entlang der Omotesando und an der Ginza. Im Schaulaufen nationaler und internationaler Stararchitekten lebt – obwohl in anderer Formensprache – etwas vom Geist der Postmoderne weiter. Natürlich gibt es auch in anderen Sektoren ab und an Aufträge für renommierte Architekten, wie der 2015 eingeweihte „Gifu Media Cosmos“ von Toyo Ito beweist. Doch viele international bekannte Architekten, ob SANAA, Toyo Ito oder Shigeru Ban, bauen inzwischen mehr oder zumindest ihre größeren Projekte außerhalb des Landes, und auch eine jüngere Generation, für die stellvertretend Sou Fujimoto und Go Hasegawa genannt seien, bemüht sich um Aufträge, Wettbewerbserfolge oder Lehrtätigkeiten im Ausland. Der Architekturhistoriker und Architekt Terunobu Fujimori, der seit den frühen 1990er Jahren mit Bauten in Erscheinung tritt, die auf unkonventionelle Weise auf japanische Bautraditionen und vernakuläres Bauen referieren, nutzt für die Erklärung, wie sich die moderne Architektur in Japan entwickelt hat, seit längerem das Bild zweier gegensätzlicher Pole, die er die weiße und die rote Schule nennt: Abstraktion und mathematisches Denken versus Plastizität und Materialität.32 Die Weißen finden ihre historische Referenz im Bauhaus, die Roten in Le Corbusiers Spätwerk. Zu den Weißen zählen laut Fujimori Fumihiko Maki, Kazuo Shinohara und Yoshio Taniguchi, zu den Roten Antonin Raymond, Kunio Maekawa, Junzo Sakakura, Takamasa Yoshizaka, Kenzo Tange und Arata Isozaki. Tadao Ando steht dazwischen, Fujimori bezeichnet ihn als „pinkish“; Toyo Ito sei auf dem Weg von einem Weißen zu einem Roten, die Führung der weißen Schule liege heute bei SANAA. Die Architektur in Japan umfasst viele Positionen. Sie ist geprägt durch verschiedene Bezüge zur japanischen Tradition, aber auch durch den wechselseitigen Austausch mit dem Architekturgeschehen außerhalb des Landes, wo japanische Architektur stets auf Interesse stieß. Was aber in Europa oder in den USA als typisch

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japanisch galt, wechselte über die Jahre: mal Schwere, mal Leichtigkeit, mal Beton, mal Glas, mal kräftige Formen, mal entmaterialisierte Eleganz. Doch die Realität der japanischen Architektur war immer vielfältiger als die Vorstellungen von ihr. Mit der vorliegenden Publikation soll diese Vielfältigkeit anschaulich werden. Die 13 Gespräche mit Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Generationen geben einen Einblick in das Selbstverständnis heutiger japanischer Architekten. Dieser Binnenperspektive wird die Außenwahrnehmung gegenübergestellt; sechs Texte greifen Themen aus den Gesprächen auf, stecken mögliche Referenzrahmen ab und vermitteln Hintergründe.

1 Hermann Muthesius, „Das Japanische Haus“, in: Zentralblatt der Bauverwaltung, Jg. 23, Nr. 49 (20.6.1903), S. 306 f., hier S. 306. 2 Edward W. Said, Orientalism [1978], London 2003, S. 1/2: „In addition, the Orient has helped to define Europe (or the West) as its contrasting image, idea, personality, experience.“ 3 Vgl. Inga Ganzer, Hermann Muthesius und Japan, Petersberg 2016, S. 37–58. 4 Pressemitteilung MoMA, http://www.moma.org/calen dar/exhibitions/1615 (aufgerufen am 15.4.2016). 5 Vgl. Pedro Gadanho, „An Influential Lightness of Being: Thoughts on a Constellation of Contemporary Japanese Architects“, in: ders., Phoebe Springstubb (Hrsg.), A Japanese Constellation, New York 2016, S. 11–18. 6 Robert Klanten et al. (Hrsg.), Sublime. New Design and Architecture from Japan, Berlin 2011. 7 Vgl. z. B. Laura Weißmüller, „Leben ohne Zwangsjacke“, in: Süddeutsche Zeitung, 9.7.2012; dies., „Setzkasten des Lebens“, in: Süddeutsche Zeitung, 25.4.2013; Niklas Maak, „Der Fluch des Eigenheims“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.1.2012; ders., „Wie man das Wohnen neu denken kann“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.7.2012. Maak hat seine Texte auch zu einem eigenständigen Buch ausgebaut: Wohnkomplex. Warum wir andere Häuser brauchen, München 2014. 8 Z. B. Cathelijne Nuijsink, How to Make a Japanese House, Rotterdam 2012; Philip Jodidio, The Japanese House Reinvented, London 2015. 9 Vgl. z. B. Matilda McQuaid, Shigeru Ban, London 2006, S. 193. 10 Vgl. Reyner Banham, „Die Japanisierung der Weltarchitektur“, in: ders., Hiroyuki Suzuki, Modernes Bauen in Japan, Stuttgart 1987, S. 16–27, hier S. 16–18. 11 Alfred Roth, La Nouvelle Architecture/Die Neue Architektur/The New Architecture, Zürich 1940, S. 167­–174. 12 Walter Gropius, „Japan, Land der Architektur“, in: ders., Apollo in der Demokratie, Mainz, Berlin 1967, S. 82–107, hier S. 92. 13 Zum Metabolismus: Rem Koolhaas, Hans Ulrich Obrist (Hrsg.), Project Japan. Metabolism Talks …, Köln 2011. 14 Robin Boyd, Kenzo Tange, New York, London 1962, S. 23: „virtually an architectural colony of Europe“. 15 Ebd.: „Tange […] was confirmed in his position as the West’s favorite Japanese architect.“ 16 Zur Teilnahme japanischer Architekten an den CIAMKongressen: Evelien van Es et al., Atlas of the Functional City. CIAM 4 and Contemporary Analysis, Bussum, Zürich 2014, S. 431 f.

17 Zum CIAM-Kongress in Otterlo: Oscar Newman (Hrsg.), CIAM ’59 in Otterlo (Dokumente der Modernen Architektur, Jürgen Joedicke (Hrsg.), Bd. 1), Stuttgart 1961. 18 Vgl. Robin Boyd, New Directions in Japanese Architecture, London, New York 1968, S. 31. 19 Ebd., S. 32 20 Reyner Banham, Hiroyuki Suzuki, Modernes Bauen in Japan, Stuttgart 1987. 21 Michael Franklin Ross, Beyond Metabolism, New York 1979. 22 Charles Jencks, The Language of Post-Modern Architecture, London 1977. 23 Charles Jencks, The Language of Post-Modern Architecture, 2. Auflage, London 1978. 24 Charles Jencks, „Der Pluralismus der japanischen Architektur“, in: ders., Spätmoderne Architektur, Stuttgart 1981, S. 98–128. 25 Charles Jencks, Bizarre Architecture, London 1979. 26 Vgl. Charles Jencks, The Language of Post-Modern Architecture, 2. Auflage, a. a. O. 1978, S. 22. 27 Architectural Association, Arata Isozaki et al., Osaka Follies, London 1991. 28 Arata Isozaki, Japan-ness in Architecture, David B. Stewart (Hrsg.), Cambridge (MA), London 2011. 29 Arata Isozaki, Welten und Gegenwelten, Yoco Fukuda, Jörg H. Gleiter und Jörg R. Noennig (Hrsg.), Bielefeld 2011. 30 Vgl. Arata Isozaki, Akira Asada, 10 Years after ANY – The End of Buildings. The Beginning of Architecture, Tokio 2010. 31 Moriko Kira, Mariko Terada (Hrsg.), Japan. Towards Totalscape, Rotterdam 2000. 32 So zuletzt wieder in: Terunobu Fujimori, „Magical Spatial Inversion“, in: Gadanho, Springstub a. a. O., S. 11­–18.

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20

Fumihiko Maki

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Toyo Ito

50

Osamu Ishiyama

62

Ryoji Suzuki

76

Riken Yamamoto

90

Hiroaki Kimura

106

Makoto Sei Watanabe

120

Jun Aoki

134

Hiroshi Nakao

148

Sou Fujimoto

162

Ryuji Nakamura

176

Junya Ishigami

190

Go Hasegawa

DIALOGE

FUMIHIKO MAKI

Vieldeutigkeit der räumlichen Erfahrung

Herr Maki, warum entschieden Sie sich als junger Mann, Architektur zu studieren? Gab es in Ihrer Kindheit eine Beziehung zur Architektur? Während des Zweiten Weltkriegs besuchte ich das Gymnasium in Tokio und wollte Luftfahrtingenieur werden, denn ich baute gern Modellflugzeuge. Nach dem Krieg war das aber unmöglich, da ein derartiger Beruf in Japan verboten war. Weil es mich aber weiterhin reizte zu entwerfen, etwas herzustellen und etwas für die Zukunft zu bauen, entschied ich mich, Architekt zu werden. Sie haben an der University of Tokyo studiert. Warum fiel Ihre Wahl auf diese Universität – und wer waren Ihre wichtigsten Professoren? Die University of Tokyo war zu dieser Zeit eine der besten Architekturhochschulen in Japan, daher entschied ich mich für sie und studierte in Kenzo Tanges Lab. Ich nahm an, er würde ein guter Lehrer sein, denn er interessierte sich für die Beziehung zwischen Stadt und Architektur. Es war für mich eine klare Entscheidung, in seinem Lab zu studieren. Ich habe nach dem Studium auch kurz in seinem Büro gearbeitet, bevor ich noch im selben Jahr in die USA gegangen bin. Warum entschieden Sie sich, für Ihr weiteres Studium in die USA zu gehen? Ich absolvierte die University of Tokyo in den frühen 1950er Jahren, als Japan noch versuchte, sich vom Zweiten Weltkrieg zu erholen. Da ich mithilfe von Fachzeit­ schriften über die amerikanische Architekturszene informiert war, wusste ich beispielsweise, dass Walter Gropius in Harvard lehrte. Aus diesem Grund war Harvard attraktiv für mich, und ich beschloss, mein Studium in den USA fortzusetzen. Als ich mich dort einschreiben wollte, war es zu spät, und man sagte mir, dass ich es im Jahr darauf noch einmal versuchen sollte. Ich hatte also ein Jahr Zeit und entschied mich, zunächst an der Cranbrook Academy of Art zu studieren und dann nach Harvard zu gehen. Allerdings war Walter Gropius schon emeritiert, als ich dort begann. Neuer Dekan war Josep Lluís Sert, der sich mehr für Städtebau interessierte als Gropius. Ich war sehr glücklich damit, ihn als meinen Lehrer zu haben. Später arbeiteten Sie in Serts Büro und lehrten zusammen mit ihm im Urban Design Program. Wie kam es dazu? Ich kannte Josep Lluís Sert aus Harvard, und als ich in anderen Architekturbüros arbeitete, war mein Kommilitone Dolf Schnebli bei ihm tätig. Als Dolf Schnebli den Entschluss fasste, zurück in die Schweiz zu gehen, schlug er vor, ich sollte ihn in Serts Büro ersetzen.

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Wie haben Sie das Büro von Sert erlebt? Das Büro in New York war sehr klein und bestand aus gerade einmal vier oder fünf Leuten. Zu dieser Zeit hatte Sert einige zumeist städtebauliche Projekte in Lateinamerika. Das einzige Architekturprojekt war die amerikanische Botschaft in Bagdad, daran arbeitete ich. Als Sert sich entschied, nach Cambridge zu ziehen, um seinen Verpflichtungen als Dekan nachzukommen, zog auch das Büro nach Cambridge, und ich folgte ihm dorthin. Später ergab sich die Gelegenheit, mit ihm zusammen in Harvard im Urban Design Program zu unterrichten. Standen Sie während Ihrer Jahre in den USA weiterhin im Austausch mit Archi­ tekten in Japan? Reisten Sie zwischendurch in Ihre Heimat? Selbstverständlich. Reisen war in den 1950er und 60er Jahren, die ich zu großen Teilen außerhalb Japans verbrachte, einfacher geworden. 1958 erhielt ich ein Stipendium der Graham Foundation, das es mir ermöglichte, zwei Jahre zu reisen. So konnte ich einige Male nach Tokio kommen, auch um Kenzo Tange und meine Kollegen zu treffen. In dieser Zeit wurde ich Mitglied der Metabolisten aufgrund meiner Beziehung zu Kenzo Tange und anderen Kollegen aus dem Tange Lab an der University of Tokyo. Zudem hatte ich zu dieser Zeit die Möglichkeit, mein erstes Projekt in Japan zu entwerfen. Kisho Kurokawa und Kiyonori Kikutake waren mit ihren Büros schon sehr aktiv, und ich dachte mir, es sei an der Zeit, ein Büro in Japan zu gründen, auch wenn ich in den USA lehrte. Ich wollte nie dauerhaft in den USA bleiben. Wir veröffentlichten das Metabolismus-Manifest 1960. Die Bewegung des Metabolismus startete und stieß auf große internationale Resonanz. Von Anfang an nahm ich sehr aktiv daran teil. Und Sie hatten eine spezielle Rolle als derjenige, der außerhalb von Japan tätig war, viel reiste und Architekten aus aller Welt traf? Ja, damals hatten nicht viele Menschen so wie ich die Möglichkeit, so viel zu reisen und Architekten in Europa oder den USA zu treffen. Sie kamen auch in Kontakt mit Mitgliedern von Team X und nahmen an deren Treffen in Europa teil? 1960 fand die World Design Conference in Tokio statt, und wir luden prominente Architekten wie Paul Rudolph, Louis Kahn und Minoru Yamasaki aus den USA sowie Peter und Alison Smithson aus Europa ein. Peter Smithson lud mich dann zur Konferenz von Team X in Bagnols-sur-Cèze nach Frankreich ein. Hatten Sie nach der Konferenz weiterhin Kontakt zu Team X-Mitgliedern? Ja, beispielsweise zu Aldo van Eyck. Er kam zum Lehren nach Washington zu der Zeit, als ich mich auch in den USA aufhielt. Später, als ich in Harvard lehrte, traf ich Aldo, Jacob Bakema und eine Reihe anderer Leute wieder. Zudem lernte ich Giancarlo de Carlo kennen, mit dem mich bis zu seinem Tod eine enge Freundschaft verband. Außerdem lernte ich einige Mitglieder von Archigram kennen. Kurz gesagt, es war eine faszinierende Zeit für mich. 1968 begann in Lima mit „PREVI“ ein wichtiges Projekt, an dem neben Ihnen eine Reihe internationaler Architekten teilnahmen.

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Ja, „PREVI“ war ein sehr interessantes Wohnungsbauprojekt in der peruanischen Hauptstadt. Viele Architekten beteiligten sich, die Metabolisten inklusive meiner Person, Atelier 5, Christopher Alexander, Aldo van Eyck, James Stirling, Charles Correa und andere. Ich finde das Projekt auch heute noch bemerkenswert, weil man die Arbeiten all dieser Architekten an einem Ort sehen kann. Sie waren ein Mitglied der Metabolisten und standen in regem Austausch mit Architekten in und außerhalb Japans, die zu internationalen Bewegungen, wie dem Team X, gehörten. Damit waren Sie Teil eines internationalen Zirkels, in dem Ideen ausgetauscht wurden. Sind also im Metabolismus und Ihrer Architektur Einflüsse verschiedener Bewegungen aus Europa, Amerika und Japan zusam­ mengekommen? Ja, der Metabolismus war ein Hybrid verschiedener Ideen, von denen einige aus Japan, andere aus Europa stammten, wie Sie zu Recht sagen. Der Metabolismus war ein Produkt wechselseitiger Einflüsse und führte zu wechselseitigen Einflüssen. Der Text über „Group Form“, den Sie zusammen mit Masato Otaka verfasst haben, war Teil des metabolistischen Manifests von 1960. Was interessierte Sie an der group form, und welche Einflüsse oder Inspirationen waren für Sie wichtig? Als ich den Text „Group Form“ schrieb, untersuchte ich Systeme, in denen einzelne Elemente wie etwa Häuser ein stimmiges Ganzes bilden können. 1959 und 1960 hatte ich die Gelegenheit, ausgiebige Reisen durch Asien, den Mittleren Osten sowie Europa zu unternehmen, und setzte mich mit historischen Stadtstrukturen auseinander. In dieser Zeit entwickelte ich die Idee der group form. Auf den griechischen Inseln, die ich besuchte, bildeten zum Beispiel Häuser, die nur leichte Variationen in ihren Formen aufwiesen, ein Ganzes. Auch das war group form. In dieser Zeit begannen auch einige Architekten in Europa und Japan, sich für Megastrukturen zu interessieren und sie zu lancieren. Die Untersuchung der kollektiven Form wurde so zu einem wichtigen Thema, verbunden mit der Frage nach Struktur und Verbindungen.

Treffen mit Kenzo Tange

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Maki an der Harvard Graduate School of Design, USA, 1953

Damals interessierten sich viele Architekten in Europa und Amerika für vernaku­ läre Architektur oder für Verbindungen und Strukturen, beispielsweise Aldo van Eyck, Christopher Alexander oder Bernard Rudofsky. Haben Sie sich darüber mit ihnen ausgetauscht? Mit Aldo van Eyck war ich eng befreundet, und wir sprachen oft über diese Themen. Er war ein Philosoph der Architektur, und ich schätze seine Gedanken über architektonische Strukturen sehr. Und natürlich kannte ich das Werk von Christopher Alexander und von Bernard Rudofsky. Rudofskys Buch Architektur ohne Architekten trug maßgeblich dazu bei, den Blick auf vernakuläre Architektur zu lenken. Die vernakuläre Architektur, wie er sie beschreibt, wird von allen Menschen, nicht nur von Architekten geschaffen. Jahrhunderte andauernde Entwicklungen nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum haben Typen von Häusern entstehen lassen, von denen auch die klassische Architektur abstammt. So wie überall existiert vernakuläre Architektur auch in Japan. Wenn wir über vernakuläre Architektur in Japan sprechen: In den 1960er Jahren führten Arata Isozaki und Teiji Ito eine Untersuchung zu vernakulärer Architektur und traditionellen Städten Japans durch … Ja, Thema der Untersuchung von Arata Isozaki und Teiji Ito sind die traditionellen Stadträume in Japan. Teiji Ito war eine entscheidende Figur für dieses Buch. Er unterrichtete übrigens ebenfalls an der Universität in Washington. Hoffentlich werden die Schriften von Teiji Ito einmal ins Englische übersetzt, damit sie einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich werden. Wann begann Ihre Auseinandersetzung mit der traditionellen japanischen Archi­ tektur, insbesondere mit den Prinzipien der Architektur und der Ästhetik? Ich war ein überzeugter Anhänger der Moderne und kümmerte mich nicht wirklich um neu gebaute oder rekonstruierte Bauten im traditionellen Stil, aber ich interessierte mich für die Struktur und für Prinzipien wie oku oder ma. In den 1960er Jahren hatte Günter Nitschke Texte über ma verfasst, später schrieb Arata Isozaki

Team-X-Treffen, Bagnols-sur-Cèze, Frankreich, 1960

Maki bei PREVI, Wohnungsbauprojekt, Lima, Peru, 1972

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Shinjuku terminal redevelopment project, 1960

Compositional form (links), Mega form (Mitte), Group form (rechts)

ebenso über ma. Die Idee des ma war also wieder zum Thema geworden, bevor ich mich für oku zu interessieren begann. Mein Beitrag „Oku“ wurde in den 1970er Jahren in einer japanischen Zeitschrift publiziert. Mich interessierten bestimmte Aspekte daran. Zum Beispiel: Menschen, die zu Schreinen oder Tempeln hinaufsteigen, sehen zwar anfangs das Ziel nicht, sie haben immer das Gefühl, sich auf einen unbekannten Ort hin zu bewegen. Dieses Prinzip wird in Japan seit Jahrhunderten und auch heute noch angewandt. Ich versuche, solche Prinzipien in der Architektur neu zu interpretieren. In unserem Krematorium in Kaze-no-Oka nutzten wir das gleiche Prinzip. Man sieht das Ziel nicht von vornherein. Stattdessen bewegt man sich durch Raumsequenzen, entdeckt einen Raum, setzt seinen Weg fort, gelangt in einen anderen Raum. Gewissermaßen vermittelt das Krematorium diese vieldeutige räumliche Erfahrung. Wir haben versucht, die Essenz des oku zu fassen und entsprechend Räume zu gestalten. Also verbinden Sie in Ihren Gebäuden, insbesondere dem Krematorium Kaze­no­ Oka, die moderne Architektur mit neu interpretierten Prinzipien des japanischen Raumverständnisses und Bezügen zur Geschichte? Ja. Die Einäscherungen haben eine jahrhundertealte Tradition in Japan. Wenn jemand gestorben ist, wird der Körper ins Krematorium gebracht, wo bestimmte Rituale stattfinden. Auch heute noch werden diese traditionellen Rituale durchgeführt, die sich im Laufe der japanischen Geschichte herausgebildet haben. Wie haben Sie darauf reagiert? Können Sie wichtige Elemente Ihres Entwurfs für das Krematorium nennen? Weil die Stadt ein großes Gelände außerhalb des Zentrums besaß, hatten wir die Möglichkeit, einen großen Park anzulegen und das Krematorium darin wie eine Gruppe von Skulpturen zu konzipieren. Man sieht kein monumentales Gebäude, auf das man zuschreitet, sondern man geht seinen Weg und entdeckt sukzessive den Ort. Im Inneren des Krematoriums sind bestimmte Orte für die Rituale von Bedeutung. Es ist wichtig, dass die Besucher ein Gespür für den spezifischen Ort und die Zeit vermittelt bekommen.

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Chandigarh, Indien, Reise 1959, Foto von Fumihiko Maki

Jaipur, Indien, Reise 1959, Foto von Fumihiko Maki

Wenn man das Krematorium betritt, sieht man zunächst einen offenen, natürlich beleuchteten Vorhof, der sehr ruhig wirkt. Dann folgt ein langer Korridor, um die Besucher den Verlauf der Zeit spüren zu lassen – man soll langsam ankommen und nicht nur eine Tür öffnen und direkt schnell eintreten. Ein solches Gebäude zu betreten, sollte eher eine Art von Prozession sein, ein wichtiges Element in der japanischen Kultur. Darum haben wir bewusst einen langen Weg entworfen. In der Eingangshalle steht man vor einer Säule, die von natürlichem Licht umflutet wird und die Helligkeit zum Ausdruck bringt. Die Materialien hier sind sehr ursprünglich: Sichtbeton und Stein, das ist alles. Ein weiteres wichtiges Element in dem Raum ist eine transluzente Gitterfläche. Keine Tür, sondern eine Fläche, die eine Andeutung des Raums dahinter vermittelt. Das ist sehr wichtig. Die shoji in Japan bestehen aus Papier, tragen zu einer speziellen Lichtstimmung bei und erlauben einen vagen Einblick in den Nachbarraum. Wir schätzen diese vagen Situationen und ziehen sie einem klaren Ja oder Nein, Offen oder Geschlossen vor. Der Raum, in dem man sich von den Verstorbenen verabschiedet, befindet sich vor einem offenen Hof, der mit Wasser gefüllt ist. Das ist alles. Es ist sehr einfach, aber das natürliche Licht wird durch das Wasser moduliert. Nach der Einäscherung werden Asche und Knochen in den Verehrungsraum gebracht, wo die sterblichen Überreste den Angehörigen ausgehändigt werden. Hier fällt Licht von oben ein, weil hier ein Ritual in einem lichten, hellen Raum stattfinden soll. Das Krematorium ist ein modernes Gebäude, aber es bezieht sich auf traditionelle Rituale und Architekturprinzipien aus der japanischen Tradition. Wie haben Sie gearbeitet, als Sie das Krematorium entworfen haben? Wir arbeiten immer in der Gruppe, nicht allein. Als die Idee sich in Diskussionen sukzessive konkretisierte, luden wir den Landschaftsarchitekten ein, um Verbindungen zwischen dem Gebäude, den offenen Höfen und der Landschaft zu schaffen. Beim Krematorium entwerfen Sie auch mit Prinzipien, die Sie aus der japanischen Tradition entlehnen. Entwerfen Sie für ein Projekt in Japan anders als beispiels­ weise für eines in Indien, den USA oder im Libanon?

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Kaze-no-Oka-Krematorium, Nakatsu, 1997, Skizzen

Wir versuchen, ein passendes Konzept für jedes Land zu finden, und natürlich ist das Ziel dabei, ein gutes Gebäude zu schaffen. Die Herangehensweise kann unterschiedlich sein, aber am Ende geht es um architektonische Qualität, die sich vor der Öffentlichkeit und der Gesellschaft beweisen muss. Wir versuchen, uns nicht zu wiederholen. Es gab beispielsweise einen Wettbewerb für das Bihar Museum im indischen Patna. Zu dem Programm gehörte auch ein Kindermuseum – ein spezieller Ort nur für Kinder. In jedem Projekt gilt mein besonderes Interesse den Raumsequenzen und räumlichen Erfahrungen. In meinem Projekt haben die Kinder ein Museum für sich, einen eigenen Ort, der sich hinsichtlich Ambiente und Charakter von den Hauptausstellungsräumen unterscheidet. Ich habe das Museum als eine Art Campus entworfen, und ich habe den Wettbewerb gewonnen. Die grundsätzliche Art, wie wir entwerfen, unterscheidet sich nicht, aber es gibt natürlich Unterschiede, je nachdem ob wir für Japan, Amerika oder Indien planen. Der Entwurf und die frühen Planungsphasen finden immer in Tokio statt, auch wenn es sich um ein Gebäude in England oder dem Libanon handelt. Das ist in dieser Phase egal. Aber wenn es mehr ins Detail geht, ist man mit den verschiedenen rechtlichen Grundlagen und architektonischen Rahmenbedingungen konfrontiert. Man lernt nie aus, selbst wenn man schon eine große Anzahl von Gebäuden im Ausland realisiert hat. Es ist ein stetiger Lernprozess. Sind die Art, wie man von anderen Ländern und Kulturen lernt, und der interna­ tionale Austausch heute anders, als Sie es in den 1960er Jahren erlebt haben? Ich glaube, dass wir Architekten aus aller Welt bis in die 1970er Jahre hinein unterschiedliche Entwurfsansätze und unterschiedliche Architekturphilosophien verfolgten, dass aber dennoch so etwas wie ein gemeinsames Verständnis unter Architekten der mehr oder minder gleichen Generation herrschte, das dann auch zur Bildung der Gruppen führte. Das existiert nicht mehr.

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Kaze­no­Oka­Krematorium

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Lageplan

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The Bihar Museum, Patna, Bihar, Indien, 2015

Als ich jung war, hatte ich Zeit zum Reisen. Wenn ich an einen bestimmten Ort fahren musste, konnte ich einige Tage mehr einplanen, um andere Dinge anzusehen oder Freunde und Kollegen etwas länger zu besuchen. Das ist heute nahezu unmöglich. Heute fliegen wir irgendwohin, haben am nächsten Tag ein Meeting und fliegen dann gleich wieder zurück. Die Art des Lebens hat sich geändert, es ist eine andere Kultur. Einige – zumeist junge – Kollegen mögen sich zu Konferenzen oder Workshops treffen, aber das führt nicht zur Bildung einer Gruppe, die eine Art von Manifest verfassen könnte. Das war einmal. Offensichtlich ist es heutzutage nicht die Zeit der Manifeste. Kommen wir noch einmal zurück zum metabolistischen Manifest. Hat die metabolistische Bewegung heute noch Einfluss? Ich weiß es nicht. Der Metabolismus war ein Phänomen zu einem bestimmten Zeitpunkt. Heute gibt es ein Interesse am Metabolismus als ein historisches Ereignis in einer bestimmten Architekturepoche. Wir bekommen ziemlich häufig Anfragen von jungen Forscherinnen und Forschern, die eine Dissertation über den Metabolismus schreiben wollen. Das ist alles. Aber ich bin zumindest optimistisch. So gern ich mich auch an die alten Tage zurückerinnere, weiß ich, dass es auch neue Tage geben muss.

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FUMIHIKO MAKI Biografie 1928 1952 1953 1954 1955–58 1956–61 1958–60 1962–65 1965 1965–85 1979–89 1993

Geboren in Tokio Bachelor-Abschluss in Architektur, University of Tokyo Master-Abschluss in Architektur, Cranbrook Academy of Art, Bloomfield Hills, USA Master-Abschluss in Architektur, Graduate School of Design, Harvard University, USA Mitarbeiter bei Sert Jackson and Associates, Cambridge, USA Associate Professor, Washington University, USA Stipendiat der Graham Foundation, Reisen nach Südostasien, in den Mittleren Osten und nach Europa Associate Professor, Graduate School of Design, Harvard University, USA Gründung von Maki and Associates, Tokio Gastdozent an verschiedenen Universitäten in den USA und Europa Professor, Fakultät für Architektur, University of Tokyo Verleihung des Pritzker-Preises

Wichtige Werke 1960 Toyota Memorial Hall, Nagoya University, Nagoya 1969–92 Hillside Terrace Complex I–VI, Tokio 1972 PREVI-Projekt, mit Kiyonori Kikutake und Kisho Kurokawa, Lima, Peru St. Mary‘s International School, Tokio 1973 Japanische Botschaft, Brasilia, Brasilien 1974 Toyota Kuragaike Memorial Hall, Toyota 1985 Bibliothek für die Keio University, Mita Campus, Tokio Spiral Building, Tokio 1990 Tokyo Metropolitan Gymnasium, Tokio 1995 Tokyo Church of Christ, Tokio Isar Büropark, One World, München, Deutschland 1997 Kaze-no-Oka-Krematorium, Nakatsu 2009 Square 3 Novartis Campus, Basel, Schweiz 2013 4 World Trade Center, New York, USA 2014 Aga Khan Museum, Ontario, Kanada 2015 The Bihar Museum, Patna, Bihar, Indien Veröffentlichungen – Auswahl 1960

1964 1965 1980 2008

„Towards the Group Form“ mit Masato Otaka, in: Noboru Kawazoe (Hrsg.), Metabolism 1960: Proposals for a New Urbanism, Bijutsu Shuppansha, Tokio Investigations in Collective Form (als Hrsg.), School of Architecture, Washington University, St. Louis Movement Systems in the City, Graduate School of Design, Harvard University, Cambridge Miegakure suru toshi (Morphological analysis of Edo-Tokio), Kajima Shuppankai, Tokio Nurturing Dreams: Collected Essays on Architecture and the City, MIT Press, Cambridge

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TOYO ITO

Die Materialität kehrt zurück

Herr Ito, hatten Sie in Ihrer Kindheit eine Beziehung zur Architektur? Mein Großvater war Holzhändler, und mein Vater beschäftigte sich mit Antiquitäten und historischen Dingen. Beispielsweise sammelte er Keramik aus Korea. Als Kind schaute ich mir diese Sachen oft an, das mag einen gewissen Einfluss gehabt haben. Aber man darf das nicht überbewerten. Wie und wann entwickelte sich dann Ihr Interesse an der Architektur? Mein Interesse für Architektur entstand an der Universität. In Japan studiert man zunächst ohne eine bestimmte Fachrichtung, erst nach eineinhalb Jahren Studium generale wählt man seine Disziplin. Hätte ich meinen Schulabschluss mit mehr Bravour bestanden, hätten mir mehr Möglichkeiten offengestanden. Aber ich war kein guter Schüler, wirklich nicht (er lacht). Sie studierten an der University of Tokyo. Weshalb wählten Sie diese Universität? Zwei Drittel der Mitschüler an der Oberschule, die ich vor der Universität besuchte, gingen anschließend zur University of Tokyo. Und ich daher auch. Letztlich war es keine besondere Entscheidung von mir, sondern eine Selbstverständlichkeit. Wer waren Ihre Professoren an der Universität? Kenzo Tange war Professor, außerdem Kisho Kurokawa und Arata Isozaki. Ich studierte im Kenzo Tange Lab. Isozaki leitete das Doktorandenprogramm des Tange Labs während meines Studiums. Nach dem Studium arbeiteten Sie bei Kiyonori Kikutake? Während der Sommerferien nach dem vierten Studienjahr hatte ich ein einmonatiges Praktikum bei Kikutake absolviert. In seinem Büro erlebte ich das erste Mal die Freude und Leidenschaft, die mit dem Schaffen von Architektur verbunden sind. Es war also dieses einmonatige Praktikum, das Sie nach Ihrem Diplom 1965 ins Büro von Kikutake führte? Ganz genau. Ich arbeitete insgesamt vier Jahre für Kikutake. An der Universität hatte ich stets das Gefühl gehabt, dass Architektur von einem theoretischen Zugang geprägt ist. Theorie bestimmt die Architektur – das war meine anfängliche Sichtweise. Aber bei Kikutake lernte ich, dass seine Bauten keine theoretischen Kon­ strukte sind, sondern sinnlich und körperlich erfahrbare Architektur. Sie wurden mit allen Sinnen entworfen. Und das war etwas, was ich auch wollte, so dass ich mich entschied, dort zu arbeiten. Kikutake war zu dieser Zeit 36 Jahre alt und startete gerade seine Karriere.

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Sie sagten, dass an der Universität ein theoretischer Zugang zur Architektur gelehrt wurde. Können Sie uns etwas mehr dazu sagen? Tonangebend war das metabolistische Verständnis einer stets wachsenden und sich entfaltenden Architektur. Viele Architekten hingen dieser Doktrin an, es war etwas, an dem sich jeder Student abarbeiten musste. Zu dieser Zeit gab es den Metabolismus als eine wichtige Tendenz, aber auch Kazuo Shinohara, der für eine andere Tendenz stand. War er für Sie ebenfalls von Bedeutung? Kazuo Shinohara wurde erst nach 1965 wirklich bekannt; er beeinflusste mich daher nicht während meiner Studienzeit in der ersten Häfte der 1960er, sondern später. Ein Grund, warum ich zu Kikutake ging, war auch die Arbeit für die Expo ’70 in Osaka. Alle Metabolisten hatten Unmengen an Träumen und Visionen einer zukünftigen Stadt. Aber was schließlich als Resultat gebaut wurde, enttäuschte mich. Ich hatte das Gefühl, dass die Metabolisten nicht das erreichten, was sie erreichen wollten. Angesichts dieser Enttäuschung empfand ich Shinoharas Denken als attraktiv. Seine introvertierte kleine Welt zog mich an – im Gegensatz zu der, die mit vollmundigen Versprechungen auftrat, aber nur wenig davon einlöste. Shinohara erschien auf der Bildfläche, als sich die gesellschaftlichen Bedingungen Ende der 1960er Jahre änderten. Es gab Studentenunruhen und die Ölkrise. Shinoharas Denken war antimetabolistisch. Ich hatte gerade mein eigenes Büro eröffnet, als ich eine Vorlesung von ihm besuchte, und seine Ideen haben mich umgeworfen.

Aluminum House, Kanagawa, 1971

TOYO I TO

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Sie gründeten Ihr eigenes Büro im Jahr 1971. Ursprünglich wollte ich noch einmal zurück an die Universität gehen, aber aufgrund der Studentenunruhen war sie geschlossen. So gründete ich mein eigenes Büro  – ohne Projekt und ohne Geld. Der Name des Büros lautete URBOT, was für Urban Robot stand. Warum wählten Sie diesen Namen? Es war ein zynischer und sarkastischer Name, der sich gegen die Metabolisten richtete. Kisho Kurokawa beispielsweise entwarf Einheiten, die an baumartigen Strukturen in den Himmel wuchsen. Mein Roboter aber bewegte sich auf dem Boden der Wirklichkeit wie eine Frucht, die vom Baum gefallen war. Der metabolistische Baum war eine Vision, aber mein Büro war eher etwas, das vom Traum in die Wirklichkeit gelangt war. 1979 wechselten Sie den Büronamen in „Toyo Ito & Associates, Architects“. Was war der Grund dafür? Jeder fragte, was URBOT bedeute. Irgendwann war ich es leid, den Namen erklären zu müssen. Offensichtlich brachte mir URBOT keine Aufträge, daher änderte ich den Namen. Sie erwähnten, dass Sie Ihr Büro gründeten, ohne einen konkreten Auftrag zu haben. Wie erhielten Sie schließlich den Auftrag für Ihr erstes Haus? Mein erstes Haus, das „Aluminum House“, war für meinen Bruder, mein zweites, das „White U“, für meine Schwester. Meine frühen Projekte – eines oder zwei pro Jahr – entstanden also für meinen Bruder, meine Schwester und einige Freunde. Gut, wenn man eine Familie hat! Ja, in der Tat. Lassen Sie uns über Ihre Entwurfshaltung sprechen. Wenn jemand verstehen möchte, wie Sie entwerfen, welche Projekte würden Sie ihm zeigen? Als mein wichtigstes und bedeutendstes Werk betrachte ich die „Sendai Mediatheque“. Nach den 1980er Jahren hatte ich mehr und mehr Aufträge erhalten. Ich glaube, dass die Projekte, die ich vor „Sendai“ realisiert habe, klar und stringent waren. Die Leute werteten sie als gute Architektur, blieben aber etwas auf Distanz. Die „Sendai Mediatheque“ aber erreichte alle. Kaum war sie eröffnet, wurde sie von allen gelobt, gutgeheißen und verstanden. Sie öffnete sich gegenüber der Gesellschaft, das war etwas Neues. Bei den Projekten zuvor war es um das Schaffen schöner Räume gegangen, nicht aber darum, wie öffentlicher Raum entsteht. Ich habe das Gefühl, dass die Gebäude, die ich vor der „Sendai Mediatheque“ geschaffen habe, von der Öffentlichkeit nicht so gut angenommen wurden, aber mit diesem Bau konnte ich das ändern. Wenn man Ihr bisheriges Werk Revue passieren lässt, so fällt eine Veränderung in den Entwürfen auf. Besonders hinsichtlich der Verwendung von Materialien und Strukturen. Können Sie diese Veränderung näher erläutern? Seit den 1990ern habe ich eine Phase durchlaufen, in der ich ständig darüber nachgedacht habe, wie sich Struktur zum Ausdruck bringen lässt. Die Struktur ist

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White U, Tokio, 1976

extrem wichtig – wie ein Leitmotiv in vielen meiner Gebäude. Gleichzeitig war ich von organischen und natürlichen Phänomenen beeinflusst – von Bäumen, vom Wasser und von der Frage, wie die Natur funktioniert. Die Projekte nach den 1990ern sind inspiriert von der Idee, die Struktur so auszubilden, wie es die Natur täte. Hat der Wandel der Entwurfshaltung auch etwas mit gesellschaftlichen Verände­ rungen zu tun? Natürlich bin auch ich beeinflusst von gegenwärtigen Phänomenen und den sozialen Bedingungen der Zeit. Tokio beispielsweise wird seit dem Millennium von einer globalen Ökonomie bestimmt, aufgrund derer die meisten Gebäude, die man sieht, monoton wirken, auch wenn sie perfekt detailliert sind. Ich empfinde das als beklemmend, und ich möchte der Monotonie etwas entgegensetzen, etwas, das den Menschen Energie gibt und ihnen die Freude am Raum vermittelt. Etwas, das dem Gefühl eng gesetzter Grenzen und ständiger Wiederholung des Gleichen entgegensteht. In Ihrem Text „Blurring Architecture“ von 1999 beschreiben Sie den Wandel von der Industrie­ zur Informationsgesellschaft. Die Gesellschaft ist für Ihr Entwurfs­ verständnis wichtig. Wie beurteilen Sie die jüngsten Entwicklungen? Leben wir noch im Informationszeitalter? Die Gesellschaft hat sich verändert. Die Gesellschaft, die durch Produktion bestimmt war, in der Massenproduktion in Fabriken stattfand und in der materiellen Gütern

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der höchste Wert beigemessen wurde, hat sich transformiert in eine Gesellschaft, in der die Information an oberster Stelle steht. Wer Informationen besitzt, hat Macht. Das ist für die gegenwärtige Gesellschaft charakteristisch. Ich möchte eine Architektur schaffen, die es dem Menschen mit seinem Körper ermöglicht, sich in der Informationsgesellschaft einzurichten, eine Architektur, die es ermöglicht, Energie zu verspüren, eine Architektur, die die menschliche Dimension nicht verliert. Mich interessiert die Frage, wie eine Stadt sich angesichts des gesellschaftlichen Wandels für die Menschen entwickeln sollte. Aktuell spüre ich im Kontext der Omnipräsenz von Informationen Anzeichen für eine leicht steigende Tendenz hin zur Materialität. Möglicherweise werden die Menschen zunehmend von der Materialität der Dinge angezogen. Bekommt die Materialität auch in Ihrem Werk eine stärkere Bedeutung? Ver­ gleicht man die „Sendai Mediatheque“ mit dem „Minna no Mori Gifu Media Cos­ mos“, so setzt Letzterer viel stärker auf die Sinnlichkeit des Materials. Wie sehen Sie das? Materialität spielte bei der Konzeption der „Sendai Mediatheque“ in der Tat keine große Rolle. Licht und Transparenz waren wichtig, ich wollte eine weitestgehend transparente Struktur schaffen. Aber das veränderte sich während der weiteren Arbeit. Als ich auf die Baustelle kam, stellte ich fest, dass das Material Stahl sehr hart, kräftig und präsent wirkt. Ich konnte dafür Begeisterung entwickeln, die Faszination für Materialität ist bei mir immer noch stark. Ein wichtiges Beispiel für mein Interesse am Material ist in der Tat der jüngst fertiggestellte „Minna no Mori Gifu Media Cosmos“. Hier handelt es sich um die Übertragung eines sehr abstrakten Gebäudekonzepts auf ein Bauwerk, das stark von seiner Materialität geprägt wird. Man kann das Holz spüren und riechen, hier liegt der Fokus ganz auf dem Material. Ja, die Materialität gewinnt an Bedeutung. Ist es für Sie wichtig, die Struktur sichtbar zu machen? Das hängt vom Projekt ab. Wir zeigen die Struktur nicht immer. Beim „Minna no Mori Gifu Media Cosmos“ sind Lufträume, Luftzirkulation und ökologische Fragestellungen zentral. Es geht darum, in einem Gesamtklima Mikroklimata zu schaffen, nicht um die Struktur. Das bewegte Dach wird zu einer Schalenstruktur aus Holz. Diese ist statisch effizient, aber zugleich sammelt sie die Luft unter der Schale und schafft so ein angenehmes Raumklima. Im Gegensatz dazu zeigt das „TOD’s Omotesando Building“ die Struktur: Es gibt an der Omotesando eine große Anzahl von ausdrucksstarken Gebäuden, Flagship-Stores, die sich selbst ausstellen. In dieser Nachbarschaft bedarf es der Strenge und Kraft, die das Ziel unseres Projektes war. Es handelt sich um ein sehr kleines Gebäude. Daher zeigen wir an der Fassade die Struktur mit Deutlichkeit. Verfolgen Sie bei aller Unterschiedlichkeit der Gebäude eine bestimmte Ent­ wurfsmethode? Verändert diese sich mit den Projekten oder bleibt sie gleich? Ein Prinzip, das ich hochhalte, besteht darin, keinen Toyo-Ito-Stil zu erzeugen. Ich möchte gern Projekte entwerfen, die vom Ort, der Umgebung, der Kultur, dem lokalen Wissen und meinem Team geprägt werden. Mit den Leuten, die am Projekt arbeiten, lasse ich mich auf die jeweilige Situation ein und arbeite nicht mit vorgefertigten stilistischen Lösungen. Das ist eine für mich wichtige Haltung.

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Minna no Mori Gifu Media Cosmos, Gifu, 2015

Es gibt immer ein starkes Entwurfsprinzip, das dem jeweiligen Projekt zugrunde liegt, beispielsweise die Annäherung an die Natur oder die Öffnung zur Gesellschaft. Ich spreche mit den Mitarbeitern im Büro über diese Philosophie, und jeder weiß, was das Büro im Großen und Ganzen will. Für jedes Projekt wird ein Team gebildet; die Teammitglieder entwickeln zahlreiche Ideen, und wir entwerfen gemeinsam im Dialog. Ich bin nicht interessiert an einem starken Entwurf, der von mir stammt, sich aber nicht verändert, sondern an einem dialogischen Prozess mit unterschiedlichen Partnern, einschließlich Fachleuten und Ingenieuren. Wir beteiligen Tragwerksplaner und Umweltingenieure schon in einem frühen Stadium, so dass sie Einfluss auf den Entwurf nehmen können. Meine Methode besteht also darin, keine Methode zu haben. Es ist Arbeit im Team, und zu jeder Zeit kann sich etwas Unterschiedliches ereignen. Wie entwickeln Sie Ihre ersten Entwurfsideen, die Sie dann mit dem Team disku­ tieren? Mit Zeichnungen, Skizzen oder Modellen? Ich bringe nicht wirklich Material mit, ich mache Skizzen, keine Details, sondern mehr Andeutungen. Sehr vage und sehr offen, so dass Raum für Kreativität entsteht und die Teammitglieder ihre eigenen Gedanken und Entwurfskonzepte entwickeln und neue Ideen vorstellen können. Basierend auf meinem vagen Bild erarbeiten die

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Minna no Mori Gifu Media Cosmos

Skizzen

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Sendai Mediatheque, Sendai, 2001, Funktion der Tragstruktur

Teammitglieder ihre Ideen, und während des Brainstormings kristallisieren sich vielleicht ein oder zwei gute Ideen heraus. Vor dem nächsten Meeting werden diese Ideen dann durch Zeichnungen, Modelle und Skizzen weiterentwickelt und damit konkretisiert. Und beim nächsten Treffen wählen wir gegebenenfalls einen ganz anderen Weg – dieser Prozess wiederholt sich dann. Wie viele Personen arbeiten derzeit in Ihrem Büro? Zurzeit sind wir 40 Personen. Sprechen wir über Einflüsse, Querbeziehungen und Inspirationen. Hat das Werk eines anderen Architekten Einfluss auf Ihr eigenes? Seit meiner Studienzeit bin ich stets ein Anhänger von Le Corbusier. Jahr für Jahr scheint mein Interesse an ihm zu wachsen. Ich bewundere seit langem sein frühes Werk und seine Wohnbauten, aber in der jüngsten Zeit bereitet mir sein Spätwerk wie die Kapelle von Ronchamp oder das Kloster La Tourette mehr Freude. Es sind die Projekte, die wie aus dem Boden herausgewachsen wirken, die wirklich organisch sind und überdies warm wirken. Im letzten Jahr reiste ich nach Chandigarh, und es haute mich geradezu um. Unter den Pritzker-Preisträgern der letzten Jahre, zu denen auch Sie zählen, fällt die große Anzahl von Japanern auf. Wie erklären Sie sich dieses Interesse an japanischen Architekten? Warum ist japanische Architektur international so erfolgreich? Ich glaube, dass japanische Architekten einen Vorteil besitzen, da sich japanische Bauherren nicht so sehr um die Architektur selbst kümmern. Sie sind am Budget und an der Zeitplanung interessiert. Das heißt, solange man Budget und Zeitrahmen einhält, hat man große Freiheiten. Man kann entwerfen, was man will – im Gegensatz zu Europa, wo die Auftraggeber rigider sind und eine klarere Vorstellung davon haben, was sie wollen. Aber auch wenn es hier einfacher ist zu bauen, bedeu-

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Sendai Mediatheque

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tet das nicht, dass die Öffentlichkeit sich dafür interessiert. Das ist etwas ganz anderes. Darüber hinaus sind die japanischen Bauunternehmen sehr gut. Sie vermögen es, extrem makellos und präzise zu bauen. Alle meine Bauten sind nur deswegen möglich, weil es all diese Bauunternehmen mit ihren herausragenden Technologien gibt und dem Stolz, Dinge zu schaffen und umzusetzen. Es ist eine Kultur der Handwerklichkeit. Die Handwerker entwickeln Ideen, so wie die anderen involvierten Personen auch, und empfangen nicht nur Befehle. Es ist wichtig, dass jeder, der an einem Projekt beteiligt ist, sich auch damit identifiziert. Das ist ein interessanter Punkt. Der Fokus verschiebt sich vom Architekten und seiner Kreativität zum ganzen Prozess – von den ersten Skizzen bis zur Realisie­ rung auf der Baustelle. Wenn Sie die heutige Situation in Japan mit der vor 20 Jahren vergleichen – wie hat sie sich verändert? Einerseits glaube ich, dass es heute leichter geworden ist zu bauen. Kosten sind ein wichtiger Faktor. Die „Sendai Mediatheque“ war seinerzeit eine schwierige Konstruktion und eine große Herausforderung für die Bauunternehmen und die Bauarbeiter. Wenn ich das Gebäude heute baute, wäre es einfacher. Ich glaube, dass sich in den letzten Jahren hinsichtlich der technischen Möglichkeiten eine Menge getan hat. Andererseits gab es früher eine größere Offenheit. Meiner Meinung nach wird die Gesellschaft immer stärker gemanagt und kontrolliert. Konkreter gesagt: Es gibt so viele Gesetze und Regelungen, die in den letzten 20 Jahren verschärft wurden, dass es ungemein schwierig geworden ist, heute ein öffentliches Gebäude zu errichten. Wir bräuchten eine größere Offenheit gegenüber neuen Ideen, damit eine neue, faszinierende Architektur leichter entstehen kann. Aber ich glaube, dieses Problem besteht überall auf der Welt … Lassen Sie uns über die Verbindungen zwischen den Generationen sprechen. Man könnte eine Linie ziehen von Kenzo Tange über Sie zu Kazuyo Sejima und Junya Ishigami. Gibt es eine derartige Beziehung zwischen den genannten Personen? Im März 2016 eröffnete im MoMA in New York eine Ausstellung mit dem Titel „A Japanese Constellation“. Der Kurator war interessiert an den Verbindungen, von denen Sie gerade gesprochen haben. Diese Verbindungen sind ziemlich speziell in Japan. Es gibt eine Art von Beziehungen, ein Netzwerk, das derzeit ziemlich komplex erscheint. Man könnte von einem Sonnensystem mit Kenzo Tange im Zentrum sprechen und all den anderen, die in unterschiedlichen Konstellationen um ihn rotieren. Japanische Architekten respektieren einander und stehen in wechselseitigen Beziehungen zueinander. Es ist ein Netzwerk, in dem aber gleichwohl Hierarchien entstehen. Dieses ­Netzwerk hat auch zu tun mit dem Lehrer-Schüler-Verhältnis in der japanischen Kultur und der Höflichkeit. Im Gegensatz dazu wollten viele Architekten Ihrer Generation in Europa mit der Vorgängergeneration und ihren Lehrern brechen. Zaha Hadid beispielsweise war eine Studentin von Rem Koolhaas an der Architectural Association in London. Aber sie erwähnte nie, dass Koolhaas ihr Lehrer war. In Japan besteht ein größerer Respekt Lehrern gegenüber. Daher sagt öffentlich niemand ein schlechtes Wort über seinen Lehrer. In anderen Kontexten ist das aber durchaus üblich.

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TOD‘S Omotesando Building, Tokio, 2004

Gibt es einen intellektuellen Austausch zwischen den Architekten unterschiedli­ cher Generationen? Es gibt nur wenige Diskussionen. Aber nach der großen Erdbebenkatastrophe 2011 im Osten des Landes starteten wir die Initiative „Home for all“, mit der wir uns an die jüngeren Architekten wandten und sie zu einer Debatte darüber aufforderten, was Architektur im Kontext eines derartigen Desasters ausrichten könne. Es ist ein Beispiel für eine Debatte zwischen den Architekten und Generationen. Als ich jung war, hatte niemand in meinem Umfeld viel zu tun. Man hatte eine Menge freier Zeit, traf sich, trank, diskutierte viel und hatte viel Kontakt untereinander. Die junge Generation heute ist ständig beschäftigt, hat eine Menge zu tun und keine Zeit mehr zum Trinken. Ich stelle mir das nicht besonders spaßig vor …

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National Taichung Theater, Taichung, Taiwan, 2016

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TOYO ITO Biografie 1941 Geboren in Seoul, Südkorea 1965 Abschluss in Architektur, University of Tokyo 1965–69 Mitarbeiter bei Kiyonori Kikutake Architect and Associates, Tokio 1971 Gründung des eigenen Büros Urban Robot (URBOT), Tokio 1979 Änderung des Büronamens in Toyo Ito & Associates, Architects 2013 Verleihung des Pritzker-Preises Wichtige Werke 1971 1976 1984 1986 1991 1993 1997 2001 2002 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2011 2013 2015 2016

Aluminum House, Kanagawa White U, Tokio Silver Hut, Tokio Tower of Winds, Kanagawa Yatsushiro Municipal Museum, Kumamoto Shimosuwa Municipal Museum, Nagano Odate Dome, Akita Sendai Mediatheque, Miyagi Pavillon, Brügge, Belgien Pavillon der Serpentine Gallery, London, Großbritannien TOD’S Omotesando Building, Tokio MIKIMOTO Ginza 2, Tokio Krematorium Meiso no Mori, Kakamigahara, Gifu Krankenhaus Cognacq-Jay, Paris, Frankreich Tama Art University Library (Hachioji-Campus), Tokio Theater Za-Koenji, Tokio Stadion für die World Games 2009, Kaohsiung, Taiwan Torres Porta Fira, Barcelona, Spanien Toyo Ito Museum of Architecture, Imabari, Ehime National Taiwan University, College of Social Sciences, Taipei, Taiwan Minna no Mori Gifu Media Cosmos, Gifu CapitaGreen, Singapur National Taichung Theater, Taichung, Taiwan

Veröffentlichungen – Auswahl 2009 2011 2012 2013 2014

Toyo Ito, Phaidon Press Limited, London Tarzans in the Media Forest, Architecture Words 8, AA Publications, London Forces of Nature, Princeton Architectural Press, New York Toyo Ito 1: 1971–2001, TOTO Publishing, Tokio Toyo Ito 2: 2002–2014, TOTO Publishing, Tokio

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OSAMU ISHIYAMA

Kitsch ist etwas Gutes und etwas Schlechtes

Herr Ishiyama, Sie haben Architektur an der Waseda University in Tokio studiert. Sie besuchten dort die Klasse von Takamasa Yoshizaka, der bei Le Corbusier in Paris gearbeitet hatte. Was war der Grund dafür, bei ihm zu studieren? Als ich studierte, betonte Takamasa Yoshizaka, dass er Le Corbusier nicht besonders möge und dass sein Weg ganz anders als der Le Corbusiers sei. Ich halte Unabhängigkeit für wichtig, und Yoshizaka war unabhängig. Seine Sprache, seine Haltung sowie seine Philosophie und Theorie waren extrem klar. Yoshizakas Theorie kreiste um Diskontinuität, und sein Leben und sein eigener Stil waren gleichermaßen diskontinuierlich. Seine Haltung und Gesinnung waren kosmopolitisch, seine Art und sein Lebensstil in hohem Maße exzentrisch, aber gerade darum schätzte ich ihn. Ich lernte von seiner Art des Denkens, nicht von seinem Stil. Er war ein hervorragender Lehrer. 1966 gewannen Sie als Student den zweiten Preis im Shinkenchiku Residential Design-Wettbewerb, bei dem Kenzo Tange in der Jury saß. Ich erinnere mich, dass ich Kenzo Tange bei der Veranstaltung am Ende des Wettbewerbs traf und wir ein Glas zusammen tranken. Tange sagte mir, dass er die Form meines Entwurfes möge, der Entwurf aber mit einer strukturellen Herangehensweise im Sinne eines Raumtragwerks von Konrad Wachsmann besser wäre. Ich glaube, er konnte meine Vorstellungen und Denkweisen nicht verstehen, und ich antwortete, dass ich seine Meinung nicht teilte und meine Herangehensweise nicht ändern würde. Warum lehnten Sie die Haltung von Kenzo Tange ab? Yoshizakas Philosophie und Haltung unterschieden sich sehr von Kenzo Tanges, und die formale Gestalt der Architektur natürlich auch. Bei Yoshizakas Architektur geht es nicht vorrangig um Schönheit. Aber Tange war vor allem an einer Sache interessiert: Schönheit! Klare Schönheit. Er sprach zwar über japanische Tradition, interessierte sich aber nur für Schönheit sowie für Proportion und Komposition. Das ist nicht meine Haltung. Gab es zu dieser Zeit viel Kritik an Kenzo Tange und dem Metabolismus? Meine Generation ist die von 1968, der Zeit der Studentenbewegung – auch in Japan. Es war eine Zeit des Experimentierens. 1968 trat Team Zoo auf die Bildfläche, auch Toyo Ito und Tadao Ando – das war wie ein Erdbeben. Viele junge Architekten bezogen Positionen, die sich von Kenzo Tange und der Gruppe der Metabolisten absetzten. Es war typisch für diese Generation, das Establishment infrage zu stellen.

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Nach Ihrem Studium gründeten Sie Ihr eigenes Büro. Warum wählten Sie den Namen Dam­Dan? Alle fragen mich, was Dam-Dan bedeutet. Ich weiß es nicht. Dam-Dan assoziiert man mit Anarchie. Es klingt gefährlich, ich mag den Klang des Wortes. Wahrscheinlich war der Name ein Grund dafür, dass ich keine Aufträge erhielt. So war er in der Tat gefährlich – für mein Geschäft. Der neue Name meines Büros ist Gaya. Auch der bedeutet nichts, vielleicht ist er eher humorvoll – oder auch nicht. Na ja, vielleicht ist es eine bestimmte Sorte von Humor … also auf jeden Fall schwierig, wie Dam-Dan. Die „Villa Gen­An“, eines Ihrer frühen Projekte, wurde recht bald bekannt. Was war der Hintergrund dieses Projekts? Die „Villa Gen-An“ repräsentiert meine Philosophie. Ich wollte eine möglichst kostengünstige Unterkunft bauen, und zwar als industrielles Produkt mit einem niedrigen Preis, so wie es beispielsweise die Architekten der frühen Moderne in Deutschland mit ihren Projekten des sozialen Wohnungsbaus beabsichtigten. Ich nutzte

Shinkenchiku Residential Design­Wettbewerb, 2. Preis, 1966

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Villa Gen-An, Ohmi, 1975

präfabrizierte Elemente für die Unterkunft, aber das war mir nicht genug. Ich wollte auch einen speziellen Ausdruck, anders gesagt: etwas Interessantes entwerfen. Es geht mir nicht um einen simplen Mix, sondern darum, stets etwas Neues und anderes zu schaffen. Sie haben die Moderne erwähnt; inspirieren Sie auch andere Bausysteme, etwa Konrad Wachsmanns Raumtragwerke, wie Kenzo Tange Ihnen nahelegte? Ich habe einen großen Respekt vor den frühen Vertretern der Moderne in Deutschland und ihrer Suche nach einem kostengünstigen Wohnungsbau für alle vermittels industrieller Fertigung, Standardisierung und eines guten Preis-Leistungs-Verhältnisses. Das ist für mich eine vorbildliche Haltung. Hinsichtlich der Bausysteme ist Buckminster Fullers Theorie sehr interessant. Aber normale Menschen können in seinen Projekten nicht wohnen. Das gilt auch für Konrad Wachsmanns Konzepte; man kann in der reinen Theorie nicht leben. Ich habe einmal zwei Buckminster-Fuller-Kuppeln gebaut. Es war ziemlich schwierig, sie auf der Basis von Buckminster Fullers Theorie umzusetzen. Seine Theorie ist interessant, aber seine Dachstrukturen haben unendlich viele Verbindungspunkte. Und die werden zum Problem, wenn Regen darauf fällt. Man kann in seiner Theorie eine Menge interessanter Punkte finden, aber nichts über die Poesie des Regens. Jeder Mensch hat eine sehr poetische Existenz. Daran bin ich interessiert  – und am Wandel.

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Villa Gen­An

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Setagaya Village, Tokio, 2001

In Ihrem Text „Akihabara feeling“ haben Sie über Poetik und Wandel geschrieben … Akihabara ist eine kleine Welt für sich in Tokio. Früher war der Ort bekannt für seinen Schwarzmarkt und für Elektronikartikel, heute für Anime und Computer. Akihabara ist täglicher Kampf, aber niemals in gleicher Weise. Akihabara bleibt, aber zugleich gibt es immer kleine Unterschiede, jeden Tag verändern sich einige Teile. So ähnlich sollte es sich auch mit der Architektur verhalten. Gibt es ein Gebäude von Ihnen, das diesem Konzept entspricht? Vielleicht „Setagaya Village“, mein Wohnhaus und Büro. Meine Frau und meine Kinder sagen, dass sie das Haus nicht mögen, weil es ständig Veränderungen gibt. Aber es ist in Ordnung, wir verändern es ständig so, wie sie es sich wünschen. Wir wählen Stoffe aus, wir entscheiden uns für einen seltsamen Stuhl, wir wählen etwas, verändern es – das sollte meiner Meinung nach auch in der Architektur so sein, besonders im Wohnhaus. Sie verändern Ihr Haus durch An­ und Umbauen, einige Teile davon sind in tra­ ditioneller Holzbautechnik erstellt, andere mit Schiffsbautechnik. Warum diese Kombination? Gestaltung und entwerferische Raffinesse sind wichtig für mich. Noch wichtiger ist mir aber die Kostenrelation. Es geht nicht darum, dass es nur billig ist, sondern um ein klares Verständnis der Kosten und Preise. Baufirmen – um auf Ihre Frage zu antworten – arbeiten im hochpreisigen Sektor. Lässt man das gleiche Element von Schiffsbauern anfertigen, so werden die Preise

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Setagaya Village

vernünftig. Daher arbeite ich manchmal mit Schiffsbauern. Ein anderer Grund ist der, dass ich Kurven mag. Schiffsbauer verwenden keine planen Teile, jedes Element ist gekurvt, und diese Elemente können von ihnen leicht hergestellt werden. In gewisser Weise lässt sich die Arbeit von Schiffsbauern mit Autodesign vergleichen. Die Projekte sind sehr sorgfältig ausgearbeitet, sehr rational und gut in der Kosten-Nutzen-Relation. In Ihrem Haus verwenden Sie nicht nur Schiffsbautechnik, sondern auch tradi­ tionelle Holzkonstruktionen. Welche Bedeutung besitzt diese traditionelle Technik für Sie? Traditionelle Zimmerleute in Japan sind nicht nur sehr geschickt darin, ihre Konstruktionen umzusetzen, sondern auch darin, Geld zu verdienen und zu managen. Diese Fähigkeit des Managements im traditionellen Handwerk ist auch die Basis der Generalunternehmungen – die stärksten japanischen Generalunternehmer waren ursprünglich Zimmerleute. Meine Beziehung zum Thema Architektur – Kultur – Tradition besteht darin, dass ich überzeugt bin, dass Architektur niemals allein durch Architekten entsteht, sondern genauso durch Unternehmer, Handwerker etc. Daher ist ein Gegenüber als Partner ist für mich wichtig – nicht nur hinsichtlich der Kommunikation, sondern auch wegen des Einflusses der anderen Tätigkeitsfelder. Wie verstehen Sie Ihre Arbeit als Architekt? Ich interessiere mich nicht dafür, Modelle, Zeichnungen und Texte anzufertigen, sondern verstehe mich als ein Editor. Verschiedene Elemente zusammenzubringen,

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das ist das Prinzip des Editors. Skizzieren ist für mich eine Art des Editierens. Es bedeutet Zusammenstellen. Bei mir steht die Form nicht im Vordergrund. Sammeln, zusammensetzen und mischen, das ist mein Weg. Worin bestehen Ihre Inspirationen, wenn Sie entwerfen oder „editieren“? Heute spreche ich über eine Inspiration, und am nächsten Tag schon wieder über eine andere. Ich habe keine konstante Methode; kleine Veränderungen sind sehr wichtig für mich. Wenn heute und morgen gleich wären, empfände ich das nicht als produktiv. Aber Geschichte ist grundsätzlich wichtig für mich, nicht nur japanische Geschichte. Wir können auch von europäischer Geschichte lernen, es ist vielleicht nicht so einfach, aber die Informationen sind verfügbar. Wenn wir über Geschichte sprechen: Warum haben Sie in der Ausstellung „The Visions of Japan“ in London 1991 historische Textilien gezeigt? Ich habe Teile von Textilien der Fischer aus der Region Tohoku verwendet. Das war eine Art von Ironie für die Europäer. Sie sagen Kitsch, Kitsch-Design. Wir bezeichnen die Textilien der Fischer als Kitsch. Kitsch? Es ist Ironie als Haltung gegenüber der Kultur. Richtiger Kitsch ist sehr schön, etwas Schönes wie traditionelle japanische Zimmermannskunst. Kitsch ist etwas Schlechtes und etwas Gutes. Beides gehört zum Begriff Kitsch. Es gab eine Rezension in Le Monde über die Ausstellung mit den Textilien der Fischer. Dort hieß es: Die japanische Architektur lacht über sich selbst. Auch beim „Chohachi Art Museum“ arbeiteten Sie mit traditionellen Elementen, in diesem Fall mit traditionellen Putzmustern … Typischer Kitsch. Sie wissen, Kitsch gehört auch zur Edo-Periode. Edo war eine spezielle Kultur, eine visuelle Kultur, eine Design-Kultur, sehr schön: Kitsch. Selbstverständlich ist Kabuki ebenso Kitsch wie die Holzschnitte etc. Während der Ausbildung an der Universität wurde uns beigebracht, Kunst und Handwerk der Edo-Periode seien Kitsch. In gewisser Weise war die Ausbildung in Japan eine Katastrophe; die Lehrer brachten uns bei, der Tenno sei gut und Nikko sei schlecht, Nikko sei Kitsch. Das durften wir nicht infrage stellen. Bruno Taut bezeichnete einmal Nikko als Kitsch. Aber etwas anderes, das Bruno Taut sagte, ist meiner Meinung nach viel wichtiger. Er sagte, die ganz gewöhnlichen Holzhäuser in Japan seien sehr gut, weil sie auf einem rationalen und klaren Kostensystem basierten. Er erkannte, dass die traditionellen Häuser ein gutes System besitzen. Mit diesem System arbeiten in Kioto oder Tokio die Zimmermannsleute in der gleichen Weise, und die Kosten sind überall gleich. Daher schätzte Bruno Taut das System. In der japanischen Architektenausbildung sprechen die Professoren nur über Bruno Tauts Aussagen zu Edo, Nikko und Kitsch. Aber sie sprechen nicht über sein Hauptanliegen: das Haus und sein System. Die Geschichte unserer architektonischen Ausbildung ist sehr kurz. Sie begann vor etwa 150 Jahren, als Josiah Conder aus England nach Japan kam und die Architek­ turausbildung an der Universität etablierte. Er war eine äußerst exzentrische Person und er lehrte meines Wissens mitunter maurische Architektur. War das Kitsch?

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Room Chaos, The Visions of Japan, Victoria and Albert Museum, London, Großbritannien, 1991

Chohachi Art Museum, Matsuzaki, 1984

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Später kamen Anhänger der Moderne in die architektonische Lehre. Sie lehrten moderne europäische Architektur, aber in einer sehr vereinfachten Weise. Die Art, wie sich die japanische Architektur modernisierte, ist ziemlich schwer zu verstehen. Daher ist es leichter, die europäische Moderne zu imitieren, zu kopieren und zu repetieren. Das interessiert mich nicht. Vor ungefähr zehn Jahren veröffentlichte ich einen Essay, in dem ich schrieb, moderne Gestaltung in Japan heute sei Kitsch. Wiederholung, Wiederholung, Wiederholung – Kitsch. Wie schätzen Sie das Verhältnis der jüngeren Architektengeneration zur Archi­ tekturgeschichte ein? Etwa von Sou Fujimoto, Go Hasegawa oder Junya Ishigami? Junya Ishigami beispielsweise ist meiner Auffassung nach ziemlich konservativ. Das ist nicht unbedingt eine Kritik. Er ist gewiss besonders beeinflusst von der HeianPeriode der japanischen Kultur, einer schönen Periode mit einigen herausragenden Gebäuden in einem sehr menschlichen Maßstab. Den findet man auch in Ishigamis Architektur. Aber er hat keine Verbindung zur Gesellschaft. Sein Werk ist rein künstlerisch, Gebäude und Werk sind ohne soziale Perspektive. Unsere Generation stritt 1968 permanent über soziale Fragen … Stichwort 1968. Sie sagten, es sei eine Zeit voller Experimente gewesen, eine Zeit, in der Team Zoo, Toyo Ito oder Tadao Ando bekannt wurden. Was denken Sie von diesen Büros heute? Die Architekten von Team Zoo sind meine Freunde und manchmal auch meine Feinde, sie sind mir sehr nah und manchmal sind sie auch seltsam. Wie ich sind sie Schüler von Takamasa Yoshizaka. Eines ihrer besten Gebäude steht in Okinawa, am äußersten Rand von Japan. Das ist bei mir ähnlich: Ich kann in Tokio kein großes Projekt umsetzen, aber am Rand des Landes, ganz weit weg von Tokio. Tadao Ando, Toyo Ito und einige andere Architekten sind zu berühmten „Brands“ geworden. Aber ich glaube, eine vergleichbare Entwicklung zum „Brand“ wird es in Zukunft nicht mehr geben, denn heute gibt es ein anderes System. In den 1970ern und 80ern war die Kultur von Büchern, Zeitschriften und Veröffentlichungen sehr ausgeprägt. Arata Isozaki beispielsweise schrieb ungeheuer viel. Zeitschriften und Magazine waren zu dieser Zeit sehr stark in Japan, es gab allein zehn oder mehr Architekturzeitschriften. Jeder Architekt, jeder Student las Zeitschriften. Man diskutierte darüber, und das war eine gute Art der Ausbildung. Ito, Ando und andere Architekten waren durch Zeitschriften und Bücher präsent. Heute ist das Internet stark, im Bereich gedruckter Erzeugnisse ist nur noch wenig für die Architektur übrig geblieben. Die „Brands“ besaßen ihre Basis in der Pressekultur, sie ermöglichte theoretische Auseinandersetzungen und einen fundierten Architekturjournalismus. Diese Pressekultur ist verschwunden, und daher wird es in Zukunft auch derartige „Brands“ nicht mehr geben. Ich will nicht sagen, dass die Situation schlecht ist, aber sie ist nicht mehr so gut.

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OSAMU ISHIYAMA Biografie 1944 1966

Geboren in Tokio Hochschulabschluss in Architektur an der Waseda University, Tokio 1968 Abschluss der Graduate School der Waseda University, Tokio Gründung von Dam-Dan design studio 1988–2013 Professor, Architectural School, Waseda University, Tokio 2013 Gründung von Studio Gaya Wichtige Werke 1975 1984 1986 1990 1991 1994 1996 1998 2000 2001 2006

Villa Gen-An, Ohmi, Aichi Chohachi Art Museum, Matsuzaki, Shizuoka Bauernhaus, Sugadaira, Nagano Seaside Street, Kesennuma, Miyagi Mazda R&D Center, Kanagawa Nexus World, Wohnbebauung, Fukuoka The Visions of Japan, Victoria and Albert Museum, London, Großbritannien Rias Ark Museum of Art, Kesennuma, Miyagi Kannon-ji Tempel, Tokio 6. Architekturbiennale Venedig, Italien (ausgezeichnet mit dem Goldenen Löwen) Müllverbrennungsanlage Kita, Tokio Baumhaus, Saitama Setagaya Village, Tokio Hiroshima House, Phnom Penh, Kambodscha

Veröffentlichungen – Auswahl 1982 1984 1997 2008

Barrack Jodo, Sagami-Shobo, Tokio Idea of housing with Akihabara feeling, Shobunsha, Tokio House debauchery, Kodansha, Tokio Self build, Kotsu-shupansha, Tokio

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RYOJI SUZUKI

Wahre Architektur bedeutet, dass niemand darin lebt

Herr Suzuki, warum fiel Ihre Studienwahl auf Architektur? Bestand eine Bezie­ hung zur Architektur während Ihrer Kindheit? Mein Vater war ein Maler. Ich war umgeben von Kunstwerken, Katalogen und Büchern, daher begriff ich die Idee von Kunst und wurde vertraut mit ihr. Ich interessierte mich für Malerei, die zweidimensional ist, aber mehr noch interessierte mich dreidimensionale Kunst. In der Schule war ich besser in Kunst und Mathematik als in den Geisteswissenschaften. Ich begann mich erst später für kulturelle Aspekte zu interessieren, anfangs dachte ich, ich könnte mein Interesse für Kunst und Mathematik im Fach Architektur kombinieren. Daher wurde ich Architekt. Sie haben an der Waseda University studiert. Wer waren dort Ihre wichtigen Professoren? Mein wichtigster Professor war Yoshiro Ikehara. Er beschäftigte sich mit Antoni Gaudí, Rudolf Steiner und dem deutschen Expressionismus. Damals war französische und amerikanische Architektur im Trend, aber ich interessierte mich mehr für Yoshiro Ikehara, Togo Murano, Kazuo Shinohara, Ragnar Östberg, Gunnar Asplund und Eero Saarinen, die zu dieser Zeit nicht zum Mainstream zählten. Ein anderer Professor, der für mich an der Waseda University bedeutend wurde, war Takamasa Yoshizaka. Er hatte bei Le Corbusier gearbeitet, war aber eigenständiger als andere stark von Le Corbusier beeinflusste Architekten. Sie haben also an der Universität viel über die europäische Architektur und Architekturgeschichte gelernt. War die japanische Architekturgeschichte auch ein Thema? Wir lernten auch japanische Architekturgeschichte, aber der eigentliche Fokus war die europäische Architekturgeschichte. Wenn man im Entwurf tätig sein wollte, wenn man Architekt werden wollte, dann führte am Studium der europäischen Architekturgeschichte kein Weg vorbei. Die japanische Architekturgeschichte wurde nur in einem ganz kleinen Teil der Kurse gelehrt, die jeder besuchen musste. Ich denke, die japanische Architektur wurde durch die Meiji-Restauration europäisiert. Nach dem Abschluss des Studiums arbeiteten Sie für das große Bauunterneh­ men Takenaka und dann im Büro von Fumihiko Maki, bevor Sie noch einmal studierten. Ich wusste, dass ich gewisse Fähigkeiten besitzen musste, wenn ich ein eigenes Büro eröffnen wollte, und daher entschied ich mich, für Takenaka zu arbeiten. Große Bauunternehmungen waren in vielen technischen Fragen erfahrener als selbst prominente Architekten; daher ging ich zu Takenaka, um so viel wie möglich an Erfah-

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rungen zu sammeln. In Fumihiko Makis Büro wollte ich arbeiten, weil er sehr international orientiert war. Das zog viele Architekten an, und für mich bot sich die Gelegenheit, bei ihm zu arbeiten, weil Takenaka Projekte mit Maki realisierte. Daher war es für mich möglich, in sein Büro zu wechseln. Insgesamt hatte ich sieben Jahre für Takenaka und Maki gearbeitet, bevor ich 1973 zurück an die Universität zu Yoshiro Ikehara ging, um weiter zu studieren. Ich beschäftigte mich mit Michelangelo, Charles Rennie Mackintosh und Giuseppe Terragni. Noch während dieser Zeit an der Universität begann ich, Häuser zu entwerfen. Sie nannten Ihr Büro „fromnow“. Warum wählten Sie diesen Namen? Lassen Sie es mich so sagen: Alles veränderte sich damals rasch, und wir Architekten fühlten, dass es nichts gäbe, auf das man aufbauen könnte. Als ich das Büro gründete, dachte ich: Lass es uns jetzt tun, von jetzt an – „fromnow“. Aus heutiger Perspektive mag es komisch erscheinen, wie ich zu dem Namen gekommen bin, aber es war damit der Anspruch verbunden, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Als ich das Büro gründete, dachte ich, dass die moderne Architektur vorbei sei und dass wir innerhalb des Bezugssystems der Moderne nicht mehr ernsthaft diskutieren können, wie Architektur zu entwerfen sei. Und ich hatte Sympathie für Architekten, die neue Konzepte, Ideen und Bilder entwickelten, aber nie bauten, so wie Superstudio und Archigram. Sie sind heute in verschiedenen Feldern tätig. Sie machen Architektur, Kunst und Installationen, Sie schreiben Texte und Sie machen Filme. Nur Gebäude zu entwerfen, ist nicht so spannend – Architektur besitzt viel mehr Möglichkeiten. Blickt man zurück in die Zeit der Renaissance, so waren Architekten zugleich Künstler, Kunstkritiker, Bildhauer und Maler. Architektur beschränkt sich also nicht allein auf das Bauen, es geht um viel mehr. Aber im Zuge der Moderne

Absolute Scene, Experience in Material No. 24, Tokio, 1987

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Barrack Architecture, Experience in Material No. 23, Tokio, 1987, Foto, Skizze, Zeichnung, Modell

ist eine weitergehende Arbeitsteilung entstanden sowie auch eine Ausdifferenzierung innerhalb der Berufe. Das hat dazu geführt, dass Architekten nur noch Gebäude bauen und, mehr noch, sich nur auf bestimmte Bauaufgaben spezialisieren. Es gibt Architekten, die Fabriken bauen, solche, die Krankenhäuser bauen, und wieder andere, die Wohnhäuser bauen, usw. Meine Idee mit „fromnow“ war es, völlig neu mit der Architektur zu starten und das Betätigungsfeld und das Verständnis von Architektur zu erweitern. Daher begann ich, mich mit Texten, Kunst und Filmen auseinanderzusetzen – man kann Konzepte der Architektur auch in diesen Metiers finden. Sie beschäftigen sich nicht nur mit Texten, Filmen und Gebäuden, Sie beschäf­ tigen sich auch – beispielsweise in ihrem Projekt „Absolute Scene“ im Jahr 1987 – mit der Zerstörung von Gebäuden. Was interessiert Sie daran? Architektur zu entwerfen und zu bauen ist nicht alles. Architektur beginnt danach erst zu leben. Sie verändert sich mit den Menschen, die im Gebäude leben, und sie bleibt bestehen, wenn die Bewohner sie verlassen haben. Daher interessiere ich mich für verlassene Gebäude. In Europa bestehen die meisten Gebäude aus Stein, daher überdauern sie recht gut. In Japan hingegen bestehen sie zumeist aus hölzernen Strukturen, die schneller verschwinden. Nach den Bombardierungen und Bränden des Zweiten Weltkriegs waren die meisten Gebäude in Tokio zerstört und abgebrannt, aber die Überreste der Gebäude wanderten umher wie ein Geist. Ich fragte mich, was geschehen würde, wenn ein japanisches Haus ungenutzt ist und langsam verschwindet. In Ihrem Projekt „Barrack Architecture“ haben Sie sich erneut mit Architektur auseinandergesetzt, die verschwindet. Was war dort das Ziel? Die Baracken, die mich interessierten, standen kurz vor dem Abriss. Es handelte sich um gewöhnliche Häuser. Ich machte zunächst Fotos und begann dann, die Häuser zu zeichnen. Ich spürte eine Kraft in diesen fast schon zerstörten Gebäuden – besonders im Vergleich zu neuen Gebäuden, die anders sind. Ich habe die Gebäude mit Zeichnungen ihrer Erscheinung kurz bevor sie endgültig abgerissen

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wurden, bewahrt. Sie sind der einzige Beweis dafür, dass die Gebäude existiert haben. Sie beschäftigen sich mit etwas, das verschwindet, mit Architektur, die nicht mehr genutzt wird, die verlassen wurde. In diesem Kontext zitierten Sie Louis Kahn mit seiner Beschreibung des Verhältnisses von Ruinen und Architektur: „Wenn das Bauwerk vollendet dasteht und in Gebrauch genommen wird, scheint es die Geschichte seines Entstehens erzählen zu wollen. Aber wenn auch nur Teile davon unterdrückt, versklavt sind, ist diese Geschichte schwach und bedeu­ tungslos. Aber wenn es nicht mehr benutzt wird und zur Ruine verfällt, kommt das Wunder seines Anfanges wieder zum Vorschein. Es fühlt sich wohl, von Laub überwuchert zu sein, es ist wieder hochgestimmt und von allen Fesseln frei.“ (Zitiert nach: Alessandra Latour (Hrsg.), Louis I. Kahn – die Architektur und die Stille: Gespräche und Feststellungen, Basel 1993, S. 109) Ich verstehe diese Aussage als Kritik an der zeitgenössischen Architektur. Louis Kahn findet, dass Architektur zur wahren Architektur wird, wenn niemand mehr darin lebt, und das steht in einem Widerspruch zu dem, was nach Ansicht vieler Menschen Architektur ist oder sein sollte. Kahns Gedanke stellt das übliche Verständnis von Architektur infrage. Mich interessiert diese Idee, denn Architektur war immer zu stark auf den Menschen bezogen. Ich behaupte nicht, dass Kahn Gebäude entworfen hätte, die nicht für den Menschen gemacht worden wären, er hat großartige Gebäude realisiert, aber er hat sie auch entworfen, damit sie zu Ruinen werden, und das ist ebenfalls ein sinnvoller Gedanke. Hinsichtlich der Bedeutung von Architektur: Was sollte Architektur sein, wozu sollte sie dienen? Architektur dient den Menschen, sie nützt ihnen, aber das Leben der Architektur ist länger als das der Menschen. Architektur sollte etwas sein, das nicht nur für ausgewählte Menschen da ist. Architektur sollte für die Menschen eine Kraftquelle darstellen, um nachzudenken. Die Umgebung trägt zu einer Atmosphäre bei, die den Menschen dient, aber nicht nur den heutigen Menschen, sondern auch den

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Menschen in der Zukunft. Wenn man nur an Menschen denkt, die heute da sind, ist das einschränkend. Wenn ein Gebäude fertiggestellt ist, beginnt der Prozess der Transformation, und am Ende ist es vielleicht eine Ruine. Wie kann man diesen Prozess vorhersehen? Und wie beeinflusst er den Entwurf? Ein Gebäude verändert sich kontinuierlich. Natürlich muss ich den Bedürfnissen des Bauherrn entsprechen. Der Veränderungsprozess ist für mich ein Prozess der Entdeckung, denn wie ein Gebäude benutzt wird und sich verändert, hängt vom Bauherrn ab. Ich kann die Veränderungen nicht kontrollieren, aber ich kann den Prozess beobachten. Kontrollieren kann ich nur meine Entscheidungen. Weil es sich um einen langen Prozess handelt, wähle ich Materialien, die gut altern können und dieses Altern auch erfahrbar werden lassen – also Stein oder Stahl oder große Holzmassen anstelle von dünnen Elementen. Die Titel Ihrer Arbeiten beginnen stets mit „Experience in Material“. Beginnend mit „Experience in Material No. 1“ bis „Experience in Material No. 57“. Versteht man Sie richtig, dass für Sie Material nicht nur Material ist, sondern auch Raum? Ich vermeide bewusst den Begriff Raum. Ich verwende den Begriff Raum – kukan im Japanischen – nicht, weil er zu kontrovers und schwierig ist. Der Begriff des Raums, wie er heute in der Architektur Verwendung findet, ist im 19. Jahrhundert entstanden und dann in die Moderne übernommen worden, er bezieht sich auf einen statischen, dreidimensionalen Raum. Der Begriff kukan, der erst spät in Japan eingeführt wurde, ist weit verbreitet und steht für einen Raum, wie er seit der Renaissance und dem Barock in Europa entwickelt wurde. Ich bin sehr skeptisch eingestellt gegenüber einer Architektur, die auf einem statischen Raum basiert. Für mich ist der Raum ein Ereignis, ein Prozess, für den im Japanischen der Begriff ma steht, der älter ist als das Wort kukan. Raum hat keine Begrenzung, er endet nicht. Er ist viel mehr, als die ziemlich enge Definition des Raums in der modernen Architektur und im modernen Denken zulässt. Ich beziehe mich dabei etwa auch auf Filme, die durch verschiedene Einstellungen den gleichen Raum ganz unterschiedlich wirken lassen. Das finde ich konzeptionell sehr interessant. Kann man sagen, dass Ihr Gebäude „Azabu Edge“ einerseits eine Interpretation von Material – Material als Ihr Begriff von Raum – und andererseits der Umge­ bung in Tokio ist? Die Umgebung ist ein Teil des Gebäudes. Ich habe es in Zusammenhang mit den umgebenden Bauten entworfen, die nicht von mir stammen. Es gibt viele Ecken und Spalten in der Nachbarbebauung, und ich nahm diese Elemente, wie etwa Spalten, in meinem Gebäude auf. Die Bauten ringsum wirken wie außer Kontrolle, denn die Gestaltung ist seltsam, und sie stehen nicht wirklich in einem Zusammenhang. Durch das Hinzufügen von „Azabu Edge“ wollte ich die Umgebung zu einem Ganzen zusammenführen und nicht nur als eine Ansammlung von Teilen erscheinen lassen. Wenn Sie ein Projekt haben, wie entwickeln Sie den Entwurf? Wenn ich mit dem Entwurfsprozess beginne, möchte ich so viele Optionen wie möglich haben. Ich habe keine festen Vorstellungen in meinem Kopf, wenn ich entwerfe. Ich gehe zum Baugrundstück, treffe den Bauherrn und sehe die Umge-

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Azabu Edge, Experience in Material No. 20, Tokio, 1987

Lageplan

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Azabu Edge, Ansichten

bung, die Atmosphäre, die Landschaft – all das inspiriert mich beim Entwerfen. Architektur zu entwerfen und zu bauen ist ein Happening, weil es nicht mit einer festen Vorstellung beginnt. Es ist ein offener, stets unterschiedlicher Prozess. Bei einigen Projekten beginne ich mit Modellen, bei anderen arbeite ich vornehmlich mit Skizzen und Zeichnungen. Manchmal fertige ich auch Skizzen nach der Fertigstellung an, um mein Werk zu überprüfen. Nach seiner Fertigstellung erzählt uns das Gebäude etwas. Mich inspiriert die Atmosphäre des Gebauten. Beispielsweise hat die Kombination von traditionellen Dächern mit einem modernen Rahmenwerk aus Stahl beim Kohun-ji Temple für mich interessante Aspekte, mehr als ich erwartet hatte. Ich habe das versucht, mit Zeichnungen festzuhalten, die ich nach der Fertigstellung gemacht habe. Manchmal baue ich auch Modelle nach der Fertigstellung von Gebäuden. Ich möchte über Ideen, die mich beim Entwurf inspiriert haben, gründlich nachdenken  – beim Entwerfen habe ich viele Ideen, und nach der Fertigstellung überprüfe ich sie. Bei Ihren Gebäuden arbeiten Sie mit Ambivalenzen und Fragmenten, und in Ihren Texten beziehen Sie sich auf Theorien von Gilles Deleuze, Michel Foucault und andere Texte aus den 1980er Jahren. Wie wichtig sind diese Texte für Sie? Philosophen aus dieser Zeit, wie Foucault, Deleuze oder Roland Barthes, haben sich mit der Vergangenheit kritisch beschäftigt und zugleich in die Zukunft gedacht. Ihre Theorien interessieren mich in starkem Maße.

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Kohun­ji Temple, Experience in Material No. 33, Tokio, 1991, Zeichnung nach Fertigstellung

Sie beziehen sich auf Theorien aus dem europäischen Kontext. Wie verhält es sich mit dem japanischen Kontext? Es ist sehr wichtig, sich Gebäude in Japan anzusehen, die 1.000 Jahre alt sind, und sie in moderner Weise zu interpretieren. Wenn man sich ernsthaft mit japanischer Architektur auseinandersetzt, muss man sich mit dem Dach beschäftigen. Früher waren wir es gewohnt, viele traditionelle, geneigte Dächer zu sehen, heute sind sie nahezu verschwunden, die Dächer sind flach. Das geneigte Dach ist wirklich ein wichtiger Aspekt der japanischen Architektur. In Ihren Bauten verwenden Sie traditionelle Dachformen, wenn Sie Schreine oder Tempel bauen. Andere Gebäude haben im Allgemeinen flache Dächer. Weshalb? Ich würde gern mehr mit geneigten Dächern arbeiten, aber ich habe dazu nicht viele Gelegenheiten. Bei Tempeln oder Schreinen ist es einfacher, denn dort bestehen spirituelle und symbolische Konventionen für religiöse Gebäude. Vor und während des Zweiten Weltkriegs wurden bestimmte Dachformen teilweise nationalistisch interpretiert und damit sozusagen kontaminiert. Man muss also sehr sorgsam sein, wenn man geneigte Dächer entwirft, es ist schwierig, nicht zuletzt gerade aufgrund der politischen Implikationen. Und in Tokio gibt es sowieso weniger Möglichkeiten, geneigte Dächer zu realisieren. Sie sagen, dass ein Teil der japanischen Bautradition durch den Missbrauch in den 1930er und 40er Jahren kontaminiert wurde. Können Sie das näher aus­ führen? Es gab wirklich eine unwürdige Architektur in den 1930er und 40er Jahren, die nationalistisch konnotiert war. Kenzo Tange etwa entwarf Projekte mit geneigten Dächern, wie zum Beispiel für das nationalistische Daitoa-Monument von 1942,

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Project Konpira, Experience in Material No. 47, Kotohira, 2004

eine Gedenkhalle für Japans Kriegsziel, die „Großostasiatische Wohlstandssphäre“. Viele Architekten beschäftigen sich heute nicht mit traditioneller Architektur, weil es das Problem gibt, dass sie nationalistisch interpretiert werden könnte, und sie das vermeiden wollen. Um traditionelle japanische Architektur auf eine nicht-nationalistische Weise zu interpretieren, beginne ich mit Materialien und nicht mit Formen. Ich kombiniere traditionelle Materialien und traditionelle Elemente der Architektur mit Stahl, der nicht zur traditionellen japanischen Architektur gehört, sich aber gut mit dieser verbindet. Beim Konpira-Schrein studierte ich Dachformen anhand alter Zeichnungen. Der Entwurf ist inspiriert von Bauformen des 14. und 15. Jahrhunderts. Weil es an der Universität kein Thema war, lernte ich von null an, wie man ein traditionelles Dach entwirft. Mir scheint das der richtige Weg zu sein, wenn man einen traditionellen Tempel entwirft. Warum beziehen Sie sich gerade auf Bauformen aus dem 14. und 15. Jahrhundert? Es gibt in der japanischen Geschichte zwei kulturell und architektonisch herausragende Epochen: die Nara-Zeit, in der Japan viel aus der Kultur Chinas übernahm, sowie die Kamakura- und Muromachi-Zeit. Ich wurde damit beauftragt, zwei Gebäude für den Konpira-Schrein zu entwerfen, und damit zwei Dächer. Eines bezieht sich auf die Kamakura- und Muromachi-Zeit, das andere auf die Nara-Zeit. In diesen Perioden wurden die Tempel und Schreine von großartigen Zimmerleuten erbaut. Sie waren keine Architekten, aber sehr talentiert. Eine große Anzahl herausragender Bauten entstand in diesen beiden Perioden, und ich wollte diese als Referenz nehmen. Dabei muss man aber sehr sorgfältig vorgehen, sonst wird es Kitsch. Man kann historische Architektur nicht einfach nachbauen.

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Wir haben über historische Architektur gesprochen. Wie bewerten Sie die Archi­ tekturentwicklung in Japan im 19. und 20.  Jahrhundert? Gemeinhin denken die Leute, die moderne Architektur in Japan habe mit Tange in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen. Aber ich denke, sie begann in der Vorkriegszeit. Ich interessiere mich sehr für Michizo Tachihara. Er war ein Jahr älter als Kenzo Tange, und sie studierten an derselben Universität. Tachihara war schon als Teenager als großartiger Dichter bekannt – was er bis heute ist –, neben seinem genuinen Talent als Architekt. Er schrieb viele Texte, beispielsweise über Ruinen, und entwickelte ähnliche Ideen wie Louis Kahn. Er schrieb auch über Gebäude ohne Menschen. Er war unglaublich talentiert, aber unglücklicherweise starb er im Alter von 24 Jahren. Er ist ein Beispiel für einen modernen Architekten vor dem Zweiten Weltkrieg. Es gab sehr interessante Bewegungen und Personen, die niemals so bekannt geworden sind wie später die Metabolisten. Beziehen sich die heutigen Architekten auf architektonische Tendenzen vor den 1960er Jahren? Nein, das tun sie nicht! Nach dem Zweiten Weltkrieg war Japan zerstört, und Kenzo Tange und andere Architekten gingen sehr aggressiv daran, neue Gebäude zu schaffen, das Land wiederherzustellen und den Metabolismus und die Weltausstellung in Osaka zu lancieren. Es erscheint mir wirklich wichtig, den Blick auf die Vorkriegsperiode und auf nicht-aggressive Architekten wie Michizo Tachihara zu richten. Wenn man auf die heutige junge Architekturszene blickt, so fällt eine Tendenz zu ruhiger Architektur auf, die auf Gestalt und Form fokussiert ist. Vor 20 Jahren gab es mit Atsushi Kitagawara, Makoto Sei Watanabe und anderen eine Tendenz, Chaos zu bauen; eine Architektur, in der alles in Konfrontation und Kollision aufeinanderstößt. Diese Tendenz scheint verschwunden zu sein, die Architektur der jungen Generation ist im Vergleich dazu relativ ruhig. Meines Erachtens gibt es dafür zwei Gründe. Einerseits gab es damals die Spekulationsblase, es war eine fröhliche Zeit. Nun ist die Party vorbei, die Menschen werden langsam ruhiger. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, unsere moderne Architektur neu in den Blick zu nehmen. Warum nicht in der Vorkriegszeit beginnen, vor dem alles überstrahlenden Tange, zum Beispiel mit Michizo Tachihara und seiner generösen Architektur. Der zweite Grund ist, dass die japanische Architektur gewissermaßen gereift, aber auch rigider geworden ist. Vielleicht liegt das an den einflussreichen Lehrern und ihren Schülern, dass vieles sehr ähnlich geworden ist. Wenn man es positiv formulieren will, kann man sagen, dass die Architektur in Japan gereift ist, zur Ruhe gekommen und ruhig geworden ist. Man kann aber auch sagen, dass sie flacher geworden ist und es ihr an Vielfalt mangelt.

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RYOJI SUZUKI Biografie 1944 1968

Geboren in Sendai, aufgewachsen in Tokio Bachelor-Abschluss in Ingenieurwesen, Abteilung für Architektur, Waseda University, Tokio 1968–73 Beschäftigung bei der Takenaka Corporation 1970 Gründung des Büros fromnow, Tokio 1970–71 Mitarbeiter bei Maki and Associates, Tokio 1977 Master-Abschluss in Ingenieurwesen, Abteilung für Architektur, Waseda University, Tokio 1982 Umbenennung des Büros in Ryoji Suzuki Architects & Partners, Tokio 1997–2015 Professor, Waseda University, Tokio Wichtige Werke 1987

1990 1991 1992

2003 2004 2006 2011 2012 2014

Experience in Material N. 20, Azabu Edge, Tokio Experience in Material N. 23, Barrack Architecture, Tokio Experience in Material N. 24, Absolute Scene, gemeinsam mit Shigeo Anzai und Kyoji Takubo, Tokio Experience in Material N. 31, Expo Osaka, Folly 4, Osaka Experience in Material N. 33, Kohun-ji Temple, Tokio Experience in Material N. 34, Clairière, Creux, Vide (Installation), Gallery Ma Experience in Material N. 35, Clairière, Creux, Vide (Film) Experience in Material N. 45, Haus in Jingumae, Tokio Experience in Material N. 47, Project Konpira, Kotohira Experience in Material N. 48, Haus in Nishiazabu, Tokio Experience in Material N. 50, Haus in Shimoda, Shizuoka Experience in Material N. 52, Dubhouse (Film), mit Kei Shichiri Experience in Material N. 55, Brücke, Kotohira Experience in Material N. 56, Muzeum (Installation), 21st Century Museum of Contemporary Art, Kanazawa

Veröffentlichungen – Auswahl 1988

2001 2007 2013 2014

Architecture in Drawings, Space & Concept: Several Experiences in Material, Dohosha Publishing, Kioto Experience in Material N. 28: Dis-Architectural Considerations, Chikuma Shobo, Tokio Architettura Anno Zero, Chikuma Shobo, Tokio Essay on Houses by an Architect, Kajima Institute Publishing, Tokio Experience in Material N. 49: Ryoji Suzuki Complete Works 1973–2007, INAX Publishing, Tokio Material Suspense: Architectural Cinema, LIXIL Publishing, Tokio Architecture of Generosity, Misuzu Shobo, Tokio

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RIKEN YAMAMOTO

Das Verhältnis von öffentlich und privat verändern

Herr Yamamoto, Sie wurden in Peking geboren. Ihre Mutter studierte traditionelle chi­ne­sische Medizin, Ihr Vater war Elektroingenieur. Was hat Sie bewogen, Archi­ tekt zu werden? Mein Vater besaß einen großen Tisch und viele Zeichenutensilien, Entwerfen war mir also vertraut. Aber er starb, als ich fünf war, und die Erinnerungen an ihn sind sehr blass. Als 1964 die Olympischen Spiele in Tokio stattfanden, begann ich mit dem Studium. Einige der Olympiabauten waren sehr bekannt und beliebt, so beispielsweise das „Yoyogi Olympic Gymnasium“ von Kenzo Tange. Ich glaube, seine Gebäude waren der Auslöser dafür, dass ich Architekt werden wollte. Sie studierten an der Nihon University und schlossen dort 1968 ab. Wer waren Ihre Professoren? Ich studierte an der Abteilung für Architekturgeschichte. Kobayashi Bunji lehrte dort westliche Architekturgeschichte. Von ihm stammt ein sehr gutes Buch über westliche Kultur und Architektur von der griechischen Antike bis zum 20. Jahrhundert. Anschließend ging ich an die Tokyo National University of Fine Arts and Music und studierte ebenfalls Architekturgeschichte. Mein Professor war Gakuji Yamamoto – gleicher Nachname, keine Verwandtschaft. Er war ein Anhänger der Moderne und Kommunist. Yamamoto widmete sich dem Zusammenhang von Architektur und Technik. Bunji und Yamamoto haben mich gleichermaßen beeinflusst. In Yamamotos Studio habe ich einen Text über modernen Wohnungsbau geschrieben. Ich konzentrierte mich auf die einschneidenden Veränderungen im Wohnungsbau nach dem Ersten Weltkrieg, speziell in Deutschland durch das Bauhaus, die CIAM (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne), Mies van der Rohe, Le Corbusier, Bruno Taut und andere. Nach Ihrem Master an der Tokyo National University of Fine Arts and Music gin­ gen Sie an das Forschungslabor von Hiroshi Hara an der University of Tokyo und unternahmen ausgiebige Reisen. Ja, es war die Zeit um 1968, als viele Studierende gegen die Regierung protestier­ ten. Während des Masterstudiums war ich kaum an der Universität. Ich demon­ strierte und protestierte gegen die Regierung und ihre Politik. Nach dem Ende des Studiums wollte ich nicht in einer Architekturfirma arbeiten. Daher fragte ich bei Hiroshi Hara an, ob ich über Wohnungsbau forschen könnte. Ich hatte großes Inter­ esse zu reisen und vernakulären Wohnungsbau anzusehen. Die Entwicklung der modernen Architektur im 19. und 20.  Jahrhundert ist ja nur ein Teil der Geschichte. Der vernakuläre Wohnungsbau unterscheidet sich stark vom modernen, insbesondere hinsichtlich der Beziehungen innerhalb der dörflichen Ge-

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meinschaft. Ein Haus ist nicht unabhängig von anderen Häusern, es steht in Be­zie­ hung zur dörflichen Gemeinschaft, aber auch zur Bewohnerfamilie. Wir wollten erforschen, wie diese Beziehungen durch Architektur beeinflusst oder unterstützt werden. Wie lange waren Sie im Ausland unterwegs? Jede Reise dauerte ungefähr drei Monate. Ich besuchte Länder um das Mittelmeer, Mittel- und Südamerika, den Nahen und Mittleren Osten sowie Indien, Irak und Iran. Wir waren eine Gruppe von zehn Studenten in zwei Mietwagen, die nach den Reisen meist schrottreif waren. Inwiefern haben diese Reisen Ihre Architektur und Ihre spätere Entwurfsarbeit beeinflusst? In der „Yamakawa Villa“, meinem ersten realisierten Projekt, kann man vielleicht den Einfluss meiner Auseinandersetzung mit kleinen Dörfern erkennen. Es handelt sich um ein sehr kleines Haus in den Bergen. Meine frühen Arbeiten sind geprägt durch das Studium der vernakulären Architektur. Was denken Sie über die metabolistische Bewegung in Japan in den 1960er und 70er Jahren? Wurden Sie von ihr beeinflusst? Zu dieser Zeit war ich Student, und der Einfluss war nicht besonders stark. Wir nahmen wahr, dass sie die Dinge anders angingen. Ihre Theorie konzentrierte sich auf die Infrastruktur und die Frage, wie alles andere hinzugefügt und mit der Infrastruktur verbunden werden könnte. Hinzugefügte Elemente können leicht ausgetauscht werden, während die Infrastruktur bleibt. Das ist für mich der Grund­gedanke der Metabolisten. Aber nach all meinen Reisen wurde mir bewusst, dass sich meine Theorien von ihrer stark unterschieden. Sie gründeten Ihr eigenes Büro 1973. Hatten Sie zuvor in einem Architekturbüro gearbeitet? Nein (er lacht). Sie besaßen keine große Erfahrung im Entwurf, weil Sie sich in Ihrem Studium vor allem auf die Forschung konzentriert hatten. Und dann gründeten Sie Ihr eigenes Büro? Meine Freunde und Mitarbeiter halfen mir. Sie hatten vorher schon in anderen Architekturbüros gearbeitet, so wie Makoto Motokura, der jetzt eine Professur an der Tokyo University of the Arts innehat und damals für mich ein guter Lehrer war. Wir schlossen unser Studium zur gleichen Zeit ab, er arbeitete anschließend im Büro von Fumihiko Maki. Er vermittelte mir vieles über Architektur und Detaillierung. Er ist bis heute einer meiner engsten Freunde. Sie wählten einen unüblichen Weg: von den Mitarbeitern zu lernen und nicht anders­herum  … Selbst heute noch lerne ich vieles von meinen Mitarbeitern … (er lacht) Das ist schön zu hören. Sie lehrten aber auch als Professor an vielen verschiede­ nen Universitäten. Beschäftigt sich Ihre Lehre mit der Architekturgeschichte, wie Sie es von Ihrem Studium her kannten, oder ist sie auf den Entwurf fokussiert?

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Shibam, Jemen, Reisen

Natürlich lehre ich in Entwurfsstudios, aber ich konzentriere mich nicht nur auf das architektonische Objekt. Mithilfe des Computers ist es heute einfach, ein dreidimensionales Objekt zu kreieren und den Maßstab zu verändern. Aber es geht beim Entwurf von Architektur auch um die Stadt, die räumliche Umgebung und die Menschen in der Stadt. Und es geht um die Frage, wie man Verbindungen zwischen der Stadt und der Architektur herstellen kann. Wie wichtig ist das Verständnis von Gesellschaft, wenn man Architektur entwirft? Mein Fokus im Studio liegt auf der „Local Community Area“, die Studenten beschäftigen sich in ihren Entwürfen mit Zentren lokaler Nachbarschaften, beispielsweise Bibliotheken. Normalerweise denken die Studierenden sich irgendeine Form aus, und diese Form soll dann die Bibliothek sein. Sie ist zunächst nur ein Objekt, eine Skulptur. Es ist für die Studierenden aber extrem wichtig, darüber nachzudenken, welche Rolle Architektur innerhalb einer Gemeinschaft spielt. Das ist das wichtigste Thema meines Entwurfsstudios. Sie sprechen von der „local community“. Aus wie vielen Menschen besteht diese jeweils? Und lässt sie sich auf jede Kultur übertragen? Es geht nicht um eine präzise Zahl. Wichtig für mich ist, dass wir nicht nur Wohnhäuser entwerfen, sondern auch Läden, Restaurants und soziale Einrichtungen. Sie haben ökonomische Beziehungen zueinander, dieses System gibt es überall. Ich bin durch viele Länder gereist, und nirgends gibt es Beispiele, bei denen es nur um das Wohnen geht. Immer ist es verbunden mit ökonomischen Fragestellungen. Welche Literatur empfehlen Sie Ihren Studierenden, wenn diese sich mit lokalen Nachbarschaften beschäftigen? Die Stadt. Geschichte und Ausblick von Lewis Mumford ist eine zentrale Lektüre. Und jüngst habe ich ein theoretisches Buch unter dem Titel The Space of Power and the Power of Space veröffentlicht, in dem ich mich auf Hannah Arendt beziehe.

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Wohnhaus in Chibaysh, Irak, Reisen

Wohnhaus in Chibaysh, Grundriss

Ihr Buch Vita activa ist sehr anregend. Sie schreibt über die griechische polis und das Haus. Die meisten griechischen poleis basieren auf einer Rasterstruktur, weil sie Kolonien waren. Vielleicht befördert diese Struktur die Gleichheit der Menschen. Interessant ist auch der andron im griechischen Haus. Er gehört zum öffentlichen Raum, so dass sich auch im Inneren des griechischen Hauses ein Stück öffentlicher Raum befindet. Der andron ist der Ort des symposion, ein Ort, an dem man diskutiert, isst, trinkt und zusammenkommt; das ist sehr wichtig. Dieses Hauskonzept ist ganz anders als das in Häusern der Moderne. Hannah Arendt teilte das Haus in einen privaten und einen öffentlichen Bereich. Der andron liegt dazwischen, gehört aber eher zum öffentlichen Bereich. Sie nennt es „Niemandsland“, ich spreche von der „Schwelle“ zwischen außen und innen. Ich habe nach weiteren Beispielen für diese Theorie in traditionellen Dörfern gesucht, und ich bin sehr beeindruckt von ihren Erkenntnissen. Schwellenräume gibt es im griechischen Haus – und auch in Ihren Projekten. Funktionieren sie in allen Kulturen auf die gleiche Weise und mit demselben System? Ja, es handelt sich um das gleiche System. Im Irak beispielsweise gab es vergleichbare Häuser auf künstlichen Inseln, die dem andron entsprechende Räume besaßen. In Spanien liegen diese Räume im Eingangsbereich und werden respido genannt. In Indien ist das ähnlich. Und in Japan nennen wir den Raum sashiki; es ist der öffentliche Raum, selbst in einem kleinen Haus. Hinsichtlich ihrer Größe, Lage und Ausstattung unterscheiden sich die Räume, aber in Schemata von ihnen zeigt sich, dass es sich um das gleiche Prinzip handelt. Aber in der Gegenwart entstehen sehr ungewöhnliche Wohnungsbauten, wenn man sie mit denen vergleicht, die über Jahrtausende entstanden sind. Hundert Jahre sind jetzt seit Beginn der architektonischen Moderne vergangen, die ein neues System des Wohnens erfand. Das, was vom Bauhaus oder den CIAM entwickelt wurde, ist immer noch das vorherrschende System. Auch heute noch entstehen Projekte, die der Hoch-

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Nakagaon Nakhsa, Nepal, Reisen

hausstadt von Ludwig Hilberseimer von 1924 nahekommen. Natürlich ist der Maßstab anders, aber eigentlich ist es dasselbe System. Jede Familie ist von der benachbarten separiert, es gibt keinen öffentlichen Raum oder Schwellenraum. Nur Raum, der vom Staat kontrolliert ist. Es handelt sich um die heute üblichste Form des Wohnens, die sich sehr von den Wohnformen unterscheidet, die ich in meinen Forschungen vorgefunden habe. Warum entstehen derartige Wohnhäuser? Das hat viel mit dem Nationalstaat zu tun. Wir haben den Nationalstaat in Japan und den europäischen Staaten. Der Nationalstaat basiert auf dem Prinzip der Familien. Die Familie bildet eine starke Einheit und ist wichtiger als das Individuum. In Japan ist die Familie von extremer Bedeutung für den Staat. Es wurde in jüngster Zeit versucht, das Familienprinzip zu bewahren, weil es hilft, das Land zu kontrollieren. In Europa verhält es sich anders. Hier besitzt das unabhängige Individuum eine größere Bedeutung. Wie beurteilen Sie den öffentlichen Raum? Gibt es Unterschiede zwischen Stadt und Dorf, und ist der öffentliche Raum Ihrer Meinung nach über die Jahrhunderte unverändert geblieben? Die Bedeutung des Öffentlichen vor dem 19. und nach dem 20. Jahrhundert unterscheidet sich stark. Öffentlich bedeutet in der Stadt der Moderne, dass der Raum dem Staat gehört. Straßen und Plätze werden vom Staat kontrolliert. Elektrizität und Infrastruktur werden ebenfalls vom Staat bereitgestellt. Die Stadt der Moderne ist ein bürokratisches System. Die Straße wird von einem bürokratischen System kontrolliert. Inwieweit können Architekten zur Veränderung beitragen? Wir können das Verhältnis von öffentlich und privat, das derzeit sehr rigide ist, verändern. Es lässt sich leicht ändern. Wir benötigen die wandelbaren Räume dazwischen: Geschäfte, Boutiquen und Bodegas. Sie sind Teil des öffentlichen Raums und doch privat. In der mittelalterlichen Stadt besaßen alle Häuser kleine Geschäfte

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Yamakawa Villa, Nagano, 1977

Grundriss und Schnitt

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Wohnkomplex Pangyo, Seongnam, Südkorea, 2010

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1F Plan 1/800 Grundrisse

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A - 174 ㎡

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F - 170㎡

C - 208㎡

G - 170 ㎡

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H - 207㎡

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Isometrie

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Wohnkomplex Pangyo

auf Erdgeschossebene. Das ist ein Beispiel dafür, wie eine Interaktion zwischen Öffentlichkeit und Privatheit hergestellt werden kann. Ich möchte solche Situationen schaffen. Welches Ihrer Projekte zeigt Ihre Ideen zur Beziehung zwischen öffentlich und privat am besten? Das Projekt Wohnkomplex Pangyo in Seongnam City, Südkorea, zeigt meine Idee des Schwellenraums, denke ich, recht gut. Es handelt sich um ein sehr offenes Konzept. Jeweils zehn Wohneinheiten teilen sich ein gemeinsames Deck. Von diesem Deck aus betritt man den Eingangsbereich, der sehr transparent und auch vergleichsweise groß ist. Es gibt pro Wohnung drei Geschosse. Der Wohnbereich befindet sich auf Ebene 1, die Schlafzimmer sind in Ebene 3 angeordnet. Dazwischen, auf Ebene 2, liegt der großzügige, verglaste Eingangsbereich, der Schwellenraum. Die Bewohner können ihn nutzen, wie sie wollen. Einige verwenden ihn als kleines Café, andere als Gästezimmer. Sprechen wir über Ihre Art zu entwerfen. Arbeiten Sie mit Modellen, Skizzen, Zeichnungen oder mit Texten? Im Allgemeinen mit Modellen. Wir arbeiten mit unzähligen Modellen für jedes Projekt, wir fertigen Modelle in jedem Maßstab an. Am Anfang stehen kleinmaßstäbliche

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Local Community Area, Projekt, 2012

Modelle, dann solche in 1: 20 oder 1:10. Wir nutzen auch für die Detaillierung Modelle, das ist einfacher als am Computer. Manche Modelle sind tatsächlich im Maßstab 1:1. Uns gefallen besonders die Modelle und Zeichnungen der „Local Community Area“, die Sie mit Studierenden angefertigt haben, mit kleinen Wohneinheiten, Läden, Rampen usw. Arbeiten Sie noch weiter daran? Ich habe ein ähnliches Projekt in Tokio vorgeschlagen, aber die Umsetzung ist sehr schwierig. Warum ist das so schwierig? Wenn man sich in den kleinteilig bebauten Wohn­ vierteln in Tokio umsieht, ist Ihr Vorschlag doch gar nicht so ungewöhnlich. Es handelt sich eigentlich um eine Transformation in eine moderne Form. Das stimmt, aber die Regierung schätzt derartige Räume nicht. Man glaubt, wegen der alten und hölzernen Häuser wären die Räume aufgrund des mangelnden Schutzes gegen Erdbeben gefährlich. Daher werden Betonstrukturen favorisiert. Betonbauten und Hochhäuser stehen heutzutage hoch im Kurs. Welche Reaktionen erhielten Sie auf Ihre Vorschläge? Ich habe an vielen Wettbewerben teilgenommen, und viele Preisrichter stimmten meinen Vorschlägen zu. Aber die anschließenden Diskussionen mit der Verwaltung

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Local Community Area, Modell

sind immer ein Kampf. Gerade verhandeln wir über eine Grundschule, die ich entworfen habe. Die Schulbürokratie möchte die Schüler kontrollieren. Sie wollen eine lange Galerie, um die Schüler immer im Blick zu haben, wie im Gefängnis. Mein Vorschlag geht in eine völlig andere Richtung. In den vergangenen Jahren haben Sie viele Projekte außerhalb Japans realisiert – in China und Korea. Ist es dort einfacher, Ihre Ideen umzusetzen, wenn auch in etwas reduzierter Form? Ich glaube schon. Im heutigen Japan ist es extrem schwer, eine neue Idee einzubringen. Außerhalb Japans ist es einfacher, mit den Bauherren oder der Verwaltung zu diskutieren. Seit dem Jahr 2000, als der Neoliberalismus nach Japan kam, ist alles viel schwieriger geworden. Die Regierung hat ihre Haltung geändert. Der Premierminister und die Minister sind merkwürdige Menschen, sehr konservativ, sehr weit auf der rechten Seite des politischen Spektrums … Sie kritisieren die Regierung sehr deutlich. Ja, in der Tat (er lacht). Hat das mit Ihrem Erleben der 1960er Jahre und den Studentenunruhen zu tun? Auf jeden Fall!

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RIKEN YAMAMOTO Biografie 1945 1968

Geboren in Peking, China Abschluss in Architektur, College of Science and Technology, Nihon University, Tokio 1971 Master-Abschluss in Architektur, Graduate School of Fine Arts, Tokyo National University of Fine Arts and Music Forschungsstudent, Hara Laboratory, Institute of Industrial Science, University of Tokyo 1973 Gründung von Riken Yamamoto & Field Shop 2002–07 Professor, Abteilung für Architektur, Fakultät für industrielle Ingenieurwissenschaften, Kogakuin University, Tokio 2007–11 Professor, Yokohama Graduate School of Architecture 2011 Gastprofessor, School of Engineering Science, Yokohama National University Außerordentlicher Professor, College of Science and Technology, Nihon University, Tokio Wichtige Werke 1977 1986 1988 1991 1992 1996 1999 2000 2006 2010 2014 2017

Yamakawa Villa, Nagano Gazebo House, Kanagawa Wohnkomplex Hamlet, Tokio Wohnkomplex Hotakubo, Kumamoto Haus in Okayama, Okayama Iwadeyama Junior High School, Miyagi Saitama Prefectural University, Saitama Future University of Hakodate, Hokkaido Yokosuka Museum of Art, Kanagawa Wohnkomplex Pangyo, Seongnam, Südkorea Wohnkomplex Seoul Gangnam, Südkorea „The Circle“ am Flughafen Zürich, Schweiz (in Planung)

Veröffentlichungen – Auswahl 1993 1997 2006 2012 2015

Theory of Dwelling, Heibonsha Publishing, Tokio Riken Yamamoto, Kashima Publishing, Tokio Potential of Architecture: Riken Yamamoto’s Imagination, Okokusha Publishing, Matsudo Riken Yamamoto, TOTO Publishing, Tokio The Space of Power and the Power of Space: Designing Between Personal and State Spaces, Kodansha, Tokio

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HIROAKI KIMURA

Individuelle Vorfertigung

Herr Kimura, Sie sind in Osaka aufgewachsen. Gab es eine Beziehung zur Archi­ tektur während Ihrer Kindheit? Weshalb haben Sie sich entschieden, Architektur zu studieren? Ich habe immer gern etwas mit den Händen hergestellt. Aber es gab keinen fa­mi­ liären Hintergrund und auch keine wirkliche Begründung dafür, Architektur zu studieren. Als ich 16 Jahre alt war, begann ich meine Ausbildung an einem College mit Architekturkursen, die sehr technisch ausgerichtet waren. Es dauerte fünf Jahre, die Grundlagen der Architektur zu lernen, bei meinem Abschluss war ich 21. Von großem Einfluss war für mich die Expo ’70 in Osaka. Ich arbeitete in einem Kiosk am Expo-Bahnhof, daher habe ich die Ausstellung viele Male besucht. Zu Beginn kannte ich Archigram nicht, aber ich habe mir ihre Installation angesehen. Die Kapseln in Kenzo Tanges gewaltigem Dach der Festival Plaza waren wirklich beeindruckend. Sie kennen sicher den „Tower of the Sun“ von Taro Okamoto. Die Ausstellung im Inneren zeigte die Entwicklungsgeschichte der Menschheit entlang einer spiralförmigen Rolltreppe, die vom Fuße des Turmes nach oben führte. Es gab auch Rolltreppen in den Armen der Figur, und am Ende sah man hinunter auf die Kapseln von Archigram und anderen. Wie ging es nach Ihrem Studienabschluss 1973 weiter? Ich arbeitete ich in einem Architekturbüro und erwartete, dass ich dort weiter lernen würde, aber es war nur Arbeit. Als ich 24 Jahre alt war, reiste ich durch Europa. Nach vier Monaten kehrte ich nach Japan zurück, arbeitete weiter, stellte aber bald fest, dass ich nichts lernte und noch einmal studieren wollte. Ich schaute mir Bücher und Zeitschriften wie Japan Architect an und wollte wirklich Architekt werden. Daher besuchte ich die Mackintosh School of Architecture in Glasgow. Warum entschieden Sie sich dafür, nach Europa zu reisen und dann auch dort zu studieren? Die USA, China oder Indien hätten auch Ziele sein können … Nach China oder Indien zu gehen kam für mich damals nicht infrage. Amerika war eine Möglichkeit, aber es ist ein sehr großes und weitläufiges Land; die Struktur der Städte unterscheidet sich stark von der in Japan. Bei meinen Reisen durch Europa erlebte ich, dass der Maßstab der Städte eher vergleichbar ist mit dem der japanischen Städte, da es dort ebenfalls eine alte Tradition gibt. Wieso entschieden Sie sich speziell für Glasgow und die Mackintosh School of Architecture? Ich schrieb Briefe an die Architectural Association, das London Polytechnic und nach Glasgow mit einem Motivationsschreiben und einem Konzept für mein Auslands-

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studium. Die Briefe, die aus London zurückkamen, enthielten Formulare. Aber die Antwort aus Glasgow enthielt darüber hinaus auch einen persönlichen Brief mit freundlichen Worten. Daher entschied ich mich, nach Glasgow zu gehen. Wer waren Ihre Professoren, und was waren Themen Ihres Studiums in Glasgow? Einer meiner Professoren war Anthony G. Vogt. In Japan galt ich aufgrund meiner Arbeitserfahrung nach meinem Abschluss schon als Architekt. Daher wurde ich in Glasgow als Architekt eingestuft und dem Masterkurs zugewiesen, in dem es mehr um Forschung und nicht um Entwurf ging. Anthony fragte mich, womit ich mich beschäftigen wollte, und ich dachte, ich würde mich zunächst etwas mit Charles Rennie Mackintosh befassen und dann entwerfen. Aber Anthony meinte, ich solle mich ganz auf Mackintosh konzentrieren. Das war der Beginn meiner Dissertation. Sie haben also das Entwerfen nicht an der Hochschule gelernt? Während meiner Forschungstätigkeit nicht, aber ich unterhielt mich mit anderen Studierenden über Entwurfsthemen und wir diskutierten viel über Architektur. Außerdem begann ich, Japan aufgrund der Perspektive von außen besser zu verstehen. Ich hatte eine Reihe von Freunden in Japan, und wir hatten großen Einfluss aufeinander. Außerhalb von Japan musste ich meine eigene Position finden und sah die Dinge nun anders. Vor meinem Auslandsaufenthalt dachte ich, Japan und Europa seien hinsichtlich ihrer Sichtweisen unterschiedlich. Natürlich waren und sind sie es, aber nicht, wenn es um die Qualität von Architektur geht.

Steel Truss, Nara, 2009

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Als ich in Japan lebte, konnte ich noch nicht zwischen guter und schlechter Architek­ tur unterscheiden. Ich glaube, dass jeder Studierende dieses Problem hat. In Europa stellte ich in Gesprächen fest, dass meine Ideen nicht schlecht waren. Und so kehrte ich mit größerem Selbstvertrauen nach Japan zurück. Nach der Rückkehr aus Europa gründeten Sie 1983 Ihr eigenes Büro. In den 1970er und 80er Jahren gab es bemerkenswerte Entwicklungen in der japanischen Archi­ tektur. Woran waren Sie interessiert? In den 1970ern ereignete sich eine Wende in der japanischen Architektur. Nach den Vertretern der Moderne wie Kunio Maekawa, Kenzo Tange oder Kiyonori Kikutake trat die nächste Generation auf den Plan, beispielsweise Toyo Ito, Osamu Ishiyama, Monta Mozuna oder Tadao Ando. Sie waren damals in Japan sehr bekannt und um die 40 Jahre alt. Ich war um die 30 und natürlich beobachtete ich, wie sie sich mit Architektur auseinandersetzten. Was denken Sie zu den sehr unterschiedlichen Entwurfsansätzen von Ito, Mozuna, Ando oder Ishiyama? Nachdem die Spätmoderne sich verändert hatte und vielleicht sogar um 1970 an ihr Ende gekommen war, lautete die entscheidende Frage: Was ist Architektur? Ito, Ishiyama und Mozuna beschäftigten sich mit den Grundlagen der Architektur. So sagte Ito beispielsweise, Architektur entspreche dem menschlichen Körper, dessen dünne Oberfläche, die Haut, innen von außen trennt. Ishiyama meinte, die wahre Architektur sei nicht von Architekten entworfen, etwa so wie ein Nest. Architektur sei etwas Ursprüngliches, das grundlegende Emotionen und Funktionen befriedigen soll und aus einfachen Materialien aus der unmittelbaren Umgebung gemacht ist. Mozuna dachte mehr über den Kosmos nach und verfolgte einen eher mystischen und spirituellen Ansatz. Er war überzeugt, dass der Ursprung der Architektur mit der Mystik zu tun habe. Und in der Region Kansai begann Tadao Ando mit seinen Projekten. Wir kannten Andos Arbeiten gut. Ihr Kennzeichen waren einfache Betonbauten – und sie wurden gewissermaßen Mode. Es kam dann auch die Zeit der Postmoderne und des Dekonstruktivismus. Haben Sie diese Tendenzen interessiert? Etwa in dieser Zeit trat Frank O. Gehry auf die Bildfläche, und es gab den Dekon­ struktivismus mit Bernard Tschumi als zentraler Figur. Meine Generation war mehr an Gehry und Tschumi, also am Dekonstruktivismus, als an der klassischen Postmoderne interessiert. Damals hatten Sie Interesse an Ishiyama und Ito sowie an Tschumi und dem Dekonstruktivismus. Warum waren Sie daran interessiert? Für mich bedeutete das Freiheit. Während des Studiums ging es nur um die Moderne. Alles hatte seine Ordnung, alles war perfekt. Postmoderne und Dekon­ struktivismus sind dazu ein Gegenmodell. Beispielsweise: Eine Hauptfassade ist eine Hauptfassade, und eine Rückseite ist eben nur eine Rückseite. Wenn man ein Holzgebäude entwirft, warum soll es nicht aussehen wie aus Beton? Freiheit ist das zentrale Thema, Freiheit für die Architektur. Dieses Aufweiten des Horizonts war wichtig für uns. Alles ist möglich! Das war mein Ausgangspunkt, als ich aus England zurückkam und 1983 mein Büro gründete.

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Docomo Shop Hikone, Shiga, 2007

Aber in den frühen 1990er Jahren veränderte sich Ihre Architektur … Zu Beginn verwendete ich ganz unterschiedliche Materialien, nicht nur Stahl oder Beton. Manche Materialien fand ich in der Stadt, beispielsweise Plakatwände oder noch billigere oder provisorischere Materialien. In Europa werden Bauten dauerhaft errichtet. In Japan ist das anders. Nach ungefähr 30 Jahren verschwinden sie wieder. Auch die Stadt verändert sich kontinuierlich. Das war ein Gedanke, der auch meine Architektur prägte. Doch dann veränderte ich meine Haltung. Meine Architektur wurde dauerhafter und war nicht mehr temporär gedacht. In dieser Zeit, und besonders in der japanischen Architektur, begann der Einfluss des Dekonstruktivismus zu schwinden, die Architektur wurde ruhiger. Was war Ihrer Meinung nach der Grund dafür? Wahrscheinlich wurden die Zeiten konservativer. Ich wurde konservativer und interessierte mich mehr für das Wesen der Architektur. Vorher nutzte ich dünne Metallbleche von 2,6 Millimetern Stärke, die billig waren und sich leicht biegen ließen. Nun verwendete ich solche von 9 Millimetern Stärke, die sich zwar kaum biegen ließen, dafür aber stabil waren. Meine Architektur wurde ruhiger, auch durch die Art, wie ich mit stabileren Materialien konstruiert habe. Nehmen wir eines Ihrer Projekte als Beispiel. Bei Ihrem Teehaus arbeiteten Sie mit einer stabilen Stahlstruktur. Das Teehaus könnte überall produziert werden, es ist einfach herzustellen und eine Art Produkt. Es wurde aus Stahlplatten hergestellt, es hat keine Stützen. Das Teehaus ist gerade einmal zwei Tatami-Matten groß und kam in zwei Teilen auf die Baustelle, die vor Ort zusammengeschweißt wurden. In gewisser Weise wirkt es groß, obwohl es eigentlich klein ist. Am höchsten Punkt ist es gerade einmal 170 Zentimeter hoch, aber es sieht größer aus.

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Steel sheet-Teehaus und Bauernhaus, Osaka, 2004

Beim Teehaus arbeiten Sie auch mit Bezügen zur Geschichte der japanischen Architektur. Wann erwachte Ihr Interesse für historische japanische Architektur? Als ich 30 Jahre alt war, interessierte ich mich nicht besonders für historische japanische Architektur, Dachformen oder für die Tradition der japanischen Kultur. Das änderte sich ungefähr mit dem 40. Lebensjahr. Wir haben hier Glück: Anders als die Architekten in Tokio haben wir Kioto und Nara in unmittelbarer Nähe und wir können uns historische Gebäude und Gärten ansehen. Man kann deren Atmosphäre und Maßstäblichkeit spüren. Langsam begann ich mich dafür zu interessieren, während ich vorher stärker auf die westliche Architektur fokussiert war. Außerdem erwachte mein Interesse an Togo Murano, einem Architekten, der sich seit den 1930er Jahren mit moderner und historischer japanischer Architektur beschäftigte. Er hat ziemlich viel in Osaka und der Kansai-Region gebaut. Ich habe viele Bücher über Togo Murano gelesen, habe Proportionen und Maßstäbe in seinen Zeichnungen studiert und davon viel für meine eigenen Bauten lernen können. Wie verlief der Entwurfsprozess beim Teehaus? Bevor ich ein Haus entwerfe, suche ich den Ort auf, an dem es stehen soll, vorher mache ich mir keine Gedanken darüber. Die ersten Ideen entwickle ich also erst nach dem ersten Besuch des Ortes. Gerade beim Teehaus ging es stark um den Ort. Ich sah mir den Garten an und fragte mich, wie man das Teehaus so weit wie

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Explosionszeichnung

möglich zum Garten hin öffnen könnte. Am Anfang beschäftigte ich mich eher mit dem Raum für die Teezeremonie und dem Ort, dann wurden Fragen zu Offenheit und Geschlossenheit wichtiger. In welchem Maße bezieht sich der Entwurf des Teehauses auf die Teezeremonie? Ich wusste zunächst nicht besonders viel über die Teezeremonie. Zunächst stellte ich das Teehaus an die äußerste Ecke des Grundstücks. Jenseits der Parzelle sieht die Gegend nicht besonders erfreulich aus, daher nutzte ich das Teehaus wie eine Wand, um die Sicht zu blockieren. Die Fenster sind zum Garten hin orientiert, so dass die andere Seite weder vom Haus noch vom Teehaus aus sichtbar ist. Es gibt einen kleinen Eingang und noch eine andere Tür sowie einen Wartebereich. Üblicherweise müssen die Gäste zunächst warten, bis der Teemeister sie aufruft und sie hineingehen dürfen. Aber man benutzt nicht die normale Tür, sondern die kleine. Wenn man Tee trinkt, sind die Fenster geschlossen und es wird nicht gesprochen. Nach dem Trinken werden die Fenster geöffnet, man kann sprechen, lachen und sich entspannen. So verändert sich die Atmosphäre im Raum mit den unterschiedlichen Teilen der Teezeremonie. Inwiefern beziehen sich Ihre Gebäude und Ihre Architektur auf die historische japanische Architektur?

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Steel sheet-Teehaus, Schnitte

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Tower House, Shiga, 2006

Es gibt die Tradition exzellenter Handwerker für jegliches Material in Japan. Mit ihnen zu sprechen ist außerordentlich interessant und lehrreich. Auch die Atmosphäre der Gebäude steht in Beziehung zur japanischen Kultur. Es geht dabei um die subtile Detaillierung. Wenn ich ein Haus entwerfe, verzichte ich meistens auf shoji und Holzkonstruktionen, aber ich verwende beispielsweise Schiebetüren. Ich beschäftige mich auch mit der Beziehung zwischen innen und außen – damit, wie man Schwellen zwischen dem Inneren und dem Äußeren definiert. So setze ich beispielsweise Auskragungen ein, um den Raum darunter als etwas zwischen innen und außen zu definieren. Das steht in der Tradition des japanischen engawa, ist aber gewissermaßen westlich interpretiert. Verschiedene Einflüsse kommen zusammen, und doch handelt es sich um etwas, das man aus der japanischen Tradition kennt. Sie arbeiten vermutlich mit Modellen und Skizzen? Selbstverständlich. Ich fertige Zeichnungen sowie dreidimensionale Renderings an, aber das bleibt sehr abstrakt, wenig real, daher baue ich auch Modelle. Während

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der Bauphase kontrolliere ich alles immer wieder vor Ort bis zur Fertigstellung, falls noch Änderungen notwendig werden. Das heißt, Sie verändern den Entwurf noch während der Ausführung? Manchmal schon. Natürlich zerstöre ich nichts, das bereits fertig ist. Aber ich bin auf der Baustelle, überprüfe und wenn etwas geändert werden muss, dann wird es geändert. Etwas im Maßstab 1:1 zu überprüfen, ist das Beste, was denkbar ist. Wenn ich zum Beispiel der Meinung bin, dass ein Fenster zu klein ist, dann wird es größer gemacht. Das Teehaus war ein ganz kleines Gebäude, daher konnte ich alles kontrollieren. Wie verlief die Entwicklung Ihrer Stahlhäuser? Man kann Stahl auf konventionelle Weise einsetzen, als Stützen und Träger, aber Sie verwenden ihn als Platten. Warum? Anfangs interessierte es mich mehr, Stahl als Skelettbaustruktur zu verwenden mit einer metallischen Haut als Hülle. In der Kansai-Region hat Material eine hohe Bedeutung. Die Menschen in Tokio sind mehr am Konzept interessiert. In Kioto und Osaka ist das Material wichtig, die Leute akzeptieren einfach keine billigen Gebäude. Daher habe ich die Stahlverkleidung mit mehr Stärke ausgeführt, der Stahl wird so signifikanter. Man kann ihn nicht knicken und ihn nur mit großer Mühe perforieren. Man bekommt eine bessere Qualität, wenn man stärkeren Stahl als Haut für ein Gebäude benutzt. Ich begann mit Stahl in 2,6 Millimetern Stärke. Nun verwende ich Stahlplatten von 9 Millimetern Stärke, die auch statisch wirksam sind. Sie lassen sich zu einer tragfähigen Monocoque-Struktur verarbeiten. Schon immer wurde in der Architektur mit Stützen und Trägern gearbeitet. Aber im Industriezeitalter entstand für Schiffe und Autos ein neues System, das MonocoqueStrukturen verwendete. Warum sollte man es nicht auch für die Architektur verwenden? Architektur ist größer als ein Auto, gewiss, aber die Technik ist heute besser geworden und lässt sich daher leichter anwenden. Meines Erachtens besitzt Stahl eine große Zukunft. Es gibt Weiterentwicklungen in jeder Hinsicht. Auch die Beschichtungen werden besser – Autos etwa haben heute keine Roststellen mehr. Wie denken Sie über Präfabrikation, Standardisierung und Individualisierung? Natürlich werden die Metallteile in der Fabrik hergestellt und nicht auf der Baustelle. Sie sind also ein präfabriziertes Produkt. Da sie auf die Baustelle gebracht werden müssen, ist ihre Maximalgröße durch die Dimensionen der Ladefläche eines Lastwagens bestimmt. Außerdem muss man über Schnittkanten und Verbindungen nachdenken. Die Idee der Präfabrikation spielt also eine große Rolle. Aber Architektur muss immer individuell und ortsspezifisch sein. Auch wenn ich Präfabrikation nutze, geht es mir doch darum, individuelle Gebäude zu schaffen. Wenn man Mackintoshs Bauten ansieht, fällt auf, dass sie extrem individuell sind; Mackintosh entwarf nahezu alles, von der Architektur über das Interieur bis hin zum einzelnen Möbelstück. So sollte Architektur sein: speziell entworfen für jeden Ort und jedes Gebäude. In welcher Hinsicht haben Ihre Studien über Mackintosh und die Arts-and-CraftsBewegung Ihr Entwurfsverständnis beeinflusst?

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Kyoto Institute of Technology 60th Anniversary Hall, Kioto, 2010

In der Arts-and-Crafts-Bewegung war alles individuell. Heute wird alles in der Fabrik hergestellt. Fenster werden als Fertigprodukte zur Baustelle geliefert. Wer stellt sie her? Wir haben keine Ahnung. Aber Mackintosh oder später Aalto entwarfen alles selbst. Alles, was sie entwarfen, war individuell, sie entwarfen auch die Möbel und die Leuchten. Diese Sorgfalt macht die Bauten zu Mackintosh- oder Aalto-Bauten, sie erst lässt die typischen Raumatmosphären entstehen. Heute vergessen Architekten diesen Zusammenhang. Alles ist vorgefertigt und wird nur noch zusammengefügt; die individuelle Atmosphäre ist verloren gegangen. Wäre es besser, wenn alles handwerklich hergestellt wäre? Es muss nicht alles handwerklich hergestellt werden, aber die Gebäude sollten individuell sein. Man kann Fertigprodukte verwenden, aber man sollte die Potenziale der Architektur nutzen, um das Gebäude individuell zu machen und eine spezielle räumliche Qualität zu schaffen. Je mehr in der Fabrik hergestellte Elemente man benutzt, desto unpersönlicher wird es. Das Ziel ist nicht unbedingt, es wie Mackintosh zu machen, der alles individuell handwerklich anfertigte – das ist natürlich heute nicht mehr möglich. Aber ich versuche, dem so nahe wie möglich zu kommen. Haben Sie für das Teehaus Fertigprodukte verwendet? Nein, alles wurde speziell für das Gebäude angefertigt. Also sind Sie dem Mackintosh­Ideal sehr nahe gekommen! Ja, in der Tat.

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Lassen Sie uns über die wechselseitigen Einflüsse zu verschiedenen Zeiten spre­ chen. Mackintosh war von Japan beeinflusst, und zur gleichen Zeit gab es euro­ päische Einflüsse in Japan. Wie verhält es sich heute? Durch das Internet scheinen wir heute alle zur gleichen Zeit auf alles blicken zu können. Es gibt keine speziellen Einflüsse einer ganz bestimmten Region, weil Informationen aus mehr oder weniger jeder Region gleichzeitig kommen. Man sieht sich ständig interessante Architektur an und es ist unmöglich, dominante Einflüsse zu benennen, denn es gibt so viele gleichzeitig! Wir sind dadurch näher gerückt. Im 19. Jahrhundert war das komplett anders. Man wollte speziell voneinander wissen und beeinflusste sich dadurch in stärkerem Maße. Sie denken, die wechselseitigen Einflüsse sind heute nicht so stark wie im 19. Jahrhundert, auch wenn man bessere Voraussetzungen und technische Möglich­ keiten hat? Ja. Damals beeinflussten sich einige wenige Architekten gegenseitig. Heute beeinflussen wir uns nicht gegenseitig, sondern wir denken zusammen, um herauszufinden, was interessant ist. Wir sprechen miteinander und versuchen gemeinsam, die Zukunft der Architektur zu bestimmen. Es geht also nicht mehr um Einflüsse, sondern um das gemeinsame Denken und Arbeiten in einer internationalen Gemeinschaft. Es ist viel einfacher geworden zu reisen und miteinander in Kontakt zu treten. Was sind die heutigen Herausforderungen für Architekten? Als ich 30 Jahre alt war, versuchte ich, die Komplexität der Stadt zu erkunden und aufzusaugen, um etwas zu schaffen. Das macht auch heute noch den Architekten

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aus. Die Gesellschaft benötigt Architekten und ihre Ideen. Der Zustand der Gesellschaft treibt die Architekten an, etwas Neues zu entwerfen. Und wie lässt sich entscheiden, ob neue Architektur auch gute Architektur ist? Indem man sich auf seinen Eindruck verlässt. Gehen Sie hin, sehen Sie sich die Architektur an, spüren Sie die Atmosphäre, achten Sie auf Proportion, Materialisierung und Details. Dann sind Sie zu einem Urteil fähig.

Kobe Shinsei Baptist Church, Kobe, 2005

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HIROAKI KIMURA Biografie 1952 1973 1979 1982 1983 1986 1997 2000 2006 2015

Geboren in Osaka Abschluss in Architektur, Osaka Technical College Mackintosh School of Architecture, Glasgow Art School und Glasgow University, Großbritannien Dissertation über Charles Rennie Mackintosh Gründung Ks Architects, Osaka Gründung Hiroaki Kimura + Ks Architects Associate Professor, Abteilung für Umweltgestaltung, Kobe Design University Professor, Abteilung für Architektur und Umweltgestaltung, Kobe Design University Professor, Abteilung für Architektur und Design, Kyoto Institute of Technology FRIAS Fellow, The Royal Incorporation of Architects in Scotland

Wichtige Werke 1987 1990 1991 1995 2000 2004 2005 2006 2007 2009 2010 2011 2013 2015

Toki No Fune (Waldgebäude), Osaka Toki No Meikyu (Haus des Labyrinths), Hyogo Gemeindezentrum der Common City Hoshida, Osaka 3 in 1 House, Präfektur Hyogo Ta House, Präfektur Hyogo Mo House, Kobe Steel sheet-Teehaus und Bauernhaus, Osaka Kobe Shinsei Baptist Church, Kobe Tower House, Präfektur Shiga Docomo Shop Hikone, Shiga Steel Truss, Präfektur Nara Kyoto Institute of Technology 60th Anniversary Hall, Kioto Steel Wall, Kobe Machiya of Arts & Crafts House, Hyogo Kyudo Clubhaus, Shiga University, Shiga

Veröffentlichungen – Auswahl 1982 1986 1992 1993 1998 2002 2007 2008 2009

Doktorarbeit: Charles Rennie Mackintosh, Architectural Drawing Catalogue & Analytical Design Catalogue, Mackintosh School of Architecture, Glasgow Charles Rennie Mackintosh (Process architecture 50), Tokio Co-Autor: New Style of Houses. Charles Rennie Mackintosh, KBI-Shuppan, Kioto Co-Autor: Europe – Beginning and End, Ausstellungskatalog, Japan Art Culture Association, Tokio Charles Rennie Mackintosh, Ausstellungskatalog, Hida-Takayama-Kunstmuseum, Nagano Steel Sheet House, Amus Arts Press, Osaka The World of Mackintosh, Heibonsha, Tokio Vivid Technology, Gakugei Shuppansha, Kioto Co-Autor: Japan Living, Tuttle Publishing, Tokio/Rutland Co-Autor: Steel Structure Houses in Detail (The Japan Architect 75), Tokio

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MAKOTO SEI WATANABE

Lebendige Natur und Science-Fiction

Herr Watanabe, Sie wurden in Yokohama geboren und begannen dort auch mit dem Architekturstudium. Warum haben Sie sich für Architektur entschieden? Ich konnte mir vorstellen, Architekt oder Biologe zu werden. Ich interessierte mich sehr für Biologie, aber mein Biologielehrer auf dem Gymnasium sagte mir, man könne damit nicht genug Geld zum Leben verdienen; es war die Zeit, bevor Ökologie ein Thema wurde. Mehr noch als für Biologie interessierte ich mich für Bionik, aber Bionik existierte als Studienfach zu der Zeit noch nicht einmal. Es war schlicht zu früh. Weil ich gern zeichnete, studierte ich in meiner Heimatstadt Yokohama Architektur – für mich eine Kombination von Kunst und Wissenschaft. Meine Leidenschaft für die Biologie hat mich aber seither stets begleitet. Sie ist wohl auch der Grund dafür, dass ich mit Induction Design begann, einer durch Computerprogramme generierten Architektur. Es handelt sich dabei um den Versuch, Algorithmen zu finden, die in der Natur vorkommen und die sich in das Computerprogramm übertragen lassen, so dass bessere Entwürfe entstehen können. Wer waren Ihre Professoren an der Universität? Zu dieser Zeit unterrichteten keine besonders prominenten Professoren in Yokohama. Aber eine Person möchte ich nennen, Koichi Nagashima. Er war gerade von der Harvard Graduate School of Design nach Japan zurückgekommen, wo er Büroleiter von Fumihiko Maki wurde. Er war sehr offen und aufgeschlossen. Immer wenn ich Entwürfe abgeschlossen hatte, die ich für gut hielt, stießen diese bei den konservativen Professoren auf Ablehnung. Sie behaupteten, meine Entwürfe seien keine Architektur, aber Nagashima sagte, sie seien exzellent und großartig. Er ermutigte mich; das war für mich extrem wichtig. Jetzt, da ich selbst Professor bin, suche auch ich nach den verborgenen Talenten der Studierenden und ermutige sie. War der Entwurf ein Schwerpunkt in Ihrer universitären Ausbildung? Generell stand der Entwurf an den japanischen Architekturfakultäten seinerzeit nicht im Zentrum. Es gab eine Unmenge an Professoren für Forschung, Theorie, Tragwerksplanung usw. In Yokohama war beispielsweise die Anzahl der Tragwerksplaner sehr groß, weil die Architekturabteilung zur Fakultät für Technologie gehörte. In Japan stammen viele Architekturfakultäten von den technischen Wissenschaften ab, nur wenige sind an Kunsthochschulen angesiedelt. Aber es gibt auch ein positives Resultat dieses Sachverhalts: Japanische Architekten können gleichermaßen entwerfen wie konstruieren. Das ist vielleicht einer der Gründe, warum das Qualitätsniveau der japanischen Architektur sehr gut ist.

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Für welchen Architekten oder welche Architektur haben Sie sich während des Studiums interessiert? Wer hat Sie inspiriert? Ich war fasziniert von Arata Isozaki, weil er wie ein Außenseiter und Erneuerer der Architektur wirkte. Ich mochte seine frühen Arbeiten, und daher habe ich nach dem Studium in seinem Büro gearbeitet. Später gehörte er zum Mainstream, aber damals suchte er nach neuen Wegen, er brachte Architektur in Verbindung mit Kunst, Film, Literatur und Politik. Ich glaube, dass Architektur sich in diese Richtung entwickeln sollte. Meine Vision ist es, Architektur aus möglichst vielen unterschiedlichen Perspektiven wahrzunehmen. Gingen Sie unmittelbar nach dem Diplom zu Arata Isozaki? Vor dem Ende meines Studiums war die ökonomische Situation in Japan sehr gut. Aber 1976 griff die Ölkrise plötzlich auf Japan über. Die großen Architekturfirmen stellten keine Leute mehr ein. Ich ging zum Büro von Isozaki und traf ihn. Er sagte mir: „Ich kann niemanden einstellen, sehen Sie sich um im Büro, alle Mitarbeiter lesen Bücher.“ So arbeitete ich für ein anderes Architekturbüro, das des Metabolisten Masato Otaka, in dem ich drei Jahre blieb. Aber ich konnte Isozaki nicht vergessen und schickte ihm schließlich ein Päckchen mit den Skizzen, die ich während der drei Jahre angefertigt hatte. Das Päckchen kam umgehend zurück, und ich dachte, er wollte mich nicht. Aber als ich das Päckchen öffnete, fand ich einen Brief mit der Einladung, in seinem Büro zu arbeiten. Und so begann ich bei ihm. Da er gerade seinen ersten großen Wettbewerb für das „Tsukuba Civic Center“ gewonnen hatte, brauchte er neue Mitarbeiter. Insgesamt arbeitete ich fünf Jahre im Büro von Isozaki an diesem Projekt – von den ersten Entwürfen über die Bauleitung bis hin zur Fertigstellung und den anschließenden Veröffentlichungen. Was war der Anlass für Sie, Ihr eigenes Büro zu gründen? Hatten Sie einen eige­ nen Auftrag – oder war es eher das Gefühl, lange genug bei Isozaki gearbeitet zu haben und etwas Eigenes versuchen zu wollen? Ich habe die Fertigstellung des „Tsukuba Civic Center“ wie ein zweites Diplom empfunden. Es war danach wirklich an der Zeit, selbst etwas auf die Beine zu stellen. Zufällig erhielt ich dann auch einen Auftrag, aber als das Büro Fahrt hätte aufnehmen können, brach der Auftrag weg, und ich geriet aus der Spur. Ich wechselte zur Innenarchitektur, entwarf einen Club in Aoyama, Projekte für das Unternehmen Toto und Ähnliches. Eines Tages stieß ich in einer Zeitschrift auf die Ausschreibung eines internationalen Wettbewerbs für das „Aoyama Technical College“. Weil die Abgabe sechs Tage später war, musste ich den Entwurf innerhalb von fünf Tagen entwickeln. Das „Ao­yama Technical College“ ist mein erster ausgeführter Bau und wurde 1990 ­fertiggestellt. Beim „Aoyama Technical College“ handelt es sich um ein ungewöhnliches, sehr expressives Gebäude. Wie verhält sich das Gebäude zu den großen Tendenzen der Architektur jener Zeit, der Postmoderne, dem Dekonstruktivismus und zu historischen Referenzen? Ich glaube nicht, dass diese Tendenzen mich stark beeinflusst haben. Dass ich als Zeitgenosse unbewusst davon geprägt worden bin, will ich aber nicht ausschließen.

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U­Bahn­Station Iidabashi, Tokio, 2000

Natürlich hat mich Isozaki beeinflusst; das für mich entscheidende Charakteristikum von ihm war seine Art, Architektur aus völlig unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten. Wenn es um historische Referenzen geht, so verweisen Architekten meiner und auch der jüngeren Generation häufig auf Le Corbusier. Isozaki behauptet, dass die historische europäische Architektur eine seiner Grundlagen ist. Für mich gilt das aber nicht. Natürlich schätze ich die historische europäische Architektur, natürlich steht für mich die Bedeutung von Le Corbusiers Konzepten und Entwürfen außer Frage, aber als Architekt bin ich nicht besonders beeinflusst von dieser Art von – sagen wir: Standardreferenzen. Die lebendige Natur und die Wolken, Kristalle, aber auch Science-Fiction inspirieren mich mehr. Welche Art von Science­Fiction? Seit kurzem fasziniert mich Ted Chiang, ein chinesisch-amerikanischer Autor. Oder Ken Liu, auch er ist Sinoamerikaner. Bekanntere Beispiele sind natürlich Filme wie A Space Odyssey oder Blade Runner, weil sie das ikonische Bild der Zukunft und der Stadt zeigen, wie es in der jeweiligen Ära imaginiert wurde. Sie nutzen kaum architektonische Referenzen als Grundlage Ihrer Entwürfe. Inwieweit beschäftigen Sie sich mit zeitgenössischen Tendenzen in der Architek­ tur, und wie schätzen Sie die Entwicklung der japanischen Architektur ein? Nach der Postmoderne und dem Dekonstruktivismus ist der Minimalismus zurückgekehrt – mit Toyo Ito, Kazuyo Sejima … Ich schätze ihre Arbeit, sie sind selbstverständlich unterschiedlich, aber sie haben auch viel gemeinsam, beispielsweise die Liebe zu klaren Formen. Ito und Sejima sind zum Teil aufgeschlossen, aber ihr

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Schnitt

Vokabular erscheint mir ein wenig beschränkt. Generell ist das Spektrum architektonischer Positionen in Japan recht eng. Haben Sie eine Begründung für diese Entwicklung? Ich glaube nicht, dass es sich um eine neue Entwicklung handelt. Selbst wenn Vielfalt da zu sein scheint, ist die Basis eng begrenzt. Japan besitzt eine gemeinsame Basis oder Kultur. In dieser wurzeln Ito oder auch Ando. Hinsichtlich ihrer Form und Materialität sehen ihre Bauten unterschiedlich aus, doch aus einer anderen Perspektive betrachtet haben sie die gleiche Haltung, auch wenn sie dem wohl nicht zustimmen würden. Ihre Basis ist die gleiche, und sie ist verbunden mit der japanischen Tradition. Diese traditionelle Ausrichtung überlagert jeden Trend, jede Mode und jeden „Ismus“ beim Entwurf. Meiner Meinung nach besteht die Essenz der historischen Holzarchitektur Japans, wie wir sie von den Shinto-Schreinen kennen, in der Einfachheit. Hashi, die japanischen Essstäbchen, sind ein anderes gutes Beispiel. Messer und Gabel haben verschiedene Formen, weil sie verschiedenen Zwecken dienen. Japaner kennen diese Werkzeuge, aber sie nutzen sie selten zu Hause. Sie nutzen lieber ein simples Paar von Stäbchen für alle Zwecke. Zum Zertrennen von Fleisch ist ein Messer besser geeignet als ein Essstäbchen. Aber Japaner präferieren hashi – aber warum? Ein Grund ist, dass Wagyu Beef sehr zart ist. Der eigentliche Grund besteht darin, dass Japaner nicht gern Schwert und Spieß am Tisch gebrauchen. Hashi sind funktional und auch zweckorientiert, wild, aber nicht elegant. Japaner bevorzugen abstrakte Objekte für unterschiedliche Funktionen. Anstatt ein Werkzeug zu nutzen, das für einen speziellen Zweck geeignet ist, bean­spru­ chen sie für sich die Fähigkeit, Universalwerkzeuge für jeden Zweck zu gebrauchen.

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U-Bahn-Station Iidabashi, Explosionszeichnung

Aoyama Technical College, Tokio, 1990

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Aoyama Technical College

Einfachheit ist weiterhin die Basis der japanischen Kultur. Oberflächlich betrachtet scheint sie weit gefächert zu sein und viele Differenzen sowie Vielfalt zuzulassen. Doch die Basis ist sehr schlicht. War das „Aoyama Technical College“ eine Art Kampfansage an diese Art von Einfachheit der japanischen Tradition? War es eine Provokation? Ja, es war ein Statement gegen allgemeine Trends. Ich wollte nicht den gleichen Weg einschlagen. Ich wollte nicht Teil dieser Welle sein, die sich in schöner Regelmäßigkeit erneuert. Es ist meine persönliche Kritik. Wie gesagt ist die Einfachheit ein Charakterzug Japans. Aber gleichzeitig besitzen die Japaner auch einen anderen Charakter. Wir sehen ihn in den Städten des Landes. Viele japanische Städte sehen ziemlich chaotisch aus, aber sie funktionieren gut, sind sauber und sicher. Und sie sind lebendig und aufregend. Sie werden nicht von strikten Regeln bestimmt, sondern sind durch viele individuelle Beziehungen im kleinsten Maßstab organisiert. Diese Charakteristik möchte ich für den Entwurf nutzbar machen. Das „Aoyama Technical College“ war der erste Versuch in diesem Sinne, damals noch ganz analog entworfen. Dann begann ich, Algorithmen in den Städten und in der Natur zu entdecken und sie in Computerprogramme zu übertragen. So kam es zu Induction Design und Algorithmic Design.

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Ansicht

Wie gelang es Ihnen, den Wettbewerb für das „Aoyama Technical College“ zu gewinnen? Wer saß in der Jury? Riken Yamamoto, ein weiterer Architekt, der Bauherr und noch eine Person bildeten die Jury. Ich denke, dass sich Riken Yamamoto für meinen Wettbewerbsbeitrag stark machte, aber auch der Bauherr. Er mochte japanische Science-Fiction-Filme, so konnte er leicht zustimmen. Sie waren der glückliche Gewinner. Wussten Sie schon vor dem Wettbewerb, dass der Bauherr Science-Fiction-Filme mochte? Nein, das wusste ich nicht. Ich gehe normalerweise auch nicht mit einer Strategie an einen Wettbewerb. Ich mache das, wovon ich überzeugt bin. Auf die gleiche Weise gewann ich später einen Wettbewerb für die U-Bahn-Station Iidabashi. Auch dort dachte ich nicht an die Jury, sondern ich machte etwas, von dem ich glaubte, dass es gut sei. Und ich gewann den Wettbewerb mit meinem Entwurf. Haben Sie sich dazu entschieden, nur ein kleines Architekturbüro zu führen und nicht allzu viel zu bauen? Ich möchte kein großes Büro organisieren, weil ich es bevorzuge, alles selbst zu machen. Ich möchte mich auf mein Werk konzentrieren und möglichst alles selbst bestimmen: das Grundkonzept, die Ausführung, alle Details. Wenn man ein gut

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K­Museum, Tokio, 1996

eingespieltes Team hat, kann man auch mit einem kleinen Büro große Projekte stemmen. Der Kern sollte klein bleiben. In den 1990er Jahren begannen Sie mit den Potenzialen und Möglichkeiten des Computers und des digitalen Entwerfens zu experimentieren. Sie waren einer der ersten japanischen Architekten, die den Computer nicht bloß als technisches Hilfsmittel nutzten, sondern sein Potenzial für den Entwurf erkundeten. Kann man das so sagen? 1994 schrieb ich Induction Design, mein erstes Programm zum Entwerfen von Architektur, also vor mehr als 20 Jahren. Zu dieser Zeit setzten einige Architekten Computer ein, aber nur als verlängerte Hand. Aber ich wollte den Computer als Gehirn nutzen. Unser Gehirn ist großartig, aber es kann schlecht mit verschiedenen komplexen Bedingungen gleichzeitig umgehen. Wenn drei Leute gleichzeitig reden, ist man nicht in der Lage, alles zu verstehen. Für den Computer stellt das kein Problem dar. Beim Entwerfen ist die Situation ähnlich. Ein Entwurf erzwingt es, eine Menge von Anforderungen und Bedingungen zu vereinen. Aber unser Gehirn kann sie nicht alle auf einmal bewältigen, so dass wir die Ausgangslage vereinfachen müssen. Infolge dieses Vereinfachungsprozesses werden einige wichtige Möglichkeiten ausgeschlossen, so dass sie keinen Einfluss mehr auf die Lösung haben können. Andererseits aber kann ein Computer nicht träumen … Unser Hirn und der Computer besitzen ihre je spezifischen Stärken und Schwächen. Wenn wir beide zusammenbringen, erzielen wir bessere Lösungen und bessere

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Lageplan

Entwürfe, die sich nicht auf Einfachheit beschränken, sondern Individualität und Vielfalt ermöglichen. Das weiterzuentwickeln ist das Ziel von Algorithmic Design. Der Computer kann eine Form erzeugen und alle Parameter berücksichtigen. Aber wenn es beispielsweise um Maßstab oder Materialität geht: Wo sind seine Grenzen? Ich ziehe einen Vergleich mit einem selbstfahrenden Auto. Wenn Sie von Ihrer Wohnung zum Büro gelangen wollen, geht es darum, das Ziel schnell und sicher zu erreichen. Fahren ist nicht das eigentliche Ziel. Also ist es am besten, Sie schalten den Autopiloten ein und schlafen eine Weile. Wenn Sie aber nicht ein bestimmtes Ziel erreichen, sondern die Freude genießen wollen, ein Auto zu fahren, schalten Sie den Autopiloten besser ab. Es hängt also vom Zweck und der jeweiligen Situation ab, wann wir ein Computerprogramm einsetzen und wann wir individuelle Willensentscheidungen treffen. Das Ziel von Algorithmic Design besteht nicht darin, den Entwurf zu automatisieren, sondern die Potenziale des Entwurfs zu vergrößern. Algorithmic Design kann man als AI verstehen, und das bedeutet für mich nicht nur Artificial Intelligence, sondern in einer neuen Bedeutung auch Architectural Intelligence. Die gesamte Arbeit am Computer – leisten Sie sie selbst oder arbeiten Sie mit Fachleuten zusammen? Anfangs habe ich die Programme selbst geschrieben. Aber heutzutage sind sie so kompliziert, dass ich mit professionellen Programmierern zusammenarbeite. Wir bilden ein gemeinsames Team.

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Shin­Minamata­Bahnhof, Minamata, 2004

Kommen wir auf die zeitgenössische Architekturszene zu sprechen. Tauschen Sie sich aus, haben Sie untereinander Kontakt? Als ich jung war, gab es gemeinsame Konferenzen und Ausstellungen – wir gehörten einer Generation an, waren gleich alt, wir sprachen viel und arbeiteten mitunter gemeinsam. Aber nun sind wir verstreut und unabhängig. Wie schätzen Sie die gegenwärtige architektonische Situation in Japan ein? Gibt es Raum für Experimente? Über viele Jahre war das Programm der japanischen Regierung zur Errichtung öffentlicher Bauten oder zur Umsetzung infrastruktureller Projekte ein großartiges Werkzeug, um gute Architektur zu fördern. Die Regierung nutzte Steuergelder für öffentliche Bauaufgaben, es war eine gute Basis für Architekten in Japan, um an Aufträge zu gelangen. Natürlich gingen viele Aufträge an große Architekturfirmen, nur wenige gelangten zu kleinen Büros, aber immerhin. Nun hat die Regierung ihre Strategie geändert, da das Bruttosozialprodukt in Japan nicht mehr so stark wächst. Daher werden die Ausgaben für die Architektur gekürzt. Aber im Vergleich etwa zu den Vereinigten Staaten realisiert Japan immer noch viele öffentliche Bauten, und das bleibt nicht ohne Einfluss auch auf die jungen Architekten. Dass diese weniger Chancen haben als in den 1980er oder 90er Jahren, ist ein klarer Minuspunkt. Doch es gibt auch einen Pluspunkt: Viele Provinzregierungen wissen um die Bedeutung von Architektur. Es ist immer noch eine Seltenheit, dass lokale Verwaltungen einen Wettbewerb veranstalten oder auf andere Weise junge Architekten an öffentlichen Bauaufgaben beteiligen. Aber in jüngster Zeit bewegt sich etwas. Das kann eine Hoffnung für die nahe Zukunft sein.

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MAKOTO SEI WATANABE Biografie 1952 1976

Geboren in Yokohama Master-Abschluss in Architektur, Yokohama National University 1976–79 Mitarbeiter bei Masato Otaka 1979–84 Mitarbeiter bei Arata Isozaki & Associates 1984 Gründung von Makoto Sei Watanabe / Architects’ Office, Tokio 1988–97 Dozent, Graduiertenschule, Yokohama National University 1994–95 Dozent, Kyoto Seika University 1997–2005 Dozent, Tokyo Denki University 2005–10 Professor, Tamkang University, Taiwan 2013 Professor, Space-Generating Lab, Faculty of Urban Life Studies, Tokyo City University Wichtige Werke 1990 1995 1996 2000

2004 2005

2009 2011

Aoyama Technical College, Tokio Mura-No-Terrace, Gifu K-Museum, Tokio Installation Fiber Wave, 7. Internationale Architekturausstellung, Architektur-Biennale, Venedig, Italien U-Bahn-Station Iidabashi, Tokio Shin-Minamata-Bahnhof, Minamata Shanghai House, Shanghai, China Kashiwanoha-Campus-Bahnhof, Tsukuba Kashiwa-Tanaka-Bahnhof, Kashiwa Tokyo House, Tokio Ribbon, Ausstellung „Chikaku – Zeit und Erinnerung in Japan“, Graz, Österreich Ribbons, Outdoor-Theater, Taichung, Taiwan Web Frame-II, Tokio

Veröffentlichungen – Auswahl 1998 2002 2007 2009 2012

Conceiving the City, L’Arca Edizioni, Mailand Induction Design: A Method for Evolutionary Design, Birkhäuser, Basel Makoto Sei Watanabe, Edilstampa, Rom Algorithmic Design, Kajima Institute Publishing, Tokio ALGODeX: ALGOrithmicDesign Execution and Logic, Maruzen Shuppan, Tokio

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JUN AOKI

Entmaterialisiertes Gefühl

Herr Aoki, was war der Grund dafür, dass Sie Architekt geworden sind? Architektur hatte mich schon lange interessiert. Als Kind zeichnete ich gern Häuser in typisch japanischem Stil, was nicht unbedingt besonders kreativ war. In der Oberstufe am Gymnasium stieß ich in der Schulbibliothek auf ein Buch über Antoni Gaudí. Ich war extrem beeindruckt von dieser phantastischen Architektur – und dachte mir, Architektur wäre etwas, denn man kann damit eine ganze Welt erschaffen. Schließlich gab es drei Möglichkeiten, die mich interessierten: Ich wollte Filmregisseur, Schriftsteller oder Architekt werden. Ich wusste allerdings nicht, wie man Filmregisseur oder Schriftsteller wird. Wie man hingegen Architekt wird, war mir klar: Man geht auf eine Universität und studiert Architektur. So begann ich mit dem ingenieurtechnischen Grundstudium an der Tokyo University. Nach zwei Jahren kann man sein Studienfach wählen, und ich begann mit der Architektur. Besonders das Entwerfen traf meine Neigung. Können Sie uns von Ihren Erfahrungen an der Universität berichten? Welche Professoren waren für Sie wichtig? Mein erster Professor war Yoshinobu Ashihara, nach einem Jahr kam auch Fumihiko Maki an die Universität. Erwähnen muss ich aber auch Hisao Koyama und die Gastprofessoren Arata Isozaki und Kazuo Shinohara. Beeinflusst haben mich alle. Außerdem habe ich mich in starkem Maße für Architektur außerhalb Japans interessiert. Die erste Architekturzeitschrift, die ich kaufte, war ein 1978 veröffent­lichtes Themenheft von Space Design über europäischen Formalismus und Kontextualismus, in dem Oswald Mathias Ungers, Rem Koolhaas, Leon Krier und Josef Paul Kleihues vorgestellt wurden. Ich habe dieses Heft mehrfach gelesen – und auch die Folge­ nummer, die in weiten Teilen Aldo Rossi gewidmet war. Die Position dieser Architekten unterscheidet sich stark von dem, was Maki und Shinohara zu dieser Zeit vertraten. Gab es Ihres Erachtens dennoch Verbindungen? Makis Werk unterscheidet sich stark vom Formalismus oder Kontextualismus; es steht in der Tradition der Moderne. Aber Shinoharas Ausgangspunkt war die reine Geometrie. Für mich ist das nicht so weit entfernt von der Haltung eines Ungers oder Rossis. Ich sehe Verbindungslinien zwischen Rossi und Shinohara. Für Rossi ist zwar die Erinnerung sehr wichtig, während sie für Shinohara ohne Bedeutung ist, aber die Form und eine für die Architektur grundlegende Ordnung sind sowohl für Shinohara als auch für Rossi zentral. Die 1980er und frühen 90er Jahre waren eine Zeit, in der viele ausländische Architekten nach Japan kamen – Aldo Rossi, David Chipperfield oder Philippe

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Fukushima Lagoon Museum, Niigata, 1997

Starck, um nur einige zu nennen, arbeiteten hier. Hatte das einen Einfluss auf das Architekturgeschehen in Japan? Ich erinnere mich, dass auch Michael Graves in Japan tätig war, Aldo Rossi natürlich auch. Aber ihre Architektur hatte keinen großen Einfluss. Die Postmoderne hatte eine begrenzte Dauer in Japan. Nach dem „Tsukuba Civic Center“ endete auch Arata Isozakis postmoderne Phase. Nach Ihrem Studium arbeiteten Sie im Büro von Arata Isozaki. Warum wollten Sie gerade bei ihm arbeiten? Als ich mein Studium abgeschlossen hatte, gab es für mich zwei Optionen: nach England zu gehen und bei James Stirling zu arbeiten oder in Japan zu bleiben und für Arata Isozaki zu arbeiten. Schließlich entschied ich mich für Isozaki. Zu dieser Zeit war er mit den postmodernen Entwürfen für das „Tsukuba Civic Center“ beschäftigt, aber ich arbeitete nicht an diesem Projekt. Meine Hauptaufgabe war der Wettbewerbsbeitrag für das Tokioter Rathaus, den Wettbewerb gewann schließlich Kenzo Tange. Mein zweites Projekt war der „Mito Art Tower“, an dem ich über vier Jahre arbeitete. Danach wollte ich ins Ausland, um neue Energie zu tanken. Ich reiste nach Istanbul und blieb dort einige Monate. Besonders interessant fand ich, dass Istanbul weder Westen noch Osten ist, sondern eine Mischung aus beidem. Als der Zweite Golfkrieg ausbrach, kehrte ich nach Japan zurück und gründete 1991 mein eigenes Büro. Wie verlief der Start? Wie fanden Sie als junger Architekt Ihren eigenen Weg?

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Aomori Museum of Art, Aomori, 2006

Üblicherweise ist das erste Projekt eines jungen Architekten ein Wohnhaus für Verwandte. Weil ich aber durch meine Tätigkeit bei Isozaki Erfahrung mit großen und komplexen Bauaufgaben besaß, beauftragte mich der Bürgermeister der kleinen Stadt Niigata mit zwei öffentlichen Bauten: einem Schwimmbad und einem Museum. Zeitgleich entwarf ich die Mamihara-Brücke für Kumamoto. Hier war Arata Isozaki der eigentliche Auftraggeber, denn er wählte die Architekten für das Projekt der „Kumamoto Artpolis“ aus. Die Herausforderung des Projekts bestand im engen Zeitrahmen. Ich erhielt die Anfrage im Februar, und schon im März musste der Entwurf fertig sein. Die Brücke wurde zu meinem ersten realisierten Bauwerk. Wenn Sie heute auf Ihr bisheriges Werk zurückblicken: Welches Projekt halten Sie für das geeignetste, um Ihr Entwurfsverständnis zu veranschaulichen? Die frühen Projekte – die Brücke sowie das Museum in Niigata – halte ich für wichtig, weil ich mich damals mit Architektur beschäftigte, die auf Bewegungsräumen basiert. Die Brücke ist letztlich nur Bewegungsraum, sie besteht aus einer Straße, die sich teilt und auf der anderen Uferseite wieder zusammenkommt. Für das Museum ist die Idee der Spirale grundlegend: Man geht in spiralförmig angeordneten Galerien nach oben und kommt über eine Treppenspirale nach unten zurück. In japanischen Städten gibt es keine öffentlichen Plätze. Alles geschieht auf der Straße, das war meine Referenz, und die Spirale steht für das Moment der Bewegung. Nach

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der Fertigstellung schien es mir, dass Raumerfahrung und -abfolge zwar interessant sind, die Gesamtkonfiguration aber für die Besucher zu zwanghaft wirkt. Ich wollte offenere Räume; Räume, die die Handlungen der Menschen nicht lenken und bestimmen, sondern die es ermöglichen, sie nach eigenem Belieben zu nutzen. Mein bisher wichtigstes Werk ist das „Aomori Museum of Art“. Das Gebäude steht an einem archäologischen Fundort, und meine Idee bestand darin, in die Erde zu graben und ein System von Gräben anzulegen. Das eigentliche Museum schwebt über dieser künstlichen Landschaft. Zwischen dieser und der Unterseite des Museums entstehen Zwischenräume. So gibt es diese von Ort und Terrain geprägten, erdigen Zwischenräume und die white cubes der Museumsräume. Wie auf einem Schachbrett wechseln die Besucher zwischen beiden Raumtypen. Wenn man Weiß als Grund ansieht, dann wirkt Schwarz wie eine Figur im Raum. Und wenn man Schwarz als Grund nimmt, dann ist Weiß die Figur im Raum. Die Projekte in Niigata und das „Aomori Museum of Art“ folgen unterschiedlichen Entwurfshaltungen. Wie finden Sie eine geeignete Strategie, wenn Sie mit einem Projekt beginnen? Wie gehen Sie mit den Vorgaben um, und wie entsteht Ihr eigenes Konzept? Natürlich untersuchen wir, wie wir die Vorgaben möglichst umfassend umsetzen können. Aber das Wichtige ist, ein Hauptthema zu finden. Die Präfektur Aomori

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Aomori Museum of Art

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Grundriss

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Louis Vuitton Matsuya Ginza Store, Tokio, 2013

beispielsweise wollte ein Museum am Ort einer archäologischen Fundstätte. Mein Hauptthema war die Verbindung des Museums mit diesem historischen Ort. Wir entwickelten ein Diagramm, das alle Anforderungen berücksichtigen konnte; es fungierte gewissermaßen als Konzept, anhand dessen wir die Form ausarbeiteten. Ihre Projekte für Louis Vuitton unterscheiden sich von den Gebäuden, von denen Sie bisher gesprochen haben. Hier geht es um Oberfläche, um Ornament, um die Gebäudehülle. Was ist das Potenzial von Fassaden? Können Sie das Hauptanlie­ gen dieser Gebäude erklären? Wenn man für Mode-Labels entwirft, ist die innere Organisation des Bauwerks nur von geringem Interesse, weil die Einrichtung alle paar Jahre ohnehin verändert wird. Der Innenraum muss also flexibel sein. Ein Shop funktioniert wie eine Box, bei der man sich nur mit der Erscheinung der Oberfläche auseinandersetzt. Mein Hauptinteresse ist die Frage, wie man eine Box als Architektur entwerfen kann. Das war die Herausforderung, als ich zum ersten Mal für ein Mode-Label entwarf. Mein erstes Projekt für Louis Vuitton war in Nagoya. Ich wollte ein Gefühl wie Aerogel erzeugen – ein Material, das fast nur aus Luft besteht. Das Gebäude sollte wie ein großes luftgefülltes Volumen wirken, das sich von der banalen Umgebung abhebt. Mit der Überlagerung zweier Muster, die einen Moiré-Effekt entstehen lassen, fand ich eine Lösung. Es war mein erster Versuch, Architektur lediglich mit dem Äußeren eines Gebäudes, der Oberfläche, zu schaffen. Die Oberfläche eines Gebäudes ist also nicht nur eine Wand oder eine Grenze, sondern hat auch Tiefe. Gibt es einen Grund, warum Sie möchten, dass die Ober­ fläche das Gefühl von Tiefe vermittelt?

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Louis Vuitton Nagoya Store, Nagoya, 1999

Japan ist häufig sehr feucht, Nebel und Dunst sind übliche Phänomene. Wenn man in die Berge blickt, so kann man deren Silhouette erahnen, aber keine Details oder Bäume sehen. Dieses Empfinden der Unschärfe hat einen Einfluss auf mein Verständnis des Entwurfs, insbesondere hinsichtlich des Umgangs mit Tiefe und Schichten. Wenn es eine gewisse Tiefe gibt, kann man mit Schichten spielen. Wenn man nur eine Schicht hat, ist es nur ein Ornament. Hat man aber zwei Schichten, so kann ein komplexeres, im wahrsten Sinne des Wortes vielschichtigeres Gefühl geschaffen werden. Daher arbeite ich oft mit zwei Schichten. Wenn man eine Schicht hat, weiß man, um welche Materialität es sich handelt. Bei einer Schicht Glas spürt man das Material. Aber wenn man Glas einsetzt, sollte man meines Erachtens nicht spüren, dass es sich um Glas handelt. Mein Ziel ist ein entmaterialisiertes, tiefes Gefühl, das nicht mit einer Schicht erreicht werden kann. Lassen Sie mich einen Vergleich wagen. Wenn das Make-up einer Person gut gemacht ist, so nimmt man nicht das Make-up wahr, sondern sieht nur das Gesicht. Man spürt das Eigentliche, Innere mittels der Kosmetik – dies ist die Aufgabe der Oberfläche und des Ornaments. Das Ornament ist der Ausdruck des Inneren. Wenn man lediglich wahrnimmt, dass die Fassade aus Glas besteht, dann hat man als Architekt versagt. Spürt man aber Tiefe und Reflexe einer inneren Welt, dann hat man das Ziel erreicht. Bis heute haben Sie neun Gebäude für Louis Vuitton realisiert, und jedes hat eine andere Fassade. Ist das eine Reaktion auf den jeweiligen Ort – oder interessiert es Sie, mit unterschiedlichen Fassadengestaltungen zu experimentieren? Der Grund für die unterschiedlichen Fassaden besteht darin, dass die Orte unterschiedlich sind. Verschiedenheit ist für Louis Vuitton wichtig, um Touristen anzuziehen.

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White Chapel, Osaka, 2006

Wenn jeder Store gleich aussieht, wird man nicht verlockt, einen in einer fremden Stadt aufzusuchen. Die „White Chapel“, ein Hotelannex, der für Hochzeitsfeierlichkeiten gemietet werden kann, besitzt Ähnlichkeiten mit Ihren Louis­Vuitton­Projekten. Die Idee, einen Raum aus Luft zu generieren, die sich von der normalen Luft ringsum unterscheidet, war auch Ausgangspunkt für den Entwurf der Hochzeitskapelle. Wiederum wollte ich ein Gebäude entwerfen, das ein Gefühl wie Aerogel evoziert, aber ich entwickelte ein architektonischeres Konzept eines Gebäudes aus „fester Luft“. Es handelt sich um eine sehr durchlässige Konstruktion, eine dreidimensionale Struktur aus Stahlringen. Die Ringe bilden eine Fachwerkstruktur. Die „White Chapel“ basiert also auf einer Fachwerkstruktur; die Ringe sind keine Ornamente, sondern bilden das Tragwerk. Gibt es eine semantische Dimension der Ringe? Sie erinnern an Verlobungs­ oder Eheringe. Das ist bestimmt kein Zufall. Als ich diese Art von Struktur vorstellte, war der Hoteldirektor begeistert, weil die Ringe als Zeichen für die Unendlichkeit oder als Eheringe verstanden werden können. Aber ich entwickelte die Idee nicht für die Kapelle. Es gibt andere Projekte, bei denen ich die gleiche Struktur nutzte – als Ornament ohne Bedeutung. Es gibt verschiedene Definitionen des Ornaments. Was ist ein Ornament für Sie? Im Fall der Hochzeitskapelle kann man sagen, dass es sich um eine Struktur handelt, aber auch um ein Ornament. Ein Ornament vermittelt ein Gefühl, vermittelt Stimmung oder Atmosphäre. Wenn eine Struktur Stimmungen wie Unendlichkeit, Weichheit oder anderes entstehen lässt, übernimmt sie auch eine ornamentale Funktion. So ist ein Ornament für mich mit Materialien oder architektonischen Elementen verbunden.

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Einerseits arbeiten Sie in Kunstinstallationen mit Ornamenten, beispielsweise mit Bildern von großen Blumen. Andererseits sagen Sie, dass eine Struktur auch Atmosphäre vermitteln kann und damit als ein Ornament fungiert. Dann könnte eine starke Betonwand auch ein Ornament sein? Ja, auch eine Betonwand kann ein Ornament sein. Wenn wir Architektur entwerfen, wollen wir bestimmte Atmosphären vermitteln – wir müssen also die Charakteristika und Bedeutungen der räumlichen Elemente und ihre ornamentalen Funktionen gezielt einsetzen. Auch das Weiß der Moderne kann als Ornament verstanden werden, denn es vermittelt eine Atmosphäre der Reinheit und Neutralität. So kann jedes Material eine ornamentale Funktion besitzen. Sie arbeiten an Kunstinstallationen und an architektonischen Projekten. Besteht für Sie ein Unterschied zwischen Kunst und Architektur? Natürlich sind Kunst und Architektur verschieden, denn Architektur hat bestimmten Zwecken zu dienen. Aber Architektur oder Kunstwerke zu entwerfen, ist für mich sehr ähnlich, weil es bei beidem darum geht, mit Materialien umzugehen und Elemente zu guten Kompositionen zu fügen. Dieses Anliegen gehört zur Architektur, ist aber nur ein Teil von ihr. Mitunter arbeiten Sie bei architektonischen Projekten mit Künstlern zusammen. Warum? Und wie verläuft diese Zusammenarbeit? Eigentlich gibt es nur wenige gemeinsame Projekte. Aber ich arbeite gern mit Künstlern, weil es mich stimuliert, wie sie Raum oder Architektur wahrnehmen. Für die Ausstellung „The Red and Blue Line“ im Nagoya City Art Museum, einem postmodernen Gebäude von Kisho Kurokawa, arbeitete ich mit dem Künstler Hiroshi Sugito zusammen. Nahezu ein Jahr lang diskutierten wir, wie wir den Raum in den Griff bekämen, wie wir die Architektur verwandeln könnten. Wir sprachen über Architektur, wir sprachen über Raum und wir sprachen über Kunst.

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Lassen Sie uns darüber sprechen, wie Ihr Büro organisiert ist und wie Sie mit Ihren Mitarbeitern zusammenarbeiten. Mein Büro besteht aus mir und acht Mitarbeitern. Diese bleiben vier Jahre lang in meinem Studio, wie an der Universität. Natürlich hängt es vom jeweiligen Projekt ab, aber üblicherweise bleiben sie vier Jahre. Die meisten sind sehr jung, fast alle kommen direkt nach der Universität zu mir. Normalerweise betreut eine Person ein Projekt. Wenn es also acht Mitarbeiter gibt, können wir an acht Projekten arbeiten. Jedes Projekt basiert auf einer engen Zusammenarbeit zwischen mir und einem Teammitglied. Wir diskutieren über den Entwurf, über die Lösungen und über die Ideen, die für das Projekt geeignet sind. Zunächst fertigen wir Modelle an, dann beginnt die Diskussion. Ich schätze es, wenn meine Mitarbeiter ihre eigene Meinung haben. Wenn sie eine Idee vorschlagen, dann habe ich vielleicht eine andere Idee, dann wieder sie usw. Wir arbeiten immer mit physischen Modellen, nicht mit Modellen am Computer. Gibt es in der gegenwärtigen Architekturszene einen Austausch zwischen Archi­ tekten unterschiedlicher Generationen oder zumindest in Ihrer Generation? Oder arbeitet jeder für sich? Es bleibt nicht viel Zeit, um sich mit anderen auszutauschen, besonders nicht in unserer Generation. Wann immer ich beispielsweise mit Kazuyo Sejima spreche, geschieht das nicht in Japan, sondern sonstwo, beispielsweise wenn wir in Europa oder den Vereinigten Staaten Vorträge halten oder an Konferenzen teilnehmen. Aber der Austausch mit jüngeren Architekten interessiert mich sehr. Sie haben unterschiedliche Ansichten über Architektur, und wenn möglich besuche ich ihre Bauten und diskutiere mit ihnen über Architektur.

The Red and Blue Line, mit Hiroshi Sugito, Nagoya City Art Museum, Nagoya, 2013

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JUN AOKI Biografie 1956 1980

Geboren in Yokohama Bachelor-Abschluss in Ingenieurwissenschaften für Architekten, University of Tokyo 1982 Master-Abschluss in Ingenieurwissenschaften für Architekten, University of Tokyo 1983–90 Mitarbeiter im Büro Arata Isozaki & Associates, Tokio 1991 Gründung Jun Aoki & Associates, Tokio Wichtige Werke 1995 1997 1998 1999 2000 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2010 2011 2012 2013 2014 2015

Mamihara-Brücke, Kumamoto Yusuikan, Niigata Fukushima Lagoon Museum, Niigata Grundschule in Mitsue, Nara Snow Foundation, Niigata Louis Vuitton Nagoya Store, Nagoya Louis Vuitton Matsuya Ginza Store, Tokio C House, Tokio Louis Vuitton Omotesando Store, Tokio Louis Vuitton Roppongi Hills Store, Tokio Louis Vuitton New York Store, New York, USA Louis Vuitton Ginza Namiki Store, Tokio Louis Vuitton Hong Kong Landmark Store, Hongkong White Chapel, Osaka Aomori Museum of Art, Aomori J House, Tokio SIA Aoyama Building, Tokio Maison AoAo, Tokio Louis Vuitton Fukuoka Tenjin Store, Fukuoka L’Avenue Shanghai, Shanghai, China Louis Vuitton Matsuya Ginza Store, Tokio Omiyamae-Sporthalle, Tokio Rathaus „Kiriri“ in der Miyoshi City Hall, Hiroshima

Veröffentlichungen – Auswahl 2000

2004 2006 2008 2013 2016

Jun Aoki 1991–1999, Shokoku-sha, Tokio Atmospherics, TOTO Publishers, Tokio About Houses: Dialogues with 12 persons, INAX Publishing, Tokio Jun Aoki Complete Works 1: 1991–2004, INAX Publishing, Tokio Harappa to Yuuenchi, Okoku-sya, Tokio Jun Aoki Complete Works 2: Aomori Museum of Art, INAX Publishing, Tokio Architectural Creation: Peter Märkli and Jun Aoki, The National Museum of Modern Art, Tokio Harappa to Yuuenchi 2, Okoku-sya, Tokio Jun Aoki Notebooks, Heibonsha, Tokio Jun Aoki Complete Works 3: 2005–2014, INAX Publishing, Tokio

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HIROSHI NAKAO

Mehr Dunkelheit, mehr Tiefe

Herr Nakao, warum haben Sie sich für das Studium der Architektur entschieden? Gab es in Ihrer Kindheit etwas, das Sie dazu inspiriert hat, Architektur zu studieren? Als Kind liebte ich Fußball, ich spielte den ganzen Tag Fußball. Für die Architektur entschied ich mich während meiner Zeit am Gymnasium. Ich hatte einige beeindruckende Bauten gesehen, den Hillside-Terrace-Komplex von Fumihiko Maki und die Bank in Fukuoka von Kisho Kurokawa. Maki und Kurokawa inspirierten mich. Das muss aber unter uns bleiben: Die Bank von Kurokawa ist wirklich sehr eindrucksvoll. Sie studierten zunächst am Kyoto Institute of Technology und wechselten dann an das Institute of Art der University of Tsukuba. Warum wählten Sie diese beiden unterschiedlichen Universitäten? Ich entschied mich zunächst für das Kyoto Institute of Technology, weil man hier gleich mit dem Architekturstudium beginnen konnte und nicht erst ein Studium generale absolvieren musste, wie es sonst an japanischen Universitäten üblich war. Anschließend ging ich an das Institute of Art der University of Tsukuba, da mich Kunst sehr interessierte. Welche Professoren waren wichtig für Sie? Die Ausbildung am Kyoto Institute of Technology war sehr eigenartig. Wir sahen die Professoren selten und diskutierten unsere Projekte mit ihnen nur ein paar Mal in vier Jahren. Wir hatten jegliche Freiheit und entschieden alles selbst. Wir gingen nach Mitternacht an die Universität, die Tage verbrachten wir in Cafés. Wir lernten eigenständig und machten unsere Entwürfe, Zeichnungen und Modelle fast ohne Betreuung. Wie verlief das Studium am Institute of Art an der University of Tsukuba? Ich fuhr durchschnittlich einmal im Monat nach Tsukuba. Ich lebte in Tokio und studierte dort meistens allein oder zusammen mit meinen Freunden, Künstlern, Kunstkritikern und Philosophen. Ich war wahrscheinlich kein Musterstudent. An welchen Künstlern, Philosophen und Architekten waren Sie damals am meis­ ten interessiert? Während meiner Studienzeit war Henri Bergson der wichtigste Philosoph für mich. Im Bereich der Kunst interessierte ich mich für Künstler der Arte povera, insbesondere für Jannis Kounellis und seinen Umkreis. Mich fasziniert sein Gespür für das Material. Sehr wichtig für mich war auch Eduardo Chillida, ich empfinde seine Arbeiten als Architektur, auch seine grafischen Blätter. Er studierte Architektur und spielte als Torwart professionell Fußball, dann erst wurde er Bildhauer. Für mich ist das eine

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ideale Karriere. Unter den Architekten interessierten mich natürlich Adolf Loos, Jozˇe Plecˇnik und Sigurd Lewerentz, aber auch die Barockarchitekten Borromini und Bernini. Aber der bedeutendste Architekt von allen ist für mich Louis Kahn. Ich habe das Gefühl, er behandelt Raum und Licht als flüssige Substanzen, so wie Mark Rothko das im Bereich der Kunst gelingt. Mich haben stets auch einige Filmregisseure inspiriert, beispielsweise Orson Welles, Andrei Tarkowski, Robert Bresson … Wie begannen Sie nach dem Studium mit Ihrem eigenen Büro? Ich gründete mein eigenes Büro, als ich meinen ersten Auftrag erhielt: das „Weekend House“ in Osaka, mein erstes schwarzes Haus. Davor hatte ich in keinem anderen Büro gearbeitet. Zur gleichen Zeit begann ich auch zu unterrichten, denn ich benötigte ein Einkommen. Ich unterrichtete an kleinen Colleges Schüler im Alter von 18 oder 19 Jahren. Ich unterrichte wirklich gern. Wenn man Ihre Arbeitsweise und Interessen verstehen möchte – welches Ihrer Projekte eignet sich am besten, um Ihre Ideen und Konzepte zu erläutern? Für mich sind es drei Projekte: das „Weekend House“ in Osaka, die Installation „Black Maria“ sowie das „Haus mit Studio“ in Tokio. Zum Haus mit Sudio schrieben Sie 2003 im Buch Leib – Raum – Plan: „Das Haus […] ist ein Außen, das – eigentlich in die Welt gerichtet – nach innen gekehrt und abgeschlossen wurde.“ Können Sie erklären, was das bedeutet?

Haus mit Studio, Tokio, 1996, Serie von Drucken

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Black Maria, Sezon Museum of Modern Art, Karuizawa, 1994

Üblicherweise denken wir, es geht bei Architektur darum, ein Innen zu definieren. Aber ich denke, Architektur sollte auch das Außen definieren. Hannah Arendt hat beschrieben, wie das soziale Territorium der Moderne das Außen zerstört hat, das öffentliche Territorium oder den öffentlichen Raum, der einst die Freiheit des Individuums garantierte. Weil der Einfluss der modernen Gesellschaft außerordentlich stark geworden ist, wird das Außen inzwischen wie in einem großen Haushalt kontrolliert und einer hauswirtschaftlichen Logik unterworfen. So ist die Gesellschaft ein einziges Innen geworden, in dem jeder zu Hause ist und sich in einem ständigen sozialen Dialog befindet, so wie es Theodor W. Adorno in seinem Buch Minima Moralia 1951 formulierte: „Es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein.“ Wenn man das ernst nimmt, dann muss Architektur reagieren und den Raum für das Individuum selbst bereitstellen. Früher definierte Architektur die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum, aber diese Funktion ist in der Moderne verschwunden. Meiner Meinung nach sollte Architektur zu ihrer ursprünglichen Funktion zurückkehren und Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Raum schaffen. Die Aufgabe der Architektur besteht also nicht mehr darin, das Innen vor dem Außen, sondern das Außen vor dem Innen zu schützen. Meine Architektur zielt auf einen Raum, der außen ist, auf einen anderen Ort, der nicht von der Gesellschaft kontrolliert wird, sondern dem Individuum Freiheit gibt. Diesen Raum, das Außen, möchte ich schaffen, indem ich dem Innen Grenzen gebe und eine Dimension der Tiefe, eine Höhlung, schaffe. (Hiroshi Nakao fertigt eine Skizze an, zeichnet das Innen und erklärt, wie man das Außen erzeugt – indem er ein Loch in das Blatt bohrt.)

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Black Maria, Serie von Drucken

Dieser Raum ist ein Außen, das nach innen gekehrt und abgeschlossen wurde, wie beim „Haus mit Studio“ in Tokorozawa oder beim „Weekend House“ in Osaka. Der Raum, den Sie schaffen möchten, ist sehr speziell. Können Sie ihn näher beschreiben? Mir geht es um ‚„Leib-Raum“, einen Raum, in dem man bei sich selbst ist, ein Raum für das Ich, abseits von der Gesellschaft. Walter Benjamin beschreibt den LeibRaum in seinem Text „Surrealismus“ als eine Totalität und Aktualität ohne eine „gute Stube“, ohne einen Raum, in dem die Macht der Gesellschaft in den privaten Bereich eindringt. Der Leib-Raum ist ein Raum, in dem man nur für sich selbst ist, sich seiner selbst bewusst wird. Er ist ein Raum, in dem man seinen Körper und auch die Tiefe und Materialität im Raum spürt. Auf welche Weise sind Wahrnehmung, Raum und Materialität verbunden? Ich denke, dass Raum und Materialität nicht nur in der Wahrnehmung verbunden sind, sondern Raum an sich ein materielles Phänomen ist. Dabei spreche ich nicht von Materialität im Sinne von Ziegeln oder Holz, Boden, Wand oder Decke. Ich möchte die Materialität des Raums fühlen und schaffen. Ich glaube, im Deutschen umfasst der Begriff „Raum“ in starkem Maße auch die Materialität. Demgegenüber zielt der lateinische Begriff spatium mehr auf die Ausdehnung, und das japanische Wort ma ist stark auf den Körpersinn bezogen. Die Begriffe besitzen also unterschiedliche Konnotationen. Das deutsche Wort „Raum“ ist, beispielsweise in der Interpretation von Adolf Loos, mit Volumen und Materialität verbunden. Meiner Interpretation zufolge bedeutet Materialität die Intention des Raums: Raum-Intention.

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Weekend House, Osaka, 1991

Was heißt das? Wie ist Intention verbunden mit Materialität und Raum? Alle Materialien haben eine Intention. Beispielsweise harte oder weiche Materialien, Materialien mit unterschiedlichen Strukturen. In allen Materialien gibt es spezifische Charakteristika oder Intentionen. Louis Kahn schrieb über Materialien, ihre Inten­ tionen und ihre Verbindung zum Formen und Entwerfen von Raum. In diesem Sinne bedeutet Materialität meiner Meinung nach Raum-Intention. Ich arbeite mit diesen Intentionen. An welcher Art von Material sind Sie interessiert? Ich arbeite oft mit Holz, nahezu schwarzem Holz. Erstens ist Holz nicht teuer, zwei­ tens vermittelt es den Eindruck eines einfachen Materials und es ist sinnlich. Ich mag aber auch Stahl; das Haus in Tokorozawa ist mit Stahl verkleidet. Da sich die Oberfläche ständig verändert, ergeben sich im Laufe der Zeit ganz unterschiedliche Färbungen und Oberflächenstrukturen. Backstein mag ich auch.

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Sie nutzen oft Holz, das schwarz lasiert oder lackiert wurde, für Ihre Häuser. Was interessiert Sie an der Farbe Schwarz? Für viele Leute hat Schwarz eine negative Bedeutung. Aber ich empfinde Schwarz als eine sehr sinnliche Farbe, besonders im Bereich der Architektur, da Schwarz auf Licht und Schatten auf vielfältige Art und Weise reagiert. Mitunter verschwinden Dinge im schwarzen Raum. Die Wahrnehmung verändert sich in der Dunkelheit, Assoziationen werden hervorgerufen und gewinnen an Bedeutung. Gilt das nicht für Weiß ebenso? In unterschiedlicher Weise. Bei Weiß sind Licht und Schatten klarer, es gibt nicht so viel Vielfalt und Abstufungen wie im Spektrum der Dunkelheit. Und es gibt nicht die Tiefe in der Dunkelheit, in der die Dinge assoziativ werden. Ich glaube, dass wir heutzutage mehr Schwarz, mehr Dunkelheit, mehr Tiefe benötigen, denn die Räume sind flacher und heller geworden, und gerade in Japan werden sie fast leuchtend. Ich möchte Dunkelheit und Tiefe geben. Bei einem anderen Projekt, den „Stawell Steps“, das Sie zusammen mit Studen­ ten der Monash University in Melbourne erarbeitet haben, gibt es kein Innen und kein Außen. Worum geht es bei diesem Projekt? Bei den „Stawell Steps“ handelt es sich ebenfalls um eine Art von Leib-Raum. Der japanische Begriff ma impliziert, dass Zeit und Raum auf uns Menschen bezogen sind. Stufen besitzen diese Eigenschaft – die Verbindung von Zeit, Raum und unserem Körper – in hohem Maße. Stufen sind als Teile von Treppen architektonische Elemente, aber sie bewegen auch den Körper in Raum und Zeit, als würde man auf ihnen tanzen. Das wollte ich mit den „Stawell Steps“ thematisieren. Dieses Denken über Raum findet man auch in den alten japanischen Gärten. Eines der wichtigsten Elemente dieser historischen Gärten sind stehende Steine. Ihre Platzierung wurde ohne Skizzen und Zeichnungen entworfen. Die Schöpfer der Gärten kamen und fixierten die Positionen in situ mit Pflöcken, die in die Erde getrieben wurden. Gewissermaßen war der Entwurf eines Gartens eine Performance, wobei das Schlagen der Pflöcke wie Perkussion wirkte. Der Entwurf des Raumes klang wie Musik. Für die „Stawell Steps“ wollten wir ebenfalls einen Raumklang schaffen – mit den Stufen und dem Klang der Bewegungen. Bei diesem Projekt kommt vieles zusammen: Sie beschäftigen sich mit den Stu­ fen, den sich bewegenden Menschen, den Klängen, aber natürlich auch mit der Landschaft. Sind die „Stawell Steps“ Landschaft, Kunst oder Architektur? Zu diesem Thema gibt es eine Matrix im Essay „Sculpture in the Expanded Field“ von der bekannten Kunstkritikerin Rosalind Krauss. Krauss beschäftigt sich mit dem Thema Land Art und wirft die Frage auf, ob man diese als Landschaft, Kunst oder Architektur verstehen müsse – oder im Gegenteil als Nicht-Landschaft, Nicht-Kunst oder Nicht-Architektur. Es ist für mich immer ein interessanter Ansatz, Definitionen und Vorstellungen zu hinterfragen, herauszufordern und über sie hinaus­zugehen. Die „Stawell Steps“ sind also nicht nur Architektur, nicht nur Landschaft und nicht nur Kunst. Unsere Absicht war es, ein Werk herzustellen, das sowohl Architektur als auch Nicht-Architektur, sowohl Landschaft als auch Nicht-Landschaft, sowohl Kunst als auch Nicht-Kunst ist.

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Weekend House

Schnitt und Ansicht

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Grundriss

Lassen Sie uns über „Coups de Sonde“ sprechen, ein Kunstprojekt, mit dem Sie ebenfalls die Wahrnehmung herausfordern. Warum heißt das Projekt so? Der Titel ist französisch und bedeutet „Stiche der Sonde“ oder das Skalieren der Tiefe. Die „Coups de Sonde“ stehen in der freien Landschaft, gewissermaßen als Stühle. Die Stühle falten die Landschaft und formen die Tiefe je unterschiedlich im Rücken der Personen, die auf den Stühlen sitzen. So werden die Menschen, die dort sitzen, selbst zu Sonden, die die Tiefe des Stuhls und der Landschaft ausloten. Arbeiten oder entwerfen Sie anders, je nachdem, ob es sich um ein Kunstprojekt oder ein architektonisches Projekt handelt, oder ist das Vorgehen gleich? Die Art, wie ich arbeite, ist die gleiche, denn für mich besteht kein Unterschied zwischen Kunst und Architektur. Ziele und Themen in Kunst und Architektur sind für mich identisch. Ich interessiere mich für den Leib-Raum, für die Wahrnehmung und für das Schaffen von Tiefe, von „anderen Räumen“, vom Außen. 2001 wurden Sie von Arata Isozaki angefragt, ca. 30 Apartments in Gifu zu ent­ werfen. Sie haben abgelehnt. Warum? Ich habe das Projekt ziemlich schnell abgelehnt, ich war daran nicht interessiert. Mehrere Architekten waren eingeladen worden, Wohnbauten zu entwerfen, aber es wurde fast alles vorgegeben mit bestimmten Arten von Apartmentblöcken, und ich wollte keinen derart kontrollierten Raum entwerfen. Ich interessiere mich mehr für „andere Räume“. Wenn Sie Ihre Projekte entwerfen, wie gehen Sie vor? Ich arbeite beim Entwurf meistens mit Zeichnungen. Drucke mag ich ebenfalls, weil ich an Farbe interessiert bin. Beim Drucken kann man anders mit Farbe umgehen als bei einer Zeichnung, denn die Farbe dringt tief ins Papier ein. In Ihrer Arbeit beziehen Sie sich auf Kunst, auf Texte und Theorien aus Europa – Sie erwähnten Theodor W. Adorno, Walter Benjamin oder Adolf Loos; Sie beschäf­ tigen sich aber auch mit Texten von Maurice Merleau-Ponty, Sigmund Freud und anderen Theoretikern. Gibt es auch Theorien aus Japan, an denen Sie interessiert sind? Nein, ich denke, es ist weniger interessant, sich auf die Philosophie im eigenen Land zu beziehen. Für mich ist europäisches Denken immer extrem anregend und überraschend, ich benötige neue Gedanken und nicht die alten, die ich aus meiner Heimat kenne. Vielleicht geht es Europäern genau umgekehrt. Anregend ist gerade der Austausch. Aber ich denke auch, dass man seiner Tradition und seinen kulturellen Wurzeln nicht entkommen kann. Ich kann mich nicht vom japanisch geprägten Denken befreien, und darum suche ich stets frische Ideen. Das bedeutet, dass Sie sich durchaus auch auf die japanische Tradition in der Architektur beziehen, wenn Sie zum Beispiel mit dunklem Holz arbeiten oder Tiefe und Dunkelheit zum Thema machen? Ich bin nicht frei von japanisch geprägtem Denken und von Traditionen, mein Sinn für Materialität und Farbe ist davon geprägt. Ich denke aber, dass dieser Sinn eigentlich selbstverständlich ist.

144

Stawell Steps, Stawell, Australien, 2012

In Europa schreiben Autoren wie Augustin Berque, Günter Nitschke und andere über Japan, das japanische Denken und das Andere aus europäischer Perspek­ tive. Was denken Sie über diese Texte? Ich habe Augustin Berques Bücher gelesen, aber sie interessieren mich nicht. Berques Interpretation der japanischen Landschaft beispielsweise ist ziemlich schablonenhaft. Und was denken Sie über Roland Barthes’ Buch Das Reich der Zeichen, das sich ja ebenfalls auf Japan bezieht – auch wenn Barthes im Vorwort postuliert, nicht über Japan zu schreiben? Barthes’ Text ist sehr tiefgründig. Er beschreibt kleine Szenen, schreibt sehr scharfsinnige Texte, er vermeidet Klischees, Generalisierungen und versucht nicht, die Kultur als Gesamtheit zu fassen, wie andere das tun. Ich glaube nicht, dass man eine Kultur gesamthaft beschreiben kann. Ich denke, wir müssen die Kultur in Japan oder Europa auch gar nicht voneinander unabhängig oder gesamthaft beschreiben und verstehen. Wir können eine andere Kultur nicht vollständig erfassen, aber wir können ihr begegnen und uns austauschen. Beispielsweise lese ich Texte von Theodor W. Adorno und Hannah Arendt, weil mich ihre Ideen in starkem Maße interessieren. Aber ich glaube nicht, dass ich ihre Gedanken in aller Tiefe verstehe. Ich muss aber auch nicht alle ihre Gedanken verstehen, ich möchte auf neue Ideen treffen. Da wir bei neuen Ideen sind: Was halten Sie von den jüngeren Entwicklungen in der Architektur?

H I R OS H I N A K AO

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Es gab in den 1960er Jahren eine interessante Szene in Wien, insbesondere faszinieren mich die Arbeiten von Walter Pichler und von John Hejduk, da beide eine starke poetische Kraft in ihrem Werk haben. Poesie verstehe ich hier im Sinne einer radikalen Haltung, nicht im romantischen Sinn. Wir haben die Poesie in der Architektur heute verloren. Wir haben sie überall auf der Welt verloren, besonders aber in Japan. Wo in Japan gab es denn eine poetische Herangehensweise? Beispielsweise im haiku. Vor langer Zeit hatten japanische Architekten dieses haikuGefühl. Die Struktur der haikus ist einfach – fünf, sieben, fünf Silben –, aber es gibt einen enormen Reichtum an Bedeutungen. Alte japanische Architektur entsprach diesem Gefühl, sowie auch alte Steingärten. Es existierte im Mittelalter und verschwand in der Edo-Zeit. Aber ich spüre etwas davon im Werk von Jannis Kounellis. Was halten Sie von den jüngsten Architekturentwicklungen in Japan? Nichts.

Coups de Sonde I–IV, Projekt, 1990

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HIROSHI NAKAO Biografie 1961 1985 1989 2012 2015

Geboren in Kobe Bachelor-Abschluss in Architektur, Kyoto Institute of Technology Institut of Art der University of Tsukuba Gründung eines eigenen Büros Gastdozent, Monash University Art Design & Architecture, Melbourne, Australien Professor, Shonan Institute of Technology, Fujisawa, Kanagawa

Wichtige Werke 1988 1990 1991 1994 1996 1997 2001 2002 2006 2012

Chairs for a photographer I–IV, Projekt Coups de Sonde I–IV, Projekt Weekend House, Osaka Black Maria, Sezon Museum of Modern Art, Karuizawa Haus mit Studio, Tokio Gisant / Transi, Sezon Museum of Modern Art, Karuizawa Slaughterhouse (with witness room), Sezon Art Program, Tokio Projektionskabine für einen Künstler, CiccilloMatarazzo-Pavillon, São Paulo, Brasilien Nobody Home, Aichi Prefectural Museum of Art, Nagoya Stawell Steps, mit Nigel Bertram, Stawell, Australien

Veröffentlichungen – Auswahl 1994 1997 1998 2000 2003 2016

Creating a Hollow, Gallery ROM, Oslo „Weekend House / House with Studio“, in: AA Files 33, Architectural Association, London Critic 4: Hiroshi Nakao, Tatsusuke Uehira, Osaka „Not to be at home / Creating a Hollow“, in: Quaderns 226, Association of Architects of Catalonia, Barcelona „House with Studio / Weekend House“, in: Hiroshi Nakao: Leib – Raum – Plan, Junius Verlag, Hamburg Monash Steps / Stawell Steps, Monash University Publishing, Melbourne

H I R OS H I N A K AO

147

SOU FUJIMOTO

Die Balance zwischen Ordnung und Unordnung

Herr Fujimoto, warum entschieden Sie sich, Architekt zu werden? Bestand schon in Ihrer Jugend eine Beziehung dazu? Architektur zu studieren war zunächst nicht mein Ziel (er lacht). Bevor ich mich für Architektur entschied, war ich mehr an Physik und Mathematik interessiert. Während meiner Zeit am Gymnasium las ich Bücher über Einstein und die Theorien der Physik im 20. Jahrhundert, und ich war fasziniert vom Konzept von Raum und Zeit, das von Einstein auf revolutionäre Weise neu definiert worden war. Für Architektur interessierte ich mich damals noch wenig. Gewiss machte es mir seit meiner Kindheit Spaß, Dinge herzustellen, aber nicht notwendigerweise Architektur. An der Universität stellte ich fest, dass Physik und Mathematik wirklich herausfordernde Studienfächer sind (er lacht). Es geht um eine vollständig andere Welt, und ich gab auf. Persönlich interessiere ich mich allerdings immer noch für die neuesten Theorien über das Universum, beispielsweise die Stringtheorie. Weil ich an einer Universität war, an der man zwischen Mathematik, Physik, Architektur, verschiedenen Ingenieurdisziplinen sowie anderen technischen und wissenschaftlichen Studiengängen wählen konnte, entschied ich mich für Archi­tektur. Damals war mir als Architekt nur Antoni Gaudí ein Begriff, sonst kannte ich keinen. An der Tokyo University stand die Architekturgeschichte der Moderne am Beginn des Studiums. Ich stellte fest, dass am Anfang des 20. Jahrhunderts – fast zur gleichen Zeit wie Einstein auf dem Gebiet der Physik – Le Corbusier, Ludwig Mies van der Rohe und andere moderne Architekten innovative Projekte schufen, die das Konzept der Architektur grundlegend veränderten. Derart fundamentale und konzeptionelle Umbrüche haben mich immer fasziniert. Und so begann sich meine Leidenschaft für die Architektur zu entwickeln, und ich hatte wirklich Freude an meinem Studienfach. Wer waren Ihre Professoren an der Tokyo University? Hisao Koyama und Hidetoshi Ohno lehrten an der Tokyo University. Ohno kam aus der Schule Fumihiko Makis, war damals aber bereits selbstständig tätig. Er fokussierte sich nicht nur auf die Architektur, sondern lehrte auch Städtebau. Koyama war eher ein Architekt im klassischen Sinne, er hatte vorher mit Louis Kahn gearbeitet. Das ergab eine gute Balance, und ich lernte von beiden viel. Es gab keine großen Namen wie Fumihiko Maki, Kenzo Tange oder Tadao Ando an der Universität, dadurch war die Atmosphäre meinem Empfinden nach offener, wir konnten tun und lassen, was wir wollten, und mussten nicht notwendigerweise den Fährten der Meister folgen.

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War in der Architekturgeschichte neben der westlichen Moderne auch traditio­ nelle japanische Architektur ein Thema? Es gab ein Seminar, in dem traditionelle japanische Architektur gelehrt wurde, und es gab auch Exkursionen zur historischen Architektur in Kioto oder Nara. Ich kannte sie, war aber damals nicht besonders daran interessiert. Mein Interesse an der traditionellen japanischen Kultur und Architektur entwickelte sich erst nach dem Studium. Weil ich kein Masterstudium absolviert habe, war meine Zeit an der Universität relativ kurz. Im ersten halben Jahr ging es um die Grundlagen des Zeichnens und um die Geschichte der westlichen Moderne, wie etwa Mies oder Le Corbusier. In den folgenden zwei Jahren hatten wir sechs oder sieben Entwurfskurse. Ich habe diese Kurse genossen, weil man wirklich frei in seinen Entscheidungen war. Sie haben das Studium 1994 abgeschlossen und Ihr Büro im Jahr 2000 gegrün­ det. Was geschah in den sechs Jahren dazwischen? Nach dem Studium hatte ich Angst vor allem, da ich jung und auch etwas naiv war. Ich spielte mit dem Gedanken, mich bei Kazuyo Sejima oder Toyo Ito zu bewerben, aber wenn sie mein Portfolio abschätzig beurteilt hätten, so hätte das für mich das absolute Ende bedeutet (er lacht). Es war hauptsächlich eine Zeit des Nachdenkens. Ich arbeitete alleine an sechs kleinen Projekten und konnte zwei Projekte für meinen Vater realisieren. Aber das Wichtigste für mich war, dass ich Zeit hatte, über Architektur nachzudenken, über die Architektur der Zukunft, voller Ruhe, fünf oder sechs Jahr lang.

Children’s Psychiatric Rehabilitation Center, Date, 2006

SO U F U J I M OTO

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Sind Sie viel gereist? Nicht besonders viel. Ich hätte mehr reisen sollen, denke ich heute. Während des letzten Jahres an der Universität reiste ich das erste Mal nach Europa und sah Gebäude von Le Corbusier und Mies. Ich reiste nach Frankreich, Spanien und Italien. Im darauffolgenden Jahr besuchte ich Griechenland und die Türkei. Ziele waren da die älteren Bauwerke, also klassische griechische und türkische Architektur. Das war aber auch schon alles. Ich bin nicht um die ganze Welt gereist. Und als Sie Zeit hatten, über Architektur nachzudenken: Haben Sie Bücher gele­ sen, Texte geschrieben, Skizzen gezeichnet? So kann man es beschreiben. Und ich habe damals ein Buch von Ilya Prigogine entdeckt. Er erarbeitete Gegenmodelle zur modernen, deterministischen Ordnungssystematik. Es geht dabei um flexible und dynamische Modelle, die auch das Chaos einbeziehen. Prigogine hat mich stark beeinflusst. Was war der Anlass für die Bürogründung? Der zweite Preis im Wettbewerb um das Aomori-Museum oder das Krankenhausprojekt für Ihren Vater? Der zweite Preis im Aomori-Wettbewerb war für mich etwas ganz Großartiges, denn Toyo Ito war Jurypräsident und nannte mich nach dem Wettbewerb einen Architekten einer interessanten, neuen Generation. Danach gewann ich einen kleinen Ideen­ wettbewerb und wurde zu einigen kleinen Ausstellungen eingeladen. Ich hatte kein wirkliches Projekt, aber ich dachte, es wäre vielleicht eine günstige Gelegenheit, meine Haltung zu ändern und offiziell ein Büro zu gründen. Und so begann alles, aber sehr langsam.

BTH GL+5,380

BTH GL+5,380

TER 03 GL+4,530

DRS GL+4,380

STR 03 GL+4,680

STR 02 GL+4,380

L 01 GL+2,520

PAN GL+3,589

TER 03 GL+4,530

BR GL+4,680

L 01 GL+2,520 L 03 GL+2,920

L 03 GL+2,920

K GL+2,200

ST GL+1,297 WC GL+1,297

EH GL+160 STR 05 GL-590

Schnitte

152

P GL+160 GST 01 GL-150

EH GL+160

P GL+160

House NA, Tokio, 2010

LDRY GL+6,130 SUN GL+4,780 TER 04 GL+5,080 STR 03 GL+4,680

BR GL+4,680

LBR GL+4,180 L 02 GL+3,120 LFT GL+3,520 L 04 GL+2220

K GL+2,200

STR 01 GL-150

GST 01 GL-150

CAR GL±0

TER 02 GL+1,920

TER 01 GL+2,715

D GL+1,920

GST 02 GL+360

CAR GL±0

PIT GL-700

SO U F U J I M OTO  153

ST GL+1,297

TER 02 GL+1,920

PAN GL+3,589

STR 01 GL-150

GST 01 GL-150

GST 02 GL+360



WC GL+1,297

K GL+2,200

STR 02 GL+4,380

STR 03 GL+4,680

DRS GL+4,380

BR GL+4,680

D GL+1,920



LBR GL+4,180

LDRY GL+6,130 EH GL+160

L 01 GL+2,520

L 02 GL+3,120

BTH GL+5,380 SUN GL+4,780

LFT GL+3,520

CAR GL±0



L 04 GL+2220 P GL+160

L 03 GL+2,920

▲ ▲



TER 01 GL+2,715

TER 03 GL+4,530

TER 04 GL+5,080 GL+5,780

House NA, Grundrisse

Die Beziehung zwischen Landschaft und Architektur ist ein Thema, das in Ihrem Werk immer wieder auftaucht. Was interessiert Sie daran? Bauen hat natürlich mit Architektur zu tun, aber in erheblichem Maße auch mit Natur. Innen ist Architektur, außen Natur. In Japan ist dieser Übergang verschwommen. Wie soll man also mit dem Verhältnis von Natur und Architektur, von innen und außen umgehen? Wir müssen über die Schnittstellen nachdenken: Es reicht nicht aus, ein Fenster einzubauen, vielmehr geht es um Schichten und Abstufungen. Als ich mit dem Aomori-Wettbewerb begann, versuchte ich geometrische Muster zu entwickeln, in denen sich Natur und Architektur, Komplexität und Einfachheit verbinden sollten. Heute beschäftige ich mich nicht mehr allein mit Geometrien, sondern ganz unterschiedlichen Themen, die eine Mischung von natürlichen Dingen und Architektur erlauben. Die getreppten Strukturen beim „Serpentine Gallery ­Pavilion“ kann man auch als Landschaft verstehen. Ich interessiere mich seit einiger Zeit für das Vermischen der Maßstäbe: Es gibt den menschlichen Maßstab, den Maßstab der Möbel, den architektonischen Maßstab und den Maßstab der Landschaft. Ich suche nach Wegen, nicht nur architektonische Elemente zu mischen, sondern auch Elemente der Natur oder des Urbanen in die Architektur zu integrieren. Für mich sind diese Mischungen ein spannendes Thema. Sie bilden den Kern meines architektonischen Denkens. Wie viele japanische Architekten haben Sie sich für Tokio als Bürostandort ent­ schieden. Welche Bedeutung besitzt die Erfahrung der Stadtlandschaft von Tokio für Sie? Ich bin im ländlichen Hokkaido aufgewachsen, und so war Tokio für mich eine völlig neue Erfahrung. Aber das Gefühl, wenn man durch die schmalen Gassen der Wohnbezirke Tokios geht, ist ähnlich angenehm wie im ländlichen Hokkaido. Meiner Meinung nach ist die Grundstruktur des Raums die gleiche. In einem Wald ist man von vielen unterschiedlichen Dingen kleinen oder mittelgroßen Maßstabs umgeben, die zusammen ein Territorium schaffen. Man fühlt sich geschützt, und doch ist es kein eng begrenztes Areal, man kann sich seinen eigenen Weg suchen. In Tokio ist zwar alles künstlich, aber es wird noch durch den kleinen Maßstab geprägt. Wenn

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Bibliothek der Musashino Art University, Tokio, 2010

man inmitten einer kleinen Straße in Tokio steht, fühlt man sich wie in einem Wald. Es ist ein künstlicher Wald, der aus vielen kleinen Häusern und anderen Dingen besteht. Der Raum ist offen – und doch nicht vollständig offen. Diese Art von Ähnlichkeit zwischen dem Natürlichen und der völlig künstlichen Situation in Tokio war eine große Überraschung für mich. Sie bildete den Ausgangspunkt für mich, darüber nachzudenken, wie wir diese unterschiedlichen Situationen zusammenbringen können, wie wir mit Gegensätzlichem umgehen können, das ähnliche räumliche Qualitäten aufweist. Ich versuchte, Zwischenräume zu entwickeln, die eine Mischung von Stadt, Architektur und all den kleinen Dingen sind, die Tokio bestimmen – verschiedene Maßstäbe werden also verbunden. Durch Tokio spazierend, wurde ein derartiges Denken sukzessive zur Grundlage meiner Architektur. Tokio besteht zum Großteil aus kleinen Nachbarschaften mit kleinen Gebäuden. Diese alltäglichen Bauten sind die unmittelbaren Nachbarn vieler Ihrer Projekte. Wie gehen Sie damit um? Mit meinen Gebäuden versuche ich etwas wie Tokio selbst zu schaffen, unabhängig davon, wie die Nachbarschaft aussieht. Denn wenn ein Gebäude selbst Tokio repräsentiert, dann passt es auch nach Tokio. Noch einmal: Der Maßstab ist extrem wichtig. Wenn die kleinen alten Häuser in Tokio durch Gebäude mittlerer Größe ersetzt werden, verliert Tokio seine Maßstäblichkeit. Und das verachte ich. Beim „House NA“, das sich inmitten einer typischen Tokioter Nachbarschaft befindet, arbeitete ich mit einer Anzahl von kleinmaßstäblichen Elementen: dünne Deckenplatten, dünne Stützen. Das Haus bezieht sich nicht auf seine unmittelbare Umgebung, es ist von Tokio selbst inspiriert. Wir müssen Tokio retten, indem wir Bauten

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entwerfen, die wie Tokio sind. Die „Tokyo Apartments“ sind dafür auch ein Beispiel: ein Arrangement kleiner Häuser. Bestünde es aus einem großen Volumen, so zerstörte dies die Maßstäblichkeit von Tokio. Daher entwarf ich mehrere kleine Volumina, die ineinandergreifen. Ein anderes Element, das immer wieder in Ihren Arbeiten auftaucht, ist der ­Raster, eine Struktur, die in mehreren Dimensionen Anwendung finden kann. Der Raster ist ein grundlegendes Prinzip in der Architektur, auch in der Vergangenheit. Er ist gewissermaßen ein Gegenpol zum Chaos. Wie arbeiten Sie damit? Vor dem „Serpentine Gallery Pavilion“ habe ich mich kaum mit Rastern beschäftigt. Das „Children’s Psychiatric Rehabilitation Center“ besteht aus einem zufälligen Arrangement von Boxen; es ist das Gegenteil einer Rasterstruktur, eher das der Zuspitzung eines Gedankens von Prigogine oder der Gestaltung eines japa­nischen Gartens. Dann kam das Aomori-Projekt, das eine Zwitterstellung einnimmt: Auf Basis eines Rasters entsteht etwas, das mit einem Raster nichts zu tun hat, Ordnung und Unordnung verbinden sich. Diese Mischung interessiert mich. „House N“ schließlich zeigt eine einfache Ordnung: eine Box in einer Box in einer Box, wobei die Anordnung der Öffnungen variiert und eine Unordnung hineinbringt. In meinen Projekten geht es stets um das Gegenüber von Ordnung und Unordnung oder, besser gesagt, von Einfachheit und Komplexität. Und das bedeutet auch, es geht um künstliche und natürliche Dinge. Die Natur ist in gewissem Sinne geordnet, aber auch sehr komplex. In der Bibliothek der Musashino Art University geben die Regale eine rigide Ordnung vor, aber der Grundriss ist eher frei geformt, und die Fenster schließlich sind fast zufällig gesetzt; auch hier besteht also eine Balance von Ordnung und Freiheit. Als ich am „Serpentine Gallery Pavilion“ arbeitete, wurde der Raster kleiner, so dass eine Beziehung zwischen dem Raster und etwas, das sich hinter dieser Ordnung befindet, entstand. Ich arbeitete also mit dem Raster, aber er war nicht das eigentliche Thema. Das Thema ist immer die Balance zwischen Einfachheit und Komplexität oder Ordnung und Unordnung. Wenn ich nicht der Meinung gewesen wäre, mit dem Raster könnte diese Balance erzielt werden, hätte ich ihn nicht genutzt. Bis zur Fertigstellung befürchtete ich, dass der Raster zu rigide wirkte. Aber am Ende merkte ich, dass sich genau die Balance einstellte, die mir vorschwebte. Denn wenn man aus einer gewissen Entfernung auf den Pavillon blickte, löste sich die Ordnung wie in einer Wolke auf. Diese Erfahrung motivierte mich, weiter mit Rastern zu arbeiten. Ist der Raster auch ein Mittel für Sie, mit unterschiedlichen Maßstäben umzuge­ hen? Sie begannen mit kleinen Gebäuden, aber mittlerweile arbeiten Sie auch an großmaßstäblichen Planungen. Es ist eine spannende Herausforderung, mit unterschiedlichen Maßstäben zu arbeiten. Denn manchmal sollten großmaßstäbliche Bauten kleinmaßstäblichere Formen und Strukturen beinhalten. Und manchmal ist es tatsächlich möglich, ein großes Gebäude auf der Basis von kleinen Elementen zu entwerfen. Einfache und klare, im Kleinen gültige Regeln bilden dann den Ausgangspunkt. Von Prigogine lernte ich, dass einzelne Situationen geordnet sind, während das für das Gesamte nicht gilt. Ein einzelner Raster ist gewissermaßen langweilig. Aber wenn man Tausende von Rastern hat, wird die Situation unkontrollierbar, chaotisch,

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fraktal. Wenn man eine Box des „Children’s Psychiatric Rehabilitation Center“ be­ trachtet, ist das nicht besonders aufregend. Aber 20 oder 30 Boxen in einer zufälligen Weise arrangiert schaffen Vielfalt. Wie schaffen Sie Zufälligkeit? Nehmen wir als Beispiel das „House N“: Wie zufäl­ lig war die Setzung der Öffnungen und Fenster? Es gibt gewissermaßen keine Regeln, auch wenn die Grundform des Hauses dem Goldenen Schnitt folgt. Das war eine Festlegung – wenn auch ohne Notwendigkeit –, und dann oblag es uns, die Position der Öffnungen zu definieren. Letztlich wollten wir, dass die Öffnungen aus verschiedenen Perspektiven gut funktionieren. Die Einblicke von außen sind blockiert, während das Haus sich von innen öffnet. Ändern Sie mitunter Elemente des Entwurfs während der Ausführung? Manchmal ja, manchmal nein. Es ist unterschiedlich. Beim „House N“ änderte ich die Position der Fensteröffnungen während der Ausführung. Als ich auf die Baustelle kam, sah die ursprüngliche Einteilung nicht gut aus. So versetzte ich bestimmte Elemente an andere Positionen. Sie haben einmal ein Gebäude mit einer Ruine verglichen. Welche Bedeutung haben Ruinen für Sie? Ich verstehe Ruinen als geordnete Unordnung. Am Anfang entwirft und realisiert jemand ein Gebäude – später verschwindet das Dach, das Gebäude zerfällt und wird zur Ruine. Aus Ordnung wird sukzessive Unordnung, totale Zerstörung, und ganz am Ende ist nicht mal mehr eine Ruine vorhanden, sondern lediglich Natur. Aber die Natur hat ihre eigene Ordnung, eine andere Art von Ordnung. Natur besitzt eigentlich eine perfekte Ordnung. Also verschwindet eine Ordnung, und eine andere entsteht. Die Ruine befindet sich zwischen beiden Ordnungen, man kann sie als Schnittstelle verstehen – zwischen Ordnung und Unordnung. Ruinen sind sehr interessant, überraschend, sie sind etwas jenseits der Zeit und jenseits des logischen Denkens. Sie sind faszinierend. Arata Isozaki visualisierte einige seiner Projekte im Zustand des Zerfalls. Gibt es eine spezifisch japanische Sicht auf Ruinen? Ich weiß es nicht. Louis Kahn sprach über die Ruinen in Rom und Ägypten und versuchte, eine Architektur mit Eigenschaften von Ruinen zu entwerfen. Ich glaube, Isozaki war von Kahn beeinflusst, und ich selbst bin beeinflusst von Koyama, der ebenfalls Beziehungen zu Kahn hatte. Es gibt meines Erachtens keine spezifisch japanische Sicht auf Ruinen, aber grundsätzlich haben Ruinen in unterschiedlichen Zeiten und Kulturen eine Art von romantischem Gefühl ausgelöst. In Deutschland gibt es viele Burgruinen, die Touristen aus aller Welt anlocken. Ich denke, die Faszination für Ruinen ist international. Um auf Japan zu sprechen zu kommen: Meiner Meinung nach lässt sich der japanische Garten wie eine Ruine verstehen. Denn er verändert sich mit der Zeit und behält doch seine grundlegende Struktur. Japaner mögen also auch romantische Dinge. Auch die Metabolisten waren an der Kombination einer generellen Struktur mit wandelbaren Elementen interessiert. Haben derartige Gedanken für Sie heute noch Bedeutung?

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Serpentine Gallery Pavilion, London, Großbritannien, 2013

Mich beeindruckt an der metabolistischen Bewegung, dass alle Beteiligten ganz verrückte futuristische Visionen entwickelten. Die Idee des Metabolismus ist nicht tot; es stellt sich aber die grundsätzliche Frage, was man unter dem Organischen versteht. Nach der klassischen Moderne versuchten die Metabolisten, Architektur als organisch neu zu verstehen. Aber ihr organisches Denken war hierarchisch, und das lehne ich ab. Heute, im 21. Jahrhundert, im Zeitalter des Internet, verstehen wir das Organische im Sinne eines Netzwerks, also komplexer. Es gibt keinen zentralen Kern, sondern wechselseitige Beziehungen, wie im Gehirn. Das organische Denken der Metabolisten glich der Organisation des Körpers, nicht der des Hirns. Aber dennoch bleibt die Frage, wie man das Organische als Gegenmodell zur klassischen Architektur verstehen kann, virulent. Einige von Kisho Kurokawas Entwürfen inspirieren mich noch immer. Wir wiederholen die Geschichte in unterschiedlicher Weise und interpretieren das Organische neu. Das ist das Spannende an Geschichte: Man findet immer etwas, das inspiriert. Werfen wir einen Blick auf die aktuelle Architekturszene in Japan. Es gibt eine Reihe auch international erfolgreicher Architekten in Ihrer Generation. Gibt es einen intellektuellen Austausch in dieser Generation, zwischen der älteren und der jüngeren Generation, oder kämpft jeder für sich? Ich habe guten Kontakt zu Kazuyo Sejima, Ryue Nishizawa und Toyo Ito. Manchmal treffen wir uns, aber wir sprechen nicht viel über Architektur (er lacht). Es ist wohl anders als früher. Toyo Ito sagt, früher hätten alle Architekten miteinander gesprochen, diskutiert und debattiert. Das ist heute nicht mehr so. Die meisten Architekten

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meiner Generation kennen sich untereinander, wir gehen vielleicht ein- oder zweimal im Jahr etwas trinken, aber Architektur ist kaum ein Thema. Aufgrund prominenter Exponenten genießt die japanische Architektur generell eine hohe Reputation. Aber sie besteht aus Individuen, die ihren eigenen Stil verfolgen und dem Klischee von der typisch japanischen Architektur entfliehen wollen. Wir sind sehr unterschiedlich, auch in meiner Generation. Hoffentlich finden wir unseren je eigenen Weg, wie Kazuyo Sejima, Kengo Kuma oder Shigeru Ban. Wie ist die Situation Ihres Büros? Wer sind Ihre Bauherren? Ich habe mehr und mehr Projekte außerhalb Japans. Japans Wirtschaft befindet sich in keinem guten Zustand. Außerdem übernehmen die großen Generalunternehmer und Architekturfirmen viele Projekte, und es gibt bedauerlicherweise kaum interessante Wettbewerbe. Aber es gibt zumindest noch kleinere interessante Projekte von privaten Bauherren. Nicht nur für Wohnhäuser, sondern mitunter auch für kleinere kommerzielle oder öffentliche Gebäude. Es gibt also noch interessante Aufgaben, wir müssen interessante Architektur mit kleineren Projekten umsetzen. Die großen Bauaufgaben werden immer langweiliger.

École Polytechnique Learning Center, Paris, Frankreich, Projekt, 2015

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SOU FUJIMOTO Biografie 1971 1994 1994–95 2000 2012

Geboren in Hokkaido Bachelor-Abschluss in Architektur, University of Tokyo Erste Reisen nach Europa und in die Türkei Gründung Sou Fujimoto Architects, Tokio Goldener Löwe für den besten Beitrag eines Landes für den Japanischen Pavillon auf der 13. Internationalen Architekturausstellung, Architektur-Biennale Venedig

Wichtige Werke 1996 2002 2003 2005 2006

2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014

2015

Erweiterung Seidai Hospital, Higashigakura, Hokkaido Shijima Cottage, Nagano Dormitory for Mentally Disabled, Date, Hokkaido House T, Gunma 7/2 House, Hokkaido Children’s Psychiatric Rehabilitation Centre, Date, Hokkaido Altersheim, Noboribetsu House O, Tateyama Tokyo Apartment, Tokio House N, Oita Final Wooden House, Kumamoto, Kyushu House H, Tokio House before House, Utsunomiya House NA, Tokio Bibliothek der Musashino Art University, Tokio Gartenpavillon, Skulpturenpark, Köln, Deutschland House K, Nishinomiya Serpentine Gallery Pavilion, Hyde Park, London, Großbritannien The Miami Design District Palm Courtyard, Miami, USA Hochhausprojekt White Tree, Montpellier, Frankreich (in Planung) Haus der ungarischen Musik (1. Preis Wettbewerb), Budapest, Ungarn (in Planung) Mirrored Gardens, Vitamin Creative Space, Guangzhou, China École Polytechnique Learning Centre (1. Preis Wettbewerb), Paris-Saclay, Frankreich (mit Manal Rachdi OXO Architects und Nicolas Laisné Associates, in Planung)

Veröffentlichungen – Auswahl 2008 2009 2010 2012 2013 2015

Primitive Future, Inax Publishing, Tokio Sou Fujimoto, 2G N.50, Editorial Gustavo Gili SL, Barcelona Musashino Art Museum & Library, Inax Publishing, Tokio Sou Fujimoto 2003–2010 (El Croquis 151), Madrid Sou Fujimoto: Sketchbook, Lars Müller, Zürich Sou Fujimoto: Futurospective Architecture, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln Serpentine Gallery Pavilion, Koenig Books, London Sou Fujimoto: Recent Work, A.D.A Edita, Tokio Sou Fujimoto: Architecture Works 1995–2015, TOTO Publishing, Tokio

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RYUJI NAKAMURA

Schwerkraft ist der Schlüssel

Herr Nakamura, gab es in Ihrer Kindheit eine Beziehung zur Architektur? Warum wollten Sie Architekt werden? Als ich in die Grundschule ging, sah ich mir gern Häuser an. Nicht die von Architek­ ten entworfenen – zu der Zeit wusste ich noch nicht einmal von der Existenz sogenannter Architekten –, sondern die, die von lokalen Handwerkern gebaut wurden. So erwachte mein Interesse für Architektur in meiner Kindheit. Meine Eltern besaßen ein Spirituosengeschäft, mein Vater war also nicht der typische Angestellte, der morgens das Haus verlässt. Er war immer zu Hause. Das mag meine Wahl für Archi­ tektur beeinflusst haben, für einen Beruf, der es nicht erfordert, jeden Tag zu pendeln. Ich war vertraut damit, nicht das Haus verlassen zu müssen, um zu arbeiten. Aufgewachsen sind Sie in der Präfektur Nagano. Was für Häuser gab es damals in Ihrer Umgebung? Ich bin in Ina aufgewachsen. Die Häuser in meiner unmittelbaren Umgebung waren traditionell, ganz anders als in Tokio. Unser Bad beispielsweise befand sich in einem separaten Gebäude, das mein Vater gebaut hatte und das ganz altmodisch war. Um warmes Wasser zu bekommen, musste man Feuer machen. Ich lernte also, Feuer zu machen, und ich spürte die Kälte im Winter und die Hitze im Sommer auf dem kurzen Weg zwischen dem Haupthaus und dem Badehaus, ob mir das nun gefiel oder nicht. Die Häuser besaßen traditionelle Dächer aus japanischen Kawara-Ziegeln, und mir bereitete es Freude, die verschiedenen Dächer anzusehen. Die Dachziegel und Formteile hatten geheimnisvolle Ornamente, es waren praktisch die gleichen Formen und Farben auf jedem Haus. So glichen die Dächer einander, doch es gab auch Abweichungen, weil die Grundrisse der Häuser sich unterschieden. Diese kleinen Unterschiede interessierten mich. Manche Dächer waren leicht gekurvt. Ich mochte die Kurven – besonders als ich erfuhr, dass sie zur Verbesserung der Statik beitrugen. Und ich erlebte die Renovierung unseres eigenen Hauses, natürlich hatte es auch Kawara-Ziegel, es war eine interessante Erfahrung. Später zog ich zum Studium nach Tokio und erlebte eine große Stadt. Im Studium erfuhr ich erstmals, dass es etwas wie Ästhetik und Sichtweisen auf das Schöne gibt, und zum ersten Mal begriff ich, weshalb ich die Kawara-Dächer mochte. Sie studierten dann Architektur an der Hosei University und der Tokyo National University of Fine Arts and Music. Nach Ihrem Studienabschluss 1999 begannen Sie, im Büro von Jun Aoki zu arbeiten. Warum wählten Sie gerade dieses Büro? Mich faszinierte das „L House“ von Jun Aoki. Ich habe es mir angesehen und auch einen Artikel darüber gelesen, der den Titel „Itareri Tsukuseri de Naikoto“ („Nicht zu

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hechima­Stuhl, 2005

perfekt“) trug. Ich war beeindruckt von dem Text und ich fand, das Haus war wirklich gut. Seine Erscheinung wird durch eine Masse aus Beton geprägt, die wie ein Keramikrohr auf einer unbebauten Parzelle wirkt. Die einzelnen Funktionsbereiche des Hauses erscheinen oder verschwinden wieder, je nach Standpunkt. Ich bin überzeugt, dass Funktion und Form nicht perfekt zusammenspielen sollten, besonders bei Wohnhäusern. Eine gewisse Distanz zwischen Form und Funktion ist nötig, denn so entstehen Wohnlichkeit und Imagination. Ich selbst arbeitete im Büro am „Y House“, das dem „L House“ ähnelt. Der Bauherr wohnt in einem Betonkörper, der wie eine Ingenieurkonstruktion aussieht und doch ein Wohnhaus ist. Leider wurde das Projekt nicht realisiert, aber es hatte großen Einfluss auf mein räumliches Verständnis von Gebäuden und Ausstellungen. Anschließend arbeitete ich am Ausstellungsprojekt „Farm“, am „Mitsubishi Motors Showroom“ und an „Louis Vuitton Roppongi“. Beim „Y House“ lernte ich die Bedeutung der Differenz von Form und Funktion kennen. Darüber hinaus begann mit anderen Projekten mein Interesse für das Phänomen der Aggregation einzelner Elemente. Ich beschäftigte mich intensiv mit der Beziehung zwischen dem Ganzen und seinen Teilen, speziell hinsichtlich Größe, Materialität und Struktur. Die Fassade von „Louis Vuitton Roppongi“ beispielsweise wurde aus 20.000 fragilen Glasröhren erstellt. Die Beziehung zwischen dem Ganzen und seinen Teilen ist entscheidend für die Wirkung. Mich interessierte auch die Heterogenität in der Homogenität. Je feiner und homogener die Teile sind, desto

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cornfield, Tokio, 2010

heterogener wirken sie letztlich. Diese Erkenntnis hatte großen Einfluss auf meine Installationen. Hinsichtlich der Struktur konnte ich bei dem Projekt „Louis Vuitton Roppongi“ keine entscheidenden Beziehungen zwischen dem Ganzen und seinen Teilen erzielen. Das blieb nicht ohne Einfluss auf meine späteren Installationen. Ein wichtiges Thema, mit dem ich mich bei Aoki beschäftigte, war natürlich auch die Transparenz. 2004 gründeten Sie Ihr eigenes Büro. Was war der Auslöser oder Grund dafür? Hatten Sie einen Auftrag erhalten? Einen wirklichen Auslöser gab es nicht, außer dass Jun Aoki seine Mitarbeiter ermutigt, nach vier Jahren ihren „Abschluss“ zu machen und das Büro zu verlassen – so wie an der Hochschule. Ich hatte gerade „Louis Vuitton Roppongi“ abgeschlossen, es war also ein guter Zeitpunkt, etwas Eigenes zu machen. Sie begannen also ohne Bauherrn und ohne Projekt? Das ist richtig, einen Bauherrn hatte ich nicht. Woran haben Sie gearbeitet? 2004 oder 2005 gab es einen Wettbewerb des Kunstfestivals Daikanyama Installation. Die Sieger erhielten Geld, um den Beitrag umzusetzen, und ich gewann. Der Entwurf entsprach eigentlich dem hechima-Stuhl, wurde aber in Holz umgesetzt. Heute wird der hechima-Stuhl aus Papier gefertigt. Nach der Daikanyama

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Installation lud mich Aoki ein, mit ihm für ein Brillenlabel zu arbeiten und das Interieur einer Filiale zu planen. Der Entwurf wurde in einem Magazin publiziert. Dadurch kamen Projekte für mich ins Laufen und ich realisierte verschiedene Filialen für dieses und für andere Labels. Derzeit nehmen Sie zusammen mit Tomás Saraceno und Ólafur Elíasson an internationalen Kunstausstellungen teil. Welche zeitgenössischen Künstler inter­ essieren Sie? Der Fotograf Takashi Homma. In seinem Buch Tanoshii Shashin (Angenehme Fotografie) schreibt er sowohl über Fotografie als auch über Sichtweisen oder Perspektiven auf das Herstellen von Dingen. Ich finde sein Werk sehr interessant und auch sehr inspirierend. Zwischen der Fotografie und dem Herstellen von Dingen scheint keine Beziehung zu bestehen, aber seine Sichtweise dient als nützliche Referenz. Ich schätze überdies das Werk von Herzog & de Meuron, besonders ihre frühen Arbeiten, von denen ich mich stark beeinflusst fühle. Sind Sie auch beeinflusst von der Architekturgeschichte oder historischer Archi­ tektur in Japan? Ich mag alte Tempel ihrer Dächer wegen. Sie faszinieren mich seit meiner Kindheit. Mir gefallen auch kleine Kieselsteine, die übereinandergeschichtet sind, oder Ziegelsteine, die zusammen eine größere Struktur bilden, auch wenn das mit Geschichte nichts zu tun hat. Traditionelle japanische Architektur ist in hohem Maße auf den

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bang, Tokio, 2011

Garten bezogen und durch eine starke Beziehung zwischen außen und innen gekennzeichnet. Die Verbindung zwischen dem Fenster und dem Äußeren ist wichtig. Aber das ist etwas, was nicht nur in Japan, sondern wohl auch in Europa gilt. Daher scheint es mir nicht unbedingt ein Spezifikum der japanischen Architektur zu sein. Wie verhält es sich mit der Bewegung des Metabolismus? Was denken Sie über die Bedeutung dieser wichtigen japanischen Architekturströmung? Ist sie heute noch von Relevanz? Der Metabolismus ist wichtig im Sinne seiner historischen Relevanz, aber die Zeiten haben sich geändert. So haben sich auch die Methoden des Metabolismus geändert und ausdifferenziert. Am Anfang stand das Bild von Kapseln. Aber heute gibt es völlig andere Wege des Metabolismus und mehr Möglichkeiten denn je. Ich glaube, es wird auch in Zukunft einen Weg geben, der vielleicht nicht mehr aussieht, als sei er vom Metabolismus beeinflusst, aber doch die Grundidee enthält. Beim früheren Metabolismus ging es darum, etwas völlig Neues zu erschaffen. Der heutige Metabolismus, den ich im Renovieren von alten Häusern erkenne, nutzt die Form, die früher für andere Zwecke gebaut worden war, und interpretiert ihre Bedeutung anders. Das hat mit der wichtigen Differenzierung zwischen Form und Inhalt zu tun, von der ich in Zusammenhang mit dem „L House“ und dem „Y House“ von Aoki gesprochen habe. Lassen Sie uns über Ihre Projekte und Ihre Art des Entwerfens sprechen. Wenn man Ihr Entwurfsverständnis nachvollziehen möchte: Welche Projekte würden Sie auswählen, die Ihre Gedanken und Konzepte anschaulich werden lassen? Ich denke, das wären „cornfield“, „bang“ oder „catenarhythm“. Das Projekt „beam“ ist für mich ebenfalls wichtig.

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catenarhythm, Tokio, 2008

Gibt es ein Projekt, dessen Ergebnis Sie überrascht hat? Etwas, das Sie nicht erwartet haben? Für das Projekt „catenarhythm“ verwendete ich von der Decke hängende Bänder, die in Form von Parabelkurven den Raum gliederten. Die Besucher mussten über die Bänder steigen, um die Installation zu betreten. Ich wusste, dass die Besucher darüber stolpern könnten, das war durchaus intendiert. Die Bänder hätten sich von der Decke gelöst, wäre man auf sie getreten; daher entwarf ich sie so, dass sie schnell wieder befestigt werden konnten. Was ich nicht erwartet hatte, war die Beziehung zwischen den Bändern und den Besuchern, die über die Bänder stiegen und durch den Raum gingen. Während des Entwurfs hatte ich mich auf die visuellen Aspekte der Bänder konzentriert und die Interaktion zwischen Besuchern und Bändern außer Acht gelassen. Die meisten Ihrer Arbeiten sind entweder weiß oder polychrom. Wie wichtig ist Farbe für Ihre Projekte, und wann verwenden Sie Farbe anstatt Weiß? Ich verwende häufig Weiß. Ich mag Weiß, weil es durch die Umgebung beeinflusst wird. Weiß hat am Morgen eine bläuliche Färbung, während es am Abend eine orangefarbene Tönung annimmt. Und so wird das Innere des Hauses oder das Projekt durch das Sonnenlicht moduliert. Wenn man etwas Rot streicht, ist alles, was man spürt, rot, und es ist kaum möglich, andere Farben wahrzunehmen. Es ist schwer, in einer roten Umgebung Blau wahrzunehmen. Es ist gut, wenn ein Raum von seiner Umgebung beeinflusst und verändert wird, und das funktioniert mit Weiß am besten. Wann verwenden Sie dennoch Farben, wie etwa in ihrem Projekt „bench“? „Bench“ ist so bemalt, dass die Farben wechseln, wenn man seinen Standort verändert. Die Farben verändern sich in Beziehung zum Betrachter. Wichtig für dieses

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Projekt ist nicht so sehr die Farbe selbst, wichtig sind Distanz und Beziehung zwischen Objekt und Betrachter und wie sich diese Verhältnisse verändern. Ihre Entwürfe gehen häufig bis an die Grenzen des Materials und sprengen diese fast, wie zum Beispiel bei „spring“. Was interessiert Sie daran? Ich denke nicht, dass ich die Grenzen sprengen möchte. Was mich interessiert, ist, dass ich mich auf der Grenze bewege. Wenn es beispielsweise um Gewicht geht, so bin ich auf der Grenze, wenn es möglich ist, beide Seiten zu spüren: Etwas ist leicht, oder etwas ist schwer. Wenn man sich auf der Grenze befindet, kann es beides sein – abhängig von der jeweiligen Situation und dem, was gerade wichtig ist. Ich nutze oft feine Linien, aber nicht, weil ich es für besser halte, je feiner es ist. Der Schlüssel ist die Schwerkraft. Wenn das Material dünner ist, wird die Schwerkraft deutlicher sichtbar. Haben Sie jemals etwas Hartes, Solides, Schweres entworfen? Und was bedeu­ tet es für solch ein Projekt, sich auf der Grenze zu bewegen? Das Projekt „blank room“ hat in gewisser Hinsicht mit der Schwere zu tun. Was hier interessant ist: Wenn gebogene Metallstreifen kurz sind, so sind sie sehr hart und stabil, doch wenn sie lang sind, etwa sieben Meter, so werden sie weich. Das erklärt den Gedanken, sich auf der Grenze zu bewegen. Es handelt sich um das gleiche Material, doch sein Verhalten wird von der Länge beeinflusst. Auch „beam“ hat für mich mit Schwere zu tun. Ein Träger wiegt 200 Kilogramm. Aus einer bestimmten Distanz und einem bestimmten Blickwinkel wird der Träger zu einem grafischen Element. Die Tiefe verschwindet, es gibt nur noch zwei Dimensionen.

blank room, Tokio, 2010

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beam, Tokio, 2011

beam, Grundriss

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spring, Mailand, Italien, 2012

Ein dreidimensionales Objekt wird zu einem zweidimensionalen, verliert sein Gewicht und erscheint weich. An der Kunst ist interessant, dass man nie ganz genau weiß, wie sie zu interpretieren ist. Kunst hat den Anspruch, auf der Grenze zu sein. Nehmen wir als Beispiel einen Stuhl: Wenn man ihm eine Form gibt, bei der unklar ist, ob es sich um einen Stuhl handelt oder nicht, dann könnte es vielleicht auch ein Tisch oder ein Kissen sein. Es ist schwer zu entscheiden, was es ist. Das bedeutet für mich, sich auf der Grenze zu bewegen. Die Kunst selbst bewegt sich auf der Grenze, sie kann unterschiedlich betrachtet werden. Sie arbeiten an vielen Installationen und Kunstwerken. Besteht für Sie ein Unter­ schied, ob Sie an einem Kunstwerk oder an Architektur arbeiten? Was sind die Beziehungen zwischen Installationen und Architektur? In räumlicher Hinsicht sind Installation und Architektur für mich das Gleiche. Bei der Architektur hat man ein Stück Bauland, bei Installationen den Galerieraum mit seinen eigenen Charakteristika, aus denen man die Rahmenbedingungen für das Kunstwerk extrahiert. In dieser Hinsicht sind sich beide sehr ähnlich.

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2001

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Stütze: Klavierdraht 0.3 ø

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Lötstelle

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Träger: Klavierdraht 0.3 ø

Träger: Klavierdraht 0.3 ø

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1042

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813

Schrumpfhülse L = 5

93

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86

619

79

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454

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381

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314

93 48 FL

Ansicht

7

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7 41 45

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53

57

252

Detail

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Ihre Entwürfe für Häuser unterscheiden sich von Ihren Installationen. Worin besteht die Gemeinsamkeit, ein Haus oder eine Installation zu entwerfen? Ich habe über die Bedeutung der Schwerkraft für meine Installationen gesprochen, aber die Schwerkraft ist auch der Kern meiner architektonischen Entwürfe, denn sie beeinflusst die Struktur. Die Schwerkraft ist definitiv ein verbindendes Element. Und es gibt noch etwas anderes: Architektur ist groß, meine Installationen sind groß, und ich frage mich immer, wie man etwas Großes herstellen kann. Während kleine Gegenstände wie eine Tasse aus einem einzelnen Stück bestehen, kann man einen Raum nicht aus einem einzelnen Stück herstellen. Wenn man etwas Großes realisiert, handelt es sich immer um eine Zusammenfügung von Teilen. Inwiefern ist der Maßstab für Sie ein Thema? Wäre eine Struktur, die Sie entwer­ fen, auch in einem anderen Maßstab denkbar? Ich beginne mit einem kleinen Teil. Es kann größer werden, wenn ich möchte, dass mein Objekt zu einem größeren Maßstab heranwachsen kann. In die Fläche kann es sich problemlos ausdehnen, doch bei vertikalem Wachstum wird die Schwerkraft erneut zum Thema. Bei vertikaler Ausdehnung muss die Basis angepasst werden, um die Lasten aufzunehmen. Die Breite der Basis muss verändert werden. Ich kann mir einen veränderten Maßstab beim Projekt „spring“ vorstellen. Es wäre spannend, es im Freien in einem größeren Maßstab zu sehen. Es wäre auch interessant, wenn einer der Träger den Maßstab eines Hauses besäße. Besonders „spring“ scheint hinsichtlich seiner Konstruktionsweise komplex. Wie wichtig ist Ihnen die Arbeit an den Details Ihrer Projekte? Ich kann nicht mit Dingen umgehen, die zu kompliziert sind. Ich arbeite im Entwurfs­ prozess mit meinem Verständnis, wie Dinge funktionieren, und das führt zu Installationen, die einfach erscheinen. Die Installationen sind meistens so groß, dass ich sie nicht eigenhändig aufbauen kann. Daher brauche ich ein System und Details. Ich experimentiere mit dem System und bin zufrieden, wenn es funktioniert. Wenn ich entwerfe, muss ich mir immer ein System überlegen, das auch von meinen Assistenten, vorwiegend Studierenden, verstanden werden kann. Das System und die Details sind sehr wichtig. Einige der Assistenten sind handwerklich begabt, andere weniger. Einige arbeiten schnell, andere langsam, so benötige ich ein System, mit dem jeder umgehen kann. Diese Methode kann man als das Resultat meines Entwerfens verstehen. Wie entstehen Ihre ersten Entwurfsideen? In Form von Skizzen, Zeichnungen, Modellen, oder vielleicht sogar manchmal durch ein spielerisches Vorgehen? Manchmal entstehen sie, wenn ich in einer Buchhandlung bin und Bücher oder Zeitschriften ansehe. Die Ideen kommen meistens, wenn ich entspannt bin, herumgehe, mich umsehe. Manchmal spiele ich auch einfach mit Papier oder anderen Materialien, und plötzlich kommt eine Idee. Je entspannter ich bin, desto konkreter wird die Idee.

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RYUJI NAKAMURA Biografie 1972 1999

Geboren in der Präfektur Nagano Master-Abschluss, Tokyo National University of Fine Arts and Music 2000–03 Mitarbeiter bei Jun Aoki & Associates, Tokio 2004 Gründung von Ryuji Nakamura & Associates, Tokio Wichtige Werke 2005 2008 2009 2010

2011 2012 2014

hechima-Stuhl, Daikanyama Installation, Tokio catenarhythm, Tokio blossom, Nagano atmosphere, New National Theatre, Tokio blank room, Tokio cornfield, Tokio pond, Tokio bench between pillars, Tokio beam, Tokio bang, Tokio spring, Mailand, Italien bench between pillars 2, Tokio

Veröffentlichungen – Auswahl 2013

Controlled and Uncontrolled Lines (Contemporary Architect’s Concept Series 16), LIXIL Publishing, Tokio

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JUNYA ISHIGAMI

Eine Welt unendlicher Möglichkeiten

Herr Ishigami, weshalb haben Sie sich entschieden, Architekt zu werden? Ich wollte Architekt werden, weil ich glaube, dass diese Tätigkeit es mir erlaubt, über eine Reihe von Fragestellungen intensiv und aus unterschiedlichen Perspektiven nachzudenken. Sie haben an der Tokyo National University of Fine Arts and Music studiert. Wer waren dort Ihre Professoren? Und haben diese Sie beeinflusst? Mein Mentor war Professor Yoshihiro Masuko. Natürlich waren wir alle als Studenten beeinflusst von unseren Professoren und haben viel von ihnen gelernt. Aber ich wurde weniger von einer Person oder einer Lehrmeinung, sondern mehr von unzähligen, ganz unterschiedlichen Dingen und Aspekten beeinflusst. Nach Ihrem Diplom arbeiteten Sie bei Kazuyo Sejima. Weswegen haben Sie dieses Büro gewählt? Während meines Studiums habe ich architektonische Entwürfe angefertigt, aber natürlich gab es nie die Möglichkeit, etwas tatsächlich zu bauen. Das fand ich nicht besonders stimulierend. Ich wollte über Architektur nachdenken und mit meinen Augen den Prozess beobachten, wie diese Gedanken Realität werden. Daher begann ich noch als Student, bei Kazuyo Sejima zu arbeiten. In ihrem Büro herrschte eine sehr offene Atmosphäre, und selbst als Student hatte ich die Chance, an verschiedenen Projekten wirklich mitzuarbeiten. So konnte ich zu dieser Zeit wichtige Erfahrungen sammeln, und ich habe dort im Büro wohl mehr Zeit verbracht als an der Universität. Wenn man die Gelegenheit hat, auf der Baustelle zu sein und zu beobachten, wie Architektur entsteht, wird einem schnell klar, was in der Praxis möglich ist und was nicht. An der Universität beschäftigte ich mich hingegen vertieft mit den Fragestellungen der Architektur, die in der Praxis eines Architekturbüros keine Rolle spielen. Rückblickend glaube ich, dass mir die Arbeit im Büro von Sejima während meines Studiums geholfen hat, Architektur aus ganz verschiedenen Perspektiven wahrzunehmen. Wenn man Ihre Arbeitsweise und Interessen verstehen möchte, welches Ihrer Projekte eignet sich am besten, um Ihre Ideen und Konzepte zu erläutern? Meiner Meinung nach sind alle meine Projekte gleich wichtig. Wenn man wirklich verstehen will, wie ich über Architektur denke, so muss man sich mit all meinen Projekten auseinandersetzen. Der Gedanke, der mich am meisten in der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Architektur beschäftigt, ist der der Vielfalt. Etwas holzschnittartig formuliert musste jeder, der bis ins 20. Jahrhundert hinein ein individuelles Ziel erreichen wollte, eine gemeinsame Vision der Zukunft teilen. Es

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war also eine Zeit, in der ein individuelles Ziel sich mit einem gemeinsamen Ziel verband. In diesem Sinne kann man insbesondere im Kontext der Moderne sagen, dass es wichtig war, eine prototypische Lösung zu finden. Heute jedoch ist es in hohem Maße schwierig, auf ein bestimmtes Ziel hinzusteuern oder eine Lösung zu entwickeln, die alle relevanten Fragen beantwortet. Die Herausforderungen unserer gegenwärtigen Gesellschaft und die entsprechenden Lösungen sind vielfältig, nicht zuletzt aufgrund unterschiedlicher Wertesysteme. Unter diesen Gegebenheiten sind zeitgenössische Architekten dazu gezwungen, unzählige Variationen und Lösungen zu entwickeln. Eine Schlüsselfrage besteht darin, wie man das Spektrum des architektonischen Denkens aufweiten und darüber hinaus Architektur an die Herausforderungen anpassen kann, die heute bestehen. Daher versuche ich stets, so viele Antworten und Lösungen wie möglich für jedes Projekt zu finden. Es ist also ­schwierig, die Art und Weise, wie ich arbeite, zu verstehen, wenn man nur auf ein Projekt blickt. In vielen Ihrer Projekte ist die Struktur sehr filigran, Leichtigkeit scheint ein zentrales Motiv zu sein. Es fällt auf, dass leichte Strukturen extrem leicht und andererseits schwere Strukturen sehr schwer sind, wie etwa bei dem Projekt für ein Haus und Restaurant. In der Tat geht es mir mitunter um Leichtigkeit, aber sie ist nicht der Fixpunkt meiner Arbeiten. Denn es gibt auch Projekte, in denen ich massive Strukturen anwende. Weil Architektur auf ganz unterschiedliche Anforderungen reagieren muss, ist das Spektrum der Lösungen zwangsläufig groß. Ein anderes Thema in Ihren Projekten ist die Beschäftigung mit der Natur. In Ihrem Buch Another scale of architecture (2011) sprechen Sie über den Wald, die Luft, den Regen, den Horizont oder die Wolken als Inspiration. Wie stehen für Sie Architektur und Natur in Verbindung? Traditionellerweise wurde Architektur gedacht und gebaut als etwas, das dem Menschen dient. Wenn man jedoch das gesamte Spektrum der Architektur betrachtet, so stellen sich Schwierigkeiten ein, daran zu glauben, dass sich Architektur nur auf Menschen beziehe. Wir müssen über die Frage, warum es Architektur gibt, viel grundsätzlicher nachdenken. Wenn man sein Denken in dieser Weise ausdehnt, wird die Grenze zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen, das uns umgibt, unscharf. Heutzutage hat das Handeln des Menschen selbstverständlich einen Einfluss auf die natürliche Umgebung und führt zu starken Veränderungen. Wenn wir Architektur realisieren, so müssen wir uns der Tatsache bewusst sein, dass dieser künstliche Akt auch auf die Natur einwirkt und sie unvermeidlich verändert. Daher glaube ich, dass es in gewisser Weise nötig ist, meine Gedanken auf die Natur zu fokussieren, wenn ich über Architektur spreche. Stehen derlei Überlegungen dahinter, wenn Sie Pflanzen in Ihren Gebäuden als Teil des architektonischen Entwurfs verwenden? Architektur war ursprünglich so etwas wie ein Schutz, eine künstliche Umgebung, die sich von der rauen natürlichen Umgebung ringsum abgrenzte, also eine Barriere, die das Innen vom Außen trennt. Gemeinhin geht man daher davon aus, dass das Innere der Bereich des Menschen ist und das Äußere das Territorium für alles andere. Aber ich möchte den Innenraum nicht als etwas verstehen, das allein dem

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Haus und Restaurant, Projekt Yamaguchi, 2015, Horizontalschnitte

Menschen gehört. Mit anderen Worten: Menschen sind nicht die alleinigen Bewohner der Architektur; die zukünftige Aufgabe der Architektur besteht darin, eine neue Beziehung zwischen dem Menschen und eben dem Anderen, der Natur, herzustellen, und zwar im Inneren der Gebäude. Dass Pflanzen in meine Projekte integriert sind, hat mit diesem Denkansatz zu tun. Aber es ist nur eine der Möglichkeiten, dieses Konzept zu verfolgen. Taro Igarashi erwähnt in seinem Essay in Another scale of architecture, dass Sie im Gespräch mit Ihren Mitarbeitern zur Beschreibung Ihrer Architektur das Wort „cute“ (niedlich, reizend) verwenden. Was hat es damit auf sich? Ich denke, Architektur sollte so offen und freundlich wie möglich sein. Mein Ziel ist es stets, eine Umgebung zu schaffen, die den Menschen Freude und Annehmlichkeit vermittelt und zugleich eine Atmosphäre besitzt wie die Luft – eine Umgebung, die bescheiden ist und nicht einschüchtert, so dass die Menschen vergessen, dass Architektur um sie herum überhaupt vorhanden ist. Solch eine Architektur ist mein Ziel, eine freundliche Atmosphäre voller Offenheit empfinde ich als wichtig. Hat ein freundliches Gebäude Einfluss auf die Gesellschaft? Natürlich haben freundliche Gebäude einen Einfluss auf die Gesellschaft. Meiner Meinung nach ist es wichtig, dass zeitgenössische Architektur flexibel ist, so dass sie für jedermann zugänglich und nutzbar wird. Wenn es solche Architektur vermehrt gibt, dann entstehen verstärkt Orte, die alle nutzen können. Freundliche Architektur zu schaffen bedeutet, das Spektrum unserer gegenwärtigen Welt zu erweitern. Überdies ist es generell wichtig, dass Architektur eine lange Zeit überdauert. Jedermann sollte eine gewisse Zuneigung zu Bauwerken empfinden. Denn wenn ein Gebäude nicht von allen geschätzt wird, verschwindet es schnell. Freundliche Architektur geht über die Grenzen von Zeit, Ländern, Individuen und Gruppen hinaus; sie ist eine treibende Kraft, die dazu dient, unsere bestehende Welt zu erweitern.

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Ich glaube, dass die zeitgenössische Architektur zur Gesellschaft gehört, aber zugleich in starkem Maße auf das Individuum bezogen ist. Das hat wiederum damit zu tun, dass meiner Ansicht nach die Diversifikation der Werte in unserer Gesellschaft nicht aufhören und in Zukunft die ganze Welt durchdringen wird. Es wird immer schwieriger, zwischen dem zu unterscheiden, was speziell ist, und dem, was es nicht ist. Etwas, das eine Person als normal empfindet, wird von einer anderen als speziell angesehen. Das sind Überlegungen, mit denen ich mich täglich auseinandersetze. Es ist typisch für die derzeitige Verfasstheit unserer Gesellschaft, dass unterschiedliche Werte pluralistisch koexistieren. Wichtig ist nicht, ob ein bestimmtes Gebäude speziell ist oder nicht, sondern auf welche Werte es sich bezieht. Sie beziehen sich auf die Rolle der Architektur für die Gesellschaft und die Beziehung zur Natur. Der KAIT Workshop erscheint wie ein Wald. Wieso wählten Sie diese Analogie zur Natur? Beim KAIT Workshop habe ich versucht, ein räumliches Prinzip oder eine räumliche Konfiguration, die es in der natürlichen Umgebung gibt, auf die Architektur zu übertragen. Generell ist die Komposition der Räume in der Architektur stark verbunden mit Funktionen und Struktur. Beispielsweise kann man oft feststellen, dass sich eine Stütze oder eine Wand aus funktionalen und/oder strukturellen Gründen an einem bestimmten Ort befindet und viele Menschen auf diese Weise verstehen, wie das Gebäude zu nutzen ist. Zugleich kann man sagen, dass damit die Möglichkeiten für die Benutzer stark begrenzt werden. Innerhalb eines Waldes ergeben sich ganz unterschiedliche Räume zwischen den Bäumen. Wenn wir in einen Wald gehen, zum Beispiel bei einem Camping-Trip, entdecken wir bestehende räumliche Situationen und etablieren ein nützliches räumliches Arrangement: Es gibt einen Raum für das Zelt, einen Raum für das Feuer usw. Natürlich wurden diese Räume nicht für das Campen geschaffen, sondern bestanden schon. Die Benutzer eignen sich die unterschiedlichen Räume an, indem

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Japanischer Pavillon, 11. Internationale Architekturausstellung, Architektur-Biennale Venedig, Italien, 2008

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sie über die optimale Nutzung der Lücken zwischen den Bäumen schnell und spontan entscheiden. Die Bäume scheinen um diese Lücken herum zufällig zu stehen, doch in Wahrheit ist ihre Anordnung als Resultat komplexer Rahmenbedingungen durchaus logisch. Anders ausgedrückt: Die Anordnung der Bäume im Wald ist nicht zufällig, sie folgt der Logik eines unsichtbaren Systems. Verschiedene räumliche Qualitäten entstehen aus diesem unsichtbaren System, auch wenn die Menschen es nicht verstehen. Ich versuche den Raum, der innerhalb dieses Kontexts durch eine Vielzahl von Interpretationen entstehen kann, zu erkennen und zu nutzen. Beim KAIT Workshop unterscheiden sich Proportion, Anordnung und Ausrichtung der 300 Stützen, und die Räume zwischen den Stützen sind bestimmt durch die architektonische Planung und die grundlegende Struktur. Die Entscheidungen dafür wurden eine nach der anderen getroffen – als ein Resultat von unzähligen Studien, wie das gegebene Programm implementiert werden könnte, und einer Serie von Modellen der jeweiligen Bereiche im Maßstab 1: 3. Auch wenn Proportion, Anordnung und Positionierung der Stützen auf den ersten Blick zufällig wirken, folgen sie doch einem strengen planerischen Kalkül. Es gibt also ein zugrunde liegendes System, das sich aber der bewussten Sichtbarkeit und Nachvollziehbarkeit seitens der Benutzer entzieht. Daher evoziert es unbewusst diverse Aktivitäten und bietet den Nutzern Möglichkeiten, den Raum auf unterschiedliche Weise zu nutzen, die weit über die Erwartungen des Architekten hinausgehen. Bei der Planung des Gebäudes wollte ich eine neue Art der Flexibilität schaffen, die es in der Architektur bislang so nicht gegeben hat. Wenn ich Flexibilität sage, so meine ich die räumliche Flexibilität und das Maß an Freiheit, das der natürlichen Umgebung inhärent ist. In dieser sind ganz unterschiedliche Lebewesen zu Hause, es ergeben sich ganz verschiedene Aktivitäten, eine Vielzahl von Beziehungen entsteht. Die Räume der Natur dienen komplexen und vielfältigen Funktionen und Aneignungsmöglichkeiten. Ich wollte vergleichbare Bedingungen mit den Mitteln der Architektur schaffen. Viele Ihrer Projekte zeigen ein neues Verständnis hinsichtlich der Entwicklung der Architektur. Was kann die Zukunft bringen? Grundlegend für meine Entwürfe ist das Verständnis, dass Architektur zumindest in ganz kleinem Maße zur Veränderung unserer Gesellschaft beitragen kann. Die Rolle des Architekten besteht meines Erachtens darin, ständig neue Umgebungen zu schaffen, deren Architektur zeitgenössischen Werten entspricht, und diese weiterzuentwickeln und zu aktualisieren. Natürlich kann nicht eine Person allein die Welt verändern, aber ich möchte einen Teil dazu beitragen. Als menschliche Wesen suchen wir stets nach Annehmlichkeit und Zufriedenheit. Wahrscheinlich ist das etwas, das unseren fundamentalen menschlichen Bedürfnissen entspricht. Der Wunsch, eine neue Welt zu eröffnen und in dieser so zufrieden wie möglich zu leben, ist uns als menschlichen Wesen eigen. Man könnte, um ein extremes zeitgenössisches Beispiel anzuführen, eine Raumstation als die innovativste Wohnumgebung für Menschen ansehen, denn in ihr kommen die neuesten Technologien zusammen. Aber es handelt sich nicht um Architektur, denn zumindest zurzeit ist eine Raumstation keine räumliche Umgebung, die von jedem komfortabel bewohnt werden kann. Eine Raumstation ist vielleicht ein kollektiver Komplex innovativer Anlagen, aber sie kann nicht als Architektur verstanden werden. Unsere Aufgabe

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KAIT Workshop, Kanagawa Institute of Technology, Atsugi, 2008, Modell

als Architekten ist es, derartige Orte in angenehme und komfortable Umgebungen zu verwandeln und das Spektrum unserer bestehenden Welt zu erweitern. Die Gewissheit, Zufriedenheit in dieser neuen Welt zu schaffen, gibt uns ein Gefühl der Sicherheit angesichts der weiten und grenzenlosen Zukunft. Sie haben über die Zukunft gesprochen: In welchem Maße beziehen Sie sich auf die Geschichte und historische Aspekte der Architektur in Japan? Sind diese für Sie von Belang? Ich bin in Japan aufgewachsen und habe eine Menge von Einflüssen erfahren, die für mich in mancherlei Hinsicht wichtig sind. In meinem Fall haben die Einflüsse mit der Auffassung von Natur in der Geschichte Japans zu tun. Ich bin vertraut mit der japanischen Geschichte: der Frühzeit und den mannigfaltigen Ereignisse in ihrem Verlauf. Dieses Verständnis verschafft mir ein Gefühl der Ruhe. In diesem Zusammenhang ist es für mich überaus bedeutsam, über die Beziehung zur Natur nachzudenken: Zufriedenheit in der Natur zu empfinden und zugleich über die Möglichkeiten nachzudenken, neue Architektur zu schaffen. Anders als die Realität, die wir aktuell sehen und spüren können, entziehen sich die Vergangenheit, also die Geschichte, und die Zukunft gleichermaßen unserem Zugriff. Aber sie umfassen ein unendliches Maß an Möglichkeiten. Ich verstehe beide als endlose Quellen an Informationen, die über unsere Gegenwart weit hinausreichen. Es ist absolut notwendig, diese unendliche Anzahl von Möglichkeiten zu erkunden und optimal zu nutzen, wenn man über neue Konzepte für die Archi-

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Plan

tektur nachdenkt. Mit anderen Worten: Die Vergangenheit und auch die Zukunft sind wichtig in der Hinsicht, dass es sich um Möglichkeitswelten handelt, die sich von der Gegenwart aus ins Unendliche ausdehnen. In der Geschichte der Ästhetik und Architektur in Japan gab es verschiedene Definitionen des Raums. Beziehen Sie sich auf derlei Konzepte? Eine besondere Qualität, die mich am japanischen Raum interessiert, ist die Art, wie die Bedingungen für den Erhalt der Architektur und die Architektur selbst miteinander verbunden sind, so dass eine Vielzahl einzigartiger Charakteristika entsteht. Ein Beispiel ist die Shikinen-Sengu-Zeremonie des Ise-Schreins, derzufolge die Gebäude alle 20 Jahre auf einem benachbarten Grundstück neu errichtet werden. Oder die Art, wie die Gärten der Zen-Tempel und die Teehäuser Tag für Tag über Hunderte von Jahren gepflegt werden, so dass sie ihre Gestalt bewahren. Oder dass ein Raum, der versehrt wirkt, in Wirklichkeit gepflegt wird, was zu einem besonderen Gefühl der Schönheit führt. Wie diese drei Beispiele zeigen, geht es bei der japanischen Architektur in einem bestimmten Maß um Pflege. Sie überdauert dadurch, dass Menschen sich täglich um sie kümmern. Ich interessiere mich nicht so sehr für Architektur, die viel stärker ist als der Mensch, sondern für die empfindlichen räumlichen Situationen, bei denen es um eine intime Beziehung zwischen menschlicher Aktivität und Architektur geht. Architektur existiert nicht allein, um Menschen Schutz zu bieten; es entsteht erst dann eine Balance, wenn Menschen bereit sind, die Architektur zu schützen. Eine

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KAIT Workshop, Kanagawa Institute of Technology

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Umgebung, die durch diese zyklische und reziproke Balance bestimmt ist, eröffnet Möglichkeiten für die Gegenwart. In einer umfassenderen Perspektive betrachtet, glaube ich, dass diese Idee mit unseren gegenwärtigen Werten verbunden ist: Die Menschen müssen für ihre natürliche Umgebung Sorge tragen, so wie die natürliche Umgebung stets das menschliche Leben geschützt und gefördert hat.

Balloon, Ausstellung im Museum of Contemporary Art in Tokio, 2007

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JUNYA ISHIGAMI Biografie 1974 2000

Geboren in der Präfektur Kanagawa Master-Abschluss in Architektur an der Tokyo National University of Fine Arts and Music Mitarbeiter bei Kazuyo Sejima & Associates, Tokio 2004 Gründung von junya ishigami+associates, Tokio 2009 –11 Dozent, Tokyo University of Science 2010 Associate Professor, Tohoku University 2014 Gastprofessor, Graduate School of Design, Harvard University 2015 Gastprofessor, School of Architecture, Princeton University Wichtige Werke 2005 2007 2008

2010

2012 2014 2015 2016

Tisch für die Art Basel, Schweiz Balloon, Ausstellung im Museum of Contemporary Art, Tokio Yohji Yamamoto Gansevoort Street Store, New York, USA Japanischer Pavillon, 11. Internationale Architekturausstellung, Architektur-Biennale, Venedig, Italien Kanagawa Institute of Technology KAIT Workshop, Kanagawa Architektur als Luft: Studie für Château la Coste (ausgezeichnet mit dem Goldenen Löwen), 12. Internationale Architekturausstellung, ArchitekturBiennale, Venedig, Italien Haus mit Pflanzen, Tokio Cloud Garden, Kanagawa Haus und Restaurant, Yamaguchi Pavillon im Park Groot Vijversburg, Tytsjerk, Niederlande (in Planung) Sanierung des Staatlichen Polytechnischen Museums, Moskau, Russland (in Planung) Servicecenter für Passagiere, Hafen Kinmen, Taiwan (in Planung)

Veröffentlichungen – Auswahl 2008 2010

2011 2015

Small images (Contemporary Architect‘s Concept Series 2), LIXIL Publishing, Tokio Junya Ishigami (The Japan Architect 79), Tokio Studies for The Scottish National Gallery of Modern Art, Tokio Plants and architecture, Tokio How small? How vast? How architecture grows, Shiseido Gallery, Tokio Another scale of architecture, Seigensha, Tokio Christian Kerez – Junya Ishigami (El Croquis 182), Madrid

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GO HASEGAWA

Weiterdenken ist grundlegend

Herr Hasegawa, warum entschieden Sie sich, Architektur zu studieren? Mein Vater war Maschinenbauer. Er arbeitete für ein Unternehmen der Schwer­ industrie, entwarf Dampfturbinen für Schiffe und zeichnete. Zeichnungen waren mir daher vertraut, am Wochenende zeichnete mein Vater häufig im Wohnzimmer und bisweilen erklärte er mir die Schiffe, auch wenn ich manche Details noch nicht verstehen konnte. Was ich aber begriffen habe, war das Prinzip des Maßstabs: dass man große Dinge aufgrund der maßstäblichen Übersetzung mit kleinen Zeichnungen entwerfen kann. Ein zweiter Grund für mein Interesse an der Architektur war meine Begeisterung für Mathe­matik am Gymnasium. Und Architektur erschien mir als eine kreative Version von Mathematik. In dieser Zeit stieß ich in der Bibliothek durch Zufall auf ein Buch von Kazuo Shinohara und ich war sehr überrascht, geplante Privathäuser von einem Architekten zu sehen. Dass ein Architekt auch Privathäuser entwirft, war mir neu; bisher war mir nur bekannt, dass Architekten große öffentliche Gebäude planen. Ich fand heraus, dass Shinohara am Tokyo Institute of Technology unterrichtete, und entschied mich, dort zu studieren. Aber als ich dort begann, war er schon emeritiert. Am Tokyo Institute of Technology – oder wie wir es nennen, dem Tokyo Tech – waren zwei Architekten für mich von besonderer Bedeutung: Kazunari Sakamoto, ein Schüler von Shinohara, und Yoshiharu Tsukamoto, Mitbegründer von „Atelier Bow-Wow“. Tsukamoto wurde gerade Professor, als ich begann, an der Universität zu studieren. Er, der heute ein international bekannter Architekt ist, war damals Anfang 30, hatte kein Projekt und viel Zeit für die Universität. Jede Nacht um ein Uhr kam er hinunter in unseren Zeichensaal, und sehr oft diskutierten wir ganz allgemein über Architektur und auch über unsere Projekte im Entwurfskurs. Als Student im vierten Jahr ent­schied ich mich für das Lab von Tsukamoto und arbeitete mit ihm an einigen Forschungsprojekten für Tokio wie „Made in Tokyo“ oder „Pet Architecture“. Zu dieser Zeit gab es in der Architektur zwei große international einflussreiche Tendenzen: die niederländische und die schweizerische – also Rem Koolhaas und Herzog & de Meuron. Ich beschäftigte mich mit der schweizerischen Architektur, denn Momoyo Kajima, die Partnerin von Tsukamoto bei „Atelier Bow-Wow“, studierte 1996/97 bei Peter Märkli in Zürich. In Japan kannte damals niemand Peter Märkli. So unternahm ich eine zweimonatige Reise durch die Schweiz, als ich 19 Jahre alt war. Ich besuchte beinahe alle Gebäude von Peter Märkli, Herzog & de Meuron, Peter Zumthor und anderen. Schweizerische Architektur, die ich als bescheiden, ruhig und intellektuell empfinde, übte einen großen Einfluss auf mich aus. Während meines Masterkurses im Jahr 2000 unternahm ich eine Reise durch Frankreich und arbeitete schließlich für drei Monate als Praktikant für Lacaton & Vassal in Paris. Aus Bordeaux in die Metropole gekommen, begannen sie gerade

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mit dem Umbau des Palais de Tokyo. Ich schätze ihre Arbeiten, weil sie leicht und frei sind und Lebensfreude vermitteln. Wie ging es nach dem Ende Ihres Studiums weiter? Ich begann im Büro von Taira Nishizawa zu arbeiten. Er ist der ältere Bruder von Ryue Nishizawa, hat sein Diplom auch am Tokyo Tech gemacht und ist ebenfalls ein hervorragender Architekt. Ich arbeitete drei Jahre in seinem Büro und entwarf zwei Apartments, eine Sporthalle und einige Ausstellungen. Warum wollten Sie gerade bei ihm arbeiten? Ich kannte eine Reihe von guten Architekturbüros, aber ich wollte im kleinsten arbeiten. Bei Nishizawa waren wir drei Architekten: er, ein weiterer Kollege und ich. Wir diskutierten jede Nacht, es war extrem anstrengend, aber ich empfand die Zeit als wunderbar. Wir arbeiteten mit voller Kraft an den Projekten; für mich waren es grundlegende Erfahrungen. Mein eigenes Büros gründete ich 2005. Von Freunden meiner Eltern hatte ich den Auftrag für ein Wochenendhaus erhalten. Sie kannten mich, weil sie gegenüber von meinem Elternhaus wohnten. Nishizawa meinte, ich sollte das Projekt allein machen, und so kam es zu meinem ersten Projekt, dem „Haus in einem Wald“. Und wie viele japanischen Architekten eröffneten Sie Ihr Büro in Tokio? Das war eher Zufall. Ich entschied mich für Tokio, weil ich ohnehin gerade dort arbeitete und lebte. Es hätte auch ein anderer Ort sein können. Aber ich mag Tokio sehr, weil es alles bietet. Ich mag diese Mixtur aus allem und die Atmosphäre. Schon während der Studienjahre am Tokyo Tech hatten Sie sich mit der Alltags­ architektur von Tokio auseinandergesetzt. Wie wichtig war das für die Entwick­ lung Ihres eigenen Architekturverständnisses? Sakamoto und Tsukamoto untersuchten beide die Typologien von alltäglichen Gebäuden. In Japan war das unüblich, weil Architektur gemeinhin als Schöpfung einer Architektenpersönlichkeit verstanden wird. Aber ich interessierte mich ebenfalls für Typologien und fragte mich, wie man als Architekt einen alltäglichen oder selbstverständlichen Ausdruck eines Hauses erzielen könnte. Wie kann man ein Haus entwerfen, das einem ganz gewöhnlichen Gebäude ähnelt? Wie kann man als Architekt dem täglichen Leben und den alltäglichen Anforderungen eines Hauses entsprechend entwerfen? Die Basis meiner Häuser bilden architektonische Elemente wie Dächer oder Balkone, und ausschlaggebend dafür ist mein Interesse an architektonischen Typologien. Wie sehr sind Sie von der Tradition der japanischen Architektur inspiriert? Sie verwenden Elemente wie Zwischenräume, die Veranda oder den engawa, jedoch auf ungewöhnliche Weise. Als ich mein Büro gründete, war ich mir der Beziehung zur Tradition überhaupt nicht bewusst. Doch als ich in der Schweiz lehrte und häufig durch Europa reiste, fiel mir auf, dass dort alles viel definierter und statischer ist. Sukzessive spürte ich, dass ich viel mehr Doppeldeutigkeit gewohnt war, was das Verhältnis öffentlich/privat und innen/außen betrifft. Das ist in Japan anders als in Europa, und zudem sagten mir Europäer, dass ich sehr an japanische Traditionen anknüpfe. Jetzt verstehe ich es.

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Haus in einem Wald, Nagano, 2006

Sie haben über die Einflüsse von Sakamoto gesprochen. Wie wichtig waren die Texte und Bauten seines Lehrers Shinohara für Sie? Persönlich habe ich Shinohara nie getroffen. Aber ich lernte von seinen Texten und Häusern, wie man die Welt wahrnehmen kann. Alle seine Arbeiten sind klare und starke Statements. Wie er mit Architektur umgeht, zielt auf etwas jenseits unserer Welt und der Kontingenz unseres Lebens. Ich kenne keinen vergleichbaren Architekten. Meine eigene Architektur ist einfach, so einfach wie möglich, aber nicht minimalistisch. Ich frage mich immer, worauf es wirklich ankommt. Diese Frage führt zu einem sehr einfachen und klaren Haus als Resultat. Ich habe eine Menge von Shinohara gelernt – jedes Haus sollte eine klare Idee verkörpern und damit eine Vision in der Welt sein. Ihre Bauten wirken auf den ersten Blick einfach, weil Sie übliche Elemente ver­ wenden … Ja, ich nutze immer normale Elemente, aber die Art und Weise, wie ich sie einsetze, ist nicht normal. Ich verändere die Proportion, die Position oder die Anordnung, um das Potenzial des jeweiligen Elements herauszuarbeiten und zu betonen. Beim „Haus in einem Wald“ zum Beispiel interessierte mich das Potenzial des Dachbodens, mit dem sich sonst niemand mehr beschäftigt. Ich glaube, dass sich Architektur weiterentwickelt, daher sind auch die architektonischen Elemente nicht fixiert, sondern können sich ebenfalls entwickeln. Das bedeutet, dass Sie sich in Ihren Projekten mit dem Alltäglichen der Archi­ tektur auseinandersetzen, mit Elementen wie Dächern oder Türen, sie aber

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einem Transformationsprozess unterziehen? Treiben Sie bestimmte Elemente gewissermaßen ins Extreme? Das Potenzial der architektonischen Elemente besteht darin, dass sie ganz normalen Menschen verständlich sind, weil sie jeder kennt. Jeder kennt Dächer oder Balkone. Jeder kann meine Gebäude verstehen, ich möchte nicht nur Gebäude für Architekten machen. Also nutze ich normale Elemente, aber zugleich möchte ich das banale Bild der Elemente verändern. Daher kombiniere ich sehr eigenartige und ganz normale Dinge in einem Gebäude. Ich halte diesen Widerspruch in meinen Gebäuden für wichtig. Eine Ihrer Strategien besteht darin, raumhaltige Zonen zu schaffen, die zwischen der Fassade und dem Inneren des Hauses liegen. Sie besitzen sowohl Verbin­ dungen zum Innenraum wie auch zur Umgebung. Ich glaube, dass das, was als angenehm empfunden wird, sich in Japan anders darstellt als in Europa. Wir fühlen uns wohl, wenn das Haus nicht nur eine schützende Hülle ist, sondern die Umgebung sich im Inneren fortsetzt. Es gibt keine klare Trennung zwischen innen und außen, alles ist eine Welt, geht ineinander über. In Europa ist die Differenz zwischen innen und außen viel klarer und grundlegend für die Ausprägung des Raums. Ich glaube, dass Sie sich deswegen so für unsere weniger scharfen Grenzen interessieren. Ich reise viel durch Asien, und ich lerne von den Städten und den vernakulären Gebäuden, wie die Art und Weise, in Städten zu leben, sich verändern kann. Das asiatische Modell, in einer Welt jenseits der Trennung von innen und außen oder privat und öffentlich zu leben, sollte meiner Meinung nach das Raumverständnis des 21. Jahrhunderts prägen.

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Apartments in Nerima, Tokio, 2010

In einem Sonderheft der Zeitschrift Japan Architect zum Thema „Beyond Meta­ bolism“ haben Sie einen Beitrag zum Thema „The Presentness of Renova­ tion“ veröffentlicht. Was verstehen Sie unter Renovierung? Mein Interesse besteht nicht darin, nur Neues zu schaffen. Ich möchte mit beidem arbeiten, mit Altem und Neuem. Die Zeit ist vorbei, in der sich Architekten nur für das Neue interessierten und das Alte ignorierten. Japanische Häuser sind nicht für die Ewigkeit gebaut, wir wollen immer etwas Neues erschaffen. Das führte zu Experimenten, das Neue trat mit aller Wucht auf. Doch in meiner Generation verändert sich der Fokus: Wir beginnen darüber nachzudenken, wie sich alt und neu kombinieren lassen. Viele Europäer finden japanische Architektur spannend, weil sie immer auf das Neue zielt und dennoch mit der Geschichte verbunden ist. Aber eigentlich haben wir Geschichte und Tradition lange Zeit ignoriert, sie waren nach der postmodernen Dekade der 1980er Jahre sogar ein Tabu. Ich glaube, es ist wirklich an der Zeit, neu über die historischen Bezüge der japanischen Architektur nachzudenken. Kommen wir auf das Thema Renovierung zu sprechen: Alte Häuser instand zu setzen, ist derzeit populär. Das werte ich als eine positive Entwicklung, doch bei vielen Renovierungsprojekten wird die Differenz zwischen alt und neu zum vorherrschenden Thema. Ich möchte eine derartige Polarisierung überwinden; mich interessiert das verbindende Element weitaus mehr.

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Haus in Kyodo, Tokio, 2011, Schnitte und Grundriss

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Haus in Kyodo

Was können wir von Ihnen in der Zukunft erwarten? Ich hätte gern ein Projekt in Europa. In Japan gibt es kaum Möglichkeiten, einen öffentlichen Auftrag zu erhalten. Weil Japan schon gebaut ist? Als junge Architekten haben wir wenige Chancen. Nur große Architekturfirmen besitzen genug Kraft, um Aufträge zu ergattern. Sie besitzen die Erfahrung, aber Risiken gehen sie natürlich nicht ein. Das ist keine gute Situation. Ich bewundere das europäische Wettbewerbssystem, auch wenn es da andere Probleme gibt. Sie haben drei Jahre in Mendrisio unterrichtet. Ist internationaler Austausch typisch für Architekten Ihrer Generation? Mir scheint in der Tat, dass sich in dieser Hinsicht für meine Generation vieles zum Positiven verändert hat. Kenzo Tange wurde erst nach Harvard eingeladen, als er schon großen Erfolg außerhalb von Japan hatte. Ich begann im Alter von 34 Jahren in Mendrisio zu unterrichten. Ich war ein junger japanischer Architekt und hatte gerade einmal ein paar kleine Häuser vorzuweisen. Dennoch konnte ich dort unterrichten. Vielleicht, weil die Welt kleiner geworden ist, nicht zuletzt aufgrund billiger Flüge und des Internets. So lernen wir voneinander, inspirieren uns und haben die Möglichkeit, uns zu treffen. Das ist eine der großen Chancen unserer Generation.

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Im März 2015 veröffentlichten Sie ein Buch mit Interviews europäischer Architek­ ten. Was war die Idee dieser Veröffentlichung? Über zwei Jahre lang bin ich alle zwei Wochen in die Schweiz gekommen. Ich habe unterschiedliche Architekten getroffen, nicht nur Schweizer. Ich bin viel gereist, habe Vorträge gehalten und viele Gespräche geführt. Ich spürte in Europa immer eine starke Bezugnahme auf die Geschichte, bei Architekten ganz unterschiedlicher Überzeugungen. Die Architekten sind sich der Geschichte bewusst, sie ist ein wichtiger verbindender Nenner, auch wenn es sich um ganz verschiedene Positionen handelt. So entstand die Idee eines Interviewbuchs mit Álvaro Siza, Valerio Olgiati, Peter Märkli, Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal, Pascal Flammer sowie Kersten Geers und David van Severen. Alle interviewten Architekten haben unterschiedliche Ausgangspunkte, aber sie teilen einen speziellen Sinn für das Historische. Ich habe viel von ihnen gelernt. Sie haben 2015 Ihre Dissertation abgeschlossen. Ja, endlich! Mein Doktorvater war Yoshiharu Tsukamoto am Tokyo Tech. Thema ist die Proportion in der zeitgenössischen Architektur. Die Arbeit besteht aus drei Kapiteln: Das erste Kapitel fokussiert die japanische Architektur, in den beiden folgenden Kapiteln werden Beispiele aus der ganzen Welt thematisiert. Im Winter 2016 werde ich ein Themenheft von a+u dazu herausgeben.

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Uns interessiert die Art, wie Sie entwerfen. Nutzen Sie Skizzen und Modelle, was kommt zuerst? Arbeiten Sie analog oder digital? Heute arbeite ich niemals selbst am Computer, ich gebe nur meinen Mitarbeitern einige Hinweise, manchmal fertige ich auch eine Skizze an. Unsere Methode besteht darin, anhand von verschiedenen Modellen zu diskutieren und sie miteinander zu vergleichen. Mir geht es darum, mich selbst etwas zu neutralisieren, ich will nicht immer meine Ideen perpetuieren. Es ist nötig, die Entwürfe zu verändern und weiterzuentwickeln – und das funktioniert am besten mit Modellen. Beim Modell handelt es sich um eine vergleichsweise objektive Darstellung eines Projekts, und das ist ein wichtiger Unterschied zur Zeichnung. Zeichnungen sind mir zu persönlich. Sie nutzen viele Modelle, um im Entwurfsprozess voranzukommen. Aber an wel­ chem Punkt stoppen Sie den Prozess? Ich entscheide nicht selbst, es hängt von verschiedenen Aspekten ab: von der Situation, der Bauherrschaft, vom Zeitplan und von anderen Dingen. Viele Leute stellen diese Frage, aber ich bin mir gar nicht bewusst, Entscheidungen zu treffen. Viel wichtiger, als Entscheidungen zu treffen, ist es, die mannigfaltigen Aspekte des Entwurfs zu bedenken. Entscheidung ist nicht der zentrale Aspekt eines Projekts. Immer weiterdenken, das ist wichtig.

Pilotis in einem Wald, Gunma, 2010

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GO HASEGAWA Biografie 1977 2002

Geboren in Saitama Master-Abschluss in Architektur, Graduate School of Science and Engineering, Tokyo Institute of Technology 2002–04 Mitarbeiter bei Taira Nishizawa Architects, Tokio 2005 Gründung von Go Hasegawa and Associates, Tokio 2009–11 Gastdozent, Tokyo Institute of Technology 2012–14 Gastprofessor, Accademia di Architettura, Mendrisio, Schweiz 2014 Gastprofessor, Arkitektur- og designhøgskolen i Oslo, Norwegen 2015 Promotion in Ingenieurwissenschaften, Tokyo Institute of Technology 2016 Gastprofessor, University of California, Los Angeles, USA Gastprofessor, Milano international architectural design workshop 2016, Politecnico di Milano, Italien Wichtige Werke 2006 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015

Haus in einem Wald, Nagano Haus in Sakuradai, Mie Haus in Gotanda, Tokio Haus in Komae, Tokio Apartments in Nerima, Tokio Pilotis in einem Wald, Gunma Haus in Asakusa, Tokio Haus in Komazawa, Tokio Haus in Kyodo, Tokio Glockenturm in Ishinomaki, Miyagi Haus in Shakujiikoen, Tokio Reihenhaus in Ageo, Saitama Apartment in Okachimachi, Tokio Haus in Sangenjaya, Tokio Haus in Yokohama, Kanagawa

Veröffentlichungen – Auswahl 2009 2011 2012 2015

„The Presentness of Renovation“, in: Renovation: Beyond Metabolism (The Japan Architect 73), Tokio Thinking, Making Architecture, Living, LIXIL Publishing, Tokio Go Hasegawa: Works, TOTO Publishers, Tokio The Belfry in Ishinomaki, Seibundo Shinkosha, Tokio Conversations with European Architects, LIXIL Publishing, Tokio

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Kulturelle Übersetzungsprozesse: Japanische Architektur zwischen Ost und West Christian Tagsold

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Einflüsse aus Japan auf die moderne Architektur in Europa Hyon-Sob Kim

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Zwischen Tradition und Moderne: Die zwei Seiten der japanischen Vorkriegsarchitektur Benoît Jacquet

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Traumata der Modernisierung: Die Architektur in Japan nach 1945 Jörg H. Gleiter

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Das System der Architektur­produktion in Japan Jörg Rainer Noennig / Yoco Fukuda-Noennig

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Bezüge zu Traditionen in der zeitgenössischen Architektur Japans Philippe Bonnin

POSITIONEN

Kulturelle Übersetzungsprozesse: Japanische Architektur zwischen Ost und West Christian Tagsold

Wie orientalische Städte aussehen, setze ich als bekannt voraus. Es ist genau so wie bei uns, nur orientalisch.  ALFRED KUBIN , Die andere Seite

Der österreichische Autor Alfred Kubin beschrieb in seinem phantastischen Roman Die andere Seite aus dem Jahr 1909 eine widersprüchliche Situation, die einem schnell bekannt vorkommt, wenn man sich mit japanischer Architektur beschäftigt: vertraut, weil gleich, und doch anders, weil exotisch. Diese Wirkung japanischer Architektur ist Konsequenz eines Prozesses kultureller Übersetzungen. In Japan führte die Auseinandersetzung mit westlicher Architektur seit Mitte des 19. Jahrhunderts einerseits dazu, westliche Techniken und Stile zu übernehmen; andererseits wurde damit die Konstruktion einer nationalen Architekturgeschichte befördert. Damit geriet ein Prozess in Gang, der in Europa einige Jahrzehnte früher eingesetzt hatte. Architektur und ihre Geschichte wurden in die Ausformung des Nationalstaates eingebunden und bekamen eine neue Funktion zugewiesen.1 Alte Bauten und Anlagen wurden zu nationalen Denkmälern aufgewertet, in ein historisches Narrativ einer nationalen Stilgeschichte eingebunden und dienten zur Legitimation des neuen Nationalstaates. Allerdings lief dieser Prozess in Japan in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten des 20. Jahrhunderts unter quasi kolonialen Bedingungen ab. Japan konnte zwar der Kolonialisierung durch westliche Mächte entgehen, musste jedoch Zugeständnisse in Form von ungleichen Verträgen machen.2 Diese Verträge wurden zunächst 1854 und 1858 mit den USA geschlossen, die die Aufhebung der starken Reglementierung der Außenkontakte durch das japanische Shogunat erzwungen hatten. Die anderen westlichen Mächte schlossen bald ähnliche Abkommen. Als Reaktion auf diese Verträge wurde in Japan rasch ein Modernisierungsprozess nach westlichem Vorbild in Gang gesetzt. Der junge Meiji-Kaiser verkündete in Edikten den Wert des Fortschritts und stellte die Menschen, die jetzt als Staatsbürger einer einheitlichen Nation angesprochen wurden, auf die neue Zeit ein. In diesem Kontext wurden westliche Architekten und Kulturtheoretiker wie der Brite Josiah Conder und der US-Amerikaner Edward Morse ins Land gerufen, um an den neu eingerichteten Kaiserlichen Universitäten japanische Studenten auf die Anforderungen der „modernen“ Zeit vorzubereiten. Sie empfanden eine Faszination für die Architektur, die sie im Land vorfanden, wenngleich sie letztlich von der Überle-

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Bruno Taut, Skizze, Fundamentals of Japanese Architecture, 1936

genheit westlicher Technik überzeugt waren. Morse war zwar im Gegensatz zu Conder kein Architekt, sondern Biologe und Archäologe, schrieb aber 1885 das Buch Japanese Homes and their Surroundings, eine der frühesten im Westen erschienenen Einführungen in die japanische Architektur.3 Conder konzentrierte sich in seinen Schriften dagegen auf japanische Gärten.4 Durch den starken Einfluss westlicher Autoren ähnelt die Genese der japanischen Architekturhistoriografie zunächst jener in den europäischen Kolonien in Asien.5 Im Gegensatz dazu waren Autoren wie Morse und Conder zwar zentral für den frühen Verlauf des Diskurses in Japan, aber neu ausgebildete japanische Spezialisten, wie allen voran Okakura Tenshin, vermochten es, die Deutungshoheit über die japanische Architekturgeschichte nicht komplett den westlichen Autoren zu überlassen.6

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Schrein, Nikko, frühes 17. Jahrhundert

Der japanische Staat übernahm in der Bewahrung historischer Bauten früh eine wichtige Rolle und verdeutlichte auf diese Weise die Bedeutung der Architektur für die Konstruktion der Nation. Damit wurde ein Diskurs angestoßen, in dem westliche und japanische Autoren in einem ständigen Abwägen des Eigenen und des Fremden (von westlicher und japanischer Seite je spiegelverkehrt!) beides gleichzeitig erst erschufen und definierten. Die Arena des Diskurses formte sich dabei immer mehr aus.

Japanische Architektur zwischen Nikko und Katsura Diese Entwicklung lässt sich sehr gut am Beispiel der Bewertung des Schreins von Nikko und der kaiserlichen Villa Katsura verdeutlichen. Bis in die 1920er Jahre hinein galt der Schrein von Nikko als eines der großen Beispiele japanischer Baukunst. Er wurde 1617, ein Jahr nach dem Tod von Tokugawa Ieyasu, dem ersten Shogun der Edo-Zeit, von seinem Sohn zu dessen Andenken errichtet und zeichnet sich durch reiche Verzierungen aus. Bei westlichen Reisenden gehörte ein Zwischenstopp in Nikko praktisch seit Beginn der touristischen Erschließung des Landes Ende des 19. Jahrhunderts zum Pflichtprogramm.7 In den beiden Jahrzehnten vor dem Zweiten Weltkrieg wurde der Schrein jedoch zum Symbol eines Streits zwischen zwei Generationen japanischer Architekten:8 Junge modernistische Architekten sahen im Nikko-Schrein eine historische Parallele zum dekorreichen Bauen der etablierten, konservativen Generation von zeitgenössischen Kollegen. Hideto Kishida, Architekturprofessor an der Kaiserlichen Universität Tokio, bezog dagegen Stellung für die junge modernistische Generation.9 Diese junge Generation erklärte die kaiserliche Villa Katsura zum eigentlichen Kern des japanischen Kulturerbes. Die Villa wirkte reduktionistisch und deshalb geradezu „modern“, so dass die junge Generation ihre Vorstellungen vom Bauen über sie legitimieren konnte. In den beiden Vorkriegsjahrzehnten wurde das politische und intellektuelle Klima insgesamt immer nationalistischer.10 Deswegen war es von besonderer Bedeutung, dass die Villa eben kaiserlich war. Aus Sicht der Rechten hatten die Shogune die

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Villa Katsura, Kioto, frühes 17. Jahrhundert

Macht des Tenno über zweieinhalb Jahrhunderte in illegitimer Weise beschnitten. Mit dem Bezug auf die kaiserliche Villa konnten die jungen Architekten ihre Ziele an einen nationalistischen Diskurs anschließen, in dessen Mittelpunkt der Tenno stand. Charakteristisch für diesen Streit ist, dass die jungen Architekten sich einer westlichen Expertise bedienten, um sich durchsetzen zu können. Bruno Taut, auf seiner Flucht vor dem Nationalsozialismus im Mai 1933 zeitweise nach Japan emigriert, wurde von den jungen Architekten, allen voran Tetsuro Yoshida, mit der Villa Katsura bekannt gemacht. Dort bestätigte er das ästhetische Urteil der jungen Modernisten und wertete damit ihre Position in der Öffentlichkeit stark auf, verfolgten doch selbst die großen Tageszeitungen Tauts Aktivitäten und Vorträge intensiv.11 Die Bestätigung durch einen westlichen Architekten vom Range Tauts ermöglichte es den jungen Architekten, ihre Vorstellungen vom zeitgemäßen Bauen leichter in Projekte umzusetzen und sich nach und nach gegen die älteren Kollegen durchzusetzen. Doch Bruno Taut profitierte ebenfalls von seinem Engagement, indem er sich als Experte für japanische Architektur profilieren konnte. Er veröffentlichte vier Bücher über japanische Architektur;12 zwei davon wurden übersetzt und in Japan selbst rezipiert. Sein erstes Werk wurde in die Empfehlungslisten des japanischen Bibliotheksverbandes aufgenommen und darüber hinaus vom Kultusministerium zur Lektüre empfohlen.13 Die jungen Architekten verbanden in den 1930er und 40er Jahren modern anmutende Elemente mit einer nationalistischen Grundaussage, die in einem ultranationalistischen politischen Umfeld bestärkt wurde. In einigen Bauten lässt sich diese spezielle Verbindung von (ultra-)national und modern nachvollziehen. Einen besonderen Fall beschreibt Shoichi Inoue:14 Kenzo Tanges Plan von 1949 für den Friedenspark von Hiroshima, zentral für seine Reputation in der Nachkriegszeit, basierte in Teilen auf umgearbeiteten Plänen für ein ganz anderes Projekt. 1942 hatte Tange eine Gedenkstätte für Japans offizielles Kriegsziel der „Großostasiatischen Wohlstandssphäre“ entworfen, die am Fuße des Fuji errichtet werden sollte, aber nie verwirklicht wurde. Seit Inoues Buch zu Tanges Plänen und dem Bezug zu Hiroshima ist die Diskussion über diese Verknüpfung von Geschichte und Moderne in Japan wie im Westen nicht abgeebbt.

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Kenzo Tange, Friedenspark von Hiroshima, Planungsbeginn 1949

Kenzo Tange, Daitoa – Gedenkstätte für Japans offizielles Kriegsziel der „Großostasiatischen Wohlstandssphäre“, 1942

Das Beispiel von Tanges Bauten im Friedenspark zeigt, wie viele der Grundannahmen der jungen Architekten die selbstverschuldete Niederlage im Zweiten Weltkrieg überdauerten. Allerdings waren nun die Vorzeichen anders. Bis 1945 wurde die japanische Kultur aggressiv als besonders propagiert, danach – in wesentlich passiverer Form – jedoch ebenso für die Probleme des Ultranationalismus verantwortlich gemacht. Daraus entwickelte sich der überaus einflussreiche Diskurs der Nihonjinron (Theorien zu Japanern).15 Es erschienen zahlreiche populärwissenschaftliche Bücher und Zeitschriftenartikel zur Frage, warum Japaner so anders seien als der Rest der Welt, wobei hier immer der Westen gemeint war. Die in den Nihonjinron vertretenen Thesen und Themen finden sich aufgrund ihrer großen Verbreitung daher zwangsläufig immer wieder in individuellen Reflexionen über Japan und seine Kultur, so auch in Fragen zur Architektur. Die Nihonjinron setzten die Konstruktion der nationalen Kultur Japans fort und strahlten auf alle gesellschaftlichen Bereiche aus. Am Beispiel der Kontroverse um Nikko und Katsura wird deutlich, dass es sich um einen Prozess mit starken Anteilen wechselseitiger kultureller Übersetzung handelt. Ständig wurde durch tatsächliche Übersetzungen und damit unvermeidlich verbundene Interpretationen das Andere (Japan bzw. der Westen) verständlich gemacht und dabei gleichzeitig eigentlich erst konstruiert.

Ein japanisches Haus in New York Ein interessantes Beispiel dieser Prozesse kultureller Übersetzung und Performanz, an dem deutlich wird, dass sich die Prozesse auch weit nach dem Zweiten Weltkrieg nur graduell veränderten, ist das „Japanese House“ von 1954 in New York. Das

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Junzo Yoshimura, „Japanese House“ im Garten des Museum of Modern Art in Manhattan, New York, 1954

„Japanese House“ (shofuso) wurde 1954 im Garten des Museum of Modern Art (MoMA) in Manhattan errichtet. Das MoMA hatte 1949 begonnen, zeitgenössische Häuser auszustellen, um dem Publikum einen Einblick in die Möglichkeiten der modernen Architektur zu geben. Marcel Breuer machte 1949 den Anfang, 1950 folgte ein Haus von Gregory Ain. Als einziges der drei Modellhäuser in der Reihe war das japanische dezidiert nicht „modern“. Der japanische Architekt Junzo Yoshimura wurde von Arthur Drexler, dem für Architektur zuständigen Kurator des MoMA, beauftragt, ein Haus zu errichten, das beweisen sollte, wie modern „traditionelles“ Bauen in Japan eigentlich war.16 Das Haus war ein immenser Imagegewinn für den ehemaligen Kriegsfeind Japan und gleichzeitig eine hervorragende Werbung für japanische Architektur.17 Yoshimura betonte in einem Interview18 allerdings, dass er das Haus speziell für das amerikanische Publikum entworfen habe und nicht als authentisches Abbild eines historischen Samuraihauses.19 Insofern nutzte er die Chance dieses Auftrags strategisch geschickt, unterwarf sich allerdings den Vorstellungen seiner Auftraggeber von der Moderne japanischer Tradition.

Architektur im Prozess der kulturellen Übersetzung An den Beispielen wird deutlich, dass die Architektur in Japan sowie die im Westen in Prozesse kultureller Übersetzungen eingebunden sind, die weit über die Architektur hinausgehen. Prozesse der gegenseitigen kulturellen Übersetzung haben die Konstruktion der japanischen Nation insgesamt grundlegend bestimmt.20 Viele westliche Konzepte und Ideen wie „Demokratie“, „Staat“, „Bürger“, aber auch technische Ausdrücke waren durch Übersetzungen erst erschlossen, interpretiert und

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angeeignet worden. Auf der anderen Seite bestand im Westen ein Bedarf nach einer exotischen, anderen Ästhetik, der sich zum Beispiel im Japonismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts geäußert hatte.21 Hier spielten orientalistische Vorstellungen vom Osten im Sinne Edward Saids22 klassischer Analyse eine große Rolle. Die japanische Architektur konnte sich auf dieser Basis jedoch in der Nachkriegszeit im Westen letztlich einen Status erarbeiten, der über diese orientalistischen Zuschreibungen hinausging. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Idee einer japanischen Architekturtradition in einem engen Wechselspiel zwischen westlichen und japanischen Autoren konstruiert wurde. Dabei gab es lange Zeit ein Machtgefälle zwischen beiden Seiten, setzte doch die westliche Seite zunächst die Standards. Das wird allein schon durch die Ausbildung junger Architekten und Architekturhistoriker deutlich, die an den kaiserlichen Universitäten mit westlichen Experten begann. Nach und nach konnte sich die japanische Seite aber eine unabhängigere Position in der imperialen Wissensordnung erarbeiten. Dabei wurde japanischer Ästhetik ab den 1920er und 30er Jahren eine besondere Affinität zur westlichen Moderne zugesprochen und auf diese Weise eine japanische Traditionslinie konstruiert, die es selbst im Ultranationalismus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg erlaubte, stilistisch modern zu bauen. Nach dem Zweiten Weltkrieg diente die Idee dieser japanischen „traditionellen Moderne“, wie sie sich im Japanese House des MoMA äußerte, als Chance für japanische Architekten, um sich in Europa und den USA Gehör zu verschaffen. Hilfreich für die japanische Architekturszene war zudem der wirtschaftliche Aufschwung Japans in dieser Zeit, der zu einem starken Interesse an Japan generell führte. Die beiden Großveranstaltungen der Olympischen Spiele in Tokio 1964 und der Weltausstellung in Osaka 1970 boten den Architekten zudem eine ideale Bühne, sich der Welt vorzustellen. So konnte sich schließlich die Architektur als erste „moderne“ japanische Kunstform weltweite Anerkennung verschaffen.

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1

Vgl. Barry Bergdoll, European Architecture 1750–1890, Oxford 2000; Godehard Hoffmann, Architektur für die Nation?: Der Reichstag und die Staatsbauten des Deutschen Kaiserreichs 1871–1918, Köln 2000; Michaela Marek, Kunst und Identitätspolitik: Architektur und Bildkünste im Prozess der tschechischen Nationsbildung, Köln 2004; Zeynep Çelik, The Remaking of Istanbul: Portrait of an Ottoman City in the Nineteenth Century, Berkeley 1993. 2 Zu den ungleichen Verträgen und der Bedeutung des lang andauernden Prozesses der Revision für die Modernisierung Japans vgl. Michael R. Auslin, Negotiating with Imperialism: The Unequal Treaties and the Culture of Japanese Diplomacy, Cambridge 2004. 3 Morses Studie wird wegen ihrer zahlreichen Fotografien und detaillierten Zeichnungen immer noch von Museen und Themenparks als Vorlage für die Er- und Einrichtung historisch „authentischer“ Bauten genutzt, ist also auf pragmatischer Ebene weiterhin ein wichtiger Teil der Architekturgeschichte. Vgl. Hyung Il Pai, Heritage Management in Korea and Japan: The Politics of Antiquity and Identity, Seattle 2013, S. 54. 4 Josiah Conder, „The Art of Landscape Gardening in Japan“, in: Transactions of the Asiatic Society of Japan 14 (2), 1886, S. 119–175. 5 Vgl. Benedict R. Anderson, Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism [revidierte Ausgabe], London, New York 2006. 6 Okakura Tenshin (auch Kakuzo) war der führende Kunsthistoriker der Meiji-Zeit (1868–1912). 1893 war er federführend für den japanischen Pavillon auf der Weltausstellung in Chicago. Der Ho-o-den, so der Name des Pavillons, bestand aus drei durch Galerien verbundenen Gebäudeteilen, die jeweils eine andere Stilepoche aufnahmen und dadurch den Besuchern einen Überblick über die japanische Architekturgeschichte boten. Vgl.: Judith Snodgrass, Presenting Japanese Buddhism to the West: Orientalism, Occidentalism, and the Columbian Exposition, Chapel Hill 2003, S. 29–33. 7 Jonathan M. Reynolds, „Ise Shrine and a Modernist Construction of Japanese Tradition“, in: The Art Bulletin 83 (2), 2001, S. 316–341. 8 Wie Shoichi Inoue in seinem Buch über den Mythos der Villa Katsura sehr eindrücklich gezeigt hat. Vgl. Shoichi Inoue, Tsukurareta Katsura Rikyu- shinwa, Tokio 1997. 9 Kishidas Bedeutung für die Entwicklung der japanischen Architektur zeigt sich an seinen Schülern, zu denen Kenzo Tange, Kunio Maekawa oder Ryuichi Hamaguchi gehörten. 10 Vgl. Gregory James Kasza, The State and the Mass Media in Japan, 1918–1945, Berkeley 1988, S. 129–136. 11 Die große liberale Tageszeitung Asahi Shimbun vermeldete schon eigens am 15. Mai 1933 die Ankunft Tauts in Tokio. Bis zur Meldung über seine Abreise in die Türkei am 1. Oktober 1936 erschienen allein in der Asahi Shimbun über ein Dutzend Artikel zu Taut. 12 Bruno Taut, Fundamentals of Japanese Archi­tecture, Tokio 1936; ders., Houses and People of Japan, Tokio 1937; ders., Nippon mit europäischen Augen gesehen, Tokio 1934; ders., Japans Kunst mit europäischen Augen gesehen, Tokio 1936. 13 Inoue, a. a. O., S. 71. 14 Ebd. 15 Christian Tagsold, Japan: Ein Länderporträt, Berlin 2013, S. 18–22. 16 Arthur Drexler, The Architecture of Japan, New York 1955. 17 Hiroko Ikegami, „The Japanese Exhibition House in the Museum of Modern Art, New York: Shofuso and the Japan Boom in Postwar Amerika“, in: Kokusai to-ho- gakusha kaigikiyo- 52, 2007, S. 56–74. 18 Hisao Koyama, „Yoshimura Junzo ni kiku (Asking Yoshimura Junzo)“, in: Approach, Spring 1991, S. 4–24.

19 Nach dem Ende der Ausstellung im MoMA wurde das Haus nach Philadelphia in den Fairmount Park transferiert. Dort steht es heute noch, wird aber völlig anders genutzt als in New York. Während das Haus im MoMA für einen modern anmutenden Reduktionismus stand, der für die Gegenwart anschlussfähig gemacht wurde, ist es jetzt in Philadelphia ein Symbol für das traditionelle Japan. Yoshimura selbst bekam 1955 den Preis der japanischen Architektenvereinigung verliehen – allerdings nicht für das Shofuso, sondern gemeinsam mit seinen Partnern Junzo Sakakura und Kunio Maekawa für die Kokusai Bunka Kaikan, die internationale Kulturhalle im zentralen Tokioer Stadtteil Roppongi. Diese Halle war dezidiert modern gestaltet und hob sich so völlig vom Japanese House ab. Vgl. Christian Tagsold, Spaces of Translation: Japanese Gardens in the West (Penn Studies in Landscape Architecture), Philadelphia 2017. 20 Vgl. Shingo Shimada, Die Erfindung Japans: Kulturelle Wechselwirkung und nationale Identitätskonstruktion, Frankfurt am Main 2000. 21 Japanische Produkte wie Fächer, Keramik oder Bronzeskulpturen fanden einen Markt in Europa und Nordamerika und befriedigten ein Interesse am Anderen, Exotischen, das sich ebenso in Weltausstellungen oder Völkerschauen widerspiegelte. Vgl. Stefanie Wolter, Die Vermarktung des Fremden: Exotismus und die Anfänge des Massenkonsums, Frankfurt am Main 2005; Timothy Mitchell, „Orientalism and the Exhibitionary Order“, in: Nicholas B. Dirks (Hrsg.), Colonialism and Culture, Ann Arbor 1992, S. 289–317; Pai, a. a. O. 22 Edward W. Said, Orientalismus, Frankfurt am Main 1981.

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Einflüsse aus Japan auf die moderne Architektur in Europa Hyon-Sob Kim

Der japanische Beitrag zur Herausbildung und Entwicklung der modernen westlichen Architektur scheint heute unbestritten. Mit der Rolle Japans haben sich in den vergangenen 50 Jahren zahlreiche wichtige Untersuchungen befasst. Clay Lancasters Arbeiten aus den 1940er und 50er Jahren sind dabei als besonders wegweisend und konsistent hervorzuheben. Die ursprünglich für das Art Bulletin1 verfassten Artikel wurden 1963 gesammelt im Band The Japanese Influence in America veröffentlicht. Mit japanischen Einflüssen auf amerikanische Architekten, vor allem auf Frank Lloyd Wright,2 haben sich auch andere Wissenschaftler beschäftigt. Ihre Untersuchungen setzen sich jedoch in erster Linie mit dem amerikanischen Modernismus auseinander, während sich die Diskussion der Einflüsse aus Japan auf die europäische Architektur im Allgemeinen auf den Japonismus der Arts-and-CraftsBewegung und den Art Nouveau des ausgehenden 19. und des frühen 20. Jahrhunderts beschränkt. Es könnte also durchaus sein, dass der Einfluss aus Japan auf die moderne Architektur Europas tatsächlich nicht so stark war wie in Amerika. So beobachtete Lancaster 1953, dass „der Ferne Osten im Bereich von Malerei und Kunsthandwerk zwar einen starken Niederschlag in Europa gefunden hat, sein Einfluss in der europäischen Architektur jedoch nicht so spürbar ist wie in Amerika.“3 Entsprechend konstatierte Chisaburoh F. Yamada mit Verweis auf den Standpunkt Nikolaus Pevsners,4 dass „die moderne westliche Architektur in einem engen Zusammenhang mit dem Glauben an die europäische Zivilisation stand“, mit „dem romantischen Glauben an Geschwindigkeit und das Dröhnen der Maschinen“. 1914 gingen italienische Futuristen sogar so weit, die modernen Architekten davor zu warnen, mit fotografischer Akribie China, Persien oder Japan nachzuahmen.5 Allerdings bedarf es noch der näheren Betrachtung, wie Japan von europäischen Architekten der Moderne wahrgenommen und interpretiert wurde, besonders vor dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere zwischen den Weltkriegen, da sich zu dieser Zeit in Europa die Moderne ausbildete und der Internationale Stil entstand. Tatsächlich bezogen sich viele europäische Modernisten in unterschiedlichen Kontexten auf japanische Ästhetik, wobei sich die Frage stellt, ob der Bezug zur japanischen Ästhetik grundlegend für sie war oder nur oberflächlich geschah. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts wurden hierzu einige wichtige Arbeiten veröffentlicht. Auf Grundlage dieser Studien und weiterer Quellen soll in diesem Essay die Rolle Japans für die Entwicklung der modernen Architektur in Europa aufgezeigt werden.

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Frank Lloyd Wright, Warren-Hickox-Haus, Kankakee, USA, 1900

Ho-o-den – japanischer Pavillon, World’s Columbian Exposition, Chicago, USA, 1893. Wrights Begegnung mit diesem Gebäude in seinen Zwanzigern war entscheidend für seine Karriere.

Japans Beitrag zur europäischen Moderne: Literatur im Überblick Die Untersuchung „Information on Japanese architecture in the Western World since the late 19th century“ von Yuko Furukawa und Hiroshi Adachi aus dem Jahr 2000 basiert darauf, dass Veröffentlichungen das beste Vehikel waren, um Informationen über japanische Architektur im Ausland zu erhalten. Die Studie gibt einen Überblick über Bücher, die vor dem Zweiten Weltkrieg in westlichen Sprachen zu japanischer Architektur erschienen sind. Kurze Zusammenfassungen von einer Auswahl dieser Bücher – von Edward S. Morse (1886), Franz Baltzer (1903 und 1907), Ralph Adams Cram (1905), Tetsuro Yoshida (1935), Hideto Kishida (1935), Jiro Harada (1935) und Bruno Taut (1937) – dienen als eine erste Annäherung an das Thema. Nicht minder wertvoll ist die Bibliografie mit 31 Buchtiteln und 17 Artikeln. Auf Grundlage dieser Vorstudie legte das Team um Adachi in Kobe sukzessive eine Reihe weiterer Analysen zu jedem einzelnen Buch vor. Manfred Speidel ergänzte in seiner Untersuchung „The Presence of Japanese Architecture in German Magazines and Books 1900–1950“6 nicht nur die Literaturliste von Furukawa und Adachi um weitere Titel, sondern auch die gesamte Studie der beiden Japaner um eine deutsche Perspektive. So fragt Speidel in seiner Untersuchung: „Was konnte ein deutscher Architekt über japanische Architektur wissen, wenn er sich, wie Bruno Taut 1933, entschied, nach Japan zu fahren?“ Das Jahr 1923 markierte einen „Wendepunkt“ für Taut – und letztlich auch für die europäischen Modernisten –, da seine Veröffentlichung Die neue Wohnung von 1923 die gemeinsamen Werte der rationalen Moderne und der japanischen Tradition in der Architektur hervorhob. Speidel zufolge war es aber das 1935 erschienene Buch Das japanische Wohnhaus7 von Tetsuro Yoshida, das den europäischen Architekten eine grundlegend neue Richtung wies. Anders als diese Untersuchungen, die sich auf Veröffentlichungen stützen, beschäftigen sich die Fallstudien „A Study on the Influence of Japanese Tokonoma on Aalto’s Art Display Concept in Villa Mairea, 1937–39“8 vom Verfasser und „At the crossroads of Modernism and Japonisme: Wells Coates and the British Modern

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Tetsuro Yoshida, Das japanische Wohnhaus, 1935

Villa Katsura, tokonoma, Kioto, frühes 17. Jahrhundert, Abbildung aus Das japanische Wohnhaus

Movement“9 von Anna Basham damit, wie einzelne Architekten sich mit japanischer Ästhetik auseinandergesetzt und mit ihr gearbeitet haben. So ist etwa das Blumenzimmer in Alvar Aaltos Villa Mairea bekannt für seine Gestaltung mit japanischen Elementen.10 Bashams Aufsatz beschreibt Wells Coates’ lebenslanges Interesse an Japan und untersucht, wie sich dies in seinen Schriften und Entwürfen der frühen 1930er Jahre niedergeschlagen hat. Für die moderne Architektur sind für Coates fünf Merkmale des traditionellen japanischen Hauses von Interesse: die Skelettbauweise, die fließenden Grenzen zwischen innen und außen, die Schiebewände, die Verwendung von Einbaumöbeln sowie das Konzept des tokonoma, das er später in seinen Entwürfen zur Anwendung brachte. Coates, ein einflussreicher Architekt des britischen Modernismus, ließ sich aber keineswegs als Einziger von Japan inspirieren. Seine Kollegen Raymond McGrath, Serge Chermayeff und Christopher Tunnard waren ebenso fasziniert. Basham gelang es, diese weitgehend vernachlässigten Schnittmengen der britischen Modernisten mit dem Japonismus aufzudecken. Ein weiterer Beitrag des Verfassers, „Tetsuro Yoshida (1894–1956) and the Architectural Interchange between East and West“,11 legt den Fokus eher auf japanische Architekten als auf europäische Modernisten. Der Artikel befasst sich mit den Europareisen von Tetsuro Yoshida in den Jahren 1931 und 32 und untersucht, welche Auswirkungen sie auf das danach erschienene Buch Das japanische Wohnhaus hatten. Er betont Yoshidas Rolle als „entscheidender Mittler des architektonischen Austauschs zwischen Ost und West“.12 Wie Speidel bereits aufgezeigt hat, schrieb Yoshida im Vorwort des Buches, dass seine Veröffentlichung auf eine Anregung von Hugo Häring und Ludwig Hilberseimer während seines Europaaufenthaltes zurückgegangen sei.

Routen, Attraktionen und Applikationen Anhand der angeführten Untersuchungen entsteht ein erster Überblick über die typischen japanischen Einflüsse auf die moderne europäische Architektur. Dabei sind drei Fragen im Folgenden von besonderem Interesse:

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Villa Katsura, tokonoma, Kioto, frühes 17. Jahrhundert, Abbildung aus Das japanische Wohnhaus

Wo bzw. wie kamen europäische Architekten mit japanischer Ästhetik in Berührung? Was faszinierte die europäischen Architekten an Japan? Wie wurden Einflüsse und Elemente aus Japan in der modernen Architektur interpretiert, und wie wurde mit ihnen gearbeitet? Routen – wo und wie europäische Architekten mit japanischer Ästhetik in Berührung kamen Europäische Modernisten konnten mit Architektur aus Japan durch Veröffentlichungen, durch Reisende aus Japan oder Europa und durch Bauwerke, aber auch über das Werk Frank Lloyd Wrights in Berührung kommen. Veröffentlichungen waren, wie Furukawa/Adachi und Speidel nahelegen, offenbar das wichtigste Vehikel. Zu den richtungsweisenden Büchern über japanische Architektur zählen unter anderem Japanese Homes and their Surroundings (1886) von Edward S. Morse, The Book of Tea (1906) von Okakura Kakuzo, Das japanische Wohnhaus (1935) von Tetsuro Yoshida und Das japanische Haus und sein Leben (1937) von Bruno Taut. Es gab aber auch viele „Vermittler“, japanische Architekten in Europa und europäische Architekten in Japan. Teijiro Muramatsu hat rund 15 japanische Architekten ausfindig gemacht, die zwischen den 1920er und den frühen 40er Jahren in Europa studierten oder arbeiteten, darunter Kunio Maekawa, der von 1928 bis 30 in Le Corbusiers Atelier beschäftigt war, und Bunzo Yamaguchi, der von 1928 bis 33 in Gropius’ Büro arbeitete.13 Es ist allerdings nicht bekannt, ob diese den Architekten, bei denen sie arbeiteten, wesentliche Informationen über japanische Architektur gaben. Dass die während seiner Reisen entstandenen Freundschaften Yoshida zu seiner wegweisenden Veröffentlichung von 1935 inspirierten, wurde bereits erwähnt. Gleichzeitig brachten westliche Architekten, die einige Zeit in Japan verbracht hatten, ihr Wissen aus erster Hand nach Europa. Beispiele dafür sind Josiah Conder, der in den 1870er und 80er Jahren in London eine Reihe von Vorträgen über japanische Architektur hielt, Richard Neutra mit seinen Artikeln über japanische Architektur, die er 1931 in Die Form veröffentlichte,14 und Bruno Taut mit seinem Vortrag

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Zui-Ki-Tei (Haus des hoffnungsvollen Lichts) – japanisches Teehaus, Stockholm, Schweden, 1935

Robert van ’t Hoff, Bungalow, Huis ter Heide, Niederlande, 1914

in Tokio 1935, der 1936 als Fundamentals of Japanese Architecture15 veröffentlicht und in Europa rezipiert wurde. Unter ihnen sticht Taut als „Entdecker“ der Villa Katsura besonders hervor. Europäische Architekten tauschten sich auch in ihren eigenen Ländern mit Japanern aus, wofür Aaltos Freundschaft mit japanischen Diplomaten in Finnland während der 1930er und 40er Jahren als Beispiel dienen mag.16 Einige europäische Architekten kamen über reale Bauwerke in Europa mit Architektur aus Japan in Berührung, etwa durch die japanischen Pavillons für die Weltausstellungen in europäischen Ländern. Karin Kirsch untersuchte die in diesem Zusammenhang entstandenen japanischen Pavillons in Die neue Wohnung und das alte Japan. Ein weiteres nennenswertes Bauwerk war das 1935 in Stockholm gebaute und Architekten bekannte japanische Teehaus Zui-Ki-Tei. Helge Zimdahl verfasste dazu 1938 einen Beitrag im schwedischen Journal Byggmästaren.17 Fred Thompson legt in seiner Untersuchung nahe, dass auch Aalto dieses Bauwerk besucht haben könnte,18 und Richard Weston beschrieb die Wirkung des Teehauses auf Jørn Utzon und andere: „Das Zui-Ki-Tei war für dänische Architekten so wichtig wie der Ho-o-den-Tempel und die Villa auf der World’s Columbian Exposition in Chicago 1893 für Frank Lloyd Wright.“19 Europäische Architekten wurden auch auf indirektem Weg mit Motiven aus Japan vertraut, insbesondere über Arbeiten von Frank Lloyd Wright, der in seine Architektur und Grafik Motive aus Japan aufnahm. In der Einleitung zum berühmten, 1911 veröffentlichten Wasmuth-Portfolio Frank Lloyd Wright: Ausgeführte Bauten beschreibt der englische Architekt Charles Robert Ashbee „Spuren japanischen Einflusses“ in Wrights Werk.20 Auch der niederländische Architekt Hendrik Petrus Berlage, der Wright verehrte und ihn in Amerika besuchte, bemerkte die japanischen Einflüsse auf Wright.21 Anspielungen auf Wright, wie sie sowohl in Robert van ’t Hoffs

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Tetsuro Yoshida, Baba Villa, Nasu, 1927. Gunnar Asplund zeigte 1931 bei seiner Antrittsvorlesung am Royal Institute of Technology in Stockholm dieses Foto als Argument für die Spengler’sche Vorstellung vom „unendlichen Raum“.

1914 gebautem Bungalow in Huis ter Heide als auch in Jan Wils’ „De Dubbele Sleutel“ von 1918 in Woerden zu finden sind, erinnern an japanische Architektur, so indirekt die Verbindung auch sein mag. In einem Vortrag, den er 1939 am Royal Institute of British Architecture hielt, erklärte Frank Lloyd Wright, japanische Wohnarchitektur sei „wahrhaft organische Architektur“.22 Attraktionen – was europäische Architekten an Japan faszinierte Anhand einzelner europäischer Architekten, ihrer Schriften und Arbeiten, sowie anhand von Untersuchungen über sie lassen sich unterschiedliche Themen, Elemente und Motive aus Japan erkennen. Interessant ist in dieser Hinsicht Coates’ Werk, insbesondere die von ihm genannten fünf architektonischen Prinzipien, die er vom traditionellen japanischen Haus ableitete. Die Skelettkonstruktion mochte noch kein japanisches Spezifikum sein, dieses Prinzip hatten Europäer wie Auguste Perret und Le Corbusier bereits in ihrem Werk weiterentwickelt, doch Coates’ Prinzipien betrafen überdies weitere architektonische Themen wie Struktur, Raum und Möblierung, die auch für andere Architekten von Interesse waren. Insbesondere der Raum wurde ein großes Thema der modernen Architektur. Gunnar Asplund verband die Spengler’sche Vorstellung vom „unendlichen Raum“ mit der „Auflösung des Raums“ im japanischen Haus, da seiner Ansicht nach das Konzept des „unendlichen Raums“ durch die Schiebewand, die vollständig zurücktreten kann, ermöglicht wird. Dieses Verständnis war sicherlich ein Grund dafür, dass sich viele europäische Architekten, wie auch Asplund, so intensiv mit diesem Aspekt der japanischen Architektur auseinandersetzten, als Yoshida sie in Europa besuchte. Eng verbunden mit dieser Raumvorstellung war das nicht minder wichtige Prinzip

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Alvar Aalto, Villa Mairea, Noormarkku, Finnland, 1939, Blumenzimmer. Das Zimmer zeigt japanische Elemente wie Schiebetür, Fenstergitter, Lampenschirm aus Papier etc.

Alvar Aalto, Villa Mairea, Treppe

Alvar Aalto, frühe Skizze der Haupttreppe der Villa Mairea mit Bambusstangen, 1939

der Flexibilität.23 Mit Schiebewänden ließen sich im japanischen Haus nicht nur Grenzen aufheben, sondern auch die Innenräume flexibel aufteilen und konfigurieren. Zudem ist der japanische Raum multifunktional. In den Augen moderner Architekten eröffnete dieses Konzept der Flexibilität von Raum und Funktion neue Perspektiven für Wohnbauten mit begrenzter Fläche für die gering verdienende Bevölkerung. Da allerdings in den Entwürfen vieler Modernisten ähnliche Flexibilitätsprinzipien zum Tragen kamen, lässt sich schwer unterscheiden, was als Einfluss und was als eigenständige Entwicklung einzustufen ist. Viele weitere Charakteristika der japanischen Architektur, wie etwa Schlichtheit, Vereinheitlichung, Ruhe, Natürlichkeit und handwerkliche Meisterschaft, faszinierten die modernen Architekten Europas. Taut bezeichnete die „Sauberkeit“ als Qualität der japanischen Kunst, „nach der auch alle Kunst auf der Welt streben sollte“.24 Aalto rühmte die Feinheit der japanischen Kultur,25 während Charlotte Perriand von der „harmonischen Standardisierung“, dem „Nebeneinander von Gegensätzen“ und der „Zeitlichkeit“ in der japanischen Architektur beeindruckt war.26 Diese Architekten sahen in Japan vermutlich „eine von akademischen Regeln und Klischees des Westens noch unverdorbene Tradition“,27 die als Beleg für eine universelle Architekturtheorie dienen konnte. Insbesondere Walter Gropius machte bei seinem Besuch 1954 in Japan universelle Werte in der japanischen Ästhetik aus: „Lieber Corbu, alles, wofür wir gekämpft haben, hat seine Parallelen in der altjapanischen Kultur. […] Das japanische Haus ist das beste und modernste, das ich kenne, und wirklich vorfabriziert.“28 Applikationen – wie Einflüsse und Elemente aus Japan in der modernen Architektur interpretiert und angeeignet wurden Der Bezug auf japanische Ästhetik sowie ihre Interpretation und Adaption in der modernen Architektur lassen sich auf unterschiedlichen Ebenen beobachten: in der direkten Übernahme von Elementen, der Anspielung auf Motive und in der Bezug-

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nahme auf Prinzipien. Natürlich überschneiden sich diese Ebenen in weiten Teilen. In einem konkreten Beispiel fallen alle drei Ebenen zusammen: in Alvar Aaltos Villa Mairea. Aalto bezog sich beim Entwurf der Villa Mairea in vielen Fällen auf Yoshida, am deutlichsten zeigt das Blumenzimmer, wie er japanische Elemente direkt übernahm. Neben der Schiebetür lassen sich das Fenstergitter, der Lampenschirm aus Papier und eine an tatami erinnernde Strohmatte zur partiellen Wandverkleidung mühelos als japanische Elemente ausmachen. Juhani Pallasmaa29 sieht im Hängeregal des Raums Aaltos Interpretation des japanischen tana. Zwar wurden die in einer frühen Skizze noch vorgesehenen Bambusstangen für eine Treppe nicht realisiert, doch kann man auch in ihnen ein Beispiel für eine direkte Übernahme japanischer Elemente sehen. Wells Coates’ Neugestaltung der Innenräume von No. 1 Kensington Palace Gardens aus dem Jahr 1931 ist ein weiteres Beispiel für das Bestreben eines modernen Architekten, ein üppiges viktorianisches Interieur in schlichte, vom japanischen Haus inspirierte Räumlichkeiten umzugestalten.30 Auch in seiner Innenraumgestaltung für 34 Gordon Square finden sich japanische Schiebetüren wieder. Im Vergleich zur direkten Übernahme von Elementen ist die Anspielung auf Motive eher konnotativ als denotativ. Was als eine Anspielung auf japanische Motive gesehen wird, hängt von der Interpretation des jeweiligen Betrachters ab. So weist Pallasmaa darauf hin, dass die Komposition des Teichs und des kleinen Hügels bei der Villa Mairea an Yoshidas Illustration eines japanischen Gartens mit Hügeln erinnere. Zwar ist nicht belegt, dass Aalto sich tatsächlich auf diese Illustration bezog, aber die Aufschüttung, der Teich und die Trittsteine dahinter erinnern in der Tat an Elemente eines japanischen Gartens.

Alvar Aalto, Villa Mairea, Wohnzimmer, mit entfernten Schiebetüren

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Wells Coates, 34 Gordon Square, London, Großbritannien, 1931

Europäische Architekten übernahmen aber nicht nur formale Elemente, sondern versuchten auch, eine Reihe von Prinzipien aus der japanischen Architektur zu extrahieren. Asplunds Konzept vom „unendlichen Raum“, Coates’ fünf Punkte, Tauts „Sauberkeit“ und Perriands „harmonische Vereinheitlichung“ sind Beispiele dafür. Eine Reihe dieser Prinzipien waren den europäischen Architekten völlig neu, andere dienten als Beleg für bereits allgemein anerkannte Theorien. Einige dieser Prinzipien beziehen sich auf formale Elemente der ersten beiden Ebenen, so wie etwa das Prinzip vom „unendlichen Raum“ auf die Schiebetür. Aalto stützte sich für seinen Entwurf der großen Schiebetür zum Mairea-Wohnzimmer auf Yoshidas Buch. Von dem Effekt der fließenden Grenzen zwischen innen und außen waren der Architekt und seine Kunden allem Anschein nach so begeistert, dass sie Fotos machen ließen, auf denen man den Übergang zwischen innen und außen sehen konnte, der durch die vollständig aus dem Blickfeld geschobene Tür inszeniert wurde.

Bedeutung und kritische Bewertung Die bisher veröffentlichten Analysen zeigen viele Facetten des japanischen Einflusses auf die moderne Architektur des Westens, auf Europa, wie hier gezeigt wurde, sowie auf Amerika. Wo der Einfluss bedeutender war – in Amerika oder in Europa –, lässt sich schwer bestimmen. Es hängt auch davon ab, was genau man unter dem Wort „Einfluss“ in diesem Kontext versteht: eine reine „Anspielung“, die schon deutlich stärkere „Inspiration“ oder die „Bestätigung“ einer universellen Theorie, welche die Architekten schon vorher vertreten hatten. Die Entwürfe einiger Architekten verweisen eher vage auf Japan, während sich andere Architekten auf klare und deutliche Weise japanischer Konzepte bedienten. Josef Frank etwa bezeichnete seine China- und Japanbesessenheit als „sein zweites Identitätsbekenntnis“.31 Eine Ursache für den Mangel an Untersuchungen zum japanischen Einfluss auf die europäischen Modernisten besteht, wie der Verfasser an anderer Stelle dargelegt

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Wells Coates, No. 1 Kensington Palace Gardens, London, Großbritannien, 1931, vor und nach der Neugestaltung der Innenräume

hat,32 möglicherweise darin, dass die japanische Architektur – verkürzt gesagt – den europäischen Modernisten gar nicht so neu war, da Japan schon um 1900 in Europa in Mode war. Der europäische Modernismus hatte bereits über den Art Nouveau Einflüsse aus Japan aufgenommen, und auch durch Wrights Bezugnahme auf japanische Konzepte wurden diese in Europa bekannt. Daher war seinerzeit der japanische Raumbegriff von der modernistischen Raumauffassung nur schwer zu unterscheiden. Diese Sicht der Geschichte stützt die Vorstellung von einer facettenreichen modernen Architektur, die über den enggefassten Rationalismus hinausgeht. Die reduzierte Version des Modernismus, ein sich lokalen Kulturen verschließender Internationaler Stil, ist vielfach von Historikern kritisiert worden. Der Reichtum und die Vielfalt des Modernismus werden nach und nach wiederentdeckt. Die Architektur der Moderne gründete nicht ausschließlich auf dem „Glauben an die europäische Zivilisation“, sondern auch auf vielen Einflüssen und Quellen aus unterschiedlichen Kulturen. Damit verbunden ist insbesondere für Menschen außerhalb des westlichen Kulturkreises die Einsicht, dass die Formel „Modernisierung = Verwestlichung“ entschieden zu kurz greift und dass auch in ihren Kulturen Quellen der Moderne zu finden sind. Während der Modernisierung in Japan versuchten auch japanische Intellektuelle, das Wissen des Westens mit ihrem Lebensstil und ihrer Geisteshaltung zu vereinbaren, was in den Begriffen wakon – yosai zum Ausdruck kommt: „japanischer Geist – westliche Technik“. Diese Begriffe spielten auch in der Politik eine große Rolle. Und diese Denkart klingt auch in Ernest Fenollosas Postulat von der Fusion westlicher Mittel mit dem östlichen Zweck an.33 Die japanische Kultur entwickelte sich durch vielfältige Wechselbeziehungen, auch mit anderen ostasiatischen Ländern. Die genannte Sichtweise schließt an die des „Orientalismus“ an, der weit über den Rahmen der Architektur hinausgeht. Edward Said zeigt in Orientalismus auf, wie „der Westen den Orient dominiert, restrukturiert und Macht über ihn ausübt“.34 Saids Studie ist grundlegend, allerdings geht sie auf die positiveren Aspekte in der

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westlichen Wahrnehmung des Ostens kaum ein. Auf diesen Punkt weist Arthur Versluis hin, der Saids negativ gefärbter Perspektive den „positiven Orientalismus“ entgegenstellt. „Orientalismus ist nicht eine Art, Asien zu betrachten, sondern besteht aus vielen. […] Der Einfachheit halber wollen wir diese Arten des Orientalismus kategorisieren und unterscheiden zwischen negativem Orientalismus, der die Religionen, Kulturen und Völker Asiens herabwürdigt, und positivem Orientalismus, der die Religionen und Kulturen Asiens als wertvoll und als Synonym für beständige Wahrheiten betrachtet.“35 Mit dieser Definition des positiven Orientalismus kann die Rezeption japanischer Ästhetik durch europäische Architekten beschrieben werden. Die europäischen Modernisten sahen Grundelemente, Prinzipien und „beständige Wahrheiten“ im Fernen Osten und nahmen diese in ihr Entwerfen auf. Sie können damit als Belege für die positiven Auswirkungen von gegenseitiger „kultureller Befruchtung“ gesehen werden. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage, mit welcher Einstellung die europäischen Architekten Japan begegneten, steht noch aus. Was war der tiefer liegende Grund für die Bezugnahme auf Elemente und Konzepte aus Japan? Gab es Architekten, die aus strategischen Erwägungen auf fremde Ästhetiken zurückgriffen, um ihre Entwürfe zu untermauern? Oder andere, die möglicherweise ihre utopischen Wünsche auf ein Wunderland projizierten, von dem sie nur eine vage Vorstellung hatten? Kannten sie Japan überhaupt? Klaus Berger ging so weit zu sagen, dass die von japanischen Drucken begeisterten Maler des Westens eigentlich „fast nichts über Japan [wussten] und kein Interesse an japanischer Kultur oder Philosophie hatten.“36 Aber auch wenn es so wäre, würde es nichts ändern an der grundlegenden Lektion, dass Kulturen sich im Austausch miteinander entwickeln. Kulturen erhalten neue Ideen durch den katalysierenden Einfluss anderer Kulturen. Das gilt nicht nur für den japanisch-europäischen Austausch oder jenen zwischen dem Osten und dem Westen in der modernen Architektur, sondern auch für jeden interkulturellen Austausch zu allen Zeiten. Wichtig sind der Respekt vor dem „Anderen“ und der Versuch, aus Unterschieden zu lernen. Dieser Text basiert auf dem bereits erschienenen Artikel des Verfassers „Cross-Current Contribution: A Study on Modern Architecture in Europe“, in Architectural Research vol. 11(2), Dezember 2009, S. 9–18.

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1

„Oriental Forms in American Architecture 1800–1870“, 1947; „Oriental Contributions to Art Nouveau“, 1952; und „Japanese Building in the United States before 1900“, 1953. 2 Zwei bekannte Beispiele sind Kevin Nute, Frank Lloyd Wright and Japan, London 2000, und Julia Meech, Frank Lloyd Wright and the Art of Japan, New York 2001. 3 Clay Lancaster, „Japanese Building in the United States before 1900: Their Influence upon American Domestic Architecture“, in: The Art Bulletin 35 (3), 1953, S. 217–224. 4 Chisaburoh F. Yamada (Hrsg.), Dialogue in Art: Japan and the West, Tokio, New York und San Francisco 1976, S. 16. 5 Zitiert in: Reyner Banham, Die Revolution der Architektur: Theorie und Gestaltung im Ersten Maschinenzeitalter (Bauwelt Fundamente 89), Braunschweig 1990, S. 104. 6 Der auf dem Japan–Germany architectural exchange symposium 2005 in Kobe vorgestellte Aufsatz ist erschienen in: Hiroshi Adachi u. a. (Hrsg.), Dreams of the Other, Kobe 2007. 7 Tetsuro Yoshida, Das japanische Wohnhaus, Berlin 1935. 8 Erschienen in: Geonchuk-yeoksa-yeongu (Jour­nal of Architectural History) 15 (3), 2013, S. 43–57. 9 Aufsatz vorgestellt beim 60th Annual Meeting of SAH, Pittsburgh, PA, 2007. 10 Siehe Juhani Pallasmaa (Hrsg.), Villa Mairea 1938–39, Helsinki 1998; und The Aalto House 1935–36, Helsinki 2003, S. 98–100. 11 Erschienen in: Architectural Research Quarterly 12 (1), 2008, S. 43–57. 12 Yoshida war vom Teishinsho, dem japanischen Ministerium für Kommunikation, in den Westen entsandt worden, um dort Rundfunkeinrichtungen zu inspizieren, doch wie es scheint, interessierte er sich mehr für die modernistischen Strömungen in der europäischen Architektur. Bei seinem fast einjährigen Aufenthalt in Europa traf er sich in jedem besuchten Land mit mehreren führenden Architekten, von denen er nicht nur lernte, sondern denen er auch viel über traditionelle japanische Architektur beibrachte. 13 Teijiro Muramatsu, „Ventures into Western Architecture“, in: Yamada (Hrsg.), a. a. O., S. 125–148. 14 Richard Joseph Neutra, „Gegenwärtige Bauarbeit in Japan“, in: Die Form 6 (1), 1931, S. 22–28; „Japanische Wohnung, Ableitung, Schwierig­keiten“, in: Die Form 6 (3), 1931, S. 92–97; und „Neue Architektur in Japan“, Die Form 6 (9), 1931, S. 333–340. 15 Bruno Taut, Fundamentals of Japanese Archi­tecture, Tokio 1936. 16 Göran Schildt, Alvar Aalto: The Decisive Years, New York 1986, S. 197 ff.. 17 Helge Zimdahl, „Zui-Ki-Tei“, in: Byggmästaren 9, 1938, S. 82–94. 18 Juhani Pallasmaa (Hrsg.), a.a.O, S. 98. 19 Richard Weston, Jørn Utzon, Hellerup 2002, S. 20–21. 20 Charles Robert Ashbee, „Frank Lloyd Wright“, in: Frank Lloyd Wright: Ausgeführte Bauten, Berlin 1911. Auf Englisch erschien es als Frank Lloyd Wright: Early Visions, New York 1995 (1911, 2. Aufl.). 21 Hendrik Petrus Berlage, „Frank Lloyd Wright“, in: Wendingen 4 (11), 1921, S. 79–85; Reprint: Frank Lloyd Wright u. a., Frank Lloyd Wright: The Complete 1925 „Wendingen“ Series, New York 1992, S. 79–85. 22 Frank Lloyd Wright, „Eine organische Architektur“, in: Wolfgang Braatz (Hrsg.), Frank Lloyd Wright: Humane Architektur (Bauwelt Fundamente 25), Gütersloh und Berlin 1969, S. 199. 23 Natürlich ist dieses Konzept nicht allein auf die japanische Vorstellung zurückzuführen. Das Prinzip der „Ent-

grenzung zwischen innen und außen“ wurde von den europäischen Modernisten zunehmend verfeinert. – 24 Tetsuro Yoshida, „Kenchiku-Yisho -to-Jiyokusei“ (Der architektonische Entwurf und jiyokusei oder Selbstbeherrschung), in: Kenchiku-Zasshi 1129, 1977, S. 61–64 (1942 geschrieben). 25 Alvar Aalto, „Rationalism and Man“ (1935), in: Göran Schildt (Hrsg.), Alvar Aalto: In His Own Words, Helsinki 1997, S. 89–93. 26 Vgl. Irène Vogel Chevroulet, „Japan 1940–41: Imprint and resonance in Charlotte Perriand’s designs“, vorgestellt in der Sitzung zum Thema „East Asian Influence on Modern Architecture in Europe“ beim 60th Annual Meeting of SAH, Pittsburgh, PA, 2007. 27 Ernst H. Gombrich, The Story of Art, Oxford 1989, S. 418. 28 Postkarte von Walter Gropius, die er im Juni 1954 aus Kioto an Le Corbusier schrieb. Siehe Francesco Dal Co, „La princesse est modeste“, in: Virginia Ponciroli (Hrsg.), a. a. O., S. 386–389. 29 Juhani Pallasmaa (Hrsg.), a. a. O. 30 Vgl. Anna Bashams, „At the crossroads of Modernism and Japonisme: Wells Coates and the British Modern Movement“, vorgestellt beim 60th Annual Meeting of SAH, Pittsburgh, PA, 2007. 31 Karin Lindegren, „Architektur als Symbol: Theory and Polemic“, in: Nina Stritzler-Levine (Hrsg.), Josef Frank: Architect and Designer, New Haven 1996, S. 96–101. 32 Hyon-Sob Kim, „Tetsuro Yoshida (1894–1956) and Architectural Interchange between East and West“, in: Architectural Research Quarterly 12 (1), 2008. 33 Ernest Fenollosa, „The Coming Fusion of East and West“, in: Harper’s, December 1898, zitiert nach: Beongcheon Yu, The Great Circle: American Writers and the Orient, Detroit 1983, S. 106. 34 Edward W. Said, Orientalismus, Frankfurt am Main, 1981, S. 3. 35 Arthur Versluis, American Transcendentalism and Asian Religions, Oxford 1993, S. 5. 36 Klaus Berger, Japonismus in der westlichen Malerei, 1860–1920, München 1980, zitiert nach: Henry Adams, „New Books on Japonisme: Review Article“, in: The Art Bulletin 65 (3), 1983, S. 495–502.

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Zwischen Tradition und Moderne: Die zwei Seiten der japanischen Vorkriegsarchitektur Benoît Jacquet

Die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, seit der Meiji- (1868–1912) und der Taisho-Ära (1912–26), gilt als Periode der intensiven, von starkem Modernisierungsglauben getriebenen Industrialisierung und Verstädterung in Japan. Im Gegensatz dazu ist die Geschichte der japanischen Vorkriegsarchitektur während der 1930er und 40er Jahre und ihr Zusammenhang mit der Modernisierung wenig bekannt und weitestgehend in Vergessenheit geraten. In der Tat beginnen die meisten Studien zur Geschichte der modernen Architektur in Japan mit der Nachkriegszeit, und auch die meisten japanischen Historiker teilen das 20. Jahrhundert in zwei Hälften: in die Zeit vor und nach 1945, als hätte es keine Kontinuität gegeben. Aber auch wenn Japan, wie es sich uns heute darstellt, mit dem Japan von vor hundert Jahren wenig gemein hat, wäre es falsch anzunehmen, dass der Diskurs, der zur zeitgenös­ sischen Architektur führte, sozusagen aus dem Nichts erst in den 1950er oder 60er Jahren oder sogar noch später entstanden sei. Die Geschichte der modernen japanischen Architektur reicht weiter zurück; sie hat sich im Laufe der Zeit in Zyklen und Spiralbewegungen entwickelt und unterschiedliche Konzepte hervorgebracht. Die beiden Hauptthemen und -impulse, die die Grundlage für die meisten Diskurse zur Architektur in Japan bilden, sind zum einen der Bezug zur Moderne, zu Technologie und Fortschritt auf unterschiedlichen Ebenen, und zum anderen der Bezug zu Traditionen der japanischen Kultur und Gesellschaft. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Einfluss der westlichen Architektur, der – wie die meisten Interviews in diesem Buch belegen – in den Diskursen japanischer Architekten insofern immer noch sehr präsent ist, als diese sich oft auf westliche Architektur und Architekten beziehen, wenn sie über ihre eigenen Werke sprechen. Es ist daher sehr aufschlussreich, die Beziehungen zwischen japanischen Traditionen und westlichen Entwicklungen in der Geschichte der japanischen Vorkriegsarchitektur näher zu betrachten.

Was ist Architektur? Erst Ende des 19. Jahrhunderts, mit dem Einzug westlicher Technologien und Lehren, begann Architektur als neuer Beruf und selbstständige Disziplin an den Universitäten Japans gelehrt zu werden. Auch wenn man das Wort Architektur und seine Etymologie in der japanischen Sprache, die später erläutert wird, zunächst

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Kingo Tatsuno, Hauptbahnhof, Tokio, 1914

außer Acht lässt, ist es offensichtlich, dass „Architektur“ als westliches Konzept aufgefasst wurde – als ein theoretisches Verständnis des Bauwesens, das bis weit in die Meiji-Ära die Domäne von Zimmerleuten gewesen war. Als einer von vielen westlichen Beratern der japanischen Regierung wurde der junge britische Architekt Josiah Conder eingestellt, um an der Tokyo Imperial University westliche Architektur zu lehren. Sie wurde als wichtig erachtet, da in der Meiji-Zeit die Orientierung am Westen für die Errichtung von Gebäuden für neue Zwecke, große Wichtigkeit hatte und westliche Architektur als Vorlage diente. Conders Lehre der Architektur bezog sich entsprechend auf angewandte und bildende Kunst aus Europa, wenngleich sein persönliches Interesse der Kunst, Malerei und Gartenkunst Japans galt, wozu er mehrere Bücher veröffentlichte. Die ersten japanischen Architekten der Meiji-Zeit entwarfen „westliche Gebäude“ in Anlehung an unterschiedliche europäische Stile und bedienten sich westlicher Proportions- und Harmonielehren. Einigen dieser Architekten, wie Kingo Tatsuno, dem Architekten des Tokioter Bahnhofs, gelang es, einen speziellen Stil zu entwickeln, der verschiedene westliche Elemente und Materialien einbezog, etwa bei Dächern, Fenstern und Wänden, sowie einige Details japanischen Stils. So entwarf er auf Backsteinmauern weiße horizontale Linien, die an jene erinnerten, die man an Einfriedungsmauern buddhistischer und kaiserlicher Bauwerke findet. Um europäische Architektur näher kennenzulernen, war es in der japanischen Oberschicht üblich, nach Europa zu reisen, und so verbrachte auch Tatsuno vier Jahre dort. Während seiner Zeit in London arbeitete er für William Burges, der Conders Lehrer gewesen war und sich für fernöstliche Kunst interessierte. Daher stellte Burges dazu viele Fragen an seine japanischen Angestellten. Tatsuno räumte ein, dass es ihm schwerfiel, über „Japanisches“ Auskunft zu geben, weil seine Ausbildung während der Meiji-Zeit rein westlich ausgerichtet war. Nach seiner Rückkehr nach Japan wurde er Professor an der Tokyo Imperial University, an der zu seinen ersten Entscheidungen die Einstellung eines Zimmermanns (toryo) und die Einführung eines Kurses zu japanischer Architektur zählten. Ende des 19. Jahrhunderts war japanische Architektur damit erstmals Lehrgegenstand an einer Universität. Chuta Ito, der zur dritten Generation von Architekturprofessoren an der Tokyo Imperial University gehörte, wurde als einer der Ersten sowohl in westlicher als auch in japanischer Architektur unterrichtet. In dieser Zeit leitete der Zimmermann Kiyoyoshi Kiko von 1889 bis 1891 einen fakultativen Kurs zu

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Chuta Ito, Abschlussarbeit: Entwurf einer Kathedrale, Tokyo Imperial University, 1882

japanischer Architektur; Kikos Familie war mit der Restaurierung der Liegenschaften des kaiserlichen Hofs betraut. An der Tokyo Imperial University war sein Kurs nicht rein historisch ausgerichtet: In ihm wurden formale und stilistische Charakteristika ebenso gelehrt wie die Proportionssysteme von Shinto-Schreinen, buddhistischen Tempeln und Palastarchitektur. Obwohl Chuta Itos Generation eine Einführung in japanische Architektur erhielt, basierte ihr theoretisches Hintergrundwissen in Kunstgeschichte und Ästhetik auf westlichen Doktrinen. Das einzig verfügbare Buch zur Architektur Japans in dieser Zeit war Christopher Dressers illustriertes Buch Japan: Architecture, Art, and Manufactures, das 1882 veröffentlicht wurde. Wie viele Studenten in dieser Zeit lernte auch Ito die deutsche Sprache und las Wilhelm Lübkes Bücher zur Kunstgeschichte. Er befasste sich auch mit Eugène Vérons Esthétique von 1878. Ein weiteres wichtiges Buch, das im Kurs zur Architekturgeschichte an der Imperial University eine große Rolle spielte, war James Fergussons 1874/75 veröffentlichte History of Architecture, in der sich ein ganzes Kapitel der Architektur in Asien und insbesondere in Indien widmete. Der Einfluss dieser Ausbildung wird in Itos Dissertation mit dem Titel Kenchiku tetsugaku (Architekturphilosophie), die er 1892 einreichte,1 ebenso deutlich wie in seinem Abschlussprojekt „Entwurf für eine Kathedrale“ im neugotischen Stil des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Seine Dissertation darf als erster in japanischer Sprache verfasster Aufsatz zur Architekturtheorie betrachtet werden. Ito führte das Konzept der „künstlerischen Architektur“ (bijutsu kenchiku) ein. Seine Argumentation bediente sich eines Vokabulars und eines Fundus von Ideen, die in westlichen Kunsttheorien gründeten, wie „Proportion“, „Harmonie“, „Unbewusstes“ und „Wesen“. Dem Architekten und Historiker Terunobu Fujimori zufolge gingen diese Begriffe auf den britischen Architekten und Kunstkritiker Owen Jones zurück.2 Ito wollte offensichtlich einen Begriff von Architektur definieren, der über ihre rein „konstruktive“

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Funktion hinausging. Er bezeichnete dies als „künstlerisch“ oder „ästhetisch“ und meinte damit eine von künstlerischen Werten motivierte Architektur. Nach Itos Vorstellung wird das Bauen durch einen künstlerischen Prozess zur Architektur. Was den meisten Architekten heute selbstverständlich erscheint, wurde seinerzeit in Japan noch nicht so verstanden. Der in der japanischen Fachliteratur heute für „Architektur“ verwendete Begriff kenchiku tauchte erstmals 1872 im Seiyo kasaku hinagata (Handbuch für den Bau westlicher Häuser), der japanischen Übersetzung von Charles Allens Cottage building, or, Hints for improving the dwellings of the labouring classes von 1849–50, auf. Kenchiku wurde als Eintrag im ersten, 1867 von James Hepburn herausgegebenen English and Japanese Dictionary übernommen. Allerdings wählte man den Ausdruck nicht zur Benennung des 1886 gegründeten Berufsverbands der „Architekten“; dieser wurde Zoka gakkai, „Baukonstruktionsvereinigung“, genannt. Es ist bekannt, dass Chuta Ito den Ausdruck kenchiku für treffender hielt als zoka und dass er sich für eine Umbenennung der Institution aussprach.3 Dennoch gab sich Zoka gakkai erst 1897 den Namen Kenchiku gakkai. Itos erste Präsentation vor der „Baukonstruktionsvereinigung“ trug den Titel „Die Beziehung zwischen Architektur und den Bildenden Künsten“4 und sollte eine Diskussion über die Definition von Architektur im Sinne von Kunst (bijutsu) anregen. Da seiner Ansicht nach die Definition von Schönheit (bi) auch eine Frage des Geschmacks (tesuto) war, merkte er an, dass es schwierig sei, in dieser Frage gänzlich objektiv zu sein: „Was ein westlicher Betrachter als schön ansieht, muss ein fernöstlicher nicht ebenfalls für schön befinden.“ Daher plädierte er dafür, den „subjektiven und geistigen Befindlichkeiten der fernöstlichen Betrachter, also der Japaner“ nachzuspüren und deren spezifischem „Geschmack“ auf den Grund zu gehen.5 Was ist „japanischer Geschmack“ (Nihon shumi)? Diese Frage gewann an Bedeutung, nachdem sich Japan mit Beginn der Meiji-Ära westlichen Einflüssen zu öffnen begonnen hatte, erneut aber auch Ende des 19. Jahr­hunderts, als Japan nach der ersten Welle der Verwestlichung begann, sich wieder auf seine Traditionen zu besinnen. Für diesen Rückgriff gibt es mehrere Ursachen. Eine ist in der beginnenden Kolonialisierung anderer asiatischer Länder durch Japan zu sehen, die 1895 mit Formosa (Taiwan) begann. In den neuen Kolonien Japans sollte eine Architektur errichtet werden, die Japan repräsentierte und sich von der neoklassizistischen Architektur des Westens unterschied. Neben dem Anliegen, japanische Monumente in Japan und seinen asiatischen Kolonien zu schaffen, war die Wiederentdeckung des eigenen architektonischen Erbes eine weitere Ursache für die Rückbesinnung auf die Traditionen.

Was ist japanische Architektur? Wie bereits erwähnt, war die Generation Chuta Itos die erste, die an der Universität in japanischer Architektur unterrichtet wurde. An der Tokyo Imperial University arbeitete Ito mit dem Zimmermann Kiko zusammen, unter anderem an verschiedenen Restaurierungsprojekten in Nara sowie von 1892 bis zur Nationalen Industrieausstellung 1895 am Bau des Heian-Schreins in Kioto, einer verkleinerten Reproduktion des im Jahr 794 erbauten Kaiserlichen Palastes der ersten Hauptstadt Heian-kyo

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im Maßstab 5:8. In dieser Zeit begegnete er auch Orientalisten, die an einer Inventarisierung der nationalen Kulturschätze arbeiteten, wie etwa Okakura Tenshin, und saß im Komitee, das mit dem Entwurf des 1897 erlassenen Gesetzes zur Erhaltung alter Tempel und Schreine betraut war. Itos erste wissenschaftliche Veröffentlichung war eine Architekturstudie zum Horyu-ji6 – die erste bei der Fakultät für Ingenieurwesen der Imperial University eingereichte Dissertation überhaupt. Das im 7./8. Jahrhundert erbaute buddhistische Kloster Horyu-ji in Nara, das älteste noch bestehende Holzbauwerk der Welt, hielt Ito für einen Prototyp japanischer Architektur. Seine Untersuchung befasst sich mit den Proportionen und konstruktiven Details der drei Hauptgebäude: der Haupthalle, der Pagode und des zentralen Tors. Ito glaubte, dass der Horyu-ji den ersten und ursprünglichen Stil der japanischen Architektur verkörperte, dessen Grundlage zusammen mit der „indogriechischen“ buddhistischen Zivilisation aus Korea importiert wurde. Ito zufolge ist „diese Architektur besonders interessant, da in ihrer Ausprägung sowohl chinesische als auch indische Einflüsse enthalten sind und überdies das Erbe der griechischen Architektur.“7 Dieser Verweis auf die „hellenistischen“ Ursprünge der japanischen Architektur hat sich nie erhärten lassen; er war allerdings keine Erfindung Itos, sondern wurde seinerzeit von Kunsthistorikern vielfach diskutiert.8 Dass bestimmte Pfeiler des Horyu-ji Entasen aufweisen, wurde als Hinweis auf den Einfluss der hellenistischen Architektur gesehen, die zur Zeit Alexanders des Großen mit dem indischen Buddhismus in Gandhara in Berührung gekommen war. In Anbetracht dieses breiten Spektrums an Ursprüngen und Einflüssen kam Ito zu dem Schluss, dass der Horyu-ji – für ihn der Ausgangspunkt eines eigenständigen japanischen Stils in der buddhistischen Architektur – in den Kanon der Weltgeschichte der Architektur einzuordnen sei. Den Bezug auf einen externen, vermeintlich objektiven westlichen Blickwinkel nutzte Chuta Ito auch als Mittel für eine neue Perspektive auf die japanische Architektur. Einem genuin japanischen Werk westliche Einflüsse zuzuschreiben, war somit nicht rein ideologisch motiviert, sondern diente auch als schlagkräftiges Argument für eine eingehendere Beschäftigung mit der japanischen Architektur, ein seinerzeit neues und noch kaum entwickeltes Forschungsgebiet, sowie die Restaurierung und

Chuta Ito, Vergleich der Proportionen eines etruskischen Tempels und des Haupttors des Horyu-ji, 1883

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Buddhistisches Kloster Horyu-ji, Nara, ca. 7. Jahrhundert. Foto aus: Chuta Ito, Horyu-ji, 1940

Bewahrung der Architektur des japanischen Altertums. Es bot sich aber auch eine Chance, die Disziplin der Architektur, die bis dahin überwiegend auf technische Praxis ausgerichtet war, anderen Themen- und Studienfeldern zu öffnen, insbesondere theoretischen, künstlerischen und philosophischen Ansätzen.

Die Modernisierung der japanischen Architektur In Japan ist die Weitergabe von Wissen und Techniken vom Meister an den Lehrling, wie sie in allen traditionellen Künsten gang und gäbe ist, auch in akademischen Berufen üblich; Herangehensweisen und Lehrmeinungen werden von einer Generation an die nächste weitergereicht. So beschäftigten sich auch einige von Itos Studenten mit japanischer und fernöstlicher Architektur, so Hideto Kishida an der University of Tokyo, andere setzten sich mit Architekturgeschichte auseinander, wie etwa Keiichi Morita an der Kyoto University. Morita war eines der sechs Mitglieder der Japanese Secession Architectural Association (Bunriha kenchikukai), die im März 1920 beschlossen, einige avantgardistisch-expressionistische Entwürfe als Manifest zu veröffentlichen, um die „historistische“ Architektur ihrer Kollegen zu revolutionieren. Der Katalog zu ihrer Ausstellung ist zu einer wichtigen Referenz in der japanischen Architekturgeschichte geworden. Morita lehrte ab 1922 an der Imperial University of Kyoto und wurde für seine Studien zur klassischen Architektur bekannt, er übersetzte als Erster Vitruv ins Japanische. Sein erster Architekturauftrag, das 1925 erbaute Klubhaus der Universität, Rakuyu kaikan, ist beispielhaft für einen modernen, unorthodoxen japanischen Stil. Andere Mitglieder der Japanese Secession Architectural Association, wie Sutemi Horiguchi oder Mamoru Yamada, gründeten eine japanische Bauhaus-Gruppe. Sie folgten dem sogenannten Internationalen Stil, der später richtungsweisend beim Bau nationaler und kultureller Institutionen wurde, wie etwa beim Bau des Ministeriums für Kommunikation. Hideto Kishida war Chuta Itos Nachfolger, gehörte aber schon jener Architektengeneration an, die direkt von der architektonischen Moderne beeinflusst wurde. Als „expressionistischer“ Architekt entwarf er 1921 mit Yoshikazu Uchida das YasudaAuditorium, den Glockenturmbau der University of Tokyo. Das Thema seiner Dissertation war das Leben und Werk Otto Wagners,9 gleichzeitig lehrte er an der Universität unter anderem in einem Kurs zu japanischer Architektur – diese Ambivalenz war charakteristisch für die Intellektuellen jener Zeit, die sich sowohl mit japanischen Traditionen als auch mit der aufkommenden Moderne befassten. Vielleicht war es seine Fähigkeit, Prinzipien und Ästhetik der historischen japanischen Architektur zu aktuellen Entwicklungen in der Architektur in Beziehung zu setzen, die seine Schriften über japanische Architektur so erfolgreich machten. Wie vor ihm bereits Ito beschäftigte sich auch Kishida mit dem architektonischen Erbe in Asien und speziell in Japan. Sein 1929 veröffentlichtes Buch Kako no kosei (Kompositionen der Vergangenheit) eröffnete damals eine neue, zeitgemäße Sicht auf die japanische Architektur, die den jüngeren Generationen die Augen für die architektonische Tradition ihres Landes öffnete. Das Buch Kako no kosei präsentiert 75 Fotografien historischer japanischer Architektur. Die meisten davon zeigen buddhistische Tempel in Nara, vier aber auch die Villa Katsura – es war das erste Mal, dass Fotos der Villa Katsura in einem

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Hideto Kishida, Kako no kosei (Kompositionen der Vergangenheit), 1929, Buchcover der Ausgabe von 1938

Hideto Kishida, Katsura-dana (Katsura Regale), 1929

Architekturbuch veröffentlicht wurden. Jede Buchseite ist mit einem Foto illustriert und mit einem Kommentar versehen, der jedoch keine Erläuterungen zum historischen Kontext gibt. In der Einleitung betont Kishida, dass „dieses Buch in keiner Weise für sich in Anspruch nimmt, die japanische Architektur historisch zu untersuchen“, und weiter: „Meine Absicht ist es, einen neuen Blick auf die plastischen Qualitäten der Kunst Japans zu eröffnen und die historische Architektur in Japan vom heutigen Standpunkt aus zu betrachten […] Dieses Buch ist das erste, das zu einem neuen Blick auf japanische Architektur anregen möchte, und ich würde mich glücklich schätzen, wenn es einen gewissen Sinn und Nutzen erbrächte.“10 Damit betonte Kishida, dass das Buch mehr als rein historischen Wert haben solle: Um in der Gegenwart Bedeutung zu haben, müsse es das besitzen, was Alois Riegl den „Gegenwartswert“ nannte: „Die meisten Denkmale besitzen die Fähigkeit, auch solche sinnlichen oder geistigen Bedürfnisse von Menschen zu befriedigen, für deren Stillung sich ebenso gut (wo nicht noch besser) neue, moderne Gebilde eignen würden.“11 Kishidas Bemerkungen zielen auf die „Modernität“ der japanischen Architektur ab. So schreibt er beispielsweise über die Regale (tana) in der Villa Katsura: „Wenn wir die Regale betrachten, erleben wir dieselbe erfrischende Modernität, die wir empfinden, wenn wir vor einem Zeppelin stehen […] Wir können sagen, dass die Essenz der Form in diesem Raum (mit Regalen) in der Größe von drei Tatami-Matten zum Ausdruck kommt.“12 Kishida beschreibt zudem, wie Möbel sich zur Architektur verhalten und wie sie räumliche Konzeption bestimmen können, wobei diese Konzeption auch ein entscheidendes Merkmal moderner Architektur sei. Wir wissen auch, dass Kishida von seinem ersten Europaaufenthalt 1926/27 Le Corbusiers Schriften mit nach Japan brachte und seinem Studenten Kunio Maekawa auftrug, sie zu lesen.13 Maekawa arbeitete direkt nach Abschluss seines Studiums bei Le Corbusier und wurde später in den 1930ern der bekannteste Vertreter einer Gruppe von Architekten, die von Le Corbusier geprägt waren und zu denen auch Junzo Sakakura, Antonin Raymond und Kenzo Tange zählten. Auch wenn sie moderne Architektur schufen, ließ jeder von ihnen auch japanische Merkmale in seine Entwürfe einfließen. So basiert beispielsweise das Sommerhaus, das Raymond 1933 in Karuizawa baute, auf Plänen Le Corbusiers für die Villa Errázuriz,14

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ist aber als Holzhaus mit Reetdach konzipiert. Diese Konstruktion ist deshalb so interessant, weil sie belegt, dass es möglich ist, etwas aus Holz zu bauen, was ursprünglich als Betonkonstruktion entworfen war. Das zeigt, dass das Material als Symbol für Modernität oder Tradition gedeutet werden kann – und es ist bereits ein Beispiel für eine moderne regionalistische Architektur in Japan. Dass japanische Architekten Ende der 1930er Jahre eine moderne Holzarchitektur entwickelten, ist auch dem Umstand geschuldet, dass im Bausektor aufgrund von Materialknappheit die Verwendung von Eisen verboten war – und dass Eisen ab 1937 für militärische Zwecke requiriert wurde.

Der Diskurs zur Tradition Seit dem Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg 1894–95, der Kolonialisierung Taiwans 1895, dem Russisch-Japanischen Krieg 1904–05, der Annexion Koreas 1905, der Annexion der Mandschurei 1931 und dem Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg 1937–45 wurden japanische Baufirmen und Architekten in die ostasiatischen Kolonien entsandt, um neue Gebäude und Städte zu planen und zu bauen. Die meisten institutionellen Gebäude wurden in einem neuen nationalen Stil – dem sogenannten Kaiserkronen-Stil – erbaut, der sowohl in Japan als auch in seinen asiatischen Kolonien üblich wurde. Je mit einer Art „fernöstlichem“ Dach errichtet, stellen diese Gebäude insgesamt keine überzeugenden oder fundierten Beispiele für eine japanische Architektur moderner Lesart dar. Während die meisten jungen japanischen Architekten allzu gern europäischen Architekturtrends gefolgt wären, wurden sie mit neuen und ungewöhnlichen Aufträgen konfrontiert: zunächst für Militärgebäude, die rein funktionale Kriterien zu erfüllen hatten, sowie später auch für Kriegsmonumente. Das erste Kriegsmonument Japans war der 1869 in Tokio gebaute Yasukuni-Schrein. Später wurden in Ostasien unterschiedliche Formen von „Gedenktürmen für die Gefallenen“ errichtet. An diesen Bauten, aber auch an

Antonin Raymond, Sommerhaus, Karuizawa, 1933, Wiederaufbau

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­ einhäusern gab es an vielen Orten großen Bedarf, da bis Juli 1939 auf den B Schlachtfeldern Asiens bereits 60.000 japanische – und wahrscheinlich mindestens genauso viele andere asiatische – Soldaten gefallen waren. Die meisten dieser Monumente wurden von Künstlern errichtet, die sie europäischen Monumenten nachempfanden. Von Hideto Kishida dazu ermuntert, reichten aber auch immer mehr moderne japanische Architekten bei nationalen Wettbewerben ihre Entwürfe für diese Monumente ein, so dass Architekten spätestens mit Beginn des Pazifikkrieges im Dezember 1941 eine zunehmend wichtigere Rolle bei der Ausformulierung eines nationalen Stils spielten. Im April 1942 bildete das Architekturinstitut auf Weisung der Regierung ein Komitee für den Bau des Daitoa-Monuments für die „Großostasiatische Wohlstandssphäre“. In diesem Komitee hatte Hideto Kishida die Leitung des Unterausschusses für Architekturgestaltung inne. Er ernannte Kenzo Tange zu seinem Sekretär und berief Kunio Maekawa, Junzo Sakakura und zwei weitere Architekten zu Mitgliedern des Komitees. Kishidas erste Initiative war die Ausrufung eines nationalen Wettbewerbs für die Planung des Daitoa-Monuments. Er lud alle jungen Architekten dazu ein, ihr Können und ihre Visionen für die Errichtung des Monuments für Großost­asien zu zeigen. Dieses Monument sollte an jedem Ort in Ostasien erbaut werden können, das Programm war relativ offen: Zu den wenigen Maßgaben zählte, dass der Entwurf Monumentalität und Traditionalität ausdrücken und dass moderne Materialien und Techniken zum Einsatz kommen sollten, um den neuen „japanischen Geist“ zu repräsentieren.15 Kunio Maekawa, ein Mitglied der Wettbewerbsjury, notierte, dass 63 Architekten am Wettbewerb teilnahmen16 – oder anders ausgedrückt: eine ganze Architektengeneration. Im Juli 1942 veranstalteten Mitglieder des Architekturinstituts eine Debatte über den architektonischen Stil des Daitoa-Monuments. Im Vergleich zu anderen kulturellen Disziplinen galt die Architektur – eine „technische“ Disziplin innerhalb des Fachbereichs für Ingenieurwesen – nicht als Werkzeug der politischen und kulturellen Propaganda, eine Tatsache, die offenkundig bei einzelnen Architekten ein gewisses Bedauern auslöste. Hideto Kishida, der in dieser Zeit an einer Geschichte der nationalsozialistischen Architektur in Deutschlands schrieb,17 belebte die Debatte um Staatsarchitektur mit der Aussage, Japan habe „einen Status erreicht, in dem Architektur den Willen des Volkes und den Geist der Nation zum Ausdruck zu bringen hat“, wobei er das nationalsozialistische Deutschland als Beispiel an­führte.18 Asien unter einem japanischen Dach zu vereinen – angelehnt an die Wendung hakku ichiu, „Die ganze Welt unter einem Dach“19 –, war ein erklärtes Ziel des japanischen Kaiserreichs. In gewisser Weise hatte Kenzo Tange etwas Ähnliches mit seinem Siegerentwurf für das Daitoa-Monument von 1942 vorgeschlagen. Tanges Plan für eine „heilige Kultstätte“ an den Hängen des Fuji sollte die Blaupause für alle in Asien zu errichtenden Kultstätten liefern. Mit Bezug auf den Shintoismus, seit der Meiji-Ära Staatsreligion, entwarf Tange einen riesigen, etwa 75 Meter hohen und 150 Meter langen Schrein. Dieser Bau aus Beton sollte über eine Straße und eine Bahnlinie, beide gewissermaßen als Pilgerpfade, physisch und symbolisch mit dem Kaiserlichen Palast in Tokio verbunden werden. Als Verknüpfung zwischen dem göttlichen japanischen Menschen – dem Kaiser – und der göttlichen japanischen Natur – dem Fuji –, war das Monument nach Art früher kaiserlicher Grabanlagen, der kofun aus dem 3. bis 7. Jahrhundert, konzipiert.

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Kenzo Tange, Hiroshima Peace Memorial. Foto von Kenzo Tange, ca. 1951

Kenzo Tanges Diskurs entsprach in seiner Struktur dem, was heute als Okzidentalismus bekannt ist,20 in ihm wurde der japanische Ausdruck von Monumentalität als genuine Alternative zu dominanten westlichen Formen präsentiert. In einer erklärenden Bemerkung schrieb Tange, westliche Monumentalität sei von „ansteigenden Formen“ gekennzeichnet, die den „Bezug zur Natur und zu territorialen Gegebenheiten verloren“ hätten. Diese abstrakten Formen, wie die einer Pyramide oder eines Turms, seien das „zwergenhafte Symbol für den Durst des Westens nach Vorherrschaft“.21 In Tanges Plan für das Daitoa-Monument wird die Vereinigung des Menschen mit der Natur, ein wichtiger Aspekt des Shinto-Kults, in die Konstruktion einer Architektur aufgenommen, die mit ihrer Umwelt verschmilzt. Diese Verbindung mit der Natur wird in einer Perspektive des Daitoa-Monuments aus der Vogelperspektive sichtbar gemacht. Tange zeichnete ein Landschaftsbild, in dem die architektonischen Formen in einer mystisch-nebligen Berglandschaft verschwinden. Mit Blick auf die Entwicklung der modernen japanischen Architektur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist es bemerkenswert, dass die Beschäftigung mit Traditionen – unabhängig davon, ob es sich dabei um historisch überlieferte oder um jüngere Schöpfungen handelte22 – oft mit politischen und ideologischen Diskursen verknüpft war, insbesondere beim Thema „Monumentalität“. Interessanterweise waren es soziale oder politische Krisen, in denen die Architekten neue architektonische Antworten fanden und räumliche Ideen und Konzeptionen entwickelten.

Tradition oder Moderne? Bald nach dem Krieg beteiligte sich Kenzo Tange am Wiederaufbau von Hiroshima und errichtete 1949 bis 55 dort auch das Hiroshima Peace Memorial, das inzwischen am häufigsten besichtigte moderne Monument Japans.23 Als Symbol des

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Wiederaufbaus in Japan wurde das Hiroshima Peace Memorial zu einem Beispiel für moderne Architektur mit Bezug zur japanischen Architekturtradition; es befeuerte die Diskussion um Tradition, die nach der amerikanischen Besatzung zu Beginn der 1950er Jahre wieder entbrannte. Bei einem 1953 veranstalteten Symposium zum Thema „Nationalismus oder Internationalismus“, an dem Maekawa, Sakakura, Tange und Isoya Yoshida24 teilnahmen, diskutierten diese Architekten über das Verhältnis ihrer Architektur zur „japanischen Architektur“. Kenzo Tange, der die wichtigsten Wettbewerbe zu Kriegsmonumenten gewonnen hatte – und der später der führende international orientierte Architekt Japans werden sollte –, beschrieb die Erfahrungen aus der Vorkriegs- und Kriegszeit als eine Lehrzeit in traditioneller Architektur. Für seine zum Teil kompromittierte Vergangenheit wollte er sich nicht entschuldigen, geschweige denn zugeben, er könnte vom Weg der wahren Modernität abgekommen sein. Er verwies darauf, dass die Einzigartigkeit seiner Erfahrungen aus der Kriegszeit ihm stattdessen geholfen habe, eine neue moderne Architektur für Japan zu entwickeln, und die Nachkriegszeit japanischen Architekten für deren Weiterentwicklung wertvolle Gelegenheiten biete.25 Zu seinem Bezug auf japanische Architektur bemerkte Tange, es gebe ihm größere Freiheit, wenn er die japanische Architektur von einer modernen Warte aus begreife, als geistiges „Bild“, losgelöst von ihren ikonischen Darstellungen. Diese Art des Diskurses zur Tradition wurde zum Standard für zeitgenössische japanische Architekten und ist es bis heute geblieben. Indem sie die Modernität in ihrer Reinform mit nationalen Traditionen vermengten oder ihre Diskurse zur Tradition anderen Absichten angepasst haben, ist es zeitgenössischen japanischen Architekten paradoxerweise gelungen, den universellen Charakter der Moderne zu überwinden. Im Rückblick zeigt sich, dass das, was an japanischer Architektur geschätzt wird  – Respekt vor der Natur und regionalen Traditionen sowie vor moderner Rationalität und Technik –, was auch Architekten der westlichen Moderne wie Bruno Taut und Walter Gropius vor und nach dem Krieg priesen, durchaus mit dem korrespondiert, was in diskursiven Strategien der japanischen Architekten während des Krieges ausgebildet wurde. Diese ambivalenten Anfänge der zeitgenössischen Architektur  – die unter anderem aus dem Diskurs über nationale Monumentalität entstanden sind  – zeigen uns, dass die Konstruktion der Moderne immer ein Kompromiss mit der Vergangenheit ist.26 In gewisser Weise haben zeitgenössische japanische Architekten – bewusst oder unbewusst – dieses Erbe der jüngsten Geschichte ange­ treten, und auch wenn Teile der materiellen Kultur mit der Transformation der ­japanischen Städte allmählich verschwinden, bleiben immer noch Räume und Raumkonzepte erhalten, die ihre Art zu denken und zu bauen beeinflussen.

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Chuta Ito, Kenchiku tetsugaku (Architekturphilosophie), Dissertation, Tokio 1892. 2 Vgl. Owen Jones, Grammar of Ornaments, London 1856, zitiert nach: Terunobu Fujimori, Toshi, kenchiku (Stadt, Architektur). Nihon kindai shiso– taikei (Anthologie modernen japanischen Denkens), Bd. 19, Tokio 1990, S. 343. – 3 Chuta Ito, „‚Akitekuchuru‘ no hongi o ronjite sono yakuji o senteishi waga Zo– ka gakkai no aimei o nozomu“ („Wenn ich das grundlegende Prinzip und die Bedeutung des Ausdrucks ‚Architektur‘ diskutiere, wünsche ich den Namen der Zoka gakkai abzuändern“), in: Kenchiku zasshi, März 1894, S. 80–87. Französische Übersetzung in: Yann Nussaume (Hrsg.), Anthologie critique de la théorie architecturale japonaise. Le regard du milieu, Brüssel 2004, S. 94–98. 4 Chuta Ito, „Kenchikujutsu to bijutsu to no kankei“ (Die Beziehung zwischen Architektur und den Bildenden Künsten), in: Kenchiku zasshi, März 1893, S. 80–87. 5 Ebd., S. 87. - ryu- ji kenchikuron“ (Eine architektonische 6 Chuta Ito, „Ho Studie des Ho- ryu- -ji), in: Kenchiku zasshi, November 1893, S. 317–350. 7 Ebd., S. 327. 8 Siehe Ernest Fenollosa, Epochs of Chinese and Japanese Art. An Outline of East Asiatic Design, Bd. 1, Berkeley und Tokio 2007 (London 1912), S. 127; Claude-Eugène Maitre, L’art du Yamato, Paris 1901, S. 24 f.; Alfred Foucher, L’art gréco-bouddhique du Gandhâra. Étude sur les origines de l’influence classique dans l’art bouddhique de l’Inde et de l’Extrême-Orient, Bd. 2, Paris 1922, S. 668. - Waguna-: kenchikuka t­oshite no 9 Hideto Kishida, Otto sho- gai oyobi shiso- (Otto Wagner: Leben und Denken eines Architekten), Tokio 1927. - sei 10 „Jijo“ (Einleitung), in: Hideto Kishida, Kako no ko (Kompositionen der Vergangenheit), Tokio 1929. 11 Alois Riegl, Der moderne Denkmalkultus, sein Wesen und seine Entstehung, Wien und Leipzig 1903, S. 40. 12 Katsura-dana (Katsura-Regal), in: Hideto Kishida, Kako no ko- sei (Kompositionen der Vergangenheit), a. a. O., Kapitel 63, Tafel 53. 13 Näheres in Benoît Jacquet, „La villa Katsura et ses jardins: l’invention d’une modernité japonaise dans les années 1930“, in: Nicolas Fiévé und Benoît Jacquet, Vers une modernité architecturale et paysagère. Modèles et savoirs partagés entre le Japon et le monde occidental, Paris 2013, S. 115. 14 Le Corbusier merkt im Architectural Record vom Juli 1934 an, dass das von Antonin Raymond in Karuizawa gebaute Haus auf seinem nicht realisierten Entwurf für die Villa Errázuriz im chilenischen Zapallar von 1930 beruhe. Vgl. Le Corbusier, „Faut pas se gêner …“, in: Willy Boesiger (Hrsg.), Le Corbusier et Pierre Jeanneret. Œuvre complète de 1929–1934, Zürich 1964, S. 52. - a kyo- eiken kensetsu kinen eizo15 Hideto Kishida, „Daito

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Hideto Kishida, Nachisu doitsu no kenchiku (Die Architektur des Nationalsozialismus in Deutschland), Tokio 1943. - a kyo- eiken ni okeru kenchiku yo18 Hideto Kishida, „Daito shiki (zaidankai)“ (Der Architekturstil der Daito- a [eine Debatte]), in: Kenchiku zasshi, September 1942, S. 718–734, hier: S. 723. 19 Diese Losung entstammt einer Interpretation des Kojiki („Aufzeichnung alter Geschehnisse“) aus dem Jahr 712. 20 Siehe Ian Buruma und Avishai Margalit, Occidentalism: The West in the Eyes of Its Enemies, New York 2004, S. 61. - rei shiniki keikaku shushi“ (Intenti21 Kenzo Tange, „Chu onen für die Planung eines heiligen Territoriums zum Gedenken an Gefallene), in: Kenchiku zasshi, Dezember 1942, S. 963. 22 Zu diesem kulturellen Prozess der Erfindung von Tradition vgl. Eric Hobsbawm und Terence Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983; Gérard Lenclud, „Qu’est-ce que la tradition?“, in: Marcel Detienne (Hrsg.), Transcrire les mythologies. Tradition, écriture, historicité, Paris 1999, S. 25–44. - zo- : Tange Kenzo- no 23 Vgl. Hiroyuki Suzuki, „Seichi so Hiroshima “ (Die Schaffung eines heiligen Landes: Tange Kenzos Hiroshima), in: Hiroyuki Suzuki, Nihon no „chirei“ (Japans „Genius loci“), Tokio 1999, S. 28–48. - dosei, kokuminsei. Gendai ken24 Siehe „Kokusaisei, fu chiku no zo- kei o megutte“ (Internationalität, Klima, Nationalität: Zur Herausbildung zeitgenössischer Architektur), „Nationalism vs. Internationalism: Symposium by Kunio Maekawa, Junzo Sakakura, Kenzo Tange & Isoya Yoshida“, veranstaltet von Ikuta Tsutomu, Hamaguchi Ryuichi und Tanabe Kazuto, in: Kokusai kenchiku 20, März 1953, S. 2–15. 25 Ebd., S. 4 f. 26 Benoît Jacquet stellte Auszüge von Forschungen zu diesem Thema auf dem Symposium „Front to Rear: Architecture and Planning during WWII“ vor, das am 7. und 8. März 2009 am Institute of Fine Arts der New York University unter dem Titel „Compromising Modernity: Japanese Monumentality during WWII“ stattfand.

keikaku no jitsugen o nozomu“ (Meine Wünsche zur Verwirklichung des Monuments zur Errichtung einer Großostasiatischen Wohlstandssphäre), in: Kenchiku zasshi, August 1942, S. 582 f. - roku kenchikukai tenrankai: kyo16 Kunio Maekawa, „Daiju gi sekkei shinsahyo- “ (Die 16. Ausstellung des Instituts für Architektur: Bewertungsbericht des architektonischen Entwurfswettbewerbs), in: Kenchiku zasshi, Dezember 1942, S. 960.

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Traumata der Modernisierung: Die Architektur in Japan nach 1945 Jörg H. Gleiter

Die architektonische Welt in Japan befindet sich im Umbruch. Seit einiger Zeit schon drängt mit großer Eigenständigkeit eine neue Generation auf die Bühne, was viele der alternden Industrienation nicht mehr zugetraut hatten, vor allem nach der langen Phase der Orientierungslosigkeit, die der Verausgabung durch die Postmoderne gefolgt war. Es handelt sich aber keineswegs um nur eine weitere Generation von Architekten. Im Gegenteil – die jungen Architekten unterscheiden sich dadurch, dass mit ihnen die japanische Architektur in ein neues Verhältnis zur Geschichte tritt. In ihren Werken scheint die Architektur von dem befreit, was die japanische Moderne und die japanische Architektur der Nachkriegszeit im Besonderen prägte: die Traumata der Modernisierung. Wie die Gesellschaft entwickelte sich auch die moderne Architektur unter dem Einfluss der spezifischen Modernisierungstraumata Japans. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich vieles in der an faszinierenden wie auch bizarren Entwicklungen reichen Architektur Japans verstehen. Der Philosoph Ken’ichi Mishima spricht von den „Schmerzen der Modernisierung“1 – es ist aber weit mehr. Zwei Ereignisse waren es, die zu Auslösern für die Traumata wurden. Das erste war die 1853 erzwungene Öffnung des über 200 Jahre isolierten Landes. Um der drohenden Kolonialisierung durch den Westen zu entgehen, sah sich Japan zur Öffnung und damit einhergehend zu einem aufholenden Modernisierungsprozess gezwungen. Das durch die Konfrontation mit dem Westen verursachte Trauma führte nach Mishima zu einer Seelenlage „zwischen nagendem Selbstzweifel und jubelnder Selbstbejahung, zwischen Selbsterniedrigung und Überheblichkeit, zwischen Angleichungsversuch und Abkapselungsstreben, […] zwischen Faszination vom Westen und Aversion gegen ihn“2. Das zweite Ereignis ist mit dem Jahr 1945 verbunden, mit dem ersten verlorenen Krieg in der Geschichte Japans, den zwei Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki, der Kapitulation und der Besetzung des Landes durch die USA. Der Architekt Arata Isozaki beschreibt die Situation wie folgt: „Als Japan 1945 kapi­ tulierte […] konnte ich spüren, wie die Geschichte unterbrochen wurde.“3 Ursache für das kollektive Trauma war aber mindestens so sehr die Tatsache, dass am Ende des Kriegs die Städte und damit ein Großteil des historischen Erbes nahezu un­wiederbringlich zerstört waren. Bis auf einige wenige Gebäude waren die Städte, die bis dahin noch wesentlich aus Holzgebäuden bestanden, abgebrannt ohne Ruinen zu hinterlassen. Es kam einer Tabula rasa gleich, bei der wenig übrig geblieben war, an dem der Wiederaufbau hätte anknüpfen können. Was dies für die Architektur bedeutete, hat Isozaki in eindringlichen Worten beschrieben: „Als Junge

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von vierzehn Jahren sah ich mit eigenen Augen die Städte Japans bis auf den Erdboden niederbrennen. Als ich wie ein gejagtes Tier durch die einstürzenden Straßen rannte, entkam ich zwar den Brandbomben, aber nicht der auf die Bomben folgenden, totalen Zerstörung aller mir bekannten Dinge. […] Die Wirkung war traumatisch.“4 Damit ist die psychologische Situation skizziert, in der sich die japanische Architektur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts formierte. Entgegen verbreiteten Vorstellungen muss man jedoch den Beginn der Entwicklung der Nachkriegsarchitektur vor 1945 ansetzen, und zwar bei jener viel beachteten Konferenz „Überwindung der Moderne“5 (kindai no chokoku), die zur Zeit der Militärdiktatur 1942 und damit nach Eintritt Japans in den Krieg mit den USA stattgefunden hatte. Repräsentanten der durch Japan besetzten Länder wie auch japanische Politiker und Intellektuelle hatten daran teilgenommen. Zwei Jahre zuvor war durch Außenminister Matsuoka Yosuke die „Großostasiatische Wohlstandssphäre“ ausgerufen worden. Mit ihr wollte Japan politisch, ökonomisch wie kulturell seinen Hegemonialbereich über Korea und China hinaus nach Südostasien und im Westen bis nach Burma ausweiten. Die Konferenz wurde als Zeitenwende und „welthistorischer Wendepunkt“6 verstanden, bei dem die Formel von der „Überwindung der Moderne“ sich einerseits gegen die europäische Moderne richtete, also gegen den europäischen Einfluss, andererseits aber auch gegen das Modernisierungsparadigma wakon – yosai (japanische Kultur – westliche Technik), wie es seit Mitte des 19. Jahrhunderts zur programmatischen Grundlage der Modernisierungsprozesse gehörte.

Tokio, Sumida-Distrikt, September 1945

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Kenzo Tange, Rathaus in Kurashiki, 1960

Wakon – yosai verfolgte ein Programm, mit dem man den Westen auf Technologie und Wissenschaft reduzieren und damit aus seiner spezifischen kulturellen Bindung an die Aufklärung des 18. Jahrhunderts lösen wollte. Es ging um ein Verfahren, die über Japan hereingebrochene westliche Moderne in ihren kulturellen Werten zu neutralisieren, als Voraussetzung für deren symbolische Rekonnotierung im Kontext der japanischen Kultur. Mit der Konferenz „Überwindung der Moderne“ hatte sich aber das Ziel von wakon – yosai geändert. Insofern die Moderne als genuin europäisch-westlich verstanden wurde, stand „Überwindung der Moderne“ synonym für „Überwindung des Westens“.7 Man wollte der westlich geprägten Moderne ein eigenes asiatisches Modell im Sinne einer alternativen japanischen Moderne entgegensetzen. Aber 1945, nur drei Jahre nachdem man auf dem Höhepunkt der militärischen Macht die Überwindung des Westens zum Programm erhoben hatte, kehrte sich die Situation ins Gegenteil. Anstelle der Überwindung des Westens fand sich Japan durch die Kapitulation in einer engeren Allianz mit dem Westen als je zuvor. Entgegen dem ursprünglichen Programm von wakon – yosai, mit dem der Verlust der kulturellen Souveränität durch Kolonialisierung verhindert werden sollte, kam die Besatzung durch das amerikanische Militär einer Kolonialisierung Japans gleich. Die nachholende Modernisierung war in das umgeschlagen, was sie verhindern sollte. Die Modernisierungsformel wakon – yosai, die ursprünglich auf den Erhalt der kulturellen Souveränität ausgerichtet war, war gescheitert.

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Nationale Identität Für die Identitätsbildung in der Nachkriegszeit spielten besonders öffentliche Bauvorhaben wie Rathäuser, Versammlungs- und Konzerthallen eine wichtige Rolle. Kenzo Tanges Rathaus für Kurashiki (1960) ist ein Beispiel für die Architekturentwicklung der 1950er Jahre, das in Ermangelung von Alternativen noch auf die Modernisierungsformel wakon – yosai zurückgriff, diese aber zu einem dialektischen Verfahren erweiterte. Entgegen der ursprünglichen Programmatik von wakon – yosai spannte Kenzo Tange beide Architekturtraditionen, die westliche und die japanische, in ein widersprüchliches Spiel von Zeichenverweisen. Tange inszenierte ein subtiles Spiel der Zeichen. Ähnlich einer Kippfigur steht das Rathaus unentschieden zwischen zwei Traditionen. In Stahlbeton ausgeführt, ist es auf materieller und typologischer Ebene als modern und westlich konnotiert. Auf formaler Ebene zitiert es jedoch ein japanisches Blockhaus, wie zum Beispiel das Shousou-in, das Schatzhaus des Todai-ji-Tempels (8. Jahrhundert) in Nara. Auf formal-ästhetischer Ebene ist es demnach japanisch konnotiert. Das zeigt sich unter anderem in der horizontalen Gliederung der Fassade durch lange balkenartige Elemente, die an ein Blockhaus aus Holz erinnern: Die Balken ragen an den Ecken über die Flucht der Fassade hinaus. Dies ist keine baukonstruktive Notwendigkeit, sondern gründet in einer formal-ästhetischen Entscheidung. Zeichenhaft angedeutet wird dies auch durch die in der Attika paarweise angeordneten Konsolen, die Zangenkonstruktionen ähneln, wie sie aus dem Holzbau bekannt sind. Ohne konstruktive Bedeutung sind auch sie formal-ästhetische Verweise auf eine fiktive

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Sachio Otani, Internationales Kongresszentrum in Kioto, 1966

Holzkonstruktion. Ähnliches gilt für die massiven, pylonenartigen Pfeiler, auf denen das Gebäudevolumen wie bei einem Blockhaus aufgelagert zu sein scheint. Im Inneren des Gebäudes findet dann eine Umkehrung der Prinzipien statt. Hier dominiert der Verweis auf die westliche Moderne in Form eines unverkennbaren Bezugs auf Le Corbusiers 1954 fertig gestellte Kapelle von Ronchamp. Es sind vor allem die abgeflachten, konisch zugeschnittenen Fensternischen, der raue Putz und die gerundeten Wände im Versammlungssaal, die Anleihe an der Architektursprache Le Corbusiers nehmen. Aber auch hier unternahm Tange alles, um das auf formaler Ebene westlich konnotierte Gebäude umzuwerten. Denn in den Fensternischen und anderen Betonelementen zeichnet sich markant die Textur der hölzernen Schalbretter ab. Über die Oberflächenstruktur kippt die Interpretation zurück ins Blockhaus. Die dritte Ebene ist die des Städtebaus. Auch hier folgt das Konzept dem Prinzip dialektischer Verschränkung. Das Rathaus stand zur Zeit seiner Erbauung auf einer großen platzartigen Freifläche, die traumatische Erinnerungen an die Tabula rasa des Bombenkriegs wecken konnte – auch in Kurashiki, einer Kleinstadt, die gerade davon verschont geblieben war. Öffentliche Plätze gehören nicht zur Typologie der japanischen Städte. Große Freiflächen sind allein von den buddhistischen oder shintoistischen Tempelbezirken bekannt, wie zum Beispiel von der Anlage des Horyu-ji oder Todai-ji in Nara. Unter diesen Voraussetzungen ist der große Platz vor dem Rathaus ambivalent konnotiert. Er kann als kriegsbedingte Tabula rasa, als ein europäischer Stadtplatz, aber auch im Sinne einer buddhistischen Tempelanlage verstanden werden. Für die widerspruchsfreie Interpretation als ein Teil einer buddhistischen Tempelanlage fehlt dem Rathaus jedoch das große Dach. Mit dem Flachdach schlägt die japanische Konnotation wiederum in eine westlichmoderne um. Tange spielt im Rathaus von Kurashiki ein ebenso souveränes wie auch intellektuelles Spiel der Übertragung, Aufhebung und Transformation des symbolischen

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Gehalts von Architektur. Es ging ihm aber keineswegs um ein ästhetisches, sondern um ein politisches Anliegen. Insofern unterscheidet sich sein Ansatz von dem seines Schülers Sachio Otani, dem Architekten des Kongresszentrums (1963–66) in Kioto. Indem Otani im Kongresszentrum auf das Älteste und vermeintlich Authentische der japanischen Architekturtradition Bezug nahm, verfolgte er eine Strategie symbolischer Eindeutigkeit und nationaler Identifikation. In formal-ästhetischer Hinsicht nahm er Bezug auf die shintoistische Architektur sowie auf das Grubenhaus, einen Gebäudetypus aus der Yayoi-Zeit (300 v. Chr. – 300 n. Chr). Dieser besitzt innerhalb der japanischen Architektur den Rang einer Urhütte. Obwohl in Stahlbeton errichtet, dominiert aufgrund der ­formalen Durchgestaltung – vor allem mit den Dreiecks- und Giebelmotiven – eine durch und durch japanisch konnotierte Zeichensprache. Es gibt kein dialektisches Spiel der Zeichen. Mit dem Ziel der Schaffung eines japanischen Nationalstils verstand Otani die Moderne als eine Erneuerungsbewegung im Rückbezug auf die vermeintlichen Ursprünge und deren Aktualisierung auf technologischer Grundlage.

Metabolismus Zeitgleich mit der Fertigstellung des Rathauses in Kurashiki wurde 1959 dann mit der Zielvorstellung der Überwindung der Modernisierungsformel wakon – yosai die Gruppe der Metabolisten8 gegründet. Die Metabolisten sind die erste architektonische Avantgardebewegung, die Japan hervorgebracht hat. Die Gruppe bestand aus Architekten, die so jung waren, dass sie nicht mehr am Krieg beteiligt und daher politisch unbelastet waren. Dennoch war dies kein spontaner Zusammenschluss rebellierender, junger Architekten, wie man dies von einer Avantgardebewegung erwarten würde. Hinter den Metabolisten stand niemand anderes als Kenzo Tange, der damit ein Programm zur nationalen Identitätsbildung der durch den Krieg traumatisierten Nation verfolgte. Als Gründungsakt gilt das Manifest Metabolism 1960 – Proposals for a New Urbanism. Bezeichnenderweise entstand dieses in dem Moment, als 1959 unter der massiven Kritik der jüngeren Generation, allen voran Team  X , die CIAM (Congrès Internationaux d‘Architecture Moderne) aufgelöst wurden und die großen städtebaulichen Utopien, wie sie von Le Corbusier und Sigfried Giedion propagiert worden waren, ihre Leitbildfunktion zu verlieren begannen. Der Metabolismus war ein Befreiungsschlag. Er radikalisierte einerseits die Ideen des modernen Städtebaus, andererseits verkehrte er die bisher gültige Modernisierungsstrategie wakon – yosai in ihr Gegenteil. Alles wuchs ins Übergroße und Gigantische. Anstelle der Technik der dialektischen Verschränkung, wie in Tanges Rathaus in Kurashiki, trat jetzt eine Technik der Kompensation der Traumata durch Vergrößerung. Die Stadtvisionen der Metabolisten verließen das Land und gingen in die Luft wie „Helix City“ von Kisho Kurokawa oder „Dwelling City“ von Kenji Ekuan, oder sie gingen auf das Wasser wie „Marine City“ von Kiyonori Kikutake oder Tanges Projekt für die Überbauung der Bucht in Tokio. Die Architektur war monumental, technizistisch, futuristisch, abweisend und doch aufregend. In die Luft und aufs Wasser zu gehen war zutiefst durch das Trauma der Zerstörung der Städte und die teilweise radioaktive Verstrahlung durch die zwei Atombomben motiviert. Isozaki kommentierte dies wie folgt: „Ich werde mich nicht mehr mit Architektur befassen, die niedriger ist als 30 Meter. Ich überlasse alles unter 30 Metern Höhe anderen.

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Kenzo Tange, Tokyo Bay Project, 1960

Modell

Wenn sie glauben, das Chaos in der Stadt entwirren zu können, sollen sie es versuchen.“9 Mit der metabolistischen Architektur sollte ein Japan präsentiert werden, das auf globaler Ebene wieder Impulsgeber und nicht nur Befehlsempfänger der westlichen Besatzungsmacht sein wollte. Exemplarisch stand dafür Kenzo Tanges Projekt für die Überbauung der Tokyo Bay, das er am Neujahrstag 1961 im nationalen Fernsehen vorstellte.10 Tange hatte auf spektakuläre Weise eine neue Stadt auf dem Wasser geplant, die entlang einer kettenförmigen Achse, vom Zentrum Tokios ausgehend und den Kaiserpalast einschließend, die Tokyo Bay überqueren sollte. Von der zentralen Struktur, die Eisenbahn- und Autoverkehr aufnehmen sollte, gingen auf beiden Seiten große Achsen ab, an denen, wie Schiffe an einem Steg, riesige Gebäudekomplexe lagen. Diese beherbergten Stadtteile für mehrere Tausend Bewohner und bestanden aus überdimensionalen, geschwungenen Dachstrukturen, die jedoch keine Dächer, sondern terrassierte Wohnkomplexe waren. Im Tsukiji-Plan, dem Projektteil auf dem Festland, nahm Tange unverkennbar Bezüge zur Architektur der europäischen Avantgarde, dem russischen Konstruktivismus, Le Corbusiers Stadtutopien der 1920er Jahre und den Stadtfantasien der britischen Gruppe Archigram auf. Das Projekt sprengte alle Dimensionen und war dennoch kein nur abstraktes technokratisches Großprojekt. Tange radikalisierte einerseits den Städtebau Le Corbusiers, während er andererseits auf Formen und Bilder zurückgriff, an denen sich die nationale Identität auskristallisieren konnte. So erinnern die großen Dächer der Wohnkomplexe an japanische Tempelanlagen. In den Weiten der Wasserfläche

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Kenzo Tange, Shizuoka Press and Broadcasting Center, Tokio, 1967

Kenzo Tange, Yamanashi Broadcasting Center, Kofu, 1967

der Tokyo Bay konnte man durchaus das im Maßstab vielfach vergrößerte Bild einer Tempelanlage erkennen. Damit war das Projekt über seine technizistische Erscheinung hinaus mit einem symbolischen Gehalt aufgeladen. Gleichzeitig ruft das Projekt Bilder des ländlichen Japans auf. Wiederum in Absehung des Maßstabs entsteht das Bild von Bauernhäusern und damit das eines Dorfes. Denn auch die japanischen Dörfer befinden sich im Frühjahr, wenn die sie umgebenden Reisfelder unter Wasser stehen, in einer den Himmel spiegelnden Wasserlandschaft. Tanges Vorschlag für die Überbauung der Tokyo Bay ist demnach kulturell unmissverständlich japanisch konnotiert. Einen ähnlichen bildhaft-metaphorischen Gehalt haben auch die Stadtvisionen wie Kikutakes „Marine City“ (1963). Für dieses Projekt schlug Kikutake auf künstlichen, runden Inseln zylinderförmige Hochhäuser vor, die genauso hoch waren, wie sie in die Tiefe gingen. Die Inseln suggerieren in ihrer organischen Form das Bild von Seerosen, wie es aus den Seen und Teichen der japanischen Gärten bekannt ist, wobei die schlanken Hochhäuser die Stelle der langstieligen Blüten über Wasser übernehmen, die Inseln die der auf dem Wasser schwimmenden Blätter. Die metabolistische Hightech-Architektur Kikutakes ist naturphilosophisch aufgeladen und steht in der Tradition der japanischen Gärten. Während aber den japanischen Gärten das Prinzip der Verkleinerung bzw. Miniaturisierung von Landschaften und Objekten zugrunde liegt, kehrte Kikutake dies um in Verfahren der Vergrößerung. Zehn Jahre nach der Gründung der Metabolisten markierte die Expo in Osaka (1970) einen Wendepunkt. Mit der Expo sind die poetischen Bilder endgültig reinen Technikmetaphern gewichen. Was als Höhepunkt gedacht war, endete in einem

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Arata Isozaki, Oita Medical Center, Oita, 1960

Arata Isozaki, Clusters in the Air (City in the Air, Shibuya-Projekt), 1962

technoiden Formalismus, wie in Kurokawas „Toshiba IHI Pavillon“ oder Kikutakes „Expo Tower“. Diese Entwicklung zeigte sich aber schon früher im „Shizuoka Press and Broadcasting Center“ (1967) oder auch im „Yamanashi Broadcasting Center“ (1967), beide von Tange. Besonders das „Yamanashi Broadcasting Center“ war als erweiterbares Baukastensystem konzipiert, das aus zylinderförmigen Erschließungstürmen und dazwischen flexibel eingehängten Brückenelementen konzipiert war. Tange knüpfte dafür an das Projekt für die Überbauung der Tokyo Bay an. Vorlage für das Gebäude waren jedoch die Holzkonstruktionen der Tempelanlagen wie die gewaltigen Substruktionen des Kyomizu-dera-Tempels in Kioto. So sind einige der Details im „Yamanashi Broadcasting Center“ bildhaft-metaphorisch den Holzverbindungen nachempfunden, wie zum Beispiel die konsolenartigen Elemente für die Erweiterung. Dennoch, das die früheren Projekte auszeichnende dialektische Spiel zwischen realer und imaginierter Materialität, zwischen Beton und Holz, zwischen japanischem und westlichem Bezug ist erstarrt. Die ursprünglich kulturell konnotierten Metaphern sind kaum mehr als Floskeln eines technoiden Manierismus.

Trauma und Ruine Es ist für das Verständnis der Entwicklung der Architektur Japans nach 1945 wichtig, dass der Bombenkrieg in den Städten eine Tabula rasa hinterlassen hat. Wo die Städte überwiegend aus Holz waren, blieben keine Ruinen, an denen der Wiederaufbau physisch wie auch konzeptuell hätte anknüpfen können. Aufgrund ihrer materiellen und räumlichen Präsenz sind Ruinen Spuren und damit indexikalische Zeichen, die in der Vergangenheit liegende Ereignisse metonymisch, das heißt im Bildertausch, vergegenwärtigen. Ruinen sind ein Teil des Ereignisses, denen sie ihre Existenz verdanken, sie sind „Gegenwartsform der Vergangenheit“11 und erhalten ihre kulturelle Bedeutung dadurch, dass sie Erinnerungsformen sind, an die eine zukunftsorientierte Rekonstruktion der Tradition anknüpfen kann. Bis dahin war im

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buddhistisch wie auch shintoistisch geprägten Japan die Ruine ein unbekanntes kulturelles Konzept. „Das Grundmotiv, das mein Denken als Architekt bestimmte“, so Isozaki, „war also die Ruine.“12 Die Unmöglichkeit der gegenständlichen Erinnerung zeigt sich in Isozakis „Oita Medical Center“ (1959/60). Der gebrochene Glaube an die Beständigkeit der materiellen Welt führte zur bizarren Figur einer über der verstrahlten Erde schwebenden Röhre aus Beton. Das Gebäude scheint einerseits zukünftigen Zerstörungen trotzen zu wollen, während ihm andererseits die Bilder und Metaphern fehlen, die seine Gestalt motivieren und seine Existenz in einen historischen Kontext stellen konnten. Das „Oita Medical Center“ ist die Materialisierung und Formwerdung eines Traumas. An ihm zeigen sich die ganze Hilflosigkeit gegenüber der Vergangenheit sowie die nicht weniger große Ratlosigkeit gegenüber der Zukunft. Etwa zeitgleich arbeitete Isozaki am Projekt „Clusters in the Air“ (1960–62). Dieses entstand in engem Kontakt mit der Gruppe der Metabolisten, zu denen Isozaki jedoch eine distanzierte Beziehung unterhielt. „Die Metabolisten hatten keinen Zweifel an ihrer Utopie. Ich nahm sie als zu optimistisch wahr“,13 so seine Bedenken. „Clusters in the Air“ besteht aus baumartig sich verzweigenden Megastrukturen, an denen wie Blätter kapselförmige austauschbare Wohneinheiten hängen. Im Kontext des Metabolismus war die Naturmetapher durchaus beabsichtigt, das Projekt erschöpfte sich aber nicht darin. Denn es gibt auch eine kulturelle Konnotation, insofern der Entwurf auf die Tragstruktur der Tempelarchitektur Bezug nimmt, wo sich im Übergang von der Stütze zum Gebälk die Konstruktion auch in einer Art

Arata Isozaki, Future City (The City Incubation Process), 1962

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Baumstruktur verzweigt. „Clusters in the Air“ ist daher keine futuristische HightechArchitektur, sondern steht in einer metaphorischen Traditionslinie mit der japanischen Holzarchitektur. Mit diesem Projekt hatte Isozaki die Fähigkeit zum souveränen Umgang mit dem bildhaft-metaphorischen Potenzial der Architektur gewonnen. Das zeigt sich im Projekt „Future City Incubation Process“ (1962), in dem Isozaki die Modernisierungsformel wakon – yosai in eine Technik des kritischen Bildtransfers überführte. Collageartig fügte er sein Projekt „City in the Air“ in ein antikes Ruinenfeld ein. Die mächtigen Zylinder aus Stahlbeton ergänzen die antiken Säulenstümpfe und sind ihrerseits selbst fragmentiert. Damit stellte Isozaki die metabolistische Vision einer zukünftigen Stadt in eine nicht nur formale, sondern auch konzeptuelle Beziehung mit der europäischen Antike. Isozaki zeigt die Ruine als gemeinsamen idealen Ursprung der Architektur, wobei diese als Grundprinzip der Architektur sowohl Anfang als auch Endpunkt der Architektur ist. Ganz im Sinne von Walter Benjamin ist die Ruine Anknüpfungspunkt für die Konstruktion der Zukunft wie umgekehrt Ausgangspunkt für die Rekonstruktion der Vergangenheit. Jede Architekturpraxis entspringt aus Ruinen und kehrt zu ihnen zurück, Isozakis Architektur steht fortan unter dem kritischen Vorbehalt einer „Zukunft in Ruinen“.14 Dieses führte Isozaki direkt zur Überzeugung, dass es besonders die Zeichen, die Bilder und die architektonischen Metaphern sind, die die Zeit überdauern, und weniger die reale, materielle, gebaute Architektur. In ihrer Flüchtigkeit sind die Metaphern Garant für Kontinuität und Identität einer Gesellschaft, denn sie allein überleben, an sie wird man anknüpfen können, wenn die materielle Welt längst untergegangen sein wird. Im Werk Isozakis beobachten wir dann über die Jahre hinweg eine Hinwendung zu einem Verfahren der freien Kombination von architektonischen Metaphern, das heißt einem Verfahren der Collage vergangener, gegenwärtiger wie auch zukünftiger Realitätsfragmente. Er verfolgte damit ein Konzept einer dynamisch stabilisierten Moderne, das seiner Architektur ihr humanes Gesicht, gleichwohl auch die ihr eigene melancholische Stimmung verlieh.

Nullpunkt und Neubeginn Die Frage ist, ob es dem Metabolismus gelang, die Grundlagen zu schaffen, auf denen sich eine eigene Konzeption der japanischen Architektur entwickeln konnte, so dass es berechtigt wäre, vom Metabolismus als Epochenbegriff zu sprechen. Es macht ja die Begriffe Expressionismus, Funktionalismus oder Neue Sachlichkeit aus, dass sie einerseits in ihrer konzeptuellen Breite groß genug sind, um die unterschiedlichen architektonischen Praktiken in sich aufzunehmen, dass sie andererseits aber auch ein so suggestives Leitbild besitzen, das die Entstehung eines neuen Paradigmas ermöglicht. Das ist jedoch für den Metabolismus zur bezweifeln. Die metabolistischen Projekte zielen in ihrem Technizismus auf kulturelle Hermetik, sie suchen Autonomie, es fehlt ihnen die Kraft zur Synthese. Als aufsteigende, konstruktive Entwicklungslinie erschließt sich der Metabolismus nicht, umso mehr in der Figur einer abnehmenden Entwicklungslinie im Sinne der Überwindung der Traumata der Modernisierung. Der Metabolismus entwickelt sich quasi unter negativem Vorzeichen, insofern er schon 1960, unmittelbar mit seinem Entstehen, voll entfaltet war, um dann in der Verausgabung seiner selbst seine Funktion zu erfüllen,

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nämlich erst der Kompensation, dann der Sublimation und in einem letzten Schritt der Überwindung der Traumata der Modernisierung. In den vergangenen 15 Jahren bildete sich in Japan eine Generation von jungen Architekten heraus, die unberührt von äußeren Einflüssen eigene Wege geht, die am Ende der abnehmenden Entwicklungslinie zu stehen scheint. Ihre leichten, transparenten Gebäude mit ihren labilen, hauchdünnen Profilen scheinen ohne Vorbild und ohne formale Anleihen an Bestehendes entstanden zu sein. Sie nehmen nicht vordergründig Anleihe an der traditionellen japanischen Architektur, weder in formaler noch in materieller Hinsicht, die Architekten lehnen dies teilweise empört ab. Sie scheinen darüber hinaus weder unter dem Zwang zur Aufnahme westlicher Einflüsse zu stehen noch unter dem Zwang zur Distanzierung davon. Sie zeigen sich zudem unabhängig von aktuellen, vom Zeitgeist geprägten Tendenzen des digitalen oder parametrischen Entwerfens. Oft wird das Jahr 1945 als Nullpunkt der japanischen Architektur bezeichnet. Das gilt es mit dem oben Gesagten zu relativieren und den Nullpunkt in unsere Zeit zu verlegen, an den Endpunkt der absteigenden Entwicklungslinie. Erst mit der Überwindung der Traumata der Modernisierung erlangte eine neue Generation von Architekten in den vergangenen Jahren die Souveränität über die Architektur. Der Neubeginn der Architektur und damit der Beginn einer eigenen japanischen Moderne, der den Begriff einer Epoche rechtfertigt, war nicht 1945, er ist heute.

1

Ken’ichi Mishima, „Die Schmerzen der Modernisierung als Auslöser kultureller Selbstbehauptung – Zur geistigen Auseinandersetzung Japans mit dem ‚Westen‘“, in: Irmela Hijiya-Kirschnereit, Überwindung der Moderne? Japan am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1996, S. 86. 2 Ebd., S. 98. 3 „When Japan surrendered in 1945 […] I could feel that history was disrupted.“ Arata Isozaki in einem Interview mit Rem Koolhaas, in: Rem Koolhaas und Hans Ulrich Obrist, Project Japan. Metabolism talks …, Köln 2011, S. 37. 4 Vgl. Arata Isozaki, „Ruinen“, in: ders., Welten und Gegenwelten, Bielefeld 2011, S. 23 f. 5 Irmela Hijiya-Kirschnereit, „Leuchtet Japan? Einführende Gedanken zu einer proklamierten Zeitenwende“, in: dies., a. a. O., S. 7. 6 Ebd. 7 Vgl. dazu Augustin Berque, „Die Zeitlichkeit der japanischen Stadt und die Überwindung der Moderne“, in: Hijiya-Kirschnereit, a. a. O., S. 194. 8 Die Gruppe der Metabolisten bestand aus dem Journalisten und Architekturhistoriker Noboru Kawazoe (*1926) sowie aus den sehr jungen Architekten Kiyonori Kikutake (1928–2011), Kisho Kurokawa (1934–2007), Fumihiko Maki (*1928) und Masato Otaka (1923–2010). 9 „I am no longer going to consider architecture that is below 30 meters in height. I am leaving everything below 30 meters to others. If they think they can unravel the mess in this city, let them try.“ Arata Isozaki in einem Interview, in: Koolhaas/Obrist, a. a. O., S. 40. 10 Anlass für die Formierung der Gruppe war die World Design Conference, die 1960 in Japan statt­finden sollte. 11 Georg Simmel, „Die Ruine“, in: ders., Philosophische Kultur: Über das Abenteuer, die Geschlechter und die

Krise der Moderne. Gesammelte Essays, Berlin 1986, S. 124. 12 Arata Isozaki, „Ruinen“ [1988], in: ders., a. a. O., S. 24. 13 „The Metabolists had no skepticism toward their utopia. I thought they were too optimistic …“. Arata Isozaki in einem Interview mit Rem Koolhaas, in: Koolhaas/Obrist, a. a. O., S. 25. 14 Vgl. Jörg H. Gleiter, „Vorwort“, in: Isozaki, a. a. O., S. 7 ff.

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Das System der Architektur­ produktion in Japan Jörg Rainer Noennig / Yoco Fukuda-Noennig

Architektur ist in Japan ein relativ junger Beruf, der an den Universitäten des Landes erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelehrt wird.1 Seither hat sich die japanische Architektur allerdings mit beachtlichem Erfolg auf internationalem Niveau etabliert und erfährt weltweit Anerkennung – nicht nur von Architekten. Die gegenwärtige Architektur in Japan ist facettenreich, anspruchsvoll und dynamisch. Der Erfolg der japanischen Architektur kommt allerdings nicht von ungefähr, sondern ist das Ergebnis eines gut funktionierenden Systems. In Japan hat sich ein spezielles System des Architektenberufs entwickelt, das die Disziplin im Land fest verankert, aber auch zur Positionierung als eine der weltweit führenden Architekturnationen beigetragen hat. Ein näherer Blick auf die besonderen Qualitäten des architektonischen Systems in Japan ist aufschlussreich. Dieser Text zeigt die Strukturen dieses Systems und legt den Schwerpunkt auf die systemischen Mechanismen, die für eine Reihe von Professionen, zu denen nicht nur Architekten zählen, die Voraussetzungen schaffen, um mithilfe verschiedener fachbezogener und sozioökonomischer Prozesse Synergien zu generieren. Dieses System ist durch ein spezielles Gefüge aus Partnerschaften, Aktivitäten, Marktstrukturen, Kundenbeziehungen, Kanälen und Medien, Aufwendungen und Erträgen gekennzeichnet.

Partnerschaften Welche Akteure und Rollenverteilungen sind im System grundlegend? Das System der Architekturproduktion in Japan kann als symbiotisches Netz von Gestaltern, Herstellern und Promotern beschrieben werden. Jede dieser Sparten hat ihre eigenen Charakteristika und führt äußerst differenzierte Aufgaben aus, die klar aufgeteilt sind. In solchen Partnerschaften haben sich im Laufe der Jahrzehnte spezielle Formen von Zusammenarbeit und Verpflichtung etabliert, die langfristig große Wirkung entfalten konnten. Man kann sich das System der japanischen Architekturwelt ähnlich dem Silicon Valley vorstellen. Es ist mehr als ein Geschäftsumfeld: Es ist eine umfassende Arbeitssphäre mit ganz eigener Kultur und Ethik.2 Das japanische Architektursystem ist in zwei miteinander verwobene Subsysteme unterteilt, die über direkte Querverbindungen miteinander in Verbindung stehen. Das erste Subsystem umfasst in erster Linie die Gestalter und Hersteller, es besteht aus hunderten kleiner Architekturbüros, etwa einem Dutzend großer Entwurfs- und Planungsunternehmen (darunter Nikken Sekkei mit 2.800 Angestellten, Nihon

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Sekkei mit 800 Angestellten und Kume Sekkei mit 500 Angestellten) sowie einigen großen Generalunternehmern, den senekon (die fünf großen japanischen Bauunternehmen sind Shimizu mit 15.000 Angestellten, Kajima mit 15.000 Angestellten, Obayashi mit 13.000 Angestellten, Takenaka mit 8.000 Angestellten und Taisei mit 8.000 Angestellten). Daneben gibt es einige Fertighaushersteller (u.a. Matsushita unter dem Namen PanaHome, Misawa Home, Mitsui, Sekisui und Sumitomo Forestry) sowie Tausende gut ausgebildeter Handwerker. Das zweite Subsystem umfasst die Promoter mit Veröffentlichungen, Werbung, Marketing und Managing. Es besteht aus einigen Verlagen und Mediengruppen (Shinkenchiku, Toto, Kajima und andere), einem Dutzend Architekturschulen an renommierten Universitäten (University of Tokyo, Tokyo Institute of Technology, Keio University, Waseda und andere) sowie mehreren Architekturverbänden. Bemerkenswert am ersten Subsystem der Gestalter und Produzenten ist die Koexistenz großer Unternehmen und relativ kleiner Architekturbüros. Während die großen Firmen üblicherweise Hunderte von Designern und Planern in hochspezialisierten Abteilungen beschäftigen (etwa für architektonische Gestaltung, Baukonstruktion, Bauphysik oder Projektmanagement), haben die meist eigentümergeführten Architekturbüros in der Regel zwischen fünf und 30 Mitarbeiter – und schaffen damit eher persönliche, wiedererkennbare Ansätze und Entwürfe als die tendenziell unpersönlicheren großen Firmen. Im Subsystem der Promoter spielen die Universitäten insofern eine ungewöhnliche Rolle innerhalb des Systems, als sie einerseits als Labore für die akademische Lehre dienen, andererseits aber auch Absolventen direkt an große Unternehmen und kleinere Firmen vermitteln.

Büro von Jun Aoki

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Büro von Go Hasegawa

Aktivitäten Über welche Prozesse sind die Akteure und Institutionen innerhalb des japanischen Architektursystems in verschiedenen Partnerschaften miteinander verbunden? Es gibt zweifelsohne ein komplexes Geflecht aus Abhängigkeiten und Verpflichtungen. Ein Beispiel dafür ist die Aufgabenverteilung zwischen Universitäten und Unternehmen bei der berufsspezifischen Bildung: Die Büros dienen als elementares Übungsterrain, wohingegen die Universitäten den Studierenden den Raum zum Experimentieren geben, in dem die Professoren das spezifische Potenzial der Studenten identifizieren und dann entsprechende Positionen in der Branche vermitteln. Praktika gibt es im japanischen Architekturstudium nicht. Junge Berufsanfänger erlangen ihre für die Berufspraxis erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse durch die Arbeit. Sie lernen, indem sie Projekte in einem Büro begleiten, durch Mitarbeit und Co-Learning. Diese Aufgabenteilung hat Auswirkungen auf die Arbeitskultur. Die meisten Architekturbüros fungieren als Lerngemeinschaften, in denen jedem Mitglied eine spezifische Rolle mit entsprechenden Regeln zugedacht ist. Es gibt eine Hierarchie gemäß Alter, und jeder Beschäftigte hat gewisse Lehr- und Lernverpflichtungen. Gearbeitet wird in der Regel in offenen Großraumbüros, um Partizipation und Gruppenbewusstsein zu maximieren und auf wirksame Weise für Wissenstransfer und Lernen zu sorgen. Vieles wird „beim Arbeiten“ in einem langsamen Prozess erlernt, der stillschweigendes Verstehen und sozialen Zusammenhalt fördert.3 Das Büro ist eine Lebensgemeinschaft: Im Grunde leben die Angestellten im Betrieb – und je kleiner das Büro ist, desto enger ist das Sozialgefüge. Die Beziehungen zwischen

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Büro von Riken Yamamoto

Führungskräften und Mitarbeitern folgen einem bestimmten Muster; von den „Meistern“ wird erwartet, dass sie als Mentoren den beruflichen Werdegang ihrer jungen Kollegen begleiten. Mitunter werden Aufträge an Mitarbeiter weitergegeben, die sich selbstständig machen wollen. In Japan wird ein scheidender Angestellter nicht als künftiger Konkurrent, sondern als ein „Mit-Arbeiter“ im Gesamtsystem betrachtet. Auf einer anderen Ebene gibt es eine Arbeitsteilung zwischen kleinen Architekturstudios und großen Unternehmen. Kleine Studios konzentrieren sich in der Regel auf spezielle planerische Aufgaben, oft auf private Aufträge für Wohnhäuser und in begrenztem Umfang auch auf öffentliche Projekte. Große Firmen übernehmen Entwurf und Planung bei komplexeren und finanziell aufwendigeren Projekten. Daraus ergeben sich bisweilen überraschende Symbiosen: Bei anspruchsvolleren Projekten übergeben kleine Büros ihre Entwürfe ab einer gewissen Detailtiefe häufig an ein senekon weiter. So kommen technische Zuverlässigkeit und solide Projektleitung einerseits und gestalterische Originalität andererseits zusammen.

Marktstrukturen Obwohl ein beträchtlicher Anteil des japanischen Binnenmarktes vom öffentlichen Sektor mit Aufträgen von politischen Instanzen auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene abgedeckt wird, sind öffentliche Aufträge für anspruchsvolle Bauprojekte eine Seltenheit. Offene Gestaltungswettbewerbe sind ebenso selten, und ein großer Teil der üblichen öffentlichen Bauaufträge wird direkt an die großen Büros

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vergeben. Gleichzeitig gibt es aufgrund des verbreiteten Wohlstands einen facettenreichen Markt für Aufträge von Privatkunden oder Unternehmen. Neben Aufträgen für Firmen gibt es einen umfangreichen Markt für den privaten Wohnbau; die Nachfrage der japanischen Kunden nach gut gestalteten Wohnhäusern und kleinen Stadtwohnungen ist hoch. Doch nur ein kleiner Teil dieses Marktes wird von Architekten abgedeckt, da Fertighaushersteller den Markt in Japan beherrschen. Ein industrieller Hersteller wie Sekisui House produziert ca. zehntausend Fertighäuser von beachtlicher Qualität pro Jahr – und stellt die Architekten dadurch vor gewaltige Herausforderungen. Aufträge für Architekten beschränken sich auf die Fälle, in denen die Standardlösungen der Massenproduktion nicht verwendet werden können oder sollen. Daher sind von Architekten entworfene Häuser – bedingt durch die Umstände, unter denen sie entstehen – grundsätzlich etwas Außergewöhnliches: Entweder müssen sie auf die spezifischen Gegebenheiten eines Ortes, etwa eines ungewöhnlichen Grundstücks, reagieren oder auf bestimmte Wünsche der Bauherren eingehen. Die viel gepriesenen Minihäuser in den japanischen Metropolen sind Beispiele für dieses Phänomen. Auf globaler Ebene genießt die japanische Architektur ein sehr hohes Ansehen, wenn es auch nur relativ wenige Exponenten der japanischen Architekturszene sind, die zu diesem Image beitragen. In der Vergangenheit waren dies etwa Kenzo Tange oder Kisho Kurokawa; heute sind es Toyo Ito oder SANAA. Im architektonischen System Japans werden die Exponenten im Regelfall von Zeitschriften oder Universitäten identifiziert, die schon früh und systematisch an deren Renommee arbeiten. Das war sowohl bei Toyo Ito als auch bei Kazuyo Sejima der Fall. Im Ganzen betrachtet, konzentriert sich Japans Architekturmarkt aber auf das Inland.

Kundenbeziehungen Eine wichtige Voraussetzung für den dauerhaften Erfolg des Architektursektors sind die guten Beziehungen zwischen den Gestaltern und ihren Auftraggebern bzw. zwischen den Architekten und ihren Bauherren. Bedenkt man, wie radikal japanische Architektur bisweilen sein kann, erscheint es überraschend, dass genau solche radikale Architektur – mit wenigen Ausnahmen – das Ergebnis einer intensiven Zusammenarbeit ist, und zwar nicht nur zwischen Ingenieuren, Handwerkern und Projektmanagern, sondern auch zwischen diesen und den Bauherren. In ausgiebigen Terminen und Präsentationen sollen so viele Akteure wie nur möglich einbezogen werden. Im Rahmen dieser gemeinsamen Sitzungen und Beratungen ist es die Aufgabe des Architekten, das Projekt so zu entwickeln, dass alle Akteure sich darin wiederfinden. Aus diesem kollektiven Ansatz ergibt sich auch eine Dynamik: Das Radikale an einem Projekt ist nicht notwendigerweise ein Ausdruck der Ambitionen eines einzelnen Architekten, sondern das Produkt der Ideenfindung einer Gruppe.

Kanäle und Medien Über welche Kanäle und Medien wird japanische Architektur kommuniziert und propagiert? Erstaunlich ist zunächst die große Zahl an Architekturzeitschriften, die

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Büro der Takenaka Corporation

es in Japan gibt. a+u (Architecture and Urbanism) hat sich beispielsweise auf die neuesten internationalen Projekte spezialisiert, Shinkenchiku (Neue Architektur) auf ausgewählte Projekte in Japan, während GA (Global Architecture) hochwertige Dokumentationen zu international renommierten Architekten publiziert. Die florierende Verlagslandschaft belegt nicht nur, wie viel qualitativ hochstehende architektonische Arbeit im Lande geleistet wird, sondern auch, wie effizient Architektur propagiert wird. Die Verlagshäuser gewährleisten nicht nur die öffentliche Aufmerksamkeit für große Bauunternehmen, wie etwa die Kajima Corporation, der auch eines der führenden Fachverlagshäuser gehört, sondern auch für ausgewählte Architekten. Die Dominanz von Architekten wie Toyo Ito oder Kazuyo Sejima, die oftmals publiziert werden, steht im Kontrast zu sehr vielen talentierten, aber weitgehend unbekannten Architekten, die eigentlich das Rückgrat des architektonischen Systems bilden. Die bekannten Architekten nehmen eine Sonderrolle als Sprachrohre eines ansonsten eher zurückhaltenden architektonischen Produktionssystems ein. Die Veröffentlichungen und die Propagandamaschinerie der Zeitschriften, Universitäten und Verbände erfüllen einen weiteren wichtigen Zweck: Sie kurbeln den Umsatz im heimischen Architekturmarkt an. Die Medien haben zudem zur veränderten Konzeption von Architektur beigetragen – weg vom rein produktbasierten Konzept, hin zur fortlaufenden Serviceleistung. Diese Entwicklung zu Serviceleistungen und hochwertigen architektonischen Produkten geht mit einem sinkenden Stellenwert des Berufs in der Gesellschaft einher (zumindest aus westlicher Sicht): Architekten als Erschaffer dauerhafter Gebäude sind zu Dienstleistern, zu Lieferanten von Kreativität und Visionen geworden. In

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Büro der Takenaka Corporation

Japan genießen Architekten nicht dasselbe hohe Ansehen wie Anwälte oder Ärzte, weshalb auch eine verblüffende Diskrepanz zwischen dem Ruf der Architekten innerhalb ihres Landes und der internationalen Sicht auf sie besteht: Gilt in Japan der Architekturberuf als zweitrangig, feiert die Welt die Kunst und Originalität preisgekrönter Architekten wie Tadao Ando oder Kazuyo Sejima.

Aufwendungen und Erträge Japans perfektionsgetriebene, handarbeitsintensive und technikorientierte architektonische Praxis ist ressourcenintensiv. Während die durchschnittlichen Baukosten in Japan nicht sehr viel höher sind als in anderen Industrieländern, bindet die Architekturproduktion immense Ressourcen, besonders an Personal. In Bezug auf Organisation und Ressourcenmanagement können weder die kleinen Architekturbüros noch die senekon von sich behaupten, besonders effizient zu arbeiten. Vor allem für Kommunikation und Koordination wird ein erheblicher Aufwand investiert. Das Architektursystem Japans verdankt seinen Erfolg einer Kombination aus Skaleneffekten, die durch die großen Unternehmen ermöglicht werden, und SynergieEffekten aus den symbiotischen Beziehungen im Netzwerk der verschiedenen Institutionen und Akteure. Architekturbüros und Baufirmen haben zusammen mit Universitäten, Medienagenturen und Verbänden ein professionelles System von integrierten Komponenten für Produktion, Marketing und Konsum geschaffen. Dieses System prägt in Japan das Klima und die Bedingungen für eine facettenreiche, anspruchsvolle und lebendige Architektur – und bildet die Grundlage für ihren bemerkenswerten Erfolg auf internationaler Ebene.

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Vgl. Benoît Jacquet im vorliegenden Band und Toshio Watanabe, „Japanese Imperial Archi­tecture“, in: Ellen P. Conant, Challenging Past and Present: The Metamorphosis of Nineteenth-Century Japanese Art, Honolulu 2006. 2 Vgl. James F. Moore, The Death of Competition: Leadership & Strategy in the Age of Business Ecosystems, New York 1996. 3 Vgl. Ikujiro Nonaka und Hirotaka Takeuchi, The knowledge creating company: how Japanese companies create the dynamics of innovation, New York 1995.

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Bezüge zu Traditionen in der zeitgenössischen Architektur Japans Philippe Bonnin

Die Schwierigkeit beim Verständnis des Diskurses zeitgenössischer japanischer Architekten – sowohl in Bezug auf ihre architektonische Sprache als auch ihre mündlichen Äußerungen – liegt darin, dass die Architekten gewissermaßen zweisprachig geworden sind. Obwohl sich Architekten in Japan seit Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend die Sprache und Konzepte der modernen europäischen Architektur angeeignet haben, Studienreisen nach Europa oder Amerika unternommen haben oder auf Pilgerreise zu den Hauptwerken von Le Corbusier, Antoni Gaudí und anderen gegangen sind, haben sie dennoch ihre „Muttersprache“ nicht völlig vergessen. Auch wenn man zunächst an eine globale Homogenisierung denken mag, gibt es in Japan eine von Grund auf andere Interpretation und ein grundsätzlich anderes Verständnis von Raum und Architektur. Dieses basiert auf einer spezifischen Kultur- und Architekturgeschichte sowie auf einer Sicht auf die Welt, die nicht viele Wurzeln im Okzident hat. Einige Beispiele von Verweisen auf das spezifische Vokabular des japanischen Verständnisses von Raum und Architektur sollen im Folgenden anhand der Aussagen von Architekten, die für die Publikation befragt wurden, näher betrachtet werden.

uchi/soto – innen/außen Dass einige der interviewten Architekten ihr großes Interesse an der Beziehung uchi/soto 内 / 外,1 in westlichen Sprachen meist als Verhältnis von innen und außen übersetzt, betonen, wird europäische Architekten nicht überraschen, da die Frage zum Verhältnis von innen und außen seit langem Teil des Architekturdiskurses ist. Sie ist eine der Grundfragen der Architektur überhaupt. Aber obwohl die Dichotomie uchi/soto dem Begriffspaar innen/außen ähnlich zu sein scheint, sind die konkreten Bezüge hinter den benutzten Begriffen, die Bilder und räumlichen Dispositionen unterschiedlich. Interpretationen der Architekten von uchi/soto Die interviewten Architekten interpretieren das Verhältnis von innen und außen auf verschiedene Weise: Hiroshi Nakao ist der Ansicht, dass die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum an Intensität verloren hat; Riken Yamamoto versucht, die Schwelle zwischen innen und außen als öffentlichen Raum zu stärken; Ryuji Nakamura verweist darauf, dass die traditionelle japanische Architektur eine

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starke Beziehung zwischen innen und außen mithilfe spezifischer Räume wie dem engawa 縁側 und dem genkan 玄関 herstellt. Hier ließen sich noch die Tür mon 門, das Fenster mado 窓 oder der Empfangsbereich innerhalb des Privatbereichs wie zashiki 座敷, roji 露地 oder chashitsu 茶室 ergänzen. Der engawa 縁側 wird von Go Hasegawa als eines der Grundelemente seiner Architektur und seines Bezugs zur Tradition bezeichnet. Interpretation von uchi/soto in der Geschichte Japans Die Gegenüberstellung und Beziehung von uchi/soto, die einen zentralen Platz in der japanischen Kultur einnimmt, ist nicht nur für die Architektur von Bedeutung, sondern grundlegend in den fundamentalen sozialen Beziehungen,2 die Sprache sowie das Denken – und dies in eher grundsätzlicher als metaphorischer Weise. In einer Sprache, die kein umfassendes Pronominalsystem verwendet wie die europäischen Sprachen, erfolgt die Bezeichnung von Personen3 und sämtlichen sozialen Beziehungen über die räumliche Verortung und ist abhängig von der gegenwärtigen Situation. Jede soziale Gruppe bildet ein Innen (uchi), abgegrenzt vom Außen (soto), innerhalb dessen das Individuum einen Platz gemäß der Hierarchie einnimmt. Dieser Platz bestimmt die Identität des Individuums und verbindet es vollständig mit dem Ort: tono 殿 (Wohnsitz) ist eine höfliche Form für Herr, otaku お宅 (Heim) für Ihr, uchi (mein Zuhause) für mich selbst, kanai 家内 (das Innere des Hauses) für die eigene Frau und okusan 奥さん (die Person im Hintergrund) für Gattin eines anderen Mannes, usw.

Engawa. Haus Kitamura, Kawasaki, ursprünglicher Standort: Horiyamashita, Hadano, 1687

Uchi/soto – innen/außen. Villa Katsura, Teehaus, Kioto, frühes 17. Jahrhundert

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Innenraum eines Stadthauses (machiya), Kanazawa, Edo-Zeit

Die Dichotomie uchi/soto bestimmt den grundlegenden sozialen Raum und wird durch Rituale gepflegt, die immer noch sehr beliebt sind und regelmäßig ausgeführt werden. Sie rufen die Dichotomie in Erinnerung und bestärken sie, indem sie ihr eine sakrale Bedeutung verleihen: An setsubun 節分, dem Silvesterabend nach altem Kalender, etwa vollzieht man die Reinigung des eigenen Hauses, indem in alle vier Richtungen und vor jede Hausöffnung getrocknete Bohnen (fukumame 福 豆) oder Glücksbohnen (Sojabohnen, shiromame) geworfen werden und dabei Oni wa soto, fuku wa uchi! (Heraus mit den Teufeln, herein mit dem Glück!) gerufen wird. Und wenn alle Dämonen verjagt sind, dann wird jede Öffnung des Heims mit einem Zauberspruch belegt, damit die Dämonen nicht wieder hereinkommen können. Beziehung von uchi/soto in der Architektur Japans Die tatsächliche Abgrenzung zwischen uchi und soto ist viel fließender und flexibler als die Dichotomie suggeriert, und das japanische Raumverständnis ist reich an einer Vielzahl von Übergangsräumen wie dem genkan oder dem engawa, die für soziale Anlässe wichtig sind. Als Zwischenraum spielt der engawa nicht nur eine Rolle als Bindeglied zwischen innen und außen, sondern dient auch als Durchgang, der in die einzelnen Räume führt und somit die Möglichkeit bietet, sich frei im Haus zu bewegen. Er wird aus einem langen Holzboden gebildet, der durch einen Dachvorsprung geschützt wird und von dem aus man in die verschiedenen inneren Räume des japanischen Hauses gelangen kann. Auf diese Weise befinden sich die am tiefsten im Hause gelegenen Räume, die gleichzeitig auch die privatesten sind, ständig im Halbdunkel4 (in’ei 陰翳). Aber dank dem vergoldeten Dekor der Trennwände und Paravents nimmt man Lichtreflexe wahr, in welchen das Gold seine ergreifende Schönheit zeigt, von der man sagt, dass auch Junichiro Tanizaki (1886– 1965) sie häufig bewundert hat. Ihre Gestaltung entspricht einer Ästhetik, die eine japanische Besonderheit darstellt, nämlich die Poesie der diskreten Eleganz, wabi 侘び, und der Patina, sabi 侘び / 寂び. Beide Konzepte entstammen der Ästhetik, die von den großen Meistern der Teezeremonie im 16. Jahrhundert5 begründet wurde. Der engawa bildet eine klare Grenze zwischen dem Bereich, in dem man Schuhe trägt – dem Außen –, und dem Bereich, in dem man die Schuhe auszieht – dem

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Oku, Wakasa-Schrein, Tottori

Innen –, und grenzt sie im gleichen Maße ab, wie er sie verbindet. Die Vielzahl der Möglichkeiten, die Schiebewände zu verstellen, erlaubt es zudem, die Verbindungen, die der engawa ermöglicht, zu variieren. Zwischen dem engawa und den angrenzenden Räumen, welche meistens mit Tatami-Matten ausgelegt sind, befinden sich die verschiebbaren mit Papier bespannten shoji, und zum Außenraum hin gibt es die amado 雨戸 (wörtl. „Regentür“, verschiebbare Fensterläden aus Holz), die nur nachts oder bei heftigen Regenfällen verschlossen werden und die tagsüber in einem Wandfach verstaut werden, dem tobukuro 戸袋. Mit Beginn der Meiji-Zeit sind garasudo ガラス戸 (Schiebetüren mit Glasfenstern) aufgekommen, die es gestatten, den engawa tagsüber zu verschließen und dennoch eine gewisse Transparenz zwischen innen und außen zu behalten. Der engawa ist heute ein sinnbildhaftes Element der japanischen Architektur und Tradition geworden. Es handelt sich aber um ein Element und einen Begriff, die relativ jung sind. Der engawa entstand mit der Sukiya-zukuri-Architektur zu Beginn der Edo-Zeit. Das Wort engawa tauchte das erste Mal in der Zeit um 1690 in den Texten des Buchs Nanboroku (Notizen des Mönches Nanbo) auf.

Struktur Die grundlegende Struktur der traditionellen japanischen Architektur aus Holz besteht aus einem Kernstück im Inneren des Gebäudes, das von ein oder zwei Raumstrukturen, sogenannten moya/hisashi-Konstruktionen, umgeben ist 母屋 / 庇.6 Trotz verschiedener historischer oder regionaler Variationen ist sie gleichartig strukturiert und folgt der Koho 構法-Bauweise7 und der Kiwari 木割り,8 Stereotomie, einer Reihe traditioneller Maße und Proportionen, die von den daiku 大工-Zimmerern geschaffen wurden und ein eigenes System darstellen. Diese Umhüllung des Gebäudekerns moya (das verwendete Zeichen 母 entspricht dem der Mutter) durch ein oder zwei Umrahmungen mit hisashi (Bereiche, die den Kern des Gebäudes umgeben), ergeben das Konzept der Tiefe oku 奥 .9 Mit oku hat sich insbesondere Fumihiko Maki auseinandergesetzt. Jun Aoki hat dieses Konzept durch eine Überlagerung von Schichten aufgenommen, die Tiefe

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schaffen. Aber in diesem Fall handelt es sich um übereinandergelegte Filter, die den dahinterliegenden Raum erahnen lassen und ihn gleichzeitig in die Ferne rücken. Junya Ishigami verweist im persönlichen Gespräch auf die paradoxe Trennung des shoji, bei dem man die Geräusche im Nachbarraum durch die mit Papier bespannte, lichtdurchlässige Trennwand hören kann.

Materialität Materialien stehen bis heute im Zentrum der Aufmerksamkeit vieler Architekten in Japan. Sie arbeiten mit dem kulturhistorischen Wert der Werkstoffe, übertragen ihnen einen semiotischen Wert und schaffen mit ihnen Atmosphären. Wichtige Materialien sind zuerst ki 木 Holz10 – das Material war in der traditionellen Architektur weitgehend vorherrschend –, dann ishi 石 Stein,11 mizu 水 Wasser, tsuchi 土 Erde und washi 和紙 japanisches Papier. Die Aufmerksamkeit, die den Materialien gewidmet wird, wird deutlich bei Ryoji Suzukis Betrachtungen zum Altern von Materialien und bei Jun Aoki, der dem Beton einen Wert als „Ornament“ zuweist, so wie auch der weißen Farbe in der modernen Architektur. Hiroshi Nakao geht sogar so weit zu sagen, dass der Raum im Mate­rial enthalten ist; Ryoji Suzuki bezeichnet seine Werke als „Experience in Material“ und interpretiert Material auch als Raum.

Raum, Architektur und Tradition Eine Schwierigkeit gibt es, derer man sich bewusst sein muss: Sie ist größer, als sie auf den ersten Blick erscheint, und besteht darin, die Bedeutung und Interpretation des architektonischen Raums – und die Frage, wie Raum strukturiert ist – von einer Kultur in eine andere zu übersetzen. Das soll nicht heißen, dass dies vollkommen unmöglich wäre, wie es auf der berühmten Ausstellung zum ma 間12 1978 in Pariser Musée des Arts Décoratifs proklamiert wurde. Indem die verschiedenen Interpretationen von Raum als völlig gegensätzlich und einander fremd dargestellt werden, als wäre das eine nicht mit dem anderen vergleichbar, könnte man sich dieser Schwierigkeit entledigen. Tatsächlich wäre eine große Anstrengung erforderlich, um die Bedeutung und Interpretation des architektonischen Raums von einer Kultur in eine andere zu übersetzen, ähnlich der Arbeit von Ethnologen, die uns einen Zugang zu Kulturen vermitteln, zu denen wir noch nahezu keine Beziehung entwickelt haben. Es wäre aber nicht unmöglich. In der Beteuerung der Unmöglichkeit des Verständnisses verbirgt sich eine irrationale Angst, die auch heute bekannt ist. Es handelt sich um die Angst vor der Auflösung der eigenen Kultur und der eigenen Identität, vor dem „Verschwinden“ in einer anderen Kultur, die man als dominierend empfindet.13 Gleichzeitig wird diese fremde Kultur bewundert und abgewiesen, begehrt, ersehnt, beneidet, erwünscht, imitiert und schließlich adaptiert und weiterentwickelt. Das Verdrängen der autochthonen Kultur, wie es in den ersten Jahrzehnten der Meiji-Zeit erfolgte, führte zum darauffolgenden nationalistischen Aufbegehren, wie es Benoît Jacquet beschrieben hat. Die Spannung zwischen diesen beiden Polen hat sich nie gelöst und ist auch in einigen Ausführungen der in diesem Buch veröffentlichten Interviews zu finden.

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Die Mehrheit der Architekten spricht klar von der Kraft der japanischen räumlichen Kultur und von der Notwendigkeit des Erlernens und der Neubeschäftigung mit den Werken der japanischen Vergangenheit – der kunstvollen Architektur der Tempel, Heiligtümer und Paläste tera/miya 寺 / 宮, sowie auch der einfachen Architektur der Landhäuser noka 農家, Stadthäuser machiya 町家 und vernakulären Gebäude minka 民家 –, um sie aus heutigem Blickwinkel zu interpretieren. Jedoch sind die jeweiligen Interpretationen des Raums und der Architektur bei verschiedenen Architekten unterschiedlich. Einige der Architekten sind überzeugt, dass es eine ganz eigene japanische Denkweise hinsichtlich des Raums gibt. Worin besteht diese? Ryoji Suzuki erinnert an die Tatsache, dass die gegenwärtige Bezeichnung des Raums durch den Begriff kukan 空間14 erst spät in Japan auftauchte und seine Bedeutung aus Europa übernommen wurde, um Konzepte für Raum aus Europa zu übersetzen (genauso wie der Begriff für Architektur kenchiku 建築). Aus diesem Grund verwendet Ryoji Suzuki den Begriff nur zurückhaltend, da er für ihn einen statischen, fixen Raum bezeichnet, den er infrage stellt. Er glaubt, dass der Raum ein Ereignis ist, ein Prozess, der sich für ihn eher im japanischen Begriff ma widerspiegelt, der tiefer in der Kultur Japans verankert ist. Für ihn hat der Raum keine Grenze, der Raum hört nicht auf, er setzt sich in der Tiefe fort, durch Abtrennungen hindurch, die mehr flexibel als starr sind, und bevorzugt immer die Zweideutigkeit gegenüber einer zu klaren Bezeichnung von Offenheit und Geschlossenheit, Nähe und Ferne, Erlaubtem und Verbotenem. Junya Ishigami fügt dem einen interessanten Vorschlag hinzu, indem er von einer japanischen Kultur des „mixed space“ spricht, der gleichzeitig Abstraktion und eine physische Sache darstellt. Go Hasegawa schildert, dass er, als er in der Schweiz gelehrt und europäische Städte besucht hat, „dort alles viel definierter und statischer“ empfand. Damit wurde für ihn die japanische Gewohnheit, in einer mehrdeutigeren Atmosphäre zu leben, bewusster, worin für ihn der Unterschied zwischen einer Stadt in Japan und den Städten in Europa liegt. Ryuji Nakamura sah Architektur an der Universität zunächst als etwas Hartes, Solides und Schweres an und begab sich danach auf die Suche nach etwas Weicherem, nach einer Architektur, die zartere Materialien verwendet und sich an vernakulärer Architektur orientiert.

Ki – Holz

Ishi – Stein

Washi – Papier

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Noka, Shinakawa-go, Gifu

Tera, Guzei-ji-Tempel, Higashiomi, Shiga

Hiroaki Kimura spricht von seinem Projekt für einen Teepavillon chashitsu 茶室. Er berichtet, dass er nur wenig über die Teezeremonie und ihre Architektur wusste, bevor er mit dem Projekt begann. Aber sehr schnell war er verblüfft von der radikalen Stimmungsänderung im Pavillon während einer Zeremonie: „Wenn man Tee trinkt, sind die Fenster geschlossen und es wird nicht gesprochen. Nach dem Trinken werden die Fenster geöffnet, man kann sprechen, lachen und sich entspannen.“ Er ist allerdings an der Verwendung der bekanntesten Elemente der traditionellen japanischen Architektur, wie etwa dem shoji und der Holzkonstruktion, nur wenig interessiert. Er fokussiert mehr auf die besondere Beziehung zwischen innen und außen (uchi/soto) und insbesondere auf den engawa als Element, das innen und außen in Verbindung setzt. Kimura setzt diese Beziehung und Verbindung vermittels einer formal modernen Sprache um, von der er sagt, dass sie dem Westen entlehnt sei. Diese subtile Mischung aus verschiedenen Einflüssen zeigt, dass die Hybridisierung im Gange ist. Sou Fujimoto beschreibt, dass er sich während seines Studiums nur wenig für Reisen an die Quellen der traditionellen japanischen Architektur wie Kioto und Nara interessierte. Das Interesse sei bei ihm erst nach Ende des Studiums gekommen. Heute versucht er, mit Bezug auf die Geschichte zu arbeiten und Traditionen auf neue Art und Weise zu interpretieren und fortzuführen. Fumihiko Maki scheint die Geschichte der japanischen Architektur auf beispielhafte Weise zu repräsentieren. Indem er sich auf seine Zeit in den USA und auf seine Beteiligung an der Gruppe der Metabolisten bezieht, unterstreicht er die Hybridisierung zwischen modernen westlichen und japanischen Einflüssen. Er schildert etwa mit Bezug auf Bernard Rudofskys Architektur ohne Architekten die Auseinandersetzung mit vernakulärer Architektur in Japan und der Art, wie vernakuläre Architektur traditionelle städtische Räume in Japan bildet, mit denen sich auch Arata Isozaki und Teiji Ito auseinandergesetzt haben. Neben seinem Streben nach Modernität greift Maki auf traditionelle japanische Raumkonzepte zurück, auf oku und ma. Besonders zu oku hat er in einem bekannten Artikel seine Haltung erörtert. In seinem Krematorium in Kaze-no-Oka hat er mit dem Konzept des oku gearbeitet: Es gibt etwa einen langen Wandelgang, um die Besucher den Verlauf der Zeit spüren zu lassen – man soll langsam ankommen und nicht nur eine Tür öffnen und

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Machiya, Kioto

direkt schnell eintreten. Ein solches Gebäude zu betreten, sollte eher eine Art von Prozession sein, deren letzte Etappe man am Anfang noch nicht wahrnehmen kann, einerseits, damit sich jeder Moment und jedes Element des Rituals vollständig in seinem eigenen Tempo entfalten kann, und andererseits, damit die letzte Phase am meisten gewürdigt wird. Mit dieser Strategie referiert er tatsächlich auf eine tiefe und alte Dimension des japanischen Raumkonzepts: In Raumsequenzen wird der folgende Raum nicht klar und offensichtlich vor Augen geführt. Stattdessen wird lediglich ein vager Einblick gewährt, wie er aussehen könnte. Maki vereint also eine hinsichtlich Materialität und sichtbarer Form dezidiert moderne Architektur mit einer Denkweise über den Raum, die tief in der Tradition verankert und nicht auf Anhieb zugänglich ist. Diese zu spüren, zu erkennen und in ihrer Tiefe zu verstehen, müssen wir erst lernen.

uchi/soto 内 / 外 Innen/Außen, in: Philippe Bonnin, Nishida Masatsugu und Inaga Shigemi (Hrsg.), Vocabulaire de la spatialité japonaise, Paris 2014, S. 517 f. Im Folgenden bezieht sich der Text auf Passagen zu japanischen Begriffen in diesem Werk. Erwähnt werden die Autoren in den Fußnoten nur, wenn es sich nicht um die Herausgeber handelt. 2Siehe „le 窓 das Haus“, a. a. O., S. 179–181, Riken Yamamoto besteht z. B. darauf, dasss das Haus der Familie in Japan eine besondere Stellung einnimmt. 3 Philippe Bonnin, „Nommer/Habiter: Langue japonaise et désignation spatiale de la personne“, in: Communications 73, September 2002, S. 245–265. 4 Bernard Jeannel, „In’ei 陰翳 Halbdunkel“, in: Bonnin/ Masatsugu/Shigemi, a. a. O., S. 184–186. 5 Augustin Berque, „Wabi/sabi 侘び / 寂び Sachlichkeit, Patina“, in: Bonnin/Masatsugu/Shigemi, a. a. O., S. 523 f. 6 Masatsugu Nishida und Philippe Bonnin, „Moya hisashi 母屋・身屋・身舎/庇・廂Herz/Säulenhalle“, in: Bonnin/ Masatsugu/Shigemi, a. a. O., S. 353–355. 7 Watanabe Kazumasa und Philippe Bonnin, „Ko- ho- 構 法 Bauweise“, in: Bonnin/Masatsugu/Shigemi, a. a. O., S. 272–274. 1

Masatsugu Nishida und Philippe Bonnin, „Kiwari 陰翳 Stereotomie des Holzes“, a. a. O., S. 257 f. 9 Augustin Berque, „Oku 奥 Hintergrund“, in: Bonnin/ Masatsugu/Shigemi, a. a. O., S. 372–374. 10 Mechtild Mertz, „Ki 木 Holz“, in: Bonnin/Masatsugu/ Shigemi, a. a. O., S. 251–255. Davon spricht besonders Hiroshi Nakao. 11 Bernard Jeannel, „Ishi 石 Stein“, in: Bonnin/Masatsugu/Shigemi, a. a. O., S. 188–190. 12 Augustin Berque, „Ma 間 Abstand“, in: Bonnin/Masatsugu/Shigemi, a. a. O., S. 294–296. 13 Marc Bourdier, „Teikan shiki 帝冠式 Stil der kaiserlichen Frisur“, in: Bonnin/Masatsugu/Shigemi, a. a. O., S. 484–485, bezieht sich auf die Zeit, als der offizielle Stil über eine Architektur „im westlichen Stil“ mit Vorherrschaft eines Daches „im japanischen Stil“ verfügte. 14 Philippe Bonnin, „Ku- kan 空間 Raum“, in: Bonnin/Masatsugu/Shigemi, a. a. O., S. 281–283. 8

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Herausgeber

Autoren

Hubertus Adam studierte Kunstgeschichte, Philosophie und Archäologie. Von 1996 bis 1997 war er Redakteur der Zeitschrift Bauwelt in Berlin, von 1998 bis 2012 Redakteur der Zeitschrift archithese in Zürich. In den Jahren 2010 bis 2015 leitete er das S AM Schweizerisches Architekturmuseum in Basel. Er ist freier Architekturkritiker, Kurator, verfasste zahlreiche Buchpublikationen und -beiträge, Katalogaufsätze und Zeitschriftentexte zur Architektur des 20. Jahrhunderts, hält Vorträge an verschiedenen Instituten und Hochschulen sowie bei Architektursymposien. Er lebt und arbeitet in Zürich.

Philippe Bonnin ist Architekt und Anthropologe. Er studierte Architektur an der École Nationale des Beaux-Arts von 1967 bis 1972 in Toulouse und Paris. Seit 1979 arbeitet er am CNRS (Centre national de la recherche scientifique). Er ist seit 2002 „directeur de recherches“ am CNRS, ­„directeur du laboratoire“ am AUS (Architecture, Urbanisme et Société) und „fondateur du réseau JAPARCHI“ in der Société française des études japonaises. Philippe Bonnin ist Autor zahlreicher Pu­blika­tionen zu Architektur, Stadt und Raum in Japan und Frankreich. Für seine Publikation Vocabulaire de la spatialité japonaise, CNRS Editions, erhielt er den „prix du livre de l’Académie d’Architecture 2014“.

Daniel Hubert studierte Architektur an der Fachhochschule Köln und schloss das Studium 2009 mit dem Diplom ab. Von 2010 bis 2012 war er Redakteur der Zeitschrift der architekt – Zeitschrift des Bundes Deutscher Architekten BDA. Er führte Projektarbeiten am Lehrstuhl Raumgestaltung der RWTH (Rheinisch-­West­fälische Technische Hochschule) Aachen durch. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Institut für Architektur, Konstruktion und Theorie der Fakultät für Architektur der Fachhochschule Köln (heute: Technische Hochschule Köln). Er arbeitet als Architekt und freier Autor und lebt in Köln. Susanne Kohte studierte Architektur mit Vertiefung Stadtplanung an der Technischen Hochschule Karlsruhe (heute Karlsruher Institut für Technologie KIT) und der École Polytechnique Lausanne. Sie arbeitete bei Shigeru Ban, Tokio, bei Balkrishna Doshi, Ahmedabad, sowie in Architekturbüros in Tschechien, Deutschland und der Schweiz. 2001 gründete sie das Büro SUKO. In der Hochschullehre war sie am Institut für Grundlagen der Gestaltung der Universität Karlsruhe und 2002 bis 2006 am Lehrstuhl für Städte­ baulichen Entwurf, Technische Universität Hamburg-Harburg (heute HafenCity Universität), tätig. Von 2008 bis 2015 lehrte sie an der Architekturfakultät der Hochschule Luzern; seit 2013 ist sie Vertretungsprofessorin an der Technischen Hoch­ schule Köln (früher Fachhochschule Köln). In Studien und Publikationen sowie als Ausstellungskuratorin beschäftigt sie sich mit moderner Architektur und städtebaulicher Entwicklung mit Fokus auf Japan und Indien.

Yoco Fukuda-Noenning ist Architektin. Sie studierte Architektur an der Japan Women’s University in Tokio und absolvierte ihren Master an der Waseda University in Tokio. 2014 promovierte sie an der Japan Women’s University mit einer Arbeit über Herrenhäuser in Großbritannien. Sie zog 2005 nach Deutschland und ist seit 2006 Korres­ pondentin für die japanische Zeitschrift a+u (Architecture and Urbanism). Jörg H. Gleiter studierte an der Universität Tübingen, der Technischen Universität Berlin, am Istituto universitario di architettura di Venezia (IUAV) und an der Columbia University in New York. Er arbeitete im Architekturbüro Eisenman Architects in New York sowie in verschiedenen Architekturbüros in Italien und Deutschland. 2002 promovierte er an der Bauhaus-Universität Weimar. Von 2003 bis 2005 war er Visiting Professor of Philosophy of Architecture an der ­Waseda University in Tokio, von 2005 bis 2007 Vertretungsprofessor für Entwerfen und Architekturtheorie an der Bauhaus-Universität Weimar sowie von 2005 bis 2012 Professor für Ästhetik an der Fakultät für Design und Künste der Libera Università di Bolzano. 2007 schloss er seine Habilitation an der Bauhaus-Universität Weimar ab. Seit 2012 ist Jörg H. Gleiter Inhaber des Lehrstuhls für Architektur­theorie am Institut für Architektur der Technischen Universität Berlin, dessen ge­schäfts­führender Direktor er ist. Er ist Herausgeber der Reihe ArchitekturDenken im Transcript Verlag und Mitherausgeber der Internetzeitschrift für Architekturtheorie Wolkenkuckucksheim. Benoît Jacquet ist Architekt und Historiker. Er studierte Architektur an der École nationale supérieure d’architecture de Nancy, an der Universitat Politècnica de Catalunya, der Escola Técnica Superior d‘Arquitectura in Barcelona und an der Ecole nationale supérieure d’architecture de Paris-La Villette. Außerdem studierte er an der

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École des hautes études en sciences sociales in Paris Landschaftsarchitektur und machte einen Abschluss in DEA „Jardins, Paysages et Territoires“. 2006 promovierte er in Ingenieurwissenschaften an der Kyoto University und schloss 2007 seine Promotion in Architektur an der Université de Paris ab. Seit 2008 ist er Associate Professor an der École française d’Extrême-Orient in Kioto und Gastprofessor an der Kyoto University. Er ist Mitherausgeber von From the Things Themselves: Architecture and Phenomenology (2012), Vers une modernité architecturale et paysagère. Modèles et savoirs partagés entre le Japon et le monde occidental (2013) und von Dispositifs et notions de la spatialité japonaise (2014). Außerdem ist Jacquet mit der Planung von Bauten und Renovierungsarbeiten in Kioto betraut. 2014 wurde er zusammen mit dem Architekturbüro Mikan für das Projekt „HighTech Low-Tech: Sustainable research center featuring traditional woodworking methods“ mit dem Holcim Awards 2014 Asia Pacific Prize ausgezeichnet. Hyon-Sob Kim ist Associate Professor in der Abteilung für Architektur der Korea University in Seoul. An der gleichen Universität absolvierte er auch sein Architekturstudium. Eine Promotion über Alvar Aalto und die Architektur der Moderne schloss er 2005 mit einem Stipendiums der koreanischen Regierung an der University of Sheffield in Großbritannien ab. Ein Forschungsstipendium des britischen Arts and Humanities Research Council ermöglichte es ihm im Anschluss, für zwei Jahre ebenfalls in Sheffield an einem Projekt über ostasiatische Einflüsse auf die europäische Architektur der Moderne von 1918 bis 1938 zu arbeiten. Seit 2008 lehrt Hyon-Sob Kim Architekturgeschichte an der Korea University. Seine Forschungsgebiete umfassen die moderne Architektur in Korea sowie zeitgenössische Architekturtheorien. Nach Forschungsaufenthalten in Japan (Build­ing Research Institute, 2001) und Finnland (Alvar Aalto Academy & Universität Helsinki, 2005–06), verbrachte er 2014–15 ein Forschungsjahr in den USA als Gastwissenschaftler am Harvard-Yenching Institute.

Wissensarchitektur an der Technischen Univer­ sität Dresden, seit 2015 ist er Leiter des Labo­ ratory of Knowledge Architecture und Vertretungsprofessor für Indus­trie- und Gewerbebauten an der Technischen Universität Dresden sowie Visiting Professor am Institut supérieur de l’électronique et du numérique (ISEN) Toulon und an der Università degli Studi dell'Aquila. Christian Tagsold studierte Japanologie, Neuere und Neueste Geschichte und Soziologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und an der Mie University in Japan. Im Jahr 2000 promovierte er über das Thema „Die Inszenierung der kulturellen Identität in Japan: Das Beispiel der Olympischen Spiele Tokyo 1964“ an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg im Fach Soziologie. Von 2006 bis 2013 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Modernes Japan der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. 2012 wurde seine Habilitationsschrift „Spaces of Translation: Japanese Gardens in the West“ mit dem JaDe-Preis der Stiftung zur Förderung japanisch-deutscher Wissenschaftsund Kulturbeziehungen ausgezeichnet. Seit 2013 ist er Professor am Institut für Modernes Japan der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Jörg Rainer Noennig studierte Architektur in Weimar, Krakau und Tokio. Von 1998 bis 2001 war er als Mitarbeiter in verschiedenen Architekturbüros und freiberuflich in Tokio tätig sowie von 1999 bis 2001 als Research Associate an der Waseda University in Tokio. Von 2001 bis 2009 arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Dresden und promovierte 2007 an der Bauhaus-Universität Weimar. Von 2009 bis 2015 war er Juniorprofessur für

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Namensregister Aalto, Alvar  102, 216, 218, 220, 221, 222 Adachi, Hiroshi  215, 217 Adorno, Theodor W.  138, 144, 145 Ain, Gregory  211 Alexander, Christopher  14, 24, 25 Allen, Charles  229 Ando, Tadao  13, 16, 52, 60, 94, 111, 150, 256 Aoki, Jun  120–133, 164, 166, 167, 175, 261, 262 Archigram  23, 65, 92, 244 Arendt, Hannah  80, 81, 138, 145 Asada, Takashi  12 Ashbee, Charles Robert  218 Ashihara, Yoshinobu  122 Asplund, Gunnar  64, 219, 222 Atelier 5  24 Atelier Bow-Wow  8, 192 Azuma, Takamitsu  13 Bakema, Jacob  23 Baltzer, Franz  215 Ban, Shigeru  8, 16, 160 Banham, Reyner  9, 14 Barthes, Roland  70, 145 Basham, Anna  216 Benjamin, Walter  139, 144, 248 Berger, Klaus  224 Bergson, Henri  136 Berlage, Hendrik Petrus  218 Bernini, Gian Lorenzo  137 Berque, Augustin  145 Bolles + Wilson  15 Borromini, Francesco  137 Boyd, Robin  11, 12 Bresson, Robert  137 Breuer, Marcel  211 Bunji, Kobayashi  78 Burges, William  227 Chermayeff, Serge  216 Chiang, Ted  110 Chillida, Eduardo  136 Chipperfield, David  14, 122 Coates, Nigel  14 Coates, Wells  216, 219, 221, 222 Conder, Josiah  58, 206, 207, 217, 227 Coop Himmelb(l)au  15 Correa, Charles  24 Cram, Ralph Adams  215 De Carlo, Giancarlo  23 De Portzamparc, Christian  15 Deleuze, Gilles  70 Diller, Elizabeth  15 Dresser, Christopher  228 Drexler, Arthur  211 Einstein, Albert  150 Eisenman, Peter  14 Ekuan, Kenji  243 Elíasson, Ólafur  167 Fenollosa, Ernest  223

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Fergusson, James  228 Flammer, Pascal  201 Foucault, Michel  70 Frank, Josef  222 Freud, Sigmund  144 Fujimori, Terunobu  16, 228 Fujimoto, Sou  7, 8, 16, 60, 148–161, 264 Fuller, Richard Buckminster  54 Furukawa, Yuko  215, 217 Gaudí, Antoni  64, 122, 150, 258 Geers, Kersten  201 Gehry, Frank O.  94 Giedion, Sigfried  243 Graves, Michael  123 Gropius, Walter  9, 22, 217, 220, 236 Hadid, Zaha  14, 15, 46 Hamaguchi, Ryuichi  213 Hara, Hiroshi  78, 89 Harada, Jiro  215 Häring, Hugo  216 Hasegawa, Go  6, 16, 60, 190–203, 259, 263 Hawley, Catherine  15 Hejduk, John  146 Hepburn, James  229 Herzog & de Meuron  167, 192 Hilberseimer, Ludwig  82, 216 Hirata, Akihisa  7 Holl, Steven  15 Homma, Takashi  167 Horiguchi, Sutemi  231 Igarashi, Taro  180 Ikehara, Yoshiro  64, 65 Inoue, Shoichi  209 Ishigami, Junya  7, 46, 60, 176–189, 262, 263 Ishikawa, Junichiro  12 Ishiyama, Osamu  13, 15, 50–61, 94 Isozaki, Arata  11, 12, 14, 16, 25, 36, 60, 109, 110, 119, 122, 123, 124, 133, 144, 158, 238, 243, 247, 248, 264 Ito, Chuta  227, 228, 229, 230, 231 Ito, Teiji  25, 264 Ito, Toyo  7, 15, 16, 34–49, 52, 60, 94, 110, 111, 151, 152, 159, 254, 255 Jacquet, Benoît  262 Jaspers, Karl  13 Jencks, Charles  14 Jones, Owen  228 Kahn, Louis  12, 23, 67, 74, 137, 140, 150, 158 Kaijima, Momoyo  192 Kawazoe, Noboru  249 Kiko, Kiyoyoshi  227, 228, 229 Kikutake, Kiyonori  12, 23, 33, 36, 37, 49, 94, 243, 245, 246, 249 Kimura, Hiroaki  90–105, 264 Kirsch, Karin  218 Kishida, Hideto  208, 213, 215, 231, 232, 234 Kitagawara, Atsushi  74 Kleihues, Josef Paul  122

Koolhaas, Rem  15, 46, 122, 192 Kounellis, Jannis  136, 146 Koyama, Hisao  122, 150, 158 Krauss, Rosalind  141 Krier, Leon  122 Kubin, Alfred  206 Kuma, Kengo  14, 160 Kurokawa, Kisho  23, 33, 36, 38, 131, 136, 159, 243, 246, 249, 254 Lacaton & Vassal  192 Lacaton, Anne  201 Lancaster, Clay  214 Le Corbusier  9, 10, 12, 16, 44, 52, 64, 78, 110, 150, 151, 152, 217, 219, 220, 232, 237, 242, 243, 244, 258 Lewerentz, Sigurd  137 Libeskind, Daniel  15 Liu, Ken  110 Loos, Adolf  137, 139, 144 Lübke, Wilhelm  228 Mack, Mark  15 Mackintosh, Charles Rennie  65, 93, 101, 102 Maekawa, Kunio  10, 11, 13, 16, 94, 213, 217, 232, 234, 236 Maki, Fumihiko  6, 13, 16, 20–33, 64, 65, 75, 79, 108, 122, 136, 150, 249, 261, 264, 265 Märkli, Peter  192, 201 Masuko, Yoshihiro  178 McGrath, Raymond  216 Merleau-Ponty, Maurice  144 Michelangelo 65 Mies van der Rohe, Ludwig  9, 78, 150, 151, 152 Mishima, Ken’ichi  238 Morita, Keiichi  231 Morse, Edward S.  206, 207, 213, 215, 217 Motokura, Makoto  79 Mozuna, Monta  14, 94 Mumford, Lewis  80 Muramatsu, Teijiro  217 Murano, Togo  11, 12, 14, 64, 96 Muthesius, Hermann  6, 7 Nagashima, Koichi  108 Nakamura, Ryuji  162–175, 259, 263 Nakao, Hiroshi  134–147, 258, 262 Neutra, Richard  217 Nishizawa, Ryue  7, 159, 193 Nishizawa, Taira  193, 203 Nitschke, Günter  25, 145 Ohno, Hidetoshi  150 Okakura, Kakuzo  217 Okamoto, Taro  92 Olgiati, Valerio  201 Östberg, Ragnar  64 Otaka, Masato  24, 33, 109, 119, 249 Otani, Sachio  243 Pallasmaa, Juhani  221 Perret, Auguste  219

Perriand, Charlotte  220, 222 Pevsner, Nikolaus  214 Pichler, Walter  146 Plecˇnik, Jozˇe  137 Prigogine, Ilya  152, 157 Prouvé, Jean  12 Raymond, Antonin  10, 11, 16, 232, 237 Riegl, Alois  232 Ross, Michael Franklin  14 Rossi, Aldo  14, 122 Roth, Alfred  9 Rothko, Mark  137 Rudofsky, Bernard  25, 264 Rudolph, Paul  12, 23 Saarinen, Eero  64 Said, Edward  212, 223 Sakakura, Junzo  9, 12, 13, 16, 213, 232, 34, 236 Sakamoto, Kazunari  192, 193, 194 SANAA   7, 8, 16, 254 Saraceno, Tomás  167 Schnebli, Dolf  22 Schwartz, Martha  15 Sejima, Kazuyo  7, 15, 46, 110, 132, 151, 159, 160, 178, 189, 254, 255, 256 Sert, Josep Lluís  22, 23, 33 Shinohara, Kazuo  13, 16, 37, 64, 122, 192, 194 Shirai, Seiichi  13 Siza, Álvaro  201 Smithson, Peter und Alison  12, 23 Speidel, Manfred  215, 216, 217 Starck, Philippe  14, 122 Steiner, Rudolf  64 Stirling, James  24, 123 Sugito, Hiroshi  131 Superstudio 65 Suzuki, Hiroyuki  14 Suzuki, Ryoji  15, 62–75, 262, 263 Tachihara, Michizo  74 Takahashi, Akiko  15 Takamatsu, Shin  13, 14 Takeyama, Minoru  14 Tanaka, Toshiro (Von Jour Caux)  14 Tange, Kenzo  10, 11, 12, 13, 16, 22, 23, 36, 46, 52, 54, 72, 74, 78, 92, 94, 123, 150, 200, 209, 210, 213, 232, 234, 235, 236, 241, 242, 243, 244, 245, 246, 254 Taniguchi, Yoshio  16 Tanizaki, Junichiro  260 Tarkowski, Andrei  137 Tatsuno, Kingo  227 Taut, Bruno  9, 58, 78, 207, 209, 213, 215, 217, 220, 222, 236 Team X  23, 24, 243 Team Zoo  13, 52, 60 Tenshin, Okakura  207, 213, 230 Terragni, Giuseppe  65 Thompson, Fred  218

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Bildnachweis Tschumi, Bernard  94 Tsukamoto, Yoshiharu  192, 193, 201 Tunnard, Christopher  216 Tusquets, Oscar  15 Uchida, Yoshikazu  231 Ungers, Oswald Mathias  122 Utzon, Jørn  218 Van ’t Hoff, Robert  218 Van Eyck, Aldo  23, 24, 25 Van Severen, David  201 Vassal, Jean-Philippe  201 Verón, Eugène  228 Versluis, Arthur  224 Vitruv 231 Vogt, Anthony G.  93 Von Jour Caux (Toshiro Tanaka)  14 Wachsmann, Konrad  12, 52, 54 Wagner, Otto  231 Watanabe, Makoto Sei  74, 106–119 Watanabe, Toyokazu  14 Welles, Orson  137 Weston, Richard  217 Wils, Jan  219 Wright, Frank Lloyd  10, 214, 217, 218, 223 Yamada, Chisaburoh F.  214 Yamada, Mamoru  231 Yamaguchi, Bunzo  217 Yamamoto, Gakuji  78 Yamamoto, Riken  76–89, 115, 258 Yamasaki, Minoru  23 Yamashita, Kazumasa  14 Yoshida, Isoya  236 Yoshida, Tetsuro  209, 215, 216, 217, 219, 221, 222, 225 Yoshimura, Junzo  211, 213 Yoshizaka, Takamasa  10, 13, 16, 52, 60, 64 Zimdahl, Helge  218 Zumthor, Peter  192

270

Sämtliche Pläne und Zeichnungen stammen aus den jeweiligen Architekturbüros. Adam, Hubertus  8–16, 33, 57 rechts, 59 unten, 61, 75, 89, 105, 119, 124–125, 147, 175, 189, 196, 198, 218 rechts, 233, 242, 245 rechts, 264 Alvar Aalto Foundation  220 rechts Ano, Daici  120, 126, 128, 130–132, 151, 156 Anzai, Shigeo  62, 65 Arata Isozaki & Associates  246–247 Baan, Iwan  148, 153, 155, 159, 197, 200–201 Bennetts, Peter  145 Bernoulli, Markus  220 links und Mitte, 221 Bonnin, Philippe  259 links, 261, 263 rechts, 265 Cohn, Matthew und Susie  222–223 Frank Lloyd Wright Trust / VG Bild-Kunst, Bonn 2016  215 links Fujitsuka, Mitsumasa  88 George Braziller Inc.  241 Hara Laboratory, Institute of Industrial Science, University of Tokyo  80–82 Hasegawa, Go  194–195, 202, 252 Henschel Verlag  240 Hiroaki Kimura + Ks Architects  90, 93, 95–96, 98–100, 102–104 Hiroshima Peace Memorial Museum  210 links Hubert, Daniel   49, 133, 161, 203, 251, 260, 263 Mitte Jun Aoki & Associates  123 junya ishigami+associates  176, 182, 184, 188 Kim, Hyon-Sob  218 links Kitajima, Toshiharu  29 unten, 30–31 Louis Vuitton / Daici Ano  129 Maki and Associates  20, 24–25, 27–28, 29 oben, 32 Maki and Associates with Masato Otaka  26 Makoto Sei Watanabe / Architects‘ Office  106, 110, 113–114, 116, 118 Miyagi Prefecture Sightseeing Section  45 Nakamura, Kai  41–43 Nakasa, Takeshi / Nacása & Partners Inc.  47, 134, 137–140, 142–143, 146 Riken Yamamoto & Field Shop  83, 86–87, 253 Rougier, Michael / Getty Images  211 Ryoji Suzuki Architect & Partners  66–67, 69, 71–73 Ryuji Nakamura & Associates  162, 165–173 Sakano, Takaya  190 Sammlung Tagsold  208 Satake, Koichi   84–85 Schroeer-Heiermann, Christopher  187, 245 links, 263 links Schütte, Nicole  259 rechts Sou Fujimoto Architects  160 Studio GAYA  50, 55–56, 57 links, 59 oben Takenaka Corporation  255–256

Danksagung Taki, Koji  39 Tange Associates  210 rechts, 235, 244 Toyo Ito Associates Architects  34, 37, 48 US Army, Center of Tokyo Raids and War damages  239 Wasmuth Verlag  209, 216–217, 219 Die Bildrechte wurden sorgfältig recherchiert. Sollte ein Rechteinhaber versehentlich nicht genannt worden sein, bitten wir um entsprechende Information an den Verlag.

Die Publikation baut auf der Vortragsreihe „Positionen Japanischer Architektur“ auf, die von 2013 bis 2014 von Daniel Hubert und Susanne Kohte an der Fakultät für Architektur der Technischen Hochschule Köln organisiert wurde. Die Interviews wurden zwischen August 2015 und März 2016 geführt. Wir bedanken uns bei allen, die sich für die Verwirklichung dieser Publikation eingesetzt und wertvolle Beiträge geleistet haben. Wir möchten unseren Gesprächspartnern und deren Assistenten und Mitarbeitern, Chiyuki Arita, Naoko Esaki, Kyoko Kawahata, Julia Li, Nikki Minemura, Yasuko Okuyama, Yuma Ota, Kengo Sato, Haruka Shoji, Eiko Tomura, Minako Ueda und Makiko Wakaki gerne danken. Darüber hinaus möchten wir uns herzlich bei Nao Nomura, Chris Schroeer-Heiermann, Tokiko Kiyota, Maren Heuser und Constantin von Richter für ihr Engagement bedanken. Die Realisierung der Publikation wurde durch die Fakultät für Architektur der Technischen Hochschule Köln ermöglicht, dafür möchten wir uns gerne bedanken. Für die Förderung der Publikation bedanken wir uns darüber hinaus bei der Japan Foundation, dem Japanischen Kulturinstitut Köln und der JaDe-Stiftung.

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Herausgeber Susanne Kohte, Köln Hubertus Adam, Zürich Daniel Hubert, Köln Lektorat und Projektkoordination Birkhäuser Henriette Mueller-Stahl, Berlin Übersetzung Hubertus Adam, Zürich; Daniel Hubert, Köln; Susanne Kohte, Köln (Interviews) ARCHITEXT, Jürgen Hübner, Dresden (Essay von Philippe Bonnin) Philip Schäfer, Worms (Essays von Benoît Jacquet, Hyon-Sob Kim, Jörg Rainer Noennig und Yoco Fukuda-Noennig) Layout, Umschlaggestaltung und Satz Silke Nalbach, Mannheim Redaktion Julia Ess, Berlin Produktion Katja Jaeger, Berlin Papier 135 g/m2 LuxoArt Samt 1.1 Druck Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co. KG, Calbe

Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung zur Förderung Japanisch-Deutscher Wissenschafts- und Kulturbeziehungen (JaDe-Stiftung)

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Dieses Buch ist auch als E-Book (ISBN PDF 978-3-0356-0727-7; ISBN EPUB 978-3-0356-0714-7) sowie in englischer Sprache erschienen (ISBN 978-3-0356-0846-5).

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