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German Pages 240 [236] Year 2020
Bilder als Denkformen
Yasuhiro Sakamoto, Felix Jäger, Jun Tanaka (Hrsg.)
Bilder als denkformen
Bildwissenschaftliche Dialoge zwischen Japan und Deutschland
Gedruckt mit Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung
ISBN 978-3-11-058075-4 e ISBN (PDF) 978-3-11-058240-6 L ibrary of Congress Control Number: 2020936975 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Redaktion: Wiebke Bernard, Jasmin Schmidlin, Nico Imhof, Dr. Yasuhiro Sakamoto Assistenz der Redaktion: Tristan Logiewa, Raha Golestani Lektorat: Felix Jäger, Rainer Hörmann Einbandabbildung: Ogawa Kazumasa: Iris Kæmpferi, Fotografie, handkolorierter Lichtdruck, 1896, Los Angeles, The J. Paul Getty Museum Covergestaltung, Layout und Satz: Andreas Eberlein, aromaBerlin Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza www.degruyter.com
Inhalt
9 Editorial 13
Horst Bredekamp im Gespräch mit Felix Jäger und Yasuhiro Sakamoto „Formen heißt Denken, Denken heißt Formen“ Die Zukunft der Bildwissenschaft und die Kulturfrage
I Bildkräfte 31
Jun Tanaka Historische Erfahrung bei Aby Warburg Berührungspunkte zwischen Bildwissenschaft und Geschichtstheorie
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Giovanna Targia „Einverseelung“, „Unbewusstes Gedächtnis“ und Aby Warburgs Mnemosyne
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Yoshikazu Takemine Die Kraft des Blickes Zum Motiv des Ansehens/Angesehen-Werdens als ästhetischer Erfahrung bei Walter Benjamin
II Epistemische Bilder 69
Haru Hamanaka Das durchscheinende Bild Newton und Goethe zeichnen das Spektrum
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Birgit Schneider Die Sichtbarmachung von Klimazonen im Jahr 1817 Eine neue Visualisierung der Klimadaten Alexander von Humboldts
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Kazumichi Hashimoto An Unfaithful Trace A History of “Life-size” Photography
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III Körperbild und Sehkultur in Japan 103
Yoshiharu Ishioka Anime Bodies and the Uncanny
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Ryoichi Ando and Masahiko Inami Trends in Superhuman Sports
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Joerg Fingerhut Empirische Ästhetik und die Bildfrage Perspektive, Komplexität und Leere in der japanischen und europäischen Tradition
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Farbtafeln
IV Naturbilder 127
Shigemi Inaga Weg (Dō) – Rahmenlosigkeit – Verlauf Eine Reflexion auf ‚Japanisches‘ in der Kunst
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Horst Bredekamp Symbiose von Bild und Natur Überlegungen zum Neomanierismus
167
Felix Jäger Maniera und Shizen Zum deutsch-japanischen Dialog über Bilder
7
V Empirische Forschung und ästhetische Wahrnehmung 177
Yasuhiro Sakamoto Was sind Neuronale Geisteswissenschaften? Eine Sondierung
195
Winfried Menninghaus Empirische Ästhetik der Sprache und Literatur Was kann sie besser als die herkömmliche Literaturwissenschaft – und was nicht?
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Maria Kraxenberger und Christine A. Knoop Grundriss der empirischen Literaturwissenschaft Eine Gebrauchsanweisung
Anhang 223
Autorinnen und Autoren
225 Personenregister 235 Bildnachweis
Editorial Der handkolorierte Lichtdruck einer japanischen Sumpfschwertlilie (iris kaempferi), der diesem Sammelband vorangestellt ist, gehört zu den einfühlsamsten Pflanzenpor träts des Fotografiepioniers und Druckunternehmers Ogawa Kazumasa (1860–1929). Nur sieben Jahre nach der Öffnung des Landes geboren, arbeitete Ogawa zunächst als Dolmetscher bei der Polizeiabteilung der Fremdenniederlassung (foreign settlement) in Yokohama, wo er neuere westliche Technologien und deren forensischen Einsatz hautnah beobachten konnte. Hierauf folgte ein zweijähriger Studienaufenthalt in Boston, bei dem er sich die Porträtfotografie und verschiedene Druckverfahren aneignete, um dann nach seiner Rückkehr ein eigenes Fotoatelier und die erste Lichtdruckwerkstatt in Tokio zu eröffnen. Die Überführung der Fotografie aus dem westlichen in den japanischen Horizont stellte dabei eine große persönliche Herausforderung dar. Schriftzeugnisse deuten an, wie sich Ogawa mit Leib und Seele dem Lichtbild verschrieb, um der westlichen materiellen Kultur habhaft zu werden. Die besondere Spannung, die mit der technischen Ermächtigung einherging, musste auch in die ästhetische Perspektivierung des fotografischen Motivs einfließen, das zwar durch eine westliche Linse abgebildet wurde, aber doch dem japanischen Blick antwortete. Die europäische Kunstgeschichte versteht das späte 19. Jahrhundert als Übergangszeit zwischen dem akademischen Realismus, revolutionären Bildgebungsverfahren und der modernen Kunst, mit der hergebrachte ästhetische Konventionen sowie die Sichtbarkeit überhaupt in Frage gestellt wurden. Die Sachlichkeit der Fotografie und die neue Innerlichkeit der bildenden Künste sind dabei in dem nur scheinbar objektiven Schnappschuss der Sumpfschwertlilie zu einer widersprüchlichen Seherfahrung kurzgeschlossen. Die drei Blüten zeigen aufeinanderfolgende Wachstumsphasen und deuten damit eine prozessuale Formwerdung an. Hierin schließt die Fotografie offenbar an botanische Bildstrategien an, die durch Simultandarstellung den Betrachter epistemisch anleiten. Das subtile Lichtspiel auf Blättern und Stängeln, das leicht als impressionistischer Reflex missverstanden werden könnte, scheint dagegen aus der japanischen Schattenästhetik (in’ei) hervorzugehen. Diese zielt eben nicht auf die lichte Präsentation, sondern auf den verborgenen Reiz der fließenden Welt, wie später Tanizaki Jun’ichirō (1886–1965) in seinem Lob des Schattens (1933) festhalten wird. Im Unterschied zu westlichen Diskursen ist die Kunst hier nicht auf die Kontemplation beschränkt und gegen das Leben abgegrenzt. Sie ist vielmehr in die alltäglichen Dinge hineinverlängert. Ogawa lässt insofern das taxonomische und das sinnbildliche Sehen zusammenfallen. Die Schwertlilie ist visuell seziert und doch zum Symbol für Vergänglichkeit erhoben. Ein solches Denken in
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Editorial
der Leere (mu) ist in der japanischen Kultur fest verankert. Es hat deshalb aber trotzdem nicht als essenziell zu gelten. Wie Ogawa zeigt, stehen sich der japanische Blick und die westliche Technologie durchaus nicht unvereinbar gegenüber, sondern finden in einer bildlichen Denkform zueinander, die zur Reflexion einlädt. Ogawa porträtierte die Sumpfschwertlilie in ihrem flüchtigen Sein, ließ aber auch die ihr innewohnenden Wachstumsgesetze aufscheinen. Hierin zeichnet sich eine epistemische Bildpraxis ab, die das 19. Jahrhundert prägte. Die Weltbeschreibung des Alexander von Humboldt (1769–1859) etwa behauptete, Naturforschung und Kulturwissenschaft gleichermaßen zu umgreifen, indem sie äußere Anschauung und innere Erkenntnis visuell zusammenführte. Bilder würden demnach zugleich Momentaufnahmen regelmäßiger Naturprozesse einfangen und die menschliche Vorstellungskraft antreiben. Der Künstler gebe nicht nur einen objektiv vorhandenen Wahrnehmungsgegenstand wieder, sondern auch implizit sein eigenes Sehen und seine gesellschaftliche Umwelt. Die technische Sichtbarmachung folgt dagegen apparativen oder algorithmischen Codes, sitzt aber doch bestimmten wissenschaftlichen Konventionen auf. So bleiben Bilder stets in zeitliche und räumliche Kontexte eingebettet, die hermeneutisch analysiert und empirisch erforscht werden müssen. Sie sind kulturell geprägt und in einen praktischen Handlungszusammenhang eingestellt. Dies gilt umso mehr für grenzüber schreitende Bilderwelten. So wird angeblich unkünstlerischen Darstellungen häufig nachgesagt, über verschiedene Sehkulturen hinweg intuitiv zugänglich zu sein. Sie würden sich im instrumentellen Nutzen erschöpfen. Tatsächlich gehören aber auch sie einer Bildgeschichte und fachspezifischen Kontexten an, die sowohl ihre Entstehungsweise als auch die ihnen e ntsprechenden Wahrnehmungsmodalitäten bedingen. Eine kulturell sensibilisierte Bildwissenschaft ist besonders geeignet, solchen Komplexitäten nachzugehen. Zwischen den Extrempolen des Universalismus und Relativismus verspricht sie, epistemische Potenziale offenzulegen, ohne kulturelle Eigendynamiken zu banalisieren. Die deutschsprachige Bildwissenschaft hat in Japan große Resonanz gefunden. Hieraus sind umfangreiche Studien hervorgegangen, die häufig der europäischen Geschichte gewidmet sind, aber auch die eigene visuelle, sprachliche und technische Kultur aufarbeiten. So lassen sich die Tuschemalerei (suiboku-ga), Druckgrafik (ukiyo-e), buddhistische Zengärten (kare-san-sui teien), populäre Comics (manga) und Zeichen trickfilme (anime) sowie die moderne Robotik bildwissenschaftlich untersuchen. Umgekehrt kann auch die westliche Kunstgeschichte neue Perspektiven hinzugewinnen. Vermeintlich transkulturelle Erscheinungen geben dabei tiefer liegende Kulturprägungen zu erkennen, die europäische Erklärungsmuster in Frage stellen. Eine japanische Landschaft etwa ist dem zugehörigen Kanji 風景 nach der physischen Realität entrückt. Hieraus erklären sich die atmosphärischen Steingärten, die durchaus keine Naturbeherr-
Editorial
schung ausdrücken, sondern bestimmte Seelenzustände anregen sollen. Eine ähnlich verinnerlichte Bildlichkeit zeigt sich auch in Haiku- und Tanka-Dichtungen, die sprachliche Beschreibung und visuellen Eindruck durch Rhythmus zusammenziehen. Die Vorstellungsfreiheit, die sich hierin andeutet, erweitert den herkömmlichen Kunstbegriff und verkompliziert seine bildwissenschaftliche Erforschung. Die vorliegende Publikation ist aus zwei Konferenzen hervorgegangen, die mit Unterstützung der Humboldt-Stiftung und der Universität Tokio in Japan ausgetragen wurden. Das Kolleg über Bilder als Denkmittel und Kulturform (2016) versammelte deutsche und japanische Bildwissenschaftler zu einem interkulturellen Plenum. Das nachfolgende Symposium über Neuronale Geisteswissenschaften (2019) bemühte sich um die Zusammenführung hermeneutischer und empirischer Methoden jenseits nationaler Wissenschaftstraditionen. Hierzu ist ein japanischer Tagungsband unter der Überschrift Image Studies Today (2019) erschienen. Bilder als Denkformen übersetzt und kondensiert die hierin enthaltenen Studien. Unsere Publikation stellt damit das Ergebnis einer mehrjährigen Kooperation zwischen den beiden Ländern dar. Erstmals macht sie bildwissenschaftliche Positionen aus Japan einem europäischen Publikum zugänglich. Hiermit hoffen wir, einen deutsch-japanischen Dialog anzustoßen, der in einer interkulturell erweiterten Bildforschung fortzuführen ist. Wir danken der Alexander von Humboldt-Stiftung, insbesondere Judith Schildt, Hayat Dine und Markus Lamberz, die unser Projekt großzügig begleitet und diese Publi kation finanziell mitgetragen haben. Arielle Thürmel und Katja Richter von De Gruyter betreuten uns umsichtig und zielstrebig bei der Druckvorbereitung. Felix Bernoully und Nancy Schön standen uns bei technischen und grafischen Herausforderungen beratend zur Seite. Ein besonderer Dank gilt Reinhart Meyer-Kalkus, der inhaltliche und praktische Hilfestellung geleistet hat. Zuletzt sind wir unserem sorgfältigen und geduldigen Redaktionsteam in Frankfurt verpflichtet. Hierzu gehören Nico Imhof, Wiebke Bernard, Jasmin Schmidlin, Tristan Logiewa und Raha Golestani. Yasuhiro Sakamoto, Felix Jäger, Jun Tanaka
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Horst Bredekamp im Gespräch mit Felix Jäger und Yasuhiro Sakamoto
„Formen heißt Denken, Denken heißt Formen“ Die Zukunft der Bildwissenschaft und die Kulturfrage1 Für das Humboldt-Kolleg Bilder als Denkmittel und Kulturform in Tokio und einen Vortrag in Kyoto sind Sie 2016 erstmals nach Japan gereist. Welche Erwartungen an die japanische Kultur hatten Sie? Wie haben Sie das Land erlebt? Was hat Sie besonders beeindruckt? Horst Bredekamp: Ich habe bewusst versucht, weder positiven noch negativen Erwartungen nachzugeben, um das Land unmittelbar auf mich wirken zu lassen. Der Eindruck war dann einer der stärksten, die ich überhaupt erlebt habe. Neben der landschaftlichen Schönheit war es die Verbindung von Natur und technischer Zivilisation, wie sie in dieser Form in anderen Kulturen wohl kaum zu erfahren ist. Der Blick auf den abendlichen Fuji und das Panorama des nächtlichen Tokio sind für meinen Begriff weniger gegensätzlich, als es zunächst scheint. Ein zweiter, nicht minder starker Eindruck ist die in Deutschland bis zu einem gewissen Grad verlorene Disziplin und Höflichkeit, die auf Schritt und Tritt begegnet, gepaart mit einer Gegenwelt, wie sie in den Spielhäusern Tokios zu erfahren ist. Genauigkeit und Unergründlichkeit: Beide Pole haben mich gleichermaßen angezogen. J/S: Die japanische Wissenschaftsöffentlichkeit zeigt großes Interesse an Ihrer Forschung. Viele Ihrer Bücher wurden übersetzt. Wie erklären Sie sich die besondere Aufmerksamkeit? HB: Die Frage kann ich selbst natürlich nur schwer beantworten. Ich erkläre mir das Interesse Japans unter anderem aus einer historisch verankerten Sympathie für deutschsprachige Kultur. Insbesondere meine Arbeiten zu Leibniz und seiner Gartenkunst haben große Resonanz gefunden, unter Umständen, weil ihre Themen der japanischen Ästhetik nahestehen.2 Felix Jäger/Yasuhiro Sakamoto:
Bildwissenschaft und Kunstgeschichte J/S: Das
Humboldt-Kolleg hatte insbesondere das Ziel, die Bildwissenschaft einem japa nischen Publikum näherzubringen. Sie gelten als einer ihrer maßgeblichen Stichwortgeber. Hieraus ist etwa das Forschungsprojekt Das Technische Bild am Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik und die zugehörige Zeitschrift Bildwelten
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Horst Bredekamp im Gespräch mit Felix Jäger und Yasuhiro Sakamoto
des Wissens hervorgegangen. Was unterscheidet den bildwissenschaftlichen Zugang von der klassischen Kunstgeschichte? HB: Nach meinem Verständnis sind Kunstgeschichte und Bildwissenschaft synonym, sofern sie sich im Anschluss an Aby Warburg jedweder Form der Gestaltung zuwenden. Umso mehr überraschte, dass sich in den 1990er-Jahren unter diesem Begriff eine neue Disziplin zu etablieren versuchte: eine Bildwissenschaft, die den strikt historischen und formbezogenen Zugang der Kunstgeschichte ablehnte, um eher semiotische und linguistisch geprägte Methoden zu favorisieren. In diesem Moment habe ich von einem „Aufstand der Kunstgeschichte“ gesprochen.3 Wissenschaftler, die wie ich eine umfassende Kunstgeschichte betreiben wollten, werden heute wieder, wie zu Warburgs Zeiten, als Bildwissenschaftler etikettiert. J/S: Allerdings vertreten Sie selbst den Anspruch, ontologische Kategorien zu definieren und extrem große Zeiträume zu überspannen. In jüngeren Arbeiten erweitern Sie Ihre Analysen bis in die Vor- und Frühgeschichte. Bedienen Sie nicht selbst ein antihistorisches Bildverständnis? Wie bringen Sie strukturelle, ontologische oder anthropologische Faktoren mit der Geschichte in Einklang? HB: Ich bin als Historiker unablässig bemüht, die zu analysierende Form und ihre ambientalen Bedingungen in eine Spannung zu bringen. Zwar kann das Werk niemals vollständig durch die Geschichte und niemals die Geschichte durch das Werk allein erschlossen werden, aber in diesem Defizit liegt der Grund, dieses unablässig zu versuchen. Es bleibt ein sich wechselseitig befruchtendes Spannungsverhältnis. Nach einer nun schon längeren Beschäftigung mit der Geschichte der Form halte ich es für legitim, übergeordneten Fragestellungen nachzugehen. In diesem Zusammenhang habe ich den Begriff des Bildaktes stark gemacht.4 Er erlaubt und erfordert systematische Überlegungen, wie sie etwa Faustkeile betreffen, die über einen Zeitraum von 1,8 Millionen Jahren zurückreichen (Abb. 1).5 Ich versuche dabei, das Humanum aus der Dichotomie von Nutzen und Ästhetik zu lösen. In diesem Sinn bin ich auch bereitwillig ontologisch. Warum nicht? Ich halte alles „Entwederoder“-Denken für unproduktiv. J/S: Die Bildwissenschaft hat zahlreiche Studien zu naturwissenschaftlichen Bildern hervorgebracht. Halten Sie diese für den privilegierten Gegenstandsbereich der bildwissenschaftlichen Methode? HB: Die Bildwissenschaft behandelt alle Formen. Gleichwohl halte ich die Bildproduk tivität der Naturwissenschaften für einen Kulturfaktor ersten Ranges, dem in seiner Bedeutung vielleicht nur mehr die Bildsprache der Politik gleichkommt. Es handelt sich um die Behütung eines Feldes, das in den letzten Generationen eine eigene Brisanz entwickelt hat.
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1 Ältester bekannter Faustkeil, Acheuléen- Kultur, Turkana-Becken in Kenia, ca. 1,76 Millionen Jahre alt.
J/S: Ist
Bildwissenschaft auch Bildkritik? HB: Das kritische Potenzial ist essenziell. Die Bildwissenschaft versucht, den Unmittel barkeitsgestus bestimmter visueller Praktiken zu problematisieren und ein Bewusstsein dafür zu erzeugen, dass jedes Bild eine eigene Physis aufweist, die sich zwischen Darstellung und Dargestelltes schiebt. Insofern ist sie aufklärerisch und kritisch, aber nicht bevormundend. Mir liegt nichts am Nachweis eines verkürzten Erkenntnisverfahrens, sondern ich werbe dafür, den Bildern ihre innewohnende Komplexität und ihren kulturellen Status zuzuerkennen. Ich möchte die natur wissenschaftlichen Bildwelten in ihrem Eigenwert bestimmen. J/S: Inzwischen haben sich verschiedene bildwissenschaftliche Schulen etabliert, die Ihrem Zugang teils zustimmend, teils ablehnend begegnen. Wohin wird sich die Bildwissenschaft entwickeln? HB: Ich sehe die jüngere Entwicklung sehr positiv und geradezu zukunftsweisend. Ein Vorbehalt wäre meinerseits nur dann zu formulieren, wenn das Verhältnis zu den Naturwissenschaften zu einem sich selbst bestätigenden Gestus erstarren sollte. Eine weitere Gefahr liegt darin, dass sich die Bildwissenschaft in ihrer vermeint lichen Erfolgsgeschichte additiv immer neue Felder hinzuerobert, ohne hieraus neue
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Horst Bredekamp im Gespräch mit Felix Jäger und Yasuhiro Sakamoto
Spannungsfunken zu schlagen. Meine Hoffnung ist, dass sie sich dauerhaft in die Erkenntnistheorie der Naturwissenschaften eingliedert. Die Neurobiologie, zum Beispiel, profitiert von der Erkenntniskraft der Bilder wie kaum ein anderes Feld, ohne dabei ihre Möglichkeiten und Risiken erschöpfend ausgelotet zu haben. Hier sehe ich großes Potenzial. Ein ebenso großer Wunsch liegt darin, dass die Erforschung der Bilder für die Erkenntnis des Humanums fruchtbar gemacht wird. In einem Bündnis mit der Verkörperungsphilosophie traue ich der Bildwissenschaft zu, die Philosophie aus ihrer bisweilen spürbaren analytischen Sterilisierung herauszu führen.
Bildwahrnehmung und empirische Ästhetik J/S: Sie
haben sich gemeinsam mit Naturwissenschaftlern und Philosophen den physiologischen, kognitiven und psychologischen Bedingungen der Wahrnehmung gewidmet. Wo sehen Sie Chancen und Grenzen einer mit natur- und lebenswissenschaftlichen Mitteln verfahrenden Bildwissenschaft? HB: Ihr Gewinn läge in der Bestätigung oder Zurückweisung von Ergebnissen, welche die historische und analytische Hermeneutik des Bildes erarbeitet hat. Ich berufe mich in der Regel auf Effekte, die durch empathische Einfühlung gewonnen sind. Die ihnen zugrundeliegenden Kategorien wie „Bildmacht“ oder „Bildwirkung“ sind empirisch bisher allerdings nur schwer nachzuweisen. Die naturwissenschaftliche Überprüfung dieser Phänomene scheitert im Besonderen an methodischen Problemen. Das Eye-Tracking etwa operiert mit dem stillgestellten Auge, obwohl die Seherfahrung von Körperbewegungen konditioniert ist. Schon die mikrosakkadischen Zuckungen der Pupille gehören zur Motorik des Leibes. Vor Gemälden, Skulpturen und Architektur ist der Körper nicht arretiert, sondern bewegt sich unablässig. Wenn daher die Stillstellung vorausgesetzt wird, drohen hypertrophe Erklärungsmodelle zu entstehen, die bereits von ihrem Ausgangspunkt her problematisch sind. Inzwischen gibt es jedoch vielversprechende Versuche, dieses Problem durch komplexere Versuchs anordnungen zu lösen. Eine weitere Hoffnung besteht darin, dass die empirische Forschung neue Fragestellungen erschließt. Trotzdem bleibt die Gewissheit, dass auch die größte Datenmenge nicht selbsterklärend ist, sondern hermeneutisch gedeutet werden muss. Eine Selbsterklärung von Big Data wird es nicht geben. J/S: Eine Variante des Eye-Tracking ist von Raphael Rosenberg und Helmut Leder am Labor für empirische Bildwissenschaft in Wien erprobt worden (Abb. 2).6 Der Apparat wird dabei an das Wahrnehmungsobjekt geheftet, sodass sich der Pro-
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2 Bewegungsfreie Eye-Tracking-Versuchsanordnung im Kunsthistorischen Museum Wien, 2016.
band frei vor ihm bewegen kann. Das epistemologische Grundproblem, was die Bewegung des Auges überhaupt über Perzeption und Erkenntnis aussagen kann, bleibt jedoch bestehen. HB: Das Eye-Tracking beruhte zunächst auf der Annahme, dass die Hauptbedeutung der Wahrnehmung im Zentrum des Sehstrahls – der Pupille – liegen müsse. Hierin zeigt sich die zentralperspektivische Schulung des abendländischen Denkens. Allerdings wird diese These schon bei Leibniz, später auch bei Giovanni Morelli, umgekehrt: Die Aufmerksamkeit richte sich im Gegenteil eher darauf, was dem Fokus des Sehens entgeht. Evolutionspsychologisch verstanden, leiste das Gehirn gerade in denjenigen Wahrnehmungsregionen die größte Anstrengung, wo die Bewusstheit des Sehens nicht gegeben sei, da aus diesen Sphären Gefahr für den Menschen drohe. Morelli folgerte daraus, dass der Künstler sich dort am authentischsten ausdrücke, wo seine bewusste Aufmerksamkeit gerade nicht ruhe, also in nebensächlichen Details.7 Dies scheint mir noch immer ein tragfähiges Modell für eine erweiterte Fassung der visuellen Erkenntnis zu sein. Der Mensch ist vermutlich eine Art Ganzfeldrezeptor, der mit einem coup d’œil Wahrnehmungsflashs erlebt. Wolfram Hogrebe bezeichnet dies als „szenische Erkenntnis“. Bevor das Bewusstsein begreift,
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was es erkennt, hat es bereits eine Vorstellung von dem zu Erkennenden entwickelt.8 Diese Fähigkeit ist in der Reduktion auf den zentralen Sehstrahl nicht vollständig erschließbar. J/S: Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich in der Deutung bildgebender Verfahren der Medizin ab, wie etwa bei MRT, MEG, EEG und TMS. Nicht nur das Wo, sondern auch das Wann und Wie der Erkenntnis sollen berücksichtigt werden. HB: Ich sehe mit einiger Zuversicht, dass sich hierin ein Paradigmenwechsel von Descartes zu Leibniz vollzieht, der es erlaubt, einen gesamtkörperlichen Begriff des Sehens zu erproben. Meine Hoffnung ist, dass sich die Bildwissenschaft in die Verkörperungsphilosophie hineinschreibt, die ihrerseits eine problembewusste empirische Forschung mitbestimmt. J/S: Ihre Kritik an der empirischen Bildforschung scheint auf eine grundlegende Skepsis gegenüber der Quantifizierbarkeit von Wahrnehmung hinauszulaufen. In Ihrer Theorie zum Bildakt leisten Sie dieser Skepsis insofern Vorschub, als Sie bestimmte Wahrnehmungseigenschaften in den wahrgenommenen Gegenstand verlagern. Sie beziehen sich auf Leibniz und seine Konzeption der petites perceptions sowie des coup d’œil.9 Inwiefern erlauben diese Modelle eine Revision erkenntnistheoretischer Prämissen? HB: Ich interessiere mich insbesondere für die vorbewusste Perzeption. Die Annahme einer begrifflichen Kodierung des Wahrnehmungsapparats ist meines Erachtens in Frage zu stellen. Das heißt selbstverständlich nicht, dass linguistische Strukturprinzipien entfallen, sondern dass Welterfassung als ein Wechselspiel von körperlichen und sprachlichen Denkprozessen verstanden wird. Leider läuft die Problematisierung des freien Willens, die ich oft mit Martin Roth und Wolf Singer versucht habe, fast unvermeidlich auf eine ethische oder gesellschaftliche Fragestellung zu, in der die Abwesenheit von Bewusstsein mit dem Bösen assoziiert wird. Die Abschwächung des freien Willens spiele demnach einer Entlastung von Tätern zu. Mein Einwand gegen diese Argumentation ist, dass die grandiose Fähigkeit des Menschen, Begriffe neu zu erzeugen, sich nicht im Problem der Schuldfähigkeit aufhebt. In ihr liegt etwas ungeheuer Schöpferisches, das nicht auf eine mechanische Informationsverarbeitung zurückgeführt werden kann, da bereits die szenische Erkenntnis zutiefst gedankenträchtig ist. Sie erlaubt ein spielerisches Verständnis von Erkenntnis, das sich vom Prinzip Actio-Reactio entfernt, weil es nicht vorhersehbar ist, sondern die Möglichkeit zum Übersprung und zur Intuition bietet. Zu diesem Kosmos der Erkenntnis führt die von Leibniz vorgedachte Wahrnehmungstheorie. J/S: Foucault würde das epistemologische Modell der Täterschaft auf einen dem Menschen anverwandelten juridischen Begriff der Macht zurückführen.10 Das Unbe-
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wusste verstehen Sie demnach als einen Raum, der nicht vom Automatismus der Bedürfnisbefriedigung bestimmt ist, sondern der Umwelt gegenüber assoziativ geöffnet ist? HB: Es scheint sich um eine Zwischenzone zu handeln, in der mechanische Abläufe in spielerische Freiheit überspringen können. Dies ist gleichermaßen die Sphäre der Kunst und der schöpferischen Naturwissenschaft. August Kekulé ist die Idee einer ringförmigen Verkettung von Atomen im Benzol-Molekül in einem Wachtraum gekommen. Er habe die Kohlenstoff- und Wasserstoffatome tanzen gesehen, woraufhin ihm das alchemistische Symbol des Ouroboros erschienen sei.11 J/S: Wo liegen die Potenziale empirischer Methoden für die Bildaktforschung? Unter welchen Voraussetzungen können Phänomenologie und Empirie zusammengeführt werden? HB: Die Bildaktforschung beruht auf Beobachtungen, wie sie Dichter, Künstler und Philosophen über die gesamte Geschichte wiedergegeben haben. Dass Bilder keinesfalls wie tote Materie wirken, sondern vielmehr eine überraschende Scheinlebendigkeit besitzen, gehört zum Gemeingut so gut wie aller Kulturen. Auch die Selbstbefragung führt konsequent zur Gewissheit, dass Bilder mehr enthalten als nur die Erwartungen, die an sie herangetragen werden.12 Die empirische Psychologie ist durch komplexe Methoden mittlerweile in der Lage, die mit dem Begriff des Bildakts verbundenen Phänomene auch experimentell nachzuweisen.13 Was am Max-Planck- Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main erforscht wird, ist aus meiner Sicht ebenfalls höchst vielversprechend. J/S: Die psychologische Wahrnehmungsforschung hat eine lange Tradition in Berlin, für die Gestalttheoretiker wie Max Wertheimer, Wolfgang Köhler, Kurt Koffka und Rudolf Arnheim einstehen. Ernst Gombrich, der sich an Warburg geschult hatte, machte Ergebnisse der Wahrnehmungspsychologie für die Kunstgeschichte fruchtbar. Die von Karl Clausberg mitbegründete Neuronale Kunst- und Bildwissenschaft beruft sich auf die Wahrnehmungsphilosophie und Hirnforschung des 18. und 19. Jahrhunderts. In welchem Maße haben psychologische Erklärungsmodelle Eingang in Ihre Phänomenologie des Bildes gefunden? HB: Sie sind unverzichtbare Quellen bildhistorischer Forschung, die gegen einen sich zunehmend auf die Jetztzeit einengenden Empirismus in Stellung gebracht werden müssen. Es ist eine gewisse Schwäche der angelsächsischen Philosophie und einiger Bereiche der Naturwissenschaften, dass sie ihre eigene Vorgeschichte und Methodenvielfalt nicht mit Anerkennung und Freude wahrnehmen. Von der Bildwissenschaft können hierbei Denkanstöße ausgehen. Der Gartentheoretiker Christian Cay Lorenz Hirschfeld, zum Beispiel, entwirft eine Art kinästhetische Perzeptionstheorie
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avant la lettre.14 Indem er das Wandern durch den pittoresken Garten beschreibt, beschränkt er sich nicht allein auf den Visus, sondern führt auch Hautempfindungen, auditive Reize und zwischenmenschliche Interaktionsformen an. Hierin zeigen sich komplexe Vorprägungen aktueller theoretischer Erwägungen. Karl Clausberg hat dies mit seinem Rekurs auf die vorrationale Suggestionsmacht der Bilder musterhaft vorgeführt.15 Im Übrigen ergeben sich auch hier interessante Parallelen zur japanischen Gartenkultur.
Sehen und Gestalten J/S: In
Ihrem Vortrag am Humboldt-Kolleg haben Sie Grenzauflösungen zwischen Natur und Kunst beschrieben, die gleichermaßen Risiken bergen und Gestaltungschancen eröffnen.16 Der Exzellenzcluster Bild Wissen Gestaltung, der von 2012 bis 2018 an der Humboldt-Universität geforscht hat, entwickelte aus diesem Befund ein Forschungsprogramm, das den interdisziplinären Zug der Bildwissenschaft weiter vertiefte. Der jüngst angelaufene Cluster Matters of Activity verfolgt dieselbe Linie. Zahlreiche Fachbereiche sind dabei beteiligt. Hierzu gehören insbesondere auch Gestaltungsdisziplinen wie Design und Architektur. Im Unterschied zur analytischen Arbeit des Technischen Bildes ist damit ein aktiv umweltgestaltendes Moment einkalkuliert. In welchem Verhältnis steht eine kritische Bildwissenschaft zu den Gestaltungsdisziplinen? HB: Glauben Sie nicht, dass ich ein alles einfangender Holist bin. Die Zusammenarbeit mit Gestaltern gehörte zur Grundidee des ersten Clusters, so wie sie von Wolfgang Schäffner und mir als den Sprechern entwickelt wurde. Es ging uns dabei insbesondere darum, die Trennung von Kunstakademie und Universität zu durchbrechen. Das war zuvor nur in problemorientierten Einzelfällen geschehen, etwa dann, wenn die Bedienung von Geräten und Maschinen durch Designentscheidungen optimiert wurde oder Zeichner der biologischen Klassifikation von Arten beihelfen sollten. Die beiden Exzellenzcluster vertreten hingegen den allgemeineren Anspruch, Formung als eine genuin intellektuelle Tätigkeit zu verstehen, die ebenso Erkenntnis erzeugt wie unser Gespräch. Formen heißt denken, denken heißt formen. Gestalter sind kein Addendum zu dem, was Wissenschaftler tun, sondern ihrerseits Forscher. J/S: Trotzdem scheint sich eine Neuorientierung gegenüber Ihrer älteren bildwissenschaftlichen Forschung abzuzeichnen. Während zuvor die Erkenntniskraft des Sehens und die Eigenschaften technischer Bilder im Vordergrund standen, sind es
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nun die denkende Gestaltung und die Aktionspotenziale der Form. Wie hat sich Ihr Verständnis von Wissen verändert? HB: Die Veränderung bedeutet eine Erweiterung. Es war in den Anfangsjahren nicht einfach, unbefangen mit Naturwissenschaftlern zusammenzukommen, weil immer wieder der Verdacht im Raum stand, dass ein Geisteswissenschaftler wie ich nicht etwa in die Materie einsteigen, sondern deren Behandlung von außen her, gleichsam ideologiekritisch, bewerten wolle. Im Laufe jahrelanger Diskussionen hat sich diese Problematik vollständig verflüchtigt, sodass wir heute offen über Fragen und Perspektiven diskutieren, ohne dass Hierarchien oder Wertungen im Spiel wären. Dieses wechselseitige Vertrauen hat eine Erweiterung des Denkrahmens erlaubt, in dem es insgesamt um aktive Bilder, aktive Räume und aktive Materie geht: also die Wiederkehr einer Grundidee von Leibniz, der in seiner Monadologie zwischen toter und lebendig denkender Materie nicht in derselben scharfen Weise unterschied, wie es zur selben Zeit René Descartes tat.
Universalität und kulturelle Eigenbestimmung J/S: Ihre
Bildforschung erhebt den Anspruch, universale Wirkprinzipien zu beschreiben, die anthropologisch, wenn nicht kosmologisch begründet sind. Hierfür steht vor allem der Bildakt ein. Eine untergeordnete Rolle spielen kulturelle Eigenheiten, postkoloniale Bildtheorien und transkulturelle Austauschprozesse. Sind Sie offen für eine Relativierung formanalytischer Kategorien und bildaktiver Kräfte? Ist es denkbar, dass der Bildakt in Japan andere Wirkungen zeitigt als in Europa? HB: Ich würde diese Doppelbestimmung von kultureller Relativierung und Konstanz des Wirkprinzips in Aby Warburgs Begriff des „Bilderfahrzeugs“ fassen. Ein in London, Hamburg und Berlin installierter Forschungsverbund mit diesem Titel widmet sich der Problemstellung, auf welchen Wegen Bilder, die aus bestimmten Kontexten stammen, in andere Kulturen geraten und dort auf eine Weise agieren, die nicht vorhersehbar ist. Es lässt sich zum Beispiel nicht prognostizieren, wie ein Holzschnitt aus Dürers Apokalypse in Japan aufgenommen wird. Er erzeugt eine Prägung, die in die japanische Kunstkultur hineingeht, sich dadurch aber auch selbst verändert. Trotzdem bleibt in der wandernden Form stets ein Kern enthalten, der nicht vollständig mit der Kultur, in der er wirkt, verrechnet werden kann. Diese großartige Eigenschaft lässt unseren Gegenstand in postkolonialen Theorien nicht aufgehen. Das Wandern der Form ist anarchisch. Die Vorstellung, der britische Imperialismus habe indische Formen als Triumphgestus nach London gebracht, um die eroberte
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Kultur zu disqualifizieren, ist bestenfalls naiv. Der ehemalige Arnheim-Professor Jyotindra Jain, der an der Humboldt-Universität gelehrt hat, konnte zeigen, dass diese indischen Formen sich in gewisser Weise England zum Untertan machten. Paradoxerweise wurden im Gegenzug auch die britischen Formen in Indien teils anerkennend aufgenommen und nicht als Gewaltakte der Kolonisatoren verstanden. Hieraus sind Mischformen entstanden, die einen eigenen „Sound“ entwickelt haben. Bilder agieren transkulturell oder subkulturell und erzeugen ein eigenes Spiel. In dieser Wirkweise sind sie ontologisch, aber historisch spezifisch. J/S: Zwischen 2015 und 2018 waren Sie zusammen mit Neil MacGregor und Hermann Parzinger Mitglied der Gründungsintendanz des Berliner Humboldt-Forums, in dem zukünftig auch die Sammlungen des Museums für asiatische Kunst gezeigt werden sollen. Das Forum geriet dabei zum Brennpunkt von Fragen des kolonialen und aufklärerischen Erbes, der Provenienzforschung und Restitution, aber auch der musealen Inszenierung nicht-europäischer Kulturen. Wie lassen sich solche Sammlungsobjekte sensibel ausstellen, ohne koloniale Stereotype zu bedienen? Wo sehen Sie die Chancen und Risiken des global denkenden Humboldt-Modells? HB: Die Chancen sind umso größer, je stärker Humboldts Modell negiert wird, wie es in den letzten Jahren geschehen ist. In völliger Verkennung der kulturstiftenden Qualität des Austausches und des Sammelns ist das Museum schlechthin als europäischer Sündenfall diskreditiert worden. Das Sammeln und Vergleichen aber gehört zum Menschen an sich; die ältesten Zeugnisse dieser fundamentalen Kultur techniken reichen in Afrika bis auf anderthalb Millionen Jahre zurück. Zu unserer Zeit: Es grenzt an Populismus, die großenteils antikolonial und antirassistisch angelegten Sammlungen Berlins allein mit einer aggressiven Kolonialpolitik zu verbinden. Hier wären die besonders kontrovers diskutierten Benin-Bronzen anzuführen: Diese waren immer schon in globale Austauschprozesse einbezogen, in denen sich Hierarchien sogar umkehren konnten: Das Metall für diese Skulpturen und Reliefs stammte aus Europa, so auch aus Bayern und Böhmen, um dann in Afrika gleichsam veredelt zu werden. Die Benin-Bronzen waren insofern „Bilderfahrzeuge“. Solche historischen Komplexitäten, die auch die eminente Rolle der afrikanischen Kunst für die Avantgarde einschließen, lassen einen ganz anderen Denkrahmen zu als das manichäische Streckbett von Täter und Opfer. J/S: Diese Komplexität wäre insbesondere auch für Japan in Rechnung zu stellen, das sich lange von westlichen kolonialen Einflüssen abschottete, um dann im 20. Jahrhundert seinerseits kolonial auf Nachbarländer überzugreifen. Wie ist die Bild wissenschaft in einen solchen Denkrahmen einzuordnen? Der Begriff lässt sich nur schwer übersetzen und wird deshalb im Englischen oft im Original belassen.
„Formen heißt Denken, Denken heißt Formen“
Sehen Sie hierin eine übermächtige deutsche Prägung oder trauen Sie der Bildwissenschaft trotzdem eine globale Dynamik zu, die sich in verschiedenen nationalen Wissenschaftstraditionen durchzusetzen vermag? HB: Die Bildwissenschaft muss sich nicht „durchsetzen“, aber sie sollte eine Präsenz erhalten. Vielleicht hat sie sich auch im deutschsprachigen Raum nicht „durchgesetzt“; das lässt sich qualitativ nur schwer bestimmen. Ich sehe das nicht als Nachteil, denn viele Methoden verschwinden im Erfolg. Grundsätzlich bin ich der Überzeugung, dass es sowohl die Bildwissenschaft als auch die Theorie des Bildakts im Besonderen erlauben, transkulturelle Sprungkraft zu entwickeln, insofern das Wirkvermögen, das mir von einer konstruktivistischen Theorie her als Animismus entgegengehalten wird, in anderen Kulturen keiner philosophischen Rechtfertigung bedarf. Die Eigenaktivität von Bildern ist in diesen Kulturen eine Gegebenheit und keine Fabrikation, wie es mir von angsterfüllten Neokantianern vorgeworfen wird. Ich glaube deshalb, dass das, was ich mit dem Bildakt zu beschreiben versuche, mindestens so geeignet ist, einen Austausch zwischen den Kulturen zu befördern, wie eine formale Kunstwissenschaft, die sich ja tatsächlich „durchgesetzt“ hat. Ich habe auf Kongressen Chinesen und Südamerikaner sprechen hören, die sich trotz der Skepsis westlicher Kunsthistoriker zu Wölfflin bekannt haben. Diesen, so argumentieren sie, würde man auch in 500 Jahren noch lehren. Wo ist das Problem? Ich glaube ebenfalls, dass sich in der über Jahrhunderte fortgeführten Reflexion über Bilder gleichsam euklidische Verfahren herausgebildet haben, die eben auch in 500 Jahren noch fruchtbar sein können. Diese agieren jenseits der Kulturen. Ikonologie, Formanalyse, der asiatische Raumbegriff, der eine Alternative zum perspektivischen Modell darstellt, bieten überhistorische Analysemethoden, die der Bildakt fassen kann, weil er sich gegen eindimensionale und punktuell argumentierende Erklärungsweisen wendet. Zur Kritik der Zentralperspektive etwa habe ich Nikolaus von Kues angeführt, der eine multifokale Korrespondenz seitens des Werkes annimmt. In diesem Sinne ist dieser ein Weltdenker. Er erlaubt verschiedene Perspektiven.17
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Horst Bredekamp im Gespräch mit Felix Jäger und Yasuhiro Sakamoto
Japanische Ästhetik J/S: Die
japanische Kunst hat ganz eigene Räumlichkeiten hervorgebracht, die sich ohne ihren kulturellen Kontext nicht erschließen. Die hochformatigen Tuschezeichnungen der Kakejiku (Rollbilder), wie etwa Budou-Soukei-zu (Henne und Hahn mit Weinrebe) von Itō Jakuchū, sind nicht perspektivisch gestaltet, sondern zeigen einen charakteristischen visuellen Schwerpunkt in der unteren Bildhälfte (Abb. 3). Dies erklärt sich offenbar dadurch, dass die Bilder sitzend gesehen wurden, etwa während der Teezeremonie. Erst aus der niedrigen Sitzposition wird die spezifische Raumkonstruktion ersichtlich. Eine wiederum andere Räumlichkeit ergeben die Byōbu (Wandschirme), deren Erzählungen und visuelle Konstellationen erst aus der gefalteten Aufstellung und dem so entstandenen „Raum im Raum“ heraus verständlich werden. So lässt die Holzbrücke in Yatsuhashi-zu (Schwertlilien an der Winkelbrücke) von Ogata Kōrin neue Tiefenwinkel auftauchen, wenn der Schirm entsprechend arrangiert ist (Abb. 4a+b). HB: Gemäß der Bildakttheorie muss eine Vergleichbarkeit erreicht werden, die es gleichwohl erlaubt, Unterschiede greifen zu können. Wie beim Eye-Tracking scheint auch hier nicht das Zentrum bedeutungsentscheidend zu sein. J/S: Eine ähnliche kulturelle Entfremdung ergibt die Richtungssemantik der Formen. Wölfflin hat die Links-Rechts-Lektüre als objektive Gegebenheit betrachtet und der sinnlichen Natur des Menschen zugeschrieben.18 Die japanische Bildsprache zeigt aber in der Regel eine umgekehrte Schwerpunktsetzung, offenbar weil im klassischen Japanisch rechtsläufig geschrieben wird. HB: Genau hier müsste eine kulturvergleichende Forschung ansetzen. Zunächst ließe sich vermuten, dass dieselben Phänomene in gleicher Weise auftreten, nur eben seitenverkehrt, bedingt etwa durch das unterschiedliche Schreiben. Es ist aber eher anzunehmen, dass diese Grundorientierungen nicht nur mit dem Schreiben zu tun haben, sondern auch mit der Positionierung des Leibes in der Umwelt. So gibt es Kulturen, die rechts und links nicht etwa auf den eigenen Körper, sondern den Gang der Sonne beziehen. All dies wäre zu berücksichtigen, um neben den Unterschieden die Vergleichbarkeit herauszuarbeiten. J/S: Zusammen mit dem Kunsthistoriker Atsushi Okada haben Sie in Kyoto buddhistische Tempel, wie den Hōnen-in und den Sanjūsangen-dō, besichtigt und dabei Formähnlichkeiten zwischen europäischen und japanischen Artefakten festgestellt. Die Aufrufung kontemplativer Wahrnehmung und der Sinn für Variation erinnerten Sie an abendländische, ästhetische Kategorien. Verstehen Sie diesen Wiedererkennungseffekt als Illusion der eigenen kulturellen Befangenheit oder als Ausdruck eines universellen Formgefühls?
„Formen heißt Denken, Denken heißt Formen“
3 Itō Jakuchū: Budou-Soukei-zu / Henne und Hahn mit Weinrebe, Rollbild (Kakejiku), Tusche und Farbe auf S eide, 1792, New York, The Metropolitan Museum of Art, Inv.-Nr.: 1975.268.69.
HB:
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4a Ogata Kōrin: Yatsuhashi-zu / Schwertlilien an der Winkelbrücke, sechsteiliger Wandschirm (Byōbu), Tusche und Farbe auf Blattgold auf Papier, nach 1709, New York, The Metropolitan Museum of Art, Inv.-Nr.: 53.7.1. 4b Ogata Kōrin: Yatsuhashi-zu, gefaltet, digitale Bearbeitung: Felix Bernoully.
Wir sind trainiert im Herausarbeiten der Widersprüche und Differenzen, und allein schon die Vermutung, dass es Konstanten gibt, die in unterschiedlichen Kulturen in ähnlicher Weise auftauchen, erregt Ideologieverdacht, als wolle man den Wunsch nach Dominanz hinter einem universalen Horizont verbergen. An verschiedenen Orten aber ist zu spüren, dass die Frage nach diesen Gemeinsamkeiten stärker wird. Ich halte sie auch deshalb für gerechtfertigt, weil auf diese Weise die Vielfalt der eigenen Kultur deutlicher wird. Wer ein „westliches Denken“ als einheitliches Gesamtgefäß unterstellt, verfälscht die inneren Konflikte und Differenzierungen, die eben einen Leibniz gegen die Trennung von Geist und Materie, wie sie Descartes vollzog, opponieren ließ.
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Horst Bredekamp im Gespräch mit Felix Jäger und Yasuhiro Sakamoto
J/S: Was
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erhoffen Sie sich vor diesem Hintergrund vom Austausch mit japanischen Wissenschaftlern? HB: Insbesondere interessiert mich, inwieweit die japanische Kunsttheorie mit dem Begriff eines aktiven Bildes operiert. Zahllose Mythen, in denen Menschen in Bilder ein- und ausgehen, scheinen mir eine Umgangsform nahezulegen, die erheblich komplexer als meine AufschlieFünf Generationen von SONYs Hunderoboter aibo, 1997–2017. ßung des Bildes ist. Insofern ist meine Bildakttheorie nur eine Fußnote zur japanischen Ästhetik [lacht]. J/S: Die Kategorie der Lebendigkeit, die Sie den Bildern hypothetisch zuschreiben, hat in Japan eine wesentlich globalere Dimension. Die Grenzen von toter und lebender Materie sind anders gezogen. Die herausgehobene Stellung der Japaner in der Primatenforschung, zum Beispiel, scheint daher zu rühren, dass Mensch und Tier, selbstbewusstes und unbewusstes Leben nicht klar geschieden sind. Während die Vorstellung, dass Affen sich selbst reflektieren und Handlungen von Artgenossen vorwegnehmen können, in Europa kopernikanische Erschütterungen auslöst, ist dies in einem buddhistischen und shintoistischen Kontext weniger überraschend. Sogar Steine gelten unter bestimmten Umständen als belebt. Ähnlich verhält es sich beim Umgang mit Robotern, die offenbar unbefangen als lebendig verstanden werden können. Ein verkörperndes Verhältnis gegenüber Bildern liegt nahe. In Tokio haben Sie die Elektronikmeile Akihabara besucht und die japanische Technologiefreude kennengelernt. Welche Eindrücke haben Sie hierbei gewonnen? Wie unterscheiden sich japanische und europäische Technikkultur? HB: Wir missverstehen Japaner als Maschinenfetischisten. Die Maschine ist bei ihnen aber von vornherein wesentlich stärker humanisiert. Roboter signalisieren deswegen keine Entfremdung, sondern das Hineinziehen in den eigenen humanen Kosmos. Obwohl einige Erfindungen für europäische Augen komisch erscheinen, zum Beispiel Hundeautomaten und mechanisierte Professorendoppelgänger, müssen wir uns eingestehen, dass unsere Vorannahmen falsch sind (Abb. 5). Die japanische Kultur ist von Grund auf bildaktiv angelegt. J/S: Wir danken sehr herzlich für das Gespräch.
„Formen heißt Denken, Denken heißt Formen“
1 Das vorliegende Interview wurde am 2. Oktober 2015 geführt und in der japanischen Zeitschrift „Shi-Sou“ abgedruckt: Shikou-Keitai to Bunka-Keisyhou to Shite no Imēji. In: Iwanami Shi-Sou, Nr. 1104, Tokio 2016, S. 19–33. Eine erweiterte Version ist im ebenfalls japanischen Konferenzband zum Humboldt-Kolleg 2016 in Tokio publiziert worden: Yasuhiro Sakamoto, Jun Tanaka, Yoshikazu Takemine (Hg.): Image Studies Today. From Aby Warburg’s Mnemosyne Atlas to Neurological Bildwissenschaft, Tokio 2019, S. 79–105. Hier erscheint das Interview erstmals auf Deutsch in einer nochmals aktualisierten und überarbeiteten Fassung. 2 Horst Bredekamp: Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst, Berlin 2004; ders.: Leibniz und die Revolution der Gartenkunst. Herrenhausen, Versailles und die Philosophie der Blätter, Berlin 2012. 3 Hans Dieter Huber, Gottfried Kerscher: Kunstgeschichte im „Iconic Turn“. Ein Interview mit Horst Bredekamp. In: kritische berichte, 1998, 26 (1), S. 85–93. 4 Horst Bredekamp: Der Bildakt. Frankfurter Adorno-Vorlesungen, Berlin 2015. 5 Ders.: Bildaktive Gestaltungsformen von Tier und Mensch. In: Nikola Doll, Horst Bredekamp, Wolfgang Schäffner für das Interdisziplinäre Labor Bild Wissen Gestaltung (Hg.): +ultra. gestaltung schafft wissen, Ausstellungskatalog, Berlin/Leipzig 2016, S. 17–25; ders.: Art History and Prehistoric Art. Rethinking their Relationship in the Light of New Observations, übers. v. Mitch Cohen, Groningen 2019. 6 Raphael Rosenberg, Christoph Klein: The Moving Eye of the Beholder. Eye-Tracking and the Perception of Paintings. In: Joseph P. Huston u. a. (Hg.): Art, Aesthetics and the Brain, Oxford 2015, S. 79–108. 7 Giovanni Morelli: Kunstkritische Studien über Italienische Malerei: Die Galerien Borghese und Doria Panfili in Rom, Leipzig 1890; Carlo Ginzburg: Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. In: Carlo Ginzburg: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 1995, S. 7–44. 8 Wolfram Hogrebe: Riskante Lebensnähe. Die Szenische Erkenntnis des Menschen, Berlin 2009. 9 Horst Bredekamp: Die Fenster der Monade (s. Anm. 2); ders.: Die Erkenntniskraft der Plötzlichkeit. Hogrebes Szenen blick und die Tradition des Coup d’Œil. In: Jochen Hennig, Guido Kreis (Hg.): Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, Berlin 2010, S. 455–468. 10 Michel Foucault: Les Mailles du Pouvoir. In: ders.: Dits et Écrits, 1980–1988, hg. v. Daniel Defert, Bd. IV, Paris 1994, S. 182–194. 11 Gustav Schultz: Bericht über die Feier der Deutschen Chemischen Gesellschaft zu Ehren August Kekulé’s. In: B erichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft, 1890, 23 (1), S. 1265–1312, hier S. 1306. 12 Wolfgang Prinz: Fremde Bilder. In: Marion Lauschke, Johanna Schiffler, Franz Engel (Hg.): Ikonische Formprozesse. Zur Philosophie des Unbestimmten in Bildern, Berlin 2018, S. 101–121. 13 Siehe u. a. Mark-Oliver Casper, John A. Nyakatura, Anja Pawel, Christina B. Reimer, Torsten Schubert, Marion Lauschke: The Movement-Image Compatibility Effect. Embodiment Theory Interpretations of Motor Resonance With Digitized Photographs, Drawings, and Paintings. In: Frontiers in Psychology, 2018, 9, 991, doi: 10.3389/fpsyg.2018.00991. 14 Christian Cay Lorenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst [1779–1780], Hildesheim 1996. 15 Karl Clausberg: Neuronale Kunstgeschichte. Selbstdarstellung als Gestaltungsprinzip, Wien/New York 1999. 16 Vgl. Bredekamp in diesem Band. 17 Nikolaus von Kues: De visione Dei. Das Sehen Gottes, übers. v. Helmut Pfeiffer, Trier 2002, S. 8. 18 Heinrich Wölfflin: Über das Rechts und Links im Bilde. In: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst, 1928, 5, S. 213–224.
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Kapitel I
Bildkräfte
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Historische Erfahrung bei Aby Warburg Berührungspunkte zwischen Bildwissenschaft und Geschichtstheorie
„Erfahrung“ und „Präsenz“ in der Theorie der Geschichte Nachdem die Theorie der Geschichte mit Hayden Whites Pionierstudie Metahistory (1973) den sogenannten linguistic turn vollzogen hatte, zeigte sich von 1990 bis in die 2000er-Jahre eine Tendenz, nach neuen Paradigmen zu suchen, die durch Begriffe wie „Präsenz“ oder „Erfahrung“ gekennzeichnet waren. Vorreiter dieses Paradigmenwechsels war Frank Ankersmit.1 Obwohl er mit dem linguistic turn als Startpunkt seiner Theoriebildung begonnen hatte, verlagerte er in Historical Representation (2001) und Sublime Historical Experience (2005) seine Position so, dass nun statt rhetorischen oder narratologischen Fragen zur Historiografie verschiedene Aspekte der geschichtlichen „Erfahrung“ im Mittelpunkt standen. Auch Martin Jays Songs of Experience (2005), ein Buch über die Ideengeschichte des Begriffs der „Erfahrung“, das im selben Jahr wie Sublime Historical Experience veröffentlicht wurde, kann als Zeichen für eine historische und kulturtheoretische Schwerpunktverlagerung von der „Sprache“ hin zur „Erfahrung“ betrachtet werden. Zum Begriff der „Präsenz“ hat Hans Ulrich Gumbrecht im Jahr 2004 sein Buch Diesseits der Hermeneutik: Über die Produktion von Präsenz veröffentlicht, das die Herstellung von einer „Präsenz“, die durch „Sinn“ und „Bedeutung“ nicht vermittelt werden kann, in Form einer umfassenden Kulturtheorie untersuchte. Die „Produktion von Präsenz“ verweist in diesem Fall auf Situationen, in denen kulturelle Ereignisse spürbar sind und direkt auf unsere Sinne und unseren Körper einwirken. Der Fokus liegt auf der vorsemantischen, sinnlichen Unmittelbarkeit, die über die Präsenz eines Gegenstandes erfahren wird. Bereits 1997 hatte Gumbrecht in seinem Buch 1926: ein Jahr am Rand der Zeit den Versuch unternommen, durch eine reiche Sammlung von Zitaten aus zeitgenössischen Diskursen die kulturellen Ereignisse der Welt von 1926, einem Jahr also, das noch vor dem Geburtsjahr des Autors liegt, zu vergegenwärtigen, und seine Leser so vergessen zu lassen, dass sie sich selbst gerade nicht im Jahr 1926 befinden. Nach Gumbrechts Arbeiten wurde im Jahr 2013 ein Sammelband publiziert, der die Wende zur „Präsenz“ in Ästhetik, Philosophie, Literaturkritik und Geschichte thematisierte.2 Auch Eelco Runias Buch Moved by the Past: Discontinuity and Historical Mutation (2014) diskutiert die „Präsenz“ der Vergangenheit als eines seiner Hauptthemen.
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In Sublime Historical Experience verkündet Ankersmit mit deutlichen Worten: The ‘rationalism’ that ‘theory’ took over from transcendentalist philosophy of language will be rejected here in the name of the notion of experience. The intellectual bureaucracy of ‘theory’ will in this book be replaced by the ‘Romanticism’ of an approach to the past [...].3
Ein solcher Ansatz betont die Persönlichkeit des Historikers selbst und erhebt die romantische Atmosphäre und die Emotion zu wesentlichen Elementen unserer Beziehung zur Vergangenheit. Die Rückkehr zur „Erfahrung“ wird dort eindeutig als Kritik an der sprachfixierten Philosophie und Geschichtstheorie formuliert, die das 20. Jahrhundert dominiert hatte. Gumbrecht äußert sich in 1926 ähnlich. Infolge von Whites Metahistory und Foucaults Diskursanalyse geriet die Vorstellung, Geschichte sei eine „diskursive Kon struktion“ zum Gemeinplatz, wodurch die Erkundung der Vergangenheit per se zu einem intellektuellen Unternehmen degradiert wurde. Darum erscheint ein „Lernen von der Geschichte“, wie es früher praktiziert wurde, heute als fehlgeleitet. Gumbrecht legt unter diesen Umständen einen Perspektivwechsel nahe: Wir sollten uns der Frage widmen, warum überhaupt, völlig unabhängig von praktischen Zwecken, ein „Wunsch nach historischer Realität“ bestehe. Auf diese Weise rückt der sinnliche Aspekt der historischen Erfahrung, das Berühren, Riechen und Schmecken der Dinge, die die Welt der Vergangenheit geprägt haben, neu in den Vordergrund. Ankersmit definiert historische Erfahrung in einem Aufsatz von 1993 als ein plötzliches Durchbrechen des Zusammenhangs der eigenen Existenz. Bei diesem Ereignis findet eine Dekontextualisierung sowohl im Subjekt als auch im Objekt statt. Diese Erfahrung ist das „Pathos“, d. h. ein Erleiden, das zustande kommt, wenn man von einem Teil der Vergangenheit unvorbereitet überfallen wird. Die zeitliche Distanz verschwindet in diesem Moment. Eine solche Begegnung mit der Vergangenheit in der historischen Erfahrung mag ein subjektives Erlebnis sein, aber diese Subjektivität ist genau wie die des Schmerzes eine durch und durch pathetische und passivische Erfahrung.4 Was Gumbrecht als ästhetische „experience“ der Vergangenheit bezeichnet, ist auf das deutsche Wort „Erleben“ bezogen. Gumbrecht verwendet diesen Begriff nicht im lebensphilosophischen Sinne, sondern um auf einen Zwischenbereich von körperlicher Wahrnehmung und Erfahrung zu verweisen, der die Interpretation von „Sinn“ miteinschließt.5 Auch hier steht eine vorsemantisch-sinnliche Unmittelbarkeit, die über die Präsenz eines Gegenstandes erfahren wird, im Mittelpunkt.
Historische Erfahrung bei Aby Warburg
Somit ist historische Erfahrung bei den genannten Autoren ein subjektives Erleben und passivisches Erleiden, das unmittelbar zustande kommt. Ankersmit bezieht sich bei der Erörterung dieser historischen Erfahrung häufig auf Johan Huizinga. Er weist darauf hin, dass es in der Geschichtswissenschaft nach dem Historismus, der sich positivistisch und wissenschaftlich gerierte, nur sehr wenige Historiker gab, die der Vergangenheit persönlich begegnen wollten.6 Huizinga war hier eine Ausnahme. Laut Ankersmit sind ihm hierbei einige Autoren vorausgegangen, die sich für eine historische Einfühlung offen zeigten: Herder, als er beim Johannisabend in einem lettischen Bauerndorf in der Nähe von Riga Zeuge von altertümlichen Gesängen und Tänzen wurde; Goethe, als er in der Residenz der Familie Jabach in Köln gut erhaltene Möbel und Statuen aus vergangenen Zeiten entdeckte; Bachofen, als er einen etruskischen Untergrundfriedhof betrat; und Burckhardt, als er auf einer Italienreise Pisa und Florenz besuchte.7 In diesen Dingen und Orten wurde der „Hauch“ oder die „Aura“ der Vergangenheit selbst über Jahrhunderte aufbewahrt, bis die plötzliche Begegnung mit ihnen zu einer historischen Erfahrung führte.
Von der multisensorischen Bildrezeption zur Ikonophagie Huizinga und Burckhardt blieben laut Ankersmit im Rahmen einer fachlich eingegrenzten historischen Darstellung, während sie zugleich eine übermäßige Verwissenschaftlichung der Historiografie, die dem Historiker eine scheinbar transzendentale Position zuschreibt, vermieden.8 Sie waren auf der Suche nach Wegen, um die Persönlichkeit des Historikers auf adäquate und gewinnbringende Weise ins Spiel zu bringen. Aby Warburg hingegen, der mit einer Geisteskrankheit kämpfte, war gezwungen, diesen Weg obsessiv zurückzulegen, den die beiden anderen noch mit großer Sorgfalt abgetastet hatten. Hier liegt auch der Grund, weshalb der späte Warburg eine Vorlesung über Burckhardt und Nietzsche hielt, in der er die beiden als Typen einander gegenüberstellte, als „Historiker“ einerseits und „Seher“ andererseits. Laut Warburg waren sie beide „empfindliche Seismographen, die in ihren Grundfesten beben, wenn sie die Welle empfangen und weitergeben müssen“. Ein solcher „schicksalsmässig bedingter Mitschwingungszwang“ mache den Beruf des Historikers gefährlich, denn dieser bleibe stets von einer persönlichen Krise bedroht.9 Der „Seismograph“ ist eine Metapher, die Warburg auch auf sich selbst bezogen hatte, als er wegen seiner Nervenkrankheit in Behandlung war:
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Jetzt aber, 1923 im März, in Kreuzlingen, in einer geschlossenen Anstalt, wo ich mich als Seismograph empfinde, der aus Holzstücken zusammengesetzt ist, die einem Gewächs entstammen, das aus dem Orient in die nahrhafte norddeutsche Tiefebene verpflanzt wurde und einen aus Italien inokulierten Ast trug, lasse ich die Zeichen, die ich empfange, aus mir heraustreten.10
Dieses Empfangen von seismischen Wellen aus der Vergangenheit ist nichts anderes als eine besonders markante Erfahrung des Pathos. Ein solches Pathos wurde bei Warburg zuallererst durch Bilder hervorgerufen. Allerdings scheint er diese „seismischen Wellen“ auf multisensorische Weise empfangen zu haben. Warburg berichtet zum Beispiel von der Fähigkeit der Nase zur Entdeckung noch unbekannter Tatsachen – nicht in „Anregung“, sondern vielmehr in „Aufregung“ –, deren Tätigkeit er mit „Trüffelschweindiensten“ vergleicht.11 An dieser Wortwahl lässt sich die sinnliche Erfahrung nachvollziehen, die der Historiker während seiner Erkundung der Vergangenheit gemacht hatte. In einer Notiz vom März 1923, als Warburg gerade in Binswangers Sanatorium seine Vorlesung über das „Schlangenritual“ vorbereitete, vermerkt er, dass er immer noch den Duft der katholischen Nonne riechen könne, die seine Mutter pflegte, als sie wegen Darmtyphus todkrank im Bett lag. Er war damals gerade acht oder neun Jahre alt. Warburg führt aus: „Ich witterte die schwere Erkrankung meiner Mutter wie ein [ängstliches] Tier.“12 Er erinnerte sich also an die überwältigende Sorge, seine Mutter verlieren zu können, in Form einer Geruchserfahrung. Auch in autobiografischen Fragmenten aus dem Jahr 1922 erzählt Warburg, dass er, als er mit fünf Jahren an Typhus erkrankt war, im halluzinatorischen Fieberwahn einen „Geruch“ wahrgenommen habe, wegen dem ihn noch lange später eine Überempfindlichkeit seines Riechorgans geplagt habe. „Aus diesen Zeiten stammt die Furcht, die durch unproportioniert zusammenhangslose Bilderinnerungen oder Sinnesreize der Geruchs- oder Gehörorgane hervorgerufen wurden.“13 Bilder von Wahnvorstellungen und Erinnerungen aus der Kindheit verbanden sich mit ungewöhnlichen olfaktorischen und auditiven Sinneserfahrungen, die später als Schreckenserlebnisse aus der fernen Erinnerung über ihn hereinbrachen. Eine solche multisensorisch besetzte psychische Krise fasst Patrick Baur als „Ikonophagie“ auf.14 Während Warburg unter paranoiden Wahnvorstellungen litt, klagte er darüber, dass man ihm das Fleisch seiner Familie zu essen und ihr Blut zu trinken gebe. Trotzdem verzehrte er seine Mahlzeiten mit ungezügeltem Appetit, um dann von heftigen Schuldgefühlen heimgesucht zu werden. In seinen Notizen aus dem Sanatorium schreibt Warburg zudem über die Erinnerung, in der Kindheit eine Wurst gegessen zu haben, was nach jüdischen Glaubensgrundsätzen streng verboten war.15 Diese „Esspa-
Historische Erfahrung bei Aby Warburg
thologie“ verband sich mit seiner extremen Sensibilität für den Reiz und Schrecken der Bilder zu der paranoiden Wahnvorstellung der „Ikonophagie“. Ein typisches Beispiel sind die Halluzinationen, die Binswanger in seinem klinischen Tagebuch notierte. In einem Fischgericht erkannte Warburg seinen eigenen Sohn, der ihn beharrlich warne: „Vater, du wirst mich doch nicht essen.“16 Baur diagnostiziert: Der Fisch als Speise beschwört die Erinnerung an den Fisch als Bild für den Sohn Gottes herauf, aber in wahnhaft gewendeter Form; die drei Aspekte, die sich hier unterscheiden lassen – der Fisch als Speise, der Fisch als Bild und das, wofür er Bild ist – verschmelzen miteinander, wodurch die Furcht entsteht, der Sohn könnte aufgegessen werden.17
Baur sieht in dieser Wahnvorstellung die Transsubstantiation aufscheinen, die bei der Eucharistie Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi verwandelt. Warburg stand dabei unter dem Eindruck der Symboltheorie von Friedrich Theodor Vischer, der die Lehre von der Eucharistie zeichentheoretisch behandelt hatte.18 Nach Vischer bewegt sich zwischen dem magischen Denken, das die Hostie real mit dem Leib Christi identifiziert, und dem rationalen Denken, das in ihr nur ein Zeichen des „Leibes Christi“ erkennt, noch eine weitere Denkform: Hier wisse man, dass die Hostie nicht der Leib Christi, sondern bloß eine Hostie ist, aber dennoch fühle es sich so an, als sei sie von der Kraft und Vitalität des Leibes Christi erfüllt.19 Dieser präsentische Schein, der einen gewissen Exzess gegenüber der bloßen Materie markiert, war für Warburg das Symbol. Die Hostie erhält damit einen Doppelcharakter als heiliges Symbol, das doch verzehrt werden muss. Die Eucharistie ist demzufolge ein klassischer Fall von „Ikonophagie“. Bemerkenswerterweise argumentiert Gumbrecht, die „Präsenzkultur“ und „Sinnkultur“ habe sich in der Eucharistie abgezeichnet.20 Im Mittelalter waren Fleisch und Blut Christi im Sakrament real „gegenwärtig“, während man in der evangelischen Lehre Brot und Wein als Symbole betrachtete, die „Fleisch“ und „Blut Christi“ bedeuten. Carlo Ginzburg zufolge wurde auf dem Vierten Laterankonzil von 1215 das Dogma der Transsubstantiation gerade deshalb bestätigt, um Ängste vor Götzenanbetung zu besänftigen.21 Im Angesicht der überwältigenden Gegenwart Christi in der Eucharistie (eine „Über-Präsenz (super-presenza)“ jenseits des bloß Existierenden) hätten alle anderen Bilder ihre Lebenskraft verloren, und damit sei es möglich geworden, diese Bilder zu „bändigen“. So sei es zum Aufstieg der christlichen Kunst und zur Renaissance gekommen. Andererseits setzte aber auch die Verfolgung von Juden wegen Hostienfrevel mit dem Laterankonzil ein: Seit dem späten 13. Jahrhundert verbreiteten sich bizarre Legenden, nach denen aus Hostien Blut geflossen war oder sich Hostien in Babys verwandelt hätten.
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Auf den Tafeln 28 und 29 seines Mnemosyne-Atlas griff Warburg eine Altarpredella von Paolo Uccello auf, die den Hostienfrevel der Juden darstellt, und auf Tafel 79 ist Raphaels Gemälde des Eucharistiewunders Die Messe von Bolsena (1512) zu sehen, daneben Pressefotos der Eucharistie im Vatikan aus dem Jahr 1929. Die Eucharistie ist das Thema der gesamten Tafel.22 Wenn Kunstwerke als „gezähmte Bilder“ ein Teil der „Sinnkultur“ waren, so kehrt Warburg hier zur Eucharistie als „Über-Präsenz“ par excellence zurück, die charakteristisch für die „Präsenzkultur“ ist. So legt er die Kraft der „Präsenz“ von Bildern offen, die nicht vollständig durch die „Sinnkultur“ ausgelöscht werden kann. Die Aktualität von Warburg besteht weniger in der Erfindung der „Ikonologie“, die in Panofskys Hermeneutik des „Sinnes“ formalisiert wurde, sondern vielmehr in seiner besonderen Sensibilität für die „Präsenz“ von Bildern. So könnte man Horst Bredekamps Theorie des Bildakts (2010)23, die auch auf Warburg rekurriert, als Problematisierung von „Erfahrung“ und „Präsenz“ ansehen. Ein „Bildakt“ bezeichnet den „Akt“ der Wirkung eines Bildes selbst, was Grafiken, Skulpturen und überhaupt jedwedes Kulturobjekt miteinschließt. Vorreiter dieser Idee war Warburg, der die Kraft der Bilder von Sterndämonen und leidenschaftlich ergriffenen Menschen wie ein „Seismograph“ spüren konnte. „Du lebst und thust mir nichts.“24 Diese Worte von Warburg über das Innenleben der Bilder werden von Bredekamp oft zitiert. In ihnen lässt sich eine Anerkennung der Lebenskraft der Bilder erkennen, die zugleich mit einer ästhetischen Erfahrung verknüpft ist, in der man sich selbst in einer sicheren Position befindet und die Bilder auf Distanz hält. Das entspricht dem psychologischen Zwischenzustand, auf den im Kontext der Hostie hingewiesen wurde.25
Die historiografische Methode des Mnemosyne-Atlas Warburg verfolgte eine historische Genealogie der „Pathosformel“, die sich in der Gebärdensprache von Kunstwerken historisch niedergeschlagen habe. Mit dem Mnemosyne-Atlas, der sich ausschließlich aus Bildern zusammensetzte, entstand so eine neue historiografische Methode. Der Atlas stellt ein Tafelwerk dar, auf dessen einzelnen schwarzen Schirmen verschiedene Abbildungen angeordnet sind. Diesen Bildern fehlt es an der farblichen Lebendigkeit der Originale. In dieser Vorgehensweise, die Ähnlichkeiten zur Maltechnik der Grisaille aufweist, ist zunächst ein methodisches Bewusstsein zu erkennen, das die „Formen“ der Gesten hervorzuheben sucht. Ebenso kann aber auch angenommen werden, dass es eine Technik war, die der gegenüber Bildern so empfindliche Warburg gerade deswegen verwendete, weil er selbst mit hoher Sensibilität auf die affektiven Evokationskräfte der Farben reagierte, und er daher die Macht der
Historische Erfahrung bei Aby Warburg
Bilder schwächen und auf Distanz halten wollte, also in jenem Zustand des „du thust mir nichts“, in dem sie für ihn manipulierbar wurden. Doch die auf eine einzige Farbe reduzierte Bildergruppe besitzt eine ganz eigene Atmosphäre. Dabei handelt es sich aber nicht wie bei Huizinga um das Grundgefühl einer bestimmten Epoche, sondern um den sinnlichen Eindruck einer bestimmten Schicht der Geschichte, die Warburg ans Licht bringen wollte – eine Schicht des unbewussten Gedächtnisses. Diesen Sinneseindruck nannte Warburg „die Hadesluft“.26 Vermittelt durch das Relief eines Sarkophags im Rom, habe dieser unheimliche Luftzug „schon seit dem Erwachen der Antike die Plastik und Malerei der Frührenaissance durchzittert“. Warburg wollte erforschen, in welcher Form genau die Menschen der Renaissance die Antike als historische Erfahrung erlebten, während er selbst wiederum versuchte, die Vergangenheit zu berühren, in welcher sich die Menschen der Renaissance bewegten. Seine psychohistorische Analyse beschrieb also eine doppelte historische Erfahrung. In diesem überlappenden Geschichtserleben, bei dem sich die unterste Schicht der Geschichte mit dem ikonischen Gedächtnis amalgamierte, zu dem er in einem „selbstbiografischen Reflex“ vorgestoßen war, spürte er die „Hadesluft“. Warburgs Körper, dieser „Seismograph der Geschichte“, konnte hier Untergrundwellen aus der Vergangenheit empfangen. Die mise-en-scène des Mnemosyne-Atlas, die monochrome Illustrationen auf einem schwarzen Schirm anordnet, bildete für Warburg und die an seiner Forschung beteiligten Assistenten Gertrud Bing und Fritz Saxl eine Art Heuristik für die Entdeckung von Wechselbeziehungen zwischen thematisch oft weit auseinanderliegenden Bildern, zugleich aber auch eine Methode, um dem Betrachter der Tafeln unbewusste Tiefenschichten des ikonischen Gedächtnisses zu erschließen. Der schwarze Schirm spielte dabei als „Grund“ eine äußerst wichtige Rolle. Georges Didi-Huberman weist auf die „visuelle Prägnanz“ hin, die dieser selbst besitzt. Der Schirm diene als „Umwelt“ der auf ihm platzierten Bilder und wirke „wie ein Ozean, in dem aus verschiedensten Zeiten angespültes Treibgut sich am schwarzen Meeresboden aneinanderfügt“.27 Zahllose Bilder tauchen vor diesem Meeresboden auf und treiben weiter, ohne irgendwo festgehalten zu werden. „Man könnte sagen, dass Mnemosyne atmet“.28 Diese Worte von Didi-Huberman fassen das ikonische Gedächtnis als schwarzen Ozean auf, dessen Tiefenschichten immer wieder lebendig nach oben gespült werden. Um die Wirkung zu durchdenken, die der Atlas mit seinen Bilderkompositionen auf schwarzem Schirm auslöste, soll im Folgenden Carlo Severis Buch Das Prinzip der Chimäre: Eine Anthropologie des Gedächtnisses (2007) herangezogen werden, das auf Warburgs berühmtem Vortrag zum Schlangenritual beruht.29 Severi interpretiert Schamanengesänge, die therapeutisch wirken sollten, als Bilder, indem er nicht auf die Sinndimension der Worte achtet, sondern auf die audiovisuellen Ausdrucksformen, aus denen diese
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Gesänge bestehen. Dabei bezieht er sich auf die Bildpsychologie in Ernst H. Gombrichs Kunst und Illusion (1960), genauer gesagt auf den Mechanismus der visuellen Projektion, auf dem die Wahrnehmung aufbaut. Wenn beispielsweise vier Punkte auf einer weißen Ebene platziert werden, assoziieren wir in unserer Vorstellung ein Rechteck. Wir „sehen“ etwas, das materiell nicht existiert, sondern nur potenziell. Im Falle des Schamanengesangs, der im Dunkeln vorgetragen wird, entspricht die regelmäßige Wiederholung derselben sprachlichen Formel und ihrer Variationen eben der Anordnung dieser vier Punkte (Roman Jakobson bezeichnet dies als „Parallelismus“). In dieser Struktur erhält die Stimme eine wahrnehmbare Regelmäßigkeit und wird zu einer Art „Rorschach Höraufgabe“.30 Der Patient „hört“ dann durch Herbeiführung einer auditiven Projektion die Anrufung der Geister als puren Klang. Die Wiederholung der Schamanenstimme im Dunkeln – die sich für den Patienten in nahezu sinnfreie Geräusche auflöst – erzeugt einen Schirm, der bei Gombrich der weißen Fläche entspricht. Angeregt durch Fragmente ominöser Worte, die aus dem Gesang herausgehört werden, generiert der Patient eine Wahrnehmungsillusion. Severi schreibt, dass der erlebte Schmerz des Patienten, der so intensiv ist, dass er durch normale sprachliche Kommunikation nicht geheilt werden kann, diesen Mechanismus weiter verstärkt. Auch die Mnemotechniken, die Severi in den Schriftbildern amerikanischer Ureinwohner entdeckt hat, basieren auf einem ähnlichen Vorgang. Sie werden durch optische Ergänzung über chimärische Bilder erzeugt, die in enger Verbindung zur oralen Tradition der Ureinwohner hervorgegangen sind. Hier kann die schriftbildliche Form, die sich durch die spezifische Betonung ihrer einzelnen vereinfachten Elemente auszeichnet, auf die Imagination des Parallelismus einwirken und die Projektion auslösen. So werden Erinnerungen geweckt, die sprachlich nicht zu fassen sind. In Warburgs Überlegungen zum Schlangenritual der Hopi sieht Severi einen Erklärungsversuch für solche chimärischen Mnemotechniken. Der Mnemosyne-Atlas scheint den Zusammenhang aber noch besser zu treffen. Der schwarze Schirm, auf dem Bilder ohne sprachliche Erläuterung arrangiert werden, ist das Dunkel, in dem der Patient das Schamanenlied hört. Vor diesem Hintergrund wirkt der Parallelismus der Gesten in der Pathosformel wie der „Fleck in einem Rorschachtest“ und ruft eine Projektion hervor. Warburg sah in seinem Mnemosyne-Atlas „Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene“.31 Wie der Patient, der während seiner Behandlung durch den Schamanen den Ruf der Geister als puren Klang hört, steigen aus den hybriden Bilderformationen des Mnemosyne-Atlas gespenstische mentale Bilder empor. Der Atlas kann also als eine Technik der Selbstheilung verstanden werden, die der an „Bildpathologie“ erkrankte Warburg als Patient und als Schamane für sich selbst erfunden hatte.
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Pathos in der Historiografie Ausgehend von Severis Beobachtungen soll zuletzt gezeigt werden, dass sich der Mnemosyne-Atlas und die Geschichtstheorie Hayden Whites verknüpfen lassen. In seinem Spätwerk The Practical Past (2014) und in der Abhandlung Historical Truth, Estrangement, and Disbelief (2016) untersucht White die historiografische Methode von Saul Friedländer in dessen The Years of Extermination: Nazi Germany and the Jews, 1939–1945 (2007). In diesem Buch lässt Friedländer jüdische Zeitzeugen in Zitaten aus ihren Tagebüchern selbst zu Wort kommen. Er beruft sich dabei auf das Format der Chronik, die Ereignisse und Anekdoten seriell aneinanderreiht. White sieht hierin einen Versuch, die Historiografie zu „entnarrativisieren“ (de-narrativize) und sie „vom Element der Erzählung zu befreien“ (de-storify).32 Er verortet Friedländers historisches Werk in der Nähe zur modernen Literatur à la Proust, Kafka, Joyce; außerdem deutet er es als eine Präsentation von „Bildern“ der Geschichte im Sinne von dem, was Benjamin eine „Konstellation“ nennt.33 Whites Analyse widmet sich vor allem dem Epigraf, das The Years of Extermination vorangeht, der Ekphrasis einer Fotografie im Vorwort, dann einem Epigraf im ersten Abschnitt des Hauptteils sowie den Anekdoten, Kommentaren und (metaphorischen) Figuren, die dort aneinandergereiht präsentiert werden. So kann White zeigen, dass Friedländers Historiografie, auch wenn sie eine objektive Tatsachenbeschreibung verspricht, doch literarische Techniken einsetzt – was keineswegs im Sinne einer Fiktionalisierung oder Ästhetisierung zu verstehen ist, sondern insbesondere als Annäherung an die Literatur der Moderne. Friedländer sucht mit seinem Buch, „quasi-viszerale“ – d. h. tiefsitzende affektiv-körperliche – Reaktionen wie „Unbehagen“ und „Misstrauen“ zu evozieren. Seiner Ansicht nach besteht das Ziel von The Years of Extermination nicht darin, über den Holocaust als historisches Ereignis zu berichten, das intellektuell zu verstehen ist und dadurch schließlich domestiziert werden kann. Im Gegenteil: Es will vielmehr eine gewisse Irrealität aufrecht erhalten, durch die der Holocaust ein „unglaubliches“ Ereignis bleibt. Entspricht diese Darstellungsmethode nicht der auf dem Parallelismus basierenden Schriftbildlichkeit, die Severi in Das Prinzip der Chimäre beschrieben hat? Indem die Konstellation fragmentarischer Texte, aus denen existenziell bedrohte Individuen sprechen, wie jene vier Punkte in den leeren Raum projiziert wird, enthüllt sich uns das Unbehagen und Misstrauen (dieses „quasi-viszerale“ Gefühl, etwas nicht glauben zu können) gegenüber dem, was wir für alltägliche Realität halten. White schreibt hierzu: „pathos and especially the pathos of suffering is more effectively produced by images than by concepts“.34 Eine solche Serie von Bildern hat Friedländers magnum opus versammelt. Hierzu passt auch, was Severi über das Schamanenlied und den sprachlich nicht mehr
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fassbaren Schmerz der Patienten, seiner Hörer, geschrieben hatte. Man könnte vielleicht sagen, dass das Buch The Years of Extermination eine Chronik in der Form des Parallelismus ist, die ihren Lesern das unheilbare Leiden vermittelt und so die „Pathosformel“ in die Historiografie überführt. Natürlich sind die Bilder der Geschichte, die in der Konstellation von Anekdoten und Ereignissen entstehen, keine klar definierten, optischen Figuren. Eher sind sie geistige Bilder, die anhand zeichenhafter Schriftzeugnisse projiziert werden. Beim Patienten, der durch das Schamanenlied behandelt wird, durchdringt der rhythmische Gesang den Strom der Gedanken, die sich aufgrund des Schmerzes der Sprache verweigern, und so formt sich eine Wahrnehmungsillusion. Demgegenüber steht die Methode von The Years of Extermination, die den Parallelismus einsetzt, um das „quasi-viszerale“ Gefühl des „Pathos des Leidens“ zu übertragen. Hierher wird die Projektion der Bilder vollzogen. Diese Technik ließe sich demnach als „historiografische Pathosformel“ bezeichnen. Eine solche Geschichtspraxis nähert sich der rituellen Kommunikation. Severi schreibt: Indem sie [die Klangsequenz des Schamanengesangs] sorgfältig die Grenzen dessen vorzeichnet, was innerhalb dieses Kontextes mitteilbar ist, fügt sie sich gleichzeitig der dem Ritual eigenen Kommunikationsebene ein, einem Ritual, dem es gelingt, den Akt der Kommunikation genau auf dasjenige zu konzentrieren, was die gemeinsame Sprache normalerweise nicht zu symbolisieren vermag.35
Könnte man nicht sagen, dass Friedländer hier keine historischen „Tatsachen“ (die „historische Vergangenheit“, die White von der „praktischen Vergangenheit“ unterscheidet) zeigt, sondern das, was Bruno Latour den faitiche nennt, also eine sprachliche Synthese aus Fakt (fait) und Fetisch (fétiche)?36 Latour betrachtet das mediopassive Verb als die angemessene Sprachform, um ein faitiche zum Ausdruck zu bringen, und behauptet sogar, dass die gesamte Anthropologie im Grunde genommen nach dem Mediopassiv verlange.37 Auch White hatte schon früh auf dieses genus verbi aufmerksam gemacht und betrachtete es als Schlüssel zur historiografischen Beschreibung des Holocaust.38 White sah im Mediopassiv eine schriftliche Darstellungsform jenseits des Gegensatzes von aktiv und passiv, einen Zustand, „in dem das Subjekt innerhalb des vom Verb ausgedrückten Prozesses verortet wird“.39 Eben diesen Zustand entdeckte White zu seinem Lebensende in den „Bildern“ von The Years of Extermination, ebenso wie Latour in den „Akteur-Netzwerken“. Nach Severi werden in rituellen Kommunikationshandlungen um den faitiche herum „Bilder“ erzeugt, die das „Pathos des Leidens“ vermitteln – nicht durch eine sprachliche Verständigung, sondern vielmehr über einen Projektions
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mechanismus, der davon ausgeht, dass ein solches Verständnis grundsätzlich unmöglich ist oder ausbleiben muss. In diesem Sinne entspricht gerade das, was White „Bilder“ nennt, bei Latour dem Mediopassiv. Der Theorie nach stand das altgriechische Mediopassiv ursprünglich dem Aktiv gegenüber, sodass das Wort „Pathos“ nicht auf das Passiv, sondern auf das Mediopassiv verwies.40 Es ließe sich insofern sagen, dass White ein „historiografisches Pathos“ suchte. Auch die inneren „Bilder“, die der Mnemosyne-Atlas aus den monochromen Abbildungen heraus erzeugt, sind nichts anderes als faitiches. Insofern handelte Warburg, der seine Tafeln immer wieder neu arrangierte, wie der Schamane, den Severi beschrieben hat. Er wendete sich rituell jenen Erfahrungen zu, die Sprache nicht symbolisieren kann, und tastete sich so an die Grenzen des Kommunizierbaren heran. Warburgs Bild- und Esspathologie, die ihn in halluzinatorische Anfälle von „Ikonophagie“ treiben konnte, beruhte auf einer wortwörtlich „viszeralen“ Sensibilität. Darauf, dass die Montage von Bildern auf Tafeln eine post-narrative und erzählungsfreie Form der Historiografie darstellte, die ihre technischen Grundlagen mit der zeitgenössischen Kunst der Avantgarde teilte, muss man kaum noch hinweisen. Aby Warburg war nicht nur Vorreiter einer Theorie der Geschichte, die ihren Schwerpunkt auf „Erfahrung“ und „Präsenz“ legt, sondern nahm auch jene historiografische Wende vorweg, die White sein Leben lang verfolgte. Der Reichtum ihrer Möglichkeiten ist noch immer nicht voll ausgeschöpft. Aus dem Japanischen übersetzt von Sebastian Breu.
1 Frank R. Ankersmit: Historical Representation, Stanford 2001; Martin Jay: Songs of Experience. Modern American and European Variations on a Universal Theme, Berkeley 2005; Hans Ulrich Gumbrecht: In 1926. Living at the Edge of Time, Cambridge, MA/London 1997; Eelco Runia: Moved by the Past: Discontinuity and Historical Mutation, New York 2014. 2 Ranjan Ghosh, Ethan Kleinberg (Hg): Presence. Philosophy, History, and Cultural Theory for the Twenty-First Century, Ithaca/London 2013. 3 Frank R. Ankersmit: Sublime Historical Experience, Stanford 2005, S. 10. 4 Vgl. Frank R. Ankersmit: De historische ervaring, Groningen 1993, S. 13–14. 5 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Production of Presence. What Meaning Cannot Convey, Stanford 2004, S. 100; S. 168, Anm. 36. 6 Vgl. Ankersmit (s. Anm. 3), S. 180. 7 Vgl. Ankersmit (s. Anm. 3), S. 115. 8 Vgl. Ankersmit (s. Anm. 3), S. 190–191. 9 Schlusssitzung der Burckhardt Übung. In: Aby Warburg: Werke in einem Band. Auf der Grundlage der Manuskripte und Handexemplare, hg. und komm. v. Martin Treml, Sigrid Weigel, Perdita Ladwig, unter Mitarbeit von Susanne Hetzer, Herbert Kopp-Oberstebrink, Christina Oberstebrink, Berlin 2010, S. 695. 10 Aby Warburg: Reise-Erinnerungen aus dem Gebiet der Pueblo Indianer in Nordamerika. In: ders.: Werke (s. Anm. 9), S. 573. 11 Aby Warburg: Tagebuch, 8. April 1907. Vgl. Ernst H. Gombrich: Aby Warburg. An Intellectual Biography, Oxford (2. Aufl.) 1986, S. 140.
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12 Vgl. Warburg (s. Anm. 10), S. 575–576. 13 Ludwig Binswanger, Aby Warburg: Die unendliche Heilung. Aby Warburgs Krankengeschichte, hg. v. Chantal Marazia, Davide Stimilli, Zürich/Berlin 2007, S. 101; siehe dort auch die Erinnerung von Dr. Embden, S. 260. 14 Vgl. Patrick Baur: Ikonophagie. Aby Warburg in Kreuzlingen. In: Christian F. Hoffstadt u. a. (Hg.): Gastrosophical Turn. Essen zwischen Medizin und Öffentlichkeit, Bochum/Freiburg 2009, S. 247–259. 15 Vgl. Warburg (s. Anm. 10), S. 576. 16 Eintrag am 22. April 1922; vgl. Binswanger, Warburg (s. Anm. 13), S. 60. 17 Baur (s. Anm. 14), S. 253. 18 Warburg erwähnte Fischers Aufsatz „Das Symbol“ in seiner Dissertation über Botticelli. 19 Vgl. Edgar Wind: Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die Ästhetik. In: Aby Warburg: Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hg. v. Dieter Wuttke, Baden-Baden (3. Aufl.) 1992, S. 171–172. 20 Vgl. Gumbrecht (s. Anm. 5), S. 28–30. 21 Carlo Ginzburg: Occhiacci di legno: nove riflessioni sulla distanza, Milano 1998, S. 94–95. 22 Vgl. meine Interpretation von Tafel 79 in: Aby Warburg: Munemoshune atorasu [Mnemosyne Atlas], with commentaries by Hiroaki Ito, Tetsuhiro Kato and Jun Tanaka, Tokyo 2012, S. 620–633. 23 Vgl. Horst Bredekamp: Der Bildakt: Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007 (Neufassung 2015), Berlin 2015. 24 Aby Warburg: Motto von ‚Grundlegende Bruchstücke‘, 21. September, 1896. In: Aby Warburg: Fragmente zur Ausdruckskunde, Gesammelte Schriften: Studienausgabe, Bd. IV, hg. v. Ulrich Pfisterer, Hans Christian Hönes, Berlin/ Boston 2015, S. 5. 25 Vgl. Charlotte Schoell-Glass: Aby Warburg und der Antisemitismus: Kulturwissenschaft als Geistespolitik. Frankfurt a. M. 1998, ferner meine Interpretation von Tafel 79 (s. Anm. 22). 26 Gombrich (s. Anm. 11), S. 232. 27 Georges Didi-Huberman: L‘image survivante. Histoire de l‘art et temps des fantômes selon Aby Warburg, Paris 2002, S. 496. 28 Georges Didi-Huberman: Atlas ou le gai savoire inquit, Paris 2011, S. 276. 29 Vgl. Carlo Severi: Das Prinzip der Chimäre: Eine Anthropologie des Gedächtnisses. Aus dem Französischen von Claudia Brede-Konersmann, Göttingen 2018, S. 33–89.; Über „Warburgs ‚indianische Seele‘“, vgl. Horst Bredekamp: Aby Warburg, der Indianer: Berliner Erkundungen einer liberalen Ethnologie, Berlin 2019, S. 110–119. 30 Severi (s. Anm. 29), S. 244. 31 Warburg Institute Archive, III.102.3.1. Mnemosyne Grundbegriffe, 1929, S. 3. 32 Hayden White: Historical Truth, Estrangement, and Disbelief, 2016, https://www.academia.edu/9052840/Friedlander_ Estrangement_and_Disbelief (Stand: 04.2019). 33 Vgl. Hayden White: The Practical Past, Evanston 2014, S. 80. 34 White (s. Anm. 32). 35 Severi (s. Anm. 29), S. 246. 36 Bruno Latour: Sur le cult moderne des dieux faitiches suivi de Iconoclash, Paris 2009. 37 Vgl. Latour (s. Anm. 36), S. 121, Anm. 33. 38 Vgl. Hayden White: Historical Emplotment and the Problem of Truth. In: Saul Friedlander (Hg.): Probing the Limits of Representation. Nazism and the “Final Solution”, Cambridge, MA/London 1992, S. 37–53; Hayden White: Writing in the Middle Voice. In: ders.: The Fiction of Narrative: Essays on History, Literature, and Theory, 1957–2007, Baltimore 2010, S. 255–262. 39 Koichiro Kokubun: Chudotai no sekai: Ishi to sekinin no kokogaku (Welt des Mediopassivs: Archäologie des Willens und der Verantwortung), Tokyo 2017, S. 100. 4 0 Koichiro Kokubun (s. Anm. 39), S. 53–60. Laut des Vertreters dieser These, Paul Kent Andersen, bedeutet Pathos, „etwas zu erfahren“.
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„Einverseelung“, „Unbewusstes Gedächtnis“ und Aby Warburgs Mnemosyne Verflochtene Fäden In einer der zahlreichen Formulierungen, mit denen Aby Warburg das anspruchsvolle Ziel seines Bilderatlas beschrieb, stellte er fest: „Der Atlas zur Mnemosyne will durch seine Bildmaterialien den Process illustrieren, den man als Versuch der Einverseelung vorgeprägter Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens bezeichnen könnte.“1 Unter den verschiedenen Bestandteilen dieser Definition – welche die Geschichte mit Theorien des Ausdrucks und des Gedächtnisses verflicht – bedarf die Bezeichnung „Einverseelung“ einer eingehenderen Analyse. Sie deutet auf eine philologische Aufschlüsselung des bildlichen Gedächtnisses hin, deren Wurzeln sich in Warburgs Aufzeichnungen auf dessen frühe Lektüre der zeitgenössischen Ästhetik und physiologischen Psychologie zurückführen lassen. Allgemein ist zu beobachten, dass Warburgs methodologische Versuche der 1920er-Jahre „von der Kunstgeschichte zur Wissenschaft vom Bilde fortzuschreiten“,2 in seinem Sprachgebrauch einen Kristallisationspunkt finden, der sich auf jene frühen theoretischen Interessen bezieht. Im Folgenden möchte ich die Verflechtung verschiedener Fäden, aus denen sich Warburgs Bildwissenschaft zusammensetzt (Philologie und Biologie, Archäologie, Philosophie und physiologische Psychologie), anhand eines Beispiels aus dem Bilderatlas (Tafel 41a; siehe Abb. 1) und eines Leitbegriffs aus seinem Sprachgebrauch („Einverseelung“) in den Fokus meiner Beobachtungen r ücken. Hinsichtlich der geografischen und chronologischen Koordinaten, in die sich die bildlichen Materialien der sogenannten letzten Version des Bilderatlas fügen, nämlich das Mittelmeerbecken zur Zeit der Renaissance,3 nimmt die Tafel 41a eine zentrale Stellung ein. Sie gehört zu einer Gruppe von drei Tafeln, die den Darstellungen dreier „Grenzwerte mimischen und physiognomischen Ausdrucks“ gewidmet sind: dem „Vernichtungspathos“ (Tafel 41), dem „Leidenspathos“ (Tafel 41a) und dem „Leidenspathos in energetischer Inversion“ (Tafel 42) – d. h. jenen potenziell ambivalenten Gebärdenschemata, die sowohl Enthusiasmus und Rausch als auch Trauer ausdrücken können. Diese drei Tafeln verweisen wiederum auf eine frühere Gruppe (Tafel 4 bis 8), die sich mit den „antiken Vorprägungen“ eben dieser „Ausdruckswerte“ auseinandersetzt. So lässt
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1 Aby Warburg: Mnemosyne, Tafel 41a.
sich Tafel 41a gleichsam etymologisch auf Tafel 6 beziehen; wie aber dieser Verweis im Detail funktioniert, benötigt eine genauere Betrachtung. Ich werde mich hier darauf beschränken, eine erste Annäherung in diese Richtung zu unternehmen.
Tafel 41a als Fallstudie: literarisches und visuelles Gedächtnis Die Bilder, die auf Tafel 41a zusammenkommen, zeigen fast ausnahmslos ein und dasselbe Sujet in verschiedenen Varianten: die mythologische Figur des Laokoon, die ursprünglich aus dem trojanischen Sagenkreis stammt und später in die Gründungs mythen der römischen Kultur einging. Die berühmteste Beschreibung der Laokoon-Episode ist im zweiten Buch von Vergils Äneis enthalten, und zahlreiche erhaltene, nachantike Handschriften des vergilischen Epos sind mit Miniaturen ausgestattet, die diesen Passus illustrieren. Kein anderes Kunstwerk aber hat das europäische (und nicht-europäische) Bildgedächtnis
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2 Aby Warburg: Mnemosyne, Tafel 6.
so nachhaltig geprägt wie die 1506 wiederentdeckte Marmorgruppe des sogenannten Vatikanischen Laokoon. Eine fotografische Reproduktion der Skulptur bildet das geometrische Zentrum von Tafel 6 (Abb. 2) in Warburgs Bilderatlas, die zugleich das ‚etymologische‘ Pendant zu Tafel 41a darstellt. Im Unterschied zu anderen Tafeln verzichtet Warburg hier jedoch auf eine bewusste, anaphorische Wiederholung derselben Laokoongruppe auf Tafel 41a, was weiter unten besprochen wird. Die literarische Überlieferung der Geschichte des trojanischen Priesters Laokoon, der seine Mitbürger vor dem griechischen hölzernen Pferd warnte, wird durch die bildliche Darstellung seines tragischen Todes metonymisch zugespitzt. Nachdem Laokoon die Kriegslist der Griechen zu enthüllen versucht hatte, wurde er gemeinsam mit seinen zwei Söhnen von monströsen Meeresschlangen erwürgt, die die Götter gegen ihn entsandt hatten. So verkörpert Laokoon das Leidenspathos unter dem Eingriff des Schicksals bzw. der Götter sowie (im übertragenen Sinne) das vergebliche Ringen mit übernatürlichen Mächten.
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Während archäologische Studien zahlreiche unterschiedliche Darstellungstypen des Laokoon in der griechischen und römischen Kunst nachweisen konnten,4 konzentriert sich Warburgs Aufmerksamkeit in Tafel 41a auf die nachantiken Interpretationen des Themas. Seine Auswahl an Fotografien von Kunstwerken unterschiedlichster Genres basiert weitgehend auf den Beiträgen des Archäologen Richard Förster,5 insbesondere einer 1906 publizierten Studie, die weniger die Vorgeschichte der vatikanischen Gruppe als vielmehr ihre Nachwirkung thematisierte. Über die von Förster chronologisch besprochenen Beispiele hinaus erweitert Warburg Tafel 41a jedoch um weitere Fotografien. In der oberen linken Ecke finden wir zwei Miniaturen (Nr. 1.1–1.2) aus einer um 1470 datierten Vergil-Handschrift,6 die jeweils unterschiedliche Momente der Geschichte zeigen: In der ersten Szene greifen zwei geflügelte, drachenartige Meeresschlangen den Priester und seine Söhne an; in der zweiten ist eine chronologisch vorausgehende Handlung dargestellt – Laokoon ist im Begriff, einen Stier zu opfern, als die zwei Schlangen aus dem Meer auftauchen. Eine weitere Miniatur (Nr. 2) aus einer auf das Ende des 13. Jahrhunderts datierten Handschrift7 stellt Laokoons Tod etwas anders dar: Hier stürzt sich ein geflügelter Drache vor dem Hintergrund einer zeitgenössischen Architektur auf Laokoon und seine Söhne. Wiederum ein anderer Typus des trojanischen Priesters (Nr. 3) ist der Initiale „P“ in einer Handschrift der Epistolae canonicae septem eingeschrieben:8 Ein steif posierender junger Laokoon wird von einer Schlange umwunden, deren Windung den Bauch des Buchstabens „P“ bezeichnet. Eine Miniatur (Nr. 6) aus einer auf ca. 1450 datierten Äneis-Handschrift,9 die Apollonio di Giovanni zugeschrieben wird, schildert die tragische Episode in zeitgenössischer Tracht, wobei Laokoon orientalisch gekleidet erscheint. Diese erste Reihe von Beispielen basiert offenbar ausschließlich auf der literarischen Überlieferung, ohne jeden Bezug auf eine einheitliche, in der vatikanischen Gruppe kulminierende ikonografische Tradition.10 Was sie gemeinsam haben, ist lediglich ihr semantisches Substrat bzw. ihr „Mythenkern“, um mit dem Philologen Hermann Usener zu sprechen, den Warburg sein Leben lang als Lehrer betrachtete.11 Usener zufolge stellt jedes mythische Motiv und jedes symbolische Bild eine „lebendige Gestalt“ dar, welche eine selbstständige Bewegungsfähigkeit entwickelt, sobald sie von ihrem ursprünglichen Kontext abgetrennt wird.12 Ein „Kern“ bleibe trotz der Metamorphosen des Motivs deutlich erkennbar, weil er aus einem Prozess der „unbewussten Vorstellung“ entstanden war. Selbst bei der „Umwertung“ der mythischen Bilder wird Usener zufolge der Mythenkern nicht vergessen, und „die ursprüngliche Anschauung“ kann „in einer Fülle von Sagen […] unbewusst erhalten werden“.13 Um solche „unbewusste Vorstellungen“ nachzuverfolgen, bedient sich der Philologe eines vergleichenden, etymologischen
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Ansatzes, der sich auf eine psychologische Grundhypothese stützt. Im Anschluss an Giambattista Vicos Begriff der Vorstellung sowie an dessen Auffassung der Epochen menschlicher Geschichte setzt Usener eine Kontinuität von Mythen, Volksglauben und Begriffsbildungen voraus, die sich über geografische und epochale Grenzen hinweg erstreckt. Useners etymologische Methode beruft sich letztendlich auf biologische Prinzipien und eine evolutionistische Theorie der Sprache, die mit der ‚phylogenetischen‘ Untersuchung von Bildern in Warburgs Atlas vergleichbar ist.14 Schaut man in die obere rechte Ecke von Tafel 41a, so kommt dieser visuell-formale „Mythenkern“ in unerwarteter Weise zum Vorschein: Obwohl alle hier gezeigten Objekte vor der Wiederentdeckung der vatikanischen Statue entstanden sind, lassen sie sich doch unverkennbar auf diese beziehen.15 Ein um 1494–1495 ausgeführtes Gewölbefresko von Filippino Lippi in der Cappella Strozzi in Santa Maria Novella in Florenz, das den Patriarchen Adam darstellt (Nr. 7A), lässt sich morphologisch in die obere linke Gruppe von Beispielen einordnen und schließt somit diese erste Reihe ab. In ihrer stark nach rechts und leicht nach unten geneigten Kopfhaltung ist diese Figur dem Vatikanischen Laokoon nahe verwandt, wie in der Forschung mehrmals bemerkt wurde, obwohl ein spezifisches Bindeglied der ikonografischen Überlieferung heute nicht mehr greifbar ist. Das Detail des Kopfes von Adam ist zu einer Art Close-up vergrößert und auf einer Diagonale nach unten rechts positioniert (Nr. 7B), sodass es ein Pendant zu einem weiteren Haupt bildet, das in der obersten Reihe sitzt, nämlich Antonio Pisanellos auf ca. 1435 datierte Zeichenstudie eines bärtigen Kopfes (Nr. 4), die wohl eine Figur in einem die Legende des heiligen Georg darstellenden Fresko in Verona vorbereiten sollte.16 Dieser Kopf wurde in der kunsthistorischen Forschung häufig mit Laokoon verglichen und auf eine antike, griechische Statue zurückgeführt, etwa durch Warburgs Kollegen Adolfo Venturi.17 Rechts neben dem bärtigen Haupt ist eine weitere Zeichnung nach der Antike von Pisanello platziert (Nr. 5) – ein Zentaur, der ein Mädchen entführt.18 Zwischen die beiden bärtigen Köpfe ist wiederum eine Studie von Filippino Lippi eingefügt (Nr. 8): Es handelt sich um eine auf 1490–1495 datierte Zeichnung, welche den Tod des Laokoon darstellt und aus Filippinos Vorstudien für ein nicht realisiertes Fresko in der Villa Medici in Poggio a Caiano entnommen ist. Die Komposition ‚erinnert‘ dabei an ein Wandgemälde in Pompeji,19 dessen archäologische Erschließung jedoch bekanntlich erst 1748 erfolgte, sodass Filippino keine (direkte) Kenntnis dieser antiken Vorbilder gehabt haben konnte, als er seine Studie anfertigte.20 Rechts neben Filippinos Zeichnung befindet sich ein auf 1460–1470 datierter Kupferstich aus Florenz (Nr. 9), der die pathetisch aufgeladene Bekehrung des Apostels Paulus durch das plötzliche Erscheinen Christi darstellt. Der Künstler zeigt verschiedene Momente der Erzählung gleichzeitig, wobei die über-
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natürliche Epiphanie die vielen, in die Landschaft verstreuten Figuren in Bewegung zu setzen scheint. Filippinos Zeichnung des Todes des Laokoon ist als Brennpunkt all dieser Beispiele wie auch als Bindeglied zwischen den beiden bärtigen Köpfen in Szene gesetzt. Der Aufbau von Tafel 41a lässt dabei eine gewisse Symmetrie erkennen: Die Fotografien sind horizontal in fünf mehr oder weniger regelmäßige Reihen zusammengezogen, während vertikal eine chronologische Ordnung vorzuherrschen scheint. Filippinos Zeichnung spielt auf ein visuelles und kulturelles Wissen an, das zu seiner Zeit zwar sehr verbreitet war, heute jedoch nur schwer zu rekonstruieren ist. Ihr Erscheinen im Zentrum der Tafel signalisiert also ein rätselhaftes Bindeglied der bildlichen Überlieferung und übt vom Bildgedächtnis aus eine geradezu magnetische Anziehungskraft auf die anderen Beispiele der Tafel aus. Bis auf eine einzige Ausnahme21 sind alle Kunstwerke, die Warburg hier zusammenstellt, direkte und bewusste Reprisen der vatikanischen Statue: von den drei Schalen aus dem 16. Jahrhundert,22 welche mittig arrangiert sind (Nr. 10–12) und die frühe Rezeption der rasch berühmt gewordenen vatikanischen Marmorgruppe dokumentieren, bis zu den zehn, in der unteren Hälfte der Tafel angeführten Beispielen (eine Kleinbronze, vier Kupferstiche, eine Gemme, ein Holzschnitt, eine Buchillustration und zwei Gemälde von Giulio Romano und El Greco).23 Wenn man die Tafel von oben nach unten liest, fällt aber unmittelbar das Fehlen des entscheidenden, nur implizit vorhandenen Bildes – die „antike Vorprägung“ – auf, welches die obere mit der unteren Gruppe von Fotografien verknüpft. Dieser implizite (und nicht bloß suggestive) Verweis auf die berühmteste Darstellung des Laokoon- Mythos, die auf Tafel 6 erscheint, stellt also die von Warburg verfolgte etymologische Rekonstruktion einer semantisch-bildlichen Wurzel der „Gebärdensprache“ in den Vordergrund.24 Ganz ähnlich war auch die ‚philologische’ Archäologie der Zeit auf der Suche nach den verlorengegangenen „griechischen Originalen“ der nur in römischen Kopien erhaltenen Statuen, die mittels Taxonomien von Typen bzw. Bildformeln rekonstruiert werden sollten. Warburgs Atlas erweiterte diesen typologischen Ansatz um das anthro pologische und psychologische Element des „Ausdrucks“: Morphologisches und genealogisches Denken fließen so gleichsam ineinander. Man könnte mit Usener sagen, dass die Bilder auf Tafel 41a einen wirkungsvollen Bestand an „unbewussten Vorstellungen“ zu Tage fördern, und dass Warburg die „Vorgänge unbewussten Vorstellens“ als einen Prozess der „Einverseelung der Ausdruckswerte“ sowie auch als „unbewusstes Gedächtnis“ im Sinne der physiologischen Psychologie zu ‚übersetzen‘ und zu charakterisieren sucht. Für die Klärung der letzteren Termini sollte aber auch eine weitere theoretische Quelle in Betracht gezogen werden: die Schriften des Physiologen und Gedächtnisforschers Ewald Hering.
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„Unbewusstes Gedächtnis“: der nachhaltige Einfluss der physiologischen Psychologie Warburgs Lektüre der physiologischen Psychologie lässt sich in seinen frühen wissenschaftlichen Aufzeichnungen nachweisen, in den sogenannten Fragmenten zur Ausdruckskunde25 – eine Art tagebuchartige Sammlung von Aphorismen, die zwischen 1888 und 1905 entstanden sind. Diese dokumentieren zahlreiche terminologische Entlehnungen aus der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Literatur, die Warburgs Sprachkonstruktionen bis hin zu seinen späten Arbeiten nachhaltig prägen sollten. In denselben Jahren, als er in den Florentiner Archiven die italienische Frührenaissance erforschte, ging Warburg auch allgemeineren Fragen nach und verfolgte die ‚Dynamik’ der kulturellen Überlieferung, insbesondere der künstlerischen Schöpfung, indem er verschiedene, zu seiner Zeit innovative psychologische Ansätze in sein Denken aufnahm. Der in den Fragmenten oft wiederkehrende Terminus „Erinnerungsbild“ etwa stellt eine lexikalische Spur dar, die auf die physiologische Gedächtnisforschung und insbesondere auf Ewald Hering verweist.26 Warburg verwendet diesen Begriff erstmals 1890 in einem Fragment, das eine „Wissenschaft von den Bildern“ aufruft.27 Ein Jahr später notiert er: „Kunst – der Akt der Reproduction eines einzelnen Erinnerungsbildes des socialen Organismus“.28 Etwas umfassender bezieht er dann im April 1897 eine „bewußte oder unbewußte Function der Erinnerung (organisierte Materie)“ auf die Rolle des „Hintergrunds“ in künstlerischen Darstellungen.29 Ganz ähnlich heißt es in einer Notiz von 1902, das „Gedächtnis des sozialen Körpers des bekannten Hintergrunds“30 decke sich mit Herings „Gedächtnis als organisirte Materie“. Mehr als zwanzig Jahre später schreibt Warburg programmatisch: Die Frage ist: Wie entstehen die sprachlichen oder bildförmigen Ausdrücke, nach welchem Gefühl oder Gesichtspunkt, bewusst oder unbewusst, werden sie im Archiv des Gedächtnisses aufbewahrt und gibt es Gesetze, nach denen sie sich niederschlagen und wieder heraus dringen? Das von Hering so glücklich formulierte Problem ‚Das Gedächtnis als organisierte Materie‘ soll mit den Mitteln meiner Bibliothek beantwortet werden.31
In einem einflussreichen Vortrag von 187032 hatte Hering argumentiert, dass im Gedächtnis geistige und materielle, bewusste und unbewusste Faktoren direkt voneinander abhängig sind. Ein solchermaßen konzipiertes Erinnerungsvermögen schien der damals kontrovers diskutierten Darwin‘schen Vererbungslehre entgegenzulaufen. So war der britische Schriftsteller Samuel Butler, der Herings Vortrag 1880 unter dem Titel
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nconscious Memory ins Englische übersetzte,33 bemüht, die Vorstellung einer durch reiU nen Zufall wirkenden „natürlichen Auslese“ zu widerlegen. Gleichzeitig verteidigte er die vorausgegangenen Erklärungshypothesen eines Lamarcks und eines Erasmus Darwin, die beide versuchten, nachvollziehbare Gründe für biologischen Wandel auszumachen. Warburg suchte ebenso psychologische Gesetze innerhalb kultureller und künstlerischer Phänomene, um sie damit der Unberechenbarkeit zu entziehen, wie seine frühen Aufzeichnungen bezeugen. Die Arbeit an seiner eigenen Sprache spiegelte diese Suche. So verknüpfte er verschiedene Fäden zu formelhaften Ausdrücken. Wie Edgar Wind beobachtete, bemühte sich Warburg seine Formulierungen zu verfeinern, „oft auf dem bitteren Weg durch ein zähes Hin- und Hertauschen, das er gern zur Erprobung der Reichweite und Dichtheit seiner Begrifflichkeiten anwandte“. Als bezeichnendes Beispiel nennt Wind Warburgs „Begeisterung“ für die Einfühlungstheorie, die einige besonders eigentümliche Wortprägungen erklärt: „Tatsächlich fanden auch einige, etwas übertrieben ausgefeilte Unterscheidungen, wie ‚Einfühlung, Anfühlung, Zufühlung‘, von Vischer eingebracht, ihr Echo in einem von Warburgs frühesten Versuchen, zwischen den verschiedenen Arten magischer Aneignung zu differenzieren (‚Einverleibung, Anverleibung, Zuverleibung‘).“34 Seine Versuche, historische Gegebenheiten durch den Aufbau der Sprache zu differenzieren und zu klassifizieren, reicherte Warburg zumindest seit 1905 mit Bildtafeln an,35 die seine formelhafte Ausdrucksweise auch visuell anschaulich machten. Erst der Bilderatlas wird es ihm aber erlauben, Detailuntersuchungen und „allgemeine Ideen“ umfassend zusammenzuführen: Letztere seien – Warburgs Ansicht nach – durch die individuellen Bilderreihen, den synchronen Überblick einer einzelnen Tafel sowie den Atlas insgesamt nachgewiesen. Der übergreifende philologisch-vergleichende Blick à la Usener verband sich mit der Tendenz zur Formalisierung im naturwissenschaftlichen Sinne. Insofern Hering das Gedächtnis als ein Vermögen der Hirnsubstanz definierte, ließ es sich auch als gesetzmäßige, möglicherweise sogar berechenbare „allgemeine Funktion“ darstellen. Wenn Materie und Bewusstsein als veränderliche Größen aufgefasst werden, dann erscheinen die Phänomene des Geisteslebens als „Funktionen“ von Veränderungen in der organisierten Substanz und umgekehrt. Das Modell ist dabei komplexer gedacht als ein einfaches Verhältnis von Ursache und Wirkung: So dehnt Hering den Begriff des Gedächtnisses auch auf ungewollt ablaufende „Reproduktionen von Empfindungen, Vorstellungen, Gefühlen und Strebungen“36 aus. Selbst Warburgs Auffassung von „Pathosformeln“ als „Vorprägungen“ ließe sich demnach eng an Hering anlehnen. Diesem zufolge „prägen“ sich Wahrnehmungen dem „Sinnengedächtnis“ insofern ein, als eine innere Empfindung längst vergangene Eindrücke und Erlebnisse wiederaufrufen kann. Das konkrete Sinneserlebnis lasse in unserem
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Nervensystem eine materielle Spur zurück, die sich molekular niederschlage. Oft Empfundenes und Wahrgenommenes reproduziere sich mit der Zeit auch ohne äußeren Reiz, sodass sich Eigenschaften, die vielen Wahrnehmungsgegenständen gemeinsam sind, von ihren Trägern lösen und als Vorstellungen oder Begriffe eine eigenständige Existenz gewinnen. Hering setzte aber noch eine entscheidende Pointe: Während das bewusste, individuelle Gedächtnis mit dem Tod erlösche, bleibe das unbewusste Gedächtnis der Natur unaustilgbar. Bekanntlich sollte Richard Semon einen solchen Ansatz später in seiner Theorie der Engramme weiterentwickeln.37 Für Herings Konzeptualisierung des „unbewussten Gedächtnisses“ der Natur spielen sowohl der biologische Begriff der Reproduktion als auch das Gegensatzpaar „Assimilierung“ und „Dissimilierung“ eine entscheidende Rolle, wobei Letztere eine Wortprägung Herings darstellt, die die „Assimilierung“ spiegelte. In seinem Gedächtnis-Vortrag nimmt der Physiologe allerdings an, dass die „gegenseitige Abhängigkeit zwischen Geistigem und Materiellem gleichfalls eine gesetzmäßige sei“.38 Ebenso hatte Hermann Usener versucht, durch die Berufung auf das Unbewusste eine Gesetzmäßigkeit der geistigen Entwicklung zu entdecken und die Wiedererkennbarkeit der „Mythenkerne“ über eine rein zufällige „Vielfältigkeit und Mehrdeutigkeit“ der Bilder und mythischen Erzählungen hinaus zu erklären, wie wir oben gesehen haben. „Die Schöpfung eines Wortes ist Reflex der seelischen Erregung“,39 schrieb Usener in seinem Hauptwerk zu den Götternamen und postulierte somit einen unmittelbaren, gleichsam gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen Vorstellung und Ausdruck, der eine bestimmte „Entwicklungsgeschichte der Seele“ voraussetzt.40
Sprachliche Spuren In einem im Oktober 1905 gehaltenen Vortrag über Dürer und die italienische Antike behauptete Warburg, dass die Ausgrabung des Laokoon 1506 nur das ans Licht brachte, „was man längst in der Antike gesucht und deshalb gefunden hatte; die in erhabener Tragik stilisierte Form für Grenzwerte mimischen und physiognomischen Ausdrucks. [...] Es war das Volkslatein der pathetischen Gebärdensprache, das man international und überall da mit dem Herzen verstand, wo es galt, mittelalterliche Ausdrucksfesseln zu sprengen“.41 Die Beschreibung des bildlichen Ausdrucks als „Volkslatein“ weist auf einen Grundzug des Bilderatlas hin, der nicht zuletzt als ein Wörterbuch von Pathosformeln aufgefasst werden kann. Das zeigte sich besonders deutlich in einer Anfang 1927 in der
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Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg organisierten Ausstellung, die den Titel Urworte leidenschaftlicher Gebärdensprache42 trug und den Mnemosyne-Bilderatlas vorausnahm. Auf einer der insgesamt sieben ausgestellten Tafeln hatte Warburg unter dem Stichwort „Klage“ eine Reproduktion der vatikanischen Marmorgruppe neben den beiden Fotografien von Filippino Lippis Florentiner Fresko mit dem Patriarchen Adam (Gesamtansicht und Detail des Kopfes) angebracht, die er später im Bilderatlas wiederverwenden sollte. Diese Nebeneinanderstellung weist auf eine spezifische Pathosformel hin, deren semantisches Substrat im Goethe‘schen Sinne als „Urwort“ zu verstehen ist. Die Bildtafel lässt sich damit als kondensierte Zusammenfassung dessen verstehen, was Warburg in der komplexeren Montage des Bilderatlas nur noch durch den Verweis zwischen den beiden Tafeln 6 und 41a implizit signalisieren wird. Hierin scheint sich eine prinzipielle Akzentverschiebung zu manifestieren, insofern die visuelle Eigenlogik des Bilderatlas von den Gegenständen, d. h. den einzelnen Pathosformeln oder „Urworten“, auf den Prozess der Überlieferung selbst (auch durch impliziten Kurzschluss wie im Fall von Tafel 41a) verweist. Aufgrund seiner außerordentlichen Nachwirkung und seinem besonderen kulturellen Status könnte das hier angeführte Beispiel der beiden Laokoon-Tafeln noch zahllose weitere Assoziationen hervorrufen: Als „Urwort“, „vorgeprägter Ausdruckswert“ oder als eine „in erhabener Tragik stilisierte Form für Grenzwerte mimischen und physio gnomischen Ausdrucks“ würde die Pathosformel des Laokoon für spätere Autoren ein exemplum doloris43 darstellen. Parallel dazu spielte die Gruppe bekanntlich in der Kunstliteratur und Ästhetik von Lessing bis Goethe und Winckelmann, von Sergei Eisenstein bis Rudolf Arnheim und Clement Greenberg eine paradigmatische Rolle. Warburg selbst bezeichnete Lessings Laokoon als causa movens seiner gesamten Forschungstätigkeit.44 Wird man sich allerdings bewusst, dass Warburg anhand dieses Beispiels von einer spezifischen Pathosformel zur kulturellen und künstlerischen Überlieferung überhaupt rückschließen wollte, so erscheint die Wortbildung „Einverseelung“, mit der Warburg diesen Prozess bezeichnet, in einem anderen Licht: als Verdichtung einer langjährigen Auseinandersetzung mit scheinbar heterogenen Quellen. Das Wort, das entsprechend der psycho-physischen „Einverleibung“ Assimilation und Aneignung umfasst, ist in Warburgs Schriften der 1920er-Jahre noch als Verb („einverseelen“) und in einer erneuten Variation („energetische Umverseelung“) bezeugt,45 wurde also gewissermaßen zu einem festen Begriff in seinem Vokabular. Die Konzeptualisierung des „unbewussten Gedächtnisses“, die ihm zugrunde liegt, verbindet physiologische Psychologie und vergleichende Philologie, und basiert außerdem – wie hier nur kurz erwähnt werden kann – auf einem intensiven Studium der Sym-
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boltheorie, insbesondere des berühmten Symbol-Aufsatzes Friedrich Theodor V ischers. Dessen Auffassung des Symbols als „Verknüpfung von Bild und Inhalt“46 beinhaltete auch eine Substitutions- oder Vergleichstheorie, die einen Auswahlmechanismus impliziert. So liest man unter Warburgs Aphorismen, die durch die Lektüre von Vischer angeregt wurden: „Das Zeichen beruht auf einer Art willkürlichen Vergessen.“47 Am 6. Juni 1891 notierte Warburg unter dem Titel „Denken u. Entfernung“: „Man hat zwischen Besitz- und Bezeichnungsurteilen zu scheiden. Die ersteren Urteile zeigen d. Beginn des Vergessens d. Entferntseins. Die Kunstproduction steht zwischen diesen beiden.“48 Und noch in einem Fragment vom 29. Januar 1892: Das Symbol ist ein bildlicher Ausdruck, der hervorgerufen wird durch die Unfähigkeit des Anschauenden zum Vergleich des Objekts in seinem engeren Umfang. D. Anhaltspunkt für den Vergleich im engeren Umfang giebt der statische Teil. Dieser statische Teil wird – willkürlich – vergessen und durch ein Bild, das den mimischen Teil intensiver wiedergiebt ersetzt.49
Dieses letztere Element in Warburgs Untersuchungen zum „unbewussten Gedächtnis“ hebt einen weiteren wesentlichen Aspekt der „Einverseelung“ hervor, der den Begriff mit einer weiteren Quelle kurzzuschließen scheint. Möglicherweise vor dem Hintergrund sinnesphysiologischer Diskurse zur Mythen- und Religionsgeschichte sowie zur nachhegelschen Ästhetik, die damals in der Luft lagen, ist Friedrich Nietzsches Schrift Zur Genealogie der Moral aufgerufen: Vergesslichkeit ist keine blosse vis inertiae, wie die Oberflächlichen glauben, sie ist vielmehr ein aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen, dem es zuzuschreiben ist, dass was nur von uns erlebt, erfahren, in uns hineingenommen wird, uns im Zustande der Verdauung (man dürfte ihn „Einverseelung“ nennen) ebenso wenig in’s Bewusstsein tritt, als der ganze tausendfältige Prozess, mit dem sich unsre leibliche Ernährung, die sogenannte ‚Einverleibung‘ abspielt.50
1 Martin Warnke, Claudia Brink (Hg.): Aby Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne. Gesammelte Schriften. Studienausgabe, Bd. II, 1, Berlin 2003, S. 3. Vgl. auch den Katalog in 13 Heften zu der Ausstellung, die Ende 2016 im Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe stattgefunden hat: Forschungsgruppe Mnemosyne 8. Salon (Hg.): Baustelle 1–13. Aby Warburg: Mnemosyne Bilderatlas. Rekonstruktion – Kommentar – Aktualisierung, Ausstellungskatalog, Hamburg/Karlsruhe 2016; sowie die verschiedenen nicht-deutschen Ausgaben, darunter: Munemoshune atorasu [Mnemosyne Atlas], mit Kommentaren von Ito Hiroaki, Kato Tetsuhiro, Tanaka Jun, Tokio 2012; El Atlas de imágenes Mnemosine, hg. v. Linda Báez Rubí, 2 Bde., Coyoacán, México 2012; L’Atlas Mnémosyne, hg. v. Roland Recht, Paris 2012; Atlas obrazów Mnemosyne, hg. v. Pawel Brozynski, Malgorzata Jedrzejczyk, Warschau/Krakau 2016.
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2 So Warburg in einem Brief: Warburg Institute Archive (WIA), General Correspondence (GC), Aby Warburg an Moritz von Geiger, 17. November 1925, zitiert nach Thomas Hensel: Wie aus der Kunstgeschichte eine Bildwissenschaft wurde. Aby Warburgs Graphien, Berlin 2011, S. 12. 3 Vgl. Aby Warburg: Vom Arsenal zum Laboratorium (1929). In: ders.: Werke in einem Band, hg. v. Martin Treml, Sigrid Weigel, Perdita Ladwig, Berlin 2010, S. 683–694. 4 Hier sei lediglich auf zwei Warburg mit Sicherheit bekannten Studien seiner Lehrer verwiesen: Reinhard Kekulé: Zur Deutung und Zeitbestimmung des Laokoon, Berlin/Stuttgart 1883 sowie Adolf Michaelis: Geschichte des Statuenhofes im Vatikanischen Belvedere. In: Georg Reimer (Hg.): Jahrbuch des Kaiserlichen Deutschen Archäologischen Instituts, 1890, Band 5, Heft 1, S. 5–72. 5 Vgl. insbesondere Richard Förster: Laokoon im Mittelalter und in der Renaissance. In: Jahrbuch der Königlich Preußischen Kunstsammlungen, 1906, Band 27, Heft 3, S. 149–178. 6 Cod. Vat. lat. 2761, fol. 15r. Die Miniaturen werden Jacopo da Fabriano zugeschrieben. 7 Es handelt sich um die lateinische Version der trojanischen Geschichte, die mit dem Titel „Excidium Troiae“ in der Biblioteca Riccardiana in Florenz (Ms. 881) aufbewahrt wird. Auf Warburgs Tafel 41a ist das Folio 59r wiedergegeben. 8 Wien, Universitätsbibliothek, Cod. 1055, theol. 453, fol. 11v. 9 Florenz, Biblioteca Riccardiana, Cod. 492, fol. 77v. 10 Für die Marmorgruppe ist Plinius: Nat. Hist., XXXVI, 37 die einzige erhaltene, antike, schriftliche Quelle. 11 Warburg besuchte Useners Vorlesungen in Bonn zu Beginn seines Studiums; seine Mitschrift zu Useners Kurs „Mythologie“ wird unter der Signatur: Warburg Institute Archive (WIA), III.31.1.1 (Heft, Bonn 1886–87) aufbewahrt. Vgl. dazu: Ernst H. Gombrich: Aby Warburg. An Intellectual Biography, London 1970, S. 25–42; Maria Michela Sassi: Dalla scienza delle religioni di Usener ad Aby Warburg. In: Arnaldo Momigliano (Hg.): Aspetti di Hermann Usener filologo delle religioni, Pisa 1982, S. 65–91; Roland Kany: Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin, Tübingen 1987; Antje Wessels: Ursprungszauber. Zur Rezeption von Hermann Useners Lehre von der religiösen Begriffsbildung, Berlin/New York 2003. 12 Hermann Usener: Die Sintfluthsagen, Bonn 1899, Kap. VI: „Vielfältigkeit und Mehrdeutigkeit mythischer Bilder“, S. 194: „Wenn man sich in die Redeweise dieser alten Dichtungen versenkt, muss man fühlen, wie das mythische Bild in der Vorstellung der Dichter ein Leben für sich gewonnen hat. Diese Bilder sind lebendige Gestalten, die ohne Rücksicht auf die zu Grunde liegende Anschauung wie aus dem ursprünglichen Zusammenhang gelöst ihre eigene Bewegungsfähigkeit besitzen. Das ist der Grund und die Voraussetzung für die wunderbare Triebkraft, die das mythische Bild in der Ausgestaltung zu Mythen beweist.“ 13 Usener (s. Anm. 12), S. 213. 14 Wie es Roland Kany zusammengefasst hat: „Was Usener für die religiöse Begriffsbildung zu leisten sucht, möchte Warburg in seinem Atlas für die Welt der Bildersprache verwirklichen.“; Kany (s. Anm. 11), S. 185. 15 Vgl. Dorothée Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene. Ein Kommentar zu Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 110–111. 16 Es handelt sich um die Legende des heiligen Georg in S. Anastasia in Verona. Die Zeichnung wird in Paris, Musée du Louvre, Departement des Arts Graphiques aufbewahrt. 17 Adolfo Venturi: La R. Galleria Estense in Modena, Modena 1882, S. 81, Taf. 29. 18 Auch diese Zeichnung, ebenfalls auf ca. 1435 datiert, befindet sich in Paris, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques. 19 Vgl. den „Tod des Laokoon“ in der Casa del Laocoonte in Pompeji; eine fotografische Reproduktion wurde von Warburg für Tafel 6 verwendet. 20 Erhalten sind nur zwei Zeichnungen, eine in den Uffizien in Florenz und die andere in einer Privatsammlung (ehemals in Rotterdam). Vgl. z. B. Peter Halm: Das unvollendete Fresko des Filippino Lippi in Poggio a Caiano. In: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz, Juli 1931, Band 3, Heft 7, S. 393–427. 21 Der Holzschnitt aus einer 1502 in Straßburg publizierten Vergil-Ausgabe ist das einzige Bild in dieser Gruppe, das vor der Entdeckung der antiken Statue entstand: Publii Vergilii Maronis Opera, Straßburg, Johan Grüninger 1502, fol. 162v. Einzelne Details verbinden diesen Holzschnitt mit der Tradition, zu der das illustrierte Manuskript des spätantiken, sogenannten Vatikanischen Vergil (Vat. lat. 3225) gehört. Die Reproduktion einer Miniatur aus dem Vat. lat. 3225, fol. 18v befindet sich auf Tafel 6. 22 Es handelt sich um zwei Schalen im Kunstgewerbemuseum in Berlin – die eine aus Faenza, die andere aus Gubbio – und einen Rundschild aus Oberitalien aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, der im Louvre aufbewahrt wird.
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23 Warburgs Assistent Fritz Saxl war der erste, der in diesem Gemälde El Grecos einen Verweis auf antike Vorbilder erkannte: Vgl. seine Rezension von August L. Mayer: El Greco. Eine Einführung in das Leben und Wirken des Domenico Theotocopuli, genannt El Greco, München 1911; Fritz Saxl: Rezension von August L. Mayer: Dominico Theotocopuli El Greco. In: Kritische Berichte zur Kunstgeschichtlichen Literatur, 1927/28, Band 1–2, S. 86–96. 24 Man denke nur an den bekannten, fiktiven Briefwechsel zwischen Warburg und André Jolles über die Figur der Ninfa oder an weitere Beispiele im Bilderatlas selbst, wie die Figuren von Orpheus (Tafel 5) und Medea (Tafel 5 und 73). 25 Vgl. Susanne Müller (Hg.): Aby Warburg. Grundlegende Bruchstücke zu einer pragmatischen Ausdruckskunde/Frammenti sull´espressione. Kritische Edition, mit einer italienischen Übersetzung von Maurizio Ghelardi, Giovanna Targia, Pisa 2011. Vgl. Ulrich Pfisterer, Hans-Christian Hönes (Hg.): Aby Warburg: Fragmente zur Ausdruckskunde. Gesammelte Schriften. Studienausgabe, Bd. IV, Berlin 2015 (im Folgenden GS IV). 26 Ewald Hering: Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie. Vortrag gehalten in der feierlichen Sitzung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien am 30. Mai 1870. In: Heinrich Ewald Hering (Hg.): Fünf Reden von Ewald Hering, Leipzig 1921, S. 5–31, besonders S. 8. Obwohl keine direkte Linie zu den Werken des Wiener Psychologen Ernst Brücke und des Archäologen Emanuel Löwy nachweisbar ist, würde diese zeitliche und theoretische Parallele eine nähere Betrachtung verdienen. 27 Frammenti sull’espressione (s. Anm. 25), S. 44 (Fragment Nr. 56, 18.III.1890); vgl. GS IV, S. 34. Interessanterweise wird der Begriff „Erinnerungsbild“ in diesem Fragment als Pendant zu „Augenblicksbild“ verwendet, was möglicherweise auf Useners „Augenblicksgötter“ anspielt. 28 Frammenti sull’espressione (s. Anm. 25), S. 81 (Fragment Nr. 208, 8.IX.1891); vgl. GS IV, S. 99. 29 Frammenti sull’espressione (s. Anm. 25), S. 125 (Fragment Nr. 355, 4.IV.1897); vgl. GS IV, S. 179. 30 Frammenti sull’espressione (s. Anm. 25), S. 150 (Fragment Nr. 426, 13.II.1902); vgl. GS IV, S. 218. 31 Aby Warburg: Reiseerinnerungen aus dem Gebiet der Pueblo Indianer in Nordamerika. Fragmente zur Psychologie der primitiven Kunstübung, Vortrag, gehalten in Kreuzlingen am 27. Oktober 1923. In: Werke in einem Band (s. Anm. 3), S. 567–600, hier S. 582. 32 Zum Einfluss dieses Textes auf Warburg vgl. z. B. umfassend: Andrea Pinotti: Materia è memoria. Aby Warburg e le teorie della Mneme. In: Cestelli Guidi, M. Forti, M. Pallotto, Claudia Cieri Via, Pietro Montani (Hg.): Lo sguardo di Giano. Aby Warburg fra tempo e memoria, Torino 2004, S. 53–78. 33 Samuel Butler: Unconscious Memory. A Comparison between the Theory of Dr. Ewald Hering and the ‘Philosophy of the Unconscious’ of Dr. Edward von Hartmann, London 1880. 34 Edgar Wind: On a recent Biography of Warburg. In: ders.: The Eloquence of Symbols. Studies in Humanist Art, hg. v. Jaynie Anderson, Oxford 1983, S. 106–113, hier S. 109 (deutsche Übersetzung in: ders.: Heilige Furcht und andere Schriften zum Verhältnis von Kunst und Philosophie, hg. v. John Michael Krois, Roberto Ohrt, Hamburg 2009, S. 374–394, hier S. 382); Robert Vischer: Über das optische Formgefühl. Ein Beitrag zur Aesthetik, Leipzig 1873; vgl. Warburg Fragment Nr. 299, 27.I.1896, in: Frammenti sull’espressione (wie Anm. 25), S. 107 und GS IV, S. 145. Zum Verhältnis Warburgs zur Einfühlungstheorie vgl. auch Sabine Mainberger: „Tragödie der Verleibung“. Zu Aby Warburgs Variante der Einfühlungstheorie. In: Jutta Müller-Tamm, Henning Schmidgen, Tobias Wilke (Hg.): Gefühl und Genauigkeit. Empirische Ästhetik um 1900, München 2014, S. 105–135. 35 Vgl. dazu: Marcus A. Hurttig: Die entfesselte Antike. Aby Warburg und die Geburt der Pathosformel, Köln 2012. 36 Hering (s. Anm. 26), S. 11. 37 Richard Semon: Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, Leipzig 1904. Vgl. dazu: Daniel L. Schacter: Forgotten Ideas, Neglected Pioneers. Richard Semon and the Story of Memory, Philadelphia, PA 2001. 38 Hering (s. Anm. 26), S. 8–9. 39 Hermann Usener: Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung, Bonn 1896, S. 56–57. 4 0 Vgl. dazu Wessels (s. Anm. 11), S. 44–45. 41 Aby Warburg: Dürer und die italienische Antike. In: Horst Bredekamp, Michael Diers (Hg.): Gesammelte Schriften. Studienausgabe, Band I, 2, Berlin 1998, S. 449. Der Passus hallt in dem späteren Vortrag über den „Eintritt des antikisierenden Idealstils in die Malerei der Frührenaissance“ nach (zit. nach der englischen Übersetzung: Matthew Rampley: Aby Warburg. The Entry of the Idealizing Classical Style in the Painting of Early Renaissance. In: Richard Woodfield (Hg.): Art History as Cultural History. Warburg’s Projects, Amsterdam 2001, S. 28: „if it had not discovered it, the Renaissance would have invented the Laocoon, just because of its moving and eloquent pathos“. Zum Begriffspaar Mimik-Physiognomik siehe Theodor Piderit: Mimik und Physiognomik, Detmold 1867: Der aus-
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drucksstarke Kopf des Vatikanischen Laokoon fand Eingang in das bildliche Repertoire dieses Buches, S. 68 und Fig. 14 (Warburg besaß die zweite Auflage, Detmold 1886). Vgl. die Materialien publiziert in: Uwe Fleckner, Isabella Woldt (Hg.): Aby Warburg. Bilderreihen und Ausstellungen. Gesammelte Schriften, Studienausgabe, Bd. II, 2, Berlin 2012, S. 73–97. So definierte Leopold D. Ettlinger die vatikanische Marmorgruppe, als er die Geschichte von deren Rezeption erörterte: vgl. Leopold D. Ettlinger: Exemplum doloris. Reflections on the Laocoon Group. In: De Artibus Opuscula XL. Essays in Honor of Erwin Panofsky, Band I, New York 1961, S. 121–126. Dieter Wuttke (Hg.): Aby Warburg. Ausgewählte Schriften und Würdigungen, Baden-Baden (3. Aufl.) 1992, S. 307. Vgl. z. B. Warburgs Text zu Manets Déjeuner sur l’herbe in: Werke in einem Band (s. Anm. 3), S. 648. Vgl. Friedrich Theodor Vischer: Das Symbol. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet, Leipzig 1887, S. 151–193, hier S. 154. Vgl. Frammenti sull’espressione (s. Anm. 25), S. 69 (Fragment Nr. 149, 4.III.1891); vgl. GS IV, S. 76. Vgl. Frammenti sull’espressione (s. Anm. 26), S. 76 (Fragment Nr. 189, 6.VI.1891); vgl. GS IV, S. 90. Vgl. Frammenti sull’espressione (s. Anm. 25), S. 93 (Fragment Nr. 232b, 29.I.1892); vgl. GS IV, S. 121. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, II. Abh. § 1. In: ders.: Werke, hg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, Abt. 6, Band 2, Berlin 1968, S. 291. (Warburg besaß die Leipziger Ausgabe von 1903.) Zu dieser Pendantbildung bei Nietzsche vgl. Richard Meyer: Nietzsches Wortbildungen. In: Zeitschrift für Deutsche Wortschöpfung, 1914, 15, S. 98–146. Über das Verhältnis von Warburg zu Nietzsche vgl. Helmut Pfotenhauer: Das Nachleben der Antike. Aby Warburgs Auseinandersetzung mit Nietzsche. In: Nietzsche-Studien, 1985, 14, S. 298–313.
Yoshikazu Takemine
Die Kraft des Blickes Zum Motiv des Ansehens/Angesehen-Werdens als ästhetischer Erfahrung bei Walter Benjamin Obwohl Walter Benjamin im Herbst 1936 die vorerst letzte Fassung seines Aufsatzes „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ abgeschlossen hatte,1 setzte er die redaktionelle Arbeit an seinem Text dennoch fort. Einer der Schlüsselbegriffe, die er noch einmal unter die Lupe nahm, war die „Aura“: Im Winter 1937 entstand eine Reihe fragmentarischer Manuskripte mit der Überschrift „Zur Aura und zur Reproduktionsarbeit im Allgemeinen“, in denen sich Benjamin mit diesem Begriff erneut auseinandersetzte.2 Um auratische Phänomene präziser zu bestimmen, werden dort ganz verschiedene Themen wie der „Verfall der Skulptur“, „die Photographie im Dienst der Propaganda“ oder die „Schönheit des Films“ behandelt. Im Zentrum steht aber zweifelsohne das Motiv des Blickes bzw. des auf den Ansehenden zurückgewandten Blickes der Natur, aus welchem die Aura emanieren soll. Im Folgenden soll zunächst versucht werden, im Rückgriff auf Benjamins frühe Sprachtheorie die philosophische Substanz der Aura und der zugrundeliegenden Problematik des Ansehens/Angesehen-Werdens zu rekonstruieren. Anschließend ist der „Blick des Klassengegners“, der in den oben genannten Manuskripten ausführlich thematisiert wird, im Kontext hierarchisierter optischer Kontrollmechanismen zu analysieren. Schließlich wird die massenhaft-taktische Filmwahrnehmung im Kunstwerk-Aufsatz bzw. die darin latent wirkende Selbstreflexionsstruktur behandelt, um zu zeigen, dass diese auf die Versöhnung mit der Natur abzielt und in diesem Punkt mit der ästhetischen Erfahrung der Aura heimlich verwandt ist.
Der erwidernde Blick der Natur In einem Brief an Alfred Cohn vom 17. November 1937 schrieb Benjamin mit kaum unterdrückter Aufregung: „Ich fand die lange von mir gesuchte materialistische Definition der ‚Aura‘“.3 Worauf sich diese neue „Definition“ anscheinend bezieht, findet man in einem der oben genannten fragmentarischen Manuskripte:
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Was ist Aura? Die Erfahrung der Aura beruht auf der Übertragung einer in der menschlichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis der Natur zum Menschen. Der Angesehene oder angesehen sich Glaubende erwidert mit einem Blick {schlägt den Blick auf}. Die Aura einer Erscheinung oder eines Wesens erfahren, heißt, ihres Vermögens inne werden, einen Blick zu erwidern {aufzuschlagen}. Dieses Vermögen ist voller Poesie. Wo ein Mensch, ein Tier oder ein Unbeseeltes unter unserm Blick seinen eigenen aufschlägt, zieht es uns zunächst in die Ferne; sein Blick träumt, zieht uns seinem Traume nach. Aura ist Erscheinung einer Ferne so nah sie sein mag. Worte selbst haben ihre Aura; Kraus hat sie besonders genau beschrieben: „Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner blickt es zurück.“4
Diese Passage, die später fast unverändert in „Über einige Motive bei Baudelaire“ (1939) eingefügt wird,5 gilt es mit der ursprünglichen Definition der Aura im Kunstwerk-Aufsatz zu vergleichen: Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges zu atmen.6
Zunächst fällt auf, dass das Motiv der dialektischen Durchdringung von Ferne und Nähe in beiden Definitionen auftaucht. Das konkrete Beispiel eines an einem Sommernachmittag Ruhenden entfällt in der späteren Fassung allerdings; stattdessen wird hier ein verallgemeinerter „Blick“ eingeführt, welcher der Aura-Erfahrung offenbar eine „materialistische“ Grundlage verleiht. Diese Akzentverschiebung erscheint gravierend. Um der Aura irgendeines Gegenstandes gewahr zu werden, ist es nicht mehr genug, ruhig in der Natur zu sitzen und geistesabwesend in die schöne Umgebung zu blicken. Nun muss man zuallererst etwas ansehen, d. h. aufmerksam betrachten. Daraufhin soll das Angesehene dann seinerseits mit einem aufschlagenden Blick reagieren und zum Ansehenden zurücksehen. Was dabei auratisch wirkt, ist genau genommen nicht der erwidernde Blick des Angesehenen selbst, sondern die Einsicht in dessen „Vermögen […], einen Blick zu erwidern“. Dieses „Vermögen“ steht schon jenseits aller empirischen Beweisbarkeit, weil es als etwas „voller Poesie“ einen imaginären Charakter besitzt. Benjamins Beschreibung wirkt anthropomorphisch, insofern sie menschliche Eigenschaften auf Nichtmenschliches überträgt. Jedoch unterscheidet sich der zurückgeworfene Blick in mindestens einem Punkt vom
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bloßen Produkt der vermenschlichenden Selbstprojektion: Er sei fähig, selbst zu träumen und „uns seinem Traume nach[zuziehen]“. Der Betrachter ist also nicht als anthropozentrisches Subjekt gedacht, das seinen eigenen poetischen Traum willkürlich in die Umwelt projiziert, sondern vielmehr als passives Einwirkungsobjekt. In diesem Sinne bezeichnet die Erfahrung der Aura hier nichts anderes als eine Entsubjektivierung, die unser Sehen plötzlich ins Angesehen-Werden umschlagen lässt, sodass wir widerstandslos in die nahe Ferne oder die ferne Nähe gezogen und dazu getrieben werden, dem Traum eines nicht-menschlichen Anderen zu folgen. Zwar können alle Geschöpfe – „ein Mensch, ein Tier oder ein Unbeseeltes“ – per definitionem die Position des von uns Angesehenen einnehmen. Die Aura wird aber anscheinend insbesondere bei der belebten oder unbelebten Natur spürbar, denn hier geht es gerade um „das Verhältnis der Natur zum Menschen“, d. h. um eine nicht-verbale Umgangsform des Menschen mit anderen Lebewesen (wie einem Tier), leblosen Natur objekten (wie etwa Steinen) oder der landschaftlichen Umwelt (wie einem Gebirgszug am Horizont). Man könnte vermuten, dass Benjamin damit einfach seine ursprüngliche Aura-Auffassung umformuliert. Zwar kommt die Aura auch in ihrer Definition im Kunstwerk-Aufsatz vor allem Naturerscheinungen (den Bergen und dem Zweig) zu, aber sonst ist sie fast ausschließlich auf Kunstwerke bezogen. Hier geht sie aus dem „Hier und Jetzt des Originals“ hervor, d. h. seiner raumzeitlichen Einmaligkeit. Eine solche Eigenschaft ist offensichtlich nicht allen Naturerscheinungen ohne Weiteres zuzuschreiben, denn diese sind nicht immer mit einem bestimmten Zeitpunkt verbunden (auratisch wirken können nicht nur diese Schatten der Zweige). Auch der Kultwert, der ursprünglich im Ritual begründet ist und dem echten Kunstwerk seine Aura verleiht, gehört gewöhnlich nicht zu einem natürlichen Wesen, auch wenn Tiere oder Bäume gelegentlich zu Götzen gemacht wurden. Mit anderen Worten: Die Natur, die in den beiden Aura-Definitionen beschworen wird, scheint mit dem Hauptargument des Kunstwerk-Aufsatzes kaum zu harmonisieren. Etymologisch ist das Wort „Aura“ dem altgriechischen „α’υ΄ρα“ entlehnt und bezeichnet einen „Lufthauch“ oder „Atem“. In seiner ersten Bestimmung des Begriffs scheint Benjamin dieser Konnotation noch Rechnung getragen zu haben, indem er die Aura als etwas zu Atmendes beschrieb.7 Das Atmen weckt darüber hinaus eine weitere Sinnassoziation: das Einblasen des göttlichen Odems. In „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ (1916) hebt Benjamin dieses biblische Motiv hervor: Das Unvergleichliche der menschlichen Sprache ist, daß ihre magische Gemeinschaft mit den Dingen immateriell und rein geistig ist, und dafür ist der Laut das Symbol. Dieses symbolische Faktum spricht die Bibel aus, indem sie sagt, daß Gott dem Menschen den Odem einblies: das ist zugleich Leben und Geist und Sprache.8
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Der „Odem“ ist hierbei mit der „Gabe der Sprache“ gleichgesetzt, mit welcher der Mensch „über die Natur erhoben“ wird.9 Auf den ersten Blick haben solche theologischen Erwägungen wenig mit dem Kunstwerk-Aufsatz gemein, insbesondere weil die Sprache bei der hier beschriebenen Aura-Erfahrung scheinbar keine Rolle spielt. Jedoch findet sich in „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ eine Überlegung, die dem auratischen Blickwechsel zwischen dem Menschen und der Natur strukturell verwandt ist: die Namengebung der Naturdinge durch Adam als Abbild des göttlichen Schöpfungsaktes. Nach dem 2. Kapitel der Genesis soll der Urmensch den Tieren ihre Namen verliehen haben. Insofern der Mensch der Natur etwas gibt, entspricht Adam damit dem Ansehenden in der oben zitierten zweiten Aura-Definition: In beiden Fällen schenkt der Mensch der Naturerscheinung etwas (einen Namen oder einen Blick). Noch wichtiger ist aber, dass Benjamin die Namengebung nicht nur als bloße „Gabe“, sondern auch als „Empfängnis“ bezeichnet. [E]s beruht der Name, den der Mensch der Sache gibt, darauf, wie sie ihm sich mitteilt. Im Namen ist das Wort Gottes nicht schaffend geblieben, es ist an einem Teil empfangend, wenn auch sprachempfangend, geworden. Auf die Sprache der Dinge selbst; aus denen wiederum lautlos und in der stummen Magie der Natur das Wort Gottes hervorstrahlt, ist diese Empfängnis gerichtet. Der Mensch teilt sich Gott durch den Namen mit, den er der Natur und seinesgleichen (im Eigennamen) gibt, und der Natur gibt er den Namen nach der Mitteilung, die er von ihr empfängt[.]10
Als Adam der Natur Namen gibt, „empfängt“ er gleichzeitig die von ihr mitgeteilte „Sprache der Dinge selbst“. In dieser „Empfängnis“ wird dem Menschen gleichzeitig auch das „Wort Gottes“ zuteil, welches in der lautlosen Dingsprache verborgen ist. Beim Benennen der Natur kommt dem Menschen also zugleich der Atem Gottes entgegen, und durch diese Umkehrung des Gebens ins Empfangen geraten die Grenzlinien zwischen Subjekt und Objekt ins Wanken. Hierin wird eine weitere Gemeinsamkeit zum auratischen Angesehen-Werden erkennbar: Durch einen Akt des Gebens gerät der Mensch paradoxerweise in eine passive Lage, die ihm eine überirdische Erfahrung als „Atem“ (Aura/Odem) zuteilwerden lässt. In diesem Sinne kann man sagen, die Aura folge der biblischen Namengebung nach. Indem Benjamin am Ende seiner zweiten Aura-Definition einen rätselhaften Satz – „Worte selbst haben ihre Aura“ – hinzufügt, sucht er damit vielleicht auf jenen mythischen Ursprung der menschlichen Sprache hinzuweisen, der aufs göttliche Einblasen als „Gabe“ zurückgeht.
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Der voyeuristische Blick der Ausbeuter Nach der oben zitierten zweiten Aura-Definition kommt Benjamin auf „das erwachte Auge“ zu sprechen, in dem „der Traum […] erloschen ist“. Dieses traumlose Auge, das zwar keine Aura mehr hervorbringen oder empfinden kann, verliert aber trotzdem nicht „die Kraft des Blickes“: „Dann erst wird sein Blick wirklich eindringlich“.11 Wenn dem Ansehenden keine Erwiderung mehr begegnet, dringt sein Blick umso ungehinderter und gewaltsamer in die Objekte ein. Dieser „erwachte“ Blick steht nach Benjamin im Gegensatz zu „der Geliebten […], die unterm Blick des Geliebten ihr Auge hebt“, und „er beginnt mehr dem Blick zu ähneln, mit dem der Verachtete auf den des Verächters, der Unterdrückte auf den des Unterdrückers erwidert“.12 Der Sprachaufsatz des frühen Benjamin scheint auch diesen neuen Blick vorwegzunehmen: Der Verachtete entspräche dann der Natur, die unter den Menschen „stumm“ geworden ist. Indem der Mensch nach dem Sündenfall „aus der reinen Sprache des Namens heraustritt“ und die Dinge durch die abstrakte Menschensprache „überbenannt“ werden, lässt „die Traurigkeit der Natur […] sie verstummen“.13 Statt seliger Namengebung, durch die Mensch und Natur harmonisch miteinander kommunizieren, herrscht nun gewaltsame Einseitigkeit, mit der das Subjekt das Objekt „unterdrückt“. Während Benjamins Sprachtheorie stark theologisch gefärbt ist, bleibt das Argument im Aura-Fragment durchaus profan. Benjamin führt sogar explizit marxistische Terminologien ein: Solche Bereitschaft des Blickes kann unter Umständen massenhaft auftauchen. Sie tut es, wenn die Spannung zwischen den Klassen einen gewissen Grad überschritten hat. [Es ergibt sich dann, daß] den Angehörigen einer Klasse das Anblicken von Angehörigen der ihr feindlichen nützlich oder auch reizvoll bleibt, durch die ersteren angeblickt zu werden jedoch von den letztern als peinlich oder auch schädlich empfunden wird. So entsteht die Bereitschaft, den Blick des Klassengegners prompt zu parieren; bedrohlich ist sie vor allem von seiten derer, die in der Mehrheit sind. Es kommt zu einer Antinomie. Die Verhältnisse, unter denen die Mehrheit der Ausgebeuteten lebt, entfernen sich immer mehr von denen, die der Minderheit der Ausbeuter geläufig, ja auch nur in der Vorstellung zu vergegenwärtigen sind. [Der Widerspruch in der Lage der letztern besteht darin:] Je mehr {das} Interesse {der letztern} wächst, die ersteren zu kontrollieren, desto prekärer wird seine Befriedung. Vor dem Proletariat bei der Arbeit lassen sich die Nutznießer dieser Arbeit schon seit längster Zeit kaum mehr sehen. Die Blicke, die ihre forschenden dort erwarten, drohen immer bösartiger auszufallen. Unter solchen Verhältnissen hat die Möglichkeit, Angehörige niederer Klasse in Ruhe zu studieren ohne ihrerseits von ihnen studiert zu werden, den größten Wert.14
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Der individuelle Gegensatz zwischen dem Verächter und dem Verachteten wird in dieser Passage auf den kollektiven Klassenkampf übertragen, der hier ausschließlich mit Blicken geführt wird. Im Unterschied zum einvernehmlichen Blickaustausch zwischen Liebenden nimmt „das Anblicken von Angehörigen der […] feindlichen [Klasse]“ sozusagen einen voyeuristischen Charakter an, denn das einseitige Ansehen wird von beiden Parteien als Schaulust erlebt. Das Angesehen-Werden dagegen führt eine „peinlich[e] oder auch schädlich[e]“ Empfindung herbei, die die Aura-Erfahrung negativ umkehrt. Der „Blick des Klassengegners“ ist dabei als Hieb imaginiert, den es wie im Fechten „prompt zu parieren“ gilt. In diesem visuell geführten Duell ist „die Mehrheit der Ausgebeuteten“ von Anfang an in einer ungünstigen Lage, weil ihr die Lebensverhältnisse „der Minderheit der Ausbeuter“ in der Wirklichkeit schwer zugänglich und deshalb „nur in der Vorstellung zu vergegenwärtigen“ sind. In dieser Situation gerät das Lager der „Ausbeuter“ in einen „Widerspruch“. Diese sind immer bemühter, ihre Kontrahenten einer forschenden Kontrolle zu unterwerfen, müssten sich dafür allerdings ihrerseits dem feindlichen, „bösartige[n]“ Blick aussetzen. Um diesem zu entgehen, bedient sich die herrschende Klasse deshalb voyeuristischer Mittel. Ein solches Arrangement, das die optische Kontrolle vieler Menschen durch wenige unsichtbare Überwacher vorsieht, erinnert an den Foucault‘schen Panoptismus. Die technische Reproduzierbarkeit, um die es Benjamin geht, stellt dabei neue mächtige Einflussmittel bereit, mit denen das Proletariat unsichtbarer denn je beobachtet werden kann. Eine Technik, die das ermöglicht, hat, selbst wenn sie vielfältig zu anderen Zwecken verwertet wird, etwas ungeheuer Beruhigendes. Sie kann auf eine längere Frist darüber hinwegtäuschen, wie lebensgefährlich es in der menschlichen Gesellschaft geworden ist. Ohne den Film würde man den Verfall der Aura in einem nicht mehr erträglichen Maße zu spüren bekommen.15
Das technische Medium Film „beruhigt“ die Ausbeuter, weil sie sich durch dieses dazu befähigt sehen, ihren Feind tüchtig „zu studieren“, ohne selbst angesehen zu werden. Gemeint ist damit selbstverständlich nicht die Videoüberwachung, die erst ab den 1960er-Jahren eingesetzt wird, sondern das Schauen von Filmen, die das bescheidene oder miserable Alltagsleben gemeiner Leute darstellen. Beispiele wären etwa die Filmgrotesken Chaplins oder linksorientierte, gesellschaftskritische Filme, wie Kuhle Wampe (1931). Auf der Leinwand lernen die Angehörigen der oberen Klasse die Verhaltens- und Denkweisen des Proletariats kennen, um ihren „Klassengegner“ umso effizienter kontrollieren und revolutionäre Umtriebe im Keim unterdrücken zu können. Der „Verfall der Aura“ wird dabei nicht mehr spürbar, weil der filmische Apparat die antipathische, „eindringlich“ wirkende Blickerwiderung blockiert.
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Der selbstkontrollierende Blick der Masse Während die Herrschenden auf diese Weise die privilegierte Position des ruhig ansehenden Subjekts einnehmen, werden die Beherrschten ihres erwidernden oder widerständigen Blickes beraubt und zum bloßen Schauobjekt der Unterdrücker herabgewürdigt. Die Zukunftsperspektive einer solchen voyeuristischen Selbstentfremdung ist am Ende des Kunstwerk-Aufsatzes skizziert: In einem imperialistischen Krieg würde die Menschheit „ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuß ersten Ranges erleben“.16 Die so anvisierte apokalyptische „Ästhetisierung der Politik“ lässt schließlich das Gegeneinander von Ansehenden und Angesehenen in sich zusammenfallen, sodass alle Menschen gleichermaßen zu einem „Schauobjekt […] für sich selbst“ werden, d. h. zu einem Objekt der politisch-ästhetischen Selbstbeobachtung.17 Die Instanz, die dabei alles sieht, ohne selbst angesehen werden zu können, ist die Kamera, die neben den „Monstreversammlungen“ und „Massenveranstaltungen sportlicher Art“ sogar den „Krieg“ anführt.18 Im Sinne der Frankfurter Schule schlägt hier die Technik, die eigentlich als Mittel zur Naturbeherrschung dienen sollte, in einen allmächtigen Souverän um, dem die bürgerlichen oder faschistischen Subjekte nur noch als „Schauobjekte“ begegnen. Welche Möglichkeiten bleiben dann der proletarischen Masse noch, um aus der optischen Kontrolle auszubrechen und wieder zum Blicksubjekt aufzusteigen? Selbstverständlich ist es nach dem „Verfall der Aura“ ausgeschlossen, jenen unschuldigen Blickkontakt mit der Natur wiedererstehen zu lassen. (Diesen finde man heute laut Benjamin nur noch „[i]m flüchtigen Ausdruck eines Menschengesichts“ in „den frühen Photographien“.19) Die Antwort, die im Kunstwerk-Aufsatz gegeben wird, ist wohlbekannt: das massenhaft geteilte Kinoerlebnis. Was das zeitgenössische Publikum im Kino sehen will, sind nicht professionelle Schauspieler, die fiktive Personen darstellen, sondern vor allem „Leute, die sich […] darstellen“, obwohl „die kapitalistische Ausbeutung des Films“ in den westlichen Ländern diesen „legitimen Anspruch“ im Allgemeinen außer Acht lässt und solche Filme außerhalb von Sowjetrussland nicht produziert werden.20 Hier kommt wieder jene Selbstbeobachtung zum Tragen, die die ästhetische Lust am eigenen Untergang charakterisiert, denn was die Masse gerne auf der Leinwand sieht, ist nichts anderes als ihr reproduziertes Selbst. Der „Anspruch“ der Masse auf ihre filmische Reproduktion basiert eigentlich auf einem „Interesse der Selbst- und somit auch der Klassenerkenntnis“.21 Das Ansehen seiner Spiegelbilder ermöglicht dem Proletariat, über sich selbst zu reflektieren und dadurch „Selbsterkenntnis“ zu gewinnen, während „die Ästhetisierung der Politik“ nur einen narzisstischen Schaugenuss befördert, der die „Selbstentfremdung“ der Menschheit in ihr fatales Ende abgleiten sieht.
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Die Kamera, die den Blick der Filmzuschauer vermittelt, löst dabei jede Distanz auf und lässt alles zusammenfließen: „Der Maler beobachtet in seiner Arbeit eine natürliche Distanz zum Gegebenen, der Kameramann dagegen dringt tief ins Gewebe der Gegebenheit ein.“22 Da der Kamerablick „tief in die Wirklichkeit eingedrungen“ ist,23 kann man wohl sagen, dass er „wirklich eindringlich“ ist, wie das „erwachte Auge“. Jedoch ist dieser Blick dem panoptischen Überwachungsmechanismus sowie der dahinterstehenden Machthierarchie enthoben, sodass er nicht mehr „als peinlich oder auch schädlich“ empfunden wird. Die kinematografische Blickerfahrung entspricht auch nicht mehr der traditionellen Kunstrezeption, die den individuellen Kunstliebhaber seinem Kontemplationsobjekt mit einer inneren „Sammlung“ gegenüberstellte.24 Für die Wahrnehmung der zerstreuten Masse führt Benjamin deshalb eine neue Terminologie ein: die taktische Rezeption. Diese bezeichnet eine ungerichtete Empfindung, wie sie etwa der „Architektur gegenüber“ „durch Gewöhnung“ zustande kommt.25 Die „Schockwirkungen“, denen die Menschen in den Großstädten ausgesetzt sind, könne man erst im Film überwinden, weil dessen Technik es erlaube, wie zum Übungszweck intensive Sinneserlebnisse zu simulieren. So könne man sich durch Repetition allmählich an die moderne Reizumgebung gewöhnen.26 In einer solchermaßen habitualisierten taktischen Wahrnehmung schwankt die Grenze zwischen dem eigenen Leib und den anderen Leibern. Im Kino verschmilzt also der kollektive Körper distanzlos mit seiner Umwelt.27 Hieraus ergibt sich letztendlich „ein Zusammenspiel zwischen der Natur und der Menschheit“, dem man sich ebenfalls durch wiederholende „Übung“ nähern kann.28 Die so verstandene wiedererstandene „Natur“ begegnet dem Menschen allerdings nicht mehr mit einem aufgeschlagenen Blick, denn die dafür nötige Distanz ist ausgelöscht worden. Nicht durch auratischen Blickaustausch, sondern gegenseitiges „Spiel“ versöhnt sich der moderne Mensch wieder mit der Natur, die nun aber von der Technik durchdrungen ist. Obwohl der hierarchische Klassenunterschied im Kino außer Kraft gesetzt ist, ist das Kontrollmoment, das dem Filmmedium ursprünglich zukam, doch noch spürbar. Nun geht es aber nur noch darum, sich selbst zu kontrollieren. [N]irgends mehr als im Kino erweisen sich die Reaktionen der Einzelnen, deren Summe die massive Reaktion des Publikums ausmacht, von vornherein durch ihre unmittelbar bevorstehende Massierung bedingt. Und indem sie sich kundgeben, kontrollieren sie sich.29
Wenn die Filmzuschauer im Endeffekt sich selbst kontrollieren, kann dies genau genommen nicht rein optisch stattfinden, denn ihr Blick richtet sich fast immer nach vorne auf die Leinwand. Die Selbstkontrolle ergibt sich eher aus einer mitempfindenden,
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leibhaften Wechselwirkung, wie das Lachen, mit dem Menschen einander im selben Raum anstecken können. Auf diese Weise wirken „die Reaktionen der Einzelnen“ widerhallend aufeinander ein und erhöhen sich zu einem Unisono, durch das das Individuelle im Kollektiven aufgeht. Einer solchen massenhaften, mimetisch überspringenden Selbstkontrolle misst Benjamin sogar eine politische Funktion bei, denn durch sie würde sich das Proletariat bei der kommenden revolutionären Machtergreifung „selbst […] organisieren“.30 Der hieraus erwachsende Kollektivorganismus ist allerdings keineswegs monoli thisch, sondern „aufgelockert“ verfasst: In dem Augenblick, da es seinen Befreiungskampf aufnimmt, hat seine scheinbar kompakte Masse sich in Wahrheit schon aufgelockert. Sie hört auf, unter der Herrschaft bloßer Reaktionen zu stehen; sie geht zur Aktion über. Die Auflockerung der proletarischen Massen ist das Werk der Solidarität.31
Die Zerstreutheit der Masse im Kino, die der inneren „Sammlung“ des Kunstfreundes gegenübersteht, nimmt diese Lockerheit vorweg. Sie erlaubt es der solidarisch verbündeten Masse, gleichsam prismatisch über sich selbst zu reflektieren, ohne dabei ihre Einheit einzubüßen. Insofern Benjamin betont, der Film erweise sich „als der derzeitig wichtigste Gegenstand jener Lehre von der Wahrnehmung, die bei den Griechen Ästhetik hieß“,32 ist die Formierung der aufgelockerten Masse ästhetisch verstanden, schließt also auch auratische Erfahrungen mit ein. Obwohl diese unwiederbringlich ausgelöscht erschienen, lässt das Medium Film doch auf eine neuerliche, nun technisch vermittelte Versöhnung mit der Natur hoffen. Zwar antwortet die Natur nicht mehr mit aufgeschlagenen Augen, doch strahlt „die Kraft des Blickes“ weiterhin aus Kamera und Kinopublikum. Dieser Blick ist imstande, in alle Dinge einzudringen und sie einem kollektiven Sensorium einzuverleiben, das die Subjekt-Objekt-Spaltung überwindet und in die paradiesische Namengebung zurückkehrt.
1 Die letzte Fassung des Kunstwerk-Aufsatzes, die sogenannte dritte Fassung, in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bände I–VII, Frankfurt a. M. 1972–1999, Bd. I, S. 471–508. In der neu editierten kritischen Gesamtausgabe Benjamins wird diese Version als die fünfte Fassung bezeichnet; vgl. Walter Benjamin: Werke und Nachlaß, hg. von Christoph Göbbe und Henri Lonitz, Bd. 16, Berlin 2012, S. 207–255. Diese Fassung soll von 1936 bis 1939 entstanden sein; vgl. Benjamin: Schriften, Bd. I, S. 1035. Da aber Benjamin schon im Herbst 1936 das Typoskript an die Redaktion der Exilzeitschrift „Das Wort“ in Moskau gesandt hat, um sich nach einer Veröffentlichungsmöglichkeit zu erkundigen (vgl. Benjamin: Werke und Nachlaß, Bd. 16, S. 353), ist es plausibel, dass der Aufsatz bis dahin fertiggestellt wurde. 2 Benjamin: Werke und Nachlaß (s. Anm. 1), S. 304–307. 3 Benjamin: Schriften (s. Anm. 1), Bd. V, S. 607; Hervorhebung von Benjamin.
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4 Benjamin: Werke und Nachlaß (s. Anm. 1), S. 304f. Hervorhebung von Benjamin. Die mit { } eingeklammerten Worte sind von Benjamin hinzugefügt worden. Die durchgestrichenen Schreibfehler werden stillschweigend weggelassen (im Folgenden gilt das Gleiche). 5 Benjamin: Schriften (s. Anm. 1), Bd. I, S. 646–647. Auch in „Zentralpark“ (1938–1939) steht: „Ableitung der Aura als Projektion einer gesellschaftlichen Erfahrung unter Menschen in die Natur: der Blick wird erwidert“; Schriften, Bd. I, S. 670. 6 Benjamin: Schriften (s. Anm. 1), Bd. VII, S. 355. Im Folgenden basieren alle Zitate aus dem Kunstwerk-Aufsatz auf der zweiten Fassung der Gesammelten Schriften. 7 Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund des Aura-Begriffs von Benjamin vgl. vor allem Josef Fürnkäs: Aura. In: Michael Opitz, Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Frankfurt a. M. 2000, Bd. 1, S. 95–146 und Miriam Bratu Hansen: Cinema and Experience. Siegfried Kracauer, Walter Benjamin and Theodor W. Adorno, Berkeley/Los Angeles/ London 2012, cap. 4. 8 Benjamin: Schriften (s. Anm. 1), Bd. II, S. 147. 9 Benjamin: Schriften (s. Anm. 1), Bd. II, S. 148. 10 Benjamin: Schriften (s. Anm. 1), Bd. II, S. 150, 157; Hervorhebung von Y. T. 11 Benjamin: Werke und Nachlaß (s. Anm. 1), S. 305. 12 Benjamin: Werke und Nachlaß (s. Anm. 1), S. 305. 13 Benjamin: Schriften (s. Anm. 1), Bd. II, S. 155. 14 Benjamin: Werke und Nachlaß (s. Anm. 1), S. 305f. Das Zeichen der Hinzufügung sowie die von Benjamin mit der Doppellinie durchgestrichenen Worte sind um der Lesbarkeit willen stillschweigend weggelassen worden. Die mit [ ] eingeklammerten Worte wurden von Benjamin mit einer einfachen Linie durchgestrichen. 15 Benjamin: Werke und Nachlaß (s. Anm. 1), S. 306. 16 Benjamin: Schriften (s. Anm. 1), Bd. VII, S. 384. 17 Benjamin: Schriften (s. Anm. 1), Bd. VII, S. 384. 18 Benjamin: Schriften (s. Anm. 1), Bd. VII, S. 382. 19 Benjamin: Schriften (s. Anm. 1), Bd. VII, S. 360. 20 Benjamin: Schriften (s. Anm. 1), S. 372. Hervorhebung von Benjamin. 21 Benjamin: Schriften (s. Anm. 1), S. 372. 22 Benjamin: Schriften (s. Anm. 1), S. 374. 23 Benjamin: Schriften (s. Anm. 1), S. 373. 24 Benjamin: Schriften (s. Anm. 1), S. 380. 25 Benjamin: Schriften (s. Anm. 1), S. 381. 26 Vgl. Benjamin: Schriften (s. Anm. 1), S. 381. 27 Benjamin: Schriften (s. Anm. 1), Bd. VII, S. 374. 28 Benjamin: Schriften (s. Anm. 1), Bd. VII, S. 359. 29 Benjamin: Schriften (s. Anm. 1), Bd. VII, S. 374. 30 Benjamin: Schriften (s. Anm. 1), Bd. VII, S. 375. 31 Benjamin: Schriften (s. Anm. 1), Bd. VII, S. 370. 32 Benjamin: Schriften (s. Anm. 1), Bd. VII, S. 381.
Kapitel II
Epistemische Bilder
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Das durchscheinende Bild Newton und Goethe zeichnen das Spektrum Kaum eine wissenschaftliche Arbeit von Johann Wolfgang Goethe ist von so polemischem Charakter wie die Schrift Zur Farbenlehre (1810), in der der Dichter die optische Theorie von Isaac Newton aufs Heftigste kritisiert und ihr widerspricht. Seine Polemik richtet sich nicht nur gegen den Text von Newtons Opticks (1704), sondern auch gegen die Bilder. Das 1. Buch der Opticks, mit dem sich Goethe im „Polemischen Teil“ der Farbenlehre auseinandersetzt, ist mit insgesamt 45 Figuren illustriert, die von Goethe wiederholt als „unwahr und captios“,1 „hypothetisch“2 oder „falsch“3 getadelt werden. Aber Goethe widerspricht seinem Gegner nicht nur mit Worten, sondern auch mit Bildern. 17 Tafeln begleiten die Farbenlehre mit je einer oder mehreren Figuren. Darunter sind Wiedergaben und Umzeichnungen der Figuren der Opticks, mit denen Goethe das Original kritisiert oder korrigiert. Auch stellt er den Figuren Newtons seine eigene „wahrhafte“4 und „natürliche“5 „Normalfigur“6 gegenüber. Es handelt sich also bei Goethes Newton-Kritik um eine Bilderpolemik im doppelten Sinne: eine Polemik gegen Bilder, die gleichzeitig eine Polemik durch Bilder ist. Newton und Goethe werden gerne als Kontrastfiguren dargestellt, z. B. als genialer Spitzenwissenschaftler versus irrender Amateurforscher oder als Vertreter der modernen Naturwissenschaft versus Vorläufer ihrer Alternative.7 In jedem Fall wird ihr Verhältnis in erster Linie anhand des Textes ihrer Werke erörtert, während die Bilder höchstens als Hilfsmittel für das Verständnis des Textes herangezogen werden. Im Folgenden soll hingegen am Beispiel von drei Zeichnungen Goethes Bilderpolemik gegen Newton näher betrachtet werden, um ein neues Licht auf ihr Verhältnis zu werfen.
Transparenz der Repräsentation in den Lectiones opticae Am 19. Februar 1672 erscheint in den Philosophical Transactions der Royal Society of London eine Abhandlung von Newton, „New Theory about Light and Colors“, die er mit dem Bericht von einem Experiment beginnt: Er habe Anfang des Jahres 1666 sein Zimmer verdunkelt, in den Fensterladen ein kleines Loch gebohrt und an die Öffnung ein Prisma gestellt, damit das Sonnenlicht in Richtung der gegenüberliegenden Wand gebrochen werde. Das an die Wand projizierte farbige Bild, das Spektrum, habe ihn mit lebhaften und intensiven Farben unterhalten; „but after a while applying my self to consider them
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1 Zeichnung des Grundexperiments in den Lectiones opticae.
more circumspectly, I became surprised to see them in an oblong form; which, according to the received laws of Refraction, I expected should have been circular“.8 Es handelt sich hier um das Grundexperiment der Newton’schen Optik, das ihn zur Herausbildung einer der wichtigsten optischen Theorien veranlasst hat. Dass durch ein Prisma gebrochenes Licht farbig wird, war schon lange bekannt, aber dass dessen Projektion eine längliche Form hat, hatte kaum jemanden interessiert. Newton stellte fest, dass das Bild fünfmal länger als breit ist, stellte Überlegungen und Versuche an, auch das von ihm so genannte experimentum crucis, und kam zu dem Schluss, dass das Sonnenlicht (weißes Licht) aus Strahlen verschiedener Farben mit unterschiedlichen Brechbarkeiten zusammengesetzt ist.9 Während Newton das Grundexperiment in „New Theory“ nicht abbildet, illustriert er es im Manuskript der Lectiones opticae, das er vermutlich ca. 1670–71 verfasste,10 mit einer Handzeichnung (Abb. 1). Sie stellt den Innenraum des Zimmers, in dem der Versuch durchgeführt wird, zentralperspektivisch dar. Der Sonnenstrahl, der durch das Loch F in der Wand einfällt, wird durch das Prisma AαBβCκ gebrochen, und an die gegenüberliegende Wand wird das Spektrum PYTZ projiziert. Die Perspektive ist der Darstellungsmodus für die transparente Repräsentation. Leon Battista Alberti vergleicht in seinem Traktat De pictura (1435) das perspektivische Gemälde mit einem „offenstehende[n] Fenster, durch welches der [gemalte] ‚Vorgang‘ betrachtet wird“.11 Er verwendet auch die Metapher, dass die Bildfläche „ganz aus Glas und durchsichtig wäre“.12 Die Perspektive ist also die Darstellungstechnik, um den Betrachter nach geometrischem Prinzip glauben zu lassen, er blicke durch ein offenes Fenster in den dreidimensionalen Raum hinüber. Dabei wird das Bild von der Materialität
Das durchscheinende Bild
seines Trägers abstrahiert und so transparent gemacht, dass es die Illusion hervorruft, dass man den Gegenstand an sich ohne Vermittlung durch ein Medium betrachte. Das Streben nach der Transparenz der Repräsentation mittels Perspektive ist an der Skizze in den Lectiones opticae deutlich zu erkennen. Hier ist die Dunkelkammer so gezeichnet, als ob man durch ein viereckiges Fenster hineinblicke. Der ganze Innenraum des Zimmers mitsamt dem auf die Wand projizierten Spektrum scheint jenseits der durchsichtigen Bildfläche dreidimensional vorhanden zu sein. Das schachbrettartige Muster des Bodens ist ein seit der Renaissance beliebtes Motiv in der perspektivischen Darstellung des Raums und fungiert als „Index für die Raumwerte“, um die Maße und die Distanzen der auf ihm angeordneten Einzelkörper in Zahlen auszudrücken.13 Und damit weist die Zeichnung auch auf die Transparenz der wissenschaftlichen Erkenntnis des hier dargestellten Phänomens hin. Während die Perspektive das Bild mit der geometrischen Zeichenmethode durchsichtig macht, gelingt es Newton, die längliche Form und die Farben des Spektrums aufgrund des Begriffs der unterschiedlichen Brechbarkeit der Strahlen rational zu erklären. Die perspektivische Darstellung des Spektrums deutet also an, dass sich dieses Phänomen wie die Zeichnung auf r ationale Weise vollkommen erklären lässt, und dass das damit erworbene Wissen von Licht und Farben ohne die geringste Trübung klar und deutlich ist. Wenn es in Newtons Dioptrik entscheidend ist, dass die Eigenschaften von Medien wie Linse, Luft oder Flüssigkeit „intellektuell kontrolliert und somit wirkungsvoll transparent gemacht werden durch Ausübung der Vernunft“,14 trifft das auch auf die Eigenschaften des Lichtes zu. Bei der Transparenz der Repräsentation in der Zeichnung in den Lectiones opticae geht es zugleich um diejenige der Erkenntnis, und die Skizze stellt das Spektrum in diesem doppelten Sinne als ein durchsichtiges Bild dar.
Das Durchscheinende des Spektrums in der Farbenlehre Newton nimmt das Grundexperiment als 3. Experiment in den 1. Teil des 1. Buches seiner Opticks auf, und Goethe versäumt in der Farbenlehre nicht, es zu kritisieren. Dabei bildet er auf Tafel V einen Versuch ab, der mit dem Newtons prinzipiell identisch ist. Um die Figur richtig zu betrachten, empfiehlt Goethe, das Blatt um 90 Grad im Uhrzeigersinn zu drehen (Abb. 2). Nun ist der Keil rechts unten das Prisma, dessen rechte Seite so zugedeckt ist, dass das Sonnenlicht nur in der Mitte der Fläche einfallen kann. Diagonal über die Bildfläche ist der Längsschnitt des farbigen Lichtes gezeichnet, das sich vom Prisma aus nach links oben erstreckt, und darunter sind die Querschnitte abgebildet, d. h. die Spektra, die erscheinen, wenn man an diesen Stellen einen Schirm platziert. Es geht
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2 Abbildung des Grundexperiments in der Farbenlehre.
in dieser Abbildung darum, dass sich das Spektrum je nach Abstand des Schirms vom Prisma „schrittweise“ verändert, während Newton das Phänomen nur in einem einzigen Abstand vom Prisma betrachtete. Von den vier Spektra entspricht das zweite von rechts, über dem eine punktierte Ellipse gezeichnet ist, dem von Newton betrachteten.15 Goethes Abbildung bildet mit ihrer Flachheit einen scharfen Gegensatz zur Zeichnung in Newtons Lectiones opticae. Während letztere mit der Illusion der Dreidimensionalität der in der Renaissance etablierten klassischen Malerei entspricht, erinnert erstere auf den ersten Blick aufgrund ihrer Zweidimensionalität eher an die Malerei der Moderne, deren Hauptmerkmale Clement Greenberg in der Ablehnung des Illusionismus mittels Perspektive und der Orientierung an der dem Bildträger eigenen Flachheit sieht.16 Die Ästhetik der Moderne fördert also eine gewisse Opazität der Repräsentation hervor, die in der medienspezifischen Zweidimensionalität bedingt ist, und nimmt so eine Gegenposition zur Ästhetik der Renaissance ein, die die Transparenz der Repräsentation schätzt.17 Nun stellt sich die Frage: Ist das Spektrum auf Tafel V der Farbenlehre undurchsichtig dargestellt, wie man es in der Malerei der Moderne erwarten würde? In Goethes Farbenlehre spielt die „Trübe“ des Mediums beim Entstehen der Farben eine entscheidende Rolle. Die Farben entstünden durch Zusammenwirken des trüben Mediums mit Licht und Finsternis, was Goethe das „Urphänomen“ nennt und durch Beispiele verschiedener trüber Medien wie Dünste, Meereswasser, Opalglas usw. erläutert.18 Zuvor versucht er, den Begriff der „Trübe“ näher zu definieren. Er beginnt mit der Vorstellung eines leeren Raums, der „durchaus für uns die Eigenschaft der Durch-
Das durchscheinende Bild
sichtigkeit“ hätte. „Wenn sich nun derselbe dergestalt füllt, daß unser Auge die Ausfüllung nicht gewahr wird; so entsteht ein materielles, mehr oder weniger körperliches, durchsichtiges Mittel, das luft- und gasartig, flüssig oder auch fest sein kann“. „Die reine durchscheinende Trübe leitet sich aus dem Durchsichtigen her. Sie kann sich uns also auch auf gedachte dreifache Weise darstellen“. „Die vollendete Trübe ist das Weiße, die gleichgültigste, hellste, erste undurchsichtige Raumerfüllung“. „Das Durchsichtige selbst, empirisch betrachtet, ist schon der erste Grad des Trüben. Die ferneren Grade des Trüben bis zum undurchsichtigen Weißen sind unendlich“.19 Nach Goethe bedeutet das Vakuum die vollkommene Durchsichtigkeit und das Weiße die vollkommene Undurchsichtigkeit, und zwischen den beiden Polen dehnt sich der weite Bereich des Trüben. „Empirisch“, d. h. in Bezug auf das materielle Medium, wird sogar das Durchsichtige an sich schon als einigermaßen trüb angesehen,20 und das Trübe vermittelt mit unendlichen Nuancen zwischen den Polen der Durchsichtigkeit und Undurchsichtigkeit, ohne sich der Alternative zwischen beiden zu unterwerfen. Mit der „Trübe“ sind also von Goethe verschiedene Grade der Durchsichtigkeit, genauer gesagt der Halbdurchsichtigkeit bzw. des Durchscheinenden gemeint, eines Begriffs, in dem der Kunsthistoriker Atsushi Okada einen Schlüssel zur Dekonstruktion der in der westlichen Kunsttheorie lange herrschenden Opposition von Transparenz und Opazität sieht.21 Bei Goethe gilt nicht nur das Medium, sondern auch die Farbe an sich als durchscheinend. Es ist der „σκιερóν“ der Farben, der der „Trübe“ des Mediums entspricht. Goethes Grundidee lautet, dass die Farbe ein „Schattiges (σκιερóν)“22 ist, „daß alle Farbe einem Licht und Nicht-Licht ihr Dasein schuldig sei, daß die Farbe sich durchaus zum Dunkeln hinneige, daß sie ein σκιερóν sei, daß wenn wir eine Farbe auf einen hellen Gegenstand hinwerfen, es sei auf welche Weise es wolle, wir denselben nicht beleuchten, sondern beschatten“.23 Da das Wesen der Farben im „σκιερóν“ besteht, nennt Goethe sie auch „Halblichter“ und „Halbschatten“: „Sollen wir sodann noch eine allgemeine Eigenschaft aussprechen, so sind die Farben durchaus als Halblichter, als Halbschatten anzusehen“.24 Deshalb ist es das „Hauptübel der Newtonischen Lehre“, dass „sie das σκιερóν der Farbe verkennt, und immer glaubt mit Lichtern zu tun zu haben. Es sind aber keinesweges Lichter, sondern Halblichter, Halbschatten, welche durch gewisse Bedingungen als verschiedenfarbig erscheinen“.25 Darüber hinaus gilt die Farbe als mit dem Grau äquivalent. Grau wird in Goethes Farbenlehre neben Weiß und Schwarz eine besondere Bedeutung beigemessen: „Nannten wir das Schwarze den Repräsentanten der Finsternis, das Weiße den Stellvertreter des Lichts […]; so können wir sagen, daß das Graue den Halbschatten repräsentiere, welcher mehr oder weniger an Licht und Finsternis Teil nimmt und also zwischen beiden inne steht“.26
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Aufgrund der Stellung von Grau zwischen Weiß und Schwarz bzw. Licht und Finster nis bemerkt Goethe: „Es kommen alle Farben, welcher Art sie auch sein mögen, darin mit dem Grauen überein, daß sie dunkler als Weiß, und heller als Schwarz erscheinen“.27 „σκιερóν“, Halblichter, Halbschatten, Grau – alle diese Begriffe weisen auf das Durchscheinende der Farben hin.28 Wie beim Medium zwischen der Durchsichtigkeit und der Undurchsichtigkeit verschiedene Stufen des Trüben liegen, sind die Farben ebenfalls zwischen Licht und Finsternis als differenzierte Grade von „σκιερóν“ vorhanden. Die Farbe ist weder Licht noch Finsternis, sondern das durch Zusammenwirken der beiden entstehende Dritte. Und da die Farben zwischen den beiden Polen vermitteln und dadurch die Alternative überwinden und für unendliche Nuancierung offen sind, handelt es sich beim „σκιερóν“ der Farben wie bei der „Trübe“ des Mediums um das Durchscheinende. Bei Goethe ist die Farbe etwas Durchscheinendes und das Spektrum, das ein „dunkles aus lauter Schattenlichtern zusammengesetztes Bild“29 ist, ein durchscheinendes Bild, das weder vollkommen aus Licht noch vollkommen aus Finsternis besteht. Nun zurück zur Abbildung des Spektrums. Auf Tafel V der Farbenlehre ist das Spektrum wie gesagt als ein Querschnitt des aus dem Prisma heraustretenden farbigen Lichtes dargestellt. Es ist ein Bild, das an der jeweiligen Stelle auf einen Schirm oder eine „Tafel“, wie Goethe die Projektionswand gewöhnlich nennt, projiziert ist. Aufgrund dieser Versuchsanordnung ist auszuschließen, dass die Bildfläche von Tafel V mit der Oberfläche der Tafel als Experimentiergerät übereinstimmt. Mit anderen Worten ist das Spektrum von der Oberfläche eines Bildträgers, der Tafel im Experiment, auf die Oberfläche eines anderen Bildträgers, der Tafel V, übertragen worden.30 Es handelt sich hier um ein Modell der Repräsentation, das weder auf die Transparenz noch auf die Opazität zielt. Anders als beim perspektivischen Gemälde bleibt die Abbildung des Spektrums bei Goethe völlig auf der Oberfläche der flachen Tafel V. Hier tritt aber die Zweidimensionalität des Bildträgers nicht gegenüber der illusionistischen Wiedergabe des dreidimensionalen Gegenstandes in den Vordergrund wie in der Malerei der Moderne. Das Spektrum ist ein Bild, das erst durch Projektion auf die Oberfläche eines flachen Körpers entsteht, und dadurch lässt es seinerseits die Zweidimensionalität des Bildträgers erkennen. Ebenso sind auf Goethes Tafel V die Flachheit der Abbildung des Spektrums und die des Bildträgers nicht voneinander zu trennen, sondern sie machen sich gegenseitig erkennbar. Das im Querschnitt gezeichnete Spektrum offenbart seine eigene Zweidimensionalität und die des Bildträgers gleichzeitig. Anders gesagt ist hier der Bildträger sozusagen durch das Bild des Spektrums halb verhüllt und halb enthüllt, und das Bild des Spektrums spielt die Rolle des Schleiers,31 durch den der Bildträger teilweise sichtbar ist. Auf Tafel V der Farbenlehre ist das Spektrum weder transparent noch opak, sondern durchscheinend dargestellt.
Das durchscheinende Bild
Trübheit der Erkenntnis in Opticks Newton bemerkte zwar im Grundexperiment die längliche Gestalt des Spektrums, doch in der Tat konnte er die Form des Spektrums nicht genau erkennen. Schon in „New Theory“ gibt er an, dass die Form der beiden Enden des Spektrums schwer zu bestimmen ist,32 und 30 Jahre später beschreibt er in Opticks vorsichtiger: „On its Sides it was bounded pretty distinctly, but on its Ends very confusedly and indistinctly, the Light there decaying and vanishing by degrees“.33 Deshalb führt er hier im 3. Experiment bei der Messung der Größe des Spektrums einen Kunstgriff ein. Die Breite des Spektrums betrug, so Newton, „about two Inches and the eighth Part of an Inch, including the Penumbra“.34 Die Länge misst er unter verschiedenen Bedingungen mehrmals, wobei er bemerkt: „Beyond these Measures for about a 1/4 or 1/3 of an Inch at either end of the Spectrum the Light of the Clouds seemed to be a little tinged with red and violet, but so very faintly, […] and therefore I did not include it in these Measures“;35 kurz: „I measured from the faintest and outmost red at one end, to the faintest and outmost blue at the other end, excepting only a little Penumbra, whose breadth scarce exceed a quarter of an Inch, as was said above“.36 So entscheidet Newton bei der Messung des Spektrums willkürlich, ob er den undeutlichen Teil darum, d. h. „Penumbra“ oder „Clouds“, mitmisst oder nicht. Penumbra bezeichnet im Allgemeinen den Halbschatten, der bei der partiellen Verdeckung des Lichtes durch den beleuchteten Körper um den Kernschatten (Umbra) entsteht.37 Johannes Kepler, der das Wort in Astronomiae pars optica (1604) zum ersten Mal benutzte, bezeichnet damit den bei einer Mondfinsternis durch einen Teil des Sonnenlichts hinter der Erde entstandenen Schatten, und später auch den Halbschatten des Mondes bei einer Sonnenfinsternis.38 Während Goethe die Farben auch „Halbschatten“ nennt, um ihr „σκιερóν“, d. h. ihr Durchscheinendes, auszudrücken, weist die Metapher der Penumbra darauf hin, dass auch für Newton das Spektrum ein durchscheinendes Bild ist. Die Penumbra ist eben der Halbschatten, etwas zwischen Licht und Finsternis. Allerdings bezeichnet der Goethe’sche Halbschatten das Wesen der Farben als „σκιερóν“, die Newton’sche Penumbra hat indessen mit der Form des Spektrums zu tun, genauer gesagt mit ihrer Stellung zwischen der Sichtbarkeit und der Unsichtbarkeit. Für Newton ist also das Spektrum, dessen Umriss mit einer Penumbra oder mit Wolken vergleichbar ist, ein durchscheinendes Bild in dem Sinne, dass man seine Form optisch nicht vollkommen deutlich erkennen kann. Und während für Goethe die Farben ihrem Wesen nach Halbschatten sind, versucht Newton, die Penumbra vom Spektrum zu entfernen. Zwar misst Newton im 3. Experiment der Opticks bei der Messung der Breite des Spektrums die Penumbra an dessen
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3 Abbildung des Grundexperiments in Opticks.
Seiten mit, er stellt aber im 5. Experiment eine Linse an das Loch im Fensterladen, um die Penumbra an den Seiten des Spektrums wegzunehmen und die Seiten deutlich erkennbar zu machen. Die Penumbra könne auf diese Weise entfernt werden, wenn das Glas des Prismas von ausreichend guter Qualität und gut genug poliert sei.39 Allerdings konnte er wohl die Penumbra an den beiden Enden des Spektrums selbst mit der Linse nicht beseitigen. Dieses Problem löst er, indem er sie bei der Messung der Länge nicht mitmisst. So lässt sich vom Text der Opticks ablesen, dass sich Newton darum bemüht, die Undeutlichkeit der Form des Spektrums physikalisch oder psychisch zu überwinden und den Umriss des Bildes schärfer zu machen. Er bemerkt in den Opticks mehrmals, dass er im 5. Experiment die Penumbra von den Seiten des Spektrums entfernen konnte.40 Die Form des Spektrums deutlich zu betrachten, d. h. es transparent zu machen, ist für ihn eine unerlässliche Voraussetzung dafür, eine klare Erkenntnis von diesem Phänomen zu erlangen. Wenn man aber den Blick auf die Abbildung richtet, verhält sich die Sache anders. In Figur 13 der Opticks (Abb. 3), die das 3. Experiment illustriert, sind die Seiten v und w des Spektrums mit einer geraden Linie gezeichnet, während an den Enden P und T keine solchen Umrisslinien zu sehen sind, sondern viele kurze Striche, die zusammen einen Halbkreis bilden (Abb. 4). Sie bringen zum Ausdruck, dass an den beiden Enden des Spektrums der Umriss nicht deutlich erkennbar ist, sondern unbestimmt wie die Penumbra. Auf den Tafeln zu Opticks ist das Spektrum meistens so dargestellt wie in der Figur 13. Newton zeichnet also in der Abbildung einen Teil der Penumbra um das Spektrum sorgfältig, während er sie im Text gänzlich entfernt. Die Trübung der Erkenntnis des Spektrums, die im Text beseitigt wird, bleibt im Bild klar dargestellt.
Das durchscheinende Bild
Darüber hinaus ist das Spektrum in der Figur 13 durch den Darstellungsmodus nicht vollständig transparent gemacht. Anders als die Skizze in den Lectiones opticae, die die ganze Szene des Grundexperiments zentralperspektivisch darstellt, sind in der Figur 13 der Opticks das Prisma im Querschnitt und das Spektrum in der Projektion gezeichnet, und zwar nicht der Zentral-, sondern der Parallelprojektion, wie man aus den parallelen Seiten des Schirms schließen kann, auf den das Spektrum projiziert wird. Das Spektrum ist zwar nicht so flach wie auf Tafel V der Farbenlehre gezeichnet, aber seine Abbildung bringt auch keine so vollständige Illusion der Dreidimensiona- 4 Das Spektrum in Opticks (Ausschnitt aus Abb. 3). lität hervor wie die Skizze in den Lectiones opticae. In der Figur 13 ist das Spektrum nicht vollkommen transparent, sondern durchscheinend dargestellt. Die Zeichnungen des Grundexperiments weisen darauf hin, dass Newton und Goethe nicht in bloßer Opposition zueinander betrachtet werden können. Während Goethe das Wesen der Farben in „σκιερóν“ sieht und das Spektrum durchscheinend darstellt, verrät die Abbildung in Opticks, dass die Erkenntnis des Phänomens für Newton nicht vollkommen durchsichtig ist, wie die Zeichnung aus der frühen Phase seiner optischen Studien andeutet, sondern mehr oder weniger getrübt. Das Spektrum ist nicht nur für Goethe, sondern auch für Newton ein durchscheinendes Bild, obwohl dies bei beiden nicht das Gleiche bedeutet. Die Licht- und Farbtheorien von Newton und Goethe lassen sich nicht auf einen einfachen Gegensatz von Transparenz und Opazität zurückführen. Sie sind vielmehr durch verschiedene Arten des Durchscheinens, wie sie die beiden Bildvarianten des Spektrums darstellen, aufeinander bezogen.
1 Johann Wolfgang Goethe: Zur Farbenlehre. In: ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abt., Bd. 23/1, Frankfurt a. M. 1991, S. 1021. 2 Goethe (s. Anm. 1), S. 1022. 3 Goethe (s. Anm. 1), S. 1037. 4 Goethe (s. Anm. 1), S. 1019. 5 Goethe (s. Anm. 1), S. 1036. 6 Goethe (s. Anm. 1), S. 1037. 7 Vgl. Felix Höpfner: Wissenschaft wider die Zeit. Goethes Farbenlehre aus rezeptionsgeschichtlicher Sicht, Heidelberg 1990. 8 Isaac Newton: A Letter of Mr. Isaac Newton, Professor of the Mathematicks in the University of Cambridge; con taining his New Theory about Light and Colors. In: Philosophical Transactions, 1671, Bd. 6, Nr. 80, S. 3076. Hervorhebungen im Original. 9 Zu Vorgeschichte und Bedeutung dieser Abhandlung vgl. J. A. Lohne, Bernhard Sticker: Newtons Theorie der Prismenfarben, München 1969.
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10 Isaac Newton: Lectiones opticae. In: Alan E. Shapiro (Hg.): The Optical Papers of Isaac Newton, Bd. 1, Cambridge u. a. 1984, S. 46–279. Das ist die kürzere Version der optischen Vorlesungen von Newton, die bis zum 20. Jahrhundert nicht publiziert wurde. 11 Leon Battista Alberti: Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei, Darmstadt (2. Aufl.) 2011, S. 225. 12 Alberti (s. Anm. 11), S. 215. 13 Erwin Panofsky: Die Perspektive als „symbolische Form“. In: ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin (2. Aufl.) 1974, S. 117. 14 Jonathan Crary: Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century, Cambridge, MA u. a. 1992, S. 64 (Übersetzung: H. H.). 15 Goethe (s. Anm. 1), S. 1020. 16 Clement Greenberg: Towards a Newer Laocoon. In: ders.: The Collected Essays and Criticism, Vol. 1, Chicago/London 1988, S. 23–38; Clement Greenberg: Modernist Painting. In: Richard Kostelanetz (Hg.): Esthetics Contemporary, New York 1989, S. 198–206. 17 Atsushi Okada: Hantômei no bigaku [Ästhetik des Durchscheinenden], Tokio 2010, S. 5f. 18 Goethe (s. Anm. 1), S. 73–82. 19 Goethe (s. Anm. 1), S. 73. 20 Vgl. auch Goethe (s. Anm. 1), S. 82. 21 Okada (s. Anm. 17). So wie Okada versucht auch Emmanuel Alloa den Gegensatz von Transparenz und Opazität in der Kunst anhand des Begriffs des „Diaphanen“ bzw. des Durchscheinenden zu relativieren und eine neue Bildtheorie zu etablieren. Zwischen den beiden Positionen sind viele Parallelen zu finden, aber während Okada das Potenzial des Durchscheinenden theoretisch und ikonografisch erforscht, zielt Alloa auf einen Entwurf der „Diaphänomenologie des Bildes“. Emmanuel Alloa: Das durchscheinende Bild. Konturen einer medialen Phänomenologie, Zürich 2010. 22 Goethe (s. Anm. 1), S. 52. 23 Goethe (s. Anm. 1), S. 306. 24 Goethe (s. Anm. 1), S. 27. 25 Goethe (s. Anm. 1), S. 458. 26 Goethe (s. Anm. 1), S. 102. 27 Goethe (s. Anm. 1), S. 104. 28 Zur durchscheinenden Eigenschaft von Grau vgl. Okada (s. Anm. 17), S. 80–110. 29 Goethe (s. Anm. 1), S. 461. 30 An mehreren Stellen der Farbenlehre wird das Wort „Tafel“ in diesen zwei Bedeutungen nebeneinander verwendet. 31 Zum Durchscheinenden des Schleiers vgl. Okada (s. Anm. 17), S. 142–150. 32 Newton (s. Anm. 8), S. 3076. 33 Isaac Newton: Opticks, or, a Treatise of the Reflections, Refractions, Inflections and Colours of Light. Based on the fourth edition London, 1730, New York 1979, S. 28f. 34 Newton (s. Anm. 33), S. 29. 35 Newton (s. Anm. 33), S. 30. 36 Newton (s. Anm. 33), S. 33. 37 The Oxford English Dictionary, Bd. 11, Art. „penumbra“, Oxford (2. Aufl.) 1989. 38 N. M. Swerdlow: Shadow Measurement. The Sciametria from Kepler’s Hipparchus – a Translation with Commentary. In: P. M. Harman, Alan E. Shapiro (Hg.): The Investigation of Difficult Things. Essays on Newton and the History of the Exact Sciences in Honour of D. T. Whiteside, Cambridge 1992, S. 40. 39 Newton (s. Anm. 33), S. 40f. 4 0 Newton (s. Anm. 33), S. 64, 67, 125.
Birgit Schneider
Die Sichtbarmachung von Klimazonen im Jahr 1817 Eine neue Visualisierung der Klimadaten Alexander von Humboldts Heute gibt es eine unüberschaubare Anzahl von Bildern, die das Klima der Erde auf sehr unterschiedliche Weise zeigen. 1 Neben Fotografien und Filmen handelt es sich in erster Linie um Grafiken und Karten. Viele davon sind Weltkarten, die durchschnittliche Temperaturverteilungen als Zonen mittels Isolinien, also gleichwarmen Linien darstellen. Wenn im Folgenden in die frühe Geschichte der grafisch-analytischen Verfahren zurückgeblickt wird, so deshalb, weil die moderne Klimatologie selbst ihren Ausgangspunkt mit einer Grafik nahm, der Carte des lignes isothermes von Alexander von Humboldt aus dem Jahre 1817. Anhand dieser lässt sich der Zusammenhang von Visualisierung und Erkenntnis in verdichteter Weise aufzeigen. Denn Humboldts Isothermenkarte stellte ein erstes, auf Messungen gegründetes Bild der Klimazonen der Erde dar, weshalb ihr Urheber nicht nur als Begründer der modernen, vergleichenden Klimatologie bezeichnet wird, sondern auch als Vorreiter der Datenvisualisierung gilt.2 Die synoptischen Bilder, die aus der Methode resultierten, gaben den gestaltlosen Wetterereignissen eine Gestalt und machten die Zusammenhänge der Klimazonen räumlich evident. An der Frage einer „ersten“ Datengrafik Alexander von Humboldts, die im Zentrum dieses Beitrags steht, interessiert die Möglichkeit, einen frühen Versuch grafischer Methodik in der Praxis analysieren zu können. Dieser bewegte sich noch tastend, da Humboldt auf kein gefestigtes Methodenrepertoire zurückgreifen konnte. Durch den Blick auf diesen frühen Versuch kann so ein Beitrag zur näheren Bestimmung des „Denkstils“ (Ludwik Fleck) oder „Epoche-Blicks“ („period eye“, Michael Baxandall) als einem ästhetischen Erkenntnisideal am beginnenden 19. Jahrhundert in Europa geleistet werden. Aus diesem Blick ging die moderne Wissenschaft des Klimas hervor, bei der Messungen, Statistik und Visualisierungsmethoden bis heute einen wichtigen Dreiklang bilden. Seither geriet das Klima in der Definition zu einem „durchschnittlichen Zustand der Atmosphäre“ und wird statistisch bestimmt. Doch im Gegensatz zu den abstrakten Datengrafiken der heutigen Klimatologie war Humboldts Grafik noch Teil seines übergeordneten Forschungsvorhabens der Erzeugung eines Naturgemäldes. Dieses sollte die Auswirkungen des Klimas auf alle Lebewesen darstellen, wie es auch in Humboldts Definition des Klimas als atmosphärischem Zustand und ästhetischem Gegenstand aufscheint. Klimatische Veränderungen in der A tmosphäre, so Humboldt, seien nicht nur für das Wachstum der Pflanzen und die Reifung ihrer Früchte wichtig, „sondern auch für die Gefühle und ganze Seelenstimmung der Menschen“.3
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Im Folgenden werden zunächst Humboldts Isothermenkarte und ihre Datengrundlage beschrieben, um in einem zweiten Schritt mit Hilfe einer Rekonstruktion der Karte aus Humboldts Daten zu hinterfragen, wie Humboldt damals die Linien zeichnete und weshalb die erste Klimazonenkarte von einer so auffälligen Symmetrie geprägt ist. Denn während bei Humboldt die Isothermen noch als gleichmäßig geschwungene Linien verlaufen, hatte sich dieses Bild bereits mit der nächsten Klimazonenkarte in ein Muster aus unterschiedlich gekrümmten Linien aufgelöst.
Humboldts Isothermenkarte Humboldts Isothermenkarte von 1817 macht durchschnittliche Luftmassen von ähnlichen klimatischen Temperaturbedingungen sichtbar (Abb. 1a). Doch erkennt man erst auf den zweiten Blick, dass es sich bei dem Blatt überhaupt um eine Karte handelt (Abb. 1b), da Humboldt gänzlich auf die Darstellung der Länderkonturen verzichtete. Neben dem Koordinatennetz der Längen und Breiten liefern die vertikal angebrachten Schriftzüge „AMERIQUE“, „OCEAN ATLANTIQUE“, „EUROPE“ und „ASIE“ eine gewisse topografische Orientierung sowie 15 eingetragene Städtenamen. Vom Raster der Längengrade heben sich fünf Wellenlinien ab, deren Bögen sich in sanftem Schwung über die gesamte Breite der Tafel erstrecken, eine sechste und siebte Isotherme verläuft schnurgerade oberhalb und entlang des Äquators. Die Linien sind in 5-Grad-Celsius-Schritten beschriftet als „Bande Isotherme de 0° “, „Bande Isotherme de 5° “ etc. bis zu „Bande Isotherme de 25° “. Drei vertikale Linien schneiden die gemeinsamen Scheitelpunkte der Isothermen („Sommet Concave“ und „Sommet Convexe“); sie betonen die Symmetrie der wie Schallwellen sich über das Blatt ausbreitenden Kurven. Der Nullmeridian ist der Meridian von Paris. Die wissenschaftshistorische Bedeutung der Karte ist nur im Vergleich mit ihren Vorgängern verständlich. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts war die Vorstellung von den Klimaten von der antiken Naturlehre geprägt, die ihr Wissen nicht aus Messungen, sondern durch theoretische Spekulationen erlangt hatte. Meist wurden drei Klimatypen angenommen: zwei kalte Zonen am Süd- und Nordpol, eine heiße Zone um den Äquator und dazwischen zwei gemäßigte Gebiete. Sie verliefen jeweils als Gürtel parallel zum Äquator um die Erdkugel. Die augenfälligsten Unterschiede zwischen den alten Karten und Humboldts neuer Karte bestehen darin, dass anstelle der parallel zu den Breitengraden verlaufenden Zonengrenzen nun gebogene Linien erscheinen, die zudem an neuen Positionen über die Erdkugel verlaufen. Mit Humboldts Karte wurde erstmals verständlich, weshalb sich Klimate auf beiden Seiten des Atlantiks ähnlich sind, obwohl sie auf anderen Breitengrad liegen. Denn die großen Klimazonen der Erde waren
Die Sichtbarmachung von Klimazonen im Jahr 1817
1 A+B Alexander von Humboldt: Isothermenkarte, 1817. Die Gürtel mit ähnlichen Jahresdurchschnittstemperaturen sind mit fünf geschwungenen Linien und zwei geraden Linien dargestellt. Dazu im Vergleich die Isothermen Humboldts, ergänzt um die Konturen einer Weltkarte.
nicht mit Fragen von Geometrie und Sonneneinstrahlung allein bestimmbar, sondern nur, wenn zahlreiche weitere Faktoren in Betracht gezogen wurden wie die Lage der Meere, die Winde oder große Gebirge. Diese Einflüsse zeigten sich aber erst in der Visualisierung der Daten.
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Die Daten hinter der Karte Die Tafel steht am Ende einer Abhandlung über die isothermen Linien, in welcher sich Humboldt dezidiert mit den der Karte zugrundeliegenden Methoden sowie der Datenlage befasste. Die Messreihen, die Humboldt in seiner Karte zusammenfasste, sind von unterschiedlicher Herkunft. Auch sie publizierte Humboldt im Rahmen seiner Abhandlung zu den Isothermen von 1817 als große faltbare Tafel (Abb. 2). Neben eigenen Messungen, die er während seiner Amerikareise in den Jahren 1799 bis 1804 unternommen hatte, nutzte er die Messungen von Forscherkollegen sowie in Buchform veröffentlichte Beobachtungen von weltweiten Wetterstationen wie die Messreihen, die die Pfälzische Gesellschaft für Europa in den 1780er-Jahren gesammelt hatte. Die Karte zeigt mithin nicht das Klima von 1817, sondern Messreihen, von denen manche in der zweiten Hälfte des 18., andere im frühen 19. Jahrhundert geführt worden waren. Ausgangspunkt für die Karte war eine kritische Auswertung des gesamten damals erhältlichen Beobachtungsmaterials. Hielten Messreihen der Prüfung nicht stand, beispielsweise aufgrund der unbekannten Höhe der Messstation, wurden diese verworfen; viele Messungen aus Asien fielen aus diesem Grunde weg. Auch betrachtete Humboldt genau, wie seine Kollegen die mittleren Temperaturen genommen und welche Instrumente und Uhrzeiten sie für die Messungen jeweils verwendet hatten. Neben Angaben zur Temperatur, zum Längen- und Breitengrad sowie zur Höhe der Messorte machte Humboldt zusätzliche Bemerkungen zu den Messwerten selbst, indem er deren Quelle und auch den Zeitraum der Messungen benannte. Die längste Reihe der verwendeten Messwerte ist zwölf Jahre alt, die meisten sind weit jüngerer Natur. Besonders valide Messreihen markierte er in der Tabelle mit dem astronomischen Kreissymbol für die Sonne (·), was für „höchste Genauigkeit“ steht. Mit diesem Zeichen ist zum Beispiel eine Petersburger Messreihe markiert, die der Mathematiker Leonhard Euler publiziert hatte. Zieht man die späteren Zeitrahmen für Klimabeobachtungen mit in der Regel 30 Jahren zum Vergleich heran, sind Humboldts Reihen ausgesprochen kurz, anderes Datenmaterial war aber damals schlichtweg nicht zu haben. Aufgrund der mangelnden Standardisierung, die viele Messreihen unvergleichbar machte, befand Humboldt schließlich die Beobachtungen von nur 58 Orten für brauchbar, was die Karte der Isothermen auf einen Ausschnitt der Nordhemisphäre reduzierte. Auch hier ein Vergleich zu heute: Aktuell gibt es mehrere Tausend Messstationen weltweit. Auch die Analyse der verwendeten Daten beschrieb Humboldt genau, insbesondere, was es bedeutet, den Mittelwert zu nehmen und mit der Methode der Interpolation zu zeichnen, die der Isolinie zugrunde liegt.4 Die relativ wenigen und kurzen Messreihen
Die Sichtbarmachung von Klimazonen im Jahr 1817
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2 Alexander von Humboldt: Datengrundlage der Isothermenkarte, 1817, ausfaltbare Tafel.
wusste Humboldt durch die Beobachtung zu erweitern, dass die mittleren Temperaturen vom April und Oktober der mittleren Jahrestemperatur recht nahekommen. Der Karte vorgängig ist also eine genaue Datenanalyse, die auch beinhaltete, die gemittelten Wettermessungen bereits in tabellarischer Form topologisch für die spätere Visualisierung vorzusortieren. So nehmen die doppelten Striche zwischen den Messreihen bereits die Gruppierung zu Klimazonen mittels Linien auf der Karte vorweg.
Die Rekonstruktion der Karte Doch soll nun die Frage im Zentrum stehen, wieso Humboldts Datenlinien in so gleichmäßig geschwungenen Bögen verlaufen. Denn trotz der Wellenform und der Basierung auf Messungen und Mittelwerten erscheint Humboldts Bild der Klimate nach wie vor wie ein Idealbild. Seine interpolierenden Kurven besitzen eine geometrische Regelmäßigkeit, als sei die perfekte Form ihres Verlaufs ein zusätzlicher Beweis planetarischer Naturgesetzlichkeit. Wie bereits erwähnt, steht die Form der geschwungenen Bänder in
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3 Rekonstruktion der Klimazonenkarte Alexander von Humboldts auf der Basis der Originaldaten (dargestellt in Abb. 4), hergestellt in Zusammenarbeit mit Thomas Nocke und Magnus Heitzler.
Widerspruch zu späteren Klimazonenkarten, die auf der Basis eines erweiterten Messnetzes Linien in unregelmäßigen Wirbeln über die Karte zogen. Haben bei Humboldts erster Datengrafik der Klimazonen folglich auch frühere Ideale beim Ziehen der Linien die Hand mitgeführt? Um einer Antwort auf diese Fragen näher zu kommen, habe ich mich entschieden, die Verwandlung der Daten in Bilder zu wiederholen, also die Karte zu rekonstruieren. Die Methode der Analyse durch Rekonstruktion erlaubt über den Schritt einer erneuten Visualisierung weiter zu ergründen, was die Leitmotive bei dieser frühen Datenkarte waren. Denn Humboldt konnte noch nicht auf viele etablierte Vorbilder zurückgreifen, sondern musste im Erzeugen der Grafik Neuland betreten.5 Bei der Rekonstruktion halfen Thomas Nocke und Magnus Heitzler vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung, indem wir die Daten hinter Humboldts Karte nach heutigen Standards und mit heutigen Kartenprogrammen neu visualisierten. Das Erkenntnisinteresse hinter der Rekonstruktion war hierbei nicht, wie „korrekt“ oder „richtig“ Humboldts Karte war. Das Ergebnis dieses Visualisierungsprozesses ist bedenkenswert (Abb. 3).6 Auch wenn wir nicht herausfinden konnten, nach welcher Methode genau Humboldt seine Isolinien interpoliert hat – ob er auf der Ebene der Linien oder der Daten geglättet hat – zeigte sich, dass Humboldts Linienführung auch im Rahmen heutiger Methoden in weiten Teilen nah an den Daten entwickelt ist. Dies trifft vor allem auf den linken Teil der Grafik, also auf die Regionen Amerika einschließlich Europa zu. Es gibt aber auch deutliche Abweichungen zwischen den beiden Karten, die darauf schließen lassen, dass Humboldt bei der Interpolation den Gang der Linien nicht allein anhand der Datenpunkte, sondern in Teilen auch spekulativ zeichnete.
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4 Prinzip der grafischen Interpolation für das Zeichnen von Isobaren aus einem amerikanischen Handbuch zur praktischen Meteorologie, 1871. Die Isolinie wird frei von Hand zwischen ähnlichen Messpunkten gezogen.
Hierzu ist es wichtig zu wissen, wie Isolinien konstruiert werden. Wer Isolinien zeichnet, muss Linien zwischen Messpunkten, also geografischen Orten, an denen gemessen wird, so ziehen, dass sie ähnliche Temperaturen verbinden. Interpolieren bedeutet hierbei, dass mit dem Stift gemittelt wird, indem entschieden wird, wie nah die Linie einem Messpunkt kommt (Abb. 4). Isolinien organisieren also Datenräume, sie visualisieren einen Durchschnitt unsichtbarer Atmosphäre, indem sie den Stift durch den Raum zwischen den Messpunkten führen. Anders als in Humboldts Karte tritt in der rekonstruierten Karte über Frankreich für die Isolinie von 10° Celsius eine deutlich eingebuchtete Form auf. Humboldt hat sich entschieden diese Ausbuchtung nicht zu zeichnen. Am eklatantesten ist jedoch die Abweichung über dem östlichen Teil der Karte, also der Region von Osteuropa und Asien. Der Unterschied wird nur verständlich, wenn man weiß, dass Humboldt für den Ostteil der Karte nur zwei Messpunkte hatte (Abb. 5). Aufgrund der fehlenden Datendichte dieses Teils der Karte musste er die Linien hier mit einem sehr hohen Grad an Spekulation ziehen, während sie bei der Rekonstruktion in alle Richtungen „wegklappen“. Heute hätte man diesen Teil der Isolinien aufgrund fehlender Daten weggelassen. Da Isothermenkarten die Messnetze hinter den Daten nicht zeigen, geben sie auch keine Auskunft darüber, wie dicht oder lose das Messnetz hinter den Linien geknüpft ist. In der Verwandlung von Datenpunkten in Linien bleibt folglich verborgen, wie viel Wissen hinter den einzelnen Linien und Linienabschnitten steckt. Sebastian Grevsmühl hat diesen Zusammenhang die „Illusion einer kontinuierlichen Messung“7 genannt: Isolinien suggerieren mit ihrem sicheren, schwarzen Strich, dass sich hinter ihnen ein kontinuierlicher Datenraum befindet. Diesbezügliche Fragen, die die Robustheit der Daten betreffen, hat Humboldt nicht in der Karte, jedoch in der wissenschaftlichen Diskussion der Karte behandelt.
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5 Die Messstationen hinter der Klimakarte Alexander von Humboldts.
Was Humboldts Karte jedoch im welligen Schwung der Kurven über Europa bereits evident machte, sind die Auswirkungen des Golfstroms im Atlantik, der in Europa zu einem wärmeren Klima führt.
Die Ordnung der Natur und die Karte als Schema und Forschungsprogramm Humboldts Erkenntnisinteresse war auf die Gesetze ausgerichtet, „nach denen die Wesen über den Erdball verteilt sind“.8 Sein Forschen war von der Annahme einer universellen Ordnung des Kosmos geleitet. Bei der Naturbetrachtung ging es ihm um die „Einheit in der Vielheit“, also darum, in der „Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen“ und „von dem Individuellen alles zu umfassen“.9 Mittlere Zustände sind dementsprechend aussagekräftiger als Besonderheiten und Störungen.10 Für diese Sichtweise muss aber die Methode der grafischen Visualisierung und der thematischen Kartografie eine Schlüsselrolle erlangen. Denn die Ordnung offenbart sich, wie Humboldt später im Kosmos schrieb, in einem „Bilde der Regelmäßigkeit, die selbst an Zahlenverhältnisse geknüpft ist“.11
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Die Zahlenverhältnisse der natürlichen Ordnung offenbarten sich in der geome trischen Figur der Kurven fast wie im S-Verlauf einer vorbildlichen Schönheitslinie, wie sie William Hogarth 1753 auf seinen Tafeln zur Analysis of Beauty dargestellt hatte.12 Beides – die ästhetische Form der Kurven und die darin mitgeführte Semantik einer Naturgesetzlichkeit – entsprechen dem spezifischen Denkstil einer „Humboldtian Science“, wie ihn HistorikerInnen für das 19. Jahrhundert beschrieben haben, der sich hier mit der Geschichte der Datenvisualisierung verbindet.13 Denn zu den Eigenschaften der „Humboldt’schen Wissenschaft“ gehörten Methoden der Versinnlichung, der relationale Blick auf das Ganze und die Statistik mit ihrer Betonung von Mittelwert, dem Typischen und Allgemeinen. Die aus der Rekonstruktion und Lektüre Humboldts eigener Schriften gewonnene These lautet folglich, dass Humboldt zu seinen regelhaft gekurvten Linien nur gelangen konnte, wenn er sie als weiteren Beweis für die Naturgesetze der Erde und ihre Harmonie annahm, die sich infolgedessen auch als regelhafte Temperaturverteilung ausdrücken mussten. Auch in der neuen Semantisierung als Datenkurven offenbarte sich das im Kreuzungspunkt von zahlreichen Faktoren stehende Forschungsobjekt Klima in einem gleichmäßig geschwungenen Weg über das Bild der Erde. Humboldts Karte ist deshalb immer noch mit den Klimakarten der Antike verbunden. Dies zeigt sich nicht nur im symmetrischen Verlauf, sondern insbesondere in der Gestalt der parallel zum Äquator verlaufenden Isothermen der heißen Zone. Doch lässt sich hier letztlich nur spekulieren, denn Humboldt selbst ging auf die regelhafte Form seiner Isothermen nicht ein. Sicher ist jedoch, dass Humboldt seine Karte nicht als Resultat und Endpunkt betrachtete. Vielmehr sah er sie als Beginn einer neuen, auf Ästhetisierung beruhenden, grafischen Erkenntnismethode. So schreibt er selbst, dass die Datenbasis von nur 58 Messreihen, auf denen er die Karte der Isolinien grafisch konstruiert hatte, nur ein grobes Schema für „Temperatur-Erscheinungen“ liefern konnte, bis die folgende Forschung „allmählich dahin gelangen wird, die numerischen Elemente zu vervielfältigen und zu berichtigen“.14 Gerade in der Kühnheit, die Klimalinien trotz der geringen Datenlage zu ziehen, liegt aber der Vorbildcharakter seiner Datenkarte. Denn so wurde sie zum Forschungsauftrag für viele folgende Generationen, die mit neuen Daten versuchten, dem Verlauf der Klimazonen immer näher zu kommen. Im Zusammenwirken von Tabelle und Visualisierung entfaltete sich mithin ein Programm, das bis heute wirksam ist: der Ruf nach mehr Daten und nach robusten Daten in einem immer feinmaschigeren Messnetz. Humboldts klimatische Geografie der Nordhemisphäre war zwar noch äußerst lückenhaft – aber gerade deshalb war sie ein Arbeitsprogramm für die Zukunft. Die Karte war ein erstes Bild in einer Reihe von Bildern, die auf einem immer enger geknüpften Messnetz
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und standardisierten Messreihen aufbauen konnten. Spätere Isolinienkarten lösten die Regelmäßigkeit von Humboldts geschwungenen Linien in zahlreiche Ausbuchtungen, Krümmungen und Wirbel auf, die hinter ihren neuen Mustern letztlich das Anwachsen neuer Messstationen und die Verdichtung der Messnetze aufscheinen lassen. Der Wandel, den Humboldts Karte für das Erkenntnispotenzial von Linien in der Kartografie bedeutete, wurde gerade durch die schematisierte Form der ersten Klimakarte umso greifbarer. Das Verständnis der ersten Isolinienkarte der Klimatografie als Schema für zukünftige Aufgaben zeigte sich auch darin, dass Humboldt den Missstand der lückenhaften Wetterdaten zu beheben versuchte, indem er später selbst weltweite Messungen mitorganisierte sowie die Gründung des Preußischen Meteorologischen Instituts und des Königlichen Statistischen Büros anregte, mit welchen die Erhebung von Wetterdaten in Preußen institutionalisiert wurde. Der ursprünglich als kartografische Ergänzung zu Humboldts Kosmos (1845–1862) gedachte Physikalische Atlas (1838–1848) von Heinrich Berghaus zeigte schließlich im Rahmen Humboldts eigenen Werkes zahlreiche Karten mit höher aufgelösten Isolinien, um die Verbreitung von Tierarten, Pflanzen und Temperaturen darzustellen. Es ist der Blick auf das Ganze, der Totaleindruck der Synopse, aus dem der Blick auf die Erde als System hervorging und der gleichermaßen die technischen Systeme zur Sicherung dieses Blickes hervorbrachte. Wenn die Isothermenkarte als Symbol einer Epoche gelten kann, so für die Epoche der Synopse und der thematischen Karte. Doch anders als heute, wo Natur und Kultur voneinander getrennt behandelt werden, was sich auch darin zeigt, dass der Mensch durch die Kulturgeografie von der Naturgeografie abgespalten wurde,15 stand Humboldts Schlüsselbild der Visualisierung noch im Zusammenhang einer synthetischen Betrachtung des Klimas als Bedingung der unauflöslich ineinander verschränkten Vielfalt von Kultur und Natur. Insofern gilt es Humboldt heute nicht nur historisch für die Klimatologie und die Geschichte der Datenvisualisierung zu entdecken, sondern auch sein ästhetisches und proto-ökologisches Programm mit den Problemlagen von heute erneut produktiv zu machen. 1 Dieser Artikel basiert in Ausschnitten auf dem Kapitel zur Isothermenkarte Alexander von Humboldts in der Monografie; Birgit Schneider: Klimabilder. Eine medienästhetische Genealogie globaler Bildpolitiken von Klima und Klimawandel, Berlin 2018. 2 Vgl. Karl-Heinz Bernhardt: Alexander von Humboldts Beitrag zur Entwicklung und Institutionalisierung von Meteorologie und Klimatologie im 19. Jahrhundert. In: Algorismus, 2003, Heft 41, S. 195–221. 3 Alexander von Humboldt: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Frankfurt a. M. 2004 [1845–1862], S. 340. 4 Vgl. Alexandre de Humboldt: Des lignes isothermes de la distribution de la chaleur sur le globe. In: Mémoires de physique, et de chimie, de la Société d’Arcueil, 1817, 3, S. 32–37.
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5 Ein alleinstehendes Vorbild für Humboldt war Edmund Halleys Karte zum Erdmagnetismus von 1701. Humboldt selbst hatte eine Magnetkarte nach diesem Vorbild 1804 gezeichnet. Vgl. zur Geschichte der ältesten Karten zum Erdmagnetismus Gustav Hellmann: Die ältesten Karten der Isogonen, Isoklinen, Isodynamen, Berlin 1895. Zu den Vorbildern vgl. Schneider (s. Anm. 1). 6 In der Darstellung der Ergebnisse beziehe ich mich auf die Einschätzungen von Thomas Nocke, die er im Rahmen eines gemeinsamen Vortrags zusammengestellt hat. 7 Sebastian Grevsmühl: The Creation of Global Imaginaries: The Antarctic Ozone Hole and the Isoline Tradition in the Atmospheric Sciences. In: Birgit Schneider, Thomas Nocke (Hg.): Image Politics of Climate Change, Visualizations, Imaginations, Documentations, Bielefeld 2014, S. 29-53, hier S. 41. 8 Eberhard Knobloch: Erkundung und Erforschung Alexander von Humboldts Amerikareise. In: HiN – Alexander von Humboldt im Netz. Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien, 2006, Bd. VII, Nr. 13, S. 64. 9 Humboldt (s. Anm. 3), S. 10. 10 Humboldt (s. Anm. 3), S. 17. 11 Humboldt (s. Anm. 3), S. 15. 12 Vgl. Sabine Mainberger: Experiment Linie. Künste und ihre Wissenschaften um 1900, Berlin 2010, S. 29–36. 13 Susan Faye Cannon: Science in Culture: The Early Victorian Period, New York 1978. 14 Alexander von Humboldt: Von den isothermen Linien und der Verteilung der Wärme auf dem Erdkörper. In: ders.: Kleinere Schriften. Erster Band. Geognostische und physikalische Erscheinungen, Stuttgart/Tübingen 1853, S. 206– 314, zitiert aus dem Nachdruck: Alexander von Humboldt: Schriften zur Physikalischen Geographie, Werke 6, hg. v. Hanno Beck, Darmstadt 1989, S. 18–97, hier S. 97. 15 Vgl. Hanno Beck, Wolfgang-Hagen Hein: Humboldts Naturgemälde der Tropenländer und Goethes ideale Landschaft. Zur ersten Darstellung der Ideen zu einer Geographie der Pflanzen, Stuttgart 1989, S. 14.
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An Unfaithful Trace A History of “Life-size” Photography Many authors have evoked death masks to explain what photography is. André Bazin, Susan Sontag or Rosalind Krauss come easily to mind. More recently, Jean-Luc Nancy hinted at the death mask in his considerations on images. Contrary to Krauss’s theory which focuses on “indexicality,” as Louis Kaplan remarks, “Nancy recasts photography theory from thinking about the index to thinking about exposure.”1 Nevertheless, Nancy still posits an analogy between death masks and photography, even though his approach differs significantly from that of Krauss’s and others. However, it is not the similarities but the differences between these two object categories that I would like to highlight. While a death mask naturally retains the scale of its model, photography usually does not. In other words, it is the question of size in photography that my paper explores. While almost all photographs misrepresent the actual size of the object they show, some in fact do so correctly. Such “life-size” pictures can be found, for example, in illustrated manuals for children or books of paintings. Indeed, this rare format has been produced since the invention of photography itself. In this essay, I look to trace some of the cornerstones of its early history. First, I will consider the place of life-size photography in the reproduction of art works since the middle of the nineteenth century. In this practice, how does the notion of faithfulness relate to size? Secondly, I examine instances of life-size photography in the sciences, especially in the metric photography of anthropology that sought to represent the heads of the dead, though in a very different way than death masks. It is true that photography followed up on death masks as a tool for artistic creation. In 1843, French sculptor James Pradier asked the Bisson brothers to photograph the then Minister of the Interior Duchâtel, whom Pradier looked to represent in sculpture. Even though this statue was never completed, it was the first time Pradier intended to make use of a photographic model. Just one year before, he had taken a cast from the corpse of Ferdinand Philippe, Duke of Orléans, after the latter’s accidental death. Like a death mask, a photograph was to Pradier just another tool to envision a sculpture in absence of the model.2 The Bisson brothers, who cooperated with Pradier, were also known for their reproduction of artworks. As William Henry Fox Talbot writes in his famous book The Pencil of Nature, published in 1844, such photographic reproductions, notably of paintings, were one of the main ambitions held by the inventors of the new technology. Talbot says: “fac-similes can be made from original sketches of the old masters, and thus they may be
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preserved from loss, and multiplied to any extent.”3 In France, it was Benjamin Delessert, amateur photographer and financier, who set the trend for reproducing works of art. In 1853, he published several engravings by Marcantonio Raimondi, pictured by himself. In this book he pursued “the most accurate reproduction possible” so that “[t]he size is scrupulously that of the original.”4 “Photography seems to have been invented particularly for the reproduction of these engravings,”5 reads the preface of the Works of Rembrandt Reproduced by Photography, also published in 1853. In this case, it was the Bisson brothers who had taken the photographs. However, in order to reproduce not only small engravings but also largescale paintings in life-size, photography had to overcome the limitations of its format. For this purpose, the Bisson brothers enlarged the camera itself. At a meeting of the Academy of Sciences held on 25 July 1855, they showcased five photographs taken with a huge lens.6 One of these showed a plaster cast of the Apollo Belvedere measuring 102 × 75 centimeters. In the same year, Charles Thurston Thompson and Robert Jefferson Bingham, also for the first time, exhibited life-size portraits taken with a bigger lens at the Universal Exposition in Paris.7 The practice of enlarging the camera, however, met physical limits. That is why soon attention shifted towards technologies of magnifying photographs. It was in 1857 that David A. Woodward obtained the patent for a so-called “solar enlarger” in London (fig. 1). The British photographer John Jabez Edwin Mayall used this device to magnify a namecard sized portrait of George Peabody, American-British financier and philanthropist, by 30 to 40 times. The life-size portrait, finished by adding paint, was later hung at the Peabody Institute in Baltimore founded in 1857.8 Enlarged photographs were particularly prominent at the 4th exposition of the French Photographic Society held in Paris in 1861. Edouard Delessert, cousin of Benjamin Delessert, exhibited fifteen photographs magnified with a so-called “porte-lumière,” which he himself had invented. According to Ernest Lacan, his exposition was “a real art museum” in its own right, which “wanted to show how far we could go in the way of amplification.”9 The most impressive object was a portrait of a lady in black that reminded Lacan of the “most striking paintings of Van Dyck.”10 In the Great London Exposition of 1862, Belgian photographer Edmond Fierlants showcased large-scale reproductions of that same Van Dyck as well as of other Flemish painters. Fierlants, also known for his architectural photographs, made a name for himself as a specialist for art reproductions after he had been nominated to photograph paintings in a public project of the city of Bruges in 1858.11 In praise of Fierlants’s works, Ernest Lacan claimed that he was able to make out features in the photographed paintings that had remained invisible in the originals:
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1 An advertisement for Woodward’s solar enlarger. Photographic Notes, May 15th, 1860.
He [=Fierlants] finds and brings out in the copy the characteristic feature, which one would perhaps look for in vain in the original itself. He often grasps in a composition only a fragment, but this fragment alone will become a tableau. In this way the figure of an artist reveals itself in the scrupulous copyist.12
In 1865, Fierlants published a catalogue that listed more than one thousand of his photographic reproductions, including early Netherlandish paintings by Van Dyck and Hans Memling, but also contemporary art works. The catalogue indicates the size and price for each picture. Hans Memling’s Portrait of Gilles Joye (1472), for example, was reproduced in its original size and cost 8 francs.13 Rubens’s Holy Family with Parrot (1614), in contrast, was reduced to 42 × 49 centimeters, about one-fourth of the original, and was sold for 18 francs.14 If these huge reproductions displayed “characteristic features,” as Ernest Lacan maintained, they were arguably true works of art in their own right. Soon, such lifesize photographs were admitted into the realm of fine arts, be it for their “astonishing fidelity,”15 as in the case of Fierlants, or for their artistic enhancement, as practiced by Mayall, who had his photographic portraits colored with paint. It was such artistic qualities that distinguished life-size portraits from other photographs as John Leighton pointed out in his Photographic Notes from 1861:
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I allude to the life-size portraits taken by the effect of light, of heroic proportions and artistic worth, reminding one of the best works of such great masters as Rembrandt, Reynolds, Velasquez, and Opie. […] From Berlin, Dresden, The Hague, Aix la Chapelle, and Brussels, we shall have first-rate full-length portraits, looking more like grand paintings in sepia, than tarnished silver fixed by a chemical process, independent of the artist’s touch […].16
Is a photograph still a photograph if it has become a painting? For the photographers of the nineteenth century, who desperately craved artistic recognition, such distinctions needed to be overcome. Later historical and theoretical concepts of the period, however, highlighted the specificity of the photographic medium embodied by its “indexical” quality or, in other words, its registering of objective “traces.” Hence, life-size photographs are believed to resemble footprints or death masks rather than paintings. The history of these pictures outlined above, however, indicates a subversion of medium specificities. Contrary to their “realistic” appearance, such photographs often undercut notions of trace. Still another domain of photography more directly concerned with size may shed a different light on the issue: anthropometric pictures of skulls taken by early anthropologists. Here, we meet the Bisson brothers again. It was the phrenologist Pierre Marie Alexandre Dumoutier who commissioned them to photograph human skulls, which he had brought back to Paris in 1840 from an expedition of three years in South America and around the South Pacific islands.17 Dumoutier had assembled some 51 busts of natives molded on the spot as well as about the same number of human skulls. He believed that the new technology of daguerreotypy, invented shortly before his return, would facilitate the publication of his findings. He “hoped to obtain first by the photographic process the image of molded heads which he brought back,”18 as he explained himself before the Academy of Sciences at the session held on February 7th, 1842. By tracing daguerreotype images on the stone, a lithographer would be able to produce plates more easily and accurately than by eying the original busts and skulls. Émile Blanchard, who took over the project from Dumoutier, eventually published these images in 1854.19 While Dumoutier claimed that the photographs were only “half life-size,” it was impossible to tell their actual scale by their appearance in the book (fig. 2). Even though Blanchard added images of a measuring apparatus that Dumoutier had invented for his phrenological research – the so-called “céphanomètre” –, these measures do not seem to have figured in the pictures. Instead, he stressed the significance of the contour line which he insisted could be observed as faithfully in images as in the original objects:
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2 A lithograph showing skulls based on photos taken by the Bisson brothers.
In the descriptions of human skulls, it is absolutely evident that we have to stick to many details about which the measurement cannot give any idea. […] We believe that, independently of the study of the objects themselves, the photographic images should often be of great help, for the reason that lines become easier to follow.20
Blanchard’s take on phrenology, however, was challenged by Paul Broca, who looked to systematize craniology by incorporating it into the broader field of anthropology. Broca emphasized numerical values. To him, pictures of skulls served as mere makeshift substitutes in cases where it was difficult or impossible to take measures from the actual objects. For that reason, photography’s scientific validity remained limited: Photographs […] are far from responding to all the needs of craniology […]. Photo graphic drawings […] are perspectival, while the other drawings are geometrical. The latter reproduce an image formed by the projection of parallel rays, while the former give an image formed by convergent rays. […] Besides, photographic images are not proportional, since they originate from parts that are unequally distant from the lens. Figures from photography are therefore neither complete nor correct; they are not ready for measurement, and consequently it is necessary to indicate their origin.21
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By taking measures, Broca not only hoped to classify human races, but also to determine the relationship between physical and intellectual characters: Craniology does not only provide primary ‘characters’ for the distinction and classification of subdivisions of the human genus; it also provides precious data on the intellectual value of these partial groups.22
In this, Broca’s craniology did not differ much from Dumoutier’s and Blanchard’s phrenology. In a meeting of the Academy of Sciences held on September 27th, 1841, renowned physician Étienne Serres praised the scientific value of the busts and skulls brought by Dumoutier and explained: The study of the relations between the physical appearance and the mind of human races, interesting because of their history, becomes all the more so when we follow their filiation and their mixing. In fact, we find that this mixing is not limited to the combination of physical characters of the two races that crossbreed, but it simultaneously concerns the combination of their mental aptitudes. Consequently, the philosophical analysis of the intelligence of peoples complements and aligns with the anatomical analysis of ‘characters’ that distinguish them.23
Why then did Broca distrust the photographic reproductions introduced by Dumoutier and others? That is because they did not “record” the actual size of the pictured objects. According to Broca, only these measurements guaranteed scientific objectivity, on which anthropology needed to be founded: Some people have claimed that this whole apparatus of measurements and numbers was not at all necessary and that all you needed to do was to study and measure in each race a small number of individuals carefully chosen as representatives of the average type of the race. […] However, these assessments can never be absolutely precise.24
Seen from his point of view, photography was of limited use to anthropology since it was unfit to provide rigorous data. Only life-size representations would meet these requirements. The new “metric photography” introduced by Alphonse Bertillon and Arthur Chervin claimed to “remedy” the issue:
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3+4 The apparatus for metric photography invented by Bertillon and Chervin.
The most serious criticism given by Broca is that photographic figures are not complete and that they are not suitable for measurement. Our method of metric photography aims precisely to remedy these two objections, and we are going to make the demonstration as consistent as possible. Let us add that we took all precautions to ensure that our photographs are correct. In this way we satisfied all wishes: our photographs are complete, correct and ready for measurement. Nothing remains of the objections formerly expressed by Broca.25
Even though they proudly declared their triumph over Broca’s criticism, measuring objects through metric photography required highly complex procedures. Their apparatus consisted of two cameras placed at a strict distance of two meters above and in front of the object (figs. 3+4). Every photograph was outfitted with a grid sheet in the background that indicated the size of the object. However, one problem could not be resolved: Some parts of the three-dimensional object deviated ever so slightly from the prescribed two meters. Whatever was closer to the camera appeared bigger in the photograph and vice versa. To resolve such inconsistencies, Bertillon and Chervin calculated
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5 Metric photographs of skulls.
a coefficient that would allow to “reconstruct” the actual measures. The procedure to determine the diameter of a skull is detailed as follows (fig. 5): On the frontal view, it [the diameter] occupies a space which one could estimate at 138.8 millimeters in real size if the diameter was situated on the reticulated plane. But it is obviously situated ahead of this plane, and 138.8 is too big a value. […] On the sincipital view, we notice that the maximum diameter passes in the vicinity of reticle 4; this means that the diameter is situated 4 centimeters ahead of the reticulate plane of the frontal view, whose trace on the sincipital view is exactly the horizontal 00. […] The diameter seen on the frontal view is thus not reproduced on the scale of reticles, suffers a minor photographic reduction, and we have to lower the indication of 138.8 given by the vertical reticles of the frontal view.26
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Ironically, rather than solving the problem, such complicated calculations only spotlighted photography’s incapacity to represent size, which molding techniques provided much more readily. Seen in this backdrop, “life-size” provides little evidence for photography’s alleged “indexical” qualities. After all, “metric photography” was an adaptation of the “bertillonage,” a system of identification also invented by Alphonse Bertillon, which was later replaced by fingerprints – “traces” that can be considered more faithful and “indexical” than photographs. A photograph is not a trace, given that it is unable to reproduce the size of the pictured object. On the other hand, as seen above, whenever photographs have been “lifesize” they somewhat suspended their medium specificity and approached the sphere of painting. How does a photograph relate to its content if not through “indexical” qualities? Does it but resemble the object it represents just like any painted or drawn portrait evokes its model? To illustrate this point, we may refer to a diary entry written by Gaspard Marnette, a late nineteenth-century Belgian laborer. One day in April 1877, Gaspard took his parents to a photography studio in Liège to have them photographed for the first time in their life: They [the portraits] were admirably well executed; my mother was especially s triking in resemblance, with her cornet or bonnet and her silk neckerchief on the head framing her face. […] These portraits were so resembling that Jean-Louis Fraikin, my nephew, one year and four months old, pointed a finger at them and said: ‘Grandpa or Grandma’.27
Interestingly, Gaspard identifies the portraits as “resembling” his parents. His reaction seems different from our own experience when we look at photographs of relatives or friends. We rarely point out how similar they are. Instead, we say: “it’s him/her!”, unless it is a picture of a stranger who looks like someone we know. Gaspard, who saw such photos for the very first time, took them as portraits drawn by a painter. He identified them by resemblance, while we today tend to see the person itself. A “normal,” small photograph is far from being visually identical with the model. Nevertheless, we see in a photograph not a resemblance, but the object itself. What remains of photography, if it displays neither identity nor resemblance? Borrowing a notion from Hans Belting, we may understand such effects of recognition as “animation.”28 By finding the object itself in a picture, we “animate” an inanimate object. We see life where there is none.
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1 Louis Kaplan: Photograph/Death Mask. Jean-Luc Nancy’s Recasting of the Photographic Image. In: Journal of Visual Culture, vol. 9, 2010, no. 1, p. 49. 2 Cf. Anne McCauley: Les Bisson, “habiles photographes”. Daguerréotypes et portraits. In: Les frères Bisson photographes. De flèche en cime 1840–1870, Paris 1999, pp. 50–65. 3 William Henry Fox Talbot: The Pencil of Nature, London 1844, p. 61. 4 Benjamin Delessert: Notice sur la vie de Marc Antoine Raimondi, graveur bolonais, accompagnée de reproductions photographiques, Paris 1853, p. 27. 5 Charles Blanc: L’œuvre de Rembrandt reproduit par la photographie. Atlas, Paris 1853–1858, p. 2. 6 Epreuves photographiques de 1 mètre 2 centimètres, le pavillon de l’Horloge, l’Apollon, etc., par MM. Bisson frères. In: La Lumière, 5e année, 30 juin 1855, no. 16, p. 102. 7 Exposition universelle. In: La Lumière, 5e année, 13 octobre 1855, no. 41, p. 161. 8 Cf. Larry J. Schaaf: Mayall’s Life-Size Portrait of George Peabody. In: History of Photography, vol. 9, no. 4, oct.–dec. 1985, pp. 279–288. 9 Ernest Lacan: Exposition photographique (1er article). Le Moniteur de la photographie, 15 mai 1861, no. 5, p. 33. 10 Lacan (see fn. 9). 11 Steven F. Joseph, Tristan Schwilden: Edmond Fierlants 1819–1869. Photographies d’art et d’architecture, Brussels 1988, pp. 24–30. 12 Ernest Lacan: Exposition photographique du palais de l’industrie. In: Le Moniteur universel, 9 septembre 1861, p. 1347. 13 Edmond Fierlants et al.: Catalogue des œuvres publiées par la Société royale belge de photographie, Ixelles 1865, p. 44. 14 Fierlants et al. (see fn. 13), p. 47. 15 Revue photographique, 5 mars 1858, quoted in Fierlants et al. (see fn. 13), p. 17. 16 John Leighton: Life-size portraits. In: Photographic Notes, 1861, November 1st, pp. 307–308. 17 Cf. McCauley (see fn. 2), pp. 54–55. 18 Comptes rendus des séances de l’Académie des sciences, 7 février 1842, vol. 14, p. 247. 19 Émile Blanchard: Voyage au pôle Sud et dans l’Océanie sur les corvettes L’Astrolabe et la Zélée exécuté par ordre du roi pendant les années 1837–1840 sous le commandement de M. Dumont d’Urville. Atlas d’histoire naturelle. Anthropologie, Paris 1854. 20 Blanchard (see fn. 19), p. 255. 21 Paul Broca: Instructions craniologiques et craniométriques, Paris 1875, p. 115, p. 122. 22 Paul Broca: Mémoires d’anthropologie, vol. 1, Paris 1871, p. 7. 23 Étienne Serres: Rapport sur les résultats scientifiques du voyage de circumnavigation de l’Astrolabe et de la Zélée. Comptes Rendus des séances de l’Académie des sciences, 27 septembre 1841, vol. 13, pp. 646–647. 24 Broca (see fn. 22), p. 16. 25 Alphonse Bertillon, Arthur Chervin: Anthropologie métrique, Paris 1909, p. 148. 26 Bertillon, Chervin (see fn. 25), p. 183. 27 René Leboutte: L’archiviste des rumeurs. Chronique de Gaspard Marnette, armurier, Vottem 1857–1903, Liège 1991, pp. 60–61. 28 Hans Belting: An Anthropology of Images, Princeton 2011.
Kapitel III
Körperbild und Sehkultur in Japan
Yoshiharu Ishioka
Anime Bodies and the Uncanny This essay analyzes some key aspects of Japanese animation or anime – a medium deeply rooted in Japanese popular culture. In particular, I will examine visual strategies for the representation of bodies in terms of “collective assemblage” as well as animation, then trace the sensation of “uncanniness” these may evoke in the viewer.
Anime as Collective Assemblage (Anime and Animation in General) The term “anime” commonly refers to a specific style of Japanese animation that became popular with the TV adaptation of Osamu Tezuka’s manga Astro Boy (1963–1965). Just as comic books and graphic novels, animation does not belong to Japan exclusively as essentialist accounts have claimed. There are many examples of similar visual media in other cultures. However, much of the contemporary global interest in Japan has been motivated by anime culture, which seems to account for its special appeal.1 The criteria distinguishing anime from animation remain contested. Even though many of the characteristic bodily features found in anime seem to follow general principles of animation, such visual echoes often overshadow distinct cultural and technical differences. It is these idiosyncrasies that my essay looks to highlight. Like any other mass medium, anime is embedded within a wider industry that controls its production and consumption. These mechanisms provide for a broader historical context that predetermines the alleged “essence” of anime. I propose to define this industry-driven production process as “collective assemblage” using a phrase coined by Gilles Deleuze and Félix Guattari.2 The side of consumption, on the other hand, is embodied by the “fandom” of anime, which also requires further examination. In Anime Machine, Thomas Lamarre conceptualizes certain types of Japanese animation from the viewpoint of “otaku imaging”3, which in my reading relates closely to the notion of “assemblage”. An “otaku”, defined somewhat negatively as a Japanese nerd, participates in the activities of popular culture, including anime, manga, video games, and cosplay, through his or her own “fan” aesthetics. “Otaku imaging” encompasses both the technology of image production and the manifestations of fandom aesthetics. Production and reception thus interact with each other dynamically. However, conventional “otaku” aesthet-
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1 Émile Cohl's Phantasmagorie (1908).
ics often presuppose a primarily male audience as well as a fixed national identity. Such stereotypes are particularly notorious in sexual or violent content found, for example, in some pornographic animes of the “hentai” genre. These “toxic” tendencies need to be addressed. Still, beyond these issues, “otaku” aesthetics has immense potential. For this reason, I prefer the term “anime” over “otaku” imaging. To summarize, anime elaborates the principles of animation in its very own way. The specifics of the genre need to be emphasized, both from the perspective of its production processes and the fan activities that surround otaku lifestyle. In this sense, anime is a collective endeavor sharing in popular culture as a whole.
Bodies in Animation (Live Action/Animated Cartoons) In this part of my essay, I will survey some peculiarities of animating bodies. In live-action movies, the human body is represented photographically and appears to move due to the mechanical apparatus of cinema. As a result, these bodies are endowed with a “machinic” life, which abides by other rules than biological rhythms. Rather, these “cinematic bodies” act as analogues of living bodies. The figure of the “movie star” illustrates the underlying duality. Of course, a movie star is a human being, and yet also associated with a non-human “heavenly” body. The glory and the misery of the movie star as a celebrity follow from this non-human aspect.
Anime Bodies and the Uncanny
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2 Felix the Cat in Feline Follies (1919).
The same is true for the bodies appearing in animation. Here, photographic similarity is not a necessary condition for recognition. Therefore, the non-human aspect of the body seems to be more prominent. Nevertheless, the living human body remains the single most important reference point throughout animation history. Developed from older drawing-performance films, such as Émile Cohl's Phantasmagorie (fig. 1), animation has been reenacting the body ever more closely by adopting the technique of rotoscoping, which traces motion picture footage to insinuate real action. The Fleischer Brothers‘ character Betty Boop is a prominent example for the latter method. On the other hand, animation has also fragmented or dismembered the body to make better use of its graphic nature. Felix the Cat and the various figures in Tex Avery cartoons are particularly remarkable specimens of this parallel tradition (fig. 2). Since Astro Boy, Japanese animation has been characterized by two key features. First, the negative condition of cost-effectiveness has been turned into a source of innovation, propelled by the adaptation of manga for television. The resulting style of “limited animation” does not properly fill the “in-between” moments from one key frame to another to make for a smooth transition. Instead, it creates a rhythm of discontinuous movement that is unique to anime. Second, anime has been dominated by content for teens. The “otaku” fandom culture seems to have played a key role in this development. Recently, though, both anime creators and fans have been trying to push the boundaries of the medium limited in the public eye to entertainment for children. One striking example for these two features may illustrate the point: The hero of the boxing manga Ashita no Joe (Tomorrow’s Joe), which garnered critical acclaim for both its printed and televised versions, wears a particular hairstyle represented only in
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Yoshiharu Ishioka
3a+B Two animation frames skipping the frontal view, Ashita no Joe 2 (1981); right and left view.
profile but never from the front. The anime adaptation of Joe’s head avoids the frontal view as much as possible, while the muscles and knuckles are carved out with “realistic” shading (fig. 3a+b). Such stylistic discrepancies between the head and the rest of the body can be found in many other animes. In this way, the graphic style derived primarily from cost-saving has become a visual characteristic of manga culture that also drives subject matter.
The “Uncanny” in Anime (CGI and Resemblance) The notion of the “uncanny valley”4 is often used to describe the aesthetic challenges of representing the human body in robot technology and CGI. Even though the scientific legitimacy of the concept remains contested, it shares the same concerns also discussed in contemporary animation. The “uncanny valley” suggests that the more similar an artificial object is to a human being the more positive the response of the beholder, until at some degree of resemblance it will appear eerie. The CGI characters in Final Fantasy: The Spirits Within (2001), the first photorealistic computer-animated feature film, for example, were notorious for the quality of their facial expressions, which evoked a sense of uncanniness in the audience (fig. 4). The case points to the difficulty of striking a balance between realistic representation and graphic deformation. CGI has been becoming ever more refined and likable, as a comparison between the Pixar movies Toy Story (1995) and Toy Story 3 (2010) underscores (figs. 5+6). However, there is also a type of representation that takes advantage of such uncanny
Anime Bodies and the Uncanny
qualities. For example, the CGI characters of Gollum in The Lord of the Rings: The Two Towers (2002) and the Na’vi in Avatar (2009) emphasize the differences between human and non-human features. Does current Japanese animation similarly evoke the uncanny? In representations of the head and the face, the fidelity to illustration tends to outweigh resemblances with the living human body. In contrast to the United States where 3D animation has become popular, anime remains rooted in the aesthetics of “otaku” culture and continues to uphold the Japanese tradition of 2D drawing. However, new approaches to anime through 3D computer graphics are under way. Decried for their uncanny qualities, such graphics are combined with 2D drawings in more recent productions. The resulting style maintains both the fidelity to the illustration and the consistency of 3D modeling. Inspired by popular anime and manga action figures, this new aesthetics is likely to spread in the near future. In other cases, the fidelity to the illustration counteracts 3D consistency. For example, in a 3DCG dance scene of the Go! Princess Pretty Cure series, some body parts of the characters looking sideways, especially the mouths and eyes (fig. 7), appear in positions different from the characters looking to the front. The resulting visual discrepancy then may be described as uncanny.
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4 Final Fantasy: The Spirits Within (2001).
5 Sid in Toy Story (1995).
6 Andy in Toy Story 3 (2010).
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Yoshiharu Ishioka
7 Cure Flora's side view in Go! Princess Pretty Cure (2015), second closing credits scene.
Innovations in CG animation often propel a new sense of resemblance believed to increase with technological progress. However, the notion of “collective assemblage” may serve as a cue to a more open and dynamic account of the history of animation based on negotiations between production and fandom on the one hand and shifting sensations of uncanniness and strangeness on the other. This new approach promises to highlight the historical and cultural implications of anime beyond the visual principles of animation.
1 Marc Steinberg: Anime‘s Media Mix. Franchising Toys and Characters in Japan, Minneapolis 2012. 2 Gilles Deleuze, Félix Guattari: A Thousand Plateaus. Capitalism and Schizophrenia, translated by Brian Massumi, Minneapolis 1987. 3 Thomas Lamarre: The Anime Machine. A Media Theory of Animation, Minneapolis 2009. 4 Masahiro Mori: The Uncanny Valley, translated by K. F. MacDorman, Norri Kageki, 2012, http://spectrum.ieee.org/ automaton/robotics/humanoids/the-uncanny-valley (accessed: 05/2016).
Ryoichi Ando and Masahiko Inami
Trends in Superhuman Sports
The Superhuman Sports Society The Tokyo-based Superhuman Sports Society (S3) has assembled a team of scientists, designers, and artists to explore the uses of recent human enhancement technologies in physical exercise and games. Through augmenting bodily abilities beyond the naturally human, we hope to overcome personal differences caused by physical differences such as age and disability. The Society develops, advocates, and practices new human-machine integrated sports, in which ‘superhumans’ compete under similar conditions and interact freely with technology. Our aim is to develop the technology required for ‘enhanced’ sports as well as to recruit players and build a community. Generally, we hope to design new ways of playing fit for the future and ultimately expand the very notion of sports itself.
Phenomena Caused by Human Augmentation Within ‘superhuman’ sports, some augment physical abilities – muscle strength, en durance and flexibility –, while others transform actions, such as lifting you into the sky or making you drift on the ground. The Bubble Jumpers,1 for example, physically enhance the legs and the upper body, while HADO2 augments vision. Slide Rift3 allows for drift movement, and Hover Crosses4 rebalance the body by displacing the center of gravity. All of these devices bear directly upon the coordination of the body and change the ways it behaves. Hence, the Bubble Jumper (fig. 1) enlarges the user and affects his or her movement with the spring mechanism in the leg-piece. Unlike in ‘normal’ walking, players make use of the elasticity of the spring with one leg, while consciously pulling up the thigh of the other leg. Together with the increase in height, these ‘unique’ movements are met with joy and excitement by the audience. Some Jumpers have also used the device in ways other than intended, such as for dance performances, which hints at the more expressive potential of augmentation technology.
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1 Bubble Jumper.
The Slide Rift (fig. 2) allows for drift racing by means of a wheelchair that utilizes an Omni wheel structure and an assist motor. The extremely flexible seat is designed such that the player may drift, regardless of him or her having legs. The Slide Rift also inspired a dance group, just like the Bubble Jumper. One particular performance by the international wheelchair dancer Kenta Kambara recently received widespread attention on the Internet.5
Competition and the New Body Just as other games, ‘superhuman’ sports invite competition. In 2016, we hosted a first championship for four ‘superhuman’ disciplines, all divided into different age groups.6 The event was covered by over twenty major media companies in Japan and abroad. The participating athletes were physically diverse, and we hope the games were equally enjoyable to everyone. One player had been paralyzed from the chest down due to a serious injury, but still competed on equal terms given the technological enhance-
Trends in Superhuman Sports
2 Slide Rift.
ment of all participants. The rules did not provide any special treatment in such cases. This is because we prefer to believe in diverse potentials, more than ‘normalization.’ In fact, drift racing does not require a ‘normal’ body, because it creates a novel form of mobility. In this way, all players meet each other in fair rivalry and together play on ‘superhuman’ terms. The Superhuman Sports Society puts top priority on enjoyment for all beyond the physical differences of individuals.
The Future of Superhuman Sports As the field of ‘superhuman’ sports is growing, so is the equipment advancing technologically. Some of these newly invented devices may usher in future sports; others, however, may be adopted for other uses and find their ways into our everyday lives. Such daily use products developed from superhuman sports appliances are already under way.
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https://superhuman-sports.org/sports/bubblejumper.php (accessed: April 30th, 2019). https://superhuman-sports.org/sports/hado.php (accessed: April 30th, 2019). https://superhuman-sports.org/sports/slidelift.php (accessed: April 30th, 2019). https://superhuman-sports.org/sports/hovercrosse.php (accessed: April 30th, 2019). https://youtu.be/0KPvT4_Zc3E (accessed: April 30th, 2019). https://youtu.be/iJrenZvSZjc (accessed: April 30th, 2019).
Joerg Fingerhut
Empirische Ästhetik und die Bildfrage Perspektive, Komplexität und Leere in der japanischen und europäischen Tradition Zu den zentralen Theoremen der jüngeren Bildgeschichte und Bildwissenschaften zählt die Zurückweisung des Abbildcharakters von Bildern. In der deutschsprachigen Entwicklung des iconic turn geht dies damit einher, dass das Bild als eigenständiges Medium des Denkens und der Wahrnehmung gefasst wird.1 Bilder bilden nicht ab, sie generieren Wirklichkeit. Horst Bredekamps bildaktive Wendung denkt dies in einer weiteren Konsequenz: Bilder sind im Sinne von imagines agentes zu verstehen; sie treten wahrnehmenden Subjekten entgegen und entfalten ihre Wirkung durch die ihnen eigenen Formelemente.2 In der Philosophie bilden insbesondere die Debatten zur embodied cog nition einen Ausgangspunkt für die Re-Evaluierung der Rolle von Bildern. Sie fordern die Kognitionswissenschaft auf, den verbreiteten Zentralzerebralismus in der Erklärung mentaler Zustände zugunsten einer Betrachtung der dynamischen Relationen zwischen Gehirn, Körper und geschaffener Umwelt aufzugeben. Dies kann im Allgemeinen als ein Aufwerten der Peripherie verstanden werden, also dessen, was zuvor als nicht zentral für die Bestimmung des Geistes gesehen wurde. Allerdings lässt sich in dieser Tradition erst in den letzten Jahren und eher zögerlich eine Verschiebung des Fokus auf sozio-kulturelle Praktiken jenseits der Sprache feststellen und damit ein neues Interesse an der gestalteten Umwelt, die auch die Bilder miteinschließt.3 Damit tritt die kulturelle Verfasstheit des Sehens wieder in den Blick, die den pragmatistischen Vordenker der embodied cognition, John Dewey, dazu veranlasst hatte, die menschliche Erfahrung an die Entwicklung der Künste zu binden: “the history of human experience is a history of the development of arts.”4 Dies umfasst für Dewey die Wahrnehmungserfahrung selbst, die sich über die Habituierung an kulturelle Artefakte verändere.5 In Bezug auf die Stilentwicklung in der Kunst ist die Schwesteridee hierzu bereits in Wölfflins Grundbegriffe eingeschrieben: „Das Sehen an sich hat seine Geschichte und die Aufdeckung dieser ‚optischen Schichten’ muss als die elementarste Aufgabe der Kunstgeschichte betrachtet werden.“6 Die optischen Möglichkeiten der KünstlerInnen und die „Umgewöhnung des Auges“7 sind an bestimmte Momente gebunden und die diachrone Erschließung ist die Eigenart dieser historischen Disziplin. Das komplementäre Gegenmodell ist die kulturvergleichende Psychologie, die verschiedene Verhaltens-, Denk- und Wahrnehmungsmuster synchron in Beziehung setzt. Hier hat insbesondere der Vergleich fernöstlicher (hierunter fallen v. a. Japan, Ost-China, Korea) und westlicher
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Joerg Fingerhut
(Nordamerika und West- und Mitteleuropa) kultureller Schemata zu regen wissenschaftlichen Forschungen geführt. So werden u. a. die holistischen Wahrnehmungs- und Denkweisen östlicher Kulturen mit den mehr analytischen, objektzentrierten des Westens kontrastiert. Die stärkere Kontextsensitivität der holistischen Wahrnehmungsweise ostasiatischer ProbandInnen wird in dieser Debatte – wie es in der psychologischen Forschung üblich ist – anhand von Bild-Stimuli (v. a. animierter Bilder und Fotografien) nachgewiesen: NordamerikanerInnen richten ihre Aufmerksamkeit zumeist auf zentrale Objekte und deren Eigenschaften und verarbeiten Informationen im Hintergrund der Bilder schlechter als ihre ostasiatischen Vergleichspersonen.8 Als Ursache dieser Unterschiede werden die verschiedenartigen Ideengeschichten und Philosophien der jeweiligen Kulturen angeführt und auch die unterschiedlichen Ausprägungen der sozialen Beziehungen in den verschiedenen Ländern hervorgehoben. Seltener wird bedacht, dass die physischen, kulturellen Artefakte selbst die Auslöser solcher Unterschiede sein könnten. Psychologische Forschungen wirken nur langsam in die Bildwissenschaften hinein. Dies hat einen Grund. Allzu oft wird dort das Bild noch einfach als Platzhalter für die Szene, die es darstellt, verstanden. Der empirischen Ästhetik könnte hier eine Sonderrolle zukommen und sie könnte ein Umdenken einleiten, indem sie versucht, die Eigenbestimmung von Bildern mit experimentalpsychologischen Methoden zu verbinden. Auch sie kann auf eine Geschichte kulturvergleichender Studien verweisen, die neben der westlichen die japanische Tradition mit einbezogen hat.9 Hier wiederum ergibt sich ein anders gelagertes Problem: Viele Studien, u. a. die auf Fechners Experimente zum goldenen Schnitt zurückgehenden Arbeiten von Berlyne in Japan und Kanada,10 stellen die Formfrage unabhängig von der Bildfrage. Sie nutzen also abstrakte Stimuli, die nur eine sehr bedingte Aussagekraft in Bezug auf Bildartefakte entfalten können. Rein abstrakte Stimuli sind jedoch einfacher zu manipulieren und erlauben es, kontrolliert zu erforschen, welche Komponenten z. B. zur Wahrnehmung der Komplexität eines Stimulus beitragen und wie diese dann mit Schönheitsurteilen korrelieren.11 Während in solchen Studien gezeigt werden konnte, dass die wahrgenommene Komplexität abstrakter Stimuli und der abstrakten Kunst positiv mit Schönheits- und Präferenzurteilen korreliert, konnten vergleichbare Korrelationen für darstellende Bildund Kunstwerke bisher nicht experimentell nachgewiesen werden.12 Dies scheint deswegen nicht weiter verwunderlich, da sich die in den Studien eingesetzten Bilder nicht nur in Bezug auf ihre Komplexität unterschieden, sondern auch in Bezug auf die dargestellten Gegenstände, den Aufbau und die Darstellungsweise. Wir haben daher den Versuch unternommen, die kontrollierte Methodik der abstrakten Stimuli auf die figurative Kunst zu übertragen. Für ein Experiment, das wir in Tokio und Berlin durchgeführt
Empirische Ästhetik und die Bildfrage
haben, nutzten wir Reproduktionen von Bildern der japanischen und europäischen Kunst (15.–19. Jahrhundert), die wir mittels einer Bildsoftware bearbeiteten. Wir wollten die wahrnehmbare Komplexität der Bilder beeinflussen, indem wir entweder die Anzahl der Objekte oder die Anzahl verschiedener Texturen oder den Anteil der objektfreien Bereiche im Bild manipulierten. Neben dem Original verfügten wir somit jeweils über zwei Manipulationen und damit drei Komplexitätsstufen (niedrig, mittel, hoch; siehe Abb. 1a). Jeweils ungefähr 30 Studierende in Tokio und Berlin sollten die Bilder ästhetisch beurteilten; zwei weitere Gruppen von Studierenden deren Komplexität bewerten.13 Drei vorläufige Ergebnisse dieser Studie möchte ich hervorheben: 1) Die wahrgenommene Komplexität unserer drei Komplexitätsstufen unterschied sich im Durchschnitt signifikant; 2) Bilder der höchsten Komplexitätsstufe wurden im Allgemeinen sowohl in Japan als auch Deutschland präferiert; 3) Urteile zum künstlerischen Wert der Bilder korrelierten bei deutschen ProbandInnen durchgehend stark positiv mit den Komplexitätsurteilen, während die künstlerischen Werturteile der japanischen ProbandInnen für zwei unserer Manipulationsarten (Anzahl der Objekte, Anteil des leeren Raums) negativ mit den Komplexitätsurteilen korrelierten.14 D. h., japanische ProbandInnen beurteilten eine geringere Komplexität mit höherem künstlerischen Wert. Eine Erklärung hierfür sind vielleicht die größeren objektfreien Bereiche im Bild, die in japanischen Bildtraditionen einen eigenen Wert haben.
Leere Bildbereiche sind z. B. besonders augenfällig in der Tradition der Kano-Schule des 17. Jahrhunderts und setzen sich in der japanischen Zen-Malerei fort. Ausgehend von dieser Vorgeschichte hatten wir Leere als einen möglichen bildcharakteristischen Unterschied zur europäischen Kunst identifiziert. Gleichzeitig ist Leere selbst (japanisch mu) im Zen-Buddhismus nicht als Fehlen von Objekten, sondern als Anzeige des Ungesehenen zu werten. Beides (Bild- und philosophische Tradition) könnte einen Grund dafür darstellen, dass der leere Raum für japanische ProbandInnen in ihren Kunsturteilen positiv besetzt ist. Diese Schlussfolgerung ist spekulativ. Aber die Möglichkeit nachzuweisen, dass sich eine Bildtradition in Wahrnehmungs- und Urteilspraxisunterschieden manifestiert, ist faszinierend und wird Ausgangspunkt für weitere Forschungen sein. In unserer Studie vermengten wir noch Genre und historische Entwicklungslinien: Neben Gemälden und Tuschezeichnungen waren ukiyo-e-Holzdrucke unter den Stimuli. Diese enthalten viele farbige Objekte, oft über den ganzen Bildraum verteilt. Hier ist Fülle Programm. Ebenso
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Joerg Fingerhut
1 Stimuli angeordnet von niedriger zu hoher manipulierter Komplexität (links nach rechts). Das schwarz umrahmte Bild stellt jeweils die Reproduktion des Originals dar. a) Beispiel für eine Objektmanipulation: Salomon van Ruisdael: A View of Egmond aan Zee, Öl auf Leinwand, 1640, und zwei Manipulationen; b) Beispiel für eine Manipulation der Horizontlinie. Hiroshige: Shiba shinmei keidai, ukiyo-e-Holzdruck, Edo-Periode, und zwei Manipulationen.
2 Links: Differenzkarten der Fixationspunkte bei zwei Bildern. Blaue Bereiche markieren jeweils mehr Fixationen japanischer ProbandInnen, gelbe mehr der deutschen (Japan n=30; Deutschland n=29); rechts: anteilige Präferenzen japanischer und deutscher ProbandInnen für die drei Varianten des Bildes Shiba shinmei keidai (Abb. 1b).
ist es eine generelle Tendenz japanischer Malerei, Objekte über die gesamte Leinwand zu verteilen. Japanische Landschaftsmalerei nutzt z. B. die Vogelperspektive, die dem/ der BetrachterIn keinen eindeutigen Platz in Bezug auf das Bild zuweist. Während in der europäischen Malerei in Folge der Erfindung der Zentralperspektive die Horizontlinie in die untere Bildhälfte wanderte, blieb diese in Japan durchschnittlich im oberen Drittel des Bildes.15 Hans Belting hatte die Zentralperspektive nicht nur als Mittel, den Raum darzustellen, bestimmt. Unter Verweis auf Panofsky und Boehm beschreibt er sie vielmehr als umfassende Kulturtechnik der europäischen Neuzeit, die den/die BetrachterIn ins Bild setzt, als „ein zum Bild gewordener Blick“.16 Eine solche Sehnorm verbindet er mit der grundsätzlichen Bildfrage: „Was Kulturen mit Bildern machen und wie sie Bilder sehen, führt zum Zentrum ihrer Denkweise.“17 Zum Verständnis solcher Bild- und Sehnormen
Empirische Ästhetik und die Bildfrage
kann die empirische Ästhetik weiteres Diskussionsmaterial liefern. In einer zusätzlichen Manipulation haben wir z. B. in einem ukiyo-e Objekte so entfernt, dass sich die Horizontlinie nach unten verschob (Abb. 1b). Erstaunlicherweise präferierten die japanischen ProbandInnen dabei das der Tradition widersprechende, manipulierte Bild, die deutschen ProbandInnen jedoch das Original (Abb. 2). Sogar entgegen der Bildüberlieferung der ukiyo-e scheinen JapanerInnen also Elemente von Leere im Bild vorzuziehen. Darüber hinaus zeigen vorläufige Eyetracking-Daten, dass unsere japanischen ProbandInnen den Hintergrund öfter fixierten als die deutschen, sie also einen weiteren, kontextuellen Explorationsradius haben, der auch die leeren Bereiche mit einschließt (Abb. 2, links). Die Interpretation solcher und vergleichbarer Ergebnisse wird zu einer Erweiterung der Bildfrage über historische Überlegungen hinaus beitragen.
1 Gottfried Boehm: Was ist ein Bild?, München 1994. 2 Horst Bredekamp: Bildakt. In: Pablo Schneider, Marion Lauschke (Hg.): 23 Manifeste Zu Bildakt Und Verkörperung, Berlin 2017, S. 25–34. 3 Joerg Fingerhut, Rebekka Hufendiek: Philosophie der Verkörperung. Ein Forschungsbericht zur Embodied Cognition. In: Information Philosophie, Jg. 17, 2017, Heft 3, S. 16–32. 4 John Dewey: The Later Works of John Dewey, 1925–1953, Vol. I, Experience and Nature, Carbondale 1981, S. 290. 5 Siehe Joerg Fingerhut: Habits and the Enculturated Mind. Pervasive Artifacts, Predictive Processing, and Expansive Habits. In: Fausto Caruana, Italo Testa (Hg.): Habits. Pragmatist Approaches from Cognitive Neuroscience to Social Science, Cambridge (im Druck). 6 Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwickelung in der neueren Kunst, München 1915, S. 11–12. 7 Wölfflin (s. Anm. 6), S. 20. 8 Takahito Masuda, Richard Nisbett: Attending Holistically versus Analytically. Comparing the Context Sensitivity of Japanese and Americans. In: Journal of Personality and Social Psychology, Jg. 81, 2001, Heft 5, S. 922–934. 9 Jiajia Che, Xiaolei Sun, Víctor Gallardo, Marcos Nadal: Cross-Cultural Empirical Aesthetics. In: Progress in Brain Re search, 2018, Heft 273, S. 77–103. 10 Daniel Berlyne: The Golden Section and Hedonic Judgments of Rectangles. A Cross-Cultural Study. In: Sciences de l’art/Scientific Aesthetics, Jg. 7, 1970, Heft 1, S. 1–6. 11 Thomas Jacobsen, Lea Höfel: Aesthetic Judgments of Novel Graphic Patterns. Analyses of Individual Judgments. In: Perceptual and Motor Skills, Jg. 95, 2002, Heft 3, S. 755–766. 12 Marcos Nadal, Enric Munar, Gisèle Marty, Camilo José Cela-Conde: Visual Complexity and Beauty Appreciation. Explaining the Divergence of Result. In: Empirical Studies of the Arts, Jg. 28, 2010, Heft 2, S. 173–191. 13 Die im Text beschriebenen Experimente an der Universität Tokio wären nicht möglich gewesen ohne die großzügige und unermüdliche Unterstützung von Dr. Yasuhiro Sakamoto. Vor Ort waren Prof. Yoshikazu Takemine und Prof. Yuki Hirose von unschätzbarer Hilfe. Ihnen allen gilt mein Dank. 14 Siehe Joerg Fingerhut, Aenne Brielmann, Antonia Reindl, Hideaki Kawabata, Jesse Prinz: Preference for Visual Complexity in Figurative Art. A Cross-cultural Comparison of Preference and Aesthetic Ratings. In Vorbereitung. 15 Kristina Nand, Takahiko Masuda, Sawa Senzaki, Keiko Ishii: Examining Cultural Drifts in Artworks through History and Development. Cultural Comparisons between Japanese and Western Landscape Paintings and Drawings. In: Frontiers in Psychology, Jg. 5, 2014. 16 Hans Belting: Zu einer Ikonologie der Kulturen. Die Perspektive als Bildfrage. In: Gottfried Boehm, Horst Bredekamp (Hg.): Ikonologie der Gegenwart, 2009, S. 9–20, hier S. 9. 17 Belting (s. Anm. 16), S. 9.
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Farbtafeln
Farbtafeln
I Ogata Kōrin: Yatsuhashi-zu / Schwertlilien an der Winkelbrücke, sechsteiliger Wandschirm (byōbu), Tusche und Farbe auf Blattgold auf Papier, nach 1709, New York, The Metropolitan Museum of Art, Inv.-Nr.: 53.7.1.
II Abbildung des Grundexperiments in der Farbenlehre.
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Farbtafeln
III Der von Minakata Kumagusu entdeckte Schleimpilz Minakatella longifila, Illustration von Gulielma Lister.
Farbtafeln
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IV Farblithographie des Texas fieberparasiten n. Zeichnung v. Robert Koch, 1906.
Kapitel IV
Naturbilder
Shigemi Inaga
Weg (Dō) – Rahmenlosigkeit – Verlauf Eine Reflexion auf ‚Japanisches‘ in der Kunst Es soll hier das Augenmerk auf einige Schlüsselworte gelegt werden, die moderne japanische Denker der ‚Schönheit‘ sowie Kunsthistoriker im Austausch mit der westlichen Welt geprägt haben.1 Zunächst verwies Okakura Tenshin (bzw. Kakuzō) in seinem Buch vom Tee auf den taoistischen Weg (道, Dō). Das Wort wird zwar auch als „schmaler Pfad“ oder „Gefäß“ ausgelegt, aber Okakura unterstrich das „Unterwegssein“, womit Heideggers „unterwegs“ vorausgeahnt scheint. Dann ersann Tsuzumi Tsuneyoshi die Rahmenlosigkeit als Besonderheit der japanischen Kunst, wobei die Verwandtschaft zu Kants Interesselosigkeit sowie Hegels Endlosigkeit auffällt. Als drittes machte Yashiro Yukio auf die Graduierung durch Farbverlauf (暈し, Bokashi)2 im japanischen Handwerk und der japanischen Kunst aufmerksam, womit das Informel der Nachkriegsjahre vorweggenommen schien. Wie kamen diese Denker auf diese Konzepte? Welche Vorbedingungen verbergen sich in ihnen? Die ‚Japanizität‘ musste im Gegensatz zum westlichen Muster zwischen ‚nicht zu tolerierender Homogenität‘ und ‚tolerierbarer Andersartigkeit‘ verortet werden. Indem ich den Spielraum zwischen diesen beiden Extremen auslege, möchte ich die Existenzumstände einer japanischen Ästhetik ausmessen, wie sie in der Verwestlichung des modernen Japan gesucht wurde. Aus Gründen der Erklärbarkeit soll sozusagen ‚flussaufwärts‘ vom dritten Punkt aus fortgeschritten werden.
Farbverlauf (Bokashi)/Tropf- und Übermaltechnik Tarashikomi Yashiro Yukio (矢代幸雄, 1890–1975) ist durch sein auf Englisch publiziertes, dreibändiges Werk zu Sandro Botticelli (1925) bekannt geworden. Kenneth Clark hat in seinem Nachruf auf Yashiro betont, dieser sei der Erste gewesen, der stark vergrößerte Werkausschnitte methodisch verwendet habe. Schon Giovanni Morelli hatte allerdings beobachtet, dass sich im Detail die unbewussten Eigenarten des Malers aufdecken lassen. Bei Yashiro, der in Florenz wie Bernard G. Berensons einziger Jünger aus dem Osten behandelt wurde, lassen sich Überschneidungen mit Aby Warburgs These vom Symptomgehalt entdecken, wo die floralen und vestimentären Details der Primavera in den Blick genommen werden.3 Als Foto erhalten ist der Moment, in dem Yashiro den Probedruck einer Illustration begutachtet (Abb. 1). Die darauf zu sehende Madonna del Libro (1481–82) war 2016 im Tokyo Metropolitan Art Museum ausgestellt (Abb. 2). Es sollte dabei nicht übersehen
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1 Yashiro Yukio, wie er den Probedruck seiner Buch illustration inspiziert (London, 1925).
2 Sandro Botticelli: Madonna del Libro (1481–82), Museo Poldi Pezzoli, Mailand.
werden, dass Yashiro selbst die Pose des lesenden Jesuskindes wiederholt. So stellte Yashiro unbewusst die Pathosformel des Messias nach. Eben jener Yashiro meinte in einem Artikel in der Sonntagsausgabe der New York Times vom 6. September 1936, eine Tradition des Realismus gäbe es in der japanischen Kunst nicht. Hingegen sei dort ein dekorativer, symbolischer Ausdruck maßgeblich geworden.4 Mag die Meinung Yashiros auch ein wenig holzschnittartig sein, wir verstehen sie, wenn wir zum Beispiel Caravaggios Der ungläubige Thomas (Abb. 3) und Tawaraya Sōtatsus Wasservögel auf einem Lotusteich (蓮池水禽図, Renchi suikin-zu, Abb. 4), zwei Werke des 17. Jahrhunderts, miteinander vergleichen. Der heilige Thomas, der die Verletzung an der Seite des Wiederauferstandenen untersucht, tritt in Hell und Dunkel modelliert lebendig aus der Leinwand hervor. Gegenüber dem Chiaroscuro der westlichen Kunst, bei dem die Schattierungen der Einzeldinge schonungslos hervorgehoben werden, erzeugt die östliche Tuschemalerei durch Verläufe und Abschwächungen belebende Graduierungen (濃淡, Nōtan) auf der Bildfläche. Yashiro spricht im selben Artikel auch die Bildhauerei an, wobei er anzweifelt, dass nur westliche realistische Menschendarstellungen als ‚klassische Vorbilder‘ anzusehen
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3 Caravaggio: Der ungläubige Thomas (1601–02), Öl auf Leinwand, 107 × 146 cm, Sanssouci, Potsdam.
sind, anhand derer dann die Weltgeschichte der Bildhauerei zu bewerten sei. Der Ausdruck von Geistigkeit liege jenseits der Grenzen des Realismus. Auch im Fall der Suibokuga (Tuschemalerei), jedenfalls bei Werken wie dem in Japan hochgelobten Die acht Ansichten des Xiaoxiang (瀟湘八景図, Shōshō hakkei-zu) von Muqi/Muxi (牧谿, jap. Mokkei, Zenmönch im China des 13. Jahrhunderts), wird deutlich, dass sie von einem Prinzip regiert werden, das in keinem Bezug zur westlichen Helldunkelmalerei steht. Übrigens ist Nōtan (wörtl.: dick-dünn bzw. stark-schwach) ein aus dem Chinesischen entlehntes Konzept, das als Ersatz für das westliche Wort Schattierung zu verwenden wäre, wie Ernest Fenollosa im Vorwort seines posthum erschienenen Werkes Epochs of Chinese and Japanese Art (1912) vorschlägt.5 Des Weiteren darf nicht übersehen werden, dass Yashiro vor dem Hintergrund des intellektuellen Klimas der Taishō-Zeit argumentierte, auch wenn er damals in Europa studierte. Der Übersetzer von Wassily Kandinskys Über das Geistige in der Kunst (1908), Sono Raizō (園頼三), behauptete in Die Psychologie der künstlerischen Schöpfung (Geijutsu sōsaku no shinri, 1922), dass das in Asien überlieferte Konzept Ki’in Seidō (気韻生動)6 Kandinskys Erklärungen vervollständige. Auch James Abbott McNeill Whistlers Freund Arthur Jerome Eddy identifizierte das Seidō (生動) in Cubists and Post-Impressionism (1914) als Besonderheit des Ostens.7 Allerdings entgegnet Sono, dass die im Westen von Theodor Lipps u. a. entwickelte und auch in Japan Anklang findende Einfühlungstheorie bereits tausend Jahre zuvor durch das östliche Ki’in Seidō vorweggenommen worden sei, sodass folglich die Einfühlung „nicht speziell im Osten oder Westen, sondern ganz allgemein als der Grund der künstlerischen Bewegung“ anzusehen sei. Betrachtet man darüber hinaus die T heorie
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5 Teeschale mit durchsickernden Regentropfen (雨漏茶碗), genannt Minomushi (蓑虫, „kleines Insekt mit Regenhut“), Nezu Museum Tokyo.
4 Tawaraya Sōtatsu (俵屋宗達): Wasservögel auf einem Lotusteich (蓮池水禽図) 116 × 50 cm, Edo-Zeit (17. Jahrhundert), Nationalmuseum Kyoto.
Dong Qichangs (董其昌, jap. Tō Kishō, 1555–1636), Maler zu Zeiten der Quing-Dynastie, dass das Ki’in Seidō sich aufgrund einer „inneren Notwendigkeit“ entwickle, dann ruft dies das gleichnamige „Prinzip der inneren Notwendigkeit“ bei Kandinsky in Erinnerung.8 Anlässlich der 1939 in Berlin inszenierten Ausstellung Altjapanischer Kunst wirkte Yashiro Yukio als Kulturdiplomat. Daraufhin übernahm er die Redaktion und Herausgabe der von der Gesellschaft zur Förderung internationaler Kultur nach dem verlorenen Krieg veröffentlichten zwei englischen Bände Schätze japanischer Kunst (Art Treasures of Japan, 1960).9 Seine Abhandlung Der Sinn für Nijimi (滲み)10 (1946) folgte dann zwei in den Schätzen verwendeten Werken: dem Titelbild des zweiten Bandes, Sesshus Haboku Landschaft (破墨山水図, Haboku sansui-zu, 1495), sowie dem als Illustration darin abgebildeten Kiefern-Wandschirm von Hasegawa Tōhaku (松風図屏風, Shōrin-zu byōbu, ca. 1590).11 Hier macht er auf ein Schönheitsbewusstsein aufmerksam, welches das durch allmähliches Ausbreiten und Ineinanderlaufen der Glasur auf einer Keramik einmalig
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6 Tawaraya Sōtatsu: Bauernhaus im Vorfrühling (田家早春図), Stellschirm mit verstreut aufgeklebten Fächern, Kyoto: Daigo-ji, Sanbō-in.
7 Ogata Kōrin (尾形光琳): Ablagebox mit fließender Wassergestaltung (流水図乱箱), 18. Jahrhundert, ehemals Kyoto Volkskunstmuseum.
entstandene, an eine Landschaft erinnernde Zufallsbild wertschätzt, wie es auf der Teeschale mit durchsickernden Regentropfen, genannt Minomushi („kleines Insekt mit Regenhut“, 雨漏茶碗・銘「蓑虫」, Amamori-jawan „Minomushi“), zu sehen ist (Abb. 5). Dieses Schönheitsbewusstsein manifestiert sich auch in der dekorativen wie symbolischen Tropf- und Übermaltechnik Tarashikomi (垂らし込み)12 in Tawaraya Sōtatsus Bauernhaus im Vorfrühling (田家早春図, Denka sōshun-zu, Abb. 6) oder in der vor dem Hintergrund einer Kalligrafie von Hon’ami Kōetsu (本阿弥光悦) entstandenen Szene Akutagawa ( 芥川図) aus dem Ise Monogatari (伊勢物語) sowie auch in den Heften mit Gras- und Blütenskizzen zu den vier Jahreszeiten aus dem Kokinwakashū (四季草花下絵古今和歌巻, Shiki sōka shita-e waka-kan). Zuletzt wird es auch in der Darstellung des alten Baumstamms in Ogata Kōrins Rote und weiße Pflaume (紅白梅図, Kōhaku ume zu, 18. Jahrhundert) und in der von Kōrin für die Ablagebox mit fließender Wassergestaltung verwendeten Suminagashi-Technik (墨流し, Marmorierung durch ausfließende Tusche) sichtbar (Abb. 7). Diese Kunsttechniken liegen grundsätzlich nicht im Blickfeld des von Yve-Alain Bois und Rosalind E. Krauss gemeinsam herausgegebenen Bandes Informe. Ebenso muss der Problemhorizont, den Georges Didi-Huberman – ein Antagonist der Oktober-Schule – in seinem Werk Ähnlichkeit und Berührung (1999) entwirft, von nicht-westlicher Seite überdacht werden.13
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Rahmenlosigkeit (無框性) Ein von Yashiro Yukio ebenfalls erwähnter Begriff ist die von Tsuzumi Tsuneyoshi (鼓常
良, 1887–1981) ins Spiel gebrachte Rahmenlosigkeit. Während seines Deutschlandaufent-
haltes 1928 veröffentlichte Tsuzumi in der einflussreichen Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft den Aufsatz Die Rahmenlosigkeit des japanischen Kunststils.14 Dieser fand ein beträchtliches Echo beim deutschen Fachpublikum, woraufhin noch im selben Jahr beim Insel-Verlag Die Kunst Japans erschien. Dieser Verlag war es auch, der zuvor Okakura Tenshins Buch vom Tee publiziert hatte. Tsuzumis japanische Monografie Forschungen zum Stil der japanischen Kunst (Nihon geijutsu yōshiki no kenkyū, 1933) wird diese deutsche Ausgabe später in ihrem Vorwort hervorheben.15 Der argumentative Kern des Konzepts der Rahmenlosigkeit soll aus Tsuzumis deutschem Aufsatz zitiert werden: [...] so kann eben die Mangelhaftigkeit eines Kunstwerkes manchmal für sie [die ästhetischen Vorstellungen eines Werkes] sogar günstig sein. Gerade die Rahmen losigkeit gewinnt hierin eine Berechtigung, weil sie unserer [japanischen] Einbildung keine Schranke setzt. Sie gewährt anderseits auch dem Kunstwerk sozusagen eine Art Freiheit, indem sie dasselbe auf den wirklich gegebenen Raum nicht einschränkt, sondern, wenn es ihm gefällt, fast überallhin übersiedeln läßt. 16
Nach Tsuzumi können sich bestimmte „Mängel“ eines Kunstwerks „günstig“ auf dessen imaginäres Potenzial auswirken. In deutlicher Anlehnung an Okakuras Buch vom Tee behauptet Tsuzumi, dass diese Rahmenlosigkeit aber nur hinsichtlich der ‚japanischen‘ Vorstellungskraft, der keine irgendwie gearteten Beschränkungen auferlegt sind, ihre „Berechtigung“ erhalte. Außerdem verleihe nur diese Rahmenlosigkeit die besondere Freiheit, das Kunstwerk nicht im gegebenen Raum einzusperren, sondern es in angemessener Weise in alle Richtungen „übersiedeln“ zu lassen. Diese ‚Wanderung‘ oder ‚Übersiedlung‘ soll nun aus Tsuzumis eigenem Denkrahmen hinaus ‚umgesiedelt‘ werden: Sie ruft den Natur- und Volkskundler Minakata Kumagusu (南方熊楠, 1867–1941) in Erinnerung. Kumagusu veröffentlichte in englischsprachigen Wissenschaftsmagazinen wie Nature und ist bekannt dafür, sich in die Erforschung der Schleimpilze in den Wäldern seiner Heimat Kumano vertieft zu haben.17 So wie Charles Darwin vermutlich von der ikonenhaften Gestalt der Koralle zu seiner Evolutionstheorie inspiriert wurde,18 dürfte auch Kumagusu das Modell seiner eigenen Ökologiekonzeption bei den Schleimpilzen entdeckt haben (Abb. 8).
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8 Der von Minakata Kumagusu entdeckte Schleimpilz Minakatella longifila, Illustration von Gulielma Lister.
In Ernst Haeckels Kunstformen der Natur (1904) sind die Schleimpilze in einer spiegelsymmetrischen ‚Trophäendarstellung‘ auf der Bildtafel eingefroren. Blickt man im Gegensatz dazu in Kumagusus Notizheft, dann liegt das Hauptaugenmerk auf der Beobachtung von Bewegungsabläufen, mit denen die von ihm entdeckte neue Art von Schleimpilzen unablässig Metamorphosen durchläuft. Dass Kumagusu sich insbesondere diesen Lebewesen widmete, lag darin begründet, dass sie, obwohl sie morphologisch den Pflanzen zuzuordnen sind, in ihrem tatsächlichen Lebensvollzug aber wie Tiere Nahrung anvisieren und sich frei fortbewegen, also gewissermaßen eine umsiedelnde Eigenschaft aufweisen. Auch in Darwins korallenförmigem Evolutionsmodell nehmen die Pilze eine rahmensprengende Zwischenstellung zwischen dem Reich der Pflanzen und dem der Tiere ein. Gegen die Prämisse der Taxonomie, dass sich alle Naturerscheinungen klar klassifizieren lassen, sah Kumagusu ein, dass eben jene Klassifizierung das essenzielle Wirken der Natur in den erfassten Kreaturen übersehen konnte. Während seines Aufenthalts in London entstand ein Brief an Doki Hōryū (土宜法龍, 1854–1923), einen Mönch der Shingon-Schule, der zur selben Zeit im Dezember 1893 in Paris tätig war. Darin ist ein Schaubild zu sehen, auf dem aus der Schnittmenge von „Ding“ (物) und „Herz“ (心)19 die „(Tat)Sachen“ (事) hervorgehen (Abb. 9). In einer Ding-Geist-Dichotomie entgehen einem folglich die „Begebenheiten“ (出来事), die sich nur für das Herz eröffnen. Wir werden auf das „Sehen mit dem Herzen“ zurückkommen.
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9 Kumagusu stellte die Wechselbeziehung von Ding, Sache und Herz, die er sich zur persönlichen Aufgabe gemacht hatte, im Bild dar. Oben: Brief an Doki Hōryū (21.–24.12.1893); unten: Kumagusus ‚Daumen abdruckbilder‘ aus seinem Londoner Exzerpt (1899).
Wenn man die Gemeinsamkeiten zwischen Kumagusus Ideen und dem Zusammenspiel von Noema und Noesis in der Phänomenologie hervorhebt, könnte man sich auf Ernst Cassirers Symbolphilosophie berufen und ein neues Schaubild entwerfen, auf dem am Schnittpunkt zwischen der natürlichen Welt und der Wahrnehmung der Menschen die Symbole geboren werden. Nach Kumagusus Rückkehr nach Japan findet sich dieses Dreieck von Geist – Ding – Sache in einem Schreiben an Doki vom 8. August 1903 verschränkt mit 金 (Gold, Kin), womit Kumagusu das „Mandala der Vajra-Welt“ (金剛界曼荼 羅, Kongō-kai Mandara) abkürzt.20 In der „Sache“ (事) wird der „Name“ (名) gewährt, was auch das „Zeichen/Symbol“ (印) hervorbringt, dort, wo die von Dainichi (大日, Vairocana, Sonnenbuddha) ausgestrahlte „Energie“ (力) schließlich eintrifft. Jedoch ist zur Linken der „Vajra-Welt“ ein 胎 (Mutterschoß, Tai) bzw. das „Mutterschoßwelt-Mandala“ (胎蔵 界曼荼羅, Taizō-kai Mandara) platziert, welches zusammen mit 金 das „Mandala der beiden Welten“ (両界曼荼羅, Ryōkai Mandara) ausmacht (Abb. 10). Hier lässt sich erkennen, wie Kumagusu gegenüber Doki, der einen esoterischen Shingon-Buddhismus vertrat, selbstbewusst für sich beanspruchte, die Lehre des Religionsstifters Kūkai (空海, Kōbō Daishi, 弘法大師, 774–835) zu interpretieren.
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10 Kumagusus Mandala der Vajra-Welt (8.8.1903).
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11 Kumagusus Erklärungszeichnung zum Reich der „Durchdringung von Phänomen und Prinzip“ (理事無礙法界), Brief an Doki Hōryū (18.7.1903).
In diesen schematischen Darstellungen wird gezeigt, wie neben der dem Mutterschoß-Mandala entsprechenden einfachen Beziehungskette von „Ursache“ (因) und „Folge“ (果) das verborgene System des Engi (縁起)21 existiert. In der Naturwissenschaft der westlichen Moderne werden komplexe Ursache-Folge-Zusammenhänge in der Regel als eingleisige Ursache-Wirkungs-Phänomene verstanden. Andere Systeme werden in so einem Weltbild übersehen. Dieser Gedanke findet sich in einem Brief an Doki vom 18. Juli 1903 in einem weiteren, verwickelten Schaubild veranschaulicht, in welchem ein einzelnes Phänomen nah und fern von einem komplexen Bündel von Gesetzen (理, Ri) umgeben ist. Kazuko Tsurumi (鶴見和子) hat es auf Anregung Nakamura Hajimes (中村元) das „Minakata Mandala“ genannt (Abb. 11). Der Verfasser dieses Beitrages hat es als eine Momentaufnahme aufgefasst, die den im Kegon-Sūtra benannten Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt im Reich der „Durchdringung von Phänomen und Prinzip“ (理事無礙法界, Riji muge hokkai) darstellt.22 Dass dieses Diagramm außerdem dem späten Action-Painting Jackson Pollocks nahesteht, der damit den abstrakten Expressionismus im Nordamerika der Nachkriegszeit einläutete, war mit Sicherheit nicht Zufall, wie ich anderswo dargelegt habe.23 Pollock dürfte in jenen späten Jahren von der Nagashi-kake (流し掛け)-Technik des japanischen Töpfers Shōji Hamada (濱田庄司, 1894–1978) gewusst haben, der aus der Volkskunstbewegung hervorging. Dabei wird vor dem Brennen mit einem Schöpflöffel freihändig die Glasur auf die Keramik getröpfelt (Abb. 12). Hamada hatte sie in Werken wie Schale mit schwarz-weißem Tropfmotiv (白釉黒流描大鉢, Shirogusuri kuronagashi-gaki ōbachi) eingesetzt. Um diese Art der Keramikbemalung zu rechtfertigen, die vom Zufall und der
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12A+B Das Action-Painting des Jackson Pollock (links) und die Nagashi-kake-Technik bei Shōji Hamada (rechts).
Unbekümmertheit einer ersten Begegnung lebt, betonte Hamada, dass sich hierbei über 40 Jahre akkumulierte Erfahrung wie von selbst äußere. Es ist auch zu vermuten, dass James McNeill Whistler beim Prozess gegen John Ruskin eine ähnliche Argumentation vorbrachte, um sein Improvisationswerk Nocturne zu verteidigen.24 Etwa zur selben Zeit, zu der Pollock wirkte, zeigte die zur Gutai-Gruppe gehörende Künstlerin Atsuko Tanaka (田中敦子) in Höllentor (地獄門, Jigokumon, 1965–69) eine Herde primärfarbener Kreisformen, die in gegenseitiger Wechselwirkung ineinandergreifen. Leiht man sich das Modell des auch als Islamforscher bekannten Sprachphilosophen Toshihiko Izutsu (井筒俊彦), so findet sich hier die im Kegon-Sūtra erläuterte „Durchdringung von Phänomen und Phänomen“ (事事無礙, Jiji muge) geschickt ins Bild gesetzt.25 Wenn die Erkenntnis des Reiches der „Durchdringung von Phänomen und Prinzip“ sich fassen lässt als 一一塵中に一切の法界を見る [den Zeichen nach wörtlich: „In einem jeden Staubkorn ist das Ganze des Universums zu sehen.“, Anm. d. Übers.], d. h., im kleinsten Staubkorn wird das Prinzip des Gesetzes reflektiert, dann lautet die Lehre der „Durchdringung von Phänomen und Phänomen“, dass ein jedes Staubkorn durch jedes einzelne aller anderen Staubkörner beeinflusst wird und in den Maschen dieses Beziehungsnetzes als Individuum Niederschlag findet. Niemand anderes als Nam June Paik (白南準) hat diese Einsicht des Kegon-Sūtra unter Zuhilfenahme von Fernsehgeräten visualisiert. Lange als haltloser Scherz abgetan, hat diese Interpretation durch jüngst aufgefundene Zeugnisse des Künstlers selbst, die Notizen seiner Frau sowie die Aussagen von Nahestehenden rasch an Glaubwürdigkeit gewonnen.26 Der Verfasser hat sich in den letzten Jahren bemüht, diese Neigung der modernen Kunst mit Indras (因陀羅) Netz in Beziehung zu setzen.27 In Marcel Duchamp inmitten unendlicher Fäden: Meditation zwischen programmierter Zukunft und archivierter E rinnerung (Marcel Duchamp dans le fil infini. Méditation entre futur programmé et mémoire enregis-
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trée, 1977) von Tetsumi Kudō (工藤哲巳), der geraume Zeit in Paris tätig war, sieht man das sich am Fadenspiel ergötzende Porträt des Dadaisten in späten Jahren, eingesperrt in einem Vogelkäfig. Schließt man das Fadenspiel metaphorisch mit Indras Netz und dem Doppelhelix-Motiv der DNA kurz, so lässt sich die Skulptur als Referenz auf Richard Dawkins Das egoistische Gen (1976) verstehen, in welchem die menschliche Existenz zum Sklaventum verdammt erscheint.28 Ein weiteres Beispiel ist Dialog der Gene (Dialogue from DNA, 2004) der in Berlin lebenden Künstlerin Chiharu Shiota (塩田千春). Diese sammelte zunächst abgelegte Schuhe verschiedenster Menschen und spannte dann von jedem einzelnen aus einen roten, schicksalsträchtigen Faden29 zu einem Baldachin zusammen. Dadurch suchte sie zu veranschaulichen, wie sich die im Zeichen des Zufalls intensivierten „Dinge“ dadurch, dass sie die Gesinnung der „Leute“, die sie getragen haben, ausdrücken, zu einem „Sachverhalt“ (und mithin zu einem Kunstwerk) bündeln: Sie alle weisen auf Intentionen, Wünsche oder Erinnerungen hin, deren Gemeinsamkeiten unausgesprochen bleiben. Hinsichtlich des Minakata-Mandalas wäre zu sagen, dass die „Sache“ 事, die diese „Dinge“ 物 verbindet, nur für das „Herz“ 心 erkennbar ist. Shiota macht so die Vernetzung, in der wir alle unwissentlich stehen, augenfällig. Interpretationen, die in solchen Kunstwerken das Kegon-Sūtra erkennen, folgen einem logischen Widerspruch, der den Denkmustern der aristotelischen Tradition, wie etwa dem Syllogismus oder dem Satz vom Widerspruch, entgegenläuft. Sie wiederholen gewissermaßen den Zirkelschluss als absichtliche Selbstvergiftung. Vermutlich stoßen sie deshalb im englischsprachigen Raum intuitiv auf Ablehnung.30 Doch war es nicht gerade die moderne westliche Naturwissenschaft, die Kumagusu bekämpfen und überwinden wollte und die er sich doch selbst auferlegt hatte?
Physisches Gedächtnis – die Vision des Vitalismus Gerade als Kumagusu auf dem Heimweg von seinem achtjährigen Aufenthalt in London war, mag ihm auf dem Indischen Ozean ein in entgegengesetzte Richtung fahrendes Schiff begegnet sein, in dem sich der zum Auslandsstudium nach London aufbrechende Natsume Kinnosuke (夏目金之助, 1867–1916) befand. Beide waren gleich alt und hatten dieselbe Vorbereitungsschule besucht. Nach seiner Rückkehr aus London hatte Sōseki (der Künstlername von Natsume Kinnosuke) zunächst einen Lehrauftrag am Literatur institut der Universität Tokyo inne, von dem er sich aber bald zurückzog, um dann als Schriftsteller bekannt zu werden. 1912 gab er den Kurzgeschichtenband Träume aus zehn Nächten (夢十夜, Yume jū-ya) heraus.31
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Der Traum der sechsten Nacht erzählt, wie der kamakurazeitliche Bildhauer Unkei (運慶, 1150–1223) die Holzstatuen der zwei Devas (typische Wächter-Gottheiten an Tempeleingängen) schnitzt. Der Träumende berichtet bewundernd, wie mühelos Unkei mit Hammer und Meißel Nase und Augenbrauen formt, woraufhin ihn sein junger Begleiter maßregelt: Das Herausformen von buddhistischen Bildnissen entspreche dem Ausgraben von Steinen aus der Erde, was durchaus keine Schwierigkeiten bereite. Man könne gar nicht fehlgehen. Herausgefordert von dem überraschenden Einwand, versucht nun der Erzähler seinerseits, einen umgestürzten Baum neben seinem Haus zu bearbeiten, wobei – selbstverständlich, könnte man sagen – nicht die gewollten Devas hervorkommen. In Meiji-Holz seien eben keine Devas verborgen – mit dieser sonderbaren Einsicht endet der Traum. Was Unkeis Devas angeht, so hatte Sōseki während des Schreibens sicherlich die Schnitzereien der Guhyapāda-vajra (仁王像, Ni-ō-zō, Tempelschutzgottheiten, 1203) am großen Südtor des Tōdai-ji in Nara im Sinn, die das Kernstück der riesenhaften Holzkonstruktionen bilden. Zudem dürfte der damals noch vor dem Palazzo della Signoria in Florenz aufgestellte David (1504) des Michelangelo in die Traumschilderung hineingespielt haben. Sōseki übertrug dabei eine Anekdote aus dem Leben des italienischen Meisterbildhauers auf Unkei. Die im Sōseki-Archiv der Universität Tōhoku aufbewahrten Buchbestände legen nahe, dass Sōseki während oder aber kurz nach seinem Aufenthalt in London Walter Paters Renaissance (1904) oder John Addington Symonds Renaissance in Italy (1899) gelesen haben muss. Zwar sind laut dem Online-Katalog des Archivs keine Randnotizen von Sōseki erhalten, aber inhaltlich zeigen sich deutliche Parallelen. Bei Michelangelo taucht Leben aus dem Stein auf; bei Unkei schlägt der Bildhauer mit Hammer und Meißel das Überschüssige heraus, ganz so, als müsse die eigentliche Gestalt nur noch hinter ihrer Maske aus Marmor erscheinen. Der von Michelangelo selbst in einem Gedicht an Vittoria Colonna gerichtete Vers „Im harten Gestein der Alpen leben Statuen“, sowie die Schilderung seines Lebens in Giorgio Vasaris Künstlerbiographien untermauern diesen Mythos. Benedetto Varchi, ein Freund Michelangelos, hat eine Interpretation des Verses unternommen und behauptet, dass die von der Kunst herauszubildende Form eigentlich in der Seele des Künstlers existiere, wofür er die aristotelische Metaphysik in der Interpretation Averroes‘ heranzieht. Diese Überlegung wiederum griff der junge Erwin Panofsky in seiner Schrift Idea (1924) auf, um eine neuplatonische Lesart zu entwickeln. Bei Michelangelo unterliege die physische Form des Werkes unvermeidlich gegenüber dem der Seele innewohnenden endon eidos, der „inneren Form“ oder Werkidee, und müsse deshalb stets unklar oder unvollendet erscheinen.32
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Jedoch lassen sich zwischen dieser Auslegungstradition und der Erzählung Sōsekis auch deutliche Unterschiede feststellen. Weder Michelangelo selbst noch die Renais sance-Forschung des 19. Jahrhunderts hätte wohl wie der junge Begleiter Sōsekis behauptet, Bildhauerei sei genauso einfach wie das Ausgraben von Steinen aus dem Erdboden. In Sōsekis Traum beherbergt die Statue in der Tiefe ihrer Materialität selbst schon vor ihrer Schaffung die Form, als würde sie sich ihrer Gestalt erinnern; hier wird eben nicht argumentiert, dass die Schöpfungstätigkeit des Künstlers das Innere seiner Seele auf eine undefinierte Substanz hin projiziere. Ein solches vitalistisches Denken, demzufolge der Materie Geistigkeit innewohnt, scheidet sich hier deutlich von jenem orthodoxen Platonismus und Aristotelismus, welcher Materie und Geist strikt trennt. Seltsamerweise weist die Unkei-Interpretation der Träume aus zehn Nächten damit wiederum auf Minakata Kumagusus Diagramm. Am Knotenpunkt von „Ding“ und „Herz“ entstehen die „Sachen“ oder, anders gesagt, am Berührungspunkt des Holzes mit der Hand des Meisters entsteht die Buddha-Statue. Von Aristoteles ist der rätselhafte Ausspruch überliefert, „die Hand“ sei „eine ähnliche Sache wie die Seele“. Auch der auf die Form (morphé) fixierte Aristotelismus gibt damit eine Denkweise jenseits des kartesischen Modells zu erkennen, bei dem der Geist nur im Gehirn verortet und vom Körper getrennt wird.33
Hin zu Dō oder passage Wohnt dem Stoff eine Geistigkeit inne? Oder geht sie vom Stoff aus und wandelt umher? Wenn dem Stoff eine Geistigkeit innewohnt und wenn er zum Sitz von Erinnerung wird, besitzt er dann außerdem Vitalität, wird er dann ‚belebt‘? Fragen dieser Art ergeben sich aus den bisherigen Betrachtungen. In diesem Zusammenhang ist ein Denker anzuführen, der sowohl ‚Schleimpilz‘-Kumagusu als auch ‚Unkei‘-Sōseki vorausgeht und von Yashiro Yukio als Wegbereiter anerkannt wurde. Auch Tsuneyoshi Tsuzumi beruft sich in seinen Überlegungen zur Rahmenlosigkeit auf ihn: Okakura Tenshin (岡倉天心, bzw. Kakuzō 覚三, 1863–1913). Als eines von drei Werken, die Okakuras internationalen Ruhm begründeten, wurde das zunächst englisch publizierte Buch vom Tee 1919 in deutscher Übersetzung vom Insel-Verlag herausgegeben, worauf wir zurückkommen werden. Das Buch vom Tee greift eine Anekdote von Tanka (丹霞, chin. Dan Xia, 739–824) auf, die von der Rede eines unbekümmerten Mönches berichtet.34 Insofern Okakura diese Anekdote als einen ikonoklastischen Vorfall beschreibt, ist der byzantinische Bilderstreit
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mit aufgerufen. Tanka ist als Mönch der Tang-Dynastie bekannt, der ein hölzernes Bildnis des Buddha zu Brennholz verarbeitete, um sich an einem kalten Wintertag aufzuwärmen. Als dies ein Passant sah, rief er zornig aus: „Was für ein Sakrileg!“ Darauf antwortete Tanka ruhig: „Aber nein, ich möchte die Gebeine des Heiligen empfangen.“ – Auf die Entgegnung: „Von diesem Buddhabildnis wird man sicherlich keine Reliquien mehr empfangen können!“, erwiderte der Mönch wiederum: „Wenn ich die Gebeine nicht auffinde, dann wird dies wohl kein Buddha gewesen sein. Wenn es aber so ist, dann habe ich auch nicht das Verbrechen der Blasphemie begangen.“ Mit diesen scharfen Worten wandte Tanka sich wieder dem Feuer zu.35 Den Dingen Buddha-Natur zuzuschreiben oder nicht ist sicherlich eine Frage des Glaubens. Besitzt man aber Tankas Art von Erleuchtung, die sich je nach Bedarf einer ‚Blasphemie‘ schuldig macht und die Dinge zerstört, dann ist man imstande, der Buddha-Natur qua Buddha-Natur eine Erscheinung als ‚Ding‘ abzugewinnen. Dann nämlich kann die entsprechende Herzensneigung hinter den Dingen Buddha-Natur entdecken, indem sie die Dinge ablehnt. Dieser scheinbar paradoxe Zusammenhang soll am Beispiel der ‚Überführung‘ des Ise-Jingū-Heiligtums, die in der Fachsprache Zōtai (造替) genannt wird, weiter durchdacht werden. Der Japanologe der ersten Stunde, Basil Hall Chamberlain, der sich unter anderem um eine englische Übersetzung des Kojiki bemühte, zeichnete in A Handbook for Travellers in Japan (1892) den „Bericht eines englischsprachigen Reisenden“ auf, in dem es heißt, im Ise-Jingū seien weder Bilder noch Statuen noch Zierschnitzereien zu sehen. Das Heiligtum sei offenbar ein leerer Behälter oder aber die einheimischen Japaner „ließen uns diese nicht sehen“.36 Der Ise-Jingū erscheint als Einrichtung zur Vertuschung einer inneren Leere. Hinzu kommt, dass diese Zypressenholzkonstruktion in ihrer fundamentlosen Hüttenbauweise alle zwanzig Jahre einmal abgebaut und umgesiedelt wird, sodass ihre physischen Überreste regelmäßig – absichtlich – verlorengehen. Das kommt einer Verleugnung dessen gleich, was man in der europäisch-amerikanischen Kultursphäre „Relikt“ nennen würde.37 Ein japanischer Schrein ist üblicherweise eine Art Gefäß, das das Gedächtnis der Ahnen als Geist in die jenseitige Welt übermittelt. Und sieht man dieses Gefäß wissenschaftlich, dann muss es unweigerlich als ein Ort erscheinen, der gerade das Fehlen von Existenz aufzeigt. Doch ist der „Geist“ der Definition nach eben nicht-materiell und leer. So fungiert dieser Ort als (fiktionale) Vorrichtung des „Herzens“ (心), die es erlaubt, die nicht-seienden „Dinge“ (物), welche den menschlichen Verstand übersteigen, als „Sachen“ (事) mit dem „inneren Auge“ (心眼) zu sehen. Erst aus der Begegnung von Ding und Herz gehen die Sachen hervor. So wie das dem Feuer preisge-
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gebene Buddhabildnis des Tanka verweist der je gegenwärtige Holzschrein in Ise gerade durch seine Leere auf etwas Immaterielles, das dort ‚fehlt‘. Der alte Schrein, der alle zwanzig Jahre durch einen Neubau zu ersetzen ist, wird nach einer Übergangszeit, in der er neben dem neuen Schrein steht, auseinandergenommen und unbebautem Erdboden gleichgemacht. Dieser leere Ort, der auf die Abwesenheit des bereits Vergangenen wie auch auf die Möglichkeit des Zukünftigen verweist, zeigt gerade durch seine eigene Leere auf, dass er als Wohnstätte für die Seele unentbehrlich ist. Und die alte Haupthalle, deren Bauholz nach der Demontage an Schreine im ganzen Land verschickt wird, verschränkt sich mit ihrem neuen, den Geist empfangenden Doppelgänger. Betrachtete man diese geografische Konstellation aus der Vogelperspektive quasi über die Zeiten hinweg, dann würden die beiden Standorte eine geschichtliche ‚Doppelhelix‘ nachzeichnen, die an die menschliche DNA erinnert. So löst der Neubau des Schreins die Regeneration (den ‚Metabolismus‘) des Generationswechsels ein. Dass hier die Überreste der Vergangenheit nicht als Ruinen erscheinen, sondern als Inbegriff des lebendigen Bausinnes eines Volkes; dass sie mithin das Leben der heiligen Leere verkörpern, stellte auch der Architekt Bruno Taut fest, der aus Deutschland für eine Weile ins Exil nach Japan übersiedelte.38 Indem der Erinnerung keine physische Dauerhaftigkeit zugestanden wird, sondern ihre Zeugnisse im Zeremoniell der Überführung regelmäßig auszulöschen sind, wird sie umso mehr geistig an die nächste Generation überliefert. Die Form bleibt, auch wenn das Material geht. Indem die Anhaftung am Materiellen unterbrochen wird, kann die Kontinuität des Phänomens – in Form einer Garantie der physischen Diskontinuität – widersprüchlich sichergestellt werden. Handelt es sich damit nicht ebenso um eine Form, der Materie den Geist ‚einzuverseelen‘ oder das Leben ‚einzuverleiben‘? Hier wird ein ‚Weg‘ deutlich, das Gedächtniswesen auf innovative Weise zu erneuern.39 So eröffnet sich schließlich eine Überlegung zum Dō. Jedoch wollen wir uns hier darauf beschränken, die Bestimmung des Weges festzuhalten, wie sie Okakura im Buch vom Tee gibt. Er schreibt: „Das Tao ist mehr das Unterwegssein als der Weg.“40 Dieses „Unterwegssein” entspricht einer Konnotation des „unterwegs”, das Martin Heidegger im Sinn hatte, als ihm zur Zeit der Abfassung von Sein und Zeit von Kichinosuke Itō die deutsche Übersetzung des Buchs vom Tee geschenkt wurde. Und diese wiederum erinnert an das Wort des großen Dichters Rabindranath Tagore, den Okakura zweimal in Indien getroffen hatte. „Mein Heiligtum liegt nicht am Ende meines Weges. Meine heiligen Orte liegen zu beiden Seiten meines alltäglichen Gehens.“ Tagore widmete diesen Vers dem japanischen Maler Kōsetsu No-usu (野生司香雪), als dieser am 6. Oktober 1936 auf Reisen ging.41 Nach Okakura und Tagore entsteht
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die Vorstellung des Weges erst unterwegs. Inwiefern damit eine Neuinterpretation der Idee vom „Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt“ (Samsara) eingefordert wird, ist ein Thema für eine andere Gelegenheit.42 Zumindest ist aber anzudeuten, dass das hier von Okakura verwendete Wort „passage“ vielleicht nicht zufällig auch von Walter Benjamin ausgewählt wurde.43 Statt einer Zusammenfassung sei abschließend darauf hingewiesen, dass auch Aby Warburgs These des „in den Phänomenen innewohnenden Pathos“ sowie seine Einsicht in die unwillkürliche Verkettung von Erinnerungen dem Buch vom Tee durchaus verwandt ist. Aus dem Japanischen übersetzt von Anna Zschauer.
1 Das japanische Original dieses Beitrages war die Bearbeitung eines englischen Vortrags aus dem Humboldt-Kolleg 2016 in Tokyo: Bilder als Denkmittel und Kulturform. Aby Warburg, technische Bilder und der Bildakt (9. April 2016, Komaba Campus, Tokyo Universität) und wurde für die Veröffentlichung in einer wissenschaftlichen Publikation bearbeitet. Der Verfasser möchte seine Dankbarkeit für die Einladung von Professor Jun Tanaka ausdrücken sowie für die anregenden Gespräche mit Horst Bredekamp und Karl Clausberg. 2 [Anm. d. Übers.: Bokashi meint einen Helligkeitsverlauf, der durch einen Übergang von dicker bzw. dichter nach dünner bzw. seichter Farbe entsteht. Das Kanji 暈 weist ursprünglich auf den Hof oder die Corona des Mondes hin, in der sich das Licht von der vollen Helligkeit bis zum dunklen Nachthimmel hin abschwächt.] 3 Jun Tanaka: Saibu no yaban-na jiritsusei. Yashiro Yukio, Warburg, Bataille (Das wilde Eigenleben der Details. Yashiro Yukio, Warburg, Bataille). In: ders.: Imeji no shizenshi (Eine Naturgeschichte des Bildes), Tokyo 2010, Teil 4, Kapitel 1. 4 Darüber detaillierter in: Shigemi Inaga: Yashiro Yukio between the East and the West in search of an aesthetic dialogue. In: Krystyna Wilkoszewska (Hg.): Aesthetics and Cultures, Krakau 2012, S. 43–60. Japanisch in: Shigemi Inaga: Kaiga no rinkai. Kindai higashi-ajiya bijutsu-shi no shikkoku to meiun; Images on the Edge. A Historical survey on East Asian Trans-Cultural Modernities (Die Kritikalität des Bildes. Joch und Schicksal der modernen ostasiatischen Kunst), Nagoya 2014, Teil 5, Kapitel 3. 5 Hier mag auch „Nocturne“ von James Abbott McNeill Whistler einen inspirierenden ‚Schatten geworfen‘ haben. Genauer in: Shigemi Inaga: ‚Nihonbi‘ kara ‚tōyōbi‘ e? Keishō to saihen no kiseki (Von der japanischen zur ostasiatischen Schönheit? Auf den Spuren von Nachfolge und Reorganisation). In: Tadashi Karube u. a. (Hg.): Iwanami Kōza Nihon no shisō (Japanisches Denken) 7; Girei to sōzō. Bi to geijutsu no gensho (Ritus und Schöpfung. Der Ursprung von Schönheit und Kunst), Tokyo 2013, S. 268–270. 6 [Anm. d. Übers.: Ki’in Seidō meint etwa „rhythmische Resonanz und Lebendigkeit“ oder „anmutig-lebendige Bewegtheit“. Ki’in heißt für sich genommen etwa „Eleganz, Gediegenheit“. 気 Ki ist ein häufig mit „Atem, Lebenskraft, Gemüt oder Geist“ wiedergegebener, äußerst komplexer Terminus, der eine situative wie auch innerliche Verfasstheit beschreibt. Er wird hier mit 韻 In, „Reim“ oder „Laut“, verbunden und deutet an, dass das Ki eingebunden, in treffender (reimender) Weise wiederaufgenommen und belebt wird. Die Belebung wird im Wortteil Seidō betont, was „Lebhaftigkeit“ oder „bewegtes Leben“ heißt. Im Betrachter eines durch Ki’in Seidō charakterisierten Werkes entsteht der Eindruck von Lebendigkeit durch eine virtuose Öffnung für das Ki. Ki’in Seidō ist weniger als Qualität des Werkes zu beschreiben als vielmehr als Qualität der Begegnung.] 7 Arthur Jerome Eddy: Cubists and Post-Impressionism, Chicago 1914, S. 149. (Allerdings enthält die japanische Übersetzung von Masao Kume den hier erwähnten Abschnitt nicht.) 8 Eddy: Cubists and Post-Impressionism (s. Anm. 7), S. 278. Siehe auch: Raizō Sono: Geijutsu sōsaku no shinri (Die Psyche in der Schöpfung der Kunst), Tokyo 1922, S. 142f. 9 Yukio Yashiro (Hg.): Art Treasures of Japan, 2 Bände, Tokyo 1960.
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10 [Anm. d. Übers.: Nijimi beschreibt ein Auslaufen oder Verlaufen der Farbe, das zum Beispiel dann entsteht, wenn nasse Farbe auf gut saugendes Papier aufgetragen wird und rasch auseinanderläuft.] 11 Siehe: Yukio Yashiro: Nijimi no kōka (Der Effekt von Nijimi, 1946). In: ders.: Suibokuga (Tuschemalerei), Tokyo 1969. 12 [Anm. d. Übers.: Bei der Tarashikomi-Technik wird eine noch feuchte Schicht verdünnter Tusche oder Farbe mit Linien dicker Tusche/Farbe übermalt, so dass durch das Verlaufen der dicken Farbe in der dünneren im Ergebnis ein Nijimi-Effekt entstehen kann.] 13 Yve-Alain Bois, Rosalind E. Krauss (Hg.): Formless. A User’s Guide, New York 1997. Japanisch durch: Kenji Kajiya, Gaku Kondō, Kazumi Takakuwa (Übers.): Anforumu. Mukei-na mono no jiten (Wörterbuch der formlosen Dinge), Tokyo 2011; Georges Didi-Huberman: L’Empreinte, Paris 1997; ähnlich auch in: Inaga: Kaiga no rinkai (s. Anm. 4), S. 482. 14 Tsuneyoshi Tsudzumi: Die Rahmenlosigkeit des japanischen Kunststils. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 1928, 22, S.46–60. [Anm. d. Übers.: Tsuzumi transkribierte seinen eigenen Namen Tsudzumi. Seine deutsche Publikation ist unter dieser Schreibung erschienen.] 15 Tanehisa Otabe: Tsuneyoshi Tsuzumi. Vorläufer einer komparativen Ästhetik. Seine Theorie der ‚Rahmenlosigkeit‘. In: JTLA, 2006, 31, S. 69–83. 16 Tsudzumi: Rahmenlosigkeit des japanischen Kunststils (s. Anm. 14), S. 54f. 17 Ryūgo Matsui: Minakata Kumagusu no gakumon keisei (Kumagusu Minakatas Wissenschaft), Doktorarbeit, Tokyo University Graduate School of Arts and Sciences, 2016. 18 Horst Bredekamp: Darwins Korallen. Die frühen Evolutionsdiagramme und die Tradition der Naturgeschichte, Berlin 2005. Japanisch durch Haru Hamanaka: Darwin no sango, Tokyo 2010. 19 [Anm. d. Übers.: Das Kanji 心 umgreift eine Bedeutungsbreite von „Herz“ über „Gemüt“ bis „Geist“ und „Sinn“ und wird häufig als „Herzgeist“ übersetzt. Hugo von Hofmannsthal verweist in seinem Vorwort zu Lafcadio Hearns „Kokoro“ auf das „Herz der Dinge“ und erinnert damit auch an Konnotation wie das „Herzstück“.] 20 [Anm. d. Übers.: 金 als Abkürzung für 金剛, kongō, d. h. Vajra bzw. „Donnerkeil“, ein buddhistisches Ritualobjekt.] 21 [Anm. d. Übers.: Engi ist die Abkürzung von 因縁生起 Inenseiki, der buddhistischen Lehre vom abhängigen Entstehen aller Dinge.] 22 [Anm. d. Übers.: Der buddhistische Mönch Chengguan (澄観, jap. Chōkan, 738–839) schlug eine Unterteilung in vier Reiche vor, die als alternative Betrachtungsweisen der einheitlich erlebten Ding-Welt und entsprechend als Stadien der meditativen Entwicklung gesehen werden können: „Das Reich der Tatsachen“ (事法界), d. h. die gewöhnliche Phänomenwelt; „Das Reich des Prinzips“ (理法界), in dem alle Dinge sich als leer erweisen; „Das Reich der Durchdringung von Phänomen und Prinzip“ (理事無礙法界), in dem die Leere und die Dinge ohne Hemmnis gemeinsam existieren; sowie „Das Reich der Durchdringung von Ding und Ding“ (bzw. Phänomen und Phänomen) (自自無礙 法界), in dem das Prinzip, dass alle Dinge leer sind, verschwunden ist und alle Dinge ohne Hemmnis ineinander verwoben existieren.] 23 Shigemi Inaga: Sesshoku zōkei ron. Fure-au tamashii, tsumugareru katachi (Über die haptische Plastizität. Sich berührende Seelen, zusammengesponnene Formen), Nagoya 2016, Teil 1, Kapitel 1. 24 Diese Anekdote wird auch erwähnt in: Yukio Yashiro: Nihon bijutsu no tokushitsu (Die Besonderheit der japanischen Kunst), Tokyo (2. Aufl.) 1965. 25 Toshihiko Izutsu: The Structure of Oriental Philosophy, Band II, Tokyo 2008, S. 180. 26 Inaga: Sesshoku zōkei ron (s. Anm. 23), Teil 1, Kapitel 1, Anm. 46. 27 [Anm. d. Übers.: Die vedische Gottheit Indra führt mit sich ein Netz, dessen Knotenpunkte allesamt mit Diamanten versehen sind, so dass sich ein jeder in jedem anderen spiegelt. Als Sinnbild für das anfangs- und endlose Entstehen – Bestehen – Vergehen (pratītyasamutpāda) und die vernetzte Natur allen Daseins ist diese Vorstellung in den Buddhismus übergegangen, wo wir sie zum Beispiel in der „Durchdringung von Phänomen und Phänomen“ antreffen.] 28 Näheres dazu in Shigemi Inaga: Idenshi no mayu ni kurumareta sanagi ha donna yume o miru ka? (Was träumt die Puppe im Kokon der Gene?). In: ders.: Sesshoku zōkei ron (s. Anm. 22), Teil 2, Kapitel 5. 29 [Anm. d. Übers.: In Japan steht der rote Faden für eine schicksalshafte Verbundenheit zwischen Menschen. Dem Glauben nach knüpft ein Gott einen roten Faden zwischen den kleinen Fingern derjenigen, die sich im Leben wiederzutreffen bestimmt sind. Die Vorstellung hat Ähnlichkeit mit der Seelenverwandtschaft.] 30 Shigemi Inaga: Kegon/Huayan View of Contemporary East Asian Art. In: Cross Sections, Band 5, Kyoto 2013. Zur Kritik, die dieser im englischen Sprachbereich erfährt, siehe S. 18–20.
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31 Die folgende Analyse des Verfassers findet sich ausführlich in: Shigemi Inaga: Spirits emanating from Objecthood – or the Destiny of the In-formed Materiality. In: Kunstsektion des ‘Mono-logy’/Sense-Value Study Group (Hg.): MonoKe-Iro (bilingual Edition), Tokyo 2010, S. 64–82. Die japanische Version auch in Inaga: Sesshoku zōkei ron (s. Anm. 22), Teil 4, Kapitel 4. 32 Erwin Panofsky: Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Leipzig/Berlin 1924; japanisch durch Hiroaki Itō, Yasufumi Tomimatsu: Idea. Bi to geijutsu no riron no tame ni, Tokyo 2004, S. 160–169. 33 Jean Brun: Le main et l’esprit, Genf (2. Aufl.) 1986. Japanisch durch Fumirō Nakamura: Te to seishin, Tokyo 1990. 34 Kakuzō Okakura: Das Buch vom Tee, übers. von M. u. U. Steindorf, Leipzig 1922. Erst 1929 erschien eine japanische Übersetzung des Buches durch Hiroshi Muraoka: Cha no hon. 35 Englisches Original: “ ‘What sacrilege!’ said the horror-stricken bystander. ‘I wish to get the Shali out of the ashes,’ calmly rejoined the Zen. ‘But you certainly will not get Shali from this image!’ was the angry retort, to which Tanka replied, ‘If I do not, this is certainly not a Buddha and I am committing no sacrilege.’ Then he turned to warm himself over the kindling fire.” Kakuzo Okakura: The Book of Tea, Dover 1906, S. 28. Die Anekdote ist ein Beispiel für jene Abschnitte, die Okakura während seiner Zeit in Boston am Publikum der gehobenen Gesellschaft erprobt haben soll, um für die Konzeption seines Buches vom Tee die Reaktion nicht-japanischer Leser einschätzen zu können. 36 “There is nothing to see and they (i. e. Native Japanese) would not let you see it.” In: Basil Hall Chamberlain: A Guide Book For Travelors in Japan, Kapitel „Ise“, London 1892. 37 Shigemi Inaga: La vie transitoire des formes. Un patrimoine culturel à l’état d’eidos flottant. In: Jean-Sebastien Cluzel, Masatsugu Nishida (Hg.): Le Sanctuaire d’Ise. Récit de la 62e Reconstruction, Mardaga 2015, S. 145–156. Junko Miki: Représenter le sanctuaire d’Ise. Une dialectique entre fermeture et ouverture. In: ebd., S. 125–144. 38 Bruno Taut: Das japanische Haus und sein Leben (Nach dem Originalmanuskript Tauts), Berlin 1997; Erstdruck: Houses and people of Japan, Tokio 1937. 39 Diesen Problemzusammenhang hat Jun Tanaka in „Kako ni fureru. Rekishi keiken, shashin, suspense, ‚na no nai mono‘ tachi no kioku to himitsu“ (Die Vergangenheit berühren. Geschichtliche Erfahrung, Fotografie, Spannung, Gedächtnis und Geheimnis der ‘namenlosen Dinge’, Tokyo 2016) zwar aus einer anderen Perspektive, aber scharf und mit Beharrlichkeit nachverfolgt. 4 0 Englisches Original: “The Tao is in the Passage rather than the Path.” 41 Ujiie Museum, Ausstellung zum fünfjährigen Jubiläum: Indien und Arai Kanpō (荒井寛方), Sakura 1998, Abb. 53. 42 Siehe Shigemi Inaga: Kuki Shuzo and the idea of metempsychosis. Recontextualizing Kuki’s lecture on time in the intellectual milieu between the two world wars. In: Japan Review, 2017, 31, S. 105–122. 43 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. In: ders.: Gesammelte Schriften, Band V, hg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1982.
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Ernst Cassirer und die Frage nach dem Bauplan Mit den folgenden Ausführungen soll der Versuch unternommen werden zu zeigen, dass es Probleme gibt, die weder von der Kunst- und Bildgeschichte noch von den Naturwissenschaften und der Philosophie allein gelöst werden können. Vielmehr stellen sich auch und vor allem im Bereich zwischen Kunstgeschichte und Naturforschung Fragen von einer Art, welche die Zusammenarbeit geradezu erfordern. Ein solches Zusammenspiel war in den genannten Disziplinen über lange Zeit eher ungewöhnlich, und man muss relativ weit zurückgehen, um ein Beispiel der Möglichkeiten zu finden, die sich hier auftun. Ein solches bietet die Hamburger Kulturwissenschaftliche Bibliothek des Kunsthistorikers Aby Warburg, deren berühmter elliptischer Lesesaal den Kepler‘schen Planetenbahnen nachempfunden war. Warburg hat ein bis heute unübertroffenes Klima der Zusammenarbeit von Forschern unterschiedlichster Disziplinen geschaffen. Dazu gehörten auch der Begründer einer umweltbezogenen Biosemiotik, Jakob Johann von Uexküll, sowie der Philosoph Ernst Cassirer. Cassirer, in der Weimarer Republik einer der philosophischen Gegenspieler Martin Heideggers,1 stand in engstem Kontakt zu dem Kunsthistoriker, und auch mit dem Biologen hat er sich nicht minder ausgetauscht. In Die Logik der Formgebung hat Cassirer die Gestaltung von Formen als ein besonderes Problem angesprochen, das allein aus unterschiedlichen Perspektiven zu lösen sei.2 Sein Beispiel ist unter anderem eine jener Formprägungen, die unmittelbar oder mittelbar im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen soll: die Schönheitslinie des englischen Künstlers und Kunsttheoretikers William Hogarth. Sie entstammt dem vielleicht wichtigsten Text zur Ästhetik in englischer Sprache, William S. Hogarths im Jahr 1753 publizierter Analysis of Beauty. Hogarths Line of Beauty, die Linie der Schönheit, zeigt am Kopf eine winzige Verdickung, womit sie als s-förmige Schlangenlinie ausgewiesen ist (Abb. 1). Das Zeichen, mit dem der Künstler und Satiriker Hogarth die „Schönheit“ ausstattete, war kein Kreis und kein Quadrat, sondern eine Schlangenlinie, als Symbol der Variety. Hogarth setzte Schönheit mit Abweichung und Vielfalt synonym, und damit verlangte seine Symbollinie geradezu danach, aus unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen zu werden.
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1 William Hogarth, Titelseite von The Analysis of Beauty, London 1753.
Im Sinne von Hogarths Begriff der Schönheit als Variabilität ist Ernst Cassirer in seiner Abhandlung Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie auch auf die verschiedenen Blickpunkte eingegangen, unter denen die „Hogarth‘sche Schönheitslinie“ betrachtet werden kann. Er erschließt sie in ihrer Bedeutung sowohl für die Ästhetik wie auch für die Mathematik und die Physik.3 Entscheidend ist für ihn an ihrem Beispiel aber der in der Philosophie der symbolischen Formen grundgelegte Gedanke,4 dass diese unterschiedlichen Aufschlüsselungen der Bedeutung keinesfalls zu der dualistischen Trennung von „Sinnlichem“ und „Sinnhaftem“ führen dürfe, die Immanuel Kant vollzogen habe. Dieses Symbol sei nur zu begreifen, wenn es als je „ungeschiedene Einheit“ der beiden Größen gesehen würde. Es sei vornehmste Aufgabe der Philosophie, die verschiedenen „Blickpunkte [...] in ihrem konstitutiven Prinzip zu verstehen suchen“.5 So beispielhaft übergreifend Cassirer hier argumentiert, so entschieden hat er die variable Form der S-Linie, wie sie in ihren verschiedenen Äußerungsformen bei Hogarth gezeigt wird, von den Bewegungen der Natur unterschieden. Cassirer differenziert scharf zwischen dem „Bauplan“ des Animalischen und der Kultursymbolik des Humanum.6 Um den „Aufbau der ‚Kulturwelt‘“ erschließen zu können, nennt er die „krit[ische] ‚Begrenzung‘“ als „Bedingung“.7 Auf dieser Begrenzung zwischen der Kultursymbolik und dem Nicht-Biologischen hat Cassirer immer beharrt. Großartig ist, wenn
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er unter die „Basisphänomene“ die „Werke“ rechnet, in denen „das Flüchtige, Vorbeigehende, Transitorische [...] festgehalten sein“ muss;8 aber diese Welt ist wie durch eine Wand der Sphäre des Organischen entzogen. Immer wieder, wie etwa im vierten Band des Erkenntnisproblems, führt Cassirer Jakob von Uexkülls „Geschlossenheit“ an, um dessen Einbindung in ein definiertes Ambiente auszuweisen.9 Wie er es vor allem in der Philosophie der symbolischen Formen durchweg formuliert hat, ist für Cassirer die Grenze zwischen der Semiotik der Natur und der des Menschen unüberschreitbar. Er hat diese Kernaussage mehrfach variiert,10 um sie in seinen Essay on Man münden zu lassen.11 Diese Feststellung soll mit allem Respekt für Cassirer, der noch heute in seiner Verflochtenheit mit dem Warburg-Institut eine wahre Fundgrube der Anregungen und Klärungen darstellt, anhand des historischen Materials wie auch gegenwärtiger Prozesse in Frage gestellt werden. Das Hauptargument liegt in der Epoche, welche als Manierismus verstanden wird. In ihr und in ihrer gegenwärtigen, scheinbaren Wiederkehr finden sich die Elemente der Bestätigung wie auch der Kritik von Cassirers Argumentation.
Züge des Manierismus Die europäische Kunst der Jahrzehnte um 1600 hat wie in kaum einem anderen Zeitraum die Fertigkeiten der Hand geschätzt und zelebriert, und aus diesem Grund ist diese Epoche mit dem Begriff des Manierismus versehen worden. Er stammt von der lateinischen Bezeichnung für „Hand“: manus. Die ihr eigene Virtuosität ist mit diesem Stilbegriff gemeint. Manier und Manierismus sind in dieser Bestimmung keineswegs negativ konnotiert. Vielmehr geht es um ein Können, das vor keiner Grenze halt macht, und so auch nicht vor der Trennung der künstlerischen Medien. Das Ineinandergreifen künstlerischer Medien und das Überspielen ihrer Grenzen, wie es nur die äußerste Kunstfertigkeit erlaubt, stehen hierbei im Mittelpunkt.12 Das um 1580 geschaffene Selbstporträt des niederländischen Künstlers Hendrick Goltzius spricht von einer solchen Aufhebung des Unterschiedes zwischen der individuellen Linie und der Maschinenkunst (Abb. 2).13 Die Darstellung seiner eigenen Linken besticht nicht nur durch die skrupulöse Wiedergabe der teils verknorpelten Binnenstruktur und der Hervorhebung der unter der Haut liegenden Adern, sondern auch durch die Präzision der parallel geführten Linien der Oberfläche, die das Verfahren des Tiefdrucks zeigen. Die Genauigkeit dieser schwellenden, parallel geführten und sich kontinuierlich hin- und wegbewegenden Linien lassen eine maschinelle Ritzung der Kupferstichplatte vermuten.
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2 Hendrick Goltzius: Die rechte Hand des Künstlers, 1588, Feder in Braun, 23 × 32,2 cm, Tylers Museum, Haarlem.
Aber dies ist eine Illusion. Die Hand ist unfassbarer Weise nicht gedruckt, sondern gezeichnet. Der Künstler hat im Medium des disegno die maschinelle Drucktechnik aufgehoben. Es handelt sich um eine Verschränkung von zwei scheinbar entgegengesetzten Techniken und Medien auf künstlerisch kaum jemals wieder erreichtem Niveau. Die Drucktechnik treibt ihr Gegenüber dazu an, sie selbst zu erreichen, wenn nicht zu übertreffen, womit eine Wertschätzung ihrer selbst im Medium ihrer Übertrumpfung entsteht. Der Manierismus hat die Grenzziehung von natürlich und künstlich, tot und lebendig, normativ und subversiv systematisch infrage gestellt, und dies erscheint wie ein Spiegel unserer eigenen Zeit. Trennungen, welche zwischen Bild und Natur, Bild und Körper bestanden haben, beginnen sich nicht nur symbolisch, sondern auch materiell aufzuheben. Ein markantes Beispiel dafür, dass die Handfertigkeit die Grenze zwischen diametral entgegengesetzten Sphären aufzuheben vermag, bietet ein weiteres Werk der Zeit um 1600. Es handelt sich um eine äußerst präzise Darstellung von Libellen durch Joris Hoefnagel (Abb. 3).14 Die auf dem Blatt sitzenden Insekten werfen Schatten, als seien sie nicht gezeichnete Demonstrationsobjekte, sondern Wesen, die sich jederzeit in die Luft begeben könnten. Dass mit diesem Eindruck mehr verbunden ist als nur eine Suggestion, wird bei genauer Betrachtung an den unten situierten Libellen sichtbar. Ihre Flügel weisen teils poröse und fehlende Stellen auf. Der Grund liegt darin, dass diese Flügel durch den
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3 Joris Hoefnagel: Animalia Rationalia et Insecta, Tafel LIV, um 1575-1580, Wasserfarbe, Gouache, Pergament, 14,3 × 18,4 cm, National Gallery of Art, Washington, D. C.
Künstler angeklebt sind; während die Körper der Libellen gezeichnet sind, bestehen die Flügel der unteren Insekten aus realer Natur. Würden die Flügel über die Jahrhunderte nicht an einigen Stellen beschädigt sein, wäre die wechselseitige Assimilation perfekt. Die Manie, der Natur künstlich nahezukommen, bis die Zeichnung selbst zu einem Teil der Natur geworden ist, erscheint hier als ein Grundzug, der Kunst und Forschung gemeinsam antreibt. Aus diesem Grund kann Hoefnagels Hybrid als ein aus der Entfernung grüßendes Mottobild gelten: als Inkunabel der im Bild attackierten Trennung von Kunst und Natur. Hier ist es das Bild selbst, das Natur und Simulakrum zugleich ist. Die Natur hat sich der Kunst, die Kunst der Natur assimiliert. Wohl niemand hat dieses Prinzip der Überwindung dieser Grenzen treffender formuliert als der Dichter Torquato Tasso. Seinem Diktum zufolge ist es die Natur selbst, welche in einem die Maßstäbe verrückenden Spiel eine Kunst nachahmt, die sich ihrerseits als Imitatorin der Natur ausgegeben hat. „Die Kunst scheint wie Natur, die zum Vergnügen/ihre eigene Nachahmerin scherzhaft imitiert.“15 Dies ist das Urprinzip des Manierismus, wie es auch die Darstellung Hoefnagels offenbart. Schon hierin liegt mit dem Übersprung von Natur in Kunst und Kunst in Natur eine Infragestellung der Grenzziehung zwischen beiden Größen, wie sie für Cassirer verbindlich war. Vollends problematisch wird sie angesichts dessen, dass die Natur in der Darstellung ihrer selbst die eigene Begrifflichkeit preisgibt, also Naturobjekt und Symbol zugleich ist.
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4 Jacopo Ligozzi: Zwei Vipern. Ceraste und Ammodite, Zeichnung, 1577, 47,5 × 36 cm, Archiv der Universitätsbibliothek Bologna, Sammlung Ulisse Aldrovandi, Tavoli di Animali IV, fol. 132.
Schlangenlinien als inhärentes Symbol Jacopo Ligozzis um 1600 geschaffene Darstellung eines in sich verknäulten Schlangenpaares ist ein frühes Beispiel dafür, dass sich das Bild und das Symbol des Dargestellten miteinander verbinden konnten (aBB. 4).16 Von der Charakterisierung der elastisch gespannten, plastischen Körper über die Ornamentmuster der Haut bis hin zur äugenden Aufrichtung, die dem gespannten Aufstellen der Schwänze entspricht, reicht die Finesse in der Wiedergabe dieses Schlangenpaares. Den Mittelpunkt jener Seite einnehmend, die ihrer Spezies gewidmet ist, scheinen sich die Schlangen aus der Blattoberfläche zu erheben: Sie werfen Schatten, indem sie sich aufzurichten und bedrohlich zu züngeln scheinen. Die scheinlebendigen Körper winden sich in eine ponderierte X-Form, die sich gegen die Leserichtung nach links hin öffnet und damit die Semantik von Gefährlichkeit allein schon durch diese Gegenläufigkeit erzeugt. Die pure Form erzeugt einen Eigenwert, der sich in die scheinbar neutrale Naturtreue einschmuggelt. Hierin liegt ein Element dessen, was als bildlicher Überschuss bezeichnet werden kann. Die Schlangen können durch sich selbst zu einem Großsymbol werden, das über ihr bloßes Wesen hinausgeht, und hierin vollziehen sie eine kontrollierte Aufhebung der Grenze von Kunst und Natur. Die Natur schmiegt sich
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5 Albrecht Dürer, Ausschnitt aus: Underweysung der Messung, mit dem Zirckel und Richtscheyt, Nürnberg 1525, fol. 7.
in dieser Darstellung an eine Symbolform an, welche die Pole der Repräsentation auflöst. Das Dargestellte ist hier zum Symbol seiner selbst geworden. In diesem Motiv liegt ein Element, das ebenfalls mit dem Begriff des Manierismus zu verbinden ist. Es hat eine lange Tradition, die durchweg mit der Überwindung jener Grenze zu tun hat, die zwischen Natur und Kunst zu bestehen scheint. Spätestens seit Dürers Randzeichnungen für das Gebetbuch Maximilians I. galten Spiralen als Abstraktion aller nur möglichen Bewegungsformen nicht nur der Natur, sondern auch der Erfindungsgabe.17 In seinem Festungsbuch hat Dürer diese Formen auf die Linie, den Kreis und die S-Form zurückgeführt, in der sich die Potenz aller Gestaltungen entfaltet (aBB. 5).18 In dieser Abstraktionsfähigkeit des Bildes liegt die Möglichkeit, hochgradig komplexe Gegebenheiten mit einem Schlag zu erfassen. Von hier aus hat diese instant wirkende Abstraktionstechnik zahlreiche Varianten erlebt, bis hinein in die Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz, der den Augenschuss, den Coup d'œil, zur Bedingung der allumfassenden Erkenntnis machte.19 Leibniz hat Dürers Lehre von der S-Linie als dem Gesamtprinzip aller Naturvorgänge in den Buchstaben S als mathematisches Zeichen für die Summa übertragen.20 Für das Phänomen der Verschmelzung von Bestandteilen der Natur mit Formen der Kunst hat die Naturforscherin Sybilla Merian um 1700 höchst eindrucksvolle Bilder geprägt. Einige der während ihrer Surinam-Expedition gezeichneten Insekten zeigen, wie Bilder auf einer zweiten Ebene die Phänomene zu abstrahieren und zu verallgemeinern verstehen.21 So gehört der Schwärmer (aBB. 6) zu diesen Mischfiguren aus Genauigkeit und Abstraktion, insofern sein Rüssel in eine dem Violinschlüssel ähnelnde Form übergeht, die in der Natur selbst in diesem Extrem keine Entsprechung findet. Die forschende Künstlerin radikalisiert den Nachtfalter zu einem Zeichen der gesamten Natur, indem er die Bewegungen aufnimmt und nochmals zeichenhaft steigert, die von Schlangen wie
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6 Maria Sibylla Merian: Maniok, Schwärmer, Buckezirpe und Riesenschlange, Aquarell- und Deckfarben auf Pergament, St. Petersburg, Archiv der Akademie der Wissenschaften, Nr. P IX, 8, 33.
denen Ligozzis paradigmatisch vorgeführt werden. Dem Wissenden erkennbar, treibt die Natur im Zusammenspiel von Schlangenschwanz und Schwärmerrüssel in die Bildmetapher ihrer inneren Bewegungsstruktur.22 Im Bild der Natur wird das Bewegungs- und Transmutationsgesetz der Natur selbst zu einer abstrakten Bildform, die dem Dargestellten als Symbol seiner selbst organisch eingegeben wird. Das Symbol der Natur wird zum Teil ihrer bildhaften Morphologie. Die Symbolform ist zum Teil der Organismen selbst geworden, womit die Präsentation der Natur erneut ihr eigenes Gesamtsymbol vorzeigt. Die Natur ist ein Hybrid aus ihr selbst und dem Bild ihrer Symbolform. Dies ist philosophisch nicht ohne Finesse. Es handelt sich um eine Symbolisierung als „rückstürzende“ Metaphysik, wie sie der Bonner Philosoph Wolfram Hogrebe in seinem Buch Echo des Nichtwissens höchst eindrucksvoll als intrinsische Transzendenz der Dinge selbst entwickelt hat.23 Von überragender Bedeutung für die weitere Geschichte der Verschränkung von Natur und Kunst war William Hogarths Idee, die S-Linie der gesamten Natur in eine Spirale zu überführen, indem er sie um einen dreidimensionalen Kegel wand, um die Bewegungspotenzen sowohl der Natur wie auch der menschlichen Einbildungs- und Berechnungskraft zu erfassen (Abb. 7).24
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7 William Hogarth, Konzept der Line of Beauty aus The Analysis of Beauty, Tafel 1, 1753, Kupferstich.
8 Johann Wolfgang von Goethe: Spiralität von Pflanzenformen, Zeichnung.
Johann Wolfgang von Goethe dachte mit Hilfe dieser S- und Spirallinien jene Evolution der Natur voraus (aBB. 8),25 die Charles Darwin dann in Origin of Species von 1859 auf eine neue Ebene hob, nicht ohne in der zweiten Auflage Goethe ausdrücklich als einen seiner Vorläufer zu würdigen.26 Wie Winfried Menninghaus erschlossen hat, geht Charles Darwin in dem sexual selection zugrunde gelegten Konzept von Beauty als Variety explizit auf die Hogarth‘sche Schönheitslinie ein.27 Hogarths sich schlängelnde S-Linie verdeutlicht jenes Prinzip, das Darwin als zweites Modell der Evolution entwickelt hat: Schönheit als Funktion der Suche nach Veränderung. Mit der Definition der Schönheit als dem unbeirrbaren Suchen nach Variabilität, also nach der im Verwobenen und in der Kurvenlinie symbolisierten Abweichung, hat Darwin eine Definition der Schönheit gegeben, die im Einklang mit Hogarth denkbar weit vom Konzept des ästhetischen Klassizismus entfernt war. Im Fotoporträt von um 1880 (aBB. 9) ist Darwins Beauty in den Kletterschlingen des Baumes als ein Symbol der Natur inszeniert. Darwin hat sich in dieser Fotografie, welche diese Programmatik an ihm selbst ansetzen lässt, ablichten lassen. Natürlich ist die Aufnahme inszeniert. Die gekräuselten Haare seines wuchernden Bartes begegnen hier scheinbar natürlich den Schlingästen, die über einen Baumstamm nach oben gewandert sind. Nicht ohne Grund stellt sich Darwin neben einen solchen Baum. Die in
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9 Charles Darwin, Fotografie, anonym, o. J.
immer neuen S-Linien ansetzende Aufwärtsbewegung dieser Pflanze war ihm ebenso ein Symbol der gesamten Natur wie dessen Entsprechung im gekräuselten Haar. Damit verkörpert Darwin in Korrespondenz zu den Schlingästen dasselbe Prinzip der gesamten Natur, das Hogarth in seiner Theorie der Schlangenbewegung als Schönheit der Variety definiert hatte.28
Visualisierung in Fotografie und Zeichnung In der maschinellen Produktion, so hieß es lange, sei die Fotografie der Zeichnung in der Präzision der Wiedergabe überlegen. Einer landläufigen Vorstellung zufolge ist die Zeichnung durch die Erfindung der Fotografie an ihr Ende oder zumindest an die Grenze ihrer wissenschaftlichen Einsatzfähigkeit geraten; die Fotografie habe mit ihrer indexikalischen Genauigkeit die manuelle Zeichnung überflüssig gemacht. Die Frage, ob die Darstellung der Natur deren eigene Symbolik ermögliche oder erfordere, schien damit überflüssig: Der unmittelbare Abdruck der Natur in der Fotografie habe einem Denken in den Dichotomien von Natur und Kunst schlechthin ein Ende gesetzt.
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10 Robert Koch: Milzbranderreger, 1876, Farblithografie, aus Ferdinand Cohn: Beiträge zur Biologie der Pflanzen, Bd. 2, Heft 2, Tafel XI, 1876, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin.
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11 Robert Koch: Mikrografien von Bakterien, 1877, aus Ferdinand Cohn: Beiträge zur Biologie der Pflanzen, Bd. 2, Heft 3, Tafel XVI, 1877, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin.
Dieser Konflikt zwischen Zeichnung und Fotografie verkörpert sich paradigmatisch im Vorgehen von Robert Koch, der zunächst als ein geschulter Zeichner begann. Seinem 1876 publizierten, epochemachenden Artikel über den Erreger der Milzbrandkrankheit gab er eine Farblithographie mit eigenen Zeichnungen bei (Abb. 10).29 Nicht ohne Finesse hat er es durch das Aufsetzen von Lichttupfern, durch die Lichtfläche im Kreis von Figur 6 und durch die perspektivische Krümmung der Streifen in Figur 7 verstanden, dem Leser ein „möglichst getreues Bild“ der Sporen, die sich in Bazillen zurückverwandeln, zu vermitteln.30 Er war mit dem Ergebnis jedoch derart unzufrieden, dass er als Alternative eine für seine Zwecke geeignete Kamera für Mikrofotografie entwickelte. Bereits im folgenden Jahr, 1877, veröffentlichte er im Hochgefühl seiner fotografisch gewonnenen Ergebnisse einen Artikel zum Verfahren zur Untersuchung, zum Conservieren und Photographieren der Bacterien, der mit drei Tafeln von je acht Fotografien ausgestattet war, die siebenhundertfache Vergrößerungen zeigten. Eine der Tafeln ist erneut der Sporenbildung des Bazillus gewidmet (Abb. 11). Vom illustrativen Beiwerk hatte sich
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12 Edgar M. Crookshank: Bakterien, kolorierte Fotografie, 1889.
13 Farblithographie des Texasfieberpara siten n. Zeichnung v. Robert Koch, 1906.
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die Abbildung in das Zentrum gesetzt, um das herum nun der Text gewunden wurde.31 Überwältigt von dem Resultat, verfasste Koch fünf Jahre später einen weiteren Text, den er mit der programmatischen Wendung einleitete: „Das fotografische Bild eines mikroskopischen Gegenstandes ist unter Umständen wichtiger, als dieser selbst“,32 denn die Fotografie sei „nicht allein eine Illustration, sondern in erster Linie ein Beweisstück, gewissermaßen ein Dokument [...], an dessen Glaubwürdigkeit auch nicht der geringste Zweifel haften darf “.33 Für Koch ergab sich eine so unmittelbare Bindung zwischen Objekt und Fotografie, dass ihm zufolge in der Mikrofotografie der „Schatten des Präparates selbst als Bild festgehalten“ wurde: „der mikroskopische Gegenstand zeichnet sich selbst“.34 Die unvollkommenste Fotografie war für Koch wertvoller als die kostbarste Zeichnung.35 Koch, wie seine Kollegen, war jedoch bald mit dem Problem konfrontiert, dass die Fotografie Augenblicke und damit allein Individualitäten fixierte. Die Verallgemeinerung, zu der die Zeichnung befähigt war, gelang der Fotografie ebenso wenig wie die Vermeidung der apparatbedingten Schwächen. Gleichwohl hatte Koch gegenüber der Kolorierung von Fotografien, wie die von Edgar M. Crookshank im Jahr 1889 publizierte Photography of Bacteria zeigte (Abb. 12),36 zunächst nichts als Widerwillen, obwohl das Buch ihm gewidmet war. Umso schmerzlicher war für ihn die Erkenntnis, dass nur eine fachgerecht durchgeführte Färbung den Krankheitserreger von seinem Nährboden zu isolieren vermochte. 1906, ein Jahr nachdem ihm der Nobelpreis verliehen worden war, kehrte er in seiner Entwicklungsgeschichte der Piroplasmen zu seinen Anfängen zurück, indem er erneut Zeichnungen einsetzte (Abb. 13). Die ersten vier stammen von ihm selbst.37 Der Rest wurde jedoch von dem Berliner Künstler Max Landsberg gefertigt, der etwa dem Texasfieber-Parasiten ein gespenstisch surreales Gepräge gab, das an Formen eines aggressiv gewendeten Jugendstils erinnert.
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Die Visualisierung, dies zeigt Kochs Vorgehen, ist nicht Zutat, sondern Teil der Erkenntnis dessen, was sie zeigt. Am Ende seines Lebens setzte er beide Methoden, die Fotografie, wie auch die Zeichnung ein. Der Stärke der maschinellen Fixierung des je besonderen Momentes korrespondierte die Fähigkeit der Zeichnung, Charakteristika zu offenbaren. Hier zeigte sich die Paradoxie, dass Fotografien ein extrem individuelles Phänomen festhalten, wohingegen die subjektive Zeichnung die allgemeinen Züge und damit die Standards zu abstrahieren und zu entpersonalisieren vermag.
Die inhärente Symbolik der Digitalfotografie Dasselbe gilt für die Fotografie unserer Zeit, wie ein Vergleich zeigen kann. Vor einigen Jahren hat die Dissertation des Kunsthistorikers Jan Altmann die von 1800–1804 durchgeführte sogenannte Baudin-Expedition französischer Naturforscher in die Südsee erschlossen. Ihre Ergebnisse bestechen vor allem in der Wiedergabe der Quallen. Großartig zeigt das Aquarell der Cyanea lamarckii das Aufrichten des Schirmes, so dass die Fangarme weniger Zug erhalten und teils horizontal auspendeln (Abb. 14).38 Mit großer Finesse ist mit blauer Farbe nicht nur der Trichter des Schirmes, sondern vor allem der blass grüne Magenstiel dieser Qualle charakterisiert. In isolierter Majestät liegt sie in der Latenz von Bewegung auf dem Blatt, in allen Details hervorgehoben und akzentuiert. Diese sind aber keinesfalls in eine additive Zusammenstellung gebracht, sondern als kontinuierlicher Gesamtorganismus in einer beeindruckenden Einfühlungsgabe wiedergegeben. Die Farbgebung verstärkt und klärt, um neben der Genauigkeit der Darstellung auch einen systematischen Aspekt zu bedienen. Die einzelnen Körperelemente sind in einer Deutlichkeit charakterisiert, wie es nur unter Laborbedingungen möglich wäre. Das Aquarell folgt dem Doppelspiel von treffender Naturnähe und analytischer Hervorhebung. Es könnte auch hier argumentiert werden, dass dieses Vermögen mit den technischen Gegebenheiten der Wiedergabe obsolet geworden sei. Die Möglichkeit eines Testes dieser Annahme bietet ein Schicksalswesen der jüngeren Biologie. Es handelt sich um die Aequorea victoria, eine im Nordpazifik beheimatete Qualle (Abb. 15).39 Die eindrucksvolle Fotografie zeigt sie in der Rückstoßbewegung ihres Schirms, mittels derer sie sich fortbewegt. Derart beschleunigt, zieht sie ihre Tentakel rechts oben nach. Scheinbar voraussetzungslos, als eine Momentaufnahme, schwebt sie in der Fotografie im Wasser, der geläufigsten und banalsten Deutung der Fotografie zufolge als Abdruck der Natur selbst. Im historischen Vergleich aber zeigt sich doch die Historizität ihrer Darstellung.
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14 Charles-Alexandre Lesueur: Cyanea lamarcki, um 1801–1804, Wasserfarbe auf Pergament, Collection Lesueur, Muséum d´Histoire natuelle du Havre.
15 Die Qualle Hydromeduse Aequorea Victoria aus Friday Harbor, Washington, Fotografie, National Geographic, Fotografie: C. Mills.
Die Fotografie hat die Zeichnung nicht ersetzt; vielmehr haben sich wechselseitige Stärkungen ergeben. Dies zeigt der Ausgangspunkt des Vergleiches auf irritierende Weise. Kunstvoll ist jene Gratwanderung von Naturnähe und analytischer Klärung, über welche die Zeichnung verfügt, in die Bearbeitung der Fotografie eingeflossen. Unter ihrer dunklen Kalotte strahlen die inneren Bögen ihres Schirmes ebenso irreal phosphoreszierend auf wie ihr Magenstiel, und dies gilt nicht minder für ihre Nesselarme. Die Qualle wirkt, als wäre sie von unten von einem hellen Scheinwerfer angestrahlt, der genau auf die Bestandteile ihres Körpers eingestellt ist, um sie vor dem Dunkel des Meeres aufleuchten zu lassen. Die Fotografie hat Züge der Zeichnung angenommen, um ihre analytische Funktion erfüllen zu können. Streng genommen bleibt die Qualle natürlich sie selbst, unabhängig von ihrer Darstellung, aber ihre Erkenntnis ist vom Medium ihrer Wiedergabe nicht unabhängig. Weil sie unterschiedliche Seiten des Objekts begreifen lassen, bleiben die historischen Medien ein unverzichtbares Vermittlungsmedium. Natur bleibt begreifbar auch und vor allem durch die analytischen und damit durchweg symbolisierenden Darstellungsweisen. Dies ist die erstaunliche Konsequenz, die zur Gegenwart führt.
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16 Biolumineszenz-Erscheinung der Hydromeduse Aequorea Victoria.
Die Bild-Natur-Symbiose als Prinzip des Neomanierismus Die Aequorea victoria ist berühmt dafür, dass eines ihrer Proteine bei Berührung mit Calcium-Ionen blaues Licht erzeugt. Dieses Blaulicht wird nun zur Quelle der Anregung für das ebenfalls in dieser Qualle befindliche Grün-Fluoreszenz-Protein, das diese Energiezufuhr fluoreszierend wieder abstößt. Dabei entsteht grünes Licht (aBB. 16). Was in der Qualle vonstattengeht, ist demzufolge eine Energieumwandlung von blauem Licht in eine andere Lichtfarbe. Anfang der neunziger Jahre stellte sich heraus, dass dieses Protein unter UV-Bestrahlung auch in anderen Organismen denselben Effekt der Biolumineszenz erbrachte, und dies machte seine ungeheure, allgemeine Bedeutung aus. Der Molekularbiologe Klaus Schwamborn hat genüsslich dargelegt, dass diese Meduse im selben Jahr 1994 in die molekulare Biologie Einzug hielt, als der Kunsthistoriker Gottfried Boehm den Begriff des iconic turn prägte. Die Aequorea victoria, so Schwamborn, ist die Ikone dieses turns in der Biologie, Symbol für den Aufstieg des provozierten Lichtes, für die Erforschung bislang unsichtbarer Phänomene.40 Die Stimulierung von grünem Licht, die in der Aequorea victoria durch ihr GrünFluoreszenz-Protein, das auch in anderen Organismen Verwendung finden kann, möglich ist, hat seit einigen Jahren zum Effekt geführt, dass die Forscher gleichsam in der Natur selbst zu malen beginnen. Um die Bilderwartung der naturwissenschaftlichen Analyse erfüllen zu können, bildet die Stimulated Emission Depletion neue Organteile. Dem zu untersuchenden, lebenden Stoff wird ein fluoreszierendes Molekül einverleibt, das die Funktion eines Leuchtfeuers übernimmt. Der Indikator wächst dem zu Indizierenden ein. Damit ist der Ausschnitt, der hier zum Strahlen gebracht wird, auf bis zu 6 Nanometer
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17 Fluoreszentes Neuron mit Tentakeln, sichtbar gemacht durch Stimulated Emission Depletion.
zu verkleinern. Indem dieses Verfahren durch Ortsveränderung wiederholt wird, ergeben sich bis dato unvorstellbar kleine Oberflächen durch Fluoreszenz. Das Bild zeigt ein Neuron, dessen Tentakel erstmals in der wiedergegebenen Konkretion sichtbar gemacht wurden (Abb. 17). Die Natur selbst wird verändert, um lichtpotent werden zu können. Der Göttinger Forscher Stefan Hell hat hierfür im Jahr 2014 den Nobelpreis bekommen.41 Eine Variante dieses Verfahrens ist die sogenannte Optogenetik, bei der über einen Retrovirus Abschnitte von Algen- und Quallengenen, die ebenfalls fluoreszierend sein können, in Nervenzellen eingeschleust werden. Bei Befeuerung mit Blaulicht reagieren diese Zellen, so dass eine bislang unbekannte Kartierung der Nervenbahnen möglich wird. Um Bilder einer Naturform zu erkennen, wird damit zunächst ein natürlicher Zwitter, eine Chimäre hergestellt, die in der Lage ist, diese Bilder zu erzeugen. Auf diese Weise entstehen neue Organismen, deren Existenzberechtigung in ihrer bildaktiven Potenz liegt. Damit aber deutet sich ein neuer, symbolischer Begriff der Natur an, der zugleich sie selbst und die ihr zugewachsene Bilderwartungsorganik umfasst. Der Wunsch nach Bildern erzeugt Monstra – im Sinne von monstrare, „zeigen“: Es sind Kreaturen der Verbildlichung von Natur. Über die lichterzeugte Aktivierung von Hirnzellen bei Mäusen wird deren Gedächtnisleistung zum kolorierten Bild (Abb. 18).42 Aber nicht hierin liegt das Ungeheure des Vorgangs allein, sondern vielmehr in der Fähigkeit, die Wege der Bilderzeugung in Kanäle der Steuerung umzukehren. Über die Tunnel, welche die sogenannten Kanalrhodopsine in den durch sie angereicherten Zellen erzeugen, sind diese durch niederwelliges Licht zu aktivieren und zu deaktivieren, so dass sie allein durch Lichtimpulse ein- und ausgeschaltet werden können. Damit aber vermag die Aktivität von Nervenzellen nicht nur in b islang
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18 „Mosaikbild“ des Farbausdrucks fluoreszierender Proteine in Hirnzellen einer Maus, kolorierte Fotografie.
unbekannter Tiefe erkannt und verbildlicht, sondern auch gesteuert zu werden. Die Bildanalyse wird zum Medium der in Lichtgeschwindigkeit durchzuführenden Befehlsgebung. Damit aber nimmt die Fotografie an jenem ubiquitär spürbaren Veränderungsdruck teil, der neben der STED und der Optogenetik auch die synthetische Biologie antreibt. Ob der closed circuit der Verbindung von Bild und Organismus einen Teufels- oder Zauberkreis bedeutet, wird sich zeigen. Die Erfahrung lehrt, dass beide Möglichkeiten gegeben sind. Diese Technik ist vielversprechend. Sie wird ebenfalls bereits nach wenigen Jahren als nobelpreiswürdig gehandelt, aber sie ist auch unheimlich, in jedem Fall aber in höchstem Maß kunsttheoretisch relevant: ein Faszinosum, das die Assimilation von Bild und Natur, um die sich Zeichnung und Fotografie als Mittel der Präsentation bemühten, nun auf der Ebene der Natur selbst entfaltet. Es wäre einiges dafür zu geben, wenn Ernst Cassirer Gelegenheit gehabt hätte, diese Vorgänge zu durchdenken. Vermutlich hätte er seine Grenzziehung zwischen kultureller Symbolbildung und natürlicher Biosphäre beibehalten, und ihm wäre darin Recht zu geben, dass diese Kreaturen Menschenwerk sind. Aber sie sind Teil der Welt der Biosphäre, nicht deren Metapher, und damit sind sie Zwitter, gegenüber denen selbst ein Skalpell die Cassirer‘sche Grenzlinie nicht zu realisieren versteht. Es kommt nicht darauf an, Cassirers Kategorienbildung zu retten, sondern zu bewerten, was es heißt, wenn sie in der Gegenwart ausgeschalten wird. Hier ist eine Zone betroffen, die es erlaubt, von der Gegenwart als einem Neomanierismus zu sprechen. Wenn die Bildwerdung der Natur und die Organwerdung des Bildes geprobt werden, dann sind die Ziele nicht weit entfernt von denen des historischen Manierismus, jener Stilform, die um 1600 alle Grenzen zu überspielen suchte.
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19 Regine Hengge: Formationen eines Bakterienfilms.
Wenn in manchen Bereichen der gegenwärtigen Naturforschung Bild und Körper verschmolzen sind, kann diese Symbiose in die Natur selbst weitergespiegelt werden. Die Bakterienforscherin Regine Hengge versucht auf beeindruckende Weise zu visualisieren, wie sich Myriaden von Kleinstorganismen in spontaner Struktur-, um nicht zu sagen: Bildgebung zu höchst eindrucksvollen Formationen etwa unter Rost zusammenfinden (Abb. 19).43 In diesen glänzenden Visualisierungstechniken trägt die Darstellung zu ihrer eigenen Symbolisierung bei. Ein Hauptindiz für die Wiederkehr dessen, was mit dem Manierismus verbunden wird, liegt allgemein in der Erfolgsgeschichte des Begriffs Anthropozän. Im Kern bedeutet er, dass, wenn Gestaltung bildproduktiv wirksam wird, die Verbildlichung der Erde durch den Menschen soweit fortgedrungen ist, dass von einer geologischen Epoche des Menschenzeitalters zu sprechen ist.44 Damit aber wäre die gesamte Erde zu einem Bild geworden.
Schluss In der Manie, der Natur künstlich nahezukommen, bis sie selbst die Kunst durch ihre Präsenz bestimmt, liegt ein Grundzug, der Kunst und Forschung bis heute gemeinsam antreibt. Unser Ausgangspunkt war Ernst Cassirers Betrachtung der Hogarth‘schen Linie der Schönheit als Variety. Ihre Schlangenform war das Symbol dessen, dass Naturphänomene und deren Symbolisierung allein multiperspektivisch erfasst werden können. Cassirer bezog sich allein auf die Kultursphäre des Menschen, aber es wurde offensichtlich, dass die Natur in ihrer Darstellung immer wieder selbst symbolisiert wird.
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21 Paul Klee: Pädagogisches Skizzenbuch (Bauhausbuch 2), Detail, München 1925. 20 Odile Crick: Schema der Doppelhelix, Grafik.
Ein besonders markantes Beispiel hierfür bietet die Doppelhelix (aBB. 20). Die S-Linie, mobilisiert zur räumlich dreidimensionalisierten und reproduzierten Spirale, wie sie das pädagogische Lehrbuch von Paul Klee entwickelt hat (aBB. 21),45 drängt sich aus der Natur als deren Gestalt in die Symbolwelt: Dies ist das Ungeheure des von der Künstlerin Odile Crick geschaffenen Diagramms der Doppelhelix. Sie lässt dem Betrachter in erkenntnistheoretischer Hinsicht die Haare zu Berge stehen.46 In den letzten fünfundzwanzig Jahren ist die diagrammatische Zuspitzung der Doppelhelix immer wieder relativiert worden, auch und vor allem durch die Genforschung selbst. Aber es bleibt das Problem, dass ein von Dürer erfundenes Abstraktionsbild der Latenz aller Naturvorgänge in einer verwandten Form von ihr gespendet beziehungsweise aus ihr herausgelesen wurde. Und dies gilt schließlich für das Denken selbst. Wenige Publikationen hatten in den letzten Jahren mehr Erfolg als das Buch Thinking Fast and Slow des Nobelpreisträgers Daniel Kahneman, das dem Zusammenspiel von Präzision und bildhafter Intuition gewidmet ist (aBB. 22).47 Das Titelbild wie auch sämtliche Kapitel der Originalausgabe nehmen jene S-Linie der gesamten Natur und der Einbildungskraft auf, die bis auf Hogarth und über diesen bis auf Dürer zurückgeht: das Denken als eine Gestalt, die sich selbst das Symbol ist.
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22 Daniel Kahneman: Thinking, Fast and Slow, London 2011, Buchcover.
Auch hierin zeigt sich eine Aufhebung von Trennungen, die als ein neomanieristischer Grundzug zu rekonstruieren ist. All diese Phänomene und Probleme haben einen kritischen und einen mitreißenden Zug, und umso mehr müssten sie in eine Theorie gebracht werden. Wenn die Beobachtung zutrifft, dass unsere Epoche unabhängig von Disziplinen und Wissensfeldern als Zeitalter eines Neomanierismus begriffen werden kann, dann müssten beide Seiten, die positive wie die negative, umso stärker in eine Theorie unserer Zeit gefasst werden. Nicht als Kitsch des Monismus, sondern im Sinne einer Reflexion der Aufhebung verschiedener Grenzlinien, die sich gegenwärtig abzeichnet. Ein Begriff wie der des Neomanierismus ist noch keine Theorie, aber vielleicht könnten die beschriebenen Phänomene deutlicher gefasst werden, wenn sie mit ihm verbunden werden.
1 Peter E. Gordon: Continental Divide. Heidegger, Cassirer, Davos, Cambridge, MA 2010. 2 Ernst Cassirer: Zur Logik des Symbolbegriffs. In: ders.: Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, hg. v. Birgit Recki, Bd. 22: Aufsätze und Kleine Schriften (1936–1940), Hamburg 2006, S. 117–139. 3 Ernst Cassirer: Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie. In: Ernst Cassirer. Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, hg. v. Birgit Recki, Bd. 17: Aufsätze und Kleine Schriften (1927–1931), Hamburg 2004, S. 253–282, hier S. 258. 4 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil. Die Sprache, Darmstadt (10. Aufl.) 1994, S. 3f. 5 Cassirer: Das Symbolproblem (s. Anm. 3), S. 259. 6 Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, New Haven 1944, S. 24. Vgl. John Michael Krois: Ernst Cassirer’s philosophy of biology. In: Sign System Studies, 2004, Bd. 32, Issue 1/2, S. 277–294, hier S. 291. 7 „[K]rit[ische] ‚Begrenzung‘ und krit[ische] Rechtfertigung ihrer Leistung“; vgl. Ernst Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen. In: John Michael Krois (Hg.): Ernst Cassirer. Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 1, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, Hamburg 1995, S. 121.
Symbiose von Bild und Natur
8 Cassirer: Zur Metaphysik (s. Anm. 7), S. 156. 9 „Reziprok vermag das Detail der Anatomie für das Ganze des Organismus zu stehen“; vgl. Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Vierter Band. Von Hegels Tod bis zur Gegenwart [1832–1932], Hildesheim/Zürich/New York 1991, S. 138. 10 „Wenn alle Kultur sich in der Erschaffung bestimmter geistiger Bildwelten, bestimmter symbolischer Formen wirksam erweist, so besteht das Ziel der Philosophie nicht darin, hinter all diese Schöpfungen zurückzugehen, sondern vielmehr darin, sie in ihrem gestaltenden Grundprinzip zu verstehen und be|wußt zu machen. [...] Das Leben tritt aus der Sphäre des bloß naturgegebenen Daseins heraus: Es bleibt ebensowenig ein Stück dieses Daseins, wie ein bloß biologischer Prozeß, sondern es wandelt und vollendet sich zur Form des ‚Geistes‘“; Ernst Cassirer: Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie. In: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke (s. Anm. 3), Bd. 17, S. 13–82, hier S. 49. Vgl. Oswald Schwemmer: Kulturphilosophie. Eine medientheoretische Grundlegung, München 2005, S. 154f. 11 Cassirer: An Essay on Man (s. Anm. 6), S. 24. 12 Horst Bredekamp: Der Manierismus. Zur Problematik einer kunsthistorischen Erfindung. In: Wolfgang Braungart (Hg.): Manier und Manierismus, Tübingen 2000, S. 109–129. Vgl. Bernhard Huss, Christian Wehr: Manierismus. Interdisziplinäre Studien zu einem ästhetischen Stiltyp zwischen formalem Experiment und historischer Signifikanz. Germanisch-Romanische Monatsschrift. Beihefte, Volume Nr.: 56, Heidelberg 2014. 13 Huigen Leeflang (Hg.): Hendrick Goltzius (1558–1617): Drawings, Prints, and Paintings, Ausstellungskatalog, Nr. 15, New York/Amsterdam/Toledo 2003, S. 244f. 14 Marjorie Lee Hendrix: Joris Hoefnagel and the „Four Elements“. A Study in Sixteenth-Century Nature Painting, Ann Arbor 1985; vgl. zu diesem Prinzip: Karin Leonhard: Bildfelder. Stilleben und Naturstücke des 17. Jahrhunderts, Berlin 2013, S. 245–247. 15 „Di natura arte par, che per diletto/l’imitatrice sua scherzando imiti“; Torquato Tasso: La Gerusalemme liberata, 16, 10, 3f, Florenz 1976, S. 387. 16 Corinna Tania Gallori, Gerhard Wolf: Tre serpi, tre vedove e alcune piante. I disegni „inimitabili“ di Jacopo Ligozzi e le loro copie o traduzioni tra i progetti di Ulisse Aldrovandi e le pietre dure. In: Mitteilungen des kunsthistorischen Instituts in Florenz, 2015, Bd. 57, Heft 2, S. 212–251, hier S. 219. 17 Friedrich Teja Bach: Struktur und Erscheinung. Untersuchungen zu Dürers graphischer Kunst, Berlin 1996, S. 273–302. 18 Albrecht Dürer: Underweysung der Messung mit dem Zirckel und Richtscheyt, in Linien Ebnen unnd gantzen corporen, Nürnberg 1525, S. A2. 19 Horst Bredekamp: Die Erkenntniskraft der Plötzlichkeit. Hogrebes Szenenblick und die Tradition des Coup d‘Oeil. In: Joachim Bromand, Guido Kreis: Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, Berlin 2010, S. 455–468. 20 Carl Immanuel Gerhardt (Hg.): Gottfried Wilhelm Leibniz. Der Briefwechsel von Gottfried Wilhelm Leibniz mit Mathematikern, Berlin 1899, S. 154; vgl. Horst Bredekamp: Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz‘ Theater der Natur und Kunst, Berlin 2008, S. 93. 21 Kurt Wettengl (Hg.): Maria Sibylla Merian. Künstlerin und Naturforscherin 1647–1717, Ausstellungskatalog, Frankfurt a. M. 1997, Nr. 128, S. 226, 229 (Tafel auf S. 215); vgl. David Attenborough, Susan Owens, Martin Clayton, Rea Alexandratos: Wunderbare seltene Dinge. Die Darstellung der Natur im Zeitalter der Entdeckungen, München 2008, S. 146f. Zu Merians Expedition: Maria Sibylla Merian: Metamorphosis Insectorum Surinamensium 1705, Amsterdam 1705; Ella Reitsma: Maria Sibylla Merain & Daughters. Women of Art and Science, Amsterdam/Los Angeles 2008, S. 220–224. 22 Horst Bredekamp: Das Prinzip der Metamorphosen und die Theorie der Evolution. In: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (vormals Preußische Akademie der Wissenschaften), Jahrbuch 2008, Berlin 2009, S. 209–247, hier S. 214. 23 Wolfram Hogrebe: Echo des Nichtwissens, Berlin 2006, S. 380f. 24 David Bindman: Hogarth and his Times, Ausstellungskatalog, London 1997, S. 168f. 25 Karl Robert Mandelkow (Hg.): Johann Wolfgang von Goethe. Briefe. Kommentare und Register. Hamburger Ausgabe in 4 Bänden. Bd. 1, München 1988, S. 187/15–17; vgl. Adolf Portmann: Goethe und der Begriff der Metamorphose. In: Goethe-Jahrbuch, 1973, Bd. 90, S. 11–21; vgl. Hans Werner Ingensiep: Metamorphosen der Metamorphosenlehre. Zur Goethe-Rezeption in der Biologie von der Romantik bis in die Gegenwart. In: Peter Matussek (Hg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur, München 1998, S. 259–275; vgl. Uwe Pörksen: Raumzeit. Goethes Zeitbegriff zwischen Linné und Darwin aufgrund seiner zeichnerischen und sprachlichen Darstellung geologischer und botanischer Ideen. In: Matussek (Hg.): Goethe (s. oben), S. 101–127, hier S. 115.
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26 Charles Darwin: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl (Engl. Original 1859), Stuttgart 2001; unter Bezug auf: Rupprecht Matthaei, Dorothea Kuhn, Wilhelm Troll, Lothar Wolf (Hg.): Goethe. Die Schriften zur Naturwissenschaft (Leopoldina). Erste Abteilung: Texte. Band 9: Morphologische Hefte, Weimar 1954, S. 119–151. 27 Winfried Menninghaus: Biologie nach der Mode. Charles Darwins Ornament-Ästhetik. In: Sigrid Walter, Gisela Staupe, Thomas Macho (Hg.): Was ist schön? Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden, Ausstellungskatalog, Dresden 2010, S. 138–147. 28 Horst Bredekamp: Darwins Korallen und das Problem animalischer Schönheit. In: Norbert Elsner (Hg.): Bilderwelten. Vom farbigen Abglanz der Natur, Göttingen 2007, S. 257–280, hier S. 257f. 29 Robert Koch: Die Aetiologie der Milzbrand-Krankheit, begründet auf die Entwicklungsgeschichte des Bacillus Anthracis. In: Ferdinand Cohn (Hg.): Beiträge zur Biologie der Pflanzen, Bd. 2, 1876, Nr. 2, S. 277–310, Tafel XI. Die Figuren 1–5a und 6, 7 stammen von Robert Koch. 30 Koch: Die Aetiologie (s. Anm. 29), S. 286. Vgl. hierzu und zum Folgenden: Franziska Brons: Photographierter Mikro kosmos. Die Exploration des Unsichtbaren in Bakteriologie und kriminalistischer Urkundenuntersuchung (Magisterarbeit), Humboldt-Universität, Berlin 2003. Ich danke F. Brons für die Nutzung dieser Arbeit sowie weitere Hinweise. 31 Robert Koch: Verfahren zur Untersuchung, zum Conservieren und Photographieren der Bacterien. In: Ferdinand Cohn (Hg.): Beiträge zur Biologie der Pflanzen, 1877, Bd. 2, Heft 3, S. 399–434, Tafel XVI. 32 Robert Koch: Zur Untersuchung von pathogenen Organismen. In: Heinrich Johann Struck (Hg.): Mittheilungen aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte, 1881, I, S. 1–48, 11; vgl. Thomas Schlich: Repräsentation von Krankheitserregern. Wie Robert Koch Bakterien als Krankheitsursache dargestellt hat. In: Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner, Bettina Wahrig-Schmidt: Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997, S. 165–190, 179; vgl. Ragnhild Münch, Stefan S. Biel: Expedition, Experiment und Expertise im Spiegel des Nachlasses von Robert Koch. In: Sudhoffs Archiv, 1998, Bd. 82, Heft 1, S. 1–29. 33 Koch: Zur Untersuchung (s. Anm. 32), S. 14. 34 Koch: Zur Untersuchung (s. Anm. 32), S. 11; vgl. Schlich (s. Anm. 32), S. 173. 35 Koch: Verfahren (s. Anm. 31), S. 399–434, 400–402; Koch: Zur Untersuchung (s. Anm. 32), 1881, S. 10–15. 36 Edgar M. Crookshank: Photography of Bacteria, London 1887, s. p., Pl. XVI. 37 Robert Koch: Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Piroplasmen. In: Robert von Ostertag, Ernst Joest, Kurt Wolffhügel (Hg.): Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten, Parasitäre Krankheiten und Hygiene der Haustiere, 1906, Bd. LIV, S. 1, Tafel I. 38 Jan Altmann: Zeichnen als beobachten. Die Bildwerke der Baudin-Expedition (1800–1804). In: Bénédicte Savoy, Michael Thimann, Gregor Wedekind (Hg.): Ars et Scientifica. Schriften zur Kunstwissenschaft, Band 1, Berlin 2012, S. 150f. 39 Klaus Schwamborn: Farben als Proteine. Wie aus Bildern neue Organismen werden. In: Horst Bredekamp, Matthias Bruhn, Gabriele Werner, Vera Dünkel (Hg.): Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Farbstrategien, 2006, Bd. 4, Nr. 1, S. 17–24, hier S. 18. 4 0 Schwamborn (s. Anm. 39), S. 19. 41 Stefan W. Hell, Jan Wichmann: Breaking the diffraction resolution limit by stimulated emission. Stimulated-emission-depletion fluorescence microscopy. In: Optics Letters, 1994, Vol. 19, Nr. 11, S. 780–782; vgl. Alison Abbott: Microscopic marvels. The glorious Resolution. In: Nature, Vol. 459, 2009, Nr. 7247, S. 638f, hier S. 638. 42 Tamily A. Weissman, Joshua R. Sanes, Jeff W. Lichtman, Jean Livet: Generating and Imaging Multicolor Brainbow Mice. In: Cold Spring Harb Protoc, 2011 (7), S. 763–769, http://cshprotocols.cshlp.org/content/2011/7/pdb.top114. abstract (Stand: 27.10.2017). 43 Regine Hengge, Serra O. Diego: Stress responses go three dimensional – the spatial order of physiological differentiation in bacterial macrocolony biofilms. In: Environmental Microbiology, 2014, Vol. 16, Nr. 6, S. 1455–1471. 4 4 Paul J. Crutzen, Eugene F. Stoermer: The „Anthropocene“. In: Global Change Newsletter, Nr. 41, Mai 2000, S. 17–18; vgl. Paul J. Crutzen: Geology of Mankind. In: Nature, Vol. 415, 2002, Nr. 6867, S. 23; vgl. ders.: Die Geologie der Menschheit. In: Paul J. Crutzen, Mike David, Michael D. Mastrandrea: Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang, Berlin 2011, S. 7–10. 45 Paul Klee: Pädagogisches Skizzenbuch, Berlin 1997 (Orig. 1925; 4. Aufl.), S. 7 (im Original S. 6). 4 6 J. D. Watson, F. H. Crick: Molecular Structure of Nucleic Acids. A Structure for Deoxyribose Nucleic Acid. In: Nature, Vol. 171, 1953, Nr. 4356, S. 737–738. 47 Daniel Kahneman: Thinking, Fast and Slow, New York 2011.
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Maniera und Shizen Zum deutsch-japanischen Dialog über Bilder Das Humboldt-Kolleg über Bilder als Denkmittel, das im Frühjahr 2016 in Tokio ausgerichtet wurde, führte neuere Positionen deutscher und japanischer Kunstwissenschaft zusammen. Das bildwissenschaftliche Paradigma, das sich um eine Erweiterung der Kunstgeschichte in alle Sphären visueller und materieller Gestaltung bemüht, sollte dabei erstmals unter kulturellen Prämissen problematisiert werden. Es galt einen gemeinsamen methodischen Horizont abzustecken, der über nationale Engführungen hinaus die weltanschaulichen und epistemischen Prägungen menschlicher Erzeugnisse offenlegt, ohne kulturelle Eigendynamiken zu bagatellisieren. Die Herausforderungen eines so sensibilisierten bildwissenschaftlichen Zugangs wurden in der Podiumsdiskussion sondiert, die an die Vorträge von Karl Clausberg, Inaga Shigemi und Horst B redekamp anschloss. Clausberg rekonstruierte in seinem Referat physiologische Gedächtnismodelle, die biologische Prädispositionen und kulturelle Leistungen verzahnten und damit eine Scheinlebendigkeit von Erinnerungsbildern als mneme oder Engramme nahelegten.1 Diese parasitären Informationseinheiten seien noch von ballistischen oder pneumatischen Lichttheorien beseelt, die sich inzwischen naturwissenschaftlich überholt hätten, aber noch die gängige Rede von der agency nicht-menschlicher Entitäten heimsuche. Inaga schlug in seinem Konferenzbeitrag einige Leitbegriffe für eine japanische ästhetische Empfindsamkeit vor, auch wenn diese sich erst durch den Kontakt mit der westlichen Philosophie begrifflich konkretisiert habe.2 Hierbei kamen spontane Tuscheeffekte (bokashi/nijimi) zur Sprache, die an Klecksografien und informelle Kunst erinnern, ebenso wie Lebendigkeitsmetaphern, die wiederum vitalisierend in die Kunstproduktion hineinwirkten. Der Naturhistoriker und Volkskundler Minakata Kumagusu (1867–1941), der lange in den USA und London lebte, wurde als intellektueller Unterhändler herausgehoben, der ostasiatische religiöse und philosophische Lehren mit einem westlichen wissenschaftlichen Habitus verknüpft habe. So konnte dieser die taxonomischen Zweideutigkeiten der Schleimpilze im mythischen Netz des Indra auffangen, das jede Erscheinung auf alle anderen zurückspiegelt, also das Einzelne immer in einen holistischen Hintergrund einbettet. Trotzdem blieben die so gewonnenen Erkenntnisse nach buddhistischer Lesart substanzlos und müssten in einer spirituellen Passage (dō) durchquert werden. Bredekamp schließlich widmete sich in seinem Essay der manieristischen Entgrenzung von Kunst und Natur, die vom 16. Jahrhundert bis in die Jetztzeit führe.3 So stelle die Schlangenlinie, die William Hogarth (1697–1764) der Schönheit zuordnete,
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1 Itō Jakuchū: Kaso nehan-zu / Gemüse-Nirwana, Rollbild (kakejiku), Tusche auf Papier, 182,4 × 96,3 cm, ca. 1718, Kyoto, Nationalmuseum, Inv.-Nr. AK83.
eine besonders bezwingende Kraftfigur dar, die zunächst symbolisch, dann aber auch materiell in die visualisierte Natur eingeschrieben wurde. Solche immanenten Überformungen mündeten zuletzt in die anthropozänische Epoche, die den Planeten vollständig durchbilde. Bredekamp stellte damit der instrumentellen Zurichtung und Ressourcenausbeutung eine unsichtbare Künstlerhand bei, die immer auch gestalterisch in ihre Umwelt eingreife, um dann wiederum von dieser ergriffen zu werden. Tatsächlich kennt auch die japanische Kunstgeschichte eine manieristische Strömung, wie aus dem Publikum angemerkt wurde. So haben der Kunsthistoriker Tsuji Nobuo (geb. 1932) und der Philologe Yura Kimiyoshi (1929–1990) in der mittleren Edo-Zeit des 18. Jahrhunderts eine exzentrische Schule ausgemacht, die sich wie der europäische Manierismus von einer klassizistisch sterilisierten Kunst abzuheben suchte.4 Diese Schule sei aus einer intellektuellen Subkultur in Kyoto hervorgegangen, die sich gleichermaßen aus einem zen-buddhistischen Eremitentum wie aus daoistischen Heldenlegenden bediente. Die Exzentriker (kijin) sprachen insbesondere den aufsteigenden Kaufmannsstand an, der sich aus den sozialen Zwängen des Shōgunats (bakufu) zu befreien suchte. Zu den herausragenden Persönlichkeiten dieser Künstlergeneration gehören Soga
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2 Giuseppe Arcimboldo: Vertumnus oder Rudolf II. von Habsburg, Öl auf Holz, 70 × 58 cm, 1590, Stockholm, Skoklosters Slott, Inv.-Nr. 11615.
Shōhaku (1730–1781), Itō Jakuchū (1716–1800) und Nagasawa Rosetsu (1754–1799), die alle intensiv die Natur studierten, aber auch expressiv über diese hinausgingen und dabei mit westlichen Stilmitteln experimentierten. Ein Tuscherollbild von Jakuchū (Abb. 1) etwa inszeniert das kanonische Kompositionsschema des sterbenden Buddha Shakyamuni, verwandelt aber alle Protagonisten zu Obst und Gemüse, sodass der liegende Erleuchtete im Zentrum als Rettich (daikon) erscheint, während seine Mutter oben links als Quitte aus dem Himmel herunterhängt. Ein solches assoziatives Gemüse-Nirwana erinnert an die vegetabilen Kompositköpfe des Giuseppe Arcimboldo (ca. 1526–1593) (Abb. 2), folgt aber doch einer ganz anderen Logik. Statt die Natur durch menschliche Herrschaft fruchtbar zu machen, wie es der manieristische Souverän für sich beanspruchte, ist diese hier selbst mit einer innewohnenden Buddha-Essenz ausgestattet, strebt also ihrerseits nach Erlösung aus dem irdischen Kreislauf des Leidens.5 In diesem Sinne ist die dargestellte Flora mit einer eigenen agency ausgestattet, die sie dem Humanum gleichstellt, obwohl dieser Eigenwille doch nur darauf abzielt, allem weltlichen Handlungsdruck zu entkommen.
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Zum Erbe der Exzentriker gehören auch die ukiyo-e-Farbholzschnitte, die zunächst noch die vergänglich fließende Welt umkreisten, dann aber immer überschwänglicher das irdische Leben übersteigerten. Die Entwürfe von Katsushika Hokusai (1760–1849), die in Europa ein ungeheures Echo auslösten, beruhen dabei häufig auf einer ganz ähnlichen Schlangenlinie, wie sie in der manieristischen figura serpentinata vorweg genommen ist. Hokusai gehörte auch zu den ersten japanischen Künstlern, die sich die Linearperspektive aneigneten. Er könnte das Spiralmotiv wie diese aus europäischen Drucken herausgelesen haben, die damals über China oder die niederländische Handelsniederlassung ins Land gelangten. Es ließe sich aber auch spekulieren, dass die S-Linie als kinetische Symbolform in Erscheinung tritt, die kulturübergreifend Lebendigkeit ausstrahlt, wie es Aby Warburg (1866–1929) in seinem Schlangenritual nahelegte.6 Hokusai setzte sie allerdings nicht so sehr als innere Silhouette ein, wie Inaga einwandte. Sie fungiere eher als Kontaktmittel, das die menschliche Figur in die Landschaft einpasse.7 So ist Leben auch hier wie im Netz des Indra als verbindendes Prinzip verstanden. In der zeitgenössischen Kunst beruft sich vor allem Murakami Takashi (geb. 1962) auf die Exzentriker und die ukiyo-e-Holzschnitte, die er dem kommerziellen Kitsch und der otaku-Kultur des modernen Japan vorangehen sieht. So sind seine übersüßen bis unheimlichen manga- und anime-Kreationen dem mythischen Kosmos von Shōhaku entnommen oder aber im Künstlerwettstreit (e-awase) mit dem Kunsthistoriker Tsuji Nobuo entstanden.8 Murakami ebnet hohe und populäre Kunst im superflat ein und umreißt damit einen japanischen Neomanierismus, der eher im Zeichen von Konsumkult und Unterhaltungsindustrie als visueller Neugier zu stehen scheint.9 Trotzdem ist gerade die otaku-Szene, der Murakami Sexualangst unterstellt, zum Schrittmacher technischer Innovationen geworden, die immer offensiver auf die Lebenswelt übergreifen, sei es durch holografische Scheinpartner, robotisierte Haustiere oder implantierte Computerschnittstellen. Die künstliche Überformung der Natur, die bei Bredekamp wissenschaftliche Erkenntnisse produziert, wird hier offensiv als Transhumanismus betrieben. Dieser ließe sich vom westlichen Standpunkt aus als grenzauflösende Krise der Subjektivität definieren, wie sie häufig mit der europäischen maniera moderna assoziiert wurde.10 Solche lebendigen Kunstwerke und künstlich aufgerüsteten Körper sprengen die Kategorien der humanistischen Kulturkritik, wie Clausberg anmahnte. Das Horrorszenario der Entfremdung, das dabei dystopisch auf Japan projiziert wird, bleibt aber doch hinter dem geistigen Horizont zurück, der diesen spielerischen Zugriff auf das Ich erst hervorgebracht hat. Der in Zürich geschulte Psychologe Kawai Hayao (1928–2007), der sich vor allem um die Einführung der Spieltherapie verdient gemacht hat, sezierte das japanische Unbewusste mit der analytischen Symboltheorie, die Carl Gustav Jung (1875–1961) bereitgestellt hatte.11 Seine Lektüre des populären Legendenschatzes kam zu dem Schluss, dass
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hier im Unterschied zum westlichen Sagenkreis die Schranken zwischen Leben und Tod, Realität und Fantasie, dem Ego und seiner Umwelt durchlässig bleiben. Die ostasia tischen Kulturen denken demnach nicht dualistisch, wie es das europäische Räsonne ment vorschreibt. Sie unterscheiden nicht nach natürlich und künstlich, körperlich und seelisch, lebend und unbelebt, sondern lokalisieren das Einzelphänomen innerhalb einer holistischen Totalität. Kawai zog hieraus politische Konsequenzen und sprach sich für eine hoch umstrittene Erziehungsreform aus, die eine unabhängige japanische Individualität kultivieren sollte.12 Der Stichwortgeber der Kyoto-Schule Nishida Kitarō (1870–1945), der die moderne japanische Philosophie begründete, suchte die westliche Subjektivität seinerseits durch eine Logik des Ortes (basho no ronri) zu überwinden.13 Das Individuum ist demzufolge existenziell in seine Umwelt eingebettet. Diese komme ihm nicht objektiv entgegen, sondern bestimme es erst und muss daher auch nicht grenzpolizeilich abgewehrt werden. Eine solche ökologische Erkenntnistheorie hat auch die japanische Primatenforschung beflügelt, die gegen die darwinistische Selektion argumentierte. Der Evolutionsbiologe Imanishi Kinji (1902–1992), der gleichermaßen auf Nishida wie auf Jakob von Uexküll (1864–1944) rekurrierte, entdeckte generationenübergreifend vermittelte Handlungsweisen unter Japanmakaken, die so eine Proto-Kultur entwickelt hätten.14 Hier ist also wieder das Zusammenspiel biologischer und kultureller Kräfte angesprochen, dem sich Clausberg in seinem Vortrag gewidmet hatte, wobei die so erworbenen Erinnerungen durchaus rational und nicht parasitär erscheinen. Die menschlichen und tierischen Sphären sind so gesehen aufeinander angewiesen, ohne territorial konkurrieren zu müssen. Inaga erkannte in diesen Spielräumen zwischen den Lebewesen dieselbe Rahmenlosigkeit, die Tsuzumi Tsuneyoshi (1887–1981) der japanischen Kunst zugeschrieben hatte. Diese sei eben nicht abgeschrankt, um so eine ästhetische Kontemplation auf sich zu ziehen. Eher nehme sie aktiv an ihrer Umgebung teil und wirke so ins Leben zurück.15 Das Publikum erwiderte, dass ein unbegrenztes Sehen nach gestaltpsychologischen Erkenntnissen in einer visuellen Störung oder sogar Halluzinationen resultieren müsste. Ein solcher bildloser Zustand aber grundiert in der buddhistischen Epistemologie überhaupt jedwede Urteilsfähigkeit, wie wiederum Nishida feststellte. Das Subjekt und der Ort, an dem es sich befindet, würden zuletzt nicht im Sein aufgehen, wie es die westliche Philosophie sucht, sondern im absoluten Nichts (zettai mu). Die japanische Sprache lässt den sichtbaren Kosmos in diese Leere zurückstürzen. Sie kennt dabei keinen Eigenbegriff für die Natur, der ihrem westlichen Sinn entspräche. Das hierfür gebräuchliche Kanji 自然 (shizen) entstammt ursprünglich einer buddhistischen Redeweise, die damit durchaus keine unberührte Eigenwelt abzirkelt, die dem kulturellen Handeln gegenübersteht.16 Tatsächlich fasst es das Lebende wie auch das Leblose in einer allumfassenden Spontaneität zusammen, die eher atmosphärisch
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erfühlt als verstandesmäßig erkannt wird. Die so konzipierte Natur ist nicht subjektiv und objektiv aufgespalten, sondern wieder ins Netz des Indra eingewoben, aus dem dann die Einzelerscheinungen hervorleuchten. Das betreffende Kegon-Sûtra beschreibt ein Universum, das sich in optischen Reflexen verflüchtigt, „sodass alle Seienden wie die Edelsteine an jedem Knoten […] untereinander unendlich und unerschöpflich ihre Bilder und die Bilder der Bilder […] in sich spiegeln“.17 Die Natur ist hier bildlich durchwirkt, wie Bredekamp in der Diskussion bekräftigte, ganz ähnlich wie die lebendig spiegelnden Monaden, die Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) angedacht hat. Das japanische shizen stellt aber darüber hinaus überhaupt jegliche Substanz in Frage und muss daher auch nicht gegen menschliche Eingriffe verteidigt werden. Der radikale Einspruch der Leere, der zu den Hauptmotiven der buddhistischen Philosophie gehört, schlägt damit in einen umso freieren Umgang mit der Umwelt um. So werden auch menschengemachte Erzeugnisse nicht als unnatürlich empfunden, selbst wenn sie als Konsumkitsch oder enhancement-Technologie zunehmend das Ich belagern. Der Shintoismus, der neben dem Buddhismus die japanische Kultur prägt, hat eine solche Haltung unter umgekehrten Prämissen befeuert. So können sich die hier beschworenen Naturgeister (kami) gleichermaßen menschlich, tierisch und gegenständlich manifestieren, bleiben aber immer radikal diesseitig. Shintō-Schreine beherbergen häufig numinos aufgeladene Kunstgegenstände, die allerdings der Sicht entzogen sind.18 Hieraus erklärt sich das unbefangene Zutrauen in die Persönlichkeit von Tieren oder künstlichen Lebewesen, wie sie derzeit in der Robotik entwickelt werden, aber auch eine geradezu kultische Erwartungshaltung an die menschliche Handfertigkeit. Das geistige Hindurchgehen (dō), das Inaga empfahl, soll einer solchen materiellen Entmündigung entgegenwirken. Clausberg argumentierte dagegen für eine historische Schulung des Sehens, die auch mit physiologischen Prädispositionen rechnet. Bredekamp schließlich sprach sich für ein distanzierendes Innehalten aus, das die Trennungslinien zwischen Kunst und Natur wiederherstellt. Seine Kritik galt dabei vor allem einer europäischen Philosophie, die sich auf ein allmächtiges Ego zurückgezogen habe, das den bezwingenden Eigenmächten einer durchbildeten Umwelt hilflos ausgeliefert sei. Sie habe sich, wie er sagte, im „Nirwana des Konstruktivismus“ verirrt. Der buddhistische Standpunkt postuliert eine ebenso illusorische Erscheinungswelt, die allerdings nicht selbstproduziert ist. Eher emaniert sie aus einer objektiven Leere, die alle Lebewesen gleichermaßen umfängt. Es scheint geboten, den sich hier abzeichnenden Synergien zwischen europäischen und ostasiatischen Perspektiven weiter nachzugehen, um den zunehmend globalen Herausforderungen einer manieristischen oder eben transhumanistischen Zukunft begegnen zu können.
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Eine deutschsprachige Neufassung des Vortrags erscheint in einer eigenen Publikation des Autors. Siehe Inaga in diesem Band. Siehe Bredekamp ebd. Nobuo Tsuji: Lineage of Eccentrics. Matabei to Kuniyoshi, übers. v. Aaron M. Rio, Tokio (jap. Orig. 1970) 2012; Yura Kimiyoshi (Hg.): Sekai no Okaruto Bungaku. Gensô Bungaku Sôkaisetsu, Tokio 1982; ders.: Fukyo Toranomaki, Tokio 1983. Für eine westlich-japanische Perspektivierung, John M. Rosenfield, Fumiko E. Cranston: Extraordinary Persons. Works by Eccentric, Nonconformist Japanese Artists of the Early Modern Era (1580–1868) in the Collection of Kimiko and John Powers, Cambridge, MA 1999, Bd. 1, S. 16–40. Für eine historische Kontextualisierung, Ursula Baatz: Buddhas Natur. Ökologiebewegung und Buddhismus. In: Polylog, 2013, 29, S. 37–49, hier: S. 47. Aby Warburg: Bilder aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer in Nord-Amerika, 1923. In: Bilder aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer in Nord-Amerika. Vorträge und Fotografien = Gesammelte Schriften, Bd. III.2, hg. v. Uwe Fleckner, Berlin/Boston 2018, S. 65–104. Geraldine Gutiérrez de Wienken: Auf den Wellen ist alles Welle. Die Welle in der Kunst und Literatur – Ein Beitrag zur Symbolik der Moderne, München 2008, S. 70–76. Anne Nishimura Morse (Hg.): Takashi Murakami. Lineage of Eccentrics – A Collaboration with Nobuo Tsuji and the Museum of Fine Arts, Boston, Ausstellungskatalog, Boston 2018. Takashi Murakami: Super Flat, Ausstellungskatalog, Tokio 2000. Gustav René Hocke: Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der Europäischen Kunst – Von 1520 bis 1650 und in der Gegenwart, Hamburg 1957, S. 9–11. Hayao Kawai: The Japanese Psyche. Major Motifs in the Fairy Tales of Japan, übers. v. Sachiko Reece, Dallas 1988; ders.: Dreams, Myths & Fairy Tales in Japan, übers. v. James Gerald Donat, Einsiedeln 1995. Für eine Kritik der jungianischen Schule siehe Konoyu Nakamura: Goddess Politics. Analytical Psychology and Japanese Myth. In: Psychotherapy and Politics International, 2013, 11, S. 234–250. Therapeutisch wird die analytische Psychologie in Japan heute kaum noch praktiziert. Umfassend zur Kontroverse siehe Andrea Gevurtz Arai: The Strange Child. Education and the Psychology of Patriotism in Recessionary Japan, Stanford 2016, S. 60–79. Nishida Kitarō: Logik des Ortes. Der Anfang der modernen Philosophie in Japan, übers. v. Rolf Elberfeld, Darmstadt 1999. Kinji Imanishi: Die Welt der Lebewesen, übers. v. Asa-Bettina Wuthenow/Kurahara Satoko, München (jap. Orig. 1941) 2002; Masao Kawai: Newly-Acquired Pre-Cultural Behavior of the Natural Troop of Japanese Monkeys on Koshima Islet. In: Primates, 1965, 6, S. 1–30. Für eine darwinistische Kritik am japanischen Ethnozentrismus siehe Beverly Halstead: Imanishi’s Influence on Evolution Theory in Japan. In: Nature, 1987, 326, S. 21, mit weiterführenden Literaturangaben. Tsuneyoshi Tsuzumi: Die Rahmenlosigkeit des japanischen Kunststils. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 1928, 22, S. 46–60. Siehe hierzu Inaga im vorliegenden Band. Zum etymologischen Hintergrund siehe John A. Tucker: Japanese Views of Nature and the Environment. In: Helaine Selin (Hg.): Nature across Cultures. Views of Nature and the Environment in Non-Western Cultures, Dordrecht 2003, S. 161–183, hier: S. 161–163; Yanabu Akira: Honyaku no Shiso. Shizen to Nature, Tokio 1977. Torakazu Doi (Hg.): Das Kegon-Sûtra. Hua Yen-Sûtra, Avatamsaka-Sûtra, Blumengirlanden-Sûtra, Bd. 1, Frankfurt a. M. 2008, S. 588. Für einen Überblick und zur Übersetzungsproblematik, Daniel Clarence Holtom: The Meaning of Kami. In: Monumenta Nipponica, 1940, 3, S. 1–27; 392–413; 1941, 4, S. 351–394.
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Kapitel V
Empirische Forschung und ästhetische Wahrnehmung
Yasuhiro Sakamoto
Was sind Neuronale Geisteswissenschaften? Eine Sondierung
Einleitung1 Alexander von Humboldt verfolgte das Ziel, Wissenschaft und Ästhetik in Einklang zu bringen2: Als Wissenschaftler mit einer starken Affinität zu den Künsten, besonders zum Bild, war er der Auffassung, dass sich ästhetische Wahrnehmungsphänomene nur durch die Verbindung verschiedener Erkenntnisansätze entschlüsseln lassen. Trotz anhaltender Kritik erlebt Humboldts Traum von einer integralen ästhetischen Theorie seit den 1980er- und 1990er-Jahren eine Renaissance, auch wenn die natur- und lebenswissenschaftliche Erforschung der Kunstbetrachtung bis heute argwöhnisch beäugt wird. Entscheidend für dieses neuerliche Interesse waren Fortschritte in der Messtechnologie, die es erlaubten, die menschliche Wahrnehmung umfassender als jemals zuvor zu taxieren und abzubilden. Die Perspektive des Rezipienten rückte dabei gegenüber einem eher objektfokussierten Standpunkt, der die vorangehenden Jahrzehnte bestimmt hatte, wieder prominenter in den Blick. So bildeten sich in der Humboldt’schen Tradition neue Untersuchungsansätze heraus, die zeitgenössische Wahrnehmungsforschung mit der Analyse von Kunstwerken und ästhetischer Theorie zusammenzubringen versuchten. Zu nennen sind insbesondere die empirische Ästhetik nach Gustav Theodor Fechner; Rudolf Arnheims Kunstpsychologie sowie die hieran anschließende wahrnehmungspsychologische Kunstgeschichte von Ernst Gombrich;3 sodann die Neuroästhetik,4 die durch Kunstwerke verursachte individuelle Hirnaktivierungen beobachtet, also eher kognitiv als ästhetisch an Wahrnehmungsphänomene herantritt; die von Olaf Breidbach und Barbara Stafford entworfene Neuronale Ästhetik;5 und schließlich Karl Clausbergs Neuronale Kunst- und Bildwissenschaften.6 Im Zeichen der ‚interdisziplinären‘ Vernetzung wurden zuletzt mehrere Versuche unternommen, einen verstärkten Austausch zwischen Geistes- und Naturwissenschaften herbeizuführen, aber abgesehen von einzelnen bemerkenswerten Schriften (wie beispielsweise von David Freedberg)7 konnten die disziplinären Grenzverläufe bisher kaum aufgebrochen werden. Das Versprechen einer wissenschaftstheoretischen Wende, die der Interdisziplinarität notwendigerweise zugrunde liegen muss, wurde nicht eingelöst. Das größte Problem war dabei, dass zwei Basisbereiche des Wissens, nämlich die empirische Wahrnehmungsforschung einerseits
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Yasuhiro Sakamoto
und die Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaften andererseits, miteinander verknüpft werden sollten, obwohl sie historisch und philosophisch von auseinandertreibenden Stammbäumen geprägt sind. Eine Annäherung der beiden Bereiche kann letztlich nur dann gelingen, wenn das Zusammenspiel dieser Stammbäume in Rechnung gestellt wird, so wie es etwa Karl Clausberg in seiner Neuronalen Kunstgeschichte versucht hat.8 Unter Hinweis auf Cassirer schreibt Paulgerd Jesberg, dass die Schönheit für Gottfried W. Leibniz eine alles beherrschende gedankliche Ordnung im Kosmos kenntlich gemacht habe.9 Es scheint, als ob Humboldt und Leibniz einer ganz ähnlichen Welt anschauung folgten, aber aus unterschiedlichen Perspektiven: Während Humboldt in Fechners Sinne „von oben“ auf den Kosmos blickte, sah Leibniz eher „von unten“ auf den monadologischen Aufbau der Wahrnehmung. Die Ästhetik wird dabei nicht als Sonderform der Sinnlichkeit verstanden, sondern als Kontrastfolie, die mit der alltäglichen Wahrnehmung ein konstitutives Spannungsverhältnis bildet. Diesem Zugang liegt der Versuch zugrunde, Ästhetik natur- oder lebenswissenschaftlich aufzufassen. Von Leibniz ausgehend, will der vorliegende Aufsatz die Geschichte der Neuronalen Geisteswissenschaften rekonstruieren. Ein Korrelationsdiagramm, das die Bildwissenschaften und die empirische Ästhetik zusammenführt, soll dabei als Schaubild und Arbeitsprogramm dienen (Abb. 1).
Eine Analogie der Denkweise: Max Wertheimer und Albert Einstein Wenn die Wissenschaft wie gewohnt methodisch klassifiziert wird, scheinen sich kaum Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Fachgebieten abzuzeichnen; auf einer weltanschaulichen Ebene lassen sich aber doch bestimmte Denkweisen erkennen, die gleichermaßen der Wahrnehmung wie der inneren Welt zugrunde liegen, so wie es Ernst Mach in seiner Erkenntnistheorie beschrieben hat und wie es dann von Max Wertheimer für das wissenschaftliche Denken von Albert Einstein nachgewiesen wurde. Der Frankfurter Gestaltpsychologe interessierte sich für die Frage, wie Einstein auf den Grundgedanken der Speziellen Relativitätstheorie gekommen war. In seinem Buch Produktives Denken konstatierte er, dass Einsteins Theorem die natürlichen Grenzen der Newton‘schen Mechanik überschreitet.10 Letztere erlaubt es nur, physikalische Phänomene auf der Erde zu beobachten; deswegen ist ihre Denkwelt auch auf die Erde begrenzt. Die Einstein‘sche Relativitätstheorie hingegen vermochte ein universales Gesetz zu finden, das sowohl auf der Erde als auch im Weltraum gültig ist. Insofern war es Einstein gelungen, die Wissenschaft und ihren Denkhorizont über die Erde hinaus in das
Was sind Neuronale Geisteswissenschaften?
Schaubild zur Geschichte der Neuronalen Geisteswissenschaften
《Geschichte der Scheinbewegung》 Zoetrop und Phenakistiskop Vorgeschichte des Films
N. Chomsky Theoretische Informatik
M. Merleau-Ponty Phénoménologie de la Perception
《Genealogie der Kunst》 Video-, Medien- und Computerkunst
Stuttgarter Schule Frieder Nake (Medienkunst)
Algorithmus
《Techniken des Betrachters》 Von Kunst- und Kulturwissenschaft zu Bildwissenschaften University College London Neuroästhetik S. Zeki (Neuroästhetik) Alva Noë Kritik der Neuroästhetik
Computation
HU-Berlin Institut für Kunst- und Bildgeschichte Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik Exzellenzcluster: Bild Wissen Gestaltung H. Bredekamp (Kunst- and Bildwissenschaft) Wolfgang Schäffner (Kulturwissenschaft)
Hypothesis
E. Gombrich Kunst und Illusion
Warburghaus Hamburg
KHI Florenz, MPI
A. Warburg Ikonologie, Bilderfahrzeuge
Universtät Hamburg “Lebendigkeit” und “Kraft” als ästhetische Kategorien F. Fehrenbach (Bildwissenschaft)
MPI für empirische Ästhetik D. Poeppel (Neurowissenschaft) W. Menninghaus (Sprache und Literatur)
IMMM Hannover Institut für Musikphysiologie und Musiker-Medizin
K. Koffka Gestaltpsychologie
I. Kant (1790) Kritik der Urteilskraft
J. J. Gibson Wahrnehmungspsychologie
《Empirische Ästhetik und Neuroästhetik》
FU Berlin, Exzellenzcluster “Languages of Emotion”
G. T. Fechner (1871) Experimentelle Ästhetik
1 Schaubild zur Geschichte der Neuronalen Geisteswissenschaften (Stand: 2018).
O. Breidbach Neuronale Ästhetik eikones & ETH Zürich
G. Lakoff, M. Johnson Linguistik, Philosophie der Verkörperung
Wissenschaftskolleg zu Berlin Institute for Advanced Study
Charité Mind and Brain
L. Vygotsky Dialektischer Materialismus Psychologie der Kunst
K. Clausberg Neuronale Kunstgeschichte Neuronale Bildwissenschaften
University of Chicago B. M. Stafford (Bildwissenschaft) E. Cassirer Bildphänomenologie
Baumgartens Ästhetik (1750) Schönheit = Kunst = Sinn (Kansei) W. Benjamin Literatur, Philosophie, Soziologie
Bildakt (und Verkörperung) J. M. Krois (Philosophie der Verkörperung)
H. von Helmholtz, C. Shannon und Stefan von Huene Informatik und Medienkunst
D. Marr Neuroinformatik
Goethe University Hospital BIC: Brain Imaging Center Frankfurt
E. Mach Analyse der Empfindungen
Washington Univ. Medical Center R. Cytowic HU-Berlin (Neurowissenschaft, Synästhesie) Institut für Psychologie
Warburg Institute London Bilderfahrzeuge: Aby Warburgs Vermächtnis und die Zukunft der Ikonologie
NTT ICC InterCommunicationCenter, Tokyo Gregory Barsamian (Medienkunst) ZKM & HFG Karlsruhe N. J. Paik (Medienkunst) Toshio Iwai (Medien Kunst)
A. Einstein Spezielle Relativitätstheorie
W. Köhler Gestalt- und Kognitionspsychologie
Masaryk University, CZ L. Kesner (Kunstgeschichte)
Universität Lüneburg Institut für Kultur und Ästhetik Digitaler Medien (ICAM)
E. Husserl Phänomenologie
C. von Ehrenfels Gestaltqualitäten
F. Schumann -- M. Wertheimer Gestaltpsychologie: Frankfurter & Berliner Schule
R. Arnheim Kunst und Sehen: Psychologie des schöpferischen Auges M. Bense Informationstheoretische Ästhetik
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Wahrnehmung und Hirnforschung im 19. Jhd.
Wiener Schule der Kunstgeschichte
G. W. Leibniz Monadologie, Petites Perceptions
H. Werner Entwicklungspsychologie
Universität Wien Empirische Bildwissenschaften R. Rosenberg (Kunstgeschichte, Eye Tracking) H. Leder (Experimentelle Psychologie)
Hier hat mehrfach interdisziplinärer Austausch zum Thema Kunst und Wahrnehmung stattgefunden.
Was sind Neuronale Geisteswissenschaften?
Universum zu erweitern. Eben hierin erkannte Wertheimer eine theoretische und wissenschaftsphilosophische Analogie zur Gestaltpsychologie, weil auch diese mechanische Gesetzmäßigkeiten über ihre irdischen Grenzen hinaus kontinuierlich verlängerte, aber nicht nach außen, sondern ins Innerliche. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse waren also in anderer Hinsicht universal: Sie bezogen sich auf den Wahrnehmungsraum des Menschen.11 Der japanische Astrophysiker Kodaira Keiichi nennt die Astronomie ganz ähnlich eine „Geisteswissenschaft des Himmels“: Das japanische Kanji für Astronomie 天文学 umschreibt eine Wissenschaft, die das Prinzip des Himmels untersucht. Geisteswissenschaft hingegen wird 人文学 geschrieben: eine Wissenschaft, die das Prinzip des Humanen untersucht. Die beiden Kanji unterscheiden sich nur durch zwei horizontale Linien im ersten Zeichen, also 天 und 人, die im Japanischen das unendliche Universum von den geistigen Tiefen trennen. Obwohl beide Sphären voneinander abgegrenzt sind und sich ihre Methoden stark unterscheiden, ergibt sich auf der Ebene der Denkweise eine Analogie. Solche Übersprünge erlauben es, die disziplinären Eigenheiten der Natur- und Geisteswissenschaften zu überbrücken, um dann von den Einsichten des jeweils anderen zu profitieren. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert arbeiteten eine Reihe von Philosophen und Naturwissenschaftlern mit einer solchen Herangehensweise.12 Aber im Gegensatz zu Albert Einsteins großem Erfolg in den USA sind Max Wertheimer und die Gestaltpsychologie von der Wissenschaftsgeschichte zunächst vergessen worden, vermutlich aufgrund des Zweiten Weltkriegs. Sowohl Einstein als auch Wertheimer und seine Kollegen Wolfgang Köhler, Kurt Koffka sowie sein Doktorand Rudolf Arnheim waren in die USA emigriert. Allerdings war die Gestaltpsychologie stark in die Ideenwelt der deutschen Wahrnehmungsphilosophie eingebunden, wobei einer ihrer wichtigsten Begriffe – „Prägnanz“ – nicht treffend ins Englische übersetzt werden konnte und somit in den USA nicht recht Fuß fasste. Dieser Zweig der empirischen Wahrnehmungsforschung ist deshalb im englischsprachigen Raum kaum berücksichtigt worden.13 Wertheimers Theorien, die sich aus der Phänomenologie, der Bildwissenschaft, den Kognitionswissenschaften, den Neurowissenschaften, der bildenden Kunst und sogar der empirischen Literaturwissenschaft speisen,14 nehmen dabei den interdisziplinären Zugang, der heute gesucht wird, vorweg. Eine Neusondierung der Wissenschaftsgeschichte – mit einem Schwerpunkt auf gemeinsamen Denkweisen – mag so einen neuen Weg in die Neuronalen Geisteswissenschaften weisen.
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Aby Warburg und intrinsische Bildeigenschaften – Der Eigenwert des geisteswissenschaftlichen Auges Max Wertheimer und Aby Warburg waren fachlich weit voneinander entfernt. Dennoch lässt sich ihr wissenschaftliches Erbe aufeinander beziehen, wie eine Debatte zwischen Rudolf Arnheim und Ernst Gombrich, der später das Warburg Institute leitete, beweist.15 Die beiden Positionen trafen sich darin, Bildern intrinsische Eigenschaften zuzuschreiben, die dem Betrachter nur durch die eigene Erfahrung zugänglich sind und sich empirisch schwer nachweisen lassen. In seinem unvollendeten Mnemosyne-Atlas versuchte Warburg, diese intrinsischen „Ausdruckswerte“ durch Bilder-Konstellationen freizulegen und dadurch jenen Sinnraum zu ertasten,16 der sich bei Leibniz zwischen Vorstellung und Anschauung aufspannt. Wertheimers Gestaltpsychologie hingegen versuchte, über die quantitative psychologische Wahrnehmungsforschung, wie sie G. T. Fechner oder Wilhelm Wundt vertraten, hinauszugehen und stattdessen Qualitäten nachzugehen, die zwischen physikalischem und innerem Raum entstehen, dabei aber unmessbar bleiben. Warburg und Wertheimer näherten sich demselben Problem aus verschiedenen Perspektiven: der historischen Tiefe innerer Vorstellungen einerseits und ihrer physikalischen Prägung andererseits. Obwohl die klassische Psychologie das Feld abgesteckt hat, fehlt es bis heute an präzisen Analysen und vernünftigen Hypothesen seitens der Geisteswissenschaften, die diese Tradition fortführen. Die ästhetische Wahrnehmung entsteht zwischen dem Gegenstand und der Innerlichkeit des Menschen, kann also nicht einfach subjektiv verstanden oder statistisch umkreist werden. In anderen Worten: Es mag sein, dass die Fragestellungen der Geisteswissenschaften nicht immer im Kerngebiet der Neuro- oder Kognitionswissenschaften liegen, aber es gibt durchaus Probleme, die nur von Geisteswissenschaftlern herauspräpariert werden können, aber durch empirische Methoden zu beantworten wären, wie Winfried Menninghaus in seinen Studien zu Eleganz, Lyrik bis hin zur Lust an negativen Gefühlen untersucht hat.17 Auf der anderen Seite lassen sich empirische Methoden nicht ohne Weiteres auf die Geisteswissenschaften übertragen. Sie bedürfen eines verfeinerten experimentellen Designs, geschult durch neuro- und kognitionswissenschaftliche Praktiken. Nur so können verlässliche Daten gewonnen werden. Dieser Aspekt wird von geisteswissenschaftlichen Grenzgängern leider häufig unterschätzt.
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Neuroästhetik und Neuronale Ästhetik Obwohl zahllose Versuche unternommen worden sind, Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften zusammenzudenken, wie etwa bei G. W. Leibniz, A. Warburg, G. T. Fechner, D. Marr und M. Bense,18 herrscht weiterhin große Skepsis darüber, wie ein gemeinsamer Austausch methodisch schlüssig umgesetzt werden kann. Wie oben erwähnt, wird das Forschungsfeld, das sich zwischen den Neurowissenschaften und der Kunstforschung auftut, von verschiedenen Schlagwörtern begleitet. Die sogenannte „Neuroästhetik“ ist dabei besonders verbreitet, obwohl ihre wissenschaftliche Reichweite sehr beschränkt bleibt: Diese beruhte maßgeblich auf den Wahrnehmungsexperimenten zur kinetischen Kunst, die Semir Zeki in den 1980er-Jahren durchgeführt hatte,19 worauf die Geisteswissenschaften kritisch reagierten.20 Ihre Methodik laufe demnach auf einen Reduktionismus hinaus, da sie sich allein auf die Lokalisation und Lateralisation der affektiven Wahrnehmung berufe.21 Sie interessiere sich nur für die Hirnaktivierung, die durch die bewusste Anerkennung einer Empfindung im Belohnungssystem des frontalen Cortex entsteht,22 d. h., sie erforscht nur das mit der subjektiven ästhetischen Erfahrung verbundene Verarbeitungssystem im Gehirn. Zwar ermöglicht sie durchaus neue Interpretationen von Kunstwerken, aber lässt keine unmittelbaren Rückschlüsse auf die ästhetische Wahrnehmung zu. Auch wenn sie ähnlich tituliert ist, unterscheidet sich die „Neuroästhetik“ damit deutlich von der „Neuronalen Ästhetik“, die Barbara Stafford bzw. Olaf Breidbach entworfen haben.23 Stafford ordnete ihren Zugang zu Bildern den cognitive studies zu24, während sich Breidbach explizit von der Neuroästhetik distanzierte. Letzterer suchte die Objektivität innerlich repräsentierter Gegenstände zu bestimmen und unterstrich, dass ihn dabei Horst Bredekamps Schriften zum Cyberspace aus den 1990er-Jahren inspirierten. Dieser hatte für einen neuen Umgang mit den veränderten Bildrealitäten und eine Reform der Pädagogik plädiert.25 Insofern trifft sich hierin die Neuronale Ästhetik mit der von Bredekamp eingeführten Bildwissenschaft.
Zum Stand der Neuroästhetik Die Neuroästhetik hat sich inzwischen als wissenschaftliches Fach etabliert, das um methodischen Komplexitätsgewinn bemüht ist. Eine der wichtigsten Herausforderungen der neueren Forschung ist es, affektive Erfahrungen auf der Ebene der Hirnkonnektivität zu untersuchen. Wie Pascal Fries erklärt, wird die neuronale Verarbeitung vermutlich durch die rhythmische Synchronisation (z. B. im Gamma-Band) der Hirnnetzwerke be-
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einflusst, also durch ein eigentlich ästhetisches Prinzip.26 Das menschliche Kognitionssystem reagiert demnach nicht konsistent auf den jeweils eingehenden Reiz, sondern abhängig vom Zusammenspiel zwischen diesem Reiz und dem oszillatorischen Gehirnzustand. Die Neurowissenschaften versuchen sich damit vom Lokalisationstheorem zu befreien, das die Kognition in bestimmten Hirnregionen isolierte. Hieran hatte sich die geisteswissenschaftliche Kritik insbesondere entzündet. Die dynamischere Synchronisation hingegen erlaubt es, den besonderen affektiven oder ästhetischen Qualitäten der Wahrnehmungsgegenstände gerecht zu werden. Der Neuroästhetiker Edward A. Vessel ordnete solche Phänomene dem sogenannten default mode network (DMN) oder Ruhezustandsnetzwerk zu. Kunstwerke werden demnach insbesondere dynamisch verarbeitet, d. h., der Rezipient wendet sich während des Wahrnehmungsprozesses gedanklich von seinem Gegenstand ab und anderen inneren Dingen zu. In diesen Zwischenphasen kehre das Gehirn in einen aufgelösten Ruhezustand zurück, der das DMN aktiver werden lässt. Eben hierin scheint nun ein affektiver oder ästhetischer Effekt zu liegen.27 Später argumentierte Belfi, das DMN sei Teil eines Systems, das Bedeutung und bildliche Vorstellung (top-down) mit der sensorischen Informationsverarbeitung (bottom-up) verknüpft. Diese Übersprünge hätten das Potenzial, komplexe affektive Reaktionen hervorzurufen, die von der rein sinnlich-sensorischen bis zur abstrakt-konzeptionellen Ebene reichen und dann das Belohnungssystem im frontalen Cortex aktivieren. Hieraus ergeben sich neurologisch jene Spiel- und inneren Freiheitsräume, die seit jeher mit der ästhetischen Wahrnehmung verbunden werden.28 Inwiefern solche neuroästhetischen Modelle in die traditionelle Ästhetik überschwappen werden, ist noch völlig offen. Klar ist jedenfalls, dass die auf dem DMN basierende Interpretation der ästhetischen Erfahrung nicht mehr im Widerspruch zu klassischen Kunstdiskursen steht. Dieses Beispiel vermag zu zeigen, dass der Austausch zwischen den Neuro- und den Geisteswissenschaften gelingen kann. Die Ästhetik wird dabei nicht mehr als Sonderform der Wahrnehmung behandelt, sondern als ein Basissystem des Gehirns, das auch nur unter dieser Voraussetzung fächerübergreifend erfasst werden kann. Hierüber hinaus ist anzumerken, dass in bestimmten Kontexten die von Cassirer geprägte Verkörperungsphilosophie29 mit neurowissenschaftlichen Begriffen wie embodied cognition oder embodiment theory vermengt wurde. Die moderne Tanzforschung etwa bemüht sich, beide Konzepte miteinander zu verschränken, stößt dabei aber auf ein charakteristisches Problem der Interdisziplinarität, nämlich an wissenschaftlichen Methoden vorbei falsche Verknüpfungen herzustellen. Die Verkörperungsphilosophie bleibt nach wie vor auf der phänomenologischen Betrachtungsebene verhaftet und kann daher das menschliche Wahrnehmungssystem nicht empirisch „von unten“ erklären.30
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Bradford Mahon bezeichnete embodied cognition polemisch als „Geist im Gehirn“,31 weil sie ohne neuronale Spuren plötzlich auftauche. Ihr methodischer Kurzschluss liegt aus neurowissenschaftlicher Sicht darin, die Motorsysteme unmittelbar mit dem Wahrnehmungsgegenstand zu verbinden, ohne dabei die sensorischen Systeme einzubeziehen. Der motorische Cortex wird auch erst eine halbe Sekunde nach der Wahrnehmung aktiviert, kann also nur zusammen mit der sensorischen Verarbeitung erklärt werden. Eine eingehendere Erforschung der hierarchischen Aktivierungschronologie, die solche paradoxalen Zweideutigkeiten zu lösen verspricht, ist vorerst „aus technischen Gründen“, wie es heißt, in die Zukunft zu verschieben. Im kunsthistorischen Kontext werden häufig Experimente von David Freedberg zitiert, die die Motor-Aktivierung beim Sehen von Kunstwerken, wie etwa von Michelangelo und Jackson Pollock, untersuchten.32 Trotzdem ist es auch hier noch nicht gelungen, einen schlüssigen Zusammenhang zwischen dem zerebralen Aktivierungsmuster, der dynamischen Darstellung von Bewegung im Bild und ihrer ästhetischen Analyse herzustellen. Es fehlt ein theoretisches Zwischenglied.
Gegen die Neuroskepsis In den Kognitionswissenschaften sind zahlreiche Bildwahrnehmungsmodelle ausgearbeitet worden.33 Die meisten dieser Modelle sitzen allerdings zwei Grundproblemen auf, die sich aus der Gegenüberstellung von Bildanalyse und Neurologie ergeben: Verwechslung von Informationstheorie und wissenschaftlichem Realismus
Ein mithilfe von Messdaten und Simulationen erstelltes Modell im Sinne der Informationstheorie basiert ausschließlich auf den empirisch beobachtbaren Aspekten eines Phänomens. Es bleibt aber offen, ob es die Wahrnehmungsprozesse des Menschen tatsächlich wahrheitsgemäß wiedergibt oder aber nur imitiert, wie David Marr zu bedenken gegeben hat.34 Die Perzeption des Sinnesreizes und die kognitive Aktivierung, die beide mittels neurowissenschaftlicher Messverfahren beobachtet werden können, bedienen nicht das tatsächliche Wahrnehmungserlebnis des Menschen, sondern nur dessen informationstheoretische Modellierung. Ob diese wissenschaftstheoretisch überhaupt gilt, muss geprüft werden. Laut Marr repräsentiert das Modell, das die menschliche Sehfunktion zu beschreiben vorgibt, nur die Identität von Input-Output, also eine Simulation, aber nicht die dazwischenliegende Verarbeitung. Daher trennt Marr in seinem dreistufigen Schema die Rechenebene, die den kognitiven Verarbeitungsprozess rein mathematisch abbildet,
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von der algorithmischen Ebene der Wahrnehmung, die im gestaltpsychologischen Sinne ein eigenwirksames „Gesetz des Sehens“ geltend macht.35 Solche Prozesse, die in der Entstehungsphase der Wahrnehmung (beispielsweise 0–200 ms) ablaufen, können inzwischen mithilfe der Magnetoenzephalografie (MEG) beobachtet werden. Hierbei werden einerseits Daten zur Sinnesempfindung „von unten“ millisekundengenau registriert (informationstheoretischer Ansatz); andererseits wird „von oben“ ein algorithmisches Verarbeitungssystem „hypothetisch-deduktiv“ postuliert (wissenschaftstheoretischer Ansatz).36 So lässt sich die von Wertheimer vorgezeichnete Zukunftsvision einer empirischen Wahrnehmungsforschung umsetzen, die nicht nur informatorisch-quantitativ, sondern auch qualitativ verfährt37. Die technischen Grenzen der Messgeräte und die Komplexität der Wahrnehmung
Die meisten neuroästhetischen Modelle beschränken sich, wie oben angesprochen, auf die Korrelation von Kondition (Input) und Hirnreaktion (Output). In der experimentellen Praxis ergibt sich daraus das Problem, wie überhaupt eine kausale Verknüpfung zwischen diesen beiden Größen nachgewiesen werden kann. Es erscheint daher notwendig, die dazwischenliegenden Abläufe genauer in den Blick zu nehmen. Wie und wodurch genau Wahrnehmung entsteht und ob diese unmittelbar dem visuellen Input entspricht, lässt sich nur bestimmen, wenn ihre Aufbauphase im visuellen Cortex präzise verfolgt wird, bevor höhere kognitive Funktionen, wie W issen oder Gedächtnis, auf sie einwirken. Das Zeitfenster dieser präkognitiven Wahrnehmungsphänomene, in dem sich auch die Gestaltwahrnehmung abspielt, ist wegen der Zeitauflösungslimitation der gebräuchlichsten Messgeräte bisher kaum erforscht worden, aber durchaus möglich. Die Aussagefähigkeit der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT), die lange die neuroästhetische Wahrnehmungsforschung bestimmt hat, ist massiv überschätzt worden. Ihre Messgenauigkeit ist zwar örtlich hoch, aber zeitlich beschränkt. Mehr noch als das Lokalisationstheorem hat die sehr niedrige Zeitauflösung der fMRT, die nicht unter einer Sekunde zu messen vermag, die Neuroästhetik getäuscht. Letztlich registriert sie nicht die tatsächliche Neuronenaktivierung, sondern Änderungen im Sauerstoffgehalt des Bluts in bestimmten Hirngebieten, die lokale Hirnaktivitäten wiedergeben. Die Elektroenzephalografie (EEG) ist dagegen wesentlich präziser und erlaubt Messungen unter einer Millisekunde. Im Unterschied zur fMRT registriert die EEG elektrische Energien, die auf der Kopfhaut auftauchen, lässt deshalb eine Lokalisation aber nur noch stark eingeschränkt zu. Zudem können Störsignale (EOG: Augenbewegungen, Blinzeln; EMG: Muskelbewegungen) nicht sauber herausgefiltert werden, sodass eine präzise Messung der frühen Wahrnehmungsphase vor 100 ms (d. h. vor N100) problematisch ist. Technisch gesehen stellt die Magnetoenzephalografie (MEG) für diese Phase das geeignetste Ver-
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fahren dar. Die MEG misst nicht nur präzise, sondern ermöglicht durch die Kombination mit einem MRT-Scan auch eine zuverlässige Quellenlokalisation. Wegen des technischen Aufwandes solcher Messungen und ihrer Datenanalyse ist die MEG gegenüber der fMRT allerdings kaum verbreitet.
Das Zeitfenster der Gestaltwahrnehmung – Ein neues Forschungsmodell Die hier vorgeschlagene Lösung liegt darin, die Entstehungsphase der Wahrnehmung in den Vordergrund zu stellen und damit jene blitzartigen Gestaltphänomene aufzuspüren, die schon Arnheim als Funktion der Kunstperzeption betrachtete.38 Eine solche visuelle und auditive Gestaltwahrnehmung lässt sich zeitlich und strukturell zuverlässig modellieren, sodass nicht nur die Korrelation zwischen Stimuluskondition und Hirnreaktion gesichert, sondern erstmals auch die Wahrnehmungsquelle angemessen berücksichtigt werden kann. Sie ermöglicht es, sowohl die physikalischen Eigenschaften des Gegenstandes als auch die physiologischen und psychologischen Qualitäten des Wahrgenommenen zu erfassen und mathematisch-mechanisch darzustellen. Vor allem aber stellt die Gestaltwahrnehmung eine spontane Imagination in Rechnung, die in die Perzeption einfließt und so über die bloße Wiedergabe der Realität hinausgeht. Nicht nur in den Neurowissenschaften, sondern auch in der Kunstforschung ist die frühe Wahrnehmungsphase unberücksichtigt geblieben. In beiden Disziplinen wird sie als automatischer Prozess verstanden, der die bewusste Erkennung des Kunstwerks vor das affektive Erlebnis schiebt.39 Diese Phase ist eben genau dort verortet, wo sich Vorstellung und Anschauung treffen; sie bleibt epistemologisch und physikalisch eine black box. Leibniz hatte diesen Hiatus durch „kleine Wahrnehmungen“ überbrückt und das ästhetische Erlebnis so in die Entstehungsphase der Perzeption verlagert.40 Im Terminus der „Monade“ suchte er dabei, die Differenz und Einheit von Physischem und Psychischem neu zu klären. Eines seiner Denkbilder, das er im Zusammenhang mit der „Monadologie“ entwickelte, argumentierte, physisch-physiologisch müsse der Mensch beim Hören von Meereswellen eigentlich jeden einzelnen Zusammenprall der Wassermoleküle empfinden, erlebe auf psychischer Ebene aber doch einen Gesamtklang, nämlich die „Wellen am Meer“.41 Das Gedankenspiel nähert sich damit demselben Sachverhalt an, den Ehrenfels als „Gestaltqualität“ und Wertheimer als „Prägnanz“ bezeichnete.42
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2 G. W. Leibniz: Leib-Seele-Pentagon, Zeichnung, ca. 1663 (links); Leibniz‘ Leib-Seele-Pentagon mit Erläuterungen von Hubertus Busche (rechts).
Das Leib-Seele-Pentagon, mit dem Leibniz seine Philosophie visualisierte, sollte den Zusammenhang von Anschauung und Vorstellung und so auch die Entstehung der Wahrnehmung klären, wie Hubertus Busche argumentiert hat (aBB. 2). Leibniz brachte demnach quantitative und qualitative Änderungen sowohl der physischen als auch der inneren Welt ins Spiel, die eine empirische Beobachtung durchaus zulassen. Dieser besondere Zwischenraum wurde zuletzt im Rahmen der Verkörperungsphilosophie konzeptualisiert43 und dann insbesondere auf den coup d’œil bezogen.44 Er lässt sich aber eben auch neurowissenschaftlich untersuchen, selbst wenn die Philosophie Skepsis angemeldet hat.45 Ein Schaubild, das den philosophischen und den neurowissenschaftlichen Zugang zusammenführt, findet sich in aBB. 3. Die Schnittmengen bleiben unbestimmt. Es ergeben sich aber trotzdem überraschende Übereinstimmungen hinsichtlich der Entstehungsphase der Wahrnehmung. Die kulturwissenschaftliche Kontextualisierung muss als dritte Perspektive hinzukommen, um der Historizität, aber auch Subjektivität und Intentionalität des Sinneserlebnisses gerecht zu werden. Die affektiven Effekte, die der frühen Wahrnehmung in der Regel nur reflexartig zugeschrieben werden, erhalten damit ihr geschichtliches Profil. So stellt sich auch das Problem des freien Willens, das zunächst Benjamin Libet und dann auch Wolf Singer antrieb,46 neu.
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3 Diagrammatische Darstellung der Entstehungsphase der Wahrnehmung. Nach aktueller Forschungslage können Perzeption und Kognition nicht klar voneinander getrennt werden.
Zwischen Anschauung und Vorstellung: Die Verzerrung des Pentagons Ein weiterer wichtiger Hinweis lässt sich aus einer erläuterten Fassung des Leib-SeelePentagons herauslesen (Abb. 2). Bredekamp rekonstruierte anhand dieser Skizze die „Fenster der Monade“. Sie lässt aber auch eine neurowissenschaftliche Erweiterung des Leibniz’schen Wahrnehmungsmodells zu, die auf den mathematischen und physischen „Punkten“ beruht, wie es in der Illustration heißt. Unten rechts sitzen die Augen (r), die den Visus markieren, links die Ohren (n), die der auditiven Wahrnehmung angehören. Die „Geräusche“,47 die in den Intellekt hineinreichen, liegen dabei phasenverschoben zwischen den „Vorstellungen“ und „Anschauungen“. Wenn das Diagramm nicht statisch, sondern dynamisch gedacht ist, wird ersichtlich, dass eine Positionsveränderung des Hörerlebnisses auch das Sehen beeinflussen muss. Mit anderen Worten: Ohren und Augen sind sowohl räumlich als auch zeitlich aufeinander bezogen. Sehen ist immer auch hören. Eine Bewegung etwa geht stets mit einem Geräusch einher. Das Pentagon lässt sich also multimedial zerren, sodass visuelle und auditive Wahrnehmung mal mehr, mal weniger übereinander liegen. Solchen Wechselwirkungen im Zwischenraum von Vorstellung und Anschauung sind verschiedene Künstler experimentell nachgegangen, wie etwa Stephan von Huene in seiner Klangskulptur Text Tones oder Karlheinz Stockhausen in seinen Gruppen für 3 Orchester, die beide durch die Verkörperung des Klangs den Raum akustisch erfahrbar zu machen versuchten. Der dynamische Zwischenraum, der sich bei Leibniz andeutet, verzahnt das Sehen mit dem
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4 Verschmelzung von Sehen und Hören nach Leibniz‘ Leib-Seele-Pentagon.
Hören und erweitert den Sinnesapparat in den äußeren Raum. Bevor eine innere Vorstellung modelliert ist, lassen sich Sehen und Hören nicht voneinander trennen, sondern werden als verkörperte Totalität blitzartig erfahren. Eben dies hatte der coup d’œil zu fassen versucht, indem er das Sehen mit dem Schlag und Schuss assoziierte.48 Eine wissenschaftliche Aufarbeitung solcher Wahrnehmungserlebnisse steht zwar noch aus; im dynamisch erweiterten Leib-Seele-Pentagon (Abb. 4) sind sie aber schon philosophisch vorweggenommen. Die blitzartige Seh-Hör-Erfahrung müsste hier zwischen den Punkten „f “ und „e“ liegen, wo Auditives und Visuelles ineinander fließen.
Schluss: Die Spirale der Künste und Wissenschaften Nicht wenige Künstler, Musiker und Schriftsteller haben uns neue Wahrnehmungsweisen erschlossen. Die außergewöhnlichen Erfahrungen und Empfindungen, die sie hervorrufen, sind eben nur der Kunst eigen. Ebenso können auch naturwissenschaftliche Entdeckungen unsere Wahrnehmung erweitern. Die Scheinbewegung zum Beispiel, die wir auf intermittierende Einzelbilder projizieren, wurde erst 1832 zufällig von dem Physiologen Joseph Plateau entdeckt und bildete später die Grundlage für das Daumen
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kino, das Zoetrop und den Zeichentrickfilm, die das moderne Sehen maßgeblich geprägt haben. Erst in den 1980er-Jahren konnte neurowissenschaftlich nachgewiesen werden, dass die Scheinbewegung wie real wahrgenommene Bewegungen im V5/MT-Areal des visuellen Cortex verarbeitet wird. Wertheimer vermutete, dass sie als Hirnfunktion immer schon unbewusst aktiv war, ohne dass der Mensch darüber Rechenschaft ablegte. Es liegt nahe, dass viele weitere Wahrnehmungsmechanismen unbeobachtet am Werk sind. Nur durch die Zusammenführung von geisteswissenschaftlicher Analyse, naturwissenschaftlicher Beobachtung und gestaltender Kreativität können wir hoffen, diesen auf die Spur zu kommen. Das Forschungsprojekt von Masahiko Inami etwa untersucht, wie „Superhuman Sports“, die sich Augmented Reality-Technologien zunutze machen, die Wahrnehmungsweisen sowie Handlungsräume des Menschen erweitern und sich dabei sogar plastisch in die Hirnstruktur einschreiben könnten.49 Kühn hat ähnlich argumentiert, dass 3D-Computerspiele eine Hirnstrukturveränderung hervorrufen können, da sie die menschliche Physiologie erweitern und die räumliche Wahrnehmung fördern.50 Die Studienteilnehmer wurden dabei gebeten, über einen längeren Zeitraum zu spielen, während regelmäßig Änderungen innerhalb der Hirnaktivierung mittels fMRT aufgezeichnet wurden. Solche neueren Studien sind keine Sonderfälle. Der zeitgenössischen Musik wird häufig vorgeworfen, sich ihrem Publikum zu entfremden. Ihre Kompositionen seien zunehmend unhörbar. Tatsächlich scheinen sie aber doch nur den Hörgewohnheiten vorauszueilen. Es ist bekannt, dass die 3. Sinfonie von Ludwig van Beethoven bei ihrer Erstaufführung zu modern klang. Heute erleben wir sie als typisch klassisches Musikstück. Frei nach Rudolf Arnheim erklärte James Gibson, die Bilder von Paul Klee und Pablo Picasso würden in der Gegenwart noch als abstrakt gelten, für die Menschen der Zukunft aber „realistisch“ erscheinen.51 Ebenso lassen sich die Geschichte und der Gebrauch von Metaphern nicht allein aus der Rhetorik erklären, sondern gingen auch immer aus wandelbaren Lesegewohnheiten hervor. So haben Künstler durch ihr Schaffen neue Erfahrungen kreiert, die zunächst gänzlich neu und unnatürlich anmuteten, sich dann aber dauerhaft in die Wahrnehmung eingliederten. Insofern müssen sich Kunst-, Musik- sowie Literaturgeschichte und Kognitionswissenschaft aufeinander zubewegen. Kunstwerke dürfen demnach nicht einfach als Sammelstücke in Archive oder Museen eingeschlossen werden, wie auch Barbara M. Stafford forderte.52 Sie müssen vielmehr immer wieder in die Sphäre der lebendigen Wahrnehmung gezogen werden, um so zu einem umfassenderen Verständnis der Perzeption und Kognition beizutragen. Hierin liegt die Chance der Bilder: Sie sind gleichermaßen Manifestationen des Sehens und kulturelle Denkformen.
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1 Ich danke Felix Jäger, Nico Imhof, Christine Knoop, Sanja Methner und Karl Clausberg für ihre kritischen Kommentare und die Unterstützung. Ebenso bedanke ich mich bei Frank Fehrenbach, David Poeppel, Winfried Menninghaus und Horst Bredekamp für ihre Hinweise. 2 Alexander von Humboldt: Ansichten der Natur, mit wissenschaftlichen Erläuterungen, Bd. 2, Stuttgart 1849. 3 Gustav Theodor Fechner: Zur experimentalen Ästhetik, Leipzig 1871; Rudolf Arnheim: Art and Visual Perception. A Psychology of the Creative Eye, Berkeley/Los Angeles 1954; Ernst H. Gombrich: Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Berlin (2. Aufl.) 2004 (englische Erstausgabe 1960); ders.: The Sense of Order. A study in the psychology of decorative art, Oxford 1979. 4 Jon O. Lauring (Hg.): An Introduction to Neuroaesthetics, Kopenhagen 2014; Semir Zeki: Inner Vision. An Exploration of Art and the Brain, Oxford 1999. 5 Barbara M. Stafford: Neuronale Ästhetik. Auf dem Weg zu einer kognitiven Bildgeschichte. In: Christa Maar, Hubert Burda (Hg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 103–125; Olaf Breidbach: Einleitung. Neuronale Ästhetik – Skizze eines Programms. In: Olaf Breidbach (Hg.): Natur der Ästhetik – Ästhetik der Natur, Wien/New York 1997, S. 1–18; ders.: Neuronale Ästhetik, München 2013. 6 Karl Clausberg: Neuronale Kunstgeschichte. Selbstdarstellung als Gestaltungsprinzip, Wien/New York 1997; ders.: Neuronale Bildwissenschaften. In: Hans Belting u. a. (Hg.): Kunstgeschichte. Eine Einführung, Berlin (7. Aufl.) 2008, S. 337–362; Karl Clausberg: Neuronale Kunst- und Bildwissenschaften. In: Ulrich Pfisterer (Hg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, Stuttgart 2011, S. 306–308. 7 David Freedberg: The power of images. Studies in the history and theory of response, Chicago 1989; D. Freedberg, V. Gallese: Motion, emotion and empathy in esthetic experience. In: Trends in cognitive sciences, 2007, 11 (5), S. 197–203. 8 Clausberg: Neuronale Kunstgeschichte (s. Anm. 6). 9 Paulgerd Jesberg: Vom Bauen zwischen Gesetz und Freiheit, Braunschweig 1987, S. 168. 10 Max Wertheimer: Productive Thinking, New York/London 1945, Kap. 7. 11 Dies war durchaus keine überzogene Interpretation. Im Vorwort zu Wertheimers „Zur Gestaltpsychologie menschlicher Werte“ beurteilte Albert Einstein dessen Wissenschaftsauffassung äußerst positiv; Max Wertheimer: Zur Gestaltpsychologie menschlicher Werte, Opladen 1991, S. 7–10. 12 Clausberg: Neuronale Bildwissenschaften (s. Anm. 6), hier S. 338. 13 Schon in seiner ersten Abhandlung zur Gestaltpsychologie von 1912 besprach Wertheimer nicht nur seine psycho logischen Studien, sondern auch das Potenzial der Gestalttheorie. Die erste englische Übersetzung des Texts von 1961 übernahm aber nur die experimentellen Ergebnisse, ohne ihren gestalttheoretischen Rahmen. Erst 2012 wurde die Abhandlung vollständig neu übersetzt; Max Wertheimer: Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung. In: Zeitschrift für Psychologie, 1912, Bd. 61, S. 161–265; ders.: Experimental Studies on the Seeing of Motion. In: Thorne Shipley (Hg.): Classics in Psychology, New York 1961, S. 1032–1089; ders.: Experimental Studies on Seeing Motion. In: Lothar Spillmann (Hg.): On perceived motion and figural organization, Cambridge, MA 2012, S. 1–91. 14 W. Menninghaus, I. C. Bohrn, C. A. Knoop, S. A. Kotz, W. Schlotz, A. M. Jacobs: Rhetorical features facilitate prosodic processing while handicapping ease of semantic comprehension. In: Cognition, 2015, 143, S. 48–60. 15 Gombrich: Kunst und Illusion (s. Anm. 3), S. 21f.; Rudolf Arnheim: Bijutu to Shikaku (Jou). Bi to Souzou no Shinrigaku [Art and Visual Perception. A Psychology of the Creative Eye], Tokio (japanische Ausgabe) 1963, S. 275f. 16 Aby Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne. Gesammelte Schriften, hg. v. Martin Warnke, Bd. II 1.2, Berlin (4. Aufl.) 2012, S. 3–6. 17 W. Menninghaus, V. Wagner, V. Kegel, C. A. Knoop, W. Schlotz: Beauty, elegance, grace, and sexiness compared. In: PLOS One, 2019, 14 (6), e0218728; W. Menninghaus, V. Wagner, C. A. Knoop, M. Scharinger: Poetic speech melody: A crucial link between music and language. In: PLOS One, 2018, 13 (11), e0205980; W. Menninghaus, V. Wagner, J. Hanich, E. Wassiliwizky, T. Jacobsen, S. Koelsch: Negative emotions in art reception. Refining theoretical assumptions and adding variables to the Distancing-Embracing model. In: Behavioral and Brain Sciences, 2017, 40, e380. 18 Sakamoto versuchte anhand von David Marrs Theorie des Sehens (2.5D-Sketch) und Max Benses informationstheoretischer Ästhetik ein Kunstwahrnehmungsmodell zu entwerfen, das insbesondere die Rezeption von Computerkunst in den Blick nimmt; Yasuhiro Sakamoto: Mehrdeutigkeiten der Computerkunst – Computer können doch in den Himmel kommen! In: Jürgen Sieck (Hg.): Kultur und Informatik. Multimediale Systeme, Boizenburg 2011, S. 163–175; Max Bense: Einführung in die informationstheoretische Ästhetik. Grundlegung und Anwendung in der Texttheorie, Hamburg 1969, S. 62–70; David Marr: Vision. A computational investigation into the human representation and processing of visual information, Cambridge, MA 1982, S. 19–30 u. 268–294.
Was sind Neuronale Geisteswissenschaften?
19 S. Zeki, M. Lamb: The neurology of kinetic art. In: Brain, 1994, 117 (3), S. 607–636. 20 F. Vidal: Neuroaesthetics. Getting rid of art and beauty. In: BioSocieties, 2012, 7 (2), S. 209–213. 21 Mehr zur Problematik des Lokalisationtheorems s. David Poeppel: The Cartographic Imperative. Confusing Local ization and Explanation in Human Brain Mapping. In: Matthias Bruhn, Horst Bredekamp, Gabriele Werner (Hg.): Bildwelten des Wissens, Bd. 6.1 (Ikonografie des Gehirns), 2008, S. 19–29; Breidbach (s. Anm. 5, 2013), S. 269–273. 22 S. Kühn, J. Gallinat: The neural correlates of subjective pleasantness. In: Neuroimage, 2012, 61 (1), S. 289–294. 23 Vgl. Anm. 5. 24 Dieses Konzept erweiterte Stafford: Barbara M. Stafford: Echo objects. The Cognitive Work of Images, Chicago 2007. 25 Breidbach (s. Anm. 5, 1997), S. 2; Horst Bredekamp: Politische Theorien des Cyberspace. In: Hans Belting, Siegfried Gohr (Hg.): Die Frage nach dem Kunstwerk unter den heutigen Bildern, Stuttgart 1996, S. 31–49, hier S. 45. 26 P. Fries: Rhythms for cognition. Communication through coherence. In: Neuron, 2015, 88 (1), S. 220–235. 27 E. A. Vessel, G. G. Starr, N. Rubin: Art reaches within. Aesthetic experience, the self and the default mode network. In: Frontiers in Neuroscience, 2013, 7, S. 258. 28 A. M. Belfi, E. A. Vessel, A. Brielmann, A. I. Isik, A. Chatterjee, H. Leder, D. G. Pelli, G. G. Starr: Dynamics of aesthetic experience are reflected in the default-mode network. In: NeuroImage, 2019, 188, S. 584–597. 29 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Teil 3 (Phänomenologie der Erkenntnis), Berlin 1929; John Michael Krois: Für Bilder braucht man keine Augen. In: John Michael Krois, Norbert Meuter (Hg.): Kulturelle Existenz und symbolische Form. Philosophische Essays zu Kultur und Medien, Berlin 2006, S. 167–190. 30 Zur „embodied cognition“ sind verschiedene konstruktive Kritiken von Bradford Mahon vorgetragen worden: B. Z. Mahon, A. Caramazza: A critical look at the embodied cognition hypothesis and a new proposal for grounding conceptual content. In: Journal of Physiology-Paris, 2008, 102 (1–3), S. 59–70; B. Z. Mahon: Action recognition. Is it a motor process? In: Current Biology, 2008, 18 (22), R1068–R1069; B. Z. Mahon: What is embodied about cognition? In: Language, cognition and neuroscience, 2015, 30 (4), S. 420–429. 31 Mahon, Caramazza (s. Anm. 30), S. 60. 32 M. A. Umilta, C. Berchio, M. Sestito, D. Freedberg, V. Gallese: Abstract art and cortical motor activation. An EEG study. In: Frontiers in Human Neuroscience, 2012, 6, S. 311; F. Battaglia, S. H. Lisanby, D. Freedberg: Corticomotor excitability during observation and imagination of a work of art. In: Frontiers in Human Neuroscience, 2012, 5, S. 79. 33 Robert Solso: Cognition and the visual Arts, Cambridge, MA 1997, S. 44; H. Leder, B. Belke, A. Oeberst, D. Augustin: A model of aesthetic appreciation and aesthetic judgments. In: British Journal of Psychology, 2004, 95 (4), S. 489–508, besonders S. 492; M. Pelowski, P. S. Markey, M. Forster, G. Gerger, H. Leder: Move me, astonish me … delight my eyes and brain. The Vienna integrated model of top-down and bottom-up processes in art perception (VIMAP) and corresponding affective, evaluative, and neurophysiological correlates. In: Physics of Life Reviews, 2017, 21, S. 80–125, besonders S. 87. 34 Marr (s. Anm. 18), S. 26–31. 35 Mehr zu Marrs drei Ebenen in Marr (s. Anm. 18), S. 26–31. 36 Weiterführend zum „hypothetico-deductive model“, siehe: Peter Godfrey-Smith: Theory and Reality. An Introduction to the Philosophy of Science, Chicago 2003, S. 236. 37 Wertheimer: Experimentelle Studien (s. Anm. 13), S. 246–253. David Marr analysierte die konzeptionellen Stärken und Schwächen von Wertheimers Gestalttheorie, vgl. Marr (s. Anm. 18), S. 182–214. 38 Arnheim: Art and Visual Perception (s. Anm. 3); Rudolf Arnheim: New Essays on the Psychology of Art, Berkeley 1986. 39 Vgl. Leder et al. (s. Anm. 33), S. 492. 4 0 Vgl. Tanehisa Otabe: Der Begriff der „petites perceptions“ von Leibniz als Grundlage für die Entstehung der Ästhetik. In: JTLA (Journal of the Faculty of Letters, the University of Tokyo, Aesthetics), 2010, Bd. 35, S. 41–53. 41 Gottfried Wilhelm Leibniz: Die philosophischen Schriften, hg. v. Carl Immanuel Gerhardt, Bd. V, Berlin 1882, S. 41 (Vorwort). 42 Hieran werden Ehrenfels 1890, Wertheimer 1923, Marr 1982 und Merleau-Ponty 1945 aus neurophysiologischer bzw. phänomenologischer Perspektive kritisch anschließen. Christian von Ehrenfels: Über Gestaltqualitäten. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Jg. 14, 1980, Heft 3, S. 249–292; Max Wertheimer: Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt II. In: Psychologische Forschung, Jg. 4, 1923, S. 301–350; Marr (s. Anm. 18); Maurice Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception, Paris 1945, S. 281–344. 43 Vgl. Anm. 29.
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Yasuhiro Sakamoto
4 4 Wolfram Hogrebe: Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, Berlin 2009; Horst Bredekamp: Die Erkenntniskraft der Plötzlichkeit. Hogrebes Szenenblick und die Tradition des Coup d‘Oeil. In: Joachim Bromand, Guido Kreis (Hg.): Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, Berlin 2010, S. 455–468. 45 Lambert Wiesing: Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens, Berlin 2013. 4 6 B. Libet, C. A. Gleason, E. W. Wright, D. K. Pearl: Time of conscious intention to act in relation to onset of cerebral activity (readiness-potential). The unconscious initiation of a freely voluntary act. In: Brain, 1983, 106 (3), S. 623–642; Wolf Singer: Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung. Zwei konfliktreiche Erkenntnisquellen. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 2004, 52 (2), S. 235–255. 47 Entscheidend ist dabei, dass Leibniz nicht Klänge oder reine Töne meint, sondern Geräusche. Diese gehen sound-ikonisch unmittelbar aus einem beweglichen Phänomen hervor und deuten beim Hören die Vorstellung einer Handlung an. 4 8 Bredekamp (s. Anm. 44). Im letzten Kapitel seines Aufsatzes verfolgt Bredekamp den coup d‘œil in die Militärtheorie. Hier wird angenommen, dass Krach noch schneller als das Sehen auf dem Schlachtfeld eine visuelle Landkarte in der Vorstellung entstehen lässt. 4 9 Vgl. den Text von Ando u. Inami in diesem Band. 50 S. Kühn, T. Gleich, R. C. Lorenz, U. Lindenberger, J. Gallinat: Playing Super Mario induces structural brain plasticity. Gray matter changes resulting from training with a commercial video game. In: Molecular psychiatry, 2014, 19 (2), S. 265. 51 J. J. Gibson: The Information Available in Pictures. In: Leonardo, 1971, 4, S. 27–35. 52 Barbara M. Stafford: Visual Analogy. Consciousness as the Art of Connecting, Cambridge, MA 1999, S. 180–184.
Winfried Menninghaus
Empirische Ästhetik der Sprache und Literatur Was kann sie besser als die herkömmliche Literaturwissenschaft – und was nicht? Über einige Jahrzehnte habe ich eine Literaturwissenschaft betrieben, die historisch-philologische close readings mit einem starken Rekurs auf Konzepte der Rhetorik und Poetik einerseits, auf Theorien der philosophischen Ästhetik andererseits verbindet. In den zurückliegenden acht Jahren habe ich – zuerst im Kontext des Berliner Clusters „Languages of Emotion“ und seit 2014 als einer der Gründungsdirektoren des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main – das Spektrum meiner Arbeiten um den Rekurs auf Methoden und Theorien der Psychologie sowie der Linguistik/Psycholinguistik erweitert. Empirische Ästhetik der Sprache und Literatur, wie ich sie verstehe, integriert idealiter alle genannten Traditionen: historisch-philologische Gelehrsamkeit, Poetik, Rhetorik und philosophische Ästhetik, und die modernen Wissenschaften Psychologie und Linguistik. Bei den meisten Wissenschaftlern, die sich heute als empirische Literaturwissenschaftler bezeichnen, fehlen in der Regel drei dieser Ingredienzen: das Fundament der antiken Poetik und Rhetorik, die philosophische Ästhetik und meist auch eine Vertrautheit mit Methoden des close reading und historisch-philologischer Forschung. Kaum einer dieser Forscher hat jemals eine Monografie zu einem literarischen Autor oder eine interessante Studie zu einem einzelnen Werk der Literatur geschrieben. Es kann deshalb nicht verwundern, dass die empirische und die nicht-empirische Literaturforschung weitestgehend separate Welten sind. Auf den folgenden Seiten werde ich darlegen, welche Chancen ich in einer empirischen Ästhetik der Sprache und Literatur sehe. Was kann diese, was die Literaturwissenschaften klassischen Typs nicht oder nur weniger gut können? Was ist zu gewinnen, wenn man nicht nur Methoden der Psychologie, Linguistik und Neurowissenschaften für Desiderate der Literaturforschung heranzieht, sondern auch theoretische Funde und Modelle aus diesen Bereichen? Die Antworten, die ich geben werde, sind keine Programm-Prosa auf die Chancen interdisziplinärer Forschung, sondern allesamt konkrete Beispiele aus meinen Arbeiten der letzten Jahre. Vorab möchte ich eins betonen: Die Disziplinen bleiben die Basis einer interdisziplinären und empirischen Literaturwissenschaft. Nur das Studium der Literatur ist darauf spezialisiert, eine zugleich möglichst breite und möglichst subtile, hochauflösende Kenntnis der Literatur zu erwerben. Dieses Ziel ist und bleibt die raison
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d’être der Literaturwissenschaft. Und nicht empirische Forschung, sondern eben das Studium der Literatur selbst befördert dieses Ziel. Empirische Literaturwissenschaft ist deshalb keineswegs eine Alternative zu einem herkömmlichen historischen Studium der Literatur selbst. Sie macht dieses Studium weder überflüssig noch kann sie es ersetzen. Mehr noch: Ich sehe wenig Sinn darin, das Studium der Literaturwissenschaften künftig generell um einzelne Module zu empirischer Forschung zu erweitern. Empirische Literaturforschung scheint mir letztlich nur interessant und machbar für Wissenschaftler, die auch eine profunde Kompetenz in Psychologie bzw. Psycholinguistik erwerben. Im Folgenden skizziere ich zunächst die gespannten Beziehungen zwischen der heutigen Literaturwissenschaft und den Traditionen von Poetik, Rhetorik und Ästhetik. Danach benenne ich die Grenzen und Defizite der nicht-empirischen Literaturwissenschaft, die mich dazu bewogen haben, die Kooperation mit den empirischen Wissenschaften zu suchen. Und abschließend skizziere ich an fünf Beispielen, welchen Mehrwert der Rekurs auf Methoden und Theorien der empirischen Wissenschaften für eine Ästhetik der Sprache und Literatur haben kann.
Die gespannten Beziehungen der Literaturwissenschaft zu Poetik, Rhetorik und Ästhetik Literaturwissenschaft, wie ich sie verstehe, erforscht alle Formen der Literatur als je besondere Formen künstlerischen Sprachgebrauchs und kreativen Denkens und Darstellens. Diese Definition mag beinahe tautologisch scheinen – und doch gilt sie nur für einen kleinen Teil der tatsächlich praktizierten Literaturwissenschaft. Würde die Definition generell gelten, dann müssten Poetik, Rhetorik, Ästhetik und das heutige Verstehen von Sprache überhaupt die Fundamente der Literaturwissenschaft sein: die antike Rhetorik und Poetik (einschließlich ihres Weiterlebens bis ins 18. Jahrhundert) als Wissenschaften vom kunstvollen Machen von Reden, Tragödien, Komödien, Epen und philosophischen Abhandlungen und von deren Wirkungen auf Hörer und Leser; die moderne Ästhetik als Theorie des subjektiven Erlebens und Bewertens sowohl künstlerischer Hervorbringungen als auch natürlicher Phänomene; und die moderne Linguistik und Psycholinguistik als der aktuelle Stand des Wissens von der Sprache und ihrer Prozessierung überhaupt. Tatsächlich verhält es sich anders. So wie die modernen Literaturwissenschaften im 19. Jahrhundert als akademische Fächer entstanden sind, gehört die schon im 18. Jahrhundert erfolgte weitgehende Abwendung von Rhetorik und Poetik zu ihrer Gründungsgeschichte. Die Ästhetik spielt sogar eine noch weit geringere Rolle in der
Empirische Ästhetik der Sprache und Literatur
Literaturwissenschaft als Rhetorik und Poetik. Und leider ist auch eine linguistisch fundierte Poetik nicht über kurze Flirts mit formalistischen und strukturalistischen Theoremen und Methoden in den 1960er- und 1970er-Jahren hinausgekommen. Diese Diagnose verlangt einige Erläuterungen, um meinem Verständnis einer Poetik-, Rhetorik-, Ästhetik- und auch Linguistik-affinen Literaturwissenschaft und der interdisziplinären Integration empirischer Forschungsmethoden in dieses Vorhaben einen historischen Horizont zu geben. Zunächst: Der massive Ansehensverlust von Rhetorik und Poetik im 18. Jahrhundert ist gut dokumentiert und allgemein bekannt.1 Beide verfielen der Kritik, mit dem modernen Wissenschaftsbegriff unvereinbar zu sein und nur Techniken der Manipulation zu liefern. Der moderne Geniekult trug gleichfalls zur Geringschätzung der Rhetorik bei, da „Genie“ als nicht durch rhetorische Übungen lernbar gedacht wird. Das große und hochdifferenzierte analytische Potenzial der Rhetoriken und Poetiken fiel in diesem Kontext im Kurs. Trotz gelegentlicher Versuche einer Reaktualisierung hat sich daran mit Rücksicht auf die Literaturwissenschaften als ganze bis heute nur wenig geändert. Expertise für die künstlerische Bearbeitung von Sprache und für die Konzeptualisierung „poetischer“ Sprachmerkmale steht nicht mehr hoch im Kurs, obwohl sie strenggenommen die Kernexpertise der Literaturwissenschaft ist, ihr einziges klares „Alleinstellungsmerkmal.“ In der Ausbildung wird darauf meist nicht der gebührende Wert gelegt, und viele Literaturwissenschaftler treten lieber als Experten für alle möglichen Wissensgebiete als für die Besonderheiten literarischer Sprache auf. Die Grenzen der Literaturwissenschaft zum selbsterklärten Expertentum für alles Mögliche – und damit zu einem fröhlichen Dilettieren in beinah beliebige Richtungen – sind nicht zuletzt deshalb unerhört fließend geworden. Die Bruchlinien zwischen Literaturwissenschaft und Ästhetik verlaufen durchaus anders als diejenigen zwischen der Literaturwissenschaft und der Tradition von Rhetorik und Poetik. Für Kant war die Ästhetik – sofern sie nichts mit den „Maschinen der Überredung“ zu tun hat2 – eine ‚gute‘ moderne Alternative zur ‚bösen‘ alten Rhetorik. Insofern hätte die Ästhetik für eine anti-rhetorische Literaturwissenschaft ein idealer Verbündeter sein können. Doch diese Chance wurde von Seiten der Ästhetik selbst vereitelt. Denn es war eben die Ästhetik, welche die alte Vorrangstellung der Literatur unter den Künsten beendete. Anders als die meisten wirkungsmächtigen Poetiken und Rhetoriken zielte die Ästhetik auf domänenübergreifende Prinzipien ästhetischer Wahrnehmung und Bewertung. Mehr noch: Sie war keineswegs nur eine Theorie der Künste, sondern schloss das Naturschöne ebenso ein wie Phänomene von Mode und Design. Dieser Fokus auf eine allgemeine Theorie subjektiv wertender („urteilender“) ästhe tischer Wahrnehmung hatte eine Kehrseite: Er ging mit einer relativen Verarmung
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domänenspezifischer Feindifferenzierungen einher. Philosophische Theorien dessen, was Kunstwerke überhaupt „lebendig“, „schön“, „erhaben“ usw. macht, sind bei mikrologischen Analysen konkreter sprachlicher Sätze bzw. Texte oft weniger hilfreich als das elaborierte deskriptive System der älteren Rhetorik. Mehr noch: In den weitaus meisten ästhetischen Abhandlungen ist die Literatur nicht nur eine unter vielen Künsten, sie tritt vielmehr klar hinter die Dominanz des Visuellen und später auch der Musik zurück. Kants Kritik der Urtheilskraft (1790) ist das beste Beispiel: Literatur kommt darin, anders als noch bei Baumgarten (1735)3 und Edmund Burke (1757),4 fast gar nicht vor. Ausnahmen von dieser Regel waren entweder lange Zeit nicht veröffentlicht (wie Hegels Vorlesungen über die Ästhetik)5 oder hatten innerhalb der universitären Fachtradition der Philosophie eher eine Außenseiter-Rolle (wie Karl Rosenkranz’ Ästhetik des Häßlichen6 und Nietzsches Geburt der Tragödie).7 Es kann deshalb kaum verwundern, dass die Ästhetik allgemein nicht als eine oder gar die Grundlage der Literaturwissenschaften angesehen, unterrichtet und praktisch benutzt wird. Trotzdem – so zumindest meine Überzeugung – gibt es gute Gründe, die Ästhetik durchaus als eines der Fundamente der Literaturwissenschaft anzusehen: 1. Die Ästhetik bietet differenziertere Perspektiven auf die subjektive Wahrnehmung und Bewertung als die zumeist recht improvisierten Wirkungshypothesen, die über die Traktate der Rhetorik und Poetik verstreut sind. In dem Maß, in dem die modernen Literaturwissenschaften in aller Regel nicht mehr das Machen von Reden oder literarischen Werken unterrichten, sondern allein deren kunstvolles Gemachtsein und dessen Wirkungen untersuchen, ist die Ästhetik als Theorie der subjektiven Wahrnehmung und Bewertung selbst dann von großer Bedeutung, wenn sie nur wenig Konkretes über Literatur sagt. 2. Die Literaturkritik des späteren 18. Jahrhunderts, die parallel zur Ausbreitung der Ästhetik als eigener philosophischer Disziplin einen rasanten medialen Boom erlebte, ist ein gutes Beispiel für eine streitbare, ästhetisch subtile, historisch wache und zugleich rhetorisch informierte Praxis der öffentlichen Aushandlung von „Geschmacksurteilen“ zu einzelnen Autoren und zu ästhetischen Tendenzen der Zeit. Es gehört zu den Besonderheiten dieser Literaturkritik, dass sie nicht nur Tuchfühlung mit der ästhetischen Theorie hielt, sondern auch eigene Beiträge dazu leistete, ohne zugleich mit dem Wissen und den analytischen Kategorien der Poetiken und Rhetoriken zu brechen. Friedrich Schlegels Schrift Über das Studium der griechischen Poesie (1795–1797) ist dafür ein vorzügliches Beispiel. Indem sie die griechischen Tragiker mit Shakespeare und Goethe vergleicht, führt sie zugleich – im Anschluss an Diderot,8 aber mit neuem programmatischem Gewicht – eine Kategorie in die Ästhetik ein, die weder eine Unterart des Schönen noch des Erhabenen sein soll: das „Interessante“. Der Romantik-Kenner
Empirische Ästhetik der Sprache und Literatur
Walter Benjamin hat mit seiner Theorie der barocken Allegorie (Ursprung des deutschen Trauerspiels, 1925) in der Linie von Nietzsches Geburt der Tragödie (1870–1873) ein weiteres herausragendes Beispiel dafür geliefert, wie fruchtbar das Zusammendenken rhetorischer Desiderate mit einer historisch-ästhetischen Perspektive sein kann. Über die Theoriegebäude von Rhetorik und Ästhetik hinaus hat Walter Benjamin als einer der ersten Literaturwissenschaftler relativ breit zeitgenössische Studien (darunter auch empirisch verfahrende) der Linguistik und der (Entwicklungs-)Psychologie studiert und rezensiert.9 Mehr noch: Er hat darin auch nach zusätzlichen Anregungen und Perspektiven für seine größeren und kleineren Studien zur Literatur gesucht. Da Benjamins Werk mich in der Zeit meines Studiums und auch danach mehr als jedes andere fasziniert hat, liegt die Vermutung nahe, dass mein fortgesetztes Interesse an einer literaturwissenschaftlichen Arbeit, welche die analytischen Mittel und die Wirkungshypothesen von Rhetorik und Poetik um Desiderate der aktuellen Linguistik und Psychologie erweitert und auf Fragen ästhetischer Wahrnehmung und Bewertung bezieht, nicht zuletzt durch mein fortgesetztes Studium Benjamins motiviert wurde. Ich möchte aber betonen: Dies ist eine nachträgliche autobiografische Erzählung, evtl. nur eine von mehreren möglichen; an bewusste Weichenstellungen dieser Art kann ich mich nicht erinnern. Meine kleine Skizze der höchst gebrochenen Beziehungen der Literaturwissenschaften zu Rhetorik, Poetik, Ästhetik und moderner Linguistik besagt allerdings noch nichts zu der Frage, was empirische Forschungsparadigmen in der Erforschung der Literatur leisten können und was nicht. Die bisher genannten Beispiele für eine Rhetorik-, Poetik-, Ästhetik- und auch Linguistik-affine Literaturwissenschaft sind allesamt keine empirischen Studien. Wo liegen die Defizite bisheriger Studien? Und was kann empirische Forschung besser als nicht-empirische?
Grenzen und Defizite der nicht-empirischen Literaturwissenschaft Ein erstes elementares Defizit traditioneller literaturwissenschaftlicher Studien ist das vollständige Unwissen darüber, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die immer neuen werkanalytischen Beschreibungen, die Literaturwissenschaftler veröffentlichen, überhaupt etwas erfassen, was in Rezeptionsprozessen ‚normaler‘, d. h. nicht-professioneller Leser relevant ist, und welche kognitiven und affektiven Prozesse das Lesen bestimmter Textmuster auf Seiten der Leser steuern. Der weitaus größte Teil literaturwissenschaftlicher Studien interessiert sich für diese naheliegenden Fragen überhaupt nicht.
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Literaturwissenschaftler streben für ihre eigene Arbeit primär nach etwas, was sie von ihren Objekten erwarten: So wie jedes Kunstwerk anders sein will als alle Vorläufer und irgendeinen neuen Reiz darbieten möchte, so will auch ein Literaturwissenschaftler vor allem etwas an den Werken entdecken, das die professionellen Leser vor ihm so noch nicht gesehen oder konzeptualisiert haben – ganz unabhängig davon, ob irgendein anderer Leser dieses neue Etwas ebenfalls sieht oder gar ähnlich deutet. Die indefinite, nie abschließbare und immer neue Lesbarkeit/Sehbarkeit/Hörbarkeit von Kunstwerken – die zuerst Kant als Grundmerkmal ästhetischer Wahrnehmung und Beurteilung definiert hat10 – gehört gewiss zu Recht zu den Grundannahmen aller Künste-bezogenen Disziplinen. Theoretisch reflektiert wird diese in der Regel inexplizite Grundannahme aber kaum, schon gar nicht mit Rücksicht darauf, welche Chancen und welche Risiken und Grenzen sich daraus für die Erforschung der Literatur ergeben. Ist jede neue Beobachtung eines Literaturwissenschaftlers schon deshalb relevant für künftige oder auch vergangene Leseprozesse, weil noch kein anderer vor ihm sie genau so gemacht hat? Und wie verhält sich überhaupt der veröffentlichte Experten-Diskurs zu den ästhetischen Wahrnehmungen und Bewertungen der Leser, die diesen Diskurs weder beachten noch gar an ihm teilnehmen und typischerweise die Mehrheit der tatsächlichen Leser literarischer Werke ausmachen? Die traditionelle Literaturwissenschaft kann aus eigener Kraft keine dieser Fragen beantworten. Ihre Expertise leistet im besten Fall eine subtile Beschreibung des literarischen Objekts und skizziert hypothetische Optionen von Interpretation und ästhetischer Wertung. Darüber hinaus ist allein diejenige historische Varianz von Lektüren, die selbst verschriftlicht worden sind und also meist von Experten stammen, einer klassischen philologischen Bearbeitung zugänglich. Die Grenzen dieser Art von „Rezeptionsästhetik“ sind sehr eng: Die Zahl von Aussagen zu den gleichen Aspekten von Werken ist in aller Regel nicht nur bescheiden, die Verbalisierung unterliegt auch ihrerseits kulturell sich wandelnden Terminologien. Überdies können Aussagen zu je anderen Dimensionen eines und desselben Werkes schwer miteinander verglichen werden. Vor allem aber gilt sowohl für philologische Werk-Lektüren wie für philologische Rezeptionsästhetik: Es liegt jenseits ihrer Möglichkeiten – und in aller Regel auch jenseits ihres Erkenntnisinteresses – zu untersuchen, was tatsächlich beim Lesen passiert, welche Wirkungen Lektüren tatsächlich bei Lesern hinterlassen, in welchem Umfang diese von persönlichen, kulturellen und historischen Variablen abhängen und welche psychologischen Wirkungsmechanismen diese Prozesse und ihre Wirkungen erklären können. Ein anderes strukturelles Defizit der herkömmlichen Literaturwissenschaft ist: Sie hat weitgehend jeden Kontakt verloren zu dem, was heute andere Disziplinen über die Sprache, über das Lesen und über die psychologischen Prozesse ästhetischer Wahrnehmung und
Empirische Ästhetik der Sprache und Literatur
Bewertung bereits wissen und aktuell erforschen. Die klassische Rhetorik und Poetik war noch alles in einem: das zeitgenössisch relevante Wissen über die ‚normale‘ Sprache, eine Psychologie der Emotionen und ihrer Beeinflussung durch kunstvolle Behandlung der Sprache und eine Theorie der Effekte sprachlicher Psychagogie in der öffentlichen Rede, der Gerichtsrede und in den Gattungen der Literatur. Die Ästhetik des 18. Jahrhunderts war ebenfalls noch von einer transdisziplinären Natur; sie schloss wie selbstverständlich auch biologische und psychologische Desiderate ein.11 Dieses transdisziplinäre Theoriedesign ist mit der Ausdifferenzierung der akademischen Disziplinen im 19. Jahrhundert weitgehend zerbrochen. Weder die philosophische Ästhetik noch die Literaturwissenschaften haben noch die transdisziplinäre Breite der klassischen Rhetorik und Poetik bzw. der philosophischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Diese Breite ist auch nicht mehr durch individuelle Anstrengungen zurückzugewinnen; dazu ist die Spezialisierung der Disziplinen zu weit fortgeschritten und das Corpus der zu beherrschenden Theorien und Methoden einfach zu groß. Die einzige Option ist die Zusammenarbeit der Literaturwissenschaften mit den sachlich affinen Disziplinen: allen voran mit der Linguistik und Psycholinguistik, der Psychologie als der Basisdisziplin sowohl der empirischen Ästhetik als auch der Erforschung menschlicher Kognition und Emotionen und mit den Neurowissenschaften, die ein vertieftes Verstehen der Online-Prozesse des Lesens, Fühlens und ästhetischen Wahrnehmens und Wertens erlauben. (Da alle Studien, von denen ich im Folgenden berichte, aus einer solchen interdisziplinären Zusammenarbeit hervorgegangen sind, spreche ich durchweg von einem „wir“ der Autorschaft.) Entscheidend ist, dass diese Zusammenarbeit nicht etwa nur neue Methoden für alte literaturwissenschaftliche Fragen erschließt. Sie erschließt vielmehr auch eine ganze Welt neuer, in den Sciences entwickelter Theorien über die Sprache, das Lesen, die kognitive Herausforderung und die emotionale Affizierung durch Kunstwerke. Nichts ist falscher als der Glaube der Skeptiker, empirische Literaturwissenschaft unterscheide sich von der traditionellen nur durch geistloses Messen, durch das aufwendige Bestätigen von Zusammenhängen, die man ohnehin schon kennt. Nein, interessant und vielversprechend wird die interdisziplinäre Zusammenarbeit erst und nur, wenn in konkreten Projekten nicht nur die Methoden, sondern auch die jeweiligen Theoriegebäude der Disziplinen in die oft langwierige Aushandlung der Hypothesen und des Designs eingehen. Dann und nur dann bestehen Chancen, durch interdisziplinäre Anstrengung das transdisziplinäre Denken der klassischen Rhetoriken, Poetiken und Ästhetiken zu den Bedingungen der heutigen Zeit zurückzugewinnen.
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Fünf Beispiele für den „Mehrwert“ einer interdisziplinären und empirischen Ästhetik der Sprache und Literatur 1. Wird ästhetische Wahrnehmung von Sprache nur bei bestimmten Sprachverwendungen aktiviert (z. B. beim Lesen von Literatur)? Oder ist sie grundsätzlich immer ein integraler Bestandteil der Sprachprozessierung?
Roman Jakobsons Theorie der „poetischen Funktion“ der Sprache behauptet: Die poetische Behandlung der Sprache ist keineswegs auf Literatur und rhetorische Reden beschränkt, sondern in unterschiedlichen Graden eine universelle Option bzw. Dimension allen Sprechens.12 Im Gegensatz dazu kennen die Sprachmodelle der modernen Linguistik keine ästhetische Dimension der Sprachprozessierung, und auch die laienhafte Meinung ist eher, dass Sprachästhetik letztlich koextensiv mit Literaturästhetik ist. Kann die These einer stets mitlaufenden ästhetischen Sprachwahrnehmung überhaupt wissenschaftlich untersucht werden? Wie kann man zeigen, dass ästhetische Sprachwahrnehmung nicht erst nach Aktivierung einer besonderen ästhetischen „Einstellung“ operativ wird? Offensichtlich ist wenig damit gewonnen, wenn man einfach sich selbst oder Studienteilnehmer fragt, ob sie diese These aus ihrer Erfahrung heraus intuitiv für richtig halten oder nicht. Nur empirische Methoden, die über subjektive Reflexion und Selbstauskünfte hinausgehen, können hier eine Antwort geben. Eine kleine Forschungsgruppe des von mir initiierten Berliner Clusters „Languages of Emotion“ entwickelte ein Untersuchungsdesign,13 das uns erlaubte, das Vorhandensein oder Fehlen spontaner ästhetischer Sprachprozessierung unabhängig vom Wissen der Untersuchungsteilnehmer zu beobachten.14 Wir stellten einen heterogenen Pool einzelner Sätze zusammen und erfragten in einer Vorstudie, als wie „schön“ diese Sätze wahrgenommen werden. Diese Vorstudie diente allein dem Zweck, für die Haupt studie Sätze auszuwählen, die das ganze Spektrum von sehr hohen bis sehr niedrigen Schönheits-Bewertungen abdecken. Von direktem Wert für unsere Frage waren diese ersten Ratings nicht, da sie ja das Resultat einer expliziten Aufgabe der Schönheitsbewertung waren und insofern nichts zu der Frage beitragen können, ob eine solche Bewertung auch automatisch, d. h. ohne eine entsprechende Aufgabe bzw. ohne eine selbstmotivierte Aktivierung einer speziellen „ästhetischen“ oder „poetischen Einstellung“ erfolgt. Die Teilnehmer der Hauptstudie nun lasen die ausgewählten Sätze, während sie in einem 3-Tesla-MRT lagen. Aufgrund der Resultate der Vorstudie erwarteten – und erhofften – wir, dass auch diese Leser die heterogenen Sätze in ästhetischer Hinsicht unterschiedlich bewerten würden, sofern sie sie denn überhaupt spontan ästhetisch bewerten. Damit eine evtl. spontane ästhetische Bewertung nicht durch einen sogenann-
Empirische Ästhetik der Sprache und Literatur
ten „Task-Effekt“ überlagert wurde, wurde aber keine explizite ästhetische Bewertung der Sätze erfragt. Vielmehr wurde zu jedem Satz erfragt, ob der Inhalt etwas mit einer bestimmten semantischen Kategorie zu tun habe oder nicht. Diese einfache semantische Kategorisierungsaufgabe trug zusätzlich dazu bei, jeden Eindruck zu vermeiden, dass es bei der Datenerhebung im Scanner um eine ästhetische Bewertung der Sätze gehen könne. Erst nach Abschluss der Aufzeichnung der Gehirnaktivierungsmuster im MRT wurden die Studienteilnehmer gebeten, die gelesenen Sätze auf Skalen für Schönheit zu bewerten. Eine parametrische Korrelation der neuronalen Aktivierungen und der nachträglich erhobenen Ratings ergab: Beim Lesen ohne Aufgabe ästhetischer Bewertung (= im MRT) finden sich Gehirnaktivierungen, die mit den expliziten Schönheits-Ratings beim nachträglichen Lesen mit einer solchen Aufgabe signifikant korrelieren. Das spricht dafür, dass es keiner speziellen Aufgabe oder Einstellung bedarf, damit unser Gehirn Worte und Sätze auch ästhetisch prozessiert, sondern dass es dies tatsächlich immer und automatisch tut. Diese Daten liefern nicht weniger als eine erste empirische Unterstützung der sowohl von der alten Rhetorik als auch von Jakobsons Sprachmodell vertretenen Hypothese, dass ästhetische Wahrnehmung und Bewertung eine elementare, spontane und tendenziell universelle Dimension der Sprachprozessierung überhaupt ist. Um Missverständnisse zu vermeiden: Diese Einsicht bedeutet nicht, dass nicht zusätzlich in bestimmten Kontexten ganz bestimmte Voreinstellungen (kognitive Schemata) des Lesens aktiviert werden, etwa wenn ein Text als Zeitungstext, Tragödie, Komödie oder Elegie bezeichnet wird. Aus unseren Studien zu solchen speziellen Rahmungs- Effekten15 möchte ich hier nur einen Fund herausheben. Wenn Lesern angekündigt wird, dass sie einzelne Sätze oder einzelne Verse zu lesen bekommen (wobei in beiden Konditionen dieselben Sätze verwendet wurden), führt dies bereits vor der Lektüre des ersten Wortes zu einer distinkten Aktivierung der Alpha-Oszillationen (8–12 Hz) im Elektro-Encephalogramm (EEG).16 Anders gesagt: Unser Gehirn stellt sich bereits vorab auf eine spezielle Variante sprachlichen Materials ein. Und dies geschieht auch bei Lesern, die sonst nie Lyrik lesen! Gewiss, aus solchen Erkenntnissen folgt für die konkrete Arbeit von Literaturwissenschaftlern nicht sehr viel. Die wenigsten haben sich überhaupt die Frage gestellt, ob Jakobsons Hypothese in ihrer starken Bedeutung zutrifft, und konkrete Wirkungen von Texten auf Lesern untersuchen sie ohnehin nicht. Und dennoch: Es geht hier um nicht weniger als um Grundlagen ästhetischer Sprachwahrnehmung. Und wer ernsthaft literarische und nicht-literarische Rhetorik untersucht, hat gute Gründe, sich dafür zu interessieren. Denn diese Erkenntnis ist reich an Implikationen für konkrete Untersuchungsdesigns zur Ästhetik der Sprache.
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2. Empirische Studien zu Jakobsons Parallelismus-Hypothese
Nach Jakobson zeichnet sich „poetische“ Sprache nicht nur in Gedichten, sondern auch in Werbesprüchen, politischen Slogans und anderen Verwendungen vor allem durch eine Fülle parallelistischer Strukturen auf allen Ebenen der Sprache (Phonologie, Syntax, Semantik) aus: Anaphern, Alliterationen, Reime, Wortwiederholungen, ü bernormale Regularität des Rhythmus und etliche weitere Phänomene.17 Was Jakobson selbst nicht untersucht hat: Parallelistische Merkmale fügen der normalen Sprache vielfältige Dimensionen perzeptueller Verdichtung und Anreicherung hinzu. Sie sind sprachliche Analoga von Wiederholungsstrukturen in der Musik bzw. von Symmetrien und Spiegelungen in visueller Ästhetik. Ihre noch in den Anfängen steckende Erforschung hat daher großes Potenzial, direkte Vergleiche der einzelnen Domänen der Ästhetik zu erlauben. Die cognitive fluency- oder ease of processing-Hypothese ästhetischen Gefallens18 sagt voraus, dass linguistische Parallelismen, da sie mehr perzeptuelle Ordnung als in üblichen Sätzen erwartbar bieten, die Satzprozessierung (zumindest die prosodische) erleichtern und das ästhetische Gefallen erhöhen sollten. Dies wurde auch in einigen empirischen Studien gefunden. Wenig untersucht waren aber Text-spezifischere Effekte parallelistischer Sprachmerkmale. Wir konnten in einer Serie experimenteller Studien auf der Basis ganz verschiedener Corpora (Sprüche, humoristische Verse, traurige Gedichte, freudige Gedichte usw.) zusätzlich zeigen, dass parallelistische Merkmale praktisch jede emotio nale und ästhetische Wirkung verstärken, auf die ein einzelner Text zielt. Sie machen ihn witziger, trauriger, bewegender, prägnanter usw., je nach Kontext – und außerdem memorabler. Anders als durch experimentelle Studien können solche kardinalen Effekte der besonderen Behandlung von Sprache schlechthin nicht untersucht werden. Aus der Theorie des Verses ist bekannt, dass die Implementierung parallelistischer Strukturen (insbesondere Metrum und Reim) oft mit der Verwendung syntaktischer Ellipsen, Auslassungen oder Hinzufügungen einzelner Phoneme und der Verwendung semantisch nicht optimal passender Worte (die sich aber reimen) einhergeht. Alle diese Abweichungen vom normalen Sprachgebrauch sollten das semantische Verstehen eher erleichtern als erschweren. Daraus folgt, dass ästhetische fluency- und disfluency-Effekte nicht als Alternativen zu betrachten sind, sondern dass ein hochauflösendes multi- dimensionales Modell erforderlich ist, das parallele Prozesse mit entgegengesetzten Effekten integrieren kann. Damit ist bei der Wirkung poetischer Sprache in hohem Maß zu erwarten, was Fechner als Grundprinzip der Ästhetik stipuliert hat: nämlich nicht- lineare Wechselwirkungen oder Interaktionseffekte.19 Wiederum gilt: Aus der reinen Theorie oder Intuition sind solche komplexen Effekte schlechthin nicht vorherzusagen. Nur experimentelle Testung kann hier weiterhelfen.
Empirische Ästhetik der Sprache und Literatur
In einer exemplarischen Studie untersuchten wir die Interaktion von drei Variablen poetisch-rhetorischer Sprache auf die wahrgenommene Prägnanz, Schönheit und Überzeugungskraft von Sprichworten.20 Diese Studie ist übrigens die erste, die den gestaltpsychologischen Begriff der Prägnanz21 bei einer Studie zur Ästhetik der Sprache verwendet hat. Die persuasive Kraft der Sätze in Abhängigkeit vom Vorhandensein vs. Fehlen von Reim und/oder Metrum und/oder rhetorischer Kürze (brevitas-Merkmale) stieg keineswegs linear mit Prägnanz- und Schönheits-Ratings an. Es ergab sich vielmehr: Diejenigen Versionen der Sätze, in denen nur eines oder zwei der insgesamt drei rhetorischen Zielmerkmale gegeben waren, wurden aufgrund der dadurch reduzierten Verständlichkeit für weniger überzeugend gehalten als die vollständig derhetorisierten Sätze, die am besten verständlich sind. Bei den Sätzen mit allen drei rhetorischen Merkmalen zeigte sich dann aber ein starker turnaround-Effekt: Diese Sätze wurden allein aufgrund ihrer Höchstwerte für prosodische Prägnanz und Schönheit – und obwohl sie zugleich am wenigsten verständlich waren – als die überzeugendsten ausgewählt. In einer Reihe vergleichbarer Studien haben wir inzwischen weitere Bausteine zu einer Theorie der Interaktionseffekte poetisch-rhetorischer Variablen im Spannungsfeld zwischen der Erhöhung prosodisch-gestalthafter fluency und der Erschwerung syntaktischer und semantischer Prozessierung publiziert.22 3. Poetische Sprachmelodie: Ein wichtiges Verbindungsglied zwischen Musik und Sprache
Die oben referierten Studien zeigen eine Fülle kognitiver und ästhetischer Effekte, die unter Rekurs auf Jakobsons rein theoretisches Konzept des Parallelismus erschlossen werden können. In einer anderen Studie haben wir Jakobsons bereits recht umfassenden Begriff des Parallelismus nochmals erweitert. Wir zeigen, dass ganze Texte auch mit Rücksicht auf Tonhöhen- und Tondauerverläufe parallelistisch sein können und also genuine „Melodien“ enthalten. Vor unserer Studie war diese Annahme bestenfalls ein Phantom der Lyrik-Theorie. Seit der Antike werden Gedichte ja „Lieder“ (gr. melos, lat. carmen, dt. Lied, engl. song) und Dichter „Sänger“ genannt. Analytisch wurde dieser evokative Vergleich aber nur mit Rücksicht auf musikalische und poetische Metren untersucht. Den Sprachgebrauch wörtlich nehmend, haben wir uns auf die Suche nach einer genuinen poetischen Sprachmelodie begeben, die genauso wie musikalische Liedmelodien durch Zeitreihen von Tonhöhe- und Tondauer-Werten definiert ist, die sich über die Strophen hinweg wiederholen. Solche Melodien sind per definitionem verschieden von den mehr lokalen prosodischen Melodiekonturen, die etwa für bestimmte syntaktische Phrasen gut nachgewiesen sind. Uns sind auch keine Hypothesen und Studien der Literaturwissenschaft zu Tonhöhen- und Tondauerverläufen in gesprochenen literarischen
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Texten bekannt. Dies ist umso mehr eine Forschungslücke der Sprach- und Literaturästhetik, als beide Parameter (Tonhöhen und Tondauern) starke Faktoren der sinnlichen Wahrnehmung von Sprache sind und in der Psycholinguistik weithin angenommen wird, dass wir auch beim stillen Lesen eine Art Lautgestalt aufbauen („phonologische Rekodierung“). Ein erster Anhaltspunkt für das gesuchte Konstrukt war, dass Studienteilnehmer, die sonst kaum Lyrik lesen, Gedichte nicht nur spontan daraufhin bewerten, wie „melodisch“ sie klingen (gleichviel ob sie visuell oder auditiv präsentiert werden), sondern dass diese Ratings auch klar einzelne Gedichte unterscheiden. Da es für musikalische Melodien eine Vielzahl statistischer Masse gibt, untersuchten wir, ob diese evtl. auch statistische Eigenschaften von Tonhöhen- und Tondauerverläufen eingesprochener Gedichte erfassen können. Wir wurden schließlich fündig bei einem relativ einfachen Autokorrelationsmaß.23 Dieses bestimmt für alle Töne (die in unserem Fall aus den akustischen Parametern der Silben der eingesprochenen Gedichte extrahiert wurden), in welchem Grad sich Tonhöhen- und Tondauerverläufe über bestimmte Zeitfenster hinweg wiederholen und insofern ein melodisches Muster bilden. Da die Strophe (verglichen mit dem einzelnen Vers) diejenige größere sprachliche Einheit ist, die in Liedern zu der gleichen musikalischen Melodie gesungen werden, erwarteten wir, dass wir auch bei Gedichten die stärksten Melodie-Effekte auf dem Niveau der Strophen finden sollten. Eben dies ergab sich auch. Um tatsächlich von poetischen Sprachmelodien sprechen zu können, blieb aber noch viel zu tun. Der nächste Schritt war der Nachweis, dass Gedicht-typische Unterschiede auf unserem rein quantitativen Melodie-Maß nicht nur von einzelnen Sprechern abhängen, sondern grundsätzlich auch bei ganz unterschiedlichen Einsprechungen gefunden werden. Nur in diesem Fall würde es sich um Text-getriebene melodische Eigenschaften statt nur um prosodische Sprecher-Effekte handeln. Auf der Basis von elf Einsprechungen (professionellen und nicht-unprofessionellen) und zwei automatischen text-to-speech-Übertragungen fanden wir tatsächlich – bei erheblichen Unterschieden in den absoluten Werten – konvergierende Konturen von Tonhöhe und Tondauerwerten sowie daraus berechnete Selbstähnlichkeitswerte (Autokorrelationen) für die einzelnen Einsprechungen der Gedichte.24 Es gibt also Text-typische Grade an Melodizität. Damit blieb noch ein weiterer Schritt: Sagen die statistischen Melodiemaße auch die Ratings für subjektiv empfundene Melodizität voraus? Die Korrelationen zwischen beiden zeigen: Ja, sie tun dies. Das bedeutet: Selbst laienhafte Leser von Gedichten nehmen spontan den Grad wahr, in dem einzelne Strophen nicht nur das gleiche Metrum, sondern darüber hinaus auch sich charakteristisch wiederholende Tonhöhen- und Tondauerverläufe aufweisen. Anders gesagt: Sie hören tatsächlich und in vollem Wortsinn ein „Lied“!
Empirische Ästhetik der Sprache und Literatur
Für mich als Lyrik-Forscher war und ist dies, so sehr der Sprachgebrauch das Phänomen auch schon lange angedeutet hat, eine aufregende Entdeckung. Und es kam noch besser: An einem Gedicht-Corpus von 40 Gedichten, das ursprünglich für ganz andere Zwecke ausgewählt worden war, konnten wir feststellen, dass die Wahrscheinlichkeit vertont zu werden für Gedichte mit höheren Werten auf unserem statistischen Melodiemaß signifikant höher ist als für Gedichte mit niedrigeren Werten. Wenn schon Laien für die inhärente Melodie von Gedichten sensitiv sind, ist nicht verwunderlich, dass dies für professionelle Komponisten von Musik erst recht gilt. Aus dem Phantom des lyrischen melos konnte so mit einer Vielzahl empirischer Analysemethoden (von denen ich hier nur einen Teil erwähnt habe) ein Konstrukt gewonnen werden, das großes Potenzial für weitere Forschungen zur Ästhetik der Sprache hat, auch in der Prosa. 4. Was heißt es, von Kunstwerken emotional bewegt zu werden?
Seit der lateinischen Rhetorik gilt es als eines von mehreren Hauptzielen der sprachlichen Künste, die Zuhörer/Leser/Zuschauer emotional zu bewegen (lat. movere). Die Poetik des movere ist intuitiv so eingängig, dass sie auch heute gern in Werbesprüchen für Filme und Bücher benutzt wird („ein bewegender Film“, „ein tief bewegender Roman“). Trotz ihrer langen Tradition zeigt die Poetik des movere aber ein gravierendes Defizit. Zwar geben Rhetoriken Beispiele dafür, wie ein Satz oder ein ganzer Text bewegender gemacht werden kann; aber begriffliche Definitionen dessen, was überhaupt der Zustand des emotionalen Bewegtseins ist, fehlen in der lateinischen Rhetorik ebenso wie in den Ästhetiken des 18. Jahrhunderts, die vielfach diesen Begriff aufgegriffen haben. Mehr noch: Auch die moderne Psychologie hilft in dieser Frage kaum weiter. Emotionales Bewegtsein kommt in keinem bekannteren Emotionskatalog vor, und die akademische Emotionspsychologie hatte diesen Gefühlszustand bis vor Kurzem allenfalls am Rande und meist nur aperçuhaft untersucht (der japanische Wissenschaftler Tokaji war die einzige Ausnahme).25 Daraus ergab sich die Aufgabe und zugleich die Chance, einen Leitbegriff der überlieferten Rhetoriken, Poetiken und Ästhetiken zum Gegenstand systematischer psychologischer Emotionsforschung zu machen und auf der Basis einer psychologischen Definition von Bewegt-, Gerührt- und Erschüttertsein dann auch die Effekte von Kunstwerken gezielt zu untersuchen. In diesem Prozess haben wir nicht nur einen theoretischen Begriff der Rhetorik und Ästhetik mit Methoden der Emotionspsychologie untersucht; zugleich haben wir dabei auch auf die theoretischen Modelle der Emotionspsychologie rekurriert, etwa auf die Unterscheidung kognitiver, expressiver, physiologischer, motivationaler und subjektiver Erlebensdimensionen von Gefühlen. Einen besonderen Akzent haben wir dabei auf die
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Physiologie des Bewegt-/Gerührtseins gelegt, die mit anderen als empirischen Methoden gar nicht untersuchbar ist. Stehende Ausdrücke für „Zu-Tränen-Gerührtsein“ sind in vielen westlichen, slavischen und asiatischen Sprachen analog lexikalisiert, und wir hatten auch keine Schwierigkeiten, Teilnehmer für Tränen- und Gänsehaut-Studien zu finden. Es würde zu weit führen, hier die Resultate dieser physiologischen Studien zu berichten. Ein Highlight sei aber erwähnt: Wir haben als erste berichten können, dass Tränen und Gänsehaut zugleich vorkommen, und dafür den Begriff „goosetears“ (oder deutsch „Gänsetränen“) geprägt. Tränen und Gänsehaut werden durch die antagonistischen Subsysteme des autonomen Nervensystems ausgelöst: Tränen durch den parasympathicus und Gänsehaut durch den sympathicus. Nach Frijda26 können diese beiden Systeme nicht gleichzeitig sehr hohe Aktivierungen erreichen. Genau das aber haben wir gefunden und damit in Forschungen zur Ästhetik des Bewegtseins eine bislang nicht dokumentierte physiologisch-emotionale Reaktion berichten können. Im Resultat haben die Forschungen unserer Ästhetik-Gruppe mit dem emotionalen Bewegtsein ein komplexes neues Konstrukt der Emotionspsychologie erschlossen, eines, das zu der interessanten und insgesamt wenig erforschten Gruppe der „gemischten Gefühle“ gehört.27 Zugleich haben wir durch Mediationsanalysen zeigen können, dass traurig bewegende Kunstwerke nicht, wie vielfach behauptet, ästhetisches Gefallen finden, weil bestimmte Personengruppen sich gern traurig affiziert fühlen, sondern dass die scheinbare Traurigkeitspräferenz ganz durch eine Präferenz für emotionales Bewegtsein vermittelt ist. Dieses hat seinerseits immer eine primär positive Valenz, selbst wenn es hohe Grade von Traurigkeit enthält.28 Außerdem konnten wir zeigen, dass Ratings für emotionales Bewegtsein durch Gedichte signifikant mit Schönheits-Ratings korrelieren29 – ein weiterer Beleg dafür, dass das Attribut „bewegend“, auch wenn es oft mit traurigen Inhalten verbunden ist, durchweg ipso facto eine gelungene künstlerische Leistung bezeichnet und insofern als emotionale Kategorie direkt eine ästhetische Wertung impliziert.30 Es ist hier nicht möglich, über diese wenigen Andeutungen hinaus unsere vielfältigen Funde zu diesem Thema im Detail zu berichten. Meine persönliche Bilanz ist in jedem Fall diese: In den vergangenen fünf Jahren habe ich durch die Zusammenarbeit mit Linguisten, Psychologen und Neurowissenschaftlern mehr über die Kategorie des movere gelernt als in den wiederholten Bemühungen, die ich zuvor über mehr als 20 Jahre dieser Kategorie mit den Mitteln historischer Gelehrsamkeit und rein philosophischer Analyse gewidmet habe.
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5. Die Lust an negativen Gefühlen
Seit mindestens 30 Jahren habe ich über das vielzitierte „Paradox der Tragödie“ nachgedacht. Mein Buch über Ekel (1999)31 war einer besonders herausfordernden Variante der Lust an negativen Gefühlen gewidmet. Auf der Basis meiner empirischen Studien der letzten sieben Jahre habe ich nun ein Modell32 publiziert, das ich hier nur auf einen mehr methodischen und einen mehr theoretischen Mehrwert hin kommentieren möchte, die sich aus der multi-disziplinären und multi-methodalen Perspektive ergeben haben: 1. Ein grundlegender philosophischer Einwand lautet, dass Kunstrezipienten tatsächlich gar keine ernstzunehmenden negativen Gefühle erleben, obwohl sie dies auf Nachfrage regelmäßig berichten.33 Schließlich stehen unsere eigene Sicherheit und unsere persönlichen Interessen bei der Kunstrezeption von Kunstwerken nicht ernsthaft auf dem Spiel. Sprechen wir uns also nur irrtümlich – und evtl. in Konformität mit sozialer Erwünschtheit – negative Gefühle zu, die in Wahrheit allein „make believe-emotions“ sind? Rein philosophisch und theoretisch kann dieser fundamentale Einwand nicht entkräftet werden. Das gleiche gilt für die Frage, ob wir tatsächlich in irgendeinem strengeren Sinn Lust an negativen oder zumindest an gemischten Gefühlen erleben. Subjektive Selbstberichte fassen in der Regel eine längere Trajektorie des Erlebens zusammen, können aber kaum als Beweis dafür verwendet werden, dass wir tatsächlich negative Gefühle gleichzeitig mit positiven Gefühlen und ästhetischer Lust erleben. Eine besonders harte Evidenz für das „Paradox“ wäre aber gerade der Nachweis, dass wir tatsächlich positive Gefühle, negative Gefühle und ästhetische Lust strikt gleichzeitig erleben. Diesen Nachweis konnten wir inzwischen führen. In Momenten besonders starker lustvoller Affizierung – die durch Tränen und Gänsehaut charakterisiert sind – konnten wir parallele Spitzen-Aktivierungen des primären Belohnungssystems ebenso wie etablierter Indikatoren positiver und negativer Gefühle nachweisen.34 Damit ist die theoretische Debatte um das berühmte Paradox auf eine neue empirische Grundlage gestellt. Und insbesondere kann die rein philosophisch kaum widerlegbare Hypothese eines bloßen Scheinproblems zurückgewiesen werden. 2. Bei einem anderen Punkt unseres Modells, den ich hier hervorheben möchte, handelt es sich um einen Theorie-Transfer, einen Denkanstoß, den ich aus dem Studium neuerer Erkenntnisse der Emotionspsychologie für das Thema der Lust an negativen Gefühlen in der Kunstrezeption gewonnen habe. Eine Vielzahl von Studien hat berichtet, dass negative Gefühle die Aufmerksamkeit stärker priorisieren, schneller prozessiert sowie intensiver erlebt werden und auch länger in der Erinnerung bleiben als positive: „Bad is stronger than good.“35 Rhetoriken und Poetiken wiederum konvergieren in der Annahme, dass Kunstwerke genau das wollen, was die negativen Gefühle besonders gut
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können: Sie konkurrieren um Aufmerksamkeit und wollen intensive emotionale Wirkungen erzielen sowie privilegiert erinnert werden. Das legt den Schluss nahe: Negative Gefühle sind kein Problem, das eingehegt werden müsste, sondern sie sind zuallererst und ganz positiv prädestinierte Ressourcen für die Künste. Katharsis-, Kompensations- und Konversionsmodelle sind vor diesem Hintergrund der falsche Ansatz. Entsprechend haben wir ein Modell vorgeschlagen, das positiv eine „Umarmung“ (embracement) negativer Gefühle zu denken erlaubt. Für dieses Modell, das ich hier nicht näher berichte, war die wissenschaftliche Einsicht in den „negativity bias“ unseres Emotionssystems ein wichtiger theoretischer Wegbereiter. 6. Können wir empirisch bestenfalls bestätigen, was wir ohnehin schon wussten? Zum Abschluss eine kleine Glosse. Viele nicht-empirisch arbeitende Kollegen sind der Meinung, Empirie sei in der Ästhetik bestenfalls dazu gut, etwas zu bestätigen, was wir aus der Philosophie oder dem gesunden Menschenverstand ohnehin schon wussten. Gern werde ich deshalb gelegentlich gefragt, welche Annahme wir denn schon empirisch widerlegt hätten. Die oben gegebenen Beispiele zeigen bereits, dass die empirischen Wissenschaften keineswegs theoriefreie Messinstrumente sind. Im Gegenteil: Sie stecken voller eigener theoretischer Befunde und Hypothesen, von denen ich als Literaturwissenschaftler fast nichts wusste und die sich als sehr interessant für meine Arbeit erwiesen haben. Hier beschränke ich mich darauf, von einer kleinen Widerlegung zu berichten. Es ist eine Lieblingsidee der linguistischen Poetik, dass es in Gedichten enge Verbindungen zwischen Lautbestand und evozierten Gefühlen geben könnte. Eine Reihe von Autoren, darunter auch Roman Jakobson, hat einige ganz konkrete Vorschläge gemacht, welche Phoneme bei übernormaler Häufigkeit welche Emotionen auch rein lautikonisch evozieren. Kleinere empirische Studien hatten dazu erste Evidenzen berichtet. Wir wollten diesem altehrwürdigen Theorem nun endlich zu voller Anerkennung verhelfen. Das ironische Resultat unserer nicht unaufwendigen Studie war aber: Keine einzige Hypothese konnte bestätigt und keine vorherige Studie repliziert werden!36 Nun wissen wir also nicht mehr, was wir vorher zu wissen glaubten. Und was noch schlimmer oder vielleicht auch besser ist: Wirklich widerlegt haben wir die schöne Idee mit unserer Studie keineswegs. Es können ja immer noch andere als die getesteten Phoneme sein, die tatsächlich die hypothetische lautikonische Wirkung haben. Es bleibt also noch beliebig viel zu tun, um hier weiterzukommen. Wir selbst haben inzwischen Evidenz für eine zuvor nicht beachtete Spielart von Laut-Ikonizität gefunden. Mit Roman Jakobson haben wir diese neue Spezies als „metonymische“, also als über Nachbarschaft (Kontiguität) funktionierende Laut-Ikonizität bezeichnet.37 Dabei
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handelt es sich um Worte, deren Bedeutung eine lautliche Entsprechung nicht in ihrer eigenen Wortform, sondern in derjenigen der an sie unmittelbar angrenzenden Worte finden.38
Schlussbemerkung Empirische Forschungen zur Ästhetik der Literatur sind immer noch eine marginale Spezies: Weltweit ist nur eine niedrige zweistellige Zahl an Wissenschaftlern in diesem Segment aktiv. Auch das Niveau der Forschungen in diesem Segment kann kaum mit dem in boomenden Fächern mithalten. Ich sehe aber mit vorsichtigem Optimismus einen gewissen Aufwärtstrend und erwarte zunehmend Resultate, die auch für nicht-empirische Literaturwissenschaftler von Interesse sein könnten, insbesondere was Desiderate grundlagenwissenschaftlicher Natur betrifft. Durchgehende close read ings einzelner Werke gehören dagegen bis auf Weiteres sicher nicht zu den Optionen empirischer Literaturwissenschaft. Deshalb, noch einmal: Empirische Literaturwissenschaft wird die traditionelle nicht ersetzen und konkurriert auch gar nicht mit ihr. Aber sie wird etwas anderes, Zusätzliches leisten, etwas, das die Reflexion auf Literatur hoffentlich wieder näher an die transdisziplinäre Statur der traditionellen Rhetorik, Poetik und Ästhetik heranführt – allerdings zu den durchaus neuen Bedingungen des heutigen Wissenschaftssystems.
1 Vgl. John Bender & David E. Wellbery: Rhetoricality. On the modernist return of rhetoric. In: John Bender, David E. Wellbery (Hg.): The end of rhetoric. History, theory, practice, Stanford 1990, S. 3–39. 2 Immanuel Kant: Kritik der Urtheilskraft. In: Kant‘s gesammelte Schriften, Bd. 5, Berlin 1790/1908–13, § 53. 3 Alexander G. Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus/Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes, Hamburg (1. Aufl. 1735) 1983. 4 Edmund Burke: A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful, Notre Dame/ London (1. Aufl. 1757) 1968. 5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. In: Hegel: Werke (Theorie Werkausgabe), Bd. 13–15, Frankfurt a. M. 1970. 6 Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen, reprograf. Nachdruck der Ausgabe Königsberg 1853, Darmstadt 1979. 7 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. In: Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 1, hg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München 1980. 8 Vgl. Denis Diderot: On Art II: The Salon of 1767, transl. by J. Goodman, New Haven (1. Aufl. 1767) 1995. 9 Walter Benjamin: Probleme der Sprachsoziologie. In: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. 3 (Kritiken und Rezensionen), hg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt a. M. (1. Aufl. 1935) 1972, S. 452–480. 10 Kant: Kritik der Urtheilskraft (s. Anm. 2), § 49. 11 Vgl. Johannes Bierbrodt: Naturwissenschaft und Ästhetik 1750 – 1810, Würzburg 2000; Winfried Menninghaus: ‚Ein Gefühl der Beförderung des Lebens‘. Kants Reformulierung des Topos lebhafter Vorstellung. In: Armen Avanessian, Winfried Menninghaus, Jan Völker (Hg.): Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, Zürich/Berlin 2009,
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S. 77–94; Helmut Müller-Sievers: Self-Generation. Biology, philosophy, and literature around 1800, Stanford 1997; Rachel Zuckert: Kant on beauty and biology. An interpretation of the ›Critique of Judgment‹, Cambridge 2007. Roman Jakobson: Linguistics and Poetics. In: Thomas Albert Sebeok (Hg.): Style in language, New York 1960, S. 350– 377. I. C. Bohrn, U. Altmann, O. Lubrich, W. Menninghaus, A. M. Jacobs: When we like what we know – A parametric fMRI analysis of beauty and familiarity. In: Brain and Language, 2013, 124, S. 1–8. Mit einem analogen Design hatte eine andere Studie gezeigt, dass jede Gesichtswahrnehmung, selbst in ästhetisch wenig ansprechenden Kontexten, automatisch und immer auch eine wie immer subkutane Bewertung auf Schönheit hin enthält. Vgl. A. Chatterjee, A. Thomas, S. E. Smith, G. K. Aguirre, G. K.: The neural response to facial attractiveness. In: Neuropsychology, 2009, 23 (2), S. 135–143, doi: 10.1037/a0014430. Vgl. V. Wagner, W. Menninghaus, J. Hanich, T. Jacobsen: Art schema effects on affective experience: The case of disgusting images. In: Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts, 2014, 8 (2), S. 120–129, doi: 10.1037/a0036126; V. Wagner, J. Klein, J. Hanich, M. Shah, W. Menninghaus, T. Jacobsen: Anger framed: A field study on emotion, pleasure, and art. In: Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts, 2015, Advance online publication, doi: 10.1037/ aca0000029. S. Blohm, M. Schlesewsky, W. Menninghaus, M. Scharinger: Text type attribution modulates pre-stimulus alpha power in sentence reading, bislang unveröffentlichter Text. Jakobson (s. Anm. 12), S. 350–377. R. Reber, N. Schwarz, P. Winkielman: Processing fluency and aesthetic pleasure: Is beauty in the perceiver’s processing experience? In: Personality and Social Psychology Review, 2004, 8 (4), S. 364–382, doi: 10.1207/s15327957pspr0804_3. Gustav Theodor Fechner: Vorschule der Ästhetik, Leipzig 1876, S. 50–53. W. Menninghaus, I. Bohrn, C. A. Knoop, S. Kotz, W. 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In: Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts, 2014, 8 (2), S. 130–143, doi: 10.1037/a0035690; E. Wassiliwizky, V. Wagner, T. Jacobsen, W. Menninghaus: Art-elicited chills indicate states of being moved. In: Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts, 2015, 9 (4) S. 405–416, doi: 10.1037/aca0000023.
Empirische Ästhetik der Sprache und Literatur
29 W. Menninghaus, V. Wagner, E. Wassiliwizky, T. Jacobsen, C. A. Knoop: The emotional and aesthetic powers of parallelistic diction. In: Poetics, 2017, 63, S. 47–59, doi: 10.1016/j.poetic.2016.12.00. 30 Vgl. dazu W. Menninghaus, V. Wagner, E. Wassiliwizky, I. Schindler, J. Hanich, T. Jacobsen, S. Koelsch: What are aesthetic emotions? In: Psychological Review, 2019, 126 (2), S. 171–195, doi: 10.1037/rev0000135. 31 Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a. M. 1999. 32 W. Menninghaus, V. Wagner, J. Hanich, E. Wassiliwizky, T. Jacobsen, S. Koelsch: The Distancing – Embracing model of the enjoyment of negative emotions in art reception. In: Behavioral and Brain Sciences, 2017, 40, e347, doi: 10.1017/ S0140525X17000309. 33 Vgl. P. Kivy: Music alone. Philosophical Reflections on the Purely Musical Experience, Ithaca 1991; N. C. Krämer, T. Witschel: Demystifying the sad film paradox. A critical analysis of the question of why people enjoy the reception of sad films. Paper presented at the Annual Meeting of the International Communication Association, Singapore, June, 2010. 34 E. Wassiliwizky, S. Koelsch, V. Wagner, T. Jacobsen, W. Menninghaus: The emotional power of poetry. Neural circuitry, psychophysiology and compositional principles. In: Social Cognitive and Affective Neuroscience, 2017, 12 (8), S. 1229–1240, doi: 10.1093/scan/nsx069. Vgl. auch J. T. Larsen, S. H. Hemenover, C. J. Norris, J. T. Cacioppo: Turning adversity to advantage. On the virtues of the coactivation of positive and negative emotions. In: L. G. Aspinwall, U. M. Staudinger (Hg.): A psychology of human strengths. Fundamental questions and future directions for a positive psychology, Washington, D. C. 2003, S. 211–225; J. T. Larsen, A. P. McGraw: Further evidence for mixed emotions. In: Journal of Personality and Social Psychology, 2011, 100 (6), S. 1095–1110, doi: 10.1037/a0021846; J. T. Larsen, A. P. McGraw, J. T. Cacioppo: Can people feel happy and sad at the same time? In: Journal of Personality and Social Psychology, 2001, 81 (4), S. 684–696, doi: 10.1037/0022-3514.81.4.684. 35 R. F. Baumeister, E. Bratslavsky, C. Finkenauer, K. D. Vohs: Bad is stronger than good. In: Review of General Psychology, 2001, 5 (4), S. 323–370, doi: 10.1037/1089-2680.5.4.323; J. T. Cacioppo, W. L. Gardner: Emotion. In: Annual Review of Psychology, 1999, 50, S. 191–214, doi: 10.1146/annurev.psych.50.1.191; N. H. Frijda: The laws of emotion. In: American Psychologist, 1988, 43 (5), S. 349–358, doi: 10.1037/0003-066x.43.5.349; T. A. Ito, J. T. Larsen, N. K. Smith, J. T. Cacioppo: Negative information weighs more heavily on the brain. The negativity bias in evaluative categorizations. In: Journal of Personality and Social Psychology, 1998, 75 (4), S. 887–900, doi: 10.1037/0022-3514.75.4.887; R. J. Larsen, Z. Prizmic: Regulation of emotional well-being. In: M. Eid, R. J. Larsen (Hg.): The science of subjective well-being, New York 2008, S. 258–289; J. Musch, K. C. Klauer (Hg.): The psychology of evaluation. Affective processes in cognition and emotion, Mahwah, NJ 2003; A. Vaish, T. Grossmann, A. Woodward: Not all emotions are created equal. The negativity bias in social-emotional development. In: Psychological Bulletin, 2008, 134 (3), S. 383–403, doi: 10.1037/0033-2909.134.3.383. 36 M. Kraxenberger, W. Menninghaus: Mimological Reveries? Disconfirming the Hypothesis of Phono-Emotional Iconic ity in Poetry. In: Frontiers in Psychology, 2016, 7, 1779, doi: 10.3389/fpsyg.2016.01779. 37 Roman Jakobson: Two aspects of language. Metaphor and Metonymy. In: Vernon W. Grass (Hg.). European Literary Theory and Practice. From Existential Phenomenology to Structuralism. New York, NY 1973. 38 J. Auracher, M. Scharinger, W. Menninghaus: Contiguity-based sound iconicity. The meaning of words resonates with phonetic properties of their immediate verbal contexts. In: PLOS One, 2019, 14 (5), e0216930, doi: 10.1371/journal. pone.0216930.
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Grundriss der empirischen Literaturwissenschaft Eine Gebrauchsanweisung „Bekämpfen Sie das häßliche Laster der Interpretation! Bekämpfen Sie das noch häßlichere Laster der richtigen Interpretation!“1 – mit diesem Zitat von Hans Magnus Enzensberger formulierte Siegfried J. Schmidt 1979 eine polemische Absage an rein introspektiv gewonnene literaturwissenschaftliche Annahmen. Entgegen der disziplinären Trennung von natur- und geisteswissenschaftlichem Erkenntnisgewinn2 forderte Schmidt eine wissenschaftstheoretisch begründete, nach objektiven Maßstäben nachvollziehbare und überprüfbare literaturwissenschaftliche Praxis. Ungeachtet der besonderen Nachdrücklichkeit, mit der Schmidt eine empirische Ausrichtung der Literaturwissenschaft verlangte, und trotz der Tatsache, dass der Begriff „Empirische Literaturwissenschaft“ heute oft ausschließlich als Bezeichnung für Schmidts Siegener Schule verwendet wird,3 sind die Ursprünge dieses Forschungsfeldes historisch deutlich früher anzusiedeln. Allerdings ist es kaum möglich, eine lineare Entstehungsgeschichte nachzuzeichnen, da sich das Desiderat einer systematisch-empirischen Beschäftigung mit Literatur aus ganz unterschiedlichen theoretischen Traditionen und literaturwissenschaftlichen Schulen herausgebildet hat. Zugleich entwickelten auch andere Disziplinen unabhängig von und parallel zur Literaturwissenschaft ein Interesse an der empirischen Untersuchung von Literatur und Literaturerleben: die Psychologie, die (Psycho-)Linguistik, die Soziologie und in jüngerer Zeit auch die Neurowissenschaft. Nicht zuletzt erweist es sich als Herausforderung, genau festzulegen, wo empirische Literaturwissenschaft beginnt: Beschränkt sie sich auf tatsächliche empirische Erhebungen, wie sie beispielsweise in der Tradition Gustav Theodor Fechners4 entstanden sind? Oder umfasst sie auch jene theoretische Schriften, die solchen Messungen vorausgegangen sind oder den Weg dafür geebnet haben? In diesem weiteren Sinne könnte die empirische Literaturwissenschaft etwa in den Schriften Roman Jakobsons als vorweggenommen betrachtet werden.5 Unabhängig von der Bestimmung eines singulären, historischen Ursprungs ist die empirische Literaturwissenschaft neben der Verortung innerhalb des empirischen Paradigmas durch die Pluralität der einzelnen, ihr zuzuordnenden Forschungsbestrebungen bestimmt. Dementsprechend ist die empirische Literaturwissenschaft genuin interdisziplinär in ihrer Ausrichtung; sie umfasst beispielsweise sowohl konstruktivistische und stark an Soziologie und Psychologie orientierte Ansätze als auch strukturalistisch geprägte Ausformungen mit stärkerem linguistischem Fokus, computergestützte Kor-
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Maria Kraxenberger und Christine A. Knoop
pusanalysen oder neurokognitive und evolutionstheoretische Ansätze. Diese Interdisziplinarität spiegelt sich auch in der Vielfalt der verwendeten empirischen Methoden wider; zudem gibt es Foschungsbereiche, die an die empirische Literaturwissenschaft heran- und in sie hineinreichen, selbst aber auf der theoretischen Ebene verbleiben. Das hier vorgestellte Schaubild stellt den Versuch eines Grundrisses der empirischen Literaturwissenschaft dar (Abb. 1). Dieser soll es ermöglichen, das Forschungsfeld systematisch zu erfassen und zu beschreiben. Dementsprechend werden in vereinfachter Weise die Grundzüge eines relativ diffusen und offenen Konzeptes auf eine systematisch-anordnende Ebene projiziert. Der vorliegende Grundriss ist als dynamisch und transitorisch zu verstehen, nicht zuletzt, da die empirische Literaturwissenschaft sich (immer noch, oder wieder einmal) im Entstehen und im ständigen Bestreben nach (andauernder) Institutionalisierung befindet.6 Der explizit versuchshafte Charakter dieses Grundrisses ergibt sich einerseits aus dem skizzenhaften Aufbau, der nicht mehr als einen subjektiv empfundenen Status quo der empirischen Literaturwissenschaft widerspiegeln kann und will. Dabei ist jedoch (noch) unklar, was dieses literaturwissenschaftliche Forschungsfeld genau bezeichnet und durch was oder wen es konstituiert wird und wurde. Andererseits möchten die Verfasserinnen mit dem vorliegenden Beitrag versuchen, die üblichen Grabenkämpfe zwischen eher traditionellen und empirischen Ausrichtungen der Literaturwissenschaft außen vor zu lassen; vielmehr sollen die Überlegungen zu einem Grundriss der empirischen Literaturwissenschaft auf verschiedene disziplinäre Diskurse Bezug nehmen. Um einen solchen Brückenschlag zu gewährleisten, bedient sich der vorliegende Grundriss vier übergeordneter Kategorien. Diese umfassen zum einen verschiedene Grundlagentexte und Forschungsunterfangen (zusammengefasst als „Grundlagen“), die der empirischen Literaturwissenschaft vorangingen. Zum anderen werden die historisch gewachsenen und generell etablierten literaturwissenschaftlichen Kategorien „Text“ bzw. „Text(-Struktur)“, sowie „Leser*in“ im weitesten Sinne herangezogen, um zwischen verschiedenen Schwerpunkten und Untersuchungsobjekten innerhalb der empirisch ausgerichteten Literaturwissenschaft unterscheiden zu können. Die Instanz „Autor*in“, traditionell fester Bestandteil jeglicher kommunikationswissenschaftlich geprägten Modelle von Sprache und Literatur7 und historisch die wohl bedeutendste Größe für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Literatur, wird im vorliegenden Grundriss bewusst nicht berücksichtigt,8 da sie in empirischen Untersuchungen meist außer Acht gelassen wird. Einbezogen werden innerhalb der Kategorie der „Digitalen Korpusanalysen“ jedoch z. B. Untersuchungen zur Autorschaftserkennung9 oder zum individuellen Autorstil10.
Grundriss der empirischen Literaturwissenschaft
Wilhelm Dilthey Natur- und Geisteswissenschaft
Grundriss der empirischen Literaturwissenschaft Wissenschaftstheorie
Gustav Theodor Fechner Ästhetik ,,von unten’’
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Grundlagen
Empirische Ästhetik, Ursprünge * Gosudarstvennaja Akademija Chudozestvennych Nauk (GAChN), Moskau ^
Systemtheorie
Charles Percy Snow The Two Cultures
Wilhelm Wundt Psychophysiologie der Emotionen
Theorie der empirischen Literaturwissenschaft
Rezeptionsästhetik
*Siegener Schule
*Konstanzer Schule
Konstruktivismus
Wolfgang Iser Akt des Lesens Impliziter Leser
Emotionsforschung
Siegfried J. Schmidt Literatur als Kommunikation Daniel Berlyne Neugier und Erregung in der Psychologie Stanley Fish Affective Stylistics
Formalismus Roman Jakobson Linguistik und Poetik
Reader Response
Empirische Ästhetik heute *Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik *International Association for Empirical Aesthetics (IAEA)
Viktor Šklovskij Kunst als Verfahren, ostranenie
Neuroästhetik
Strukturalismus Literary Linguistics/Stilistik
Evolutionäre Literaturwissenschaft
z. B. *CCLR, Sheffield *Literary Linguistics Group Mainz
Claude Lévi-Strauss Strukturalismus und strukturelle Anthropologie
Kognitive Poetik *Experimental Humanities Lab, Indiana
Rhetorik
Charles S. Peirce Theorie des triadischen Zeichens
*Cognitive Futures in the Humanities Network
Literatursoziologie Roberto Busa Index Thomisticus
*COST Action: The Evolution of Reading in the Age of Digitization (E-Read)
Semiotik Computerphilologie/Digital Humanities Text(-Struktur)
z. B. *Stanford LitLab *European Association for Digital Humanities
Digitale Korpusanalysen 1
Grundriss der empirischen Literaturwissenschaft.
Leser*in
*COST Action: Distant Reading for European Literary History
*Literary Universals *Poetics and Project Linguistics Association (PALA)
*Internationale Gesellschaft für empirische Literaturwissenschaft (IGEL)
Grundriss der empirischen Literaturwissenschaft
In der rechten unteren Ecke der Abbildung sind in umgekehrt L-förmiger Umrandung einige wenige, besonders prominente Institutionen, Gesellschaften und Konferenzen angegeben, die das Feld der empirischen Literaturwissenschaft wesentlich bestimmen. Auf der vertikalen Achse finden sich tendenziell der Kategorie „Leser*in“ zuzuordnende Körperschaften, horizontal sind einige eher Text(-Struktur)-bezogene Organe aufgeführt. Wie schon bei den verwendeten Kategorien ist aber auch hier eine klare Abgrenzung nicht möglich und jedwede Differenzierung als fließend in ihren Übergängen zu verstehen. Innerhalb der grau gehaltenen Kategorien im Hintergrund der Abbildung (Grundlagen, (Text-)Struktur, Leser*in, digitale Korpusanalysen) unterscheidet der vorliegende Grundriss zwischen verschiedenen, durch weiße Felder dargestellte topics, also Themen und Gegenständen, welche in der heutigen empirischen Literaturwissenschaft verstärkt beforscht werden. Beispiele sind etwa Emotionsforschung, Stilistik, Kognitive Poetik oder die Digital Humanities. Anzumerken ist, dass die verwendeten topics begrifflich mehrfach besetzt sein können – zumeist mit methodischer Konsequenz. Dies trifft unter anderem auf das Feld der Kognitiven Poetik zu: Je nach Forschungstradition werden unter diesem Sammelbegriff entweder Erkenntnisse aus den empirischen Wissenschaften für die Literaturtheorie verwendet11 oder (auch) selbst empirische Untersuchungen vorgenommen12. Die literaturwissenschaftlich orientierten Digital Humanities (bzw. Computerphilologien) stellen insofern einen Ausnahmefall dar, als sie zum einen durch die Methode der computergestützten Analyse charakterisiert werden können, zum anderen aufgrund des oft vorherrschenden historischen Schwerpunkts nicht die Rezeption und Perzeption empirischer Leser*innen zum Untersuchungsgegenstand haben. Im Grundriss sind sie innerhalb der vierten übergeordneten Kategorie der digitalen Korpusanalysen verortet. Einzelne topics können, müssen jedoch nicht in Beziehung zueinander stehen. Die Größe der topics spiegelt die Sichtbarkeit und Menge der jeweiligen Forschungsaktivität wider; die Form der topics erlaubt eine Differenzierung von vorwiegend theoretischen (eckig dargestellt; z. B. Theorie der empirischen Literaturwissenschaft, evolutionäre Literaturwissenschaft) bis zu eher angewandten Forschungsthemen und -gegenständen (oval dargestellt; z. B. der Großteil der heutigen empirischen Ästhetik). Einzelnen topics wiederum sind besonders prominente Vertreter*innen, Institutionen und Schlagworte zugeordnet (vor dunklem Hintergrund). Zudem sind an einigen Stellen Vorläufer*innen (gestrichelt umrandet) genannt, deren Arbeiten zwar nicht direkt mit der Entwicklung oder den Forschungszusammenhängen der empirischen Literaturwissenschaft verbunden sind, die Letztere aber entscheidend beeinflusst haben. Die aufgeführten Vertreter*innen und Institutionen entstammen diversen Disziplinen
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Maria Kraxenberger und Christine A. Knoop
und bedienen sich der unterschiedlichsten wissenschaftlichen Methoden und Theorieangebote. Die Fülle an Fachdisziplinen und theoretischen Zugängen lässt erkennen, in welchem Ausmaß das gemeinsame Forschungsfeld auf Kooperationen angelegt ist, zugleich aber auch spezifische Kompetenzen erfordert. Konsequenterweise wäre zu erörtern, inwiefern überhaupt von der „einen“ empirischen Literaturwissenschaft die Rede sein kann und sollte. Angesichts der Diversität und Pluralität ist jedoch zumindest unbestreitbar, dass die in der einleitenden Forderung Schmidts vorherrschende Polemik ins Leere laufen muss und in der (den) empirischen Literaturwissenschaft(en) nur die enge Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen zu Erkenntnisgewinn – und verstetigter Institutionalisierung – führen kann.
1 Siegfried J. Schmidt: „Bekämpfen Sie das häßliche Laster der Interpretation! Bekämpfen Sie das noch häßlichere Laster der richtigen Interpretation!” In: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, 8, 1979, S. 279–309, hier S. 279. 2 Vgl. Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Berlin 1883. 3 Z. B. Steven Tötösy de Zepetnek, Irene Sywenky (Hg.): The Systemic and Empirical Approach to Literature and Culture as Theory and Application, Edmonton/Siegen 1997. 4 Vgl. Gustav Theodor Fechner: Vorschule der Ästhetik, Leipzig 1867. 5 Hendrik Birus, Sebastian Donat, Burkhard Meyer-Sickendiek: Roman Jakobsons Gedichtanalysen. Eine Herausforderung an die Philologien, Göttingen 2003. 6 Vgl. Achim Barsch, Gebhard Rusch, Reinhold Viehoff (Hg.): Empirische Literaturwissenschaft in der Diskussion, Frankfurt a. M. 1994. 7 Z. B. Karl Bühler: Sprachtheorie, Jena 1934; Roman Jakobson: Closing statement. Linguistics and poetics, Style in Language, Cambridge, MA 1960, S. 350–377. 8 Vgl. Roland Barthes: Der Tod des Autors. Aus dem Französischen übersetzt von Matias Martinez. In: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Mathias Martinez, Simone Winko (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 1968/2000, S. 185–197. 9 Z. B. Matthew L. Jockers: Macroanalysis. Digital methods and literary history, Champaign 2013. 10 Cosima Mattner, J. Berenike Herrmann, Gerhard Lauer: Kafkas Stil. Zur Psychostilistik der Tagebücher Kafkas. In: Tagungsband 3. Internationale Tagung „Digital Humanities im deutschsprachigen Raum”, Leipzig 2016, S. 158–160. 11 Z. B. Peter Stockwell: Cognitive Poetics. An introduction, London 2002. 12 Z. B. Reuven Tsur: Poetic rhythm. Structure and performance. An empirical study in cognitive poetics, Bern 1998.
Anhang
Autorinnen und Autoren Ryoichi Ando M. A. PhD Student, Graduate School of Media Design, Keio University, Kanagawa
Prof. Dr. Horst Bredekamp Professor, Institut für Kunst- und Bildgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin
Sebastian Breu M. A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin
Dr. Joerg Fingerhut Senior Postdoc, Berlin School of Mind and Brain, Humboldt-Universität zu Berlin
Prof. Dr. Haru Hamanaka Professorin, Faculty of Social Sciences, Hosei University, Tokyo
Prof. Dr. Kazumichi Hashimoto Professor, Faculty of Letters, Arts and Sciences, Waseda University, Tokyo
Prof. Dr. Shigemi Inaga Professor, International Research Center for Japanese Studies / Graduate University for Advanced Studies
Prof. Dr. Masahiko Inami Professor, Research Center for Advanced Science and Technology, The University of Tokyo
Prof. Yoshiharu Ishioka Associate Professor, Faculty of Letters, Arts and Sciences, Waseda University, Tokyo
Felix Jäger M. A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Forschungsverbund „Bilderfahrzeuge“, The Warburg Institute, London
Dr. Christine A. Knoop Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Abteilung Sprache und Literatur, Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, Frankfurt am Main
Dr. Maria Kraxenberger Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Digital Humanities Lab, Universität Basel
Prof. Dr. Winfried Menninghaus Direktor, Professor, Abteilung Sprache und Literatur, Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, Frankfurt am Main
Dr. Yasuhiro Sakamoto Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Abteilung Neurowissenschaften, Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, Frankfurt am Main
Prof. Dr. Birgit Schneider Professorin, Institut für Künste und Medien, Universität Potsdam
Prof. Dr. Yoshikazu Takemine Associate Professor, Graduate School of Arts and Sciences, The University of Tokyo
Prof. Dr. Jun Tanaka Professor, Graduate School of Arts and Sciences, The University of Tokyo
Dr. Giovanna Targia Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Kunsthistorisches Institut, Universität Zürich
Anna Zschauer M. A. Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Abteilung Musik, Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, Frankfurt am Main
Personenregister Im Personenregister sind ausschließlich Namen aufgeführt, auf die in den Beiträgen Bezug genommen oder in den Anmerkungen verwiesen wurde. Keine Berücksichtigung fanden Namen in Buch- oder Konferenztiteln. Herausgeber sind nur genannt, wenn die entsprechenden Sammelwerke direkt zitiert wurden. Im Falle von naturwissenschaftlichen Fachpublikationen ist nur der erste Autor aufgeführt. In den Beiträgen wurde bei japanischen Namen für historische Persönlichkeiten die japanische Schreibweise (d. h. Familienname vor Vorname) als Respektform gewählt; bei zeitgenössischen Wissenschaftlern wurde der westlichen Schreibweise entsprochen. A B
Abbott, Alison Alberti, Leon Battista Alexandratos, Rea Alloa, Emmanuel Altmann, Jan Ankersmit, Franklin Rudolf Arai, Andrea Gevurtz Arcimboldo, Giuseppe Aristoteles Arnheim, Rudolf Attenborough, David Auracher, Jan Avery, Tex Baatz, Ursula Bachofen, Johann Jakob Barsamian, Gregory Barsch, Achim Barthes, Roland Battaglia, Francine Baudelaire, Charles Bauerle-Willert, Dorothée Baumeister, Roy F. Baumgarten, Alexander Gottlieb Baur, Patrick Baxandall, Michael Bazin, André Beck, Hanno Beethoven, Ludwig van Belfi, Amy M. Belting, Hans Bender, John Benjamin, Walter
Bense, Max Berenson, Bernard G. Berghaus, Heinrich Berlyne, Daniel Bernhardt, Karl-Heinz Bertillon, Alphonse
166 (Anm. 41) 70, 78 (Anm. 11, 12) 165 (Anm. 21) 78 (Anm. 21) 157, 166 (Anm. 38) 31, 32, 33, 41 (Anm. 1, 3, 4, 6, 7, 8) 173 (Anm. 12) 169, 169 (Abb. 2) 139 19, 22, 52, 177, 181, 182, 187, 191, 192 (Anm. 3, 15), 193 (Anm. 38) 165 (Anm. 21) 213 (Anm. 38) 105 173 (Anm. 5) 33 179 (Abb. 1) 220 (Anm. 6) 220 (Anm. 8) 193 (Anm. 32) 58 54 (Anm. 15) 213 (Anm. 35) 179 (Abb. 1), 198, 211 (Anm. 3) 34, 35, 42 (Anm. 14, 17) 79 91 89 (Anm. 14, 15) 191 184, 193 (Anm. 28) 99, 100 (Anm. 28), 116, 117 (Anm. 16, 17) 211 (Anm. 1) 39, 54 (Anm. 11), 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65 (Anm. 1–3), 66 (Anm. 4–32), 142, 144 (Anm. 43), 179 (Abb. 1), 199, 211 (Anm. 9) 179 (Abb. 1), 183, 192 (Anm. 18) 127 88 114, 117 (Anm. 10), 217 (Abb. 1) 88 (Anm. 2) 96, 97, 97 (Abb. 3+4), 99, 100 (Anm. 25, 26)
226
Anhang
Biel, Stefan S. Bierbrodt, Johannes Bindman, David Bing, Gertrud Bingham, Robert Jefferson Binswanger, Ludwig Birus, Hendrik Bisson, Auguste-Rosalie Bisson, Louis-Auguste Blanc, Charles Blanchard, Émile Blohm, Stefan Boehm, Gottfried Bohrn, Isabel C. Bois, Yve-Alain Botticelli, Sandro Bredekamp, Horst
C
Breidbach, Olaf Brink, Claudia Broca, Paul Brücke, Ernst Brun, Jean Bühler, Karl Burckhardt, Jacob Burke, Edmund Busa, Roberto Busche, Hubertus Butler, Samuel Cacioppo, John Terence Cannon, Susan Faye Caravaggio, Michelangelo Merisi da Casper, Mark-Oliver Cassirer, Ernst
Chamberlain, Basil Hall Chaplin, Charlie Chatterjee, Anjan Che, Jiajia Chengguan (jp. Chōkan) Chervin, Arthur Chomsky, Noam Clark, Kenneth Clausberg, Karl
Clayton, Martin Cohl, Émile Cohn, Alfred Cohn, Ferdinand Colonna, Vittoria Cranston, Fumiko E.
166 (Anm. 32) 211 (Anm. 11) 165 (Anm. 24) 37 92 34, 35, 42 (Anm. 13, 16) 220 (Anm. 5) 91, 92, 94, 95 (Abb. 2), 100 (Anm. 2, 6) 91, 92, 94, 95 (Abb. 2), 100 (Anm. 2, 6) 100 (Anm. 5) 94, 95, 96, 100 (Anm. 19, 20) 212 (Anm. 16, 22) 116, 117 (Anm. 1, 16), 159 212 (Anm. 13) 131, 143 (Anm. 13) 42 (Anm. 18), 127, 128 (Abb. 2) 27 (Anm. 2–4, 9, 16), 36, 42 (Anm. 23, 29), 113, 117 (Anm. 2), 143 (Anm. 18), 165 (Anm. 12, 19, 20, 22), 166 (Anm. 28), 167, 168, 170, 172, 173 (Anm. 3), 183, 189, 193 (Anm. 25), 194 (Anm. 44, 48) 177, 179 (Abb. 1), 183, 192 (Anm. 5), 193 (Anm. 21, 25) 53 (Anm. 1) 95, 96, 97, 100 (Anm. 21, 22, 24) 55 (Anm. 26) 144 (Anm. 33) 220 (Anm. 7) 33 198, 211 (Anm. 4) 217 (Abb. 1) 188, 188 (Abb. 2) 49, 50, 55 (Anm. 33) 213 (Anm. 35) 89 (Anm. 13) 128, 129 (Abb. 3) 27 (Anm. 13) 134, 145, 146, 147, 149, 161, 162, 164 (Anm. 2–7), 165 (Anm. 8–11), 178, 179 (Abb. 1), 184, 193 (Anm. 29), 194 (Anm. 43) 140, 144 (Anm. 36) 62 212 (Anm. 14) 117 (Anm. 9) 143 (Anm. 22) 96, 97, 97 (Abb. 3+4), 100 (Anm. 25, 26) 179 (Abb. 1) 127 19, 20, 27 (Anm. 15), 167, 170, 171, 172, 177, 178, 179 (Abb. 1), 192 (Anm. 6, 8, 12) 165 (Anm. 21) 104 (Abb. 1), 105 57 155 (Abb. 10, 11) 138 173 (Anm. 4)
Personenregister
D E F
Crary, Jonathan Crick, Odile Crookshank, Edgar March Crutzen, Paul Josef Cytowic, Richard E. Darwin, Charles Darwin, Erasmus Dawkins, Richard Delessert, Benjamin Delessert, Edouard Deleuze, Gilles Descartes, René Dewey, John Diderot, Denis Didi-Huberman, Georges Dilthey, Wilhelm Doi, Torakazu Doki, Hōryū Donat, Sebastian Dong, Qichang (jp. Tō Kishō) Duchâtel, Tanneguy Dumoutier, Pierre Marie Alexandre Dürer, Albrecht Dyck, Anthonis van Eddy, Arthur Jerome Ehrenfels, Christian von Einstein, Albert Eisenstein, Sergei El Greco Enzensberger, Hans Magnus Ettlinger, Leopold David Euler, Leonhard Fabriano, Jacopo da Fechner, Gustav Theodor
Fehrenbach, Frank Fenollosa, Ernest Ferdinand Philippe d'Orléans Fierlants, Edmond Fingerhut, Joerg Fish, Stanley Fleck, Ludwik Fleckner, Uwe Fleischer, Max Fleischer, Dave Förster, Richard Foucault, Michel Freedberg, David Friedländer, Saul Fries, Pascal Frijda, Nico Henri Fürnkäs, Josef
227
78 (Anm. 14) 163, 163 (Abb. 20) 156, 156 (Abb. 12), 166 (Anm. 36) 166 (Anm. 44) 179 (Abb. 1) 49, 132, 133, 153, 154, 154 (Abb. 9), 166 (Anm. 26), 171, 173 (Anm. 14) 50 137 92, 100 (Anm. 4) 92 103, 108 (Anm. 2) 18, 21, 25 113, 117 (Anm. 4) 198, 211 (Anm. 8) 37, 42 (Anm. 27, 28), 131, 143 (Anm. 13) 217 (Abb. 1), 220 (Anm. 2) 173 (Anm. 17) 133, 134, 134 (Abb. 9), 135, 135 (Abb. 11) 220 (Anm. 5) 130 91 94, 96 21, 51, 151, 151 (Abb. 5), 163, 165 (Anm. 18) 92, 93 129, 142 (Anm. 7, 8) 179 (Abb. 1), 187, 193 (Anm. 42) 178, 179 (Abb. 1), 181, 192 (Anm. 11) 52 48, 55 (Anm. 23) 215 56 (Anm. 43) 82 54 (Anm. 6) 114, 177, 178, 179 (Abb. 1), 182, 183, 192 (Anm. 3), 204, 212 (Anm. 19), 215, 217 (Abb. 1), 220 (Anm. 4) 179 (Abb. 1) 129 91 92, 93, 100 (Anm. 13, 14, 15) 117 (Anm. 3, 5, 14) 217 (Abb. 1) 79 56 (Anm. 42) 105 105 46, 54 (Anm. 5) 18, 27 (Anm. 10), 32, 62 177, 185, 192 (Anm. 7) 39, 40 183, 193 (Anm. 26) 208, 212 (Anm. 26), 213 (Anm. 35) 66 (Anm. 7)
228
Anhang
G
Gallori, Corinna Tania Gerhardt, Carl Immanuel Ghosh, Ranjan Gibson, James Jerome Ginzburg, Carlo Giovanni, Apollonio di Godfrey-Smith, Peter Goethe, Johann Wolfgang von
Goltzius, Hendrick Gombrich, Ernst Heinrich
H
Gordon, Peter Eli Greenberg, Clement Grevsmühl, Sebastian Guattari, Félix Gumbrecht, Hans Ulrich Gutiérrez de Wienken, Geraldine Haeckel, Ernst Halley, Edmund (auch Edmond) Halm, Peter Halstead, Beverly Hamada, Shōji Hanich, Julian (Bratu) Hansen, Miriam Hasegawa, Tōhaku Hegel, Georg Wilhelm Friedrich Heidegger, Martin Hein, Wolfgang-Hagen Heitzler, Magnus Hell, Stefan W. Hellmann, Gustav Helmholtz, Hermann von Hendrix, Marjorie Lee Hengge, Regine Herder, Johann Gottfried Hering, Ewald Herrmann, J. Berenike Hirschfeld, Christian Cay Lorenz Hocke, Gustav René Hoefnagel, Joris (dt. auch Georg) Hofmannsthal, Hugo von Hogarth, William Hogrebe, Wolfram Holtom, Daniel Clarence Hon'ami, Kōetsu Hönes, Hans Christian Höpfner, Felix Huber, Hans Dieter Huene, Stephan von Hufendiek, Rebekka Huizinga, Johan
165 (Anm. 16) 165 (Anm. 20) 41 (Anm. 2) 179 (Abb. 1), 191, 194 (Anm. 51) 27 (Anm. 7), 35, 42 (Anm. 21) 46 193 (Anm. 36) 33, 52, 69, 71, 72, 73, 74, 75, 77, 77 (Anm. 1–6), 78 (Anm. 15, 18–20, 22–27, 29), 153, 153 (Abb. 8), 198 147, 148 (Abb. 2) 19, 38, 41 (Anm. 11), 42 (Anm. 26), 54 (Anm. 11), 177, 179 (Abb. 1), 182, 192 (Anm. 3, 15) 164 (Anm. 1) 52, 72, 78 (Anm. 16) 85, 89 (Anm. 7) 103, 108 (Anm. 2) 31, 32, 35, 41 (Anm. 1, 5), 42 (Anm. 20) 173 (Anm. 7) 133 89 (Anm. 5) 54 (Anm. 20) 173 (Anm. 14) 135, 136, 136 (Abb. 12B) 212 (Anm. 28) 66 (Anm. 7) 130 127, 198, 211 (Anm. 5) 127, 141, 145 89 (Anm. 15) 84, 84 (Abb. 3) 160, 166 (Anm. 41) 89 (Anm. 5) 179 (Abb. 1) 165 (Anm. 14) 162, 162 (Abb. 19), 166 (Anm. 43) 33 48, 49, 50, 51, 55 (Anm. 26, 36, 38) 220 (Anm. 10) 19, 27 (Anm. 14) 173 (Anm. 10) 148, 149, 149 (Abb. 3) 143 (Anm. 19) 87, 145, 146, 146 (Abb. 1), 152, 153, 153 (Abb. 7), 154, 162, 163, 167 17, 27 (Anm. 8), 152, 165 (Anm. 23), 194 (Anm. 44) 173 (Anm. 18) 131 55 (Anm. 25) 77 (Anm. 7) 27 (Anm. 3) 179 (Abb. 1), 189 117 (Anm. 3) 33, 37
Personenregister
Humboldt, Alexander von
I
Hurttig, Marcus Andrew Huss, Bernhard Husserl, Edmund Imanishi, Kinji Inaga, Shigemi
J
Inami, Masahiko Ingensiep, Hans Werner Iser, Wolfgang Ito, Tiffany A. Itō, Jakuchū Itō, Kichinosuke Iwai, Toshio Izutsu, Toshihiko Jacobsen, Thomas Jain, Jyotindra Jakobson, Roman
K
Jay, Martin Jesberg, Paulgerd Jockers, Matthew L. Johnson, Mark Jolles, André Joseph, Steven Franklin Joyce, James Jung, Carl Gustav Kafka, Franz Kahneman, Daniel Kambara, Kenta Kandinsky, Wassily Kant, Immanuel Kany, Roland Kaplan, Louis Katsushika, Hokusai Kawai, Hayao Kawai, Masao Kekulé, August Kekulé, Reinhard Kepler, Johannes Kerscher, Gottfried Kesner, Ladislav Kivy, Peter Klee, Paul Klein, Christoph Kleinberg, Ethan Knobloch, Eberhard Koch, Robert
Kodaira, Keiichi
229
10, 22, 79, 80, 81 (Abb. 1A+B), 82, 83, 83 (Abb. 2), 84, 84 (Abb. 3), 85, 86, 86 (Abb. 5), 87, 88, 88 (Anm. 1, 3, 4), 89 (Anm. 5, 9–11, 14), 177, 178, 192 (Anm. 2) 55 (Anm. 35) 165 (Anm. 12) 179 (Abb. 1) 171, 173 (Anm. 14) 142 (Anm. 4, 5), 143 (Anm. 13, 23, 26, 28, 30), 144 (Anm. 31, 37, 42), 167, 170, 171, 172, 173 (Anm. 2, 15) 191, 194 (Anm. 49) 165 (Anm. 25) 217 (Abb. 1) 213 (Anm. 35) 24, 25 (Abb. 3), 168 (Abb. 1), 169 141 179 (Abb. 1) 136, 143 (Anm. 25) 117 (Anm. 11) 22 38, 202, 203, 204, 205, 210, 212 (Anm. 12, 17), 213 (Anm. 37), 215, 217 (Abb. 1), 220 (Anm. 7) 31, 41 (Anm. 1) 178, 192 (Anm. 9) 220 (Anm. 9) 179 (Abb. 1) 55 (Anm. 24) 100 (Anm. 11) 39 170 39 163, 164 (Abb. 22), 166 (Anm. 47) 110 129, 130 127, 146, 179 (Abb. 1), 197, 198, 200, 211 (Anm. 2, 10) 54 (Anm. 11, 14) 91, 100 (Anm. 1) 170 170, 171, 173 (Anm. 11) 173 (Anm. 14) 19 54 (Anm. 4) 75, 145 27 (Anm. 3) 179 (Abb. 1) 213 (Anm. 33) 163, 163 (Abb. 21), 166 (Anm. 45), 191 27 (Anm. 6) 41 (Anm. 2) 89 (Anm. 8) 123 (Taf. IV), 155, 155 (Abb. 10, 11), 156, 156 (Abb. 13), 157, 166 (Anm. 29–35, 37) 181
230
Anhang
L
Koffka, Kurt Köhler, Wolfgang Kokubun, Koichiro Korotkov, Eugene V. Krämer, Nicole C. Kraus, Karl Krauss, Rosalind Epstein Kraxenberger, Maria Krois, John Michael Kudō, Tetsumi Kuehnast, Milena Kues, Nikolaus von Kuhn, Dorothea Kühn, Simone Kūkai (auch Kōbō Daishi) Lacan, Ernest Lakoff, George Lamarck, Jean-Baptiste de Lamarre, Thomas Landsberg, Max Larsen, Jeff T. Larsen, Randy J. Latour, Bruno Lauer, Gerhard Lauring, Jon O. Leboutte, René Leder, Helmut Leeflang, Huigen Leibniz, Gottfried Wilhelm
M
Leighton, John Leonhard, Karin Lessing, Gotthold Ephraim Lesueur, Charles-Alexandre Lévi-Strauss, Claude Libet, Benjamin Ligozzi, Jacopo Lippi, Filippino Lipps, Theodor Lister, Gulielma Lohne, Johannes A. Löwy, Emanuel MacGregor, Neil Mach, Ernst Mahon, Bradford Z. Mainberger, Sabine Mandelkow, Karl Robert Manet, Édouard Marnette, Gaspard Marr, David Masuda, Takahito Matsui, Ryūgo
19, 179 (Abb. 1), 181, 212 (Anm. 21) 19, 179 (Abb. 1), 181 42 (Anm. 39, 40) 212 (Anm. 23) 213 (Anm. 33) 58 91, 131, 143 (Anm. 13) 213 (Anm. 36) 164 (Anm. 6), 179 (Abb. 1), 193 (Anm. 29) 137 212 (Anm. 27) 23, 27 (Anm. 17) 166 (Anm. 26) 191, 193 (Anm. 22), 194 (Anm. 50) 134 92, 93, 100 (Anm. 9, 10, 12) 179 (Abb. 1) 50 103, 108 (Anm. 3) 156 213 (Anm. 34) 213 (Anm. 35) 40, 41, 42 (Anm. 36, 37) 220 (Anm. 10) 192 (Anm. 4) 100 (Anm. 27) 16, 179 (Abb. 1), 193 (Anm. 33, 39) 165 (Anm. 13) 13, 17, 18, 21, 25, 151, 172, 178, 179 (Abb. 1), 182, 183, 187, 188, 188 (Abb. 2), 189, 190 (Abb. 4), 193 (Anm. 41), 194 (Anm. 47) 93, 100 (Anm. 16) 165 (Anm. 14) 52 158 (Abb. 14) 217 (Abb. 1) 188, 194 (Anm. 46) 150, 150 (Abb. 4), 152 47, 48, 52 129 122 (Taf. III), 133 (Abb. 8) 77 (Anm. 9) 55 (Anm. 26) 22 178, 179 (Abb. 1) 185, 193 (Anm. 30, 31) 55 (Anm. 34), 89 (Anm. 12) 165 (Anm. 25) 56 (Anm. 45) 99 183, 185, 192 (Anm. 18), 193 (Anm. 34, 35, 37, 42) 117 (Anm. 8) 143 (Anm. 17)
Personenregister
Matthaei, Rupprecht Mattner, Cosima Mayall, John Jabez Edwin Mayer, August Liebmann McCauley, Anne McNeill Whistler, James Abbott Memling, Hans Menninghaus, Winfried
Merian, Maria Sybilla Merleau-Ponty, Maurice Meyer, Richard Meyer-Sickendiek, Burkhard Michaelis, Adolf Michelangelo Miki, Junko Minakata, Kumagusu
N O P
Morelli, Giovanni Mori, Masahiro Morse, Anne Nishimura Müller, Susanne Müller-Sievers, Helmut Münch, Ragnhild Muqi/Muxi (jp. Mokkei) Murakami, Takashi Musch, Jochen Nadal, Marcos Nagasawa, Rosetsu Nakamura, Hajime Nakamura, Konoyu Nake, Frieder Nancy, Jean-Luc Nand, Kristina Natsume, Kinnosuke/Sōseki Newton, Isaac Nietzsche, Friedrich Nishida, Kitarō No-usu, Kōsetsu Nocke, Thomas Noë, Alva Obermeier, Christian Ogata, Kōrin Okada, Atsushi Okakura, Tenshin (gebürtig Kakuzō) Opie, Julian Otabe, Tanehisa Owens, Susan Paik, Nam June Panofsky, Erwin Parzinger, Hermann Pater, Walter Horatio
231
166 (Anm. 26) 220 (Anm. 10) 92, 93 55 (Anm. 23) 100 (Anm. 2, 17) 129, 136, 142 (Anm. 5) 93 153, 166 (Anm. 27), 179 (Abb. 1), 182, 192 (Anm. 14, 17), 211 (Anm. 11), 212 (Anm. 20, 22, 24, 27), 213 (Anm. 29–32) 151, 152 (Abb. 6), 165 (Anm. 21) 179 (Abb. 1), 193 (Anm. 42) 56 (Anm. 50) 220 (Anm. 5) 54 (Anm. 4) 138, 139, 185 144 (Anm. 37) 122 (Taf. III), 132, 133, 133 (Abb. 8), 134, 134 (Abb. 9), 135, 135 (Abb. 10, 11), 137, 139, 167 17, 27 (Anm. 7), 127 108 (Anm. 4) 173 (Anm. 8) 55 (Anm. 25) 212 (Anm. 11) 166 (Anm. 32) 129 170, 173 (Anm. 9) 213 (Anm. 35) 117 (Anm. 12) 169 135 173 (Anm. 11) 179 (Abb. 1) 91 117 (Anm. 15) 137, 138, 139 69, 70, 71, 72, 73, 75, 76, 77, 77 (Anm. 8), 78 (Anm. 10, 32–36, 39, 40), 178 33, 53, 56 (Anm. 50), 198, 199, 211 (Anm. 7) 171, 173 (Anm. 13) 141 84, 84 (Abb. 3), 89 (Anm. 6) 179 (Abb. 1) 212 (Anm. 22) 24, 25 (Abb. 4A+B), 121 (Taf. I), 131, 131 (Abb. 7) 24, 73, 78 (Anm. 17, 21, 28, 31) 127, 132, 139, 141, 142, 144 (Anm. 34, 35) 94 143 (Anm. 15), 193 (Anm. 40) 165 (Anm. 21) 136, 179 (Abb. 1) 36, 78 (Anm. 13), 116, 138, 144 (Anm. 32) 22 138
232
Anhang
Peabody, George Peirce, Charles Sanders Pelowski, Matthew Pfisterer, Ulrich Pfotenhauer, Helmut Picasso, Pablo Pinotti, Andrea Pisanello, Antonio Plateau, Joseph Plinius der Ältere Poeppel, David Pollock, Jackson Pörksen, Uwe Portmann, Adolf Pradier, James Prinz, Wolfgang Proust, Marcel R Raimondi, Marcantonio Rampley, Matthew Raphael Reber, Rolf Reitsma, Ella Reynolds, Joshua Rijn, Rembrandt van Rosenberg, Raphael Rosenfield, John Max Rosenkranz, Karl Roth, Martin Rubens, Peter Paul Ruisdael (Ruysdael), Salomon van Runia, Eelco Rusch, Gebhard Ruskin, John S Sakamoto, Yasuhiro Sassi, Maria Michela Saxl, Fritz Schaaf, Larry J. Schacter, Daniel Lawrence Schäffner, Wolfgang Schlegel, Friedrich Schlich, Thomas Schmidt, Siegfried Johannes Schneider, Birgit Schoell-Glass, Charlotte Schultz, Gustav Schumann, Friedrich Schwamborn, Klaus Schwemmer, Oswald Schwilden, Tristan Semon, Richard Wolfgang Serres, Étienne Severi, Carlo
92 217 (Abb. 1) 193 (Anm. 33) 55 (Anm. 25) 56 (Anm. 50) 191 55 (Anm. 32) 47 190 54 (Anm. 10) 179 (Abb. 1), 193 (Anm. 21) 135, 136, 136 (Abb. 1A), 185 165 (Anm. 25) 165 (Anm. 25) 91 27 (Anm. 12) 39 92 55 (Anm. 41) 36 212 (Anm. 18) 165 (Anm. 21) 94 94 16, 27 (Anm. 6), 179 (Abb. 1) 173 (Anm. 4) 198, 211 (Anm. 6) 18 93 116 (Abb. 1a) 31, 41 (Anm. 1) 220 (Anm. 6) 136 27 (Anm. 1), 192 (Anm. 18) 54 (Anm. 11) 37, 55 (Anm. 23) 100 (Anm. 8) 55 (Anm. 37) 20, 179 (Abb. 1) 198 166 (Anm. 32, 34) 215, 217 (Abb. 1), 220, 220 (Anm. 1) 88 (Anm. 1), 89 (Anm. 5) 42 (Anm. 25) 27 (Anm. 11) 179 (Abb. 1) 159, 166 (Anm. 39, 40) 165 (Anm. 10) 100 (Anm. 11) 51, 55 (Anm. 37) 96, 100 (Anm. 23) 37, 38, 39, 40, 41, 42 (Anm. 29, 30, 35)
Personenregister
T U V
Shakespeare, William Shannon, Claude Shiota, Chiharu Singer, Wolf Joachim Šklovskij, Viktor Borisovič Snow, Charles Percy Soga, Shōhaku Solso, Robert Sono, Raizō Sontag, Susan Stafford, Barbara Maria Steinberg, Marc Sticker, Bernhard Rudolf Stockhausen, Karlheinz Stockwell, Peter Swerdlow, Noel Mark Symonds, John Addington Sywenky, Irene Tagore, Rabindranath Takemine, Yoshikazu Talbot, William Henry Fox Tanaka, Atsuko Tanaka, Jun Tanka (ch. Dan Xia) Tasso, Torquato Taut, Bruno Tawaraya, Sōtatsu Teja Bach, Friedrich Tezuka, Osamu Thompson, Charles Thurston Tokaji, Akihiko Tötösy de Zepetnek, Steven Troll, Wilhelm Tsuji, Nobuo Tsur, Reuven Tsurumi, Kazuko Tsuzumi (auch Tsudzumi), Tsuneyoshi Tucker, John A. Uccello, Paolo Uexküll, Jakob Johann von Umiltà, Maria Alessandra Unkei Usener, Hermann Carl Utagawa, Hiroshige Varchi, Benedetto Vasari, Giorgio Velázquez, Diego Venturi, Adolfo Vergil Vessel, Edward A. Vico, Giambattista Vidal, Fernando
233
198 179 (Abb. 1) 137 18, 188, 194 (Anm. 46) 217 (Abb. 1) 217 (Abb. 1) 168 f., 170 193 (Anm. 33) 129, 142 (Anm. 8) 91 177, 179 (Abb. 1), 183, 191, 192 (Anm. 5), 193 (Anm. 24), 194 (Anm. 52) 108 (Anm. 1) 77 (Anm. 9) 189 220 (Anm. 11) 78 (Anm. 38) 138 220 (Anm. 3) 141 27 (Anm. 1) 91, 100 (Anm. 3) 136 27 (Anm. 1), 142 (Anm. 3), 144 (Anm. 39) 139, 140, 141, 144 (Anm. 35) 149, 165 (Anm. 15) 141, 144 (Anm. 38) 128, 130 (Abb. 4), 131, 131 (Abb. 6) 165 (Anm. 17) 103 92 207, 212 (Anm. 25) 220 (Anm. 3) 166 (Anm. 26) 168, 170, 173 (Anm. 4) 220 (Anm. 12) 135 127, 132, 139, 143 (Anm. 14, 16), 171, 173 (Anm. 15) 173 (Anm. 16) 36 145, 147, 171 193 (Anm. 32) 138, 139 46, 47, 48, 50, 51, 54 (Anm. 11–14), 55 (Anm. 27, 39) 116 (Abb. 1) 138 138 94 47, 54 (Anm. 17) 44, 46, 54 (Anm. 21) 184, 193 (Anm. 27) 47 193 (Anm. 20)
234
Anhang
W
Viehoff, Reinhold Vischer, Friedrich Theodor Vischer, Robert Vygotsky, Lew Semjonowitsch Wagner, Valentin Warburg, Aby
Warnke, Martin Wassiliwizky, Eugen Watson, James Dewey Wehr, Christian Weissman, Tamily A. Wellbery, David E. Werner, Heinz Wertheimer, Max
Y Z
Wessels, Antje Wettengl, Kurt White, Hayden Wiesing, Lambert Winckelmann, Johann Joachim Wind, Edgar Woldt, Isabella Wolf, Gerhard Wolf, Lothar Wölfflin, Heinrich Woodward, David A. Wundt, Wilhelm Maximilian Wuttke, Dieter Yanabu, Akira Yashiro, Yukio Yura, Kimiyoshi Zeki, Semir Zuckert, Rachel
220 (Anm. 6) 35, 53, 56 (Anm. 46) 50, 55 (Anm. 34) 179 (Abb. 1) 212 (Anm. 15) 14, 19, 21, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 41, 41 (Anm. 9–11), 42 (Anm. 12, 13, 15, 16, 18, 19, 22, 24), 43, 44 (Abb. 1), 45, 45 (Abb. 2), 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 53 (Anm. 1), 54 (Anm. 2–4, 7, 11, 14, 19), 55 (Anm. 23–25, 31, 32, 34), 55 f. (Anm. 41), 56 (Anm. 45, 50), 127, 142, 145, 147, 170, 173 (Anm. 6), 179 (Abb. 1), 182, 183, 192 (Anm. 16) 53 (Anm. 1) 212 (Anm. 28), 213 (Anm. 34) 166 (Anm. 46) 165 (Anm. 12) 166 (Anm. 42) 211 (Anm. 1) 179 (Abb. 1) 19, 178, 179 (Abb. 1), 181, 182, 186, 187, 191, 192 (Anm. 10, 11, 13), 193 (Anm. 37, 42), 212 (Anm. 21) 54 (Anm. 11), 55 (Anm. 40) 165 (Anm. 21) 31, 32, 39, 40, 41, 42 (Anm. 32–34, 38) 194 (Anm. 45) 52 42 (Anm. 19), 50, 55 (Anm. 34) 56 (Anm. 42) 165 (Anm. 16) 166 (Anm. 26) 23, 24, 27 (Anm. 18), 113, 117 (Anm. 6, 7) 92, 93 (Abb. 1) 182, 217 (Abb. 1) 56 (Anm. 44) 173 (Anm. 16) 127, 128, 128 (Abb. 1), 129, 130, 132, 139, 142 (Anm. 9), 143 (Anm. 11, 24) 168, 173 (Anm. 4) 179 (Abb. 1), 183, 192 (Anm. 4), 193 (Anm. 19) 212 (Anm. 11)
Bildnachweis
Bildnachweis Titelbild Digital image courtesy of the Getty’s Open Content Program.
Interview Abb. 1: P.-J. Texier © MPK/WTAP; Abb. 2: Universität Wien/René Steyer, https://scilog.fwf.ac.at/kultur-gesellschaft/ 4173/im-auge-des-betrachters (Stand: 15.12.2019); Abb. 3, 4a, 4b: The Metropolitan Museum of Art (CC0); Abb. 5: © SONY.
Targia Abb. 1: Martin Warnke, Claudia Brink (Hg.): Aby Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne. Gesammelte Schriften. Studienausgabe, Bd. II, 1, Berlin 2003, S. 75; Abb. 2: ebd., S. 25.
Hamanaka Abb. 1: J. A. Lohne: Isaac Newton. The Rise of a Scientist 1661–1671. In: Notes and Records of the Royal Society of London, 1965, 20, zwischen S. 126 u. 127; Abb. 2: Johann Wolfgang Goethe: Erklärung der zu Goethe’s Farbenlehre gehörigen Tafeln, Tübingen 1810, Taf. V; Abb. 3 u. 4: Isaac Newton: Opticks, or, a Treatise of the Reflections, Refractions, Inflections and Colours of Light, London 1704, Nachdruck: Brüssel 1966, 1. Buch, 1. Teil, Taf. III, Fig. 13.
Schneider Abb. 1a: © Staatsbibliothek zu Berlin – PK; Abb. 1b: Wilhelm Meinardus: Die Entwicklung der Karten der Jahresisothermen von Alexander von Humboldt bis auf Heinrich Wilhelm Dove (1899). In: Wolfgang Eriksen (Hg.): Klimageographie, Darmstadt 1985, S. 142–182; Abb. 2: Alexandre de Humboldt: Des lignes isothermes de la distribution de la chaleur sur le globe. In: Mémoires de physique, et de chimie, de la Société d’Arcueil, 1817, 3, © Staatsbibliothek zu Berlin – PK; Abb. 3: Autor, © Birgit Schneider, Thomas Nocke; Abb. 4: Mark Monmonier: Air apparent. How Meteorologists learned to Map, Predict, and Dramatize Weather, Chicago/London 1999, S. 51, gemeinfrei; Abb. 5: Autor, © Birgit Schneider, Thomas Nocke.
Hashimoto Fig. 1: Photographic Notes, May 15th, 1860; Fig. 2: Voyage au pôle Sud et dans l’Océanie sur les corvettes L’Astrolabe et la Zélée exécuté par ordre du roi pendant les années 1837–1840 sous le commandement de M. Dumont d’Urville. Atlas d’histoire naturelle. Anthropologie, Paris 1854, pl. 25 bis; Fig. 3, 4: A. Bertillon, A. Chervin: Anthropologie métrique, Paris 1909, pp. 162–163; Fig. 5: ebd., p. 185.
Ishioka Figs. 1–7: Yasuhiro Sakamoto, Jun Tanaka, Yoshikazu Takemine (Hg.): Image Studies Today. From Aby Warburg’s Mnemosyne Atlas to Neurological Bildwissenschaft, Tokio 2019, pp. 157, 160, 163, 164, 166.
Ando und Inami Figs. 1–2: © AXEREAL Co., Ltd.
Fingerhut Abb. 1: Salomon van Ruisdael: A View of Egmond aan Zee, 1640, Staatsgalerie, Stuttgart, https://commons.wikimedia. org/wiki/File:Salomon_van_Ruysdael_-_View_of_Egmond_aan_Zee_-_WGA20562.jpg (Stand: 23.04.2019); Abb. 2: Utagawa Hiroshige: Shiba shinmei keidai, ca. 1833–1838, Museum of Fine Arts, Boston, https://www.mfa.org/ collections/object/precincts-of-the-shiba-shinmei-shrine-shiba-shinmei-keidai-from-the-series-famous-places-in-theeastern-capital-tôto-meisho-177577 (Stand: 23.04.2019).
Farbtafeln Taf. I: The Metropolitan Museum of Art (CC0); Taf. II: Johann Wolfgang Goethe: Erklärung der zu Goethe’s Farbenlehre gehörigen Tafeln, Tübingen 1810, Taf. V; Taf. III: © Minakata Kumagusu Archives; Taf. IV: Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten 1906, 54, Taf. I.
Inaga Abb. 1: Joseph Connors, Louis A. Waldman (Hg.): Bernard Berenson. Formation and Heritage. Cambridge, MA 2014, S. 228; Abb. 2–4, 6: Wikimedia Commons (Gemeinfrei); Abb. 5: Cultural Heritage Online, https://bunka.nii.ac.jp/
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Anhang
heritages/heritagebig/218510/1/1 (Stand: 12.01.2020); Abb. 7: Curatorial Division, Nezu Museum (Hg.): Secret of Kōrin’s Design, Tokio 2015, S. 91; Abb. 8, 11: © Minakata Kumagusu Archives; Abb. 9–10: Ryugo Matsui: Kumagusu no Mori. Minakata Kumagusu no mita Uchū, hg. v. Watarium Art Museum, Tokio 2007, S. 78 u. 88; Abb. 12a, b: Yasuhiro Sakamoto, Jun Tanaka, Yoshikazu Takemine (Hg.): Image Studies Today. From Aby Warburg’s Mnemosyne Atlas to Neurological Bildwissenschaft, Tokio 2019, S. 287.
Bredekamp Abb. 1: William Hogarth: The Analysis of Beauty, London 1753, Titelseite; Abb. 2–5, 9, 12, 19–20: Yasuhiro Sakamoto, Jun Tanaka, Yoshikazu Takemine (Hg.): Image Studies Today. From Aby Warburg’s Mnemosyne Atlas to Neurological Bildwissenschaft, Tokio 2019, S. 367–401; Abb. 6: David Attenborough u. a. (Hg.): Amazing Rare Things. The Art of Natural History in the Age of Discovery, London 2007, S. 147; Abb. 7: William Hogarth: The Analysis of Beauty, London 1753, Taf. 1.; Abb. 8: Uwe Pörksen: Raumzeit. Goethes Zeitbegriff zwischen Linné und Darwin aufgrund seiner zeichnerischen und sprachlichen Darstellung geologischer und botanischer Ideen. In: Peter Matussek (Hg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur, München 1998, S. 115; Abb. 10: Ferdinand Cohn: Beiträge zur Biologie der Pflanzen, Bd. 2, Heft 2, Norderstedt 1876, Taf. XI, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin; Abb. 11: Ferdinand Cohn: Beiträge zur Biologie der Pflanzen, Bd. 3, Heft 3, Norderstedt 1877, Taf. XVI, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin; Abb. 13: Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten, 1906, 54, Taf. I; Abb. 14: Jan Altmann: Zeichnen als beobachten. Die Bildwerke der Baudin-Expedition (1800–1804). In: Bénédicte Savoy, Michael Thimann, Gregor Wedekind (Hg.): Ars et Scientifica. Schriften zur Kunstwissenschaft, Band 1, Berlin 2012, Taf. XX (beschnitten); Abb. 15–16: Klaus Schwamborn: Farben als Proteine. Wie aus Bildern neue Organismen werden. In: Horst Bredekamp, Matthias Bruhn, Gabriele Werner (Hg.): Bildwelten des Wissens 2006, 4 (1); Abb. 17: Alison Abbott: Microscopic marvels. The glorious Resolution. In: Nature, 2009, Vol. 459, Issue 7247, S. 638; Abb. 18: Tamily A. Weissman, Jeff R. Lichtman, Jean W. Livet, Joshua Sanes: Generating and Imaging Multicolor Brainbow Mice. In: Cold Spring Harbor Protocols, Juli 2011, S. 764, Abb. 2b; Abb. 21: © Universitätsbibliothek Heidelberg (CC) / Paul Klee: Pädagogisches Skizzenbuch (Bauhausbuch 2), München 1925, S. 6, Abb. 1–3 (Detail); Abb. 22: Daniel Kahneman: Thinking, Fast and Slow, London 2011, Buchcover.
Jäger Abb. 1: Yasuhiro Sato: Motto Shiritai Itō Jakuchū. Shōgai to Sakuhin, Tokio 2011, S. 70; Abb. 2: CC0 1.0.
Sakamoto Abb. 1, 3–4: © Yasuhiro Sakamoto; Abb 2: Horst Bredekamp: Die Fenster der Monade, Berlin 2010, S. 18.
Knoop und Kraxenberger Abb. 1: Autorinnen (gestaltet von Raha Golestani).