Bilder vom Gehirn: Bildwissenschaftliche Zugänge zum Gehirn als Seelenorgan 9783050062426, 9783050051185

Aus wissenschaftshistorischer Sicht lässt sich feststellen, dass eine Erforschung des menschlichen Gehirns und seiner Fu

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Bilder vom Gehirn: Bildwissenschaftliche Zugänge zum Gehirn als Seelenorgan
 9783050062426, 9783050051185

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BILDER VOM GEHIRN

W I BKE L ARIN K

B I LDER VOM G E HIRN Bildwissenschaftliche Zugänge zum Gehirn als Seelenorgan

Akademie Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und der Leuphana Universität Lüneburg. Abbildung auf Einband und Frontispitz: Tab. 8 aus Anatomia humani corporis, Bidloo (1685). Zugleich: Universität Lüneburg, Dissertation, 2008

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar.

© 2011 Akademie Verlag GmbH, Berlin Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de

Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für Vervielf ältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.

Einbandgestaltung, Layout, Satz: Petra Florath, Berlin Druck und Bindung: DZA Druckerei zu Altenburg GmbH, Altenburg Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-05-005118-5 eISBN 978-3-05-006242-6

IN H A LT

Einführung

IX

I. A NATOM I E DER BILDER

1

Von lebendigen Bildern und toten Körpern

2

Realität, Wahrheit und Wirklichkeit anatomischer Bilder

9

Warum ein Hirnbild nicht notwendig eine Abbildung ist

14

Illustration, Tafel, Figur

17

Das anatomische Bild als Gegenstand der Bildwissenschaften

19

II. W ISSENSCH A FTLICH E ER K EN N TN IS I M BILD

23

Beobachtung und Anschauung als wissenschaftliche Methoden

28

Der anatomische Leib – Von der Anschauung zur bildlichen Darstellung

35

Zur Funktion naturwissenschaftlicher Bilder am Beispiel der Anatomie

59

III. A BBILDU NGSST R ATEGI EN DER HIR N FORSCH U NG IN HISTOR ISCH ER PERSPEKTI V E

97

Anatomie und Bild

98

Hirnforschung und Hirnbild

109

Frühe Hirnforschung

112

Hic anima est – Die mittelalterliche Zelldoktrin im frühen Buchdruck

120

VI

I N H A LT

Leonardos Gehirn – Innerhalb der Zwiebelschichten

136

Transition – Berengario und Dryander

165

Abgekupfert – Andreas Vesal und seine Zeitgenossen

186

Commercium animae et corporis

240

Descartes, Willis und Steno

242

Ein kartesianisches Jahrhundert?

281

Auf klärung beginnt im Kopf

325

Exkurs: Physische Anthropologie, vergleichende Anatomie und Physiognomik als Wissenschaften vom Menschen

364

»Über diese Gegend aber ist man gar nicht einig« – Hirnbilder zwischen Seelenorgan und Phrenologie

391

Form Follows Function – Soemmerrings Hirnschnitt

393

In Galls Schädel – Vom Organ der Seele zu den Seelenorganen

409

I V. IST N EU RO -I M AGING CY BER PH R ENOLOGI E ? Philosophische und kulturwissenschaftliche Debatten um zeitgenössische Hirnforschung und ihre Bilder

431

SCH LUSS

449

FA R BTA FELN

457

A N H A NG

473

Übersicht der verschiedenen Hirnansichten und Benennung einzelner Teile

475

Zeitleiste der verwendeten Ausgaben anatomischer Werke

479

Literatur

483

Personenregister

513

Farbtafel- und Bildnachweis

519

Für Sabine 1944–2006 und Millicent *2006

Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön. So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn. Matthias Claudius, 1773

EIN F Ü H RU NG

Entwurf bleibt immer ein jedes Werk, welches über den Wohnplatz unserer Seele geschrieben werden kann. Johann Christoph Andreas Mayer, 1779

Wie anders würden die Gemälde von den künftigen Aufenthaltsorten der Seele sich gestaltet haben, hätte man geglaubt, es gäbe für sie überhaupt keine räumlichen Entfernungen wie keine Raumerfüllung, weil sie nicht körperlich sei. Johann Heinrich Ferdinand von Autenrieth, 1836

»Was weißt du denn von Gehirnen?« fragte Onno. »Das ist meine Spezialität.« »Ich habe einmal Bilder davon gesehen.« Harry Mulisch, 2003

Das Gehirn ist zur Ikone geworden. Bilder vom menschlichen Zentralorgan dringen in alle Lebensbereiche vor und gewinnen ständig an Gewicht. Die Diskussion um ihre ästhetische Natur und Fähigkeit zur Bedeutungsübertragung ist im vollen Gange. Hirnforschung, soweit sie sich zurückverfolgen lässt, war immer auch ein philosophisches Anliegen, stets von der Hoffnung begleitet, dass der menschliche Geist durch sie seine eigenen Voraussetzungen erfassen könnte.1 Auf das Bild in der Hirnforschung trifft dies im Besonderen zu. Das Organ, das Bedingung für seine eigene Abbildung ist, stellt Bildwissenschaftler und Hirnforscher vor eine anspruchsvolle Aufgabe. In der Vergangenheit wurde die Erforschung der Hirnfunktionen weitgehend mit der Bestimmung des Ortes einer menschlichen Seele im Gehirn gleichgesetzt. In der vorliegenden Arbeit wird die bildliche Lokalisation der Seele in verschiedenen cerebralen Einheiten nachvollzogen. An diesem wissenschaftshistorischen Beispiel zeige ich, inwiefern sich geistes- und naturwissenschaftliche Theorien zu Hirnfunktion und Seele in die Bilder des menschlichen Gehirns eingeschrieben haben: von den Drucken der ersten anatomischen Atlanten um 1500 bis hin zu Bildern des frühen 19. Jahrhunderts. 1

Vgl. Oeser (2002), S. 11.

X

EINFÜHRUNG

Der Frage nach den Funktionen von Bildern, die in einem wissenschaftlichen Kontext erscheinen, muss zunächst die allgemeine Problematik zugrunde gelegt werden, ob und inwiefern Bilder als Träger von Wissen fungieren können, ob und wie sie an der Produktion von Wissen beteiligt sind. Es gilt, folgende Aspekte am Beispiel von Bildern (aus) der Hirnforschung genauer zu untersuchen: das Verhältnis von Bild und Wissensaspekt, die Möglichkeit einer Repräsentation von Wissen in Bildern und die Generierung von Wissen durch Bilder. Ich habe das Gehirn als Seelenorgan zum Thema genommen, da dieses Phänomen, meist unter dem Begriff Bewusstsein, die Naturwissenschaften heute mehr denn je umtreibt. Das Selbstverständnis, mit dem in den Naturwissenschaften mit Bildern gearbeitet, Aussagen getroffen, ja Beweise erbracht werden, ist aus geisteswissenschaftlicher Sicht problematisch. Es hat den Anschein, dass die Beweiskraft von Bildern in den Naturwissenschaften selten angezweifelt wird. Aber gerade an dem Punkt, wo diese Bilder Aussagen sogar über das Unsichtbare und Metaphysische treffen wollen, sollte ihre Rolle hinterfragt werden. Bei Gehirnbildern, die auf ein möglicherweise ebenso unsicht- wie unsagbares Dahinter verweisen, erscheint es mir besonders notwendig, mit bildwissenschaftlicher Perspektive, Faktizität anzuzweifeln bzw. die Bedingungen der Bildgenerierung und die jeweiligen Kontexte von Bildern mitzudenken. Der tradierte Begriff vom Seelenorgan ist aus diesem Diskurs nicht wegzudenken, weil sich hierin die Selbstverständlichkeit ausdrückt, mit der Wissenschaftler seit Jahrhunderten die Seele oder den Geist materiell verorten. Am ebenso interessanten wie voraussetzungsvollen Forschungsfeld Seelenorgan wird besonders deutlich, dass beim Versuch, Wirklichkeit abzubilden, vor allem Realität konstruiert wird. Die Bildwissenschaften sind bisher eher in der Thesenbildung tätig geworden, haben jedoch bei weitem noch nicht für alle Bildkontexte Arbeitsmethoden oder Analyseinstrumente entworfen. Eine Analyse der Bildstrukturen, wie sie in diesem Band vorliegt, ist von den Naturwissenschaften selbst nicht zu liefern. Sie wird aber im Sinne einer sich ständig erweiternden Bildöffentlichkeit in Zukunft eine immer größere Rolle spielen. Ziel dieses Buches ist es, das naturwissenschaftliche Bild bildwissenschaftlich einzuordnen. Zu diesem Zweck werden Bildfunktionen entwickelt und in der Anwendung erprobt. Am Beispiel des Gehirns soll mit Hilfe dieser Methode der Kern wissenschaftlicher Bildlichkeit analysiert werden. Die ontologische Frage ›Was ist ein Bild?‹ wurde oft gestellt und wohl nie abschließend beantwortet. Da sie einer Bestimmung anatomischer Bilder vorgängig ist, werden im ersten Kapitel Ansätze verschiedener Bildtheorien vergegenwärtigt und zu Bildbegriffen der Anatomie sowie zu Körperbildern in Bezug gesetzt. Wenn hier von wissenschaftlichen Bildern die Rede ist, sind damit solche Bilder angesprochen, die in naturwissenschaftlichem Zusammenhang publiziert wurden oder werden. Allerdings, so wird zu zeigen sein, lässt sich eine Trennung von sciences und humanities nicht aufrechterhalten.2 2

Dazu vgl. auch Breidbach (2005), S. 183ff.

EINFÜHRUNG

Zwischen den Polen ästhetischer und wissenschaftlicher Wahrnehmung können anatomische Bilder sowohl im Kunstkontext als auch im Kontext der Naturwissenschaften verortet und interpretiert werden. In Letzterem scheint der Anspruch an Objektivität und Realitätsnähe ästhetische Kategorien wenn nicht auszuschließen, so doch zur Nebensache zu erklären. Mir geht es darum, innerhalb der von Gottfried Boehm durch den Begriff des iconic turn entfachten Bildwissenschaftsdebatte Kategorien zu finden, anhand derer sich Bilder oder Abbildungen vom Inneren des Menschen vergleichen lassen. Das zweite Kapitel wendet sich dem Einsatz von Bildern in der Geschichte der Naturwissenschaften zu. Es thematisiert zunächst die Anschauung als Methode wissenschaftlicher Wahrnehmung. Goethes Diktum, wonach das Sehende das Absolute ist, betont ein Primat des Auges, das dem „lebendigen Anschaun“3 der Natur und ihrer Phänomene zugrunde liegt. Ähnliche Aussagen finden sich schon bei Leonardo da Vinci, der sich zeichnend die Welt aneignete. Sein anatomisches Werk ist beispielhaft dafür, wie der Prozess von der Anschauung zur bildlichen Darstellung abläuft. Ich gehe davon aus, dass im Rahmen der Naturwissenschaften erstellte und verwendete Bilder immer eine oder mehrere, oft ineinander greifende Funktionen haben. Als Beitrag zu einer bildwissenschaftlichen Methodik habe ich mögliche Bildfunktionen ermittelt und analysiert. Ziel ist, die Art, wie Bilder Wissen erzeugen, demonstrieren, dokumentieren, vermitteln, organisieren, normieren und kommunizieren, aufzuzeigen sowie die verschiedenen Bereiche, in denen dies geschieht, näher zu bestimmen. Im dritten Kapitel wird die Bedeutung des Gehirns als Seelenorgan oder Träger eines solchen im Verlauf historischer anatomischer Forschung beschrieben. Anhand der seit dem 16. Jahrhundert sich ständig vervielfachenden hirnanatomischen Bilderzeugnisse wird nachvollzogen, ob und wie sich der jeweils zeitgenössische Forschungsstand des Verhältnisses von Gehirn und Seele bildlich niederschlug. Die sich entwickelnde und verändernde Ikonographie des menschlichen Gehirns und die damit verbundenen Theorien von Seele und Bewusstsein werden beschrieben und miteinander verknüpft. Obwohl aus der Antike kaum Abbildungen des Gehirns überliefert sind, vollziehe ich die Entwicklung der Hirnforschung von ihren Anfängen an nach, um die wiederkehrende Frage von der Verortung des Geistigen bzw. der Seele im Gehirn als Grundlage für eine neuzeitliche Hirnforschung herauszuarbeiten. Den ersten relevanten Bezugspunkt bildet dabei die aristotelische Theorie, obwohl diese den Körper noch kardiozentristisch betrachtet. Der in Griechenland etwa im 6. Jahrhundert v. Chr. auf kommende Cephalozentrismus bedeutete eine Wende und begründete das immense Interesse am menschlichen Gehirn und an seinen Funktionen, das bis heute besteht. Der Kanon klassischer medizinischer Lehren, besonders der Galens aus dem 2. Jahrhundert, beeinf lusste anatomische Theorie und Praxis weit 3

Goethe (1962a), S. 9.

XI

XII

EINFÜHRUNG

bis in die Neuzeit. Das Modell der galenschen Säftelehre und der im Mittelalter entwickelten Zelldoktrin machte alle seelischen, geistigen und motorischen Vorgänge sowie die Sinnesleistungen des Menschen und ihren Ausgangspunkt im Gehirn erklärbar. Dadurch wurde die praktische Sektion im Mittelalter obsolet. Die mittelalterliche Zellenlehre beruht auf einer Synthese aristotelischer Erkenntnistheorie mit den anatomisch-physiologischen Studien Galens. Als Zellen bezeichnete man die schematische Darstellung der Hirnkammern (Ventrikel), die mit Bedeutungen versehen hintereinander geschaltet waren. Anhand dieses Prinzips konnten Prozesse cerebraler Verarbeitung verdeutlicht werden. Ihre Grundprinzipien und Begriffsbildung verloren bis ins 18. Jahrhundert hinein nie ganz an Bedeutung. Die im Rahmen dieser Lehre entstandenen Bilder wurden in den Druckwerken des ausgehenden 15. Jahrhunderts reproduziert. Sie markieren den Ausgangspunkt für die in dieser Arbeit nachvollzogene virtuelle Seelenwanderung. Im Übergang zur weiterentwickelten Lehre von den Hirnventrikeln standen Anatomen wie Leonardo da Vinci, Berengario da Carpi oder Andreas Vesalius, die durch eigene Sektion neue Erkenntnisse sammelten. Nach Erfindung des Buchdrucks konnten diese auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Mit der Bestimmung von Form und Größe der Hirnkammern vollzog Leonardo als einer der ersten den Schritt von Darstellungen des mittelalterlichen Konzepts der Gehirnfunktion zum anatomischen Hirnbild der Neuzeit. Zeichnerisch verschränkte er Gehirnanatomie und Physiologie, versuchte das Gehirn bei der Arbeit zu begreifen. Nicht nur in den Darstellungsweisen des Gehirns, sondern auch in der steigenden Anzahl von Gehirnbildern zeichnete sich im 16. Jahrhundert mit der Wiederaufnahme der Sektion menschlicher Körper und der Möglichkeit, neue Abbildungstypen mittels des Buchdrucks zu verbreiten, ein dramatischer Wandel ab. Vesals anatomisches Großwerk, De Humani corporis fabrica (1543), wirkte hinsichtlich seiner Holzschnitte, der Typographie und der Gestaltung lange Zeit stilbildend. Die sehr umfassende Rezeption der Fabrica mag ein Grund dafür sein, dass Leistungen der Zeitgenossen und Sukzessoren Vesals weniger gewürdigt wurden. Wie Vesal war auch der französische Anatom Charles Estienne ein Advokat für die eigenhändig durchgeführte Sektion. Der Erfolg seines Werks De dissectione partium corporis humani (1545) konnte sich allerdings mit dem der Fabrica nicht messen. Dies ist gerade auch in Bezug auf die kleinformatigen Hirndarstellungen der Fall. Dagegen wurde dem Gehirn in zwei zuvor publizierten Werken, der Isagogae breves (1522) des Jacopo Berengario da Carpi und der von Johannes Dryander herausgegebenen Anatomia mundini (1541) mehr Raum gegeben. Im Gegensatz zu Estienne setzten beide nicht auf ganzformatige Körperdarstellungen, sondern zeigten das Gehirn als Teil des Kopfes oder sogar für sich genommen. Dieses Herauslösen des Zentralorgans aus dem Körperganzen sowie der Versuch, anatomisch genau abzubilden, gingen jedoch nicht mit neuen Konzepten der Hirnfunktionen einher. Zu eng waren die frühneuzeitlichen Anatomen noch mit den Lehren Galens verbunden oder hingen mittelalterlichen, im

EINFÜHRUNG

Grunde ebenfalls aus der Antike überlieferten Ideen an. Nur langsam kam ein Ablösungsprozess in Gang, der das 17. Jahrhundert als Epoche umfassender neuer Theorien zum Seelenorgan eröffnete. Erst Descartes veränderte mit der Unterscheidung von res extensa, dem materiellen Gehirn, und res cogitans, dem nichtmateriellen Geist, das Denken über den Menschen grundlegend. Ob und wie sich dieser Dualismus in den Abbildungen der kartesianischen Schriften festschrieb, ist Teil meiner Untersuchung. Sicher ist, dass der 1664 posthum erschienene L’Homme de René Descartes einen entscheidenden Einschnitt in der Art der Abbildung des Gehirns zur Folge hatte. Erreichte der Naturalismus in Thomas Willis zeitgleich erschienener Schrift Cerebri anatome (1664) durch die Hirnbilder Christopher Wrens eine neue Qualität, ging es dem Herausgeber von Descartes’ L’Homme um eine Darstellung funktionsfähiger Modelle des Zentralorgans. Ebenfalls 1664 hielt Niels Stensen in Paris eine Rede, in der er nicht nur die kartesianische Theorie von der Zirbeldrüse als Seelensitz ablehnte, sondern auch dezidiert und detailliert Kritik an zeitgenössischen Abbildungen des Gehirns übte. Auch der Frage, ob und inwiefern die kartesianischen Lehren Einf luss auf andere anatomische Werke und Hirnbilder seit Mitte des 17. Jahrhunderts hatten, wird nachgegangen. Es zeigt sich, dass meist ältere Vorlagen kopiert wurden: ein Prozess, der oft mit bedeutendem Qualitätsverlust einherging. Zwar führten die Erfindung des Mikroskops und damit einhergehender neuer Präparationstechniken zu anderen Formen wissenschaftlicher Wahrnehmung. Diese wurden aber in der Hirnforschung zunächst nur vereinzelt genutzt. Auch im darauffolgenden Jahrhundert sind die Neuerungen der Gehirndarstellung nicht weltbewegend. War das Jahrhundert der Auf klärung bilderfeindlich? Wie erklärt sich der Umstand, dass durch Herman Boerhaave, Georg Ernst Stahl oder Albrecht von Haller hervorragende medizinische Texte verfasst wurden, bahnbrechende Abbildungen bis auf wenige Ausnahmen jedoch ausblieben? Dies sollte sich erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts ändern, vor allem durch die Hirnbilder Félix Vicq d’Azyrs oder Samuel Thomas Soemmerrings. Der Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert wird in dieser Arbeit durch einen Exkurs markiert. Physische Anthropologie, vergleichende Anatomie und Physiognomik werden als Wissenschaften vom Menschen vorgestellt. Die Frage ist, wie Physiognomik, diese scheinbar dubiose Pseudowissenschaft, und die anthropologische Lehre die Bilder der Hirnforschung beinf lussten? Dabei war Anthropologie keine Wissenschaftsdisziplin. Sie war vielmehr ein übergreifendes Konzept, das auf viele sich formierende oder bereits bestehende Wissenschaften Einf luss nahm. Ihr Entstehen kennzeichnet eine Wende zum Menschen hin. Hinsichtlich neuer Theorien zur Hirnfunktion bildeten im 18. Jahrhundert die partiell parallel verlaufenden Entwicklungsstränge anthropologischer Forschung und physiognomischen Denkens innerhalb der sich umformierenden Naturwissenschaften die Basis für einen veränderten Blick auf das Gehirn. Der Mensch rückte in den Mittelpunkt des Interesses, denn dessen

XIII

XIV

EINFÜHRUNG

Spaltung, von der die kartesianische Theorie ausging, war nicht überwunden. Indem sich das Leib-Seele-Problem in der Verknüpfung des Gesichtes als körperlicher Oberf läche mit der Seele als angenommenem Inhalt in einer neuen Wissenschaft, der Physiognomik, manifestierte, kam es zum Versuch, ästhetische und naturwissenschaftliche Kategorien zusammenzubringen. Diese Entwicklung wurde mitgetragen von der Arbeit des Hirnforschers Franz Joseph Gall. Johann Caspar Lavaters physiognomische Ideen bildeten den theoretischen Nährboden für Galls phrenologische Studien. Die Phrenologie ging, ebenso wie die Physiognomik, von einer analogischen Beziehung des äußeren Körpers zu seinem Inneren aus. Die Forschungen Galls, aber auch die seines Kontrahenten Soemmerring und die von ihnen erzeugten oder verwendeten Abbildungen, markieren einen weiteren Wendepunkt in Richtung moderner Naturwissenschaft. Gall bezog den bis dahin vernachlässigten Kortex ein und legte so den Grundstein für die moderne Hirnforschung. Von einem einzelnen Seelenorgan, wie es Soemmerring noch im ausgehenden 18. Jahrhundert im Gehirn annahm, und für das er Kant als Gewährsmann verpf lichten wollte, brachte es die romantische Medizin mit Gall auf eine Vielzahl von Seelenorganen. Der Untersuchungszeitraum meiner Arbeit ist (mit wenigen Ausnahmen) auf die Zeit vor 1820 begrenzt, da in der Folge zunehmend das gesamte Gehirn als Seelenorgan angesehen wurde, und die Suche nach dem Sitz der Seele zunächst an Bedeutung verlor. Als Exkurs widmet sich das vierte Kapitel jedoch neurowissenschaftlichen Bildphänomenen der Gegenwart. Dieses Panorama visueller Strategien der zeitgenössischen Hirnforschung soll die vorliegende Studie verdichten. Was passiert, wenn die Dekade des Gehirns4 und das Zeitalter des Bildes5 zusammenfallen? Die Naturwissenschaften haben starke visuelle Verfahren entwickelt, stark sowohl in Bezug auf ihre Entwicklungsgeschwindigkeit und Diversität als auch hinsichtlich ihrer Medienwirksamkeit: Fotografie, Röntgentechnik, Elektroenzephalographie aber vor allem die so genannten neuen bildgebenden Verfahren (Neuro-Imaging). Sie stellen Hirnforschung und Bildwissenschaft gleichermaßen vor äußerst komplexe Probleme. Hier dient die in deutschen Printmedien geführte Determinismusdebatte, die nicht zuletzt auf die Ergebnisse bildgebender Verfahren rekurriert, als Beispiel. Mit ihrer Forderung nach einem neuen Menschenbild speist sie sich vor allem aus der scheinbar empirischen Beweiskraft solcher Bilder. Sehr treffend hat der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner dies mit dem Label Cyberphrenologie 6 versehen. Sowohl Natur- als auch Geisteswissenschaftler haben sich in den letzten Jahren umfangreich zu dieser Thematik geäußert. Hier werde ich einige wesentliche Punkte des sich aus dieser Debatte 4 5 6

Die Decade of the Brain proklamierte US-Präsident George Bush sr. in den 1990er Jahren. In Deutschland wurden auch die darauf folgenden zehn Jahre (2000–2010) zu einer Dekade des Gehirns erklärt. Vgl. Borner (2006), S. 157. Vgl. Bredekamp (1997). Auch Cyber-Phrenologie, vgl. Hagner (2002), S. 182ff.

EINFÜHRUNG

ergebenden Meinungsbildes zusammenstellen und untersuchen, ob sich daraus eine neue Bildergläubigkeit behaupten lässt. Dass die Bilderstellung und der Bildgebrauch in den Wissenschaften Forschungsgegenstand der Kunstgeschichte sein kann, hat die Diskussion um Ernst Haeckels Kunstformen der Natur schon früh verdeutlicht. Durch die Ref lexion dieser Thematik unter dem Paradigma bildwissenschaftlichen Denkens wird einem kulturwissenschaftlichen Prinzip Rechnung getragen, das interdisziplinär auf Ergebnisse und theoretische Vorleistungen (z. B. der Wissenschaftsgeschichte) zurückgreift. Ich beziehe mich auf den kulturwissenschaftlichen Ansatz Aby Warburgs, der eine Vielfalt von Untersuchungsmethoden praktizierte und verschiedene Disziplinen heranzog, um die Vieldeutigkeit eines Forschungsgegenstandes zu ergründen. Damit strebte er an, »das schöpferische Denken den konkreten Gegebenheiten, die es bedingten, gegenüber zu stellen« 7. Die Breite meiner Fragestellung macht es erforderlich, verschiedene Diskurse aufzurufen, ohne in diese einsteigen zu können. Demjenigen, der sich berufen sieht, sie fortzuführen, seien die betreffenden Punkte Anschlussmöglichkeiten zu einer fruchtbaren wissenschaftlichen Diskussion. Zu meinem Bedauern bleibt diese Arbeit auf den abendländischen Kulturkreis und dort weitgehend auf den mitteleuropäischen Raum beschränkt. Das liegt zum einen daran, dass ich beim Umfang des von mir bearbeiteten Zeitraums eine Begrenzung finden musste, zum anderen an der Verfügbarkeit der Bilder und zum Dritten an meinen Sprachkenntnissen, die eine Lektüre arabischer oder asiatischer Texte oder Bildanmerkungen erschweren. Seit Jahrhunderten wird die Kunst als besonderer Modus des Wissens begriffen. Wissenschaftliche Bilder als Artefakte zu verstehen, denen eine ästhetische Natur innewohnt, ohne dass sie explizit einem »Kunstwollen« 8 entspringen, und sie als solche bildwissenschaftlich zu analysieren, kann als Versuch einer Enthierarchisierung angesehen werden. Durch die Entwicklung von Bildfunktionen umgehe ich das kunsthistorische Dilemma »der qualitativen Differenz zwischen hoher Kunst und niedriger Nicht-Kunst« 9 . Mich interessieren die vorliegenden Bilder nicht in Bezug auf ihren Status als Kunst, der ihnen mehr oder minder willkürlich zugewiesen werden kann, sondern als Träger von Bildfunktionen. Es ist also wenig relevant, ob die von beauftragten Künstlern gestalteten anatomischen Bilder primär als Kunst angesehen wurden, oder ob sie – und das nicht nur im Falle Leonardos – heute in Kunstmuseen ausgestellt, von Kunstverlagen als aufwendige Reprints publiziert und im Kunstkontext rezipiert werden. 7 8

9

Hofmann in Hofmann/Syamken/Warnke (1980), S. 88. Der Begriff des „bestimmten und zweckbewußten Kunstwollens“ wurde von Alois Riegel geprägt. Vgl. ders. (1901), S. 9. Schulz (2005), S. 25.

XV

XVI

EINFÜHRUNG

Anhand von Bildern oder Bilderserien anatomischer Werke werden Geschichten der Hirnforschung rekonstruiert und als Teilbereich von Anatomie, Medizin und Naturgeschichte, in einem nächsten Schritt auch der Biologie und Anthropologie, ausgelotet.10 Solche Fallstudien oder case-studies als Methode bieten nach Reinhard Mocek die Möglichkeit einer Zuordnung wissenschaftshistorischer Analysen zu Fragen der Wissenschaftstheorie an die historische Forschung und somit Einblicke in funktionale Zusammenhänge rund um die Wissenschaft.11 So kann die Wissenschaftsgeschichte über ein bloßes Erzählen hinaus gelangen und zur Rekonstruktion von Wissenschaft in der Geschichte kommen. Eine auf der Grundlage von Fallstudien vorgenommene spezifische Selektion birgt dabei die Gefahr, die Wissenschaftsgeschichte zur ›Materialspenderin‹ der Wissenschaftstheorie zu degradieren. Die Grenzen einer Verallgemeinerungsfähigkeit der case-studies müssen anerkannt werden, um einer paradigmatischen Bewertung von Einzelfällen entgegenwirken zu können. Wie am Fall Leonardos gut zu beobachten ist, spielen Publikation und Rezeption des jeweiligen Werkes dabei eine große Rolle. Angestrebt werden Durchlässigkeit und wechselseitiger Austausch zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Die historische Hirnforschung bleibt präsent, da sie eine Ref lexion der Möglichkeiten und Grenzen naturwissenschaftlicher Beobachtung gestattet und dabei immer auch die grundsätzlichen Fragen der menschlichen Existenz berührt hat. Über die empirische Forschung einer exakten Wissenschaft hinausgehend befasst sich die Neurologie heute in verschiedenen Bereichen transdisziplinärer Hirnforschung mit Fragen der Ethik (Neuroethologie) und Metaphysik (Neurophilosophie12 ). Seitens der Geisteswissenschaften gibt es ähnliche Verzahnungen. Bei dem Unternehmen, eine bildwissenschaftlich ausgerichtete Abhandlung zu verfassen, werden die Kompetenzbereiche verschiedener Fachgebiete berührt. Diese Arbeit ist weder als Kunstgeschichte des anatomischen Bildes noch als Lehrbuch bildwissenschaftlicher Methodik anzusehen. Vielmehr stellt sie sowohl einen Beitrag zur interdisziplinären bildwissenschaftlichen Praxis als auch zur Wissenschafts- und Kulturgeschichte dar. Nur wenn der Gegenstand, in unserem Falle das anatomische Bild, kontextualisiert wird, verliert er seine ästhetische Autonomie und wird zum anthropologischen Dokument. Grundannahme ist eine jedem dieser Bilder innewohnende Geschichtlichkeit. Darin begründet liegen die sozialen, medialen und politischen Bedingungen des Bildes.13 Wissenschaftshistorisch ist sowohl die Geschichte der Hirnforschung als auch die der medizinischen Abbildung in verschiedenen Abhandlungen

10 11 12 13

Zum besseren Verständnis für Nicht-Mediziner gebe ich im Anhang eine Übersicht der verschiedenen Hirnansichten und Benennung der einzelnen Teile. Vgl. Mocek (1995), S. 14ff. Vgl. Schmidt (2003), S. 28ff.; Curchland (1986). Vgl. Schulz (2005), S. 53.

EINFÜHRUNG

aufgearbeitet worden. Olaf Breidbachs Bilder des Wissens waren für diese Arbeit ebenso erhellend wie seine und Hagners Beiträge zu Hirnforschung und Seelenorgan.14 Es soll nicht das Ziel dieser Arbeit sein, die Geschichte der Abbildungen vom menschlichen Gehirn zu dokumentieren. Es geht mir um eine historische Annäherung an das Bild der Seele im Gehirn. Interpretiert werden nicht historische Situationen oder philosophische Welt- und Seelenbilder als solche. Ein Hauptaugenmerk liegt auf der Frage, wie die jeweiligen Auffassungen von Seele anatomische Bilder vom Gehirn beeinf lussten. Relevant ist, in welchem philosophischen Seelendiskurs ein bestimmtes Bild erschien und zu welchem Zweck es erstellt wurde, welche Funktionen es erfüllte. In erster Linie sind solche Bilder wohl zur Wissensvermittlung innerhalb anatomischer Atlanten oder in Traktaten publiziert worden. Darüber hinaus gilt es, weitere Funktionen zu beschreiben. Etwa ob Anatomen damit kanonisches Wissen fortschreiben oder neue Theorien argumentativ stützen wollten, auf eine Streitschrift antworteten oder ihren wissenschaftlichen Ruf zu festigen suchten. Bei meiner Arbeit mit den Bildfunktionen stieß ich auf Claus Zittels Aufsatz Demonstrationes ad oculos, in dem er »Typologisierungsvorschläge für Abbildungsfunktionen in wissenschaftlichen Werken der frühen Neuzeit«15 macht. Seine Kategorien bestärkten mich in meinen eigenen Überlegungen und halfen mir dabei, sie zu strukturieren und weiterzuentwickeln. Den vorliegenden Band verstehe ich als Beitrag zu den Bildwissenschaften wie sie etwa von Hans Belting, Gottfried Boehm oder Horst Bredekamp aus kunsthistorischer oder Gernot Böhme und Lambert Wiesing aus philosophischer Perspektive dargestellt wurden,16 die also nicht als festgeschriebene Disziplin auftreten, sondern als Modell für ein fächerübergreifendes wissenschaftliches Arbeiten mit Bildern stehen. Dass Wissenschaftsgeschichte immer auch Kulturgeschichte ist,17 erlaubt es mir, mich im weiteren Bereich der Kulturwissenschaften zu verorten. Die Bildwissenschaft als Kulturwissenschaft will Christiane Kruse zufolge „Bilder in ihrer weiten zeitlichen (mystischen) Dimension erfassen, um die Kontinuität ihrer Pragmatik, die allen historischen und kulturellen Brüchen zu trotzen scheint, sichtbar zu machen“18 . Meinem kulturwissenschaftlichen Hintergrund Rechnung tragend verstehe ich die vorliegende Arbeit als konkreten Beitrag zu einem betont heterogenen Bildwissenschaftsdiskurs. Darüber hinaus soll sie selbst Beispiel dafür sein, wie im Rahmen dieses Diskurses anhand der von mir entwickelten Bildfunktionen gearbeitet werden kann. Die Bildfunktionen dienen als Werkzeuge bildwissenschaftlicher Analyse, sollen

14 15 16 17 18

Vgl. u. a. Breidbach (1997); ders./Florey (1993); Hagner (1999, 2000, 2004). Vgl. Zittel (2005). Vgl. z. B. Belting (2007); Boehm (2001a); Böhme (2004); Bredekamp (2003b); Wiesing (2005). Vgl. Florey/Breidbach (1993), S. XIII. Kruse (2006), S. 16.

XVII

XVIII

EINFÜHRUNG

das Bild jedoch nicht zum Schnürleib zwängen und alternative oder komplementäre Herangehensweisen verhindern. Mit diesem, im zweiten Kapitel vorgestellten Vorschlag, wende ich mich dezidiert gegen die Auffassung, Bilder widersetzten sich in jedem Fall einer Festlegung auf Funktionen. So handelt es sich bei den anatomischen Bildern des Gehirns, die als Gegenstand und Ausgangspunkt meiner Erarbeitung von Bildfunktionen dienen, um Bilder mit eindeutigen Inhalten. Dass sie bei genauerem Hinsehen natürlich nicht so eindeutig sind und vielerlei Bezüge evozieren, wird durch die Befragung auf mögliche Funktionen nicht verschleiert, sondern aufgedeckt. Nicht zuletzt ist dies ein Buch über Bücher. Die hier untersuchten hirnanatomischen Bilder sind fast ausschließlich in anatomischen Atlanten und Abhandlungen erschienen. Positionen einzelner Autoren werden dargestellt, wobei die hier getroffene Auswahl keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Trotzdem ergibt das Gesamtbild eine mögliche Geschichte der Abbildungen der Hirnforschung auf der Suche nach dem Seelenorgan. * Die diesem Band zugrunde liegende Dissertation mit dem Titel Hirnbilder zwischen Ästhetik und Anthropologie. Bildwissenschaftliche Zugänge zum Gehirn als Seelenorgan entstand im Fach Kunst- und Bildwissenschaften, wie es vor der Hochschulreform 2004 an der Universität Lüneburg als eines der Hauptfächer in den Angewandten Kulturwissenschaften gelehrt wurde, repräsentiert vor allem durch das von Karl Clausberg und Hermann Schweppenhäuser über viele Semester fortgesetzte Seminar Der Eindruck des Ausdrucks und Pierangelo Maset, an dessen Doktorandenkolloquium Kunstund Bildwissenschaften ich seit 2004 teilgenommen habe. Für die Veröffentlichung wurde die Doktorarbeit an einigen Stellen stark gekürzt, und Kapitel wurden zusammengefasst. Allen Familienmitgliedern und Freunden, die mir auf vielfältige Weise geholfen haben, danke ich sehr herzlich. Zuerst und ganz besonders möchte ich mich bei meinen Eltern Elke und Otto Larink dafür bedanken, dass sie mich so lange und so liebevoll unterstützt und gefördert haben, immer für mich da sind und vor allem im letzten Jahr der Entstehung dieser Arbeit unsere Tochter betreut haben. Ohne sie gäbe es diese Arbeit nicht. Gunnar Tuschy danke ich für seine Geduld und sein Verständnis und die Hilfe bei Übersetzungen aus dem Französischen sowie bei Bildbearbeitung und Layout der ursprünglichen Dissertationsschrift. Ich danke meinem f leißigen und kritischen Korrekturteam: An erster Stelle meiner unermüdlichen Lektorin und Freundin Anja Böhler, die Herzblut einf ließen ließ und so kluge (und viele!) Anmerkungen macht, wie niemand sonst. Über Jahre verhalf sie mit großem Einsatz und Strenge dem Text zu seiner Form, von der ersten Fassung bis zur Veröffentlichung. Eleonore Wrobel hat ebenfalls von Beginn an Anteil genommen, mich stets ermutigt und ermuntert und stand mir liebevoll mit Rat,

EINFÜHRUNG

Tat und Trost zur Seite; meinem Vater, der mir die naturwissenschaftliche Sicht nahebrachte, sich aber immer auch für meine Sichtweise interessierte und Ana Gonzalez, die rettend zupackte. Nele B. Lorenz übersetzte für mich aus dem Lateinischen und ermutigte mich mit ihrem unerschütterlichen Glauben an meine Arbeit. Raphaela Basdekis danke ich für ihre Hilfe beim Sezieren eines Schweinehirns und für ihre Überprüfung der neurologischen Fachtermini. Inga Nandzig half mit Bild- und Sprachkompetenz. Olaf Gätje danke ich für viele konstruktive Gespräche und Anmerkungen zum DescartesKapitel. Timo Leder war eine große Hilfe bei Rechner- und Formatierungsproblemen. Roya Norouzi half bei Fragen nach den Bildrechten. Mein Bruder Nils Larink assistierte mir im Sommer 2006 beim Fotografieren. Für weitere hilfreiche Gespräche und Diskussionen danke ich Claudia Lehmann, Claus Scheier, Tim Schmalfeld, Andrew Sinn und Tanja Klemm, ebenso meiner Stabi- und Mensagruppe und vielen anderen Freundinnen, Freunden und Bekannten. In der letzten Phase vor der Veröffentlichung erfuhr ich erneut viel Unterstützung und bedanke mich besonders bei dem hervorragenden Fotografen Stefan Exler, bei Sunya Bergunde, Katharina Timner, Christina Kaufmann und Mads Madsen. Die Betreuung dieser Arbeit hat Karl Clausberg übernommen. Ihm danke ich für seine Offenheit auch abwegigen Gedanken gegenüber, und dafür, dass er mich gelehrt hat, genau hinzusehen. Ich danke Pierangelo Maset und allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Doktoranden-Kolloquiums Kunst- und Bildwissenschaften, besonders den Frauen der ersten Stunde: Rahel Puffert, Julia Rabbe-Kröger und Friederike Plaga sowie später auch Ulla Lücke und Marlene Heidel, deren Einwände und Vorschläge mir sehr geholfen haben. An der Universität Lüneburg übten auf die eine oder andere Weise besonders Hermann Schweppenhäuser, Jörn Stückrath und Martin Warnke Einf luss auf mein Denken und Schreiben aus. Besonders herzlichen Dank schulde ich auch Ingo Rentschler von der Ludwig Maximilians Universität München, der mir in seinem Gutachten viele hilfreiche Denkanstöße zur Umarbeitung gab. Ich freue mich, dass der Akademie Verlag die Veröffentlichung übernommen hat und danke Katja Richter für die Projektkoordination. Mit viel Liebe zum Detail und großem Einsatz hat Petra Florath diesem Buch zu seiner schönen Form verholfen – dafür ganz herzlichen Dank. Sofern ich darauf Zugriff hatte, habe ich die in diesem Band abgedruckten Bilder aus den jeweiligen Erstausgaben abfotografiert. Für diese Möglichkeit und alle Hilfe möchte ich mich vor allem bei den netten Mitarbeiterinnen der Bibliothek des Ärztlichen Vereins der Hamburger Ärztekammer, Maike Piegler, Andrea Kühl und ihrem Team, bedanken. Mein Dank gilt auch Frau Urban, Frau Sommer und Frau Jansson von der Handschriftensammlung der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky, Christoph Hogrefe und Henrietta Danker von der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel sowie den freundlichen Damen und Herren im Lesesaal der Universitätsbibliothek Kiel.

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EINFÜHRUNG

Mein besonderer Dank gilt der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf, die meine Arbeit durch ein großzügiges Stipendium unterstützt hat. Dadurch wurde es mir zudem möglich, als Gastwissenschaftlerin in der Herzog August Bibliothek und der Wellcome Library, London, nach Büchern und Bildern zu forschen. Zudem ermöglichte die Gerda Henkel Stiftung zusammen mit der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaft die Drucklegung meiner Arbeit durch ihre gemeinsame großzügige Übernahme der Druckkosten. Einen weiteren Druckkostenzuschuss gewährte die Leuphana Universität Lüneburg.

I. A NATOMI E DER BILD ER

Historische Artefakte aus dem Bereich der Anatomie bilden eine spezifische Gruppe von Bildern, die hier vor dem Hintergrund bildwissenschaftlicher Theorien verhan­ delt wird. Anhand historischer Beispiele werden nun Bilder des menschlichen Ge­ hirns vorgestellt und unter Anwendung zuvor definierter Bildfunktionen untersucht. Um dem bestehenden Streit um Bilder und Bildwissenschaften Rechnung zu tragen, sollen zunächst einige Definitionen des Bildbegriffs problematisiert und ihre Bedeu­ tung innerhalb eines hier abgesteckten Areals diskutiert werden. Ob im Licht anthropologischer, semiotischer oder phänomenologischer Bildthe­ orien betrachtet – sicher ist, dass es sich bei den Bildern anatomischer Atlanten oder Traktate um solche handelt, die als konkrete oder äußere Bilder (pictures) bezeichnet werden. Sie haben als Untersuchungsgegenstand den Vorteil, unstrittig Bilder zu sein. Neben dem Bildbegriff wird im Folgenden auch der des Körpers angesprochen. Ihm kommt in der anthropologischen Bilderforschung eine zentrale Rolle zu. Mich inte­ ressiert, wie er im Komplex anatomischer Visualisierung mit dem Bildbegriff ver­ knüpft ist. Es wird in dieser Arbeit meist von Bildern, seltener auch von Abbildungen die Rede sein. Zu klären ist, ob unser umgangssprachliches Verständnis von Abbildung mit dem, was in der platonischen Philosophie als Abbild bezeichnet wird, identisch ist. Zudem erkläre ich, warum der im Zusammenhang mit anatomischen Darstel­ lungen meist genutzte Begriff Illustration hier nur ausnahmsweise verwendet wird. Darüber hinaus werden die Begriffe ›Tafel‹ und ›Figur‹ aus der anatomischen Abbil­ dungspraxis erläutert. Der grundlegenden Auseinandersetzung mit diesen eher allge­ meinen Bildbegriffen folgt eine Diskussion des anatomischen Bildes mit seinen impli­ ziten Ansprüchen an Realitäts­ oder Naturnähe, Wirklichkeitsbezug und Objektivität. ›Wissenschaftliche Wahrnehmung‹ und ›Anschauung‹ werden neben dem Begriff der ›Repräsentation‹ als weiterer zentraler Aspekt von Bildlichkeit vor allem im zweiten Kapitel als Bildfunktionen thematisiert.

VON LE BEN DI GEN B I LDERN U N D TOTEN KÖ RP E RN Dass sich Hans Jonas’ Hoffnung »auf ein vorausgehendes Einverständnis darüber, was ein Bild ist«, eher erfüllt, »als darüber, was ein Wort ist«1, ist nicht wahrscheinlich. Definitionen des Bildbegriffs füllen inzwischen Bücher. Von einem Einverständnis sind ihre Autoren weit entfernt. Hier wird den zahlreichen Definitionen des Bildes – nicht einmal denen des anatomischen Bildes – keine weitere hinzugefügt. Vielmehr werden verschiedene Deutungsansätze vorgestellt und die Schwierigkeiten einer all­ gemeinen Definition von Bild dargelegt. Fraglich ist, ob sich zwischen den einzelnen Bildbegriffen überhaupt scharf trennen, und ob sich das anatomische Bild klar zuord­ nen lässt. Vielmehr zirkuliert es je nach Fragestellung oder Bildfunktion zwischen verschiedenen Bildbegriffen. Keine Arbeit mit bildwissenschaftlichem Anliegen kann sich um die Begriffe iconic und pictorial turn herumlavieren. Sie gehören einer Reihe wissenschaftlicher Wenden (cultural turns2 ) an, die Karl­Heinz Kohl zufolge »nicht mit Paradigmenwech­ seln im Sinn der Kuhnschen Wissenschaftstheorie« verwechselt werden dürfen, da sie »weniger grundsätzliche Kehren als vielmehr einen Wechsel der Blickrichtung« be­ zeichnen.3 Hannah Baader sieht die Wenden zum Bild parallel zur Entstehung von Bildanthropologie, Bildwissenschaft und kritischer Ikonologie – eine Vielzahl von Positionen, innerhalb derer grundsätzliche Bildfragen gestellt werden. 4 Ihren Ursprung haben beide Begriffe, iconic und pictorial turn, in der Kunstge­ schichte und Philosophie im Jahre 1994. Im angelsächsischen Sprachraum dominiert eine Diskussion um den von W. J. Thomas Mitchell geprägten Begriff pictorial turn. Er ist sowohl an die populäre picture theory US­amerikanischer Universitäten als auch an die visual cultural studies geknüpft – beides interdisziplinäre Zugänge zur kulturellen Konstruktion des Visuellen überhaupt.5 Mitchell, seinem Selbstverständnis nach Erfor­ scher der Massenkultur und der technischen Medien, stellt als solcher zur Diskussion, ob der pictorial turn nicht vielmehr ein pictorial return ist.6 Er sieht also den Wende­ punkt, den er 1994 markiert hatte, nicht als absoluten an. Er begreift ihn als wieder­ kehrendes Phänomen, das jeweils als Ausdruck eines neuen Bildverständnisses, Bild­

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Jonas in Boehm (2001a), S. 106. Vgl. Bachmann­Medick (2006a); dies. (2006b). Kohl (2006), S. 37. Vgl. Baader »Iconic Turn«, in Pfisterer (2003), S. 143. Die Differenz von Ikonologie und Ikonographie erklärt Panofsky in ders. (1975), S. 41. Vgl. Martin Schulz (2005), S. 18 und 85ff. Eine zusammenfassende Darstellung von picture theory und visual cultural studies bietet Mitchell (2002). Vgl. Mitchell (2007), S. 40 und 44.

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gebrauchs, einer neuen Technik der Bilderzeugung oder als Folge von Bildängsten erscheint, die in sozialen Umbruchsituationen ausgelöst werden.7 Gottfried Boehm ist Vater des iconic turn, bzw. der ikonischen Wendung8 , die wie der pictorial turn als eine Art zeitversetzter Antwort auf den linguistic turn 9 von 1967 bzw. als dessen Weiterführung erschien. Ihm widerspricht Doris Bachmann­Medick, die den iconic turn eher als Gegenbewegung zum linguistic turn, als Erkenntnisumbruch und Methodensprung weg von der Vorherrschaft sprachlicher Zeichen, hin zu bild­ lich­visuellen Analysemitteln versteht. In diesem Zusammenhang weist sie insbeson­ dere auf die Bedeutung von Zeigen und Darstellen hin. Letztlich hält sie jedoch beide Wenden für im Grunde nicht vergleichbar.10 Mit dem linguistic turn wollte Richard Rorty alle Wirklichkeitswahrnehmungen als Probleme der Sprache angehen. In An­ lehnung daran ergeben sich für Bachmann­Medick für den iconic turn folgende Frage­ stellungen: »Haben Bilder einen vergleichbar grundlegenden erkenntnistheoretischen Status? Gibt es ein Apriori der Bildlichkeit? Immerhin bleibt ja auch die ikonische Ref lexion noch auf Sprachkritik angewiesen.«11 Nach Boehm leitet der linguistic turn in den iconic turn über, denn »die Befragung der Sprache war [es], welche der ihr inne­ wohnenden Bildpotenz Nachdruck verschaffte«12 . Heute fragt er nach »ikonischer In­ telligenz«13 und reibt sich damit weiter am Unterschied zur Sprache, setzt das Iko­ nische dem Sprachlichen entgegen. Indem sich Boehm auf den linguistic turn bezieht, überträgt er dessen Annahme, jegliche Bedeutung werde durch Sprache geschaffen, vermittelt und verändert, auf das Bild.14 Erkenntnistheoretisch wird mit einer Wende von Sprache zum Bild ein Paradig­ menwechsel vollzogen, dessen Gegenstand, das Bild, sich einer Eindeutigkeit aller­ dings entzieht. In Boehms zum Standardwerk avancierten Buch Was ist ein Bild?15 tref­ fen verschiedene ältere und neuere Positionen zur Theorie des Bildes aufeinander. Dieser Kanon von Texten zeigt schon in seiner Vielfalt, dass es unser Bestreben in den Bildwissenschaften nicht sein kann, uns auf eine Herangehensweise, ein Konzept des Bildes oder einen Katalog von Methoden zu einigen. Gerade die Pluralität der Ansätze erlaubt es, mit verschiedenen Bildern zu arbeiten. Verschiedene Bilder? Bedeutet das, es gibt keine Antwort auf die oben gestellte Frage? Festzuhalten bleibt: Unterschied­

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Vgl. ebd., S. 40. Vgl. Boehm (2001a), S. 13. Vgl. Rorty (1967). Auch Mitchell bezeichnet dieses Buch als Schlüsseltext sowohl für den pictorial als auch für den linguistic turn, vgl. ders. (2007), S. 42. Vgl. Bachmann­Medick (2006b). Ebd. Boehm (2001a), S. 14. Boehm (2007), S. 30. Vgl. Baader »Iconic Turn«, in Pfisterer (2003), S. 144. Was ist ein Bild? erschien 1994. Ich zitiere aus der 3. Auf lage von 2001.

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liche Bildtheorien erzeugen unterschiedliche Bilder oder zumindest unterschiedliche Kategorien von Bild. Wann immer wir uns mit dem Bildbegriff befassen, treffen wir auf die grund­ sätzliche Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Bildern. Zittel definiert äußere Bilder als solche, die eine Beobachtung der äußeren Natur abbilden. Sie näh­ men am Äußeren ihren Maßstab. Dagegen seien innere Bilder diejenigen, die unab­ hängig von konkreten Sinneswahrnehmungen zustande kommen.16 Meist wird die Differenz durch die englischen Begriffe picture und image erklärt. Pictures sind die äußeren, materiellen Bilder, diejenigen, die man macht, die an die Wand gehängt werden können, da an die Physik eines materiellen Trägers gebunden, also durch ein sichtbares, greif bares, daher auch zerstörbares Medium materialisiert sind.17 Äußere Bilder sind Artefakte. Images dagegen sind Bilder, die der Einbildungs­ kraft entspringen, immaterielle Bilder, solche, wie Erst Peter Fischer es ausdrückt, die man sich macht.18 Mitchell deutet Bilder als lebendige Zeichen (vital signs). Er akzentuiert den Sub­ jektstatus von Bildern bereits im Titel einer Publikation: In What do Pictures Want? The Lives and Loves of Images19 stellt er ein Begehren der Bilder heraus. Images sind bei ihm weniger geschaffen als vielmehr immer schon da und führen ein unabhängiges, eigendynamisches Leben.20 Mitchells biologische Perspektive auf Bilder als Organis­ men (Bio­Bilder) entspricht eher einer natur­ als einer allein kulturgeschichtlichen und, wie Martin Schulz betont, auch einer anthropologischen Sicht.21 Kruse weist darauf hin, dass der Topos des ›lebendigen Bildes‹ in allen westlichen Bildtheorien präsent ist.22 Sie kritisiert Mitchells Deutung von Bildern als Quasi­Lebewesen: Im Begehren der Bilder spiegele sich lediglich unser eigenes Begehren. Das Bild als tote Materie sei dabei lediglich ein Spiegel, in dem wir uns selbst entdecken. Diese Posi­ tionen anthropologischer Bildtheorie führen uns zu der Frage nach inneren und äuße­ ren Bildern zurück. Wiesing zufolge zeichnen sich Vertreter des anthropologischen Ansatzes einer Philosophie des Bildes gerade dadurch aus, dass sie nicht zwischen inneren und äuße­ ren Bildern unterscheiden. Als Gewährsleute zieht er Hans Jonas, Vilém Flusser und Jean­Paul Sartre heran. Sie kommen, wenn auch auf unterschiedlichen Wegen, zum gleichen Ergebnis. Danach ertüchtige die Fähigkeit des Menschen zu bildlicher Vor­ stellung ihn einerseits zur Bildproduktion, andererseits – und viel grundlegender – er­ mögliche sie erst das menschliche Bewusst­Sein und damit Dasein überhaupt. Der 16 17 18 19 20 21 22

Vgl. Zittel (2005), S. 107. Vgl. Fischer (2002), S. 29; Schulz (2005), S. 94. Vgl. Fischer (2002), S. 29. Mitchell (2005). Vgl. Schulz (2005), S. 94. Vgl. ebd., S. 95. Vgl. Kruse (2007), S. 1.

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Mensch müsse, um sich eine Vorstellung zu machen, also etwas zu imaginieren, sich in sich selbst zurückziehen (Flusser), einen Abstand zur Welt einnehmen (Sartre).23 Eine apodiktische Trennung von inneren und äußeren Bildern sei aus dieser Sicht nicht gerechtfertigt, da beiden gleichermaßen ein Bewusstsein von einer nicht anwe­ senden Wirklichkeit innewohne.24 Die Trennung der Begriffe picture und image wird von Böhme und Belting, dem prominentesten Vertreter der anthropologischen Bildtheorie, aufgegriffen. Der Phi­ losoph Böhme stellt dem »Bild im Sinne von image« das »Bild im Sinne von tableau« gegenüber, betont aber, dass »das Bild eben doch beides in eins« ist.25 Allerdings ist auch der französische Begriff tableau äußerst vieldeutig. Mögliche Übersetzungen sind Gemälde, Bild, Tafel, Tabelle, Liste, Verzeichnis, Plan, Aussicht, Anblick, Darstellung, Schilderung oder Bühnenbild. Wie das deutsche Wort Tafelbild betont er die Bildf lä­ che bzw. die Flächigkeit eines Bildes. Auch Belting bezweifelt, dass beide Begriffe – picture und image – und die Dinge, die sie bezeichnen, separat voneinander betrachtet werden können. Er macht den Menschen selbst als Ort der Bilder zum Mittelpunkt seiner Bild­Anthropologie: Ohne unseren Blick gäbe es keine Bilder, sondern wären die Bilder etwas anderes oder gar nichts. Zwar empfangen wir Bilder von außen, aber wir machen sie zu unseren eigenen Bildern. Wir wissen, daß ein Körper physische Orte besetzt und sie damit erst zu solchen Orten macht, an denen wir bleiben und zu denen wir zurückkehren. Aber er ist selber ein Ort, an dem wir Bilder empfangen und erinnern, ein Ort der Bilder. Das wäre eine Binsenweisheit, wenn unsere Bilder nicht von unserer Biographie, der Zeit, in der wir leben, und von der Kultur geprägt wären, in der wir aufgewachsen sind.26

Belting wendet sich gegen eine Unterscheidung zwischen inneren (unseren eigenen) und äußeren (in der Welt stehenden) Bildern (Artefakten), indem er verdeutlicht, dass letztere erst im Menschen als einem lebendigen Ort der Bilder, an dem sie empfangen und erinnert werden, entstehen: »Die Komplizenschaft zwischen Körper und Blick führt zum Bild«27. Er kommt natürlich nicht umhin, diese allgemein getroffene Un­ terscheidung anzuführen und differenziert noch weiter: Bilder der Wahrnehmung sind bei ihm nicht gleich Bildern der Vorstellung. Dabei begreift er die Wahrneh­ mung Bernhard Stiegler zufolge als »analytische Operation, die von der persönlichen

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Vgl. Wiesing (2005), S. 18ff. Vgl. ebd., S. 22. Böhme (2004), S. 8. Belting (1999), S. 287. Belting (2007), S. 49.

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Erfahrung mit der jeweils aktuellen Bildproduktion abhängig ist«28 . Der Mensch, hier mit dem Körper als Eines gesetzt, holt Bilder durch den Akt der Wahrnehmung in sich hinein, verortet sie im Körperlichen. Im Körper findet das Bild seine es bestim­ menden Grenzen. Dabei ist mit Körper beides angesprochen: der des Betrachters (eben der Ort, an dem die Bilder wahrgenommen werden) und das Bildmedium als Verkörperung.29 Schulz versteht in seiner Einführung in die Bildwissenschaft die phänomenolo­ gische Trias Bild, Körper und Medium30 ebenfalls als Konstante. Dabei ist der von ihm verwendete beltingsche Körperbegriff nicht kongruent mit dem anatomisch ob­ jektivierten Körper oder dem Leib im Leib­Seele­Verhältnis, die in dieser Arbeit the­ matisiert werden.31 Bei der Auseinandersetzung mit bildlichen Darstellungen von Körpern kommt es allerdings zu vielfachen Überschneidungen, das heißt es besteht stets die Gefahr eines vieldeutigen Körperbegriffs. Deshalb treffe ich folgende Be­ griffsunterscheidungen: Der beseelte, mithin lebendige Körper, wird von mir als Leib, ein Leichnam mehrheitlich als (sezierter) Körper angesprochen. Ist in letzterem Falle doch von Leib die Rede, wird auf das Gehirn als Schnittmenge von Körper und Seele, eben das Seelenorgan, rekurriert. Im Körper als Bezugspunkt bildanthropologischer Studien ist der Dualismus von Leib und Seele hingegen aufgehoben. Dort geht man Schulz zufolge von einem engen, »für die Bildwahrnehmung entscheidenden Wechselverhältnis« aus. Es bestehe »zwischen den inneren Bildern, die als Seh­, Traum­, Vorstellungs­ oder Erinnerungs­ bilder im Körper entstehen, gespeichert, erinnert und projiziert werden, und den äuße­ ren Bildern, die in externen und künstlichen Medien verkörpert werden«32 . Auch Bel­ ting verweist auf die »Konstellation von Mensch – Bild – Körper«33. Eine zusätzliche Einführung von Begriffen wie Körperbild oder Menschenbild lässt die Möglichkeit, zwischen anatomischen Körpern, Körpern im Bild und Körpern als Orte von Bildern zu unterscheiden, noch weniger zu. Wie wir gesehen haben, lassen sich äußere Bilder gar nicht ohne die andere Seite der Bildlichkeit denken. Sie stehen mit Bildern nicht­materieller Existenz in einem dialektischen Verhältnis. Metaphern sind nicht­materielle, geistige, sprachliche Bil­ der. Zentral für den anatomischen Diskurs sind die genannten Metaphern Körperbild und Menschenbild. Beide sind eng miteinander verbunden. Körper wandeln sich mit ihrer sozialen Umgebung, werden sogar neu erfunden (z. B. mit Hilfe neuer Bildme­ 28 29 30 31 32 33

Belting (1999), S. 288. Zur wissenschaftlichen Wahrnehmung vgl. auch S. 23ff. in diesem Band und Breidbach (2005), S. 18. Vgl. ebd., S. 15. Zum Begriff des Mediums im bildanthropologischen Verhältnis von Bild – Körper – Me­ dium, vgl. Schulz (2005), S. 97–124. Eine kurze und prägnante Zeittafel zum Leib­Seele­Problem gibt Sturma (2005), S. 137f. Schulz (2005), S. 125. Belting (2002), S. 93.

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dien konstruierte Körper). Dies hat laut Belting dazu geführt, dass »wir den Körper vom traditionellen Menschenbild abgelöst haben«34 . Was genau mit dem Begriff oder besser gesagt mit der Metapher Menschenbild gemeint ist, variiert je nach Wissenschaftsfeld, Kulturkreis und ist von »persönlichen Präferenzen« abhängig: Menschenbilder haben »ebenso wie Weltbilder die fatale Eigen­ schaft, sehr allgemein und damit auch schwer greif bar zu sein«.35 Ein Menschenbild, so Belting, dient uns dazu, »eine Idee des Menschen auszudrücken«. Diese Idee finde jedoch »nach dem Ausfall des Christentums als Leitkultur trotz zahlreicher Neude­ finitionen der Humanwissenschaften, wie wir sie immer noch nennen, keinen Kon­ sens mehr«.36 Ein Körperbild hingegen könne auch und gerade etwas Metaphernfrem­ des sein, wie durch Körper erzeugte Schatten oder Spiegelungen im Wasser.37 Buch und Buchseite beschreibt Belting als »körperferne Medien«38 und denkt Schrift und Körper erst im performativen Akt des Schreibens auf einen Körper zusammen. Diese Praxis unterscheidet sich grundsätzlich von einer Beschreibung des Körpers, wie sie das anatomische Bild darstellt! In anatomischen Atlanten kommen das Beschreiben und das Bilden des Körpers zusammen. So entstehen Körperbilder, die zugleich der Metapher und dem visualisierten Körper (Körper­Bild) entsprechen. In historischer Perspektive definiert Tanja Klemm das Körperbild der Anatomie des 16. Jahrhunderts nicht als eines, das sich dem Betrachter »visuell kohärent in der Sektion offenbart«, sondern als »visuelles Artefakt, eine Sichtbarmachung, die sich aus der Praxis des Vergleichs erschließt, der damit zur Bildpraxis wird«.39 Körperbild – das heißt auch, dass der Körper ins Bild übertragen wird. Bilder, die den Körper darstel­ len, repräsentieren immer auch den Menschen, oder, wie Belting es ausdrückt, »sie bedeuten den Menschen«40 . Anders gesagt: Bilder vom Körper repräsentieren Menschen­ bilder. Dies gelte allerdings nicht für technische Bilder neuer bildgebender Verfah­ ren. 41 Neben dem anthropologischen Ansatz haben sich zwei weitere Hauptströ­ mungen der gegenwärtigen Philosophie des Bildes manifestiert: der zeichentheore­ tische und der wahrnehmungstheoretische Ansatz. 42 Letzterer kann auch als Phäno­ 34 35 36 37 38 39 40 41 42

Ebd., S. 87. Pauen (2003), S. 45. Belting (2002), S. 87. Vgl. Belting (2007), S. 54. Ebd., S. 72f. Klemm (2006), S. 91. Belting (2002), S. 87. Vgl. ebd., S. 87f. Die unterschiedlichen Ansätze philosophischer Bildforschung werden durch die Bildbe­ griffe anderer Disziplinen ergänzt. In den Medienwissenschaften beispielsweise wird seit Langem mit Bildern gearbeitet, die als Medien und damit als Teil der Gesamtheit der Kom­ munikationsmittel bezeichnet werden.

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menologie des Bildes oder phänomenologische Bildwissenschaft bezeichnet werden. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Richtungen ergibt sich für Schulz aus der »phänomenologischen Sicht auf eine sprachlich uneinholbare Ikonizität«43. Sie steht einer Deutung von Bildern als Zeichen gegenüber, welche an lesbare und zu in­ terpretierende Codes geknüpft sind, zum umfassenden Verständnis also dekodiert werden müssen. 44 Beiden Ansätzen, dem semiotischen wie dem wahrnehmungstheoretischen, ist eine Dreiteilung des Bildes in Darstellendes, Darstellung und Dargestelltes gemein­ sam. Das Darstellende ist der materielle Bildträger, in der Semiotik als Bildzeichenträ­ ger oder Signifikant, phänomenologisch nach Edmund Husserl als Bildträger bezeich­ net. Die im Bild enthaltene Darstellung, der Inhalt oder Sinn eines Bildes oder Zeichens wird semiotisch auch Designat oder Intension genannt. Phänomenologen sprechen vom Bildobjekt, vom, so Wiesing, »Objekt einer Wahrnehmung«45. Das Dar­ gestellte ist ein (möglicherweise) reales Ding, auf das sich die Darstellung bezieht. Semiotiker nennen es Objekt, Referenz, Bedeutung oder Extension, während Phäno­ menologen vom Bildsujet sprechen. 46 Obwohl es Versuche gibt, beide Ansätze zusammenzudenken, 47 bleibt das phä­ nomenologische Bildobjekt der kritische Punkt, an dem die Theorien auseinander laufen. Wiesing sieht im Bildobjekt einen »dezidiert antisemiotische[n] Gegenbegriff […], ein Phänomen im Bild. Solange keiner auf das Bild schaut, wird es auch keine Bildobjekte geben. Denn das Bildobjekt ist ja das, was vom Betrachter gemeint ist, also ein intentionales Objekt.«48

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Schulz (2005), S. 72. Grundlegend für die moderne und postmoderne Semiotik sind die Theorien von Charles Sanders Peirce (1839–1914) und Ferdinand de Saussure (1857–1913), vgl. Peirce (1986) und Saussure (1967). Nach Peirce stehen das Repräsentamen, also das wahrnehmbare Zeichen, das Objekt oder der Gegenstand, auf welchen das Zeichen Bezug nimmt, und der Inter­ pretant, ein interpretierendes Zeichen oder Bewusstsein, zueinander in Beziehung, vgl. Peirce (1983). Zwischen den drei Konstituenten des Zeichens kommt es zu einer triadi­ schen Relation, die, Winfried Nöth zufolge, »einen dynamischen Prozeß der Interpreta­ tion auslöst« (vgl. Nöth (2000), S. 62). Bei Peirces Interpretation von Semiotik handelt es sich also stets um die Beschreibung der Dynamik unendlicher Prozesse, die sich zwischen Zeichen, Objekt und Interpretant ereignen. Saussure entwickelte sein dyadisches Zeichenmodell für die Linguistik bzw. sprachliche Zeichensysteme. Signifikant (Bezeichnendes) und Signifikat (Bezeichnetes) sind im Zeichen miteinander verbunden. Der Signifikant ist die Form, die das Zeichen annimmt, und das Signifikat entspricht der Bedeutung, die es hat. Diese beiden Komponenten stehen in ein­ er wechselseitigen Beziehung zueinander. Wiesing (2005), S. 31. Den ganzen Absatz vgl. Wiesing (2005), S. 26–33. So bei Beat Wyss im dritten Kapitel seines Buches Vom Bild zum Kunstsystem, Köln 2006. Wiesing (2005), S. 30f.

R E A LITÄT, WA H RH EIT U N D W IRK LICH K EIT A NATOMI S CH ER BILDER Stellen wir uns die Seite eines anatomischen Atlanten von 1543 vor. Sie ist vergilbt, hat an einer Ecke Wasserf lecken und ist an einer anderen leicht verkohlt. Es ist das Darstellende, das Material, welches eindeutig den Gesetzen der Physik unterliegt. Ganz im Gegensatz zur Darstellung: Die abgebildete Figur, ein Muskelmann, ist nicht vom Alter gebeugt. Den Körper, der 1543 im Bild erscheint, hat es realiter vielleicht nie gegeben. Oder es war nicht ein einziger, vom Anatomen sezierter und von Zeichner und Holzschneider zum Zwecke des Druckes gestalteter Körper, sondern die Darstel­ lung setzt sich aus den Merkmalen vieler sezierter Körper zusammen. Das Dargestellte kann also ein realer Körper gewesen sein, muss es aber nicht notwendigerweise. Es ist das, worauf wir uns beziehen, während wir die Buchseite betrachten. Auf diese Weise lassen sich die drei oben beschriebenen Determinanten am Beispiel eines anato­ mischen Bildes nachvollziehen. Die vorliegende Arbeit ist insofern eine Analyse historischer Wissenschaftspra­ xis, als sie danach fragt, wie sich historische Wissenschaftspraxis in ihren Bildern prä­ sentiert. Bilder in anatomischen Atlanten sind zunächst einmal Artefakte, also vom Menschen hergestellte Objekte und als solche kulturell konstruiert. Im trivialsten Sinn ist ein Bild ein Zeichen, denn es bildet etwas ab, das es selbst nicht ist.49 Ein Bild zeigt z. B. einen Körper oder Körperteil, ist dabei aber nicht Körper oder Körperteil. Es verweist lediglich darauf. Sowohl eine anatomische Figur (die Abbildung eines ganzen Körpers, eines einzelnen Organs oder eines Gewebeteils) als auch Tafeln, auf denen meist mehrere solcher Figuren abgebildet sind, verstehe ich als Bilder. Sie sind Abbildungen des ganzen Körpers, einzelner Bauteile oder von Strukturen. Abgebildet werden ›anatomische Realitäten‹50 als Phänomene wissenschaftlicher Wahrnehmung. In dieser Wendung drückt sich laut Astrid Deuber­Mankowsky die Zugehörigkeit des

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Vgl. Böhme (2004), S. 27. Der Begriff der ›anatomischen Realitäten‹ wird in der vorliegenden Arbeit verwendet, um die Differenz zwischen Darstellung und Dargestelltem anzuzeigen. Diese Formulierung ist eingedenk der von den gender studies angeregten Diskussion zur Konstruktion von Kör­ perlichkeit durchaus problematisch. Erst durch gesellschaftliches Handeln, wie es inner­ halb medizinisch­anatomischer Wissenschaften geschieht, werde beispielsweise ein bestimmtes Organ zu einem geschlechtlichen Zeichen: »Die Macht der Kultur repräsen­ tiert sich demzufolge in Körpern und formt sie wie auf einem Amboß zu der geformten Gestalt«, Laqueur (1992), S. 272. Judith Butler hingegen erklärt den (biologischen) Körper selbst zum Ergebnis diskursiver Praxis. Sie beschreibt den »Begriff der Materie […] als ein[en] Prozeß der Materialisierung, der im Laufe der Zeit stabil wird, so daß sich die Wirkung von Begrenzung, Festigkeit und Oberf läche herstellt, den wir Materie nennen«, Butler (1997), S. 32. Zum Gestus der Verkörperung vgl. auch Belting (2002), S. 88.

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Körpers zu einer »durch keine Symbolisierung einzuholende Faktizität der Dinge«51 aus. Sind auch Bilder Teil einer so definierten Realität? Das Bild ist das Ganze, also das Abgebildete in seiner Medialität, das ihm Vor­ gängige, auf das sich das Bild bezieht und der Blick des Betrachters, der erst das Bild zum Bild macht. Notwendigerweise abstrahiert das Bild von dem, was als Realität empfunden wird. Gesehenes wird dabei nicht einfach reproduziert, sondern vom Bildschaffenden umgeformt.52 Eine entscheidende Frage, die sich in Bezug auf anatomische Bilder sowie auf naturwissenschaftliche Bilder überhaupt aus diesen Überlegungen ergibt, scheint die nach dem Realitätsbezug zu sein. Wie verhält sich das Bild zum realen Körper? Wie realistisch kann ein Bild sein? Die erste Frage wird im zweiten Kapitel unter dem Thema Repräsentation behandelt. Wie aber sind die Begriffe Realismus, realistisches Bild und Realität zusammenzubringen? Lesen wir in Büchern der Anatomiegeschich­ te nach, so wird oft eine besondere Realitätsnähe, Naturtreue, Wirklichkeit53 oder Wahrheit54 von Bildern gerühmt oder bekundet, dass sie anzustreben sei. Die Wahrheit der Bilder sah Benedict Stilling (1810–1879) – unabhängig von der jeweiligen Theo­ rie, unter der diese nutzbar gemacht wurden, und im Gegensatz zur Deutung – als universell und zeitlos an. 1846 schrieb er in Untersuchungen über den Bau und die Verrichtungen des Gehirns: »Indessen war es das Streben des Verfassers die Natur so wiederzu­ geben, dass die Abbildungen für alle Zeiten als naturgetreu, als wahr da stehen, mögen die einzelnen Theile später auch anders gedeutet werden als vom Verfasser geschehen ist«55 . Hier ist zu überlegen, inwiefern wir vom Realen oder von der Realität gegen­ über dem Abgebildeten sprechen können. Letzteres ist als picture oder tableau ebenfalls real oder anders gesagt: Ihm kommt eine Erscheinungsform in der Realität zu. Es unterliegt den Gesetzen der Physik. Es kann aufgehängt werden, herunterfallen, ver­ ändert oder zerstört werden. Ist also die Realität des Bildes nur die seiner Materialität? Die in den historischen Fällen jeweils angestrebte Realitäts­ oder Wirklichkeits­ nähe bezieht sich nicht auf einen Bildträger (Darstellendes), sondern auf seinen Inhalt (Darstellung). Ist ein realistisches Bild oder genauer ein realistischer Bildinhalt ein Widerspruch in sich? Woher kommt der »verzweifelte, in der Fotographie auf die Spitze getriebene Versuch, im Bild realistisch zu sein«56 , von dem Böhme spricht? Handelt es sich um eine Form der Weltaneignung und damit Versicherung von Natur, Welt, dem, was uns umgibt? Oder verbirgt sich dahinter gar die Sehnsucht nach einer idealen Welt? 51 52 53 54 55 56

Deuber­Mankowsky (2001), S. 75. Vgl. Breidbach (2005), S. 144. Z. B. Niels Stensen über eine Tafel Christopher Wrens, vgl. S. 273. Z. B. Samuel Thomas von Soemmerring über die Hirnbilder Félix Vicq d’Azyrs, vgl. S. 403. Stilling (1846), S. 20. Böhme (2004), S. 12.

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Gemeinhin nehmen wir an, dass das, was unserer Wahrnehmung zugänglich ist, auch real ist. Wenn in die Überlegungen zur Realität die Erkenntnis einbezogen wird, dass das Gehirn anscheinend unbegrenzte Fähigkeiten hat zu lernen und sich anzupassen, also den sensorischen Input unterschiedlich zu verarbeiten, so folgt da­ raus, dass Realität nur ein Konstrukt sein kann: Das Gehirn bestätigt Hypothesen über die Welt oder lehnt sie ab. Einer anderen Interpretationsebene entstammt die Behauptung, dass Menschen, indem sie Kunst produzieren, eine ›neue Realität‹ schaf­ fen und dass wir unsere Konzepte von Realität durch Kunst erweitern können.57 Realismus als Ziel visueller Darstellung setze ich mit dem Wunsch gleich, sich im Bild und durch Bilder die Realität – im Sinne von Welt – anzueignen. Diese Rea­ lität wird durch Bilder nicht einfach wahrgenommen. Sie wird gemacht. Dass in bild­ lichen Repräsentationen Welt vergegenwärtigt wird, drückt sich darin aus, dass wir anhand eines Bildes sagen können: ›Seht, das ist ein Körper! So sieht es in seinem In­ neren aus.‹ Ist also das Streben nach Realismus eine Steigerung des Strebens nach größtmöglicher Ähnlichkeit? Ist es gleichbedeutend mit Annäherung und schließlich Gleichsetzung von Darstellung und Dargestelltem? Um näher an das Problem heran­ zukommen, muss zwischen Realität und Wirklichkeit unterschieden werden. Dabei beziehe ich mich auf Böhme, demzufolge die Realität »das Potential von Dispositi­ onsprädikaten, die im leiblichen Umgang mit den Dingen erfahren werden können«, und Wirklichkeit »die Erscheinung als solche« bezeichnet, die mit »Sichtweisen und Lesarten« wechselt.58 Bilder bilden also nicht Realität ab, sondern Wirklichkeit. Wirk­ lichkeit erweist sich als konstruiert. Sie stellt dar, wie etwas (Reales) auf uns wirkt. Somit liegt Realität außerhalb jeder Wahrnehmung. Sie wird durch den Akt des Wahrnehmens immer zu Wirklichkeit und ist damit das Ergebnis unserer Sicht, durch die von Kultur und Konventionen eingefärbte Brille, mit der wir das Reale betrach­ ten: Eine Realität, von der wir annehmen, dass es sie gibt, und deren Bild die Wirk­ lichkeit ist. Realität soll hier weder als Phantasma hingestellt werden, noch kann die Skepsis daran, ob Realität im wissenschaftlichen Bild dargestellt werden kann, einer »Ver­ leugnung des Realen«59 dienen, wie sie Slavoj Zizek befürchtet. Festzuhalten bleibt, dass Bilder Wirklichkeit abbilden können, nicht aber Realität. Allerdings steht laut Böhme die »Wirklichkeit des Bildes […] in einer Spannung zu dem, was es als Reali­ tät ist«. Ebenso steht das Abgebildete in Spannung dazu, was es in der Realität ist, bzw. wie es als Wirkliches wahrgenommen wird, denn, so Böhme weiter, das »Wesen des Bildes spielt mit dieser Differenz zwischen Realität und Wirklichkeit«.60 Ganz ähnlich verhält es sich auch mit der Wahrheit. Auch was jeweils als wahr empfunden 57 58 59 60

Vgl. Rentschler/Herzberger/Epstein (1988), S. 9f. Vgl. ebd., S. 9. Zizek (1997), S. 98. Böhme (2004), S. 9.

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wird, beruht auf Konventionen, hängt von der Besonderheit der jeweils eigenen Wahrnehmung ab. Als systematischer Begriff der Kunstwissenschaft verweist Anja Zimmermann zufolge Realismus »auf eine bestimmte Art künstlerischer Wirklichkeitsaneignung« 61. Da er dort als Gegenpol zum Naturalismus gesetzt wird, scheint mir der so definierte Begriff für Bilder inadäquat, die wie anatomische Abbildungen vergangener Jahrhun­ derte weder der Sphäre der Kunst noch derjenigen der Naturwissenschaften eindeutig zugeordnet werden können. Eine »Ref lexion über das Verhältnis von Kunstwerk und Naturnähe« 62 , wie sie Zimmermann fordert – in unserem Falle eine Ref lexion über das Verhältnis von anatomischem Bild und realem Körper – setzt Natur und Realität gleich. Wirklichkeits­ oder Naturnähe im Bild sind keinesfalls moderne Konzepte. Gerade in der Renaissance gab es diese Forderungen an Bildschaffende. Giorgio Vasa­ ri (1511–1574) rühmte Maler für ihren Naturalismus. Bartolomeo Fazio (1400–1457) pries Jan van Eyck (1390–1441) für ein Portrait, dem nur die Stimme fehle, und einen gemalten Sonnenstrahl, den man für wirkliches Sonnenlicht hätte halten können.63 Folgt man Immanuel Kant, war in der Kunst eine übergroße Nähe zur Realität uner­ wünscht.64 In den Naturwissenschaften hingegen wurde sie förmlich gefordert. Die uns umgebende, als real empfundene Natur ist als naturwissenschaftliches Forschungs­ feld von den Wissenschaften konstruiert. Sie ›beantwortet‹ lediglich jene Fragen, die ihr gestellt werden. Welche Fragen die diversen Naturwissenschaften stellen, ist eben­ so von Konventionen abhängig, wie die Bilder, die sie erzeugen. Wie ist das Unbehagen zu erklären, das Worte wie realistisch, naturgetreu oder wahr beim Schreiben über Bilder auslösen? Und dies auch oder gerade bei jenen Bil­ dern, die Teil wissenschaftlicher Praxis oder Ergebnis wissenschaftlicher Wahrneh­ mung sind? Ein Interview, das Wolfgang Ullrich mit Horst Bredekamp geführt hat, wirft ein Schlaglicht auf die Begriffe Wahrheit und Authentizität sowie auf die Kategorien Wahr und Falsch in wissenschaftlichen Bild­Kontexten. Ullrich betont dabei, dass der konstruktive Charakter wissenschaftlicher Bilder viel weniger klar sei als bei Bildern der Kunst. Astronomische oder mikroskopische Bilder würden meist als authentische Fotographien rezipiert. Er fordert ein Bewusstsein für eine Ikonographie des Unsicht­ baren, der Wissenschaftsbilder ebenso angehörten wie etwa eine Höllenszene von Hie­ ronimus Bosch (1450–1516). Bredekamp bestätigt diese Beispiele als Ikonographien des Unsichtbaren, die beide behaupteten, wahr zu sein. Er schlägt vor, sie aufgrund ihres Wahrheitskriteriums zu analysieren und gegebenenfalls zu kritisieren.65 61 62 63 64 65

Zimmermann »Realismus«, in Pfisterer (2003), S. 297. Ebd. Burke (1996), S. 128. »An einem Produkte der schönen Kunst muß man sich bewußt werden, daß es Kunst sei, und nicht Natur« Kant, Kritik der ästhetischen Urteilskraft, §45, zit. nach ebd. Den gesamten Abschnitt vgl. Bredekamp/Ullrich (2003), S. 15.

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Der in diesem Buch untersuchte Zeitraum schließt die vermeintlich realistische Bilder schaffende, scheinbar objektive Fotografie aus. Hier sei nur angemerkt, dass auch sie keine genaue Reproduktion von Realität ist, denn, so Breidbach, die »Reali­ tät der Welt wird auf ihre optimierte Abbildbarkeit im Apparat hin gesichtet« 66 . Ob­ wohl jede Fotografie das Ergebnis diverser Operationsschritte, Entscheidungen und Eingriffe und letztlich ein im Apparat entstandenes Produkt ist, suggeriert ihre Per­ fektion unmittelbare Sichtbarkeit.67 Daher kommt es immer wieder zu Einschät­ zungen wie der Marielene Putschers, dass durch den Zugriff auf fotografische Tech­ niken erstmals »die wissenschaftliche Abbildung gleichsam ein Mitspracherecht gewonnen [hat] in der Frage, was denn »Realität« sei« 68 . Doch die Realität eines Fotos ist Fiktion, eine Bildrealität.69 Gerade deshalb sind Fotos als Bilder wissenschaftlicher Wahrnehmung so schwer zu analysieren: Sie scheinen genaue Abbilder der Natur zu sein. Für Bettina Heintz und Jörg Huber sind sie faktisch jedoch »visuell realisierte theoretische Modelle bzw. Datenverdichtungen« 70 . Die universelle Gültigkeit grafisch hergestellter anatomischer Abbildungen können Fotos nie erreichen. Fotos zeigen Einzelfälle, können also Variationsbreiten möglicher individueller Abweichungen gar nicht einbeziehen. »In jedem einzelnen Bild«, so Putscher, »zeigt sich das grundsätzlich Fragmentarische aller wissenschaft­ lichen Erkenntnis, sobald diese sich auf etwas real Vorhandenes bezieht, das stets ver­ schiedene »Ansichten« zeigt«.71 Dazu kommt, dass sich reale Objekte in der Praxis unter Umständen nicht deutlich erkennen lassen und Fotos nur mit dem geübten Blick wissenschaftlicher Kennerschaft lesbar werden. Ein fotografierter Gehirnschnitt ist deutlich schwerer zu interpretieren als ein gezeichneter. Heute angewandte bildgebende Verfahren erschweren eine Deutung des Ver­ hältnisses von Bild und Realität. ›Klassische‹ Fotos entstehen auf der Basis optischer Prinzipien – im Gegensatz zu computergestützten Verfahren, bei deren Anwendung mit Hilfe komplexer mathematischer Operationen Daten in Bilder umgewandelt wer­ den. So beschreibt es Hagner, der in diesem Vorgehen selbst die Erklärung des Be­ griffs Bildgebung sieht. Dieser bringe zum Ausdruck, »daß es sich nicht um ein Ab­ bild des Gegenstands handelt, sondern um einen Herstellungsprozeß« 72 .

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Breidbach (2005), S. 144. Vgl. auch Ist ein Foto realistisch?, in Böhme (2004), S. 111–127. Vgl. Heintz/Huber (2001), S. 9. Putscher (1972), S. 141. In der Geschichte der medizinischen Abbildung widmet Putscher diesem Problem ein noch immer lesenswertes Kapitel: Photographie, Form und Wirklichkeit. Der Untergang der alten Bildwelt und die Entstehung von Bildern neuer Art. Das Realismusproblem, in ebd., S. 141–154. Vgl. Breidbach (2005), S. 182. Heintz/Huber (2001), S. 9. Putscher (1972), S. 141f. Hagner (2006), S. 166.

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WA RUM EIN HIRN B I LD N ICHT NOTW E N D I G E I N E A B B I L DU NG IST Um den Begriff Abbild zu fassen, ist es üblich, Platon (437–347 v. Chr.) zu konsultie­ ren. Dieses in bildtheoretischen Überlegungen verbreitete Vorgehen sorgt, zumindest begriff lich, oft für weniger Klarheit und mehr Unordnung. In Bezug auf seine meta­ physischen Überlegungen gerät man mit der Dreiteilung des Bildes in Darstellendes, Darstellung und Dargestelltes leicht in die Bredouille. Warum ist das so? Bilder wer­ den von Platon vor allem als Abbilder gedacht.73 Mit Platon ist ein Bild ein Nicht­ Seiendes oder zumindest zwischen Seiendem und Nicht­Seiendem anzusiedeln.74 Das bedeutet, dass es in seiner Materialität ist, und in dem, was es ist, nicht wirklich ist.75 Bisher sind wir von einem Referenten in der Realität ausgegangen, dem Darge­ stellten. Bei Platon ist die sichtbare Welt (das, was wir gemeinhin Realität nennen) das Abbild des wahrhaft Seienden.76 Ihn beschäftigte primär, so Schulz, das Verhältnis »zwischen den vergänglich irdischen Objekten und den unsterblichen Urbildern der Wahrheit« 77. Wir finden bei Platon kein Äquivalent zu dem, was sowohl Semiotiker als auch Phänomenologen als Dargestelltes (oder die jeweilige begriff liche Entspre­ chung) verstehen. Der Grund ist, dass unsere Realität, also das, worauf sich eine Dar­ stellung bezieht, mit Platons wahrhaft Seiendem nicht kongruent ist. Erschwerend kommt hinzu, dass wir im Allgemeinen keine Abbilder im platonischen Sinne mei­ nen, wenn wir von Abbildungen sprechen. Das, was wir als Realität begreifen, unsere Lebenswelt, werten wir (besonders im Kontext wissenschaftlicher Visualisierung) als wirklich Seiendes, als eine Art Urbild. Böhme schreibt: »Wenn man etwas abbildet, dann ist dasjenige, was das Abbild mit dem Urbild teilt, das Aussehen.« 78 Auf unser (nicht­platonisch) ›wirklich Seiendes‹ übertragen bedeutet dies, dass eine Abbildung ein vom Menschen gemachtes Bild un­ serer Lebenswirklichkeit ist. Abbilder dagegen spiegeln diese Realität ohne mensch­ liches Zutun in rein physikalischen oder mechanischen Prozessen, z. B. als Spiegelung, Spur oder Abdruck. Allerdings zeigt dieser Vergleich, wie äußerst problematisch es ist, die platonische Lehre von Urbild und Abbild mit der in den meisten modernen

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Vgl. Schulz (2005), S. 61. Vgl. Böhme (2004), S. 19. Vgl. ebd., S. 22. Vgl. ebd., S. 18. Schulz (2005), S. 61. Böhme (2004), S. 17. Die Betonung liegt hier m. E. darauf, dass etwas, ein Ding oder Phänomen, abgebildet wird. In diesem Fall können wir vom Bild als eikon sprechen, da dieser Begriff auf die, so Schulz, »mimetische Leistung der gemachten Bilder« abzielt, Schulz (2005), S. 57. Allerdings gibt es z. B. in der abstrakten Kunst auch nicht­mimetische Darstellungen, die sich auf kein Dargestelltes (reales Ding) beziehen.

WA R U M E I N H I R N B I L D N I C H T N OT W E N D I G E I N E A B B I L D U N G I S T

Bildtheorien üblichen Dreiteilung in Darstellendes, Darstellung und Dargestelltes zu synchronisieren. Eine Abbildung ist immer etwas vom Menschen Gemachtes, Hergestelltes. Auf Abbilder trifft dies nicht immer zu, beispielsweise wenn wir sagen, ›etwas bildet sich ab‹, etwa im Spiegel oder auf einer Wasserf läche. Wenn Abbild und Abbildung auch nicht identisch sind, so ist der umgangssprachlich verwendete Begriff Abbildung doch auf den des Abbildes zurückzuführen. Worin besteht nun die Differenz zwischen Bild und Abbildung? Für die Beantwortung dieser Frage wirkt der Umstand erschwerend, dass im allgemeinen Sprachgebrauch fast jedes Bild als Abbildung bezeichnet wird. Da die hier besprochenen Hirnbilder ohne menschliches Handeln nicht vorhanden wä­ ren, selbst wenn es sich um die apparative Aufzeichnung von Hirnströmen handelt, kann zwischen Bild und Abbildung insofern unterschieden werden, als Abbildung das aktive Moment menschlichen Handelns und Bild das visuelle Moment stärker betont. Hierauf lässt sich jedenfalls zurückführen, warum der jeweils intuitiv verwendete Be­ griff gewählt wird. In Bezug auf Bilder des menschlichen Gehirns soll für den wei­ teren Verlauf allerdings eine konsistente Unterscheidung getroffen werden. Folgende Überlegung soll den Unterschied zwischen Hirnbild und Abbildung eines Gehirns verdeutlichen: Das, was ich in dieser Arbeit ein Hirnbild nenne, kann die Abbildung eines Gehirns sein: Ein beliebiger materieller Bildträger (Darstellendes) zeigt etwas, dessen Form als die eines menschlichen Gehirns oder eines bestimmten Ausschnittes dieses Organs zu identifizieren ist. Das Gezeigte ist der Morphologie des Gehirns, so wie wir es wahrnehmen, zumindest ähnlich. Es kann sich dabei um ein individuelles Organ – das Gehirn von Karl Friedrich Gauss – oder um eine Abbildung des Gehirns – im Sinne von ›aller Gehirne‹ – handeln. Ein Hirnbild kann aber auch etwas anderes sein, wenn beispielsweise nicht Ana­ tomie abgebildet wird, sondern Modelle von Gehirnen. Solche Abbildungen wesent­ licher Elemente des Forschungsgegenstandes Gehirn oder darin ablaufender Prozesse, bestehen in eindeutigen Zuordnungen entsprechender Zeichen. Solche Modelle – wie auch Schemata oder Diagramme – visualisieren nicht (oder nur zweitrangig) Mor­ phologie oder Topologie, sondern Funktionsweisen von Organen.79 Hirnbilder kön­ nen demnach auch Schemata dreier hintereinander geschalteter Hirnzellen sein, wie sie aus dem Mittelalter überliefert sind, oder Darstellungen funktioneller Magnetre­ sonanz­Bildgebung (fMRI/MRI). Sie werden von Laien nicht notwendigerweise mit dem menschlichen Gehirn in Zusammenhang gebracht. Analogien zum Organ liegen nur bedingt vor. Solche mit dem Computer erzeugten Bilder beziehen sich nicht notwendigerweise auf ein Original. Kann behauptet werden, dass visualisierte Modelle oder Funktionsbilder keine Abbildungen sind? Was sind sie dann? Als Ver­ treter einer philosophisch geprägten Ausrichtung bildwissenschaftlicher Forschung geht Klaus Sachs­Hombach davon aus, dass Bilder keineswegs immer Abbilder sind. 79

Zu den Begriffen Schema und Diagramm vgl. S. 45ff.

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Seiner Ansicht nach kann ihr ikonisches Moment u. a. zugunsten der Ausdrucksqua­ litäten, die sie exemplifizieren, zurücktreten.80 Als Beispiel ist ein beliebiges Werk abstrakter Malerei denkbar. Lässt sich dieses Beispiel aus dem Bereich der bildenden Künste auf den der Naturwissenschaften übertragen? Ist ein ausgedrucktes Elektro­ enzephalogramm (EEG) ein Bild, aber keine Abbildung? Bild ist als Kategorie umfas­ sender zu verstehen. Es schließt sowohl Abbild als auch Abbildung ein. Auch das hängt natürlich wiederum von der Definition des Bildbegriffs ab. So wird in der Lite­ ratur häufig die Formulierung ›Bild im engeren Sinne‹ gebraucht, um anzuzeigen, dass etwa Traumbilder oder Weltbilder nicht in den verwendeten Bildbegriff einge­ schlossen sind.

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Vgl. Sachs­Hombach (2003), S. 25.

I LLUST RAT I O N, TA F E L U N D FI G U R Den Begriff Illustration verwende ich kaum, da er suggeriert, wissenschaftliche Abbil­ dungen seien bloße Textanhängsel. Tatsächlich gehen in diesem Punkt die Meinungen auseinander. Definiert ist die Illustration einerseits als Bebilderung oder erläuternde Bildbeigabe und andererseits als Veranschaulichung oder Erläuterung. Verbal kann also ein Gedanke anhand eines erzählten Beispiels illustriert werden. Das Verb illus­ trieren bedeutet, ein Buch bzw. einen Text zu bebildern, mit Bildern auszugestalten. Abgesehen von diesen Definitionen interessiert hier eher der Gebrauch des Wortes in bildwissenschaftlichen und wissenschaftshistorischen Kontexten. Wird die Literaturliste meiner Arbeit auf den Begriff Illustration hin durchgesehen, ist fest­ zustellen, dass mit Ausnahme eines aus dem Englischen übersetzten Bandes keine deutsche Veröffentlichung im Zusammenhang mit anatomischen Darstellungen das Wort Illustrationen im Titel führt. Beispiele englischer Sprache gibt es dagegen reich­ lich. Scientific oder anatomical illustration scheinen feststehende Begriffe zu sein. Im Deutschen werden solche Formulierungen sicher nicht zufällig umgangen. 2002 hielt Bredekamp einen Vortrag mit dem Titel Kunstgeschichte als historische Bildwissenschaft, in dem es u. a. darum ging, anhand »historischer Fallstudien die formale Qualität auch und gerade naturwissenschaftlicher Bildprodukte zu erfassen, die in der Regel als »Illustrationen« unterschätzt und in ihrer semantischen Botschaft entschärft werden«.81 Dass der Begriff hier in Anführungsstrichen steht, zeigt zwar, dass er durchaus auch anders zu besetzen wäre, eine Abwertung ist dennoch nicht zu überhören. Ein ähnli­ cher Duktus findet sich auch bei Mitchell, wenn er Gottfried Boehm fragt: »Stimmen wir nicht ganz grundsätzlich darin überein, dass Bilder nicht bloß eine dienende »Rolle« im Sinne von »Illustrationen« oder Modellen spielen, sondern ihrerseits als targets oder objects dieser Wissenschaften auftreten?« 82 Diese rhetorische Frage kann belegen, dass gegen den Terminus illustration auch im angelsächsischen Sprachraum Vorbehalte bestehen, auch wenn er häufig genutzt wird. Auch Sabine Merten kritisiert die Annahme, »Bilder seien eine bloße illustrative Ergänzung der historischen Quellen und damit als eine Erweiterung des Spektrums historischer Quellen zu betrachten«.83 Dass Bilder in ihrer Wirkungsweise immer wieder unterschätzt werden, bemerkt auch Heike Talkenberger, wenn sie moniert, Historiker würden Bilder mitunter ignorieren, bestenfalls in historische Abhandlun­ gen einstreuen, häufig nur als Illustration, nicht aber als historische Quelle nutzen.84 Ich schließe mich dieser Position an denn so verwendet, ist das Wort ›Illustration‹ nicht neutral: Ein Bild wird als Illustration unterschätzt, es hat eine dienende Rolle, ist 81 82 83 84

Vgl. Abstract zum Vortrag auf www.iconic­turn.de/iconicturn/autoren/ (7. 4. 2007). Mitchell (2007), S. 38. Vgl. Merten (2004), S. 1. Vgl. Talkenberger (1994), S. 289.

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bloß oder nur Illustration. Der Begriff der Illustration kann ein so bezeichnetes Bild damit zur Nebensache degradieren. In dieser Arbeit sind Bilder jedoch erklärter­ maßen Hauptsachen. Neben den universellen Begriffen wie Bild, Abbildung und Illustration kennen wir in Diskursen zu visueller Wahrnehmung in den Naturwissenschaften um Anato­ mie und Medizin die Begriffe Tafel und Figur. Diese Unterscheidung wurde in der Wissenschaftsgeschichte fast durchgängig getroffen. Die Tafel (tabula) lässt durch ihre Verwendung in englisch­ oder französischsprachigen Publikationen (plate oder planche) darauf schließen, dass es sich meist um eine ganze Kupferplatte oder einen Holz­ druckstock handelt, auf dem einzelne Figuren angeordnet sind. Das bedeutet schlicht, die ganze (manchmal auch halbe) Buchseite ist eine Tafel. Die darauf einzeln darge­ stellten Objekte sind Figuren. Oft handelt es sich um nur eine Figur pro Seite. Dann ist diese der Logik des jeweiligen Buches entsprechend entweder mit Tafel (Tab.) oder Figur (Fig.) bezeichnet. * Wenngleich Böhme in seiner Theorie des Bildes bezweifelt, ob »Was ist ein Bild? […] überhaupt die richtige Frage ist«, so benennt er doch vier Felder, die zu bearbeiten sind, um sie zu beantworten: »Theorie der Wahrnehmung, Bildpragmatik, Semiotik, Phänomenologie des Bildes«.85 Um die Frage nach dem, was ein Bild ist, zu beantwor­ ten, bedarf es komplementär zur Betrachtung verschiedener Wahrnehmungsweisen also auch der Auseinandersetzung mit den Umgangsweisen mit Bildern. Das bedeu­ tet, den jeweiligen Kontext, in dem Bilder erscheinen, einzubeziehen. Beide Faktoren sind in der vorliegenden Arbeit relevant: das Spezifische wissenschaftlicher Wahrneh­ mung und der Kontext, in dem die untersuchten Bilder stehen. Vordergründig ist der Kontext meist ein anatomischer Atlas. Auf einer anderen Ebene sind die gezeigten Bilder abhängig von Bildfunktionen, die sie in diverse Kontexte stellen.

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Böhme (2004), S. 11.

DAS A NATOM ISCH E BILD A L S GEGENSTA N D DER BILDW ISSENSCH A FTEN Every day, we are in the practice of looking to make sense of the world.86 Marita Sturken, Lisa Cartwright

Warum entsteht beim Lesen bildwissenschaftlicher Literatur oft der Einduck, Bilder müssten stets von Sprache legitimiert werden? Gerade im Bereich der Naturwissen­ schaften erscheint das Bild oft als zweitrangige Erkenntnisform. Können wir unseren Augen nicht trauen? Naturwissenschaftler scheinen solche Befürchtungen nicht zu teilen. Laut Breid­ bach sind sie ihrer Wirklichkeiten sicher, »weil sie sie beobachten können. Was den Naturwissenschaftler vom Geisteswissenschaftler unterscheidet, ist dieses Beobach­ ten.« 87 Wie wir noch sehen werden, haben die meisten Naturwissenschaften eine Tra­ dition des Umgangs mit ihrem Bildmaterial entwickelt, die es ihnen erlaubt, Bilder als wissenschaftliche Objekte in ihre Forschung zu integrieren. Auch im vorliegenden Buch werden Bilder mehrfach als solche angesprochen. So bezeichnet werden Bilder innerhalb naturwissenschaftlicher Forschung eben nicht als Phänomene, sondern als Dinge, vergleichbar beispielsweise mit Präparaten, angesehen und verwendet. Von dem Borderline­Syndrom, das Bildwissenschaftler ihrem Gegenstand gegenüber ent­ wickeln, ist hier nichts zu spüren. Bilder erst zerstückeln zu müssen, um sie wahrneh­ men und erfahren zu können, das ist Sache der Geisteswissenschaften. Dass sich Geisteswissenschaftler vermehrt mit naturwissenschaftlichen Abbil­ dungen befassen, ist offensichtlich.88 Boehms Fragen, »Welche wissenschaftlichen Dis­ ziplinen grenzen an das Phänomen Bild? Gibt es Disziplinen, die nicht daran gren­ zen?« 89 , können auch anders gelesen werden: Gibt es (Natur)Wissenschaften, die ohne Bilder auskommen können oder wollen? Stellvertretend für naturwissenschaftliche Disziplinen stehen in unserem Zu­ sammenhang vor allem Anatomie, Medizin und Neurowissenschaften. Als Neuro­ wissenschaften bezeichne ich mit Dieter Sturma »ein nicht klar definiertes Ensemble von naturwissenschaftlichen Disziplinen beziehungsweise Teildisziplinen […], die das Nervensystem und die Funktionen des Gehirns untersuchen« 90 .

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Sturken/Cartwright (2001), S. 10. Breidbach (2005), S. 14. Beispielhaft für viele interessante Forschungsbeiträge sei Albert Schirrmeisters 2005 her­ ausgegebener Beitrag zur Reihe Zeitsprünge – Forschungen zur Frühen Neuzeit mit dem Titel Zergliederungen – Anatomie und Wahrnehmung in der frühen Neuzeit genannt. Boehm (2001a), S. 11. Sturma (2005), S. 112.

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Da die Medizin bis Ende des 18. Jahrhunderts ein Feld war, das Kunst und Wis­ senschaft kombinierte, 91 sind ihre Bilderzeugnisse für beide Bereiche und so auch für die historische Forschung in diesen Bereichen interessant. Eine scharfe Trennung von Kunst­, Kultur­ und Wissenschaftsgeschichte ist unmöglich. Die bildwissenschaft­ liche Forschung führt mit der Frage nach den Bildern alle angesprochenen Disziplinen zusammen. Mocek zufolge gibt es »eben noch genügend Gebiete der Medizinge­ schichte, die bislang vor allem, gar ausschließlich unter dem Aspekt der Theorienent­ wicklung bzw. der medizinischen Praxis beleuchtet worden sind, kaum aber unter dem Gesichtspunkt der sozialen und politischen Komponenten mit ihrer mehr oder weniger erkenntnisleitenden Funktion.« 92 Da solche Komponenten ebenso Einf luss auf die Bilderzeugnisse der hier behandelten sowie aller anderen naturwissenschaft­ lichen Disziplinen nehmen, bietet eine bildwissenschaftliche Herangehensweise weit mehr als zunächst vermutet werden könnte. Die Bilder einer Disziplin sehe ich als Konzentrationspunkte, als Sammelstellen für alle sozialen, politischen, ökonomischen, erkenntnistheoretischen und ideengeschichtlichen, also im weitesten Sinne kulturel­ len Phänomene ihrer Entstehungszeit. Darin offenbart sich eine ›Wahrheit der Bilder‹, die über die statuierte Objektivität wissenschaftlicher Abbildungen positivistischer Wissenschaftspraxis hinausreicht. Auch wenn naturwissenschaftliche Darstellungen zu allen Zeiten eine Vorreiterposition in Bezug auf bildnerische Innovation einnah­ men, und es heute noch tun, wäre es wiederum falsch, davon auszugehen, dass sich die ästhetische Qualität dabei kontinuierlich potenziert hätte. Edwin Clarke und Kenneth Dewhurst bestätigen, dass immer verschiedene Bildqualitäten nebeneinander bestanden haben: »At any stage in history, regression as well as advancement is taking place. This has happened frequently during the development of brain illustration. Thus while some illustrations exhibited an increasing degree of artistic quality, others were wrechedly poor anatomically and lacking artistic merit.« 93 Die Neurowissenschaften stellen bei der Suche nach dem Bewusstsein Abbil­ dungen her. Wie schon im 19. Jahrhundert bei Franz Joseph Gall (1758–1828) wird das menschliche Gehirn mit neuester Technik erst vermessen, dann kartographiert. Der Bildfunktion ›Dokumentation‹ geht die der Bildherstellung als Erkenntnismethode voraus. Sicherlich haben die modernen bildgebenden Verfahren die Hirnforschung beschleunigt oder die Forschung in ihrer jetzigen Form überhaupt erst ermöglicht. Die Bilderf lut, ausgelöst durch einen stetig ansteigenden Output verschiedener Brain­ Imaging­Verfahren, macht die Zusammenarbeit von Neuro­ und Kunstwissenschaf­ ten immer interessanter und wichtiger. Dass dieses Interesse auf beiden Seiten besteht, bestätigt die Zunahme diverser interdisziplinärer Veranstaltungen.

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Vgl. Flaherty (1995), S. 272. Mocek (1995), S. 13. Clarke/Dewhurst (1972), S. 84.

D A S A N ATO M I S C H E B I L D A L S G E G E N S TA N D D E R B I L D W I S S E N S C H A F T E N

Ein Anliegen historischer Hirnforschung war es, die Anatomie menschlicher Gehirne zu verstehen und so realistisch wie möglich abzubilden. Parallel strebten Forscher zu verschiedenen Zeiten immer wieder danach, die Funktionsweisen des Gehirns zu visualisieren. Wie wir sehen werden, gab es zudem Versuche, Morpholo­ gie und Funktion in einem Bild zu verschränken. Als Hauptproblem erwies sich dabei die Reduktion. Das Bewusstsein etwa (sofern es als Gehirnfunktion bezeichnet werden kann) oder das Denken waren und sind nicht reduzierbar auf Abbildungsmodelle. Auch dann nicht, wenn der Realismus im Bild zugunsten der Darstellung von Funk­ tionsmodellen vernachlässigt wurde, wie in den Figuren zu Descartes’ L’Homme von Mitte des 17. Jahrhunderts. 94 In diesem Sinne sind Carl Wernickes (1848–1905) Fluss­ diagramme der Gehirninformation aus dem 19. oder Hirnaktivität beschreibende Elektroenzephalogramme seit Mitte des 20. Jahrhunderts ebenso unvollkommen wie Descartes’ modellhafte Gehirnbilder. Zittel mahnt, bei solchen Überlegungen »zu be­ achten, daß Bildkonzeptionen in Wahrnehmungsparadigmen eingebettet sind, die als solche auch die propositionalen Wissensbestimmungen implizit regieren«, dass also »bestimmte Darstellungsstile Denkzwänge« auferlegen. 95 Wie wir am Beispiel Leo­ nardos sehen werden, kann umgekehrt ein bestimmtes Denken neue Arten der Dar­ stellung hervorbringen oder begünstigen: Wer sich das Gehirn wie ein auf mecha­ nischen Prinzipien basierendes Instrument vorstellt, wird es als solches abbilden. Abbildungen neuronaler Zusammenhänge, die vor mehreren Jahrhunderten er­ stellt wurden, sind heute für Kunst­ und Wissenschaftshistoriker allemal interessanter als für Hirnforscher. Dabei ist zu fragen, ob das gegenwärtig aufgezeichnete Bild nicht ebenso stark Züge eines Kunstwerks trägt wie die anatomischen Zeichnungen Leo­ nardos. Ihnen wird ein ästhetischer Wert zugestanden, obwohl er sie aus naturwissen­ schaftlichem Interesse schuf. Heutige Wissenschaftsbilder können einen solchen unter Umständen auch erreichen, wenn sie in entsprechenden Zusammenhängen publiziert werden, z. B. unter der Rubrik Cell of the Month im Nature Magazin.96 Trotz solcher Auswüchse scheint Ästhetik ein Kriterium zu sein, das im Allgemeinen für Wissen­ schaftler keine entscheidende Rolle spielt. Klar ist allerdings auch, dass für die meisten Naturwissenschaftler »ethische und ästhetische Werte nicht grundsätzlich aus der Na­ tur herausfallen« 97. Es mag vermessen oder angemessen sein, Kritik an der Bildmanie einer Hirn­ forschung zu üben, der es nicht gelungen ist, einen Diskurs über die Funktion und Bedeutung wissenschaftlicher Bilder in ihre Arbeit zu integrieren. 98 Kritisch sollte vor 94 95 96 97 98

Vgl. S. 259ff. Zittel (2005), S. 123. www.nature.com/ncb/image/index.html (15. 6. 2008). Kanitscheider (2003), S. 59. Hier ist anzumerken, dass die Neuroscientific­Community selbst über Grafen (statistische Diagramme) miteinander kommuniziert und weniger mit den uns aus den Medien bekannten Hirnbildern arbeitet, wie Giovanni Galizia (Neurobiologie, Konstanz) auf der

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allem der Umgang der Medien mit solchen Bildern beleuchtet werden: Statt Auf klä­ rung zu leisten, werden neue Erkenntnisse zunehmend anhand oft simplifizierender Auslegungen poppiger Wissenschaftsbilder propagiert. Dass einige Medien für solche Taktiken ein Bewusstsein entwickeln und versuchen, sie aufzudecken, sei an dieser Stelle allerdings nicht unterschlagen. 99 Im Versuch, verschiedenartige Bilder in einem Diskurs zusammenzufassen, die zum einen aus dem Bereich der Kunst, zum anderen aus dem der Naturwissenschaften kommen, manifestiert sich der ›neue Bilderstreit‹, von dem Belting spricht. Ob dies auf die Bilder in dieser Arbeit auch zutrifft, ist definitionsabhängig, entstammen sie doch größtenteils einer Zeit, in der diese Kategorien noch nicht scharf voneinander getrennt bestanden. Mit den im zweiten Kapitel entwickelten Bildfunktionen lassen sich sowohl die Problematik unterschiedlicher Provenienz, als auch die Differenz zwischen historischen und rezenten Bildern, die in weit mehr als in ihren Trägerme­ dien differieren, vergleichen. In den Ästhetischen Grundbegriffen schreibt Oliver Scholz: »Zu den wichtigsten Adäquatheitsbedingungen jeder Explikation des Bildbegriffs muss die Forderung zählen, dass sie den unterschiedlichen Arten von Bildern gerecht werden muss; Bildtheorien müssen [mit anderen Worten] einer Allgemeinheits­ und Diversitätsbedingung genügen.«100 Dies ist es, worin für mich die Spannung der bild­ wissenschaftlichen Betrachtungsweise liegt. Die Entwicklung der Bildfunktionen als Werkzeug ist mein Vorschlag, wie die verschiedenen Kategorien wissenschaftlicher Bilder bildwissenschaftlich bearbeitet werden können.

99 100

Tagung Bildprozesse. Imagination und das Imaginäre im Dialog zwischen Kultur- und Naturwissenschaften am 4. Mai 2007 am Zentrum für Kunst­ und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe erklärte. Vgl. Tebartz van Elst (2007); Rasper (2007). Vgl. auch Kapitel IV. Scholz (2000), S. 668.

II. WISSENSCHAFTLICH E E RK EN N TN I S I M B I LD

Die wahre Erkäntnis eines Dings / Ist eine Wissenschaft: Die falsche / ein Irrtum Wahn und Verdacht.1 Johann Amos Comenius

»I don’t think anything is ever just science«, I said.2 Siri Hustvedt

Ein Anspruch, den Naturwissenschaftler an Bilder haben, besteht darin, dass diese Eindeutigkeit schaffen sollen. Durch Bilder sollen Beobachtungen bestätigt werden. Können Bilder das leisten? Haben sie Beweiskraft? Geben sie Gewissheit? Oder ist ein Bild letztlich immer nur eine mögliche Interpretation von etwas Gesehenem? Gewissheit ist eine objektive wissenschaftliche Kategorie. Unterschieden wird zwischen unmittelbarer, sich auf Anschauung eigener Wahrnehmung berufende (intuitive) Gewissheit einerseits und einer mittelbaren historisch (durch Bericht) oder logisch (durch Denken) gewonnenen Gewissheit andererseits.3 Anschauung initiiert oder fördert intuitive Erkenntnis. Bilder sind Anschauungsobjekte. Sie werden wahrgenommen, interpretiert und bewertet. Das Verhältnis zwischen Geschautem und Abgebildetem ist, wie wir sehen werden, ein schwieriges, multidimensionales. Da wir es hier weitgehend mit historischen Bilderzeugnissen zu tun haben, werden im Folgenden kurz die unterschiedlichen Perspektiven sowie die Analogien natur- und geisteswissenschaftlicher Forschung im Umgang mit Bildern betrachtet. Erwin Panofsky hat diese Problematik folgendermaßen umrissen: Die Zeichen und Gebilde des Menschen sind Zeugnisse, weil, oder eigentlich: in­ sofern sie Ideen artikulieren, die vom Vorgang des Zeichengebens und Bildens, auch wenn sie dadurch realisiert werden, doch unterschieden sind. Diese Zeug­ 1 2 3

Comenius (1668), S. 89. Siri Hustvedt, What I loved, New York 2003, S. 12. Vgl. Schischkoff (1991), S. 249.

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II. WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS IM BILD

nisse besitzen daher die Eigenschaft, aus dem Strom der Zeit aufzutauchen, und in eben dieser Hinsicht werden sie vom Geisteswissenschaftler studiert. Er ist im we­ sentlichen Historiker.4

Im Gegensatz dazu gingen Naturwissenschaftler nur bei Interesse an der Geschichtswissenschaft mit menschlichen Zeugnissen um und nicht, um daran naturwissenschaftliche Forschung zu betreiben. Dennoch weist Panofsky auf Analogien hin, die auch für die vorliegende Bildbetrachtung aufschlussreich sind. Er nennt die Beobachtung als Ausgangspunkt des jeweiligen Untersuchungsvorgangs. Diese werde zum einen durch das Blickfeld, zum anderen durch das verfügbare Material begrenzt. Eine weitere Begrenzung sei durch das Prinzip der Vorauswahl gegeben, das z. B. durch die Entscheidung für eine in der jeweiligen Forschungsarbeit angewendete Theorie zum Tragen komme.5 Zudem müsse das Bildwerk in einen raum-zeitlichen Bezugsrahmen eingeordnet werden. Und »[s]chließlich folgen auch die Schritte analog aufeinander, mit denen das Material zu einem naturwissenschaftlichen oder kulturellen Kosmos geordnet wird« 6 . Der Beobachtung folgt die Dechiffrierung, die Interpretation, die Klassifizierung der Ergebnisse und ihre Einbettung in eine Sinnstruktur. Bevor wir im dritten Kapitel zur historischen Perspektive kommen, soll im Versuch, Panofskys Forderungen gerecht zu werden, der wissenschaftliche Blick selbst Thema der Betrachtung sein. Wir gehen der Frage nach, wie naturwissenschaftliche Abbildungen aus der Anschauung als Methode jeweils neu generiert werden. Ein Problem bei der Untersuchung wissenschaftlicher Abbildungsstrategien besteht in der Tatsache, dass Wissenschaftler und ausführende Künstler bis ins 18. Jahrhundert hinein meist verschiedene Personen waren (und was anatomische Illustrationen angeht bis heute sind). Seit Beginn des Buchdrucks kamen oft noch Holzschneider oder Kupferstecher dazu. Im Falle anatomischer Abbildungen war zudem nicht immer derjenige, der das Forschungsinteresse hatte, identisch mit dem, der die Sektion und Präparation durchführte. Gesehenes wurde nacheinander in verschiedene Medien übertragen. Dies führte dazu, dass sukzessive ›Fehlerquellen‹ hinzukamen. Dokumentationen von Hand beinhalten stets Komponenten einer unbewussten bildlichen Muttersprache. Sie wird von Konventionen, unbewussten Annahmen, Vorlieben beeinf lusst. Die Abbildung eines Gegenstandes durch unterschiedliche Beobachter oder auch die im zeitlichen Abstand wiederholte Beobachtung durch einen Beobachter wird damit zu unterschiedlichen Resultaten führen. Wurden Phänomene aus dem Bereich der Natur beobachtet und zeichnerisch dokumentiert, tendierte das Ergebnis entweder in Richtung Naturtreue oder Stilisierung. Der in historischen Darstellungen erreichte Grad an Verismus oder Akkuratesse hing u. a. vom Auge als höchster 4 5 6

Panofsky (1975), S. 11. Ebd., S. 12. Ebd., S. 13.

WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS IM BILD

Instanz der Verifikation ab. Mit der Erfindung optischer Instrumente wurde das Auge sekundäres Hilfsmittel: Es war nicht zu ersetzen, wurde aber dem Apparat nachgeschaltet, d. h. das Mikroskop war näher am Objekt als das menschliche Sinnesorgan. Mitte des 17. Jahrhunderts schrieb der dänische Mediziner und Anatom Niels Stensen (Nicolaus Steno, 1638–1686) 7 : »Da Sektion und Präparation so vielen Irrtümern ausgesetzt sind, und auch unsere heutigen Anatomen sich nur allzu leichtsinnig darauf einlassen, Systeme aufzustellen und ihnen die weichen Teile anzupassen, darf man sich nicht wundern, wenn die danach gezeichneten Figuren nicht genau sind.« Neben Mängeln, die bei der Sektion auftreten, gab Steno weitere Gründe für das Misslingen von Zeichnungen an, etwa ungenaues Arbeiten des Zeichners, möge dieser »sich auch mit der Schwierigkeit entschuldigen, die darin besteht, auf einer Zeichnung die Teile plastisch zu erhöhen und zu vertiefen«. Ferner interessierte ihn »die Frage, ob der Zeichner richtig erfasst, worauf er seine Aufmerksamkeit besonders richten soll«.8 Desweiteren hatten Drucker in den meisten Fällen einen wenn auch ungleich geringeren Anteil an der Gestaltung der Bilder. Schließlich lagen die Bilder damit Rezipienten vor, die sie, mit ihren individuellen Erfahrungen, unterschiedlich geschultem Blick und vielleicht sogar differierender Optik9 betrachteten und deuteten. Bei diesem Prozess musste es zu Verlusten kommen. So bezog sich Samuel Thomas Soemmerring (1755–1830) 1788 auf die Gehirntafeln Félix Vicq d’Azyrs (1748–1794), obwohl diese »freylich noch vollkommener seyn könnten«. Zu diesem Zeitpunkt war er selbst nicht in der Lage, bessere Tafeln zu liefern, da es ihm zufolge »in Mainz an allen dazu gehörigen Künstlern fehlte«.10 Die Bildkritik, die Soemmerring hier vornimmt, und der Wunsch nach vollkommenen Abbildungen ist bis heute Bestandteil wissenschaftlicher Praxis. Wissenschaftler leben von guten Abbildungen. Sie untermauern die Theorie, machen neue Erkenntnisse bekannt und dokumentieren Forschungsschritte und -ergebnisse. Willi Kuhl schreibt in seinem Lehrbuch Das wissenschaftliche Zeichnen in der Biologie und Medizin von 1949, der Versuch, das Zeichnen bis zur »Reproduktionsreife« zu entwickeln, bewirke nicht nur eine Steigerung der zeichnerischen Fähigkeiten, sondern verbessere auch die Genauigkeit der Beobachtung der zu untersuchenden wissenschaftlichen Objekte. Dies sei »der Zweck des wissenschaftlichen Zeichnens im Praktikum: Schärfung und Kontrolle der eigenen Beobachtung«.11 In einigen naturwissenschaftlichen Disziplinen wie der Biologie lernen Studentinnen und Studenten auch heute noch zu zeichnen. Im Lexikon der Kunstwissenschaft heißt es zur »Ent7 8 9 10 11

Niels Stensen wird innerhalb meines Textes mit seinem lateinischen gebräuchlicheren Namen Steno benannt. Stensen (1965), S. 177. Hierzu vgl. Trevor-Roper (2001). Er fragt nach dem Einf luss, den Sehfehler auf Kunst und Charakter nehmen können. Soemmerring (1788), S. xii. Kuhl (1949), S. 7.

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II. WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS IM BILD

schleierung der Veritas« unter dem Stichwort Naturwissenschaft und Kunst: »In der Tat profitieren visuell basierte Wissenschaften (Anatomie, Zoologie, Botanik) für die Verbreitung und Vertiefung ihres Wissens von den Repräsentationstechniken vor allem der grafischen Kunst.«12 Wenngleich der Bleistift als Werkzeug nahezu ausgedient hat, und der Bereich Computervisualistik in der universitären Lehre an Bedeutung zunimmt, gilt nach wie vor die Prämisse, die Ferdinand Bruns in seinen von 1910–1917 gehaltenen Vorträgen ausgab. 1922 veröffentlichte er sie in Die Zeichenkunst im Dienst der beschreibbaren Naturwissenschaften, worin er ankündigt, ein Lehrverfahren vorzutragen, »das sich zum Ziele setzt, den Zeichner zu befähigen, solche Gegenstände mit den Ausdrucksmitteln der Zeichnung […] nachzubilden, deren Betrachtung Aufgabe der beschreibenden Naturwissenschaften ist, oder Ideen auszudrücken, die dem Arbeitsbereich dieser Wissenschaften angehören.« Um diese Aufgabe zu bewerkstelligen, seien vor allem im Ausdruck Klarheit und Sachlichkeit gefragt, denn unerheblich sei jener Teil der Grafik, »dem der Ausdruck ein Mittel ist, ästhetische Gefühle zu erregen, oder den Beschauer in den Bann von Stimmungen des Künstlers zu ziehen, also das kunstgewerbliche oder künstlerische Zeichnen im engeren Sinne«. Es ging ihm nicht zuletzt um eine Trennung von seiner Ansicht nach opponierender künstlerischer (subjektiver) und naturwissenschaftlicher (objektiver) Darstellungsweise. Dazu zeigte er den Weg auf: Die charakteristischen Eigentümlichkeiten der darzustellenden Gegenstände las­ sen sich durch den Vergleich verdeutlichen und durch Analyse aus der Gesamter­ scheinung herausheben. Die Erkenntnis der Fehlerquellen, die auf dem Wege falscher Assoziationen von Vorstellungen den reinen sinnlichen Eindruck und sei­ ne Wiedergabe gefährden, führt zur Gewinnung von Kontrollmethoden, deren sachgemäße Anwendung den Zeichner instand setzt, während des Fortganges der Arbeit die Uebereinstimmung zwischen Objekt und Darstellung zu prüfen und da­ mit zur Selbständigkeit zu gelangen.13

Das Gemütsleben solle keinen Einf luss auf die Arbeit haben, sondern die sinnliche Erscheinung sei unermüdlich darauf hin zu prüfen, unter welchen Bedingungen sie zustande komme. Bruns mahnt, dass der Zeichner sich der Relativität aller Erscheinungswerte stets bewusst bleiben müsse, um einer von ihm als objektiv oder wissenschaftlich bezeichneten Zeichenmethode gerecht zu werden.14 Die Forderung nach Ähnlichkeit, Richtigkeit, Kongruenz und Objektivität von Bildern wird hier synonym mit ihrer Wissenschaftlichkeit gesetzt. Wie wir an diversen Beispielen früher Bildkritik sehen werden, wurde diese Forderung nicht erst im 20. Jahrhundert formuliert. 12 13 14

Fiorentini, in Pfisterer (2003), S. 245. Bruns (1922), S. 1. Hervorhebungen durch den Autor. Ebd., S. 2.

WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS IM BILD

Der Terminus wissenschaftliche Objektivität wird in diesem Buch als etwas Konstruiertes ausgewiesen. Begriffe wie Objektivität, Wahrheit oder Wirklichkeit in den Wissenschaften haben besonders in ihren Bezügen auf bildliche Repräsentationen verschiedene Implikationen und sind selten eindeutig definiert. Breidbach schreibt zur Objektivität in den Naturwissenschaften: Die Ebene der Objektivität ist nicht die Ebene der Objekte, es ist die Ebene, in der die Objekte in dem, was sie uns bedeuten, bewertet werden. Diese Bewertung ist nicht unabhängig vom Subjekt, die Bewertung erfolgt für das Subjekt, und auch mit ihm. So bleibt das Subjekt auch in einer Wissenschaft von der Natur erhalten, die in der Natur ihren Maßstab findet.15

Diese Einbindung des schauenden, interpretierenden aber auch gestaltenden Subjekts kann bewirken, dass auch im 20. Jahrhundert die Zeichnung anderen, als ›objektiver‹ geltenden Darstellungstechniken vorgezogen wird. Radivoj V. Krstic hat in den 1970er Jahren gezeichnete cytologische Atlanten veröffentlicht, deren Zeichnungen bis heute maßgeblich sind. In den jeweiligen Vorworten äußert er sich zu der Frage, ob eine solche anachronistisch wirkende Darstellungsform im Zeitalter der Fotografie gerechtfertigt sei. Die Erfahrung habe gezeigt, dass die Zeichnung dank ihrer Klarheit dem Studenten oft nützlicher sei als die beste Fotografie, da sie Details auch in der dritten Dimension wiedergeben könne. Durch seine Zeichnungen könne er besonders Vorstellungen vom räumlichen Verhalten der Bauelemente einer Zelle geben.16 Darüber sagten im Durchstrahlungselektronenmikroskop gewonnene Profilbilder und selbst rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen kaum etwas aus: »Hier kann die Zeichnung eine Lücke füllen, da sie die gleichzeitige Darstellung der inneren und äußeren Morphologie erlaubt.«17 Mit der klar formulierten didaktischen Funktion, die Krstic seinen dreidimensionalen Strichzeichnungen zuschreibt, nämlich den Bau histologischer Strukturen anschaulich und damit leichter verständlich zu machen, richtet er sich an verschiedene Adressaten, u.a. an Elektronenmikroskopiker. Daraus lässt sich ersehen, dass die Ergebnisse einer damals neuen und scheinbar objektiven Methode, wissenschaftliche Bilder zu generieren, durchaus interpretationsbedürftig waren und sind. An der Zeichnung ist das Auge zu schulen, damit bloß Gesehenes zu einer wissenschaftlichen Beobachtung und damit zu etwas führt, was interpretiert werden kann. Ausgehend von dieser Feststellung leitet ein Goethe-Zitat zum nächsten Kapitel über: »Was man weiß, sieht man erst!«18

15 16 17 18

Breidbach (2005), S. 11. Vgl. Krstic (1975), Vorwort. Krstic (1978), S. VII. Goethe (1948), Bd. 13 (Schriften zur Kunst), S. 142.

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B E OB A C HT U NG U N D A N SC HA UU N G A LS W I SS EN SCH A FTLI C H E M ETH O D EN »Ästhetik ohne Wissenschaft bleibt nutzlos, und Wissenschaft ohne Ästhetik bleibt wertlos.«19 Diese Aussage Fischers bezieht sich auf die ursprüngliche Bedeutung der Ästhetik: Sie ist eine Lehre von der Erkenntnis des Wirklichen unter Zuhilfenahme der Sinneswahrnehmungen. Im folgenden Abschnitt geht es um die Rolle, die Bilder bei diesem sinnlichen Erkennen spielen.20 Im 18. Jahrhundert begründete Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) die Ästhetik als selbstständige Wissenschaft des sinnlichen Erkennens. Wenngleich sich »die Wissenschaft der Auf klärung vom Sinnhaften als Weg der Erkenntnis absetzt«21, wie Erna Fiorentini schreibt, spielte Anschauung als Methode in den sich herausbildenden Naturwissenschaften eine übergeordnete Rolle. Baumgarten habe, so Fiorentini, eine wissenschaftliche Lehre der sinnlichen Erkenntnis (cognitio sensitiva) begründen wollen, die der rationalistischen Methodologie als Korrektiv gegenüber stehen sollte. Fortschritte in den Naturwissenschaften wurden während der deutschen Aufklärung von Zeitgenossen kritisch beäugt. Samuel Thomas Soemmerring (1755–1830) zitierte in seiner Schrift Über das Organ der Seele von 1796 ausführlich aus einem von ihm nicht näher bezeichneten Artikel aus den Horen, bei dem es sich um einen Ausschnitt aus dem dreizehnten Brief Friedrich Schillers (1759–1805) in der Ästhetischen Erziehung handelt: Eine der vornehmsten Ursachen, warum unsere Naturwissenschaften so langsame Schritte machen, ist offenbar der allgemeine und kaum bezwingbare Hang zu te­ leologischen Urtheilen, bei denen sich, sobald sie constitutiv gebraucht werden, das bestimmende Vermögen dem empfangenden unterschiebt. Die Natur mag unsere Organe noch so nachdrücklich und noch so vielfach berühren – alle ihre Mannichfaltigkeit ist verloren für uns, weil wir ihr nicht erlauben, sich gegen uns herein zu bewegen, sondern vielmehr mit ungeduldig vorgreifender Vernunft gegen sie heraus streben. Kommt alsdann in Jahrhunderten einer, der sich ihr mit ruhigen, keuschen, und offenen Sinnen naht, und deswegen auf eine Menge von Erscheinungen stößt, die wir bei unserer Prävention übersehen haben: so erstaunen wir höchlich darüber, daß so viele Augen bei so hellem Tage nichts bemerkt haben sollen. Dieses vorei­ lige Streben nach Harmonie, ehe man die einzelnen Laute beisammen hat, die sie ausmachen sollen; diese gewalttätige Usurpation der Denkkraft in einem Gebiete, 19 20 21

Fischer (2002), S. 25. Vgl. ebd., S. 20. Fiorentini »Naturwissenschaft und Kunst«, in Pfisterer (2003), S. 245.

BEOBACHTUNG UND ANSCHAUUNG AL S WISSENSCHAFTLICHE METHODEN

wo sie durchaus nichts zu sagen hat, ist der Grund der Unfruchtbarkeit so vieler denkender Köpfe für das Beste der Wissenschaft; und es ist schwer zu sagen, ob die Sinnlichkeit, welche keine Form annimmt, oder die Vernunft, welche keinen Inhalt abwartet, der Erweiterung unserer Kenntnisse mehr geschadet habe.22

Mit den Worten Schillers verdeutlichte Soemmerring die unbedingte Notwendigkeit und vor allem die Vorrangigkeit der sinnlichen Wahrnehmung im Kontext naturwissenschaftlicher Forschung. Nur durch Wahrnehmung, verstanden »als umfassende Beschreibung der verschiedenen menschlichen Möglichkeiten, körperlich, sinnlich und geistig auf Phänomene, Ereignisse oder Personen zu reagieren«23 , könne Wissenschaft überhaupt ausgeübt werden. Sinneseindrücke müssten offen empfangen werden, bevor sie Form annehmen könnten. Es solle nicht von Ergebnissen ausgegangen werden; die Offenheit für verschiedene Verläufe müsse gegeben sein. Was Schiller forderte war nichts anderes als die Anschauung in den Dienst eines induktiven Wissenschaftsprinzips zu stellen, das nicht von oben verordnet, sondern von unten her aufgebaut werden sollte. Aufgrund vermuteter Gesetzmäßigkeiten wird von Einzelbeobachtungen ausgehend auf Allgemeingültiges geschlossen. Seit Beginn der Neuzeit wurden die Naturwissenschaften, deren Forschungsobjekt nun einmal die Natur ist, laut Breidbach von der »Idee einer unmittelbaren Sicht auf die Dinge, eines von der Geschichte und dem Subjekt unverstellten Blickes« bef lügelt. Nicht auf Theorien sollten die Erfahrungen basieren, sondern auf einfacher »Beobachtung als Ideal einer Sicherung des Wissens«. So habe sich die induktive Wissenschaft als diejenige verstanden, »die ihre Objekte unmittelbar aus der Erfahrung und nicht aus der Theorie gewinnt«.24 Im Widerspruch zu diesem Ideal wurde die Geschichte der jeweiligen Disziplin keineswegs außer Acht gelassen. Francis Bacon (1561–1626) war, obwohl er selbst keine Experimente durchführte, der erste, der die induktive Methode proklamierte und damit einen enormen Einf luss auf nachfolgende Forschergenerationen ausübte.25 Ihm zufolge muss die Welt, die eine Realisation der Gedanken des Schöpfergottes darstellt, zu dessen Ehre vom Menschen erforscht und verstanden werden. Isaac Newton (1642–1727) verwirklichte mit der analytischen Induktivität den Ansatz Bacons. Damit prägte er die Wissenschaften über das 18. Jahrhundert hinaus entscheidend. Induktive Verfahren treiben den Erkenntnishorizont voran. Das Wissen, das so erlangt wird, ist kein statisches, sondern ein dynamisches: Wir wissen, was wir noch nicht wissen.26

22 23 24 25 26

Zit. nach Soemmerring (1796), S. 5f., vgl. auch Schiller (1910), S. 50. Schirrmeister (2005), S. 2. Breidbach (2005), S. 39. Vgl. Lindeboom (1968), S. 268. Vgl. dazu auch S. 65 und Kapitel IV.

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Die heute meist angewandte deduktive Methode rekurriert auf von oben verordnete Ausgangsfragen. Dabei wird aus dem Allgemeinen das Besondere abgeleitet, d. h. es wird ein Ist-Zustand gesetzt, der durch Versuche zu belegen ist. Im 17. Jahrhundert hatte sich René Descartes (1596–1650) die deduktive Methode zunutze gemacht. Sein Hauptaugenmerk lag auf der Ausgangsidee. Solche Wissenschaftsprinzipien spiegeln sich in den Bildern der Zeit, in der sie entstehen, wieder. Die Behauptung objektiver wissenschaftlicher Abbildungen stellt hier keine Ausnahme dar. Bildwahrnehmung, also die Beteiligung des gesamten Körpers und aller seiner Sinne an der Bilderfahrung,27 ist der für uns interessante Teil wissenschaftlicher Wahrnehmung.28 Einen weiteren Aspekt, nämlich die Kultur der Beobachtung, spricht Breidbach in seiner Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung an. Er betont, dass »in der Beobachtung die Gegenstände nicht einfach repräsentiert werden«, sondern dass sich »ein Gegenstand dem Subjekt nach dessen Maßgabe, das heißt in dessen [kulturell gebundenen, W. L.] Bestimmungen, verfügbar« macht.29 So wie es keine ›reine‹ Beobachtung gibt, gibt es auch keine ›reine‹ Repräsentation der Naturdinge. Was sind nun aber Beobachtung und Anschauung in den historischen Naturwissenschaften? Den Sehsinn bewerteten neben Platon, Aristoteles (384–322 v. Chr.) und Leonardo da Vinci (1452–1519) auch unzählige andere Philosophen, Naturforscher und Künstler als den wichtigsten der fünf Sinne. Claudius Galen (129–199 n. Chr.) erkannte Thomas Glassl zufolge die Bedeutung der Beobachtung als »wesentliche Quelle des Wissens in der Medizin«30 an. Auch Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) betonte das Primat des Auges, des Sehens und insbesondere des Betrachtens von Objekten und Bildern als Methode wissenschaftlichen Arbeitens. Ich betrachte Goethe an dieser Stelle beispielhaft. Bei der Lektüre seiner naturwissenschaftlichen Schriften erkennen wir, dass das Wesentliche für den Forscher Goethe das ist, was Michel Foucault als »Privileg der Beobachtung«31 charakterisiert hat. Im Vordergrund stand bei Goethe das Betrachten der Natur und ihrer Phänomene. Er selbst sprach von der »lebhaften Beobachtung« oder dem »lebendigen Anschaun«.32 Etwas bloß zu sehen oder anzuschauen ist per se noch kein wissenschaft27 28

29 30 31 32

Vgl. Schulz (2005), S. 125. Die evolutionstheoretischen Voraussetzungen gegenständlicher Wahrnehmung und damit die Konsequenzen des Darwinismus sowie ihre Bedeutung in geisteswissenschaftlichen Diskursen seit der Moderne sind wichtige Aspekte wissenschaftlichen Wahrnehmens. Norbert M. Schmitz diskutiert die kulturgeschichtliche Relevanz der Evolutionsbiologie aus Sicht der Geisteswissenschaften hinsichtlich einer postulierten Einzigartigkeit menschlichen Sehens, vgl. Schmitz (2002). Breidbach (2005), S. 45. Glassl (1999), S. 14. Foucault (1974), S. 165. Goethe (1962), S. 9.

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licher Akt. Es muss unter bestimmten Voraussetzungen beobachtet werden, unter einer Fragestellung oder in Bezug auf eine Theorie, die das Sehen leitet.33 Dass unter ›lebendiger Anschauung‹ mehr gefasst werden muss als bloßes Sehen und visuelles Erleben, davon zeugen Goethes Naturforschungen. Dank seiner genauen Beobachtungen fallen ihm Ähnlichkeitsbeziehungen in der Natur besonders ins Auge. Zur ›visuellen Anschauung‹ (Eidetik) kommt das Begreifen eines Dinges von innen heraus. Wie bei Kant ermöglicht auch bei Goethe die Anschauung die Erfahrung und noch im 20. Jahrhundert gilt für Bruns mit Bezug auf Kants Satz (in Kritik der reinen Vernunft von 1781), wonach Anschauungen ohne Begriffe blind und Begriffe ohne Anschauungen leer seien: »Ein klares Vorstellungsleben ist nur denkbar mit einem geordneten Verstandesleben.«34 Bruns zufolge rufen die das Auge treffenden Sinnesreize nicht ohne Weiteres klare Vorstellungen hervor. Unsere Eindrücke seien nicht objektiv, was ihre Reproduktion erschwere. Der Grund hierfür ist in unserem individuellen Vorwissen zu suchen, ist also abhängig von Erfahrungen, die wir gemacht haben, ob wir beispielsweise das geschaute Objekt schon von Abbildungen oder aus der Natur kennen. Wissenschaftliche Erfahrung besteht immer in Zusammenhang mit schon Gewusstem, also mit vorgängigen Erfahrungen anderer, die ihrerseits auf Beobachtungen beruhen und wiederum neue Beobachtungen initiieren. Wissenschaftlichen Beobachtungen gehen Erfahrungen voraus. Ihre Ergebnisse werden zu neuen Erfahrungen kombiniert. Breidbach definiert die Beobachtung als »ref lektierte Perzeption«35 . Perzeption bezeichnet den neurophysiologischen Vorgang, mit dem auf Sinnesreize reagiert wird, und »Beobachtung ist, zu registrieren, daß etwas der Fall ist. Die Wahrnehmung ist die bewertete Beobachtung«. Als Erfahrung charakterisiert Breidbach »den Gesamtvorgang der Datenaufnahme im Perzept bis zur ref lektierten Sicherung der Beobachtung in der Wahrnehmung. Erfahren heißt eine Perzeption in den Gesamtzusammenhang der Wahrnehmungen zu integrieren.«36 Umgangssprachlich bezeichnet Wahrnehmung meist das, was Breidbach Perzeption nennt. Aber »Wahrnehmung ohne Denken ist«, laut Hans-Dieter Huber, »genau so leer wie Wahrnehmung ohne Gedächtnis«37. Dies besagt zum einen, dass wissenschaftliche Wahrnehmung explorativen Handelns bedarf, also sinnlicher Erfahrung des Gegenstandes von allen Seiten. Zum anderen greifen Forscher auf vorgängiges Wissen zurück, erinnern sich an schon Gesehenes und setzen den Gegenstand zum im Gedächtnis Vorgefundenen in Beziehung. Der Gegenstand wird aus allen Richtungen umkreist, eingekreist: motorisch, sinnlich, gedanklich. In den letztlich auf klärerischen Begriffen ›lebhafte Beobachtung‹ und 33 34 35 36 37

Vgl. Breidbach (2005), S. 159. Bruns (1922), S. 2. Breidbach (2005), S. 17. Ebd., S. 18. Huber (2004), S. 80.

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II. WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS IM BILD

›lebendige Anschauung‹ wird das Zirkulieren von Wahrnehmung, Beobachtung und Erfahrung eingefangen. Indem er sie formulierte und durch eigenes Beispiel mit Bedeutung füllte, entsprach Goethe heutigen Ansprüchen, wie sie von Huber als einem Vertreter allgemeiner Bildwissenschaften formuliert werden: Man benötigt die Bereiche der Sprache und des motorischen Handelns, im Sinne eines aktiven explorativen Umherbewegens und Kommunizierens des Beobach­ ters in einem Millieu. Diese Bereiche oder Aspekte der Beobachtung [Wahrneh­ mung, Denken, Gedächtnis, W. L.] sind hochgradig voneinander abhängig. Es hat wenig Sinn, eine Argumentation zu entwickeln, die auf der analytischen Isolie­ rung dieser unterschiedlichen Fakultäten aufbaut.38

Durch die Praxis der ›lebendigen Anschauung‹ nimmt die Zeit der deutschen Auf klärung eine besondere Stellung in der Ideengeschichte ein. In seiner Einschätzung der Bedeutung des Gesichtssinnes erwies sich Goethe als wahrer Erbe Leonardos. Auf Goethe Bezug nehmend, beschreibt Kurt Werner Peukert das wie folgt: Bei Goethe wird, so scheint es, das letzte Mal versucht, die Wissenschaft und das Anschauliche zu verbinden, die seit der Renaissance sich unabhängig voneinan­ der entfalteten. Goethe versucht beide noch einmal zusammenzuhalten, indem »sein Denken ein Anschauen und sein Anschauen ein Denken ist« 39 .

Dieser Aussage stimme ich im Prinzip zu, jedoch unter dem Einwand, dass Goethe nicht der Letzte war, der dies versuchte. 40 Dieser sah das Auge als das Meisterwerk göttlicher Schöpfungskraft an. In Verbindung mit der Hand 41 als ausführendem Werkzeug, erhob er es in seiner schöpferischen Kraft sogar über die Natur selbst. Von Martin Kemp ins Englische übersetzt heißt es bei Leonardo: »it triumphs over nature, in that the constituent parts of nature are finite, but the works that the eye commands of the hands are infinite«42 . Das Auge befiehlt der Hand das Bild. Dieses ist im Gegensatz zur belebten Natur unsterblich, unendlich. Goethe sah die Anschauung, neben Gefühl und Ref lexion, als maßgebliche Komponente seiner wissenschaftlichen Tätigkeit: [S]o ward ich, bei unermüdet fortgesetzter Bemühung, auf das Kleinleben der Na­ tur […] höchst aufmerksam, und weil die zierlichen Begebenheiten, die man in 38 39 40 41 42

Ebd. Peukert (1973), S. 419. Vgl. S. 391ff. Zum Topos der »denkenden Hand« vgl. Bredekamp (2007), S. 3ff. Leonardo da Vinci, zit. nach Kemp (2004), S. 52.

BEOBACHTUNG UND ANSCHAUUNG AL S WISSENSCHAFTLICHE METHODEN

diesem Kreise gewahr wird, an und für sich wenig vorstellen, so gewöhnte ich mich, in ihnen eine Bedeutung zu sehen, die sich bald gegen die symbolische, bald gegen die allegorische Seite hinneigte, je nachdem Anschauung, Gefühl oder Reflexion das Übergewicht behielt. 43

Nach dieser Aussage zu urteilen war Goethe Sensualist. Danach muss der Mensch alles, was er verstandesmäßig verarbeitet, zuvor durch sinnliche Wahrnehmung aufgenommen haben, in diesem Falle gesehen haben. Anschauung als Ergebnis einer Stimulation äußerer Sinne wird mit inneren Eindrücken verbunden. Aus der Pluralität dieser Sinneseindrücke gelangt er zur Erkenntnis. Ein Begriff, der einen Erkenntnisprozess dieser Art umschreibt, wäre die Kognition als Funktion, die neben der Wahrnehmung eines Gegenstandes das Wissen über ihn einschließt. Bei Breidbach ist im Begriff ›Wahrnehmung‹ die Bewertung implizit. Eine solche kann wiederum nur auf Erfahrung beruhen. Die Erfahrung ist m. E. der Wahrnehmung nicht notwendigerweise nachgeschaltet, sondern beide bedingen einander. Die Art, wie wahrgenommen wird, ist durch vorher gemachte Erfahrungen bestimmt. Wahrgenommen wird durch den Filter der Erfahrung, der mit jeder neuen Wahrnehmung modifiziert wird. Dieser systemtheoretisch anmutende Gedanke lässt kein Außerhalb der Erfahrung zu, eine ›reine Wahrnehmung‹ existiert nicht – der Wahrnehmungshorizont eines Subjekts ist niemals ein ›unbeschriebenes Blatt‹. Dieser Gedanke schließt das Problem einer objektiv beobachtenden Naturwissenschaft ein. Wo von individuellen Erfahrungen geprägte Subjekte beobachtend zu Ergebnissen gelangen, ist der Begriff einer (naturwissenschaftlichen) Objektivität kritisch zu hinterfragen. * In einem System, in dem die Ratio als Gegenpol zum seelisch Motivierten im Menschen steht, nahm Goethes erkennendes Beobachten eine vermittelnde Position ein, die den bipolaren Standpunkt auf brach. Im Beobachten selbst lag also eine Erkenntnisleistung, die nicht allein durch vernünftige Anwendung des Denkens erbracht wurde, sondern in der die sinnliche Wahrnehmung intuitiver Erkenntnisakt war. Goethe konnte Beobachtetes auf Grund seiner Erfahrungen in mannigfaltigen wissenschaftlichen Bereichen in ein Kontinuum von Beobachtungen einordnen, die seine spezielle ganzheitliche Sicht auf die Natur ausmachten. Aus Goethes Aufzeichnungen wissen wir, dass seine besondere Art der Anschauung schon seinen Zeitgenossen auffiel. Der Anthropologe Johann Christian August Heinroth (1773–1843), so Goethe, 43

Goethe (1949), Bd. 10, S. 307. Um die Dinge dann in eine Ordnung setzen zu können, bedarf es, in einem auf die Anschauung folgenden Schritt, einer Vorstellung oder leitenden Idee, vgl. Breidbach (2005), S. 81.

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34

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bezeichnet meine Verfahrensart als eine eigentümliche: daß nämlich mein Denk­ vermögen gegenständlich tätig sei, womit er aussprechen will: daß mein Denken sich von den Gegenständen nicht sondere; daß die Elemente der Gegenstände, die Anschauungen in dasselbe eingehen und von ihm auf das innigste durchdrun­ gen werden; daß mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschau­ en sei. 44

Diesen Gedanken finden wir bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) wieder: [D]ies ist das wahrhaft Vernünftige und ist nur zugänglich für den wissenschaftlich gebildeten Menschen, der von dem unmittelbaren Verhalten der Empfindung des Sehens, Hörens usf. frei ist, seine Sinne in sich zurückgezogen hat und mit freiem Denken an die Gegenstände geht. Diese Vernünftigkeit und dies Wissen ist nur Resultat der Vermittlung des Denkens […]. Jene Erkenntnis der Natur erklärt man als Anschauen: dies ist nichts anderes als Unmittelbares Bewußtsein; fragen wir: was ist angeschaut worden? [So meinen wir] nicht die sinnliche Natur oberfläch­ lich betrachtet […], sondern das Wesen der Natur […] das Allgemeine45 .

Dies ist ganz im goetheschen Sinne gedacht. Die Durchdringung der Natur erfolgt von innen heraus, wobei die Sinne in einer Suprafunktion genutzt werden, die über die Sinneswahrnehmung hinaus die Wesenhaftigkeit zu erkennen und ins Bewusstsein zu bringen vermag. Im Stück Die Absicht eingeleitet, einem Vorwort zu seinen Arbeiten über die Morphologie, machte Goethe den Unterschied zwischen den Formen der Betrachtung deutlich. Die Kenntnis von den Naturgegenständen, die durch Teilung oder Zergliederung gewonnen wurde (z. B. in der pathologischen Anatomie), wurde einer Betrachtung der ganzen (lebendigen) Gestalt gegenübergestellt. Denn auch diese zweite Form, so behauptete er, erlaube dem Forschenden auf ein Inneres zu schließen, welches sich in den »sichtbaren, greiflichen Teile[n]«46 erkennen lasse. Die Kombination der Faktoren Wahrnehmung und Wissenserwerb beschränkt sich nicht auf Beobachtung der Natur oder künstlich erzeugter Phänomene bei Versuchsabläufen. Sie kann auch auf die Generierung wie Rezeption der Bilderzeugnisse wissenschaftlicher Forschung angewendet werden. Im nächsten Abschnitt soll verdeutlicht werden, wie in der anatomischen Wissenschaft der Schritt vom inneren zum äußeren Bild vollzogen wird.

44 45 46

Goethe (1962), S. 186. Hegel (1978), S. 270. Goethe (1962), S. 8.

DER A NATOM I SC H E LEI B – VON DER A NSCH AU U NG ZU R B I LD LI C H EN D A RSTE LLU NG So wie die Evolution des Steinzeitmenschen eine allmähliche Dominanz des Gesichtssinns gegenüber den anderen Sinnen mit sich brachte, ereignete sich in der Folge ein Richtungswechsel in unserer Entwicklungsgeschichte, der von noch größerer Tragweite war, fast ebenso einschneidend wie das Auftauchen des organischen Lebens selbst; denn in dieser Phase haben wir gelernt, wie man das Wissen, das jede neue Generation erwirbt, außerhalb des Individuums speichert und so ein stetig anwachsendes Lager zum Erbe für die Nachfolger anlegt. Diese jüngste Superrevolution des Menschen wurde zum größten Teil dadurch ermöglicht, daß man die Abstraktion von Idee und Vorstellungen entdeckte, die dann mündlich oder bildlich weitergegeben werden konnten, in der Form von Darstellungen oder schematisch als geschriebene Sprache. 47

Die hier von Patrick Trevor-Roper beschriebene Evolution sinnlicher Wahrnehmung über die Anschauung zur Darstellung steht einem Gebot des naturwissenschaftlichen Abbildens entgegen, das Ferdinand Bruns in den 1920er Jahren formuliert hat – der Forderung nämlich, dass wir uns unserer Vorbildung (hier im wörtlichen wie im übertragenen Sinne verstanden) entledigen müssen. Objekten wissenschaftlicher Anschauung sei bei der Bildproduktion vorurteilsfrei, im eigentlichen Sinne naiv gegenüberzutreten, damit bereits Bekanntes zu Erforschendes nicht verschleiere. 48 Eine solche Forderung ist in der Tat naiv. Bilder zu schaffen, bei denen Gesehenes nicht von Gewusstem überlagert wird, ist unmöglich. Ihnen sind ästhetische und formale Prinzipien ihrer Entstehungszeit ebenso eingeschrieben, wie (Vor)Wissen und Bildgedächtnis ihrer Produzenten. So lassen sich historische Fallbeispiele wissenschaftlicher Abbildung immer auch als Phänomene einer Kulturgeschichte der Anschauung lesen. Auch und gerade ein Fokus auf die Korrelation von Sehen, Verstandesleistung und Wissensaspekt erweist sich, Bruns Forderung verwerfend, als äußerst fruchtbar. Für ein solches Vorgehen ist Leonardo beispielhaft als jemand, der, wie es Putscher darstellt, »genauer hinsieht und wohl wirklich erstmals nicht nur gelegentlich das Gesehene in Naturstudien festhält, sondern die gewissenhafte Abbildung dessen, was er sieht und vom Sehen her dann versteht, zur Grundlage seiner Kunst macht.«49 Worauf Putscher rekurriert ist die Beständigkeit, mit der Leonardo seine Beobachtungen verfolgte, und die Systematik, die er ihnen zugrunde legte. Allerdings beschränkte sich Leonardo, wie wir sehen werden, nicht darauf, lediglich Gesehenes darzustellen, um

47 48 49

Trevor-Roper (2001), S. 10. Vgl. Bruns (1922), S. 2. Putscher in Baur/Bott/et al. (1984), S. 50.

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II. WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS IM BILD

an die ›wahre Wahrheit‹ heranzukommen. Er stellte auch Artefakte her, mit denen er sichtbar machte, was dem allein beobachtenden Auge verborgen geblieben wäre.50 Im ausgehenden 15. Jahrhundert, etwa um die Zeit also, als Leonardo mit seinen anatomischen Studien begann, wurden im Buchdruck Informationen vermehrt bildhaft dargestellt. Michael Giesecke beschreibt am Beispiel von Kräuterbüchern jener Zeit, wie das »›Betrachten‹ […] direkt auf die visuelle Erfahrung als Erkenntnisquelle«51 verweist. Neu war, dass der Autor eines Kräuterbuchs etwas darstellen wollte, was ihm nicht oral überliefert worden war, sondern etwas, das er mit eigenen Augen gesehen hatte. Die Erkenntnisquelle Naturbetrachtung wurde in der »künstliche[n] Darstellung des visuellen Erfahrungswissens pogrammatisch in Angriff genommen«, was dazu führte, dass auf Dauer »Informationsbereiche künstlich konservierbar, speicherfähig [wurden], die bislang bestenfalls in der individuellen Psyche repräsentiert werden konnten«.52 Für eine ikonische Beschreibung von Pf lanzen wie auch des menschlichen Körpers mussten »neue Wege bei der Darstellung oder Kodierung beschritten werden«53 . In seiner Arbeit über die Muskelanatomie Giovanni Battista Cananos (1515– 1579) aus dem 16. Jahrhundert schreibt Glassl, Canano habe, im Gegensatz zu Galens beschreibender Methode, seine Abhandlung mit Zeichnungen versehen. Bereits im Vorwort habe er angegeben, die Lücken seines anatomischen Wissens mit Zeichnungen zu füllen, die auf direkter Beobachtung anatomischer Präparate beruhten.54 Wichtig war für Canano wie auch für seinen weit berühmteren Zeitgenossen Andreas Vesal (1514–1564) eigenes Sezieren und Beobachten. Die Erfahrung am geöffneten Körper wurde mit den Schriften Galens verglichen. Hier fanden sich etliche Fehler, die entstanden waren, weil Galen die Erkenntnisse aus seinen an Tieren durchgeführten Sektionen eins zu eins auf die menschliche Anatomie übertragen hatte. Die überlieferten Fehlinformationen, etwa die vierlappige Leber55 , konnten nun nach genauer Beobachtung und durch neu Entdecktes richtiggestellt, ergänzt, verbildlicht und in den neuzeitlichen Kanon eingefügt werden. Die meisten Anatomen werden selbst auch gezeichnet haben. Ihre Zeichnungen sind Protokolle wissenschaftlicher Wahrnehmung. Sie dienten der Dokumentation und halfen, begreifendes Anschauen durch Materialisierung (wörtlich genommen) dingfest zu machen. Zeichnungen dieser Art werden in den seltensten Fällen Leonardos anatomischen Studien geglichen haben. Ebensowenig hatten sie wohl mit den Tafeln in gedruckten Atlanten gemein. Nur in Ausnahmefällen stellten Anatomen selbst Abbildungen für solche Druckwerke her, die dann z. B. in Holz geschnitten und ver50 51 52 53 54 55

Vgl. Kapitel 3.2.2. Giesecke (2006), S. 347. Ebd. Ebd., S. 349. Vgl. Glassl (1999), S. 24. Vgl. S. 82.

D E R A N ATO M I S C H E L E I B

öffentlicht wurden. Eher werden ihre Zeichnungen den Charakter von Vorzeichnungen für die beauftragten Künstler gehabt haben. In erster Linie dienten sie der Dokumentation von Beobachtungen und waren somit Grundlage für Vergleiche, Überlegungen und Theoriebildungen. Darüber hinaus wurden sie aber selten publiziert und kaum öffentlich rezipiert. Auch wenn es in der Renaissance Anatomen gab, die selbst zeichneten, so waren sie doch keine Künstler, die als traditionell Bildschaffende ihrem erlernten Handwerk nachgingen. Das bekannteste Gegenbeispiel ist Leonardo, der genau genommen kein Anatom war. Zumindest besaß er keine universitäre medizinische Ausbildung. Gegenüber den Ärzten hatte er den Vorteil seiner grafischen Kompetenz, die es ihm erlaubte, die Ergebnisse verschiedener Sektionen in besonderer Weise in einem Bild zusammenzufassen.56 Bei Weitem in der Überzahl befanden sich Anatomen, die als Auftraggeber anatomischer Zeichnungen auftraten. Sie waren meist mit dem Verfasser, der auf dem Frontispiz genannt wurde, identisch. Die Auftragnehmer können, sofern sie bekannt sind, hier bis auf Ausnahmen nicht berücksichtigt werden. Über einige der an gedruckten Anatomien mitwirkenden Künstler gibt Ludwig Choulant in seiner Geschichte und Bibliographie der anatomischen Abbildung nach ihrer Beziehung auf anatomische Wissenschaft und bildende Kunst (1852) Auskunft. Wer diese Künstler waren, die die Bilder nach den Beobachtungen der Anatomen schufen, ist oft nicht nachvollziehbar. Nicht selten sind nur ihre Namen bekannt. Auch davon, wie solche Übertragungsprozesse abliefen, existieren nur wenige Zeugnisse. Fertigten die Sezierenden während der Arbeit Skizzen an, die sie dann an Zeichner und Schablonenschneider weitergaben? Berieten sie diese während der Ausführung oder ließen sie sie an Sektionen teilnehmen? Feststeht, dass auch die neutral und technisch intendierte wissenschaftliche Abbildung immer einem Stil angehörte und angehören wird, der von verschiedenen Faktoren abhängt. Künstlern wurden Objekte vorgegeben, zudem vielleicht die Art der Darstellung (z. B. naturalistisch oder schematisch), ein bestimmter Ausschnitt, eventuell der Einfall des Lichtes und schließlich eine Technik und damit zusammenhängend das Arbeitsmaterial. Zu Beginn des Buchdrucks und teilweise noch bis ins 18. Jahrhundert war das fast ausschließlich der Holzschnitt. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts wurde zwar vermehrt in Kupfer gestochen, doch der Kupferstich verdrängte den Holzschnitt nicht etwa schlagartig. So hatte unter den Anatomen Canano den Schritt zum Kupferstich zwar gewagt, jedoch mit geringem Erfolg. Gegenüber dem Holzschnitt ermöglichte er allerdings eine bessere Darstellung körperlichen Materials, denn, so Heinrich Schipperges,

56

Vgl. Nova (2005), S. 156.

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II. WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS IM BILD

wie in der Renaissance und im frühen Barock die Landschaftsmaler beginnen, die In­ nenräume so zu gestalten, daß man sich leibhaftig in den Raum einbezogen fühlt, so entwickeln nun auch die barocken Anatomen ein Gespür für die Raumhaftigkeit des Herzens. Kupferstich und Radierung gestatten es, die Stofflichkeit des Fleisches pla­ stisch darzustellen und mit immer neuen malerischen Effekten zu versehen57.

Die Entwicklung der künstlerischen Gestaltung in der anatomischen Abbildung, die Schipperges hier am Beispiel des Herzens beschreibt, kann fraglos auch für das Gehirn nachvollzogen werden. Die mannigfaltigen Vorzüge des Holzschnitts gegenüber neueren Techniken wie Kupferstich, Radierung, Lithografie und fotografischen Verfahren pries noch Mitte des 19. Jahrhunderts der Botaniker Ludolph Christian Treviranus (1779–1864). Durch das Holzschnittverfahren, dessen Stärke »in der Genauigkeit und Schärfe der Umrisse« liege, konnte »der Gedanke des Meisters« schnell, direkt und »so vollkommen als möglich« unmittelbar auf Holz aufgebracht und von einem »geringere[n] Arbeiter« vervielfältigt werden.58 Noch einen weiteren Vorteil führte Treviranus an, der auf eine Quasi-Demokratisierung der Medien durch massenhafte Verfügbarkeit hinausläuft: Da es »wohlfeil« sei, Holzdrucke in großer Zahl zu reproduzieren, würden sie vielen Menschen zugänglich.59 Neben den ästhetischen Eigenheiten, die in der Wahl der jeweils verwendeten Abbildungstechniken begründet lag, beeinf lussten unweigerlich auch der künstlerische Ausdruck und Geschmack einer Zeit sowie individuelle Ausdrucksformen und Arbeitsweisen die wissenschaftliche Abbildung. Durch Analyse solcher Faktoren können Betrachter mit geschultem Auge u.a. bestimmen, zu welchem Zeitpunkt ein Bild entstanden ist. Ein weiteres Kriterium für das Erscheinungsbild anatomischer Bilder war die Qualität und Verfügbarkeit der Vorlagen: naturbelassene oder präparierte Körper, Wachsmoulagen oder Holzmodelle. Indem ein Körper oder Modell zur Zeichnung wird, erfolgt grundsätzlich eine Reduktion von drei auf zwei Dimensionen. Sind aber solche (Ausgangs)Körper oder Modelle vorgängig schon Bilder? Aus bild-anthropologischer Sicht ist dies der Fall. So erklärt Belting: Der Mensch ist so, wie er im Körper erscheint. Der Körper ist selbst ein Bild, noch bevor er in Bildern nachgebildet wird. Die Abbildung ist nicht das, was sie zu sein behauptet, nämlich Reproduktion des Körpers. Sie ist in Wahrheit Produktion

57 58 59

Schipperges (1989), S. 64. Ebd., S. 1. Treviranus (1949), S. 1f.

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eines Körperbilds, das schon in der Selbstdarstellung des Körpers vorgegeben ist. Das Dreieck Mensch – Körper – Bild ist nicht auflösbar, wenn man nicht alle drei Bezugsgrößen verlieren will.60

M ETHO D EN

Von den genannten Faktoren, die Einfluss auf das anatomische Bild nehmen – wissenschaftliche Methodik bzw. Beobachtung, Entstehungsbedingungen, Zeitgeschmack, Material, etc. – komme ich nun auf die verschiedenen bildnerischen Methoden zu sprechen, mit denen Künstler arbeiteten. Jede der genannten Darstellungsformen hat Einfluss darauf, was wir am jeweiligen Bild wahrnehmen oder wie wir es wahrnehmen. Diese Methoden wissenschaftlichen Abbildens stehen mit den Funktionen wissenschaftlicher Abbildungen im engen Zusammenhang, bedingen diese Funktionen aber nicht notwendigerweise. So kann beispielsweise die Demonstration des Blutkreislaufs sowohl an einem schematischen als auch an einem naturalistisch dargestellten Objekt erfolgen. Ist Letzteres der Fall, werden andere Methoden hinzugezogen, etwa zeigende Hände in das Bild implementiert, um die demonstrative Bildfunktion zu unterstützen. R E A LIS M U S U N D T ROM P E -L’OE I L

Der Problematik um realistische oder naturalistische Bilder sind wir bereits im ersten Kapitel nachgegangen. Größtmögliche Nähe zum realen Objekt, in der bildlichen Darstellung einer beobachtbaren Realität wurde während der Renaissance ein zentrales Paradigma anatomischer Visualisierung. Zittel macht darauf aufmerksam, dass anatomische Darstellungen heute nicht realistischer sind als zu Zeiten Vesals, denn »was als realistisch empfunden wird, ist kulturell relativ« 61. Um die Realitätsnähe zu steigern, wurde der Körper oder das Präparat in der Manier eines Trompe-l’oeil (»Täusche das Auge«) dargestellt, d. h. der Betrachter sollte das Bild für das halten, was es darstellte. Natürlich werden selbst Trompe-l’oeilBilder nur unter außergewöhnlichen Umständen mit dem Dargestellten verwechselt. So ist hier die Augentäuschung eher im übertragenen Sinne zu begreifen: Der Betrachter stellt sich angesichts eines Bildes vor oder »tut in gewissen Grenzen so, als sähe [er] nicht das Bild, sondern die abgebildeten Gegenstände« 62 . Auf Seiten des Produzenten war das geläufigste Mittel, mit dem er diesen Effekt erreichen konnte, das Präparat zusammen mit Hilfsmitteln darzustellen. Solche, mit denen es präpariert worden war, 60 61 62

Belting (2002), S. 89. Auf dieses Problem werde ich unten noch einmal zurückkommen, vgl. S. 69. Zittel (2005), S. 124. Scholz (2004), S. 63.

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II. WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS IM BILD

Abb. 1: Rückenmark, ausklappbarer unterer Teil der Tab. 10 aus Anatomia humani corporis, Bidloo (1685).

oder solche, mit deren Hilfe es in Position gehalten wurde. Als Motive dienten z. B. Holzblöcke, Bänder, Schnüre, Nadeln oder kleine Nägel und Metallstifte. Die ersten beiden Beispiele entstammen Godfridus Bidloos (1649–1713) Anatomia Humani Corporis63 von 1685. Die nicht nummerierte Tafel (Abb. 1) ist eine Fortsetzung der ersten Figur auf Bidloos Tafel 10 (vgl. Abb. 110), auf der das Rückenmark (Medulla spinalis) sehr detailliert in seiner ganzen Länge gezeigt wird. Indem Bidloo das Präparat mit gezeichneten Nadeln auf das Papier gepinnt darstellen ließ, bot sich ihm die Möglichkeit, verschiedene Ebenen vor dem Auge des Betrachters aufzubauen. Er durchtrennte die äußeren, das Mark umschließenden Rückenmarkshäute der Länge nach und pinnte sie fest. Das wie beim Gehirn Dura mater genannte äußere Häutchen ist nicht mit dem Wirbelkanal verwachsen und konnte daher herauspräpariert werden. Es erscheint im Bild halbdurchsichtig über den Nervenpaaren (16–30) aufgespannt, die links und rechts aus ihm heraus in den Körper führen. Die Spinalnerven liegen gebündelt mittig im Bild auf der zerschnittenen Dura mater und führen durch kleine Löcher unter ihr hindurch, wo sie, sozusagen auf einer tieferen Ebene, ebenfalls befestigt wurden (z. B. das 24., 25. und 26. Nervenpaar). Sieht man genau

63

Vgl. S. 306ff.

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Abb. 2: Falx cerebri, Tab. 8 Fig. 1 aus Anatomia humani corporis, Bidloo (1685).

hin, erkennt man einen längeren Draht oder eine Nadel, die in ein weiteres Rückenmark umschließendes Häutchen (c), wahrscheinlich handelt es sich um die Pia mater, eingeführt wurde, um es wie einen Kanal offen zu halten.64 Diese Nadel ist zwischen drei der die Dura mater spannenenden Nadeln eingeklemmt und hält mit ihrem oberen Ende die Pia mater gespannt. Diese Methode wird links daneben in Figur 7 wiederholt. Wie die Nervenenden und die aufgespannte Haut wirft jede der kleinen Nadeln einen Schatten. Ein Vergleich der Schatten sämtlicher Figuren dieser Tafel zeigt, dass sie alle zu unterschiedlichen Tageszeiten oder in unterschiedlichen Beleuchtungssituationen angefertigt worden sind. Dies ist ein weiteres Indiz dafür, wie genau der Künstler das Bild vom Präparat ›abnahm‹. Figur 1 der achten Tafel Bidloos wirkt wie ein kleines Bühnenbild (Abb. 2). Mit Hilfe von Metallstäbchen (H), in der Legende als Styli bezeichnet, ist die zwischen den beiden Hemisphären herausgetrennte Hirnhaut (Falx cerebri) derart aufgespannt, wie sie die Hirnhälften trennen bzw. sie umfassen würde. Oben wird die Konstruktion von Fäden gehalten. Der linke Faden ist mit einer Schleife versehen und wird von einem Nagel gehalten, der in einem angedeuteten Vierkant-Stab zu stecken scheint. 64

Die mittlere Rückenmarkshaut (Arachnoidea) wird in der Legende nicht benannt und war wohl zu diesem Zeitpunkt noch unentdeckt.

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II. WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS IM BILD

So fixiert wird das Objekt in seiner Dreidimensionalität anschaulich. Dass Bidloo nicht etwa versuchte, die eingezeichneten Hilfsmittel zu verschleiern, ist eindeutig: Indem sie in den Bildlegenden gelistet, also zusammen mit den gezeigten Körperteilen genannt sind, werden sie zum Teil des dargestellten ›natürlichen‹ Ensembles. Gezeichnete Hilfsmittel, die dazu dienen, abgebildete Körper zu stabilisieren, kennen wir schon aus den Anatomien Vesals und Estiennes: Bäume, gegen die sich die Körper lehnen, Tische, auf denen sie liegen (vgl. Abb. 62–63). Giulio Casserio (1561– 1616) hatte die geöffneten Köpfe teilweise mit Holzblöcken abgestützt, und Florent Schuyl (1619–1669), der erste Herausgeber von Descartes’ posthum erschienener Schrift De Homine 65 (1662), trieb einen Metallstab durch das Gehirn (vgl. Abb. 85). Aber Bidloo und nach ihm besonders Humphrey Ridley (1653–1708) und Albrecht von Haller (1708–1777) gingen weiter, indem sie die Trompe-l’oeil-Methode in die anatomische Abbildung einführten. Ihr Anspruch beschränkte sich nicht darauf, das Bild dem Dargestellten möglichst ähnlich sehen zu lassen. Vielmehr beabsichtigten sie eine Täuschung im positiven Sinne. Um das dreidimensionale Präparat in einen ebensolchen Bildraum zu überführen und damit eine Steigerung des bildlich Darstellbaren zu leisten, sollte das Trägermedium Papier überwunden werden. Besonders eindrucksvoll gelang Haller diese Mimesis auf einer Tafel, die im zweiten Teil des Iconum anatomicarum 66 erschien. Präsentiert wird ein präpariertes Segment von Gefäßen im Hals eines Kindes (Abb. 3). Der Hals ist hierfür auf zwei Holzblöcken abgestützt. Das Halssegment taucht innerhalb des selben Bildes als Schema auf. Über dem sezierten Kind ist auf einem gezeichneten Stück Papier eine schematische Darstellung der Halsgefäße aufgepinnt. Um das Schema, das an sich einer realistischen Visualisierungsform entgegensteht, in diesem Kontext darstellbar zu machen und dabei die Illusion nicht zu zerstören, muss es als Bild im Bild dem Paradigma des Realismus enthoben werden. Das Bild wird dabei zunächst auf sein Trägermedium und damit quasi auf ein äußeres Bild reduziert: Was wir sehen, ist nicht ein Schema, sondern ein Stück Papier, auf dem ein Schema abgebildet ist. Diese Übertragung funktioniert nicht zuletzt dadurch, dass die Aufmerksamkeit auf das Papier mit seinen spezifischen Eigenschaften zu knittern, sich an den Ecken aufzurollen oder gar einzureißen, gelenkt wird. Indem Haller das Zeichenpapier selbst mit abbilden ließ, konnte er eine schematische Darstellung zeigen und dabei dennoch die Augentäuschung aufrechterhalten. Präparatorische Hilfsmittel wie diverse Nägel und Nadeln (Abb. 4a und Abb. 4b) mit abzubilden, war in Hallers Iconum anatomicarum nichts Ungewöhnliches. Sein geglückter Versuch, anatomische Visualisierungsstrategien zum

65 66

Vgl. S. 242. Albrecht von Haller, Iconum anatomicarum quibus præcipuæ aliquæ partes Corporis Humani delineatæ continentur Fasciculus II. Arteria Maxillaris, Coeliacae T. I. & II. Thyreoidea inferioris T. I. & II. Uterus, Göttingen 1745.

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Abb. 3: Gef äße im Hals eines Kindes, Tab. II aus Iconum anatomicarum, Haller (1745).

Thema einer anatomischen Abbildung zu machen, bleibt jedoch eine Ausnahmeerscheinung. Eine Nähe zur realen Sektion wurde auch evoziert, indem im Bild Instrumente dargestellt wurden, die wie zufällig neben dem Objekt liegengeblieben wirken. Hier geht es um etwas anderes, als in den voher genannten Beispielen. Der Betrachter soll vom Bild in die Situation transportiert werden. Dies geschieht nicht, indem er angeleitet wird, kunstvoll hergestellte, aber doch fertige Präparate zu bewundern. Die chirurgischen Instrumente, jene Insignien der Sektion, funktionieren als Schlüsselloch, durch das der Betrachter einen intimen Einblick in das raumzeitliche Ereignis Sektion

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II. WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS IM BILD

Abb. 4a/4b: Nägel und Nadeln aus Iconum anatomicarum, Haller (1745).

bekommt. Bildlich sollte die Illusion vermittelt werden, einer Sektion beizuwohnen. Auf einigen der Tafeln in der Anatomia mundini 67 des Johannes Dryander (1500–1560) ist neben dem präparierten Kopf das passende Werkzeug zum jeweiligen Hirnschnitt dargestellt (vgl. Abb. 42a/b und Abb. 42d). In einer der Hirnabbildungen in Charles Estiennes De dissectione partium corporis humani 68 von 1545 beugt sich der Körper über einen im Freien stehenden Holztisch, worauf Skalpell und andere Werkzeuge wie nach getaner Arbeit liegen (vgl. Abb. 61). Einen Tisch mit Sektionsinstrumenten kennen wir aus Vesals Fabrica (Abb. 5). So ein Instrumentarium hatte zunächst einmal den praktischen Grund, Anatomiestudenten und Wundärzte über ihr Handwerkszeug zu informieren. Weiterhin diente es dazu, den Blick des Betrachters auf das handwerkliche Geschick des Verfassers (in diesem Falle Vesal) zu lenken, der beim Sezieren die diversen Instrumente selbst handhabte und beherrschte. In der Repräsentation von Wissen drückt sich ein Herrschaftsanspruch gegenüber dem meist unwissenden Betrachter aus, der hier durch das Sujet waffenartig aussehender Werkzeuge immens

67 68

Vgl. S. 176. Vgl. S. 210.

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Abb. 5: Tisch mit Sektionsinstrumenten aus der französischen Ausgabe der Fabrica, Vesal (1569).

verstärkt wird. Zudem mag der Wunsch Ausschlag gegeben haben, dem Buch eine zweite Ebene, die von erlebter Sektion, beizufügen. SCH E M A

Was charakterisiert eine schematische Darstellung? Umgangssprachlich verstehen wir darunter eine anschauliche Abbildung, ein Diagramm oder eine Übersicht. Nach Huber nimmt das Schema eine besondere Mittelstellung zwischen bildlicher Veranschaulichung und Konkretisierung auf der einen und Abstraktion und Hierarchisierung auf der anderen Seite ein.69 Grundsätzlich können wir hier zwei verschiedene Gruppen schematischer anatomischer Bilder unterscheiden. Zum einen sind es Bilder mit ordnenden, organisierenden und verwaltenden Funktionen, die es ermöglichen, Wahrnehmung zu strukturieren.70 Dabei handelt es sich zumeist um anatomische Tafeln, auf denen Wissensinhalte nach verschiedenen Aspekten geordnet und gemeinsam zur Darstellung gebracht werden. Möglich wäre z. B. eine vergleichende Ordnung, eine 69 70

Vgl. Huber (2004), S. 129. Vgl. S. 88.

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II. WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS IM BILD

Abb. 6: Vergleichende Anatomie des Gehirns, Tab. 50 aus A Systeme of Anatomy, Collins (1685).

Anordnung von Gehirnen verschiedener Spezies neben- und untereinander (Abb. 6) oder eine Darstellung der verschiedenen Hirnschichten, die in der Reihenfolge ihres Abtrags während einer Sektion geordnet sind. Ein weiteres Beispiel sind EmbryonenSchemata aus dem 19. Jahrhundert.71 Die Anordnung solcher Bildelemente oder Figuren entspricht einer logischen Übersicht. Solche Schemata werden auch als »Bilderreihe« 72 oder »Bilderfolge« 73 bezeichnet. Dabei müssen die einzelnen Elemente nicht notwendigerweise abstrahiert dargestellt sein. Eine Tafel, deren einzelne Figuren bestimmten Regeln, also inhaltlichen Notwendigkeiten folgend auf der Bildfläche geordnet erscheinen, bildet ein Schema. Ich schlage vor, diese als Ordnungsschemata zu bezeichnen, da mit dieser Art der Darstellung einzelne Bilder oder Bildelemente in eine bestimmte Sinn ergebende Ordnung gebracht werden. Zum anderen, und an dieser Stelle entscheidender, bezeichnen wir als schematische Bilder solche, die einen Körper oder ein Organ vereinfacht abbilden. Einzelheiten werden vernachlässigt, während gleichzeitig bestimmte Motive oder Muster grafisch herausgearbeitet oder überzeichnet werden. Dadurch werden diejenigen Cha71 72 73

Vgl. Voss (2007), S. 228f. und Abb. 53. Ebd., S. 175. Ebd., S. 177.

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rakteristika oder Merkmale hervorgehoben, bei denen das jeweilige Forschungsinteresse liegt. Die spezifischen Eigenschaften verschiedener Abbildungsmodi können genutzt werden, um Abbildungen eindeutig zu gestalten. Schemata stehen im Gegensatz zu den oben beschriebenen Darstellungsformen Realismus und Trompe-l’oeil, mit denen eine größtmögliche Realitätsnähe angestrebt wurde. Eine der am häufigsten verwendeten schematisierenden Methoden ist die Darstellung des ›gläsernen Menschen‹74 . Der Körper oder einzelne Körperteile werden transparent bzw. durch Umrisslinien abgebildet, um z. B. den inneren Auf bau eines Organs zeigen zu können. Andere Beispiele zeigen, dass der ›gläserne Körper‹, also der linear gestaltete Umriss seiner äußeren Form, der beispielsweise das Gef lecht der Blutgefäße umschliesst, überf lüssig wurde. So stellte Vesal Muskeln oder Venen ohne eine umhüllende Schicht durchsichtiger Haut dar (vgl. Abb. 56). Der Eindruck eines Körperumrisses entsteht im Bild durch die Position und den Verlauf der Muskelstränge oder Adern. So selbstverständlich wie bisher nur bei Darstellungen von (Knochen)Skeletten war Vesal in der Lage, den ganzen Leib – seine äußere sichtbare Hülle – auch durch andere innen liegende Strukturen bildlich zu repräsentieren. Der Erste, der diese Methode in der Hirnanatomie anwendete, war Steno (vgl. Abb. 94). Er stellte eine realistische und eine schematische Bildfassung des selben Objekts nebeneinander und hat damit ein Verfahren geschaffen, das bis heute angewendet wird.75 Dabei wird nicht notwendigerweise komplett von den Objekten abstrahiert. Bei Steno wurden alle Formen auf ihre Umrisslinie reduziert, d. h. statt eine Illusion von Dreidimensionalität zu erzeugen, blieb er in der Zweidimensionalität des Blattes. Er nutzte diese Reduktion, um bestimmte Punkte zu verdeutlichen. Die innerhalb der Umrisse entstehenden weißen (unbedruckten) Felder eignen sich besonders gut, um Ziffern für eine Legende eindeutig zu platzieren, die in den räumlichen Schraffuren des Bildpendants unterzugehen drohten. (Von diesem Vorteil machte Steno, der seinen Bildern keine Legende beifügte, allerdings keinen Gebrauch.) Im 18. Jahrhundert kam diese Art der Gegenüberstellung verschiedener Bildtypen geradezu in Mode. Haller kombinierte sie mit anderen Techniken und brachte sie zur Perfektion. Das hier gezeigte Bildpaar (Abb. 7a/7b) ist auf eindrucksvolle Art und Weise präpariert und gezeichnet. Schnitte auf verschiedenen Ebenen sorgen dafür, dass das Bildobjekt besonders plastisch wirkt. Metaphern aus der Fotografie drängen sich beim Betrachten förmlich auf: Auf allen Bildebenen sind die dargestellten Formen und Strukturen perfekt ausgleuchtet und durch die Tiefenschärfe gleich gut eingestellt. Die Arterien, um die es hier hauptsächlich geht, scheinen ein Eigenleben zu führen und recken sich in die vom wegpräparierten ›Fleisch‹ vorgegebenen Rich74

75

Vgl. z. B. Herrlinger (1967b), S. 97f. Unter den Abbildungsmethoden heutiger Hirnforschung findet sich das glass brain, die Gesamtdarstellung sämtlicher Forschungsergebnisse eines Experiments in einem Bild, vgl. Tebartz van Elst (2007), S. 30 und Kapitel IV. Vgl. z. B. Benninghoff (1985), S. 204f. und S. 281.

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Abb. 7a: Arterien des Halses aus Iconum anatomicarum, Haller (1745).

tungen. Sie sind auf der schematischen Zeichnung durch etwas stärkere Linien besonders hervorgehoben. Auch Pierre Tarin (1725–1761) und Félix Vicq d’Azyr (1748–1794) folgten dem Beispiel Stenos und Hallers (vgl. Abb. 132, Abb. 134, Abb. 138 und Abb. 139). Dass sie bei den jeweils nicht-schematischen Bildern Rot als zusätzliche Druckfarbe verwendeten, verstärkt den Gegensatz zwischen beiden Bildvarianten noch. Bildschaffende der Anatomie greifen bis heute zu diversen Mitteln, um im Schema das Beobachtete je nach Interesse und Zielführung zu überhöhen oder zu abstrahieren sowie einzelne Aspekte gesondert herauszuarbeiten. Funktionsmodelle oder physiologische Abläufe konnten schon früh durch schematische Körperdarstellungen vermittelt werden. Der anatomische Bau eines Körperteils oder Organs diente dabei der Strukturierung des Bildes. Hieran konnte sich der Abbildende grafisch orientieren, ohne den entsprechenden Körperteil oder das Organ naturalistisch fassen zu müssen.76 76

Vgl. z. B. Leonardos halbschematische Darstellung des Rückenmarkkanals, Leonardo, 19040r [FB 23 recto].

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Abb. 7b: Arterien des Halses aus Iconum anatomicarum, Haller (1745).

Als besonders brauchbare Technik in Bezug auf schematische Darstellungen erwies sich der Holzschnitt. Im Zusammenhang mit dessen Anwendung bei der Darstellung des anatomischen Baus von Pf lanzen warnte Treviranus vor dem Versuch, die Natur verbessern zu wollen. Interessant ist hierbei seine betonte Zurückweisung des vom Wissenschaftler und/oder Künstler in das Bild eingebrachten Individuellen und die gleichzeitige Forderung, das Beobachtete zu abstrahieren.77 Die von Treviranus zugunsten des Holzschnitts abgelehnten fotografischen Verfahren zeigen eine bestimmte Pf lanze oder einen individuellen Körper, der, so Treviranus, »ein entschieden Ausgezeichnetes im Habitus wiedergibt« 78 . Er verweist damit auf die Tatsache, dass eine Fotografie ein Individuum zeigt, wo ein Typus am Platze wäre. Treviranus forderte dazu auf, alle unbestimmten, unvollständig gekannten, zweifelhaften Faktoren (ebenso wie das Individuelle) im Bild zu beseitigen.79 Mit dem Holzschnitt wer77 78 79

Vgl. Treviranus (1949), S. 2. Ebd., S. 71. Vgl. ebd.

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de dem Rezipienten die Freiheit eines eigenen Urteils entzogen, denn der »Darsteller selbst hat meistens dem Beschauer seine Absicht mit einer Zuversichtlichkeit übergeben, gegen welche dieser keine Auswege, keine Rettung findet« 80 . Diese Formulierung des Botanikers legt seinen Wunsch offen, in der Wissenschaft repräsentative Gesamtbilder vorzufinden, die sich aus allen beobachteten Individuen ergeben und ein systematisches Ganzes bestimmter und unveränderlicher Formen bilden sollten.81 Hier liegt die Problematik seines Plädoyers für den Holzschnitt. Seine Forderung nach Abstraktion scheint er mit der gleichzeitigen Unterdrückung des Individuellen im Bild gleichzusetzen. Doch m. E. ist das Gegenteil der Fall, denn Abstraktion im Bild schließt eine individuelle Bildsprache nicht aus. Vielmehr bedingt sie diese sogar. Derjenige, der das Bild anfertigt, muss diverse Entscheidungen treffen, die nicht zuletzt von seiner Wahrnehmung, seinem Können, seiner künstlerischen Sozialisierung und seinem individuellen Geschmack sowie dem der Zeit abhängen. Eine Entindividualisierung des Bildes können schematische Darstellungsweisen jedoch nicht leisten. Dies gilt allerdings nur für die Ebene der handwerklichen Darstellung des Künstlerindividuums. Worauf Treviranus hinaus wollte, war die Ebene des dargestellten Objektes. Nicht eine individuelle Pf lanze, sondern der Typus einer Pf lanzenart macht das Bild für die botanische Forschung interessant. Aber auch wenn Treviranus die Kategorien des Individuellen vermischt – nämlich von Darstellung (aus der Sicht desjenigen, der darstellt) und Dargestelltem – wird deutlich, wieso er zu Beginn des fotografischen Zeitalters dafür plädiert, bewährte Techniken beizubehalten. Noch in anderer Hinsicht boten (und bieten) schematische Darstellungen ganz klare Vorteile. Viele moderne Abbildungsmethoden, die nach der Fotografie entwickelt wurden (z. B. Röntgenaufnahmen) sind ebenfalls schematisierend. Sie unterdrücken morphologische Merkmale, etwa den Faserverlauf unter der Hirnrinde. Dadurch werden jedoch andere Bereiche (z. B. eventuelle Gewebswucherungen) besser sichtbar und interpretierbar. DI AGR A M M

In engem Zusammenhang mit schematischen Bildern stehen diagrammatische Bilder.82 Diagramme sind hier nur insoweit von Belang, als sie im Bereich (hirn)anatomischer Visualisierungsstrategien auftauchen. Mit Klemm verstehe ich vom griechischen Wortsinn ausgehend unter einer diagrammatisch organisierten Hirndarstellung »eine latent ›geometrische Figur‹, […] in der nicht visualisierbare logische Beziehungen (die in den Gehirndarstellungen mental-dynamische Vorgänge repräsentie80 81 82

Ebd., S. 72. Vgl. ebd., S. 71. Zum Diagramm als Bild bereitet Steffen Bogen eine Publikation vor, vgl. www.uni-konstanz.de/FuF/Philo/LitWiss/KunstWiss/personen/bogen.html (4. 10. 2007).

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ren) zwischen Formen und Linien mittels ihrer Größe, relationalen Anordnung oder Art hergestellt werden«, und über die »Wissen vermittelt wird«.83 In den diagrammatischen Hirnbildern des 16. Jahrhunderts, die im dritten Kapitel dieser Arbeit gezeigt werden, handelt es sich bis auf zwei Ausnahmen nicht um reine Diagramme. Sie sind zumeist körperlich gerahmt und befinden sich in oder an mehr oder weniger realistisch dargestellten Köpfen oder an deren Umrissen (vgl. Abb. 19 – Abb. 24, Abb. 27 und Abb. 45).84 Der Begriff ›Schema‹ bezieht sich auf die Art oder Form einer Darstellung. Diagramme sind schematische Darstellungen, die funktionale oder topographische Zusammenhänge visualisieren. Das kann durch Abbildung direkter Beobachtung geschehen, z. B. einzeln abgetragene Hautschichten, deren verschiedene Strukturen am Mikroskop untersucht wurden, die in der Reihenfolge ihres Auftretens oder einer anderen logischen Ordnung dargestellt werden. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Messdaten zu transformieren und in Form von Diagrammen sichtbar zu machen. Hier verhandelte Fälle mittelalterlicher oder frühneuzeitlicher Gehirndiagramme beruhen allerdings weder auf direkter Beobachtung noch auf einer Auswertung von Messdaten. Hier wurden tradierte Konzepte verbildlicht. Die überlieferten Diagramme beruhen auf Gewusstem, Gelesenem und Interpretiertem. Letztlich sind es sprachliche Zeichen, die in Bilder übertragen wurden. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Zellschemata als misslungene Versuche morphologisch-anatomischer Darstellung gedeutet. So heißt es 1852 bei Choulant über eine »Büste mit den Eingeweiden der drei Höhlen«, sie sei »noch viel schlechter und naturwidriger als sie später Magnus Hund gab […], überhaupt eine blos schematische Darstellung nach den Arabisten«.85 Eine gänzlich andere Art, Wissenschaft anhand diagrammatischer Darstellung zu betreiben, stellt Julia Voss vor. Sie zeigt, wie Charles Darwin (1809–1882) die Evolutionstheorie »im unermüdlichen Entwerfen, Umformen und Überarbeiten von Bildern« 86 entwickelte. Ein krakelig in eines seiner Notizbücher gezeichnetes Diagramm sei Darwin in vielfacher Weise zum Leitmotiv geworden – einerseits für das gedruckte Bild, das er 1857 als einzige Abbildung in Die Entstehung der Arten publiziert habe,87 andererseits habe Darwin, indem er sich das Diagramm als eine Wahrnehmung strukturierende Bildkategorie aneignete, »im Abgleich mit der Bildsprache anderer Wissenschaften« 88 sein Denken formen können. Die grafischen Elemente, aus denen er seine Evolutionsdiagramme zusammensetzte (Voss nennt Linie, Winkel und Schnittpunkt) seien bildliche Umsetzungen der Struktur dieses Denkens. Vielsagend über83 84 85 86 87 88

Klemm (2009), S. 301. Vgl. ebd. Choulant (1971), S. 133. Voss (2007), S. 16. Vgl. Darwin (1909b), S. 69. Voss (2007), S. 98.

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schrieb Darwin sein Urdiagramm mit den Worten »I think« 89 . Damit zeigte er eine Strukturgleichheit von Denken und Abbilden auf, wie sie z. B. in der Verwendung des heute unter dem Stichwort mind-mapping gängigen wissenschaftlichen tools zum Ausdruck kommt. M I K RO – M A K RO

In der Weise, wie man den ganzen Körper als Funktionseinheit betrachten konnte, wurden auch einzelne Organe oder kleinere Funktionsbereiche isoliert. Dies geschah nicht ausschließlich auf dem Sektionstisch, sondern war und ist eines der gängigsten Mittel abbildender Anatomie. Dabei verläuft die Entwicklung beginnend mit der Darstellung von Gesamtzusammenhängen über die Darstellung einzelner Organe und schließlich, nicht zuletzt durch Erfindung der Mikroskopie, zur Abbildung kleinster Organteile bis in den Nano-Bereich. Wie in den Tafeln der Anatomia mundini von 1541 war das Gehirn zunächst Teil des Hauptes. Die beiden 1522 erschienenen Hirnbilder des Berengario da Carpi (1460–1530) bilden hierin eine Ausnahme. 90 Sie visualisieren das Gehirn als einzelnes Organ. Nur die blütenblattartig zurückgeschlagenen Hirnhäute stellen visuell noch eine Verbindung zum Körper her. In Vesals Fabrica finden sich alle Varianten: Er zeigte das Gehirn als Teil des Kopfes, löste es an anderer Stelle ganz aus dem Schädelknochen, indem er es zu einem Teil seiner bildlichen Beschreibung des Nervensystems machte und somit in einen anderen morphologischen und physiologischen Zusammenhang stellte (vgl. Abb. 52 und Abb. 54. Zudem trennte er einzelne Teile oder Hirnstrukturen heraus. Dabei ging es weniger um das Abbilden anatomischer Wirklichkeit, sondern vielmehr darum, was diese Organe symbolisierten. Sie wurden zu Ikonen. Wenn wir heute an ein Bild vom Herz denken, wird es sich zunächst um diese Form handeln: ♥. Es steht für die Eigenschaften und Abstrakta, die dem Organ zugeschrieben werden (Liebe, Leben, Wärme etc.). Auch das Gehirn ist ein Symbol dieser Art, wenn auch ikonographisch nicht so stark vereinfacht, da es durch seine große morphologische Komplexität schwerer zu fassen ist. Taucht es als Symbol auf, werden damit Begriffe wie Geist, Denken und Intellekt assoziiert. A NA LOG I E

Die Analogie ist ein weiteres Mittel, das Künstler zur Verdeutlichung eines bestimmten Aspekts des Körperbaus oder zur Visualisierung physiologischer Vorgänge verwenden. Sie ist eine wissenschaftliche Methode, Erfahrungen zu nutzen, um neue Einsichten zu gewinnen. Bestimmte Merkmale der beobachteten Sache stimmen als gestalthafte und/oder innere Entsprechungen überein. Sie können über Bilder ver89 90

Ebd., S. 95 f.; Abbildung 12, S. 97 (Darwins Diagramm von 1837 aus Notebook B).

Beide vgl. S. 171.

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mittelt werden. Folgende Beispiele sollen dies verdeutlichen. Leonardo erstellte zusätzliche Zeichnungen, z. B. aus dem Bereich der Physik, um qua Vergleich etwa die Hebelwirkung eines Gelenks zu verdeutlichen. Dies steht für eine innere Entsprechung auf der Funktionsebene des Dargestellten. Eine Entsprechung der Form oder Gestalt nach ist z. B. sein ›geschälter Kopf‹, den er einer Zwiebel mit ihren verschieden Häuten gegenüberstellte (Abb. 31). Hiermit wird die äußere Ähnlichkeit verschiedener natürlicher Phänomene verdeutlicht. Kemp erklärt, dass Analogie oder analogous behavior eine der wichtigsten Methoden Leonardos darstellte: »Analogy was an age-old technique for explaining the behavior of things. Leonardo gave it a visual cogency, not least through the persuasive power of his drawings, placing it on a new basis« 91. FA RB E

Farbe kann in wissenschaftlichen Bildern unterschiedlich eingesetzt werden. Sie dient dazu, Strukturen besser unterscheiden zu können, z. B. Knochen von Muskelgewebe, oder, wie Putscher anführt, um »über die freie Verwendung von Farbe zur Kennzeichnung von ideal Zusammengehörigem bis zur Umsetzung des Unwahrnehmbaren in

Abb. 8: Mediosagittalschnitt durch Kopf und Hals, Tab. 4 aus Anatomie de la Tête, Gautier d’Agoty (1748) Siehe Farbtafel IX.

91

Kemp (2004), S. 5.

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der Wahrnehmung« 92 zu gelangen. Im 20. Jahrhundert werden unterschiedliche Organe oder Funktionseinheiten meist farblich differenziert. Aus der Geschichte der Anatomie kennen wir farbige Zeichnungen Leonardos und handkolorierte Exemplare gedruckter Anatomien, z. B. eine Ausgabe der Tabulæ anatomicæ 93 Bartolomeo Eustachis (1500–1574) von 1783. Ebenfalls im ausgehenden 18. Jahrhundert wurden in Frankreich zwei zweifarbig gedruckte Anatomien herausgegeben. 1750 erschien Tarins Adversaria anatomica 94 und 1786 Vicq d’Azyrs Traité d’Anatomie et de Physiologie.95 Bereits 1748 erschien dort auch die erste in vier Farben gedruckte Anatomie, die Anatomie de la Tête 96 des Jacques Fabian Gautier d’Agoty (1717–1785), eines der ersten Bücher überhaupt, das vierfarbige Kupferstichillustrationen enthält.97 Häufiger wurden farbig gedruckte Anatomien erst nach 1825. Wie die vierte Tafel (Abb. 8) veranschaulicht, ging es in seinen Bildern des Kopfes und Gehirns nicht darum, Farben mit Bedeutungen zu belegen und dadurch bestimmte Systematiken aufzuzeigen, sondern vielmehr darum, den Realismus der Darstellung zu vervollkommnen. Zusätzlich zur Farbgebung wird dieses Ziel durch das ausdrückliche Bemühen verfolgt, die abgebildeten Körperteile in Originalgröße zu zeigen. W I E DE RH O LU NG

Eine Möglichkeit, dynamische Vorgänge im Bild anzuzeigen, besteht darin, den beweglichen Körperteil mehrfach (meist doppelt), also in mehreren Phasen, etwa am Ausgangs- und am Endpunkt seiner Bewegung darzustellen. Drei Tafeln dienen hier als Beispiele dafür, wie Bewegung als Indikator von Körper- bzw. Hirnfunktionen dargestellt werden kann. Die ersten beiden stammen aus Descartes’ L’Homme von 166498 und beschreiben das Verhalten der Zirbeldrüse bei der Muskelbewegung und der Sinneswahrnehmung. Dies soll anhand der ersten Bildtafel (Abb. 9) 99 vereinfacht dargestellt werden: Von der Zirbeldrüse (H) aus, die durch ein Nervenröhrchen (8) mit dem Armmuskel verbunden ist, fließt der Spiritus. Er sorgt dafür, dass sich der Arm in eine bestimmte Position (B oder C) bewegt, je nachdem, in welche Richtung 92 93 94 95 96 97 98

99

Putscher (1971), S. 145. Kolorierte Ausgabe vgl. Rif kin/Ackerman/Folkenberg (2006), S. 103; s/w-Ausgabe vgl. S. 227. Vgl. S. 346. Vgl. S. 357.

Vgl. S. 341. Vgl. Rif kin/Ackerman/Folkenberg (2006), S. 187. Die hier abgedruckten Bilder sind allerdings der zweiten lateinischen Ausgabe von 1677 entnommen, die jedoch auf den selben Druckvorlagen beruhen. Ebenfalls auf diese Ausgabe beziehen sich die für die Tafeln angegebenen Seitenzahlen. Vgl. Descartes (1969), S. 115; zur Abbildung vgl. Descartes (1677), S. 140.

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Abb. 9: Funktionsschema aus De Homine, Descartes (1677); zuerst erschienen in Descartes (1664).

Abb. 10: Funktionsschema aus De Homine, Descartes (1677); zuerst erschienen in Descartes (1664).

das von äquivalenten Punkten der Zirbeldrüse (b oder c) gesteuerte Nervenröhrchen geführt wird. Die Bewegung des Muskels wird in zwei Positionen des Armes, als Wiederholung der äußeren Form von Arm und Muskel eingezeichnet. Arm und Muskel sind in ihrer Ausgangsposition durch eine durchgezogene Linie markiert und in der möglichen zweiten Position als gepunktete Linie. Auf der nächsten Tafel wird dieses Prinzip variiert (Abb. 10) 100 . Die veränderte Stellung der Zirbeldrüse wird zweimal gezeigt: einmal klein im Kopf der dargestellten statuenhaften Gestalt und ein zweites Mal rechts daneben, wesentlich größer. Die Wiederholung der Form zeigt an, dass diese eine entscheidende Position im dargestellten Funktionszusammenhang einnimmt. Sowohl in der Wiederholung als auch in der Größe der Darstellung drückt sich eine inhaltliche Gewichtung des Dargestellten aus. Auch das Herauslösen aus dem links demonstrierten (körperlichen) Gesamtzusammenhang unterstützt diesen Eindruck. Etwas weniger plakativ veranschaulicht das dritte Beispiel die morphologische Eigenart des Riechkolbens (Bulbus olfactorius). Tafel XVII (Abb. 11) aus Vicq d’Azyrs 100

Vgl. Descartes (1677), S. 145.

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Abb. 11: Hirnbasis, Tafel XVII aus Traité d’Anatomie et de Physiologie, Vicq d’Azyr (1786). Siehe Farbtafel XV.

Traité d’Anatomie zeigt ein naturalistisch dargestelltes Gehirn von der Basis aus betrachtet. Unter dem Bild der Hirnbasis ist ausschnitthaft ein kleiner Teil derselben wiederholt abgebildet, auf dem einer der paarigen Riechkolben in einer etwas veränderten Position zu sehen ist. Allein durch das Mittel der Wiederholung wird demonstriert, dass dieser Teil nicht der Länge nach mit der Hirnrinde verwachsen, sondern beweglich ist. Damit ist im Bild lediglich etwas über die organische Bildung einer anatomischen Form und nichts über Funktionszusammenhänge ausgesagt. POP-U P-BI LD

Eine besonders aufwendige Methode, die genutzt wird, um zu verdeutlichen, wie morphologische Strukturen oder Schichten einander überlagern, oder wie sich Körperteile bewegen, ist recht selten zu finden. Im 16. und 17. Jahrhundert entstanden auf klappbare Figuren als Einzeldrucke oder innerhalb gedruckter Anatomien, gewissermaßen anatomische Pop-up-books. Ein anatomisches Sujet, bei dem sich bewegliche Bildelemente besonders gut einsetzen lassen, ist die Darstellung des schwangeren

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Abb. 12: Druckbogen eines zusammensetzbaren Gehirns aus Augendienst, Bartisch (1686).

weiblichen Körpers: Der Bauch einer Frau kann aufgeklappt werden und zum Vorschein kommen zunächst die inneren Geschlechtsorgane und darunter ein Fötus. Solche Blätter dienten zum Teil wohl der Unterhaltung, zum anderen vielleicht als Arbeitsanweisungen, etwa für Hebammen, die Frauen anhand der Bilder die körperlichen Vorgänge einer Geburt erläutern konnten. Ein besonders schönes Beispiel sind Die Vier Jahreszeiten, geschaffen von einem anonymen Künstler. Sie werden auf das frühe 17. Jahrhundert datiert und befinden sich heute in der Duke University.101 Auch bei Darstellungen vom Gehirn lassen sich solche Auf klappmechanismen finden. Der Augendienst 102 von Georg Bartisch (1535–1607) ist ein ophthalmologisches Werk von 1583, das es dem Betrachter ermöglicht, die einzelnen Schichten, in denen das Gehirn aufgebaut ist, in Einzeldrucken nach oben wegzuklappen. Mir lag ein 101 102

Vgl. Horstmanshoff/Luyendijk-Elshout/Schlesinger (2002). Georg Bartisch, Augendienst. Oder Kurtz und deutlich verfasster Bericht von allen und jeden inund äusserlichen Mängeln Schäden Gebrechen und Zufällen der Augen […], Nürnberg 1686.

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Exemplar des hundert Jahre jüngeren Nachdrucks vor, in dem der Druckbogen vollständig in das Buch eingeklebt ist (Abb. 12). Bis auf die erste Figur sind die anderen ungerahmt und zum Ausschneiden angelegt. An den jeweils oben befindlichen stilartigen Verlängerungen hätten sie der Reihe nach auf Figur 1 aufgeklebt werden sollen. Modifiziert finden wir diese Methode auch in Descartes’ De Homine. Neben einer beweglichen Herzklappe ermöglicht der Herausgeber der lateinischen Ausgabe des L’Homme dem Betrachter, die Zirbeldrüse in einem der Hirnbilder zu bewegen (vgl. Abb. 85). * Viele dieser inhaltlichen Darstellungsmethoden, Techniken und visuellen Tricks wiederholten sich über Jahrhunderte hinweg, auch während sich vom Material und technologischen Entwicklungsstand (z. B. dem der Druckverfahren) abhängige, gewissermaßen ›äußerliche‹ Abbildungsfaktoren wandelten. Auf Letztere kann in der vorliegenden Arbeit nicht ausführlich eingegangen werden. Eine gute Übersicht über die wichtigsten grafischen Druckverfahren für wissenschaftliche Vorlagen bietet Kuhl.103 Den für den untersuchten Zeitraum relevanten Reproduktionsverfahren Holzschnitt, Kupferstich und Lithographie liegt die Zeichnung als Ausgangsmedium zugrunde. Neben dem Zeichenmaterial wurde in der Anatomie allerdings noch ein gänzlich anderes Material benötigt: menschliche Körper. An den Universitäten des 14. Jahrhunderts hätten Künstler zwar die Möglichkeit gehabt, öffentlichen Sektionen beizuwohnen, doch inwieweit sie diese im Einzelnen wahrnahmen, ist schwer nachvollziehbar. Auch ein Auskochen der Knochen, so dass sie Skelette oder den Knochenbau einzelner Extremitäten hätten studieren können, sah die anatomische Praxis der Lehrvorführungen meist nicht vor. Die sezierten Körper selbst hielten sich nicht lange in einem Zustand, der ein gründliches Studium erlaubte. Voraussetzungen hierfür waren verbesserte Präparationsmethoden. Eine Alternative boten Wachsmoulagen und mitunter Holzmodelle.104 Diese ermöglichten unverderbliche Vorlagen und damit ein zeitlich nicht eingeschränktes Studium.

103 104

Kuhl (1949), S. 11ff. Vgl. Ullrich (2003); Schnalke in Dürbeck/Gockel/et al. (2001).

ZU R F U N KTIO N NAT U RW I S S E N SCH A FTLI CH ER B I LDER A M B EISP I EL DER ANATOM I E Bilder sind Teil jedes Wissenschaftsdiskurses. Es gibt kaum Disziplinen, in denen sie nicht Verwendung finden. Wissenschaftliche Entwicklung unterliegt fraglos einer Überprägung durch politische oder soziokulturelle Faktoren, also Einf lüssen, die zumindest teilweise aus anderen Feldern oder Diskursen erwachsen. Dies gilt ebenso für Bilder in den Naturwissenschaften. Dabei nehmen sie selbst auf wissenschaftliche Entwicklungsprozesse geradeso Einf luss, wie umgekehrt äußere Faktoren auf Bilderstellung und Bildgebrauch wirken. Ich will aufzeigen, dass diese Wechselwirkung von den hier thematisierten Funktionen der Bilder abhängig ist. Im bildwissenschaftlichen Kontext werden Bilder als eigene Wissens- oder Erkenntnisformen angesehen, die in allen kulturellen Bereichen wirken.105 Naturwissenschaft und Bild – das ist eine Verbindung, die über die Funktionalität von Bildern hergestellt werden kann. Sie wird hier innerhalb der Bildwissenschaften diskutiert. Was bedeutet nun die Aussage, ein Bild habe eine oder mehrere Funktionen? Bilder werden unterschiedlich gedeutet, ändern sich dabei selbst aber nicht. So lassen sich Aussagen treffen wie: ›Ein Bild ist…‹ (…ein Zeichen) oder ›Bilder sind…‹ (…Medien). Dieser substantialistische Sprachgebrauch zielt jedoch auf Definitionen des Bildbegriffs ab, wie sie im ersten Kapitel vorgestellt wurden. Solche Definitionen unterscheiden sich von dem, was ich hier mit Bildfunktionen aussagen will. Im Kontext wissenschaftlicher Strategien erfüllen Bilder bestimmte Funktionen. Ob sie als Zeichen oder Medium aufgefasst werden, ist dabei unerheblich. Der funktionalistische Ansatz ist für meine Fragestellung praktikabler: ›Bilder fungieren…‹ (…als Beweis).106 Ein Bild selbst ist nicht Beweis. Es wird allerdings in einem spezifischen Kontext unter einer spezifischen Fragestellung als Beweis genutzt. Es erfüllt die Funktion eines Beweises. Im Gegensatz zur Spezifizierung von Bildfunktionen, anhand derer sich einzelne Abbildungen oder ganze Konvolute naturwissenschaftlicher Darstellungen befragen lassen, scheint mir eine Typologisierung von (anatomischen) Abbildungen allein nach Art der Darstellung bzw. Darstellungsmethode in unserem Zusammenhang als wenig sinnvoll. Diese wurden im vorhergehenden Kapitel beschrieben. Sie sind allerdings nur ein Aspekt, der Einf luss auf die Funktionen solcher Bilder nehmen kann, sie jedoch nicht grundsätzlich bestimmt oder definiert. Sie dienen vielmehr einer Beschreibung der Bilder, die in die spätere Deutung sowie eine Analyse der Bildfunktionen mit einf ließt. Die meisten der hier vorgestellten Bildfunktionen können sowohl auf naturgetreue als auch auf schematische Abbildungen oder Diagramme angewendet 105 106

Vgl. Kruse (2006), S. 16. Vgl. Wiesing (2005), S. 40.

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werden. Daher wird zuerst eine allgemeine oder übergeordnete Funktion naturwissenschaftlicher Bilder vorgestellt: der Erkenntnisgewinn, bzw. die Produktion von Sinnzusammenhängen. Alle weiteren Funktionen stehen mit ihr in Beziehung oder sind von ihr abhängig. Es werden repräsentative, hinweisende, Handlung anweisende oder didaktische, argumentative, demonstrierende, dokumentierende und konservierende, Wahrnehmung strukturierende, ordnende, organisierende und verwaltende, normative oder normierende, kommunikative und diskursive Funktionen unterschieden. Selbstverständlich können jedem Bild mehrere Attribute zugewiesen werden, denn wissenschaftliche Abbildungen sind laut Schirrmeister »polyfunktional und lassen häufig mehrere Deutungen zu«107. Die analytische Kategorie Bildfunktion erlaubt es festzustellen, welchen Zweck Bilder in einem wissenschaftlichen Diskurs erfüllt haben oder erfüllen. Peter Burke macht zwar darauf aufmerksam, dass sich Zeitgenossen nicht unbedingt darüber im Klaren waren, worin mögliche Funktionen ihnen vorliegender Bilder bestanden,108 ich behaupte jedoch, dass diese Aussage eher für Rezipienten solcher Wissenschaftsbilder gilt. Die Bildproduzenten werden sich über die Bilfunktionen mehrheitlich im Klaren gewesen sein, waren diese doch intendiert, d. h. bewusst ins Bild hineingelegt. Die im Folgenden vorgestellten Funktionen beziehen sich ausschließlich auf Bilder, die in naturwissenschaftlichen Kontexten erschienen sind, insbesondere auf solche anatomischer Atlanten und Traktate. Wie bereits dargelegt, ist für mich der Zeitraum vom 15. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts von Interesse.109 Die meisten der genannten Funktionen lassen sich nach meiner Einschätzung auch auf zeitgenössische visuelle Strategien medizinisch-anatomischer Bilder übertragen. Ob sie sich zur Analyse der Bilder anderer naturwissenschatlicher Disziplinen eignen, müssten empirische Analysen zeigen. Bei einer Untersuchung der Funktionen sowohl historischer als auch zeitgenössischer Bilder ist zu unterscheiden, ob ihre Produzenten die Bilder in erster Linie für den eigenen Gebrauch, die eigene Forschungsarbeit oder zu Zwecken der Außendarstellung ihrer Arbeit, also für ein Publikum erstellt haben. Ersteres ist beispielsweise der Fall, wenn für Produzenten bzw. ihre Auftraggeber das Bild einen Schritt auf dem Weg zu wissenschaftlicher Theoriebildung bedeutet, oder wenn im Bild Forschungsergebnisse dokumentiert werden sollen. Möglichen Rezipienten werden anhand solcher Bilder Lösungen von Problemen bzw. mögliche Lösungswege verdeutlicht.

107 108 109

Schirrmeister (2005), S. 7. Vgl. Burke (1996), S. 117. Zum Verhältnis von Bild und Geschichte vgl. Merten (2004). Auch wenn es bei Merten nicht um Bilder aus naturwissenschaftlichen Diskursen geht, müsste sich die von ihr als vollwertige Disziplin geforderte historische Bilderkunde auch darauf anwenden lassen, vgl. ebd., S. 2. Vgl. auch Talkenberger (1994 und 1998).

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BI LDF U N KTION U N D Ä STH ETI K Vielleicht kann die Politik letztlich auf die Ästhetik zurückgeführt werden, wie die Wissenschaft. Vielleicht ist das wichtigste Kriterium in der Welt nicht die Wahrheit, sondern die Schönheit.110 Harry Mulisch

Als ›erfolgreich‹ unter den historischen anatomischen Abbildungen können solche gelten, die aufgrund ihrer ästhetischen Qualität in unserem Bildgedächtnis bis heute erhalten sind. Sie haben sich in ihrer Wirkung auf nachfolgende Darstellungen als mächtig und voraussetzungsvoll erwiesen. Die ästhetische Wirkung wissenschaftlicher Bilder entspricht nicht einem rein ästhetischen Erleben, einer im panofskyschen Sinne völligen (zweckfreien!) Hingabe an den Gegenstand.111 Dennoch spielen ästhetische und affektive Gesichtspunkte eine Rolle bei der Erstellung, Beurteilung und Auswahl wissenschaftlicher Bilder. Sie haben Putscher zufolge unabhängig von ihrem informativen Gehalt oder ihren möglichen Bildfunktionen in jedem Fall eine bestimmte »Form, die grafischen Werte […] und selbst noch [einen] Inhalt (»ein Hirnschnitt«), der magische Qualität gewinnen kann«112 . Mit der ›Form‹ ist die Darstellungsmethode angesprochen, die der Künstler oder der ihn beauftragende Anatom wählt, etwa: ›Der Form nach ist das Bild ein Diagramm‹. Diese Form kann in ihrem Aussehen näher beschrieben, ihre ›grafischen Werte‹ können ermittelt werden. Der ›Inhalt‹ ist, wie Putscher es beschreibt, das jeweils dargestellte anatomische Objekt. Mit dem ›Magischen‹ spricht sie eine übersinnliche Qualität an, etwas, das mit dem bloßen (Seh)Sinn nicht wahrzunehmen ist. Diesem geheimnisvoll Bannenden, das im (anatomischen) Bild liegt, ist sicherlich mit einer rein deskriptiven Bearbeitung von Bildern schwer beizukommen. Es steht mit ihrer ästhetischen Qualität in engem Zusammenhang. In Bezug auf die ästhetische Qualität von Bildern sind nach Scholz drei Fragen auseinander zu halten. Mit der ersten Frage, was Bilder sind, haben wir uns im ersten Kapitel beschäftigt. Die zweite ist eine Frage an die deskriptive Ästhetik – »Was sind äthetische Bilder? Wann sind Bilder ästhetische Werke?« – und die dritte wendet sich an die normative Ästhetik: »Was sind ästhetisch wertvolle Bilder? Wann sind Bilder ästhetisch wertvoll?«.113 Es ist bereits erwähnt worden, dass ästhetische Gesichtspunkte in der wissenschaftlichen Anschauung bedeutsam werden. Nicht erst seit Ende der 1990er Jahre versuchen Veröffentlichungen wie Beauty of Another Order114 , Begriffe wie ›scientific 110 111 112 113 114

Mulisch (2003), S. 187. Vgl. Panofsky (1975), S. 17. Putscher (1972), S. 142. Scholz (2004), S. 8. Thomas (1997).

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purposes‹ und ›aesthetic expression‹ miteinander zu verbinden.115 Dies ist allerdings, wie Peter Geimer anmerkt, völlig überf lüssig, da eine Annäherung von Wissenschaft und Kunst schon längst stattgefunden hat.116 Es kann jedoch nicht darum gehen, die Disziplinen miteinander zu verschmelzen. Sie müssen sich ihre Besonderheiten erhalten. Die Brücke sieht Bredekamp im »Bewusstsein für die Autonomie der Kunst, die sich nicht als Wiedergabe von Welt, sondern als Schöpfung einer eigenen Welt definiert, [es] findet in gewisser Weise eine Parallele in den Bildkonstruktionen der Naturwissenschaften«117. Dass sich namhafte Kunsthistoriker und noch unbekannte Kulturwissenschaftlerinnen zunehmend mit naturwissenschaftlichen Bildern beschäftigen, liegt ja nicht ausschließlich daran, dass es sich um Bilder handelt, sondern vielmehr daran, dass diesen ein wenn auch stark differierendes, mitunter schwer zu fassendes ästhetisches Moment innewohnt. Das Verhältnis Bild und Wissenschaft ist, wie sich immer wieder zeigen wird, vom Verhältnis Kunst und Wissenschaft schwer zu trennen.118 Dass Künstler und Wissenschaftler unterschiedliche Aspekte am Körper interessieren, reicht als Erklärungsmodell für die vielfach bediente Opposition von Form und Inhalt nicht aus. Dies lässt sich nicht nur am Beispiel der Ecrochés festmachen – gehäutete Muskelmänner, die Künstlern als Vorbilder dienten, um ausdrucksvolle Umrisse und Körperproportionen studieren zu können. Gerade diese dramatischen Bildgestalten waren es doch, die Vesals Ruhm als Anatom (und damit als Wissenschaftler) begründeten. Ästhetische Kategorien wie Schönheit müssen präzisiert, historisiert und in einen Kontext eingebunden werden.119 So wird Voss zufolge beispielsweise in der heutigen Verhaltensbiologie die These vertreten, »dass Schönheit kein eigenständiges Phänomen sei, sondern Zeichen für Gesundheit und Stärke«120 . Es wird sich kaum eine Publikation zu Vesal finden lassen, in der nicht von der großen Schönheit der Bilder in seiner Fabrica geschwärmt wird. Der RenaissanceAnatom selbst betonte, dass Bilder gut aussehen müssten. Was bedeutete aber ein solches Diktum für ihn und zu seiner Zeit? Um das zu erfahren, müssen wir, so Geimer, »etwas von den Entstehungszusammenhängen, der Funktion oder der experimentellen Einbindung«121 der jeweiligen Bilder wissen. Ein kurzes Beispiel finden wir bei Vesal, der schrieb, er habe eine Vorlage weggeworfen, »[d]ieweil es aber im malen nit so gereimbt und fein hat wollen von statt gehen […] / domit sie nit umbsonst das blatt verduncklete«122 . Knapp gefasst ist hier herauszulesen, dass es Vesal um eine Harmonie 115 116 117 118 119 120 121 122

Vgl. Shirley L. Thomson, Foreword, in Thomas (1997), S. 8. Vgl. Geimer (2003), S. 28f. Bredekamp (2003), S. 15. Zu dieser Problematik vgl. auch Voss (2007), S. 331f. Vgl. Geimer (2003), S. 29. Voss (2007), S. 334. Geimer (2003), S. 29. Vesal (1551), S. Ixxjj. Das Zitat findet sich ungekürzt auf S. 196.

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in der Kombination der einzelnen Figuren auf einer Tafel ging, dass er das, was beim Schneiden und der manuellen Manipulation zu beobachten war, nicht abbilden (lassen) konnte, wenn der Entwurf Entsprechendes letztlich nicht vermittelte. Neue Forschungsfragen verlangen häufig nach neuen Methoden, Techniken und Apparaturen. Aber es gab auch Momente der Rückbesinnung auf ältere Methoden. 1855 argumentierte beispielsweise Treviranus, dass der einfache, nicht »colorirte« Holzschnitt neueren Methoden der Bilderstellung schon aus ökonomischen Erwägungen vorzuziehen sei, da wissenschaftliche Werke so »der Mehrheit der Forscher zugänglich« gemacht werden können.123 Einhergehend mit dem Gebrauch neuer Techniken verändern sich Wahrnehmungskonventionen und Repräsentationsräume und nicht zuletzt die Auffassung davon, was als jeweils schön empfunden wird. Handwerkliche Mittel bzw. Darstellungsmöglichkeiten stellen im beschriebenen Sinne keine Bildfunktionen dar. Sie sind immer im zeitlichen Kontext ihrer Verwendung zu sehen. Auf das oben genannte Beispiel Vesals bezogen heißt das, dass der hölzerne Druckstock, der materielle Vorgabe für die Darstellung war, sich nicht so schneiden ließ wie der Körper (der in gewisser Weise auch eine materielle Vorlage bildete). Die Technik erwies sich in diesem bestimmten Fall als ungenügend. Das hätte Vesal anregen können, nach einer neuen Methode zu suchen, führte aber zur Ausmusterung von Bildmaterial. Dieses Beispiel veranschaulicht ein Aspekt, der häufig in Bezug auf fotografische und neue bildgebende Verfahren kritisiert wird: die Auswahl. Dass bei der Bilderzeugung ein bestimmter Ausschnitt oder von den Endergebnissen ein bestimmtes Bild ausgewählt wird, wird als Eingriff verstanden, der dem Versuch einer Abbildung von Realität zuwiderlaufe. Dabei wird meist nicht bedacht, dass jede Abbildung das Ergebnis von Auswahlverfahren ist und (wie wir an Vesal sehen) stets war. G E BRAUC H DE R F U N KTI O N EN

Drei wichtige Punkte, auf die Zittel hingewiesen hat, schicke ich voraus: So sei (1) »bei wissenschaftlichen Bildern vielfach keine Eindeutigkeit gegeben«, man könne (2) »keine einheitliche, generelle Funktion für wissenschaftliche Bilder feststellen […], noch nicht einmal für eine Epoche«, und es werde sich zeigen, dass (3) »die vermeintlich markanten Trennlinien zwischen empiristischer und rationalistischer Wissenschaftspraxis angesichts des Einsatzes von Bildern verwischen oder ganz verschwinden«.124 Bei der Arbeit mit den hier eingeführten Bildfunktionen gilt es, diese drei Aspekte im Hinterkopf zu behalten. Doch auch wenn dies widersprüchlich scheint, definiere ich eine Leitfunktion: den Erkenntnisgewinn. Für die historische Anatomie geschieht

123 124

Treviranus (1949), S. 71. Zittel (2005), S. 100f.

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dies m. E. zu Recht, strebten die Anatomen doch nach (Er)Kenntnis des menschlichen Körpers und seiner Funktionen. Noch einmal ist zu bekräftigen, dass die hier vorgenommene Einteilung und Beschreibung der Bildfunktionen auf den jeweiligen Einzelfall spezifiziert werden muss. Nicht alle diese Funktionen treffen auf jedes wissenschaftliche Bild zu. Die von mir isolierten Bildfunktionen stellen ein Analyseraster dar. Damit wird es möglich, wissenschaftliche Abbildungen näher zu bestimmen. Erst die Kontextrelationen erlauben die Zuweisung von Bildfunktionen, denn – hier stimme ich Zittel uneingeschränkt zu – »es gibt viele kontextrelative Formen des wissenschaftlichen Bildgebrauchs«125 . In einzelnen Bildern können unterschiedliche Bildfunktionen dominieren, kookkurieren oder einander überlagern. Der Analyserahmen, der durch die Bildfunktionen errichtet wird, bleibt dabei invariant. Die Phänomene (Bilder) differieren. Für jedes Bild bilden verschiedene Kategorien ein heterogenes Gefüge sich überlagernder Bedeutungen. Mit dieser Methode lassen sich nicht nur einzelne Bilder beschreiben, sondern sie ermöglicht z. B. auch, nach funktionalen Aspekten Gruppen von Bildern zu bilden. Sicherlich gilt auch für wissenschaftliche Bilder, was Burke über die Funktionen der Kunstwerke der Renaissance sagt, nämlich dass es sowohl ›manifeste‹ als auch ›latente‹ Funktionen gibt.126 In einem Lernkontext wäre die didaktische eine manifeste Bildfunktion. Eine latente könnte beispielsweise die Repräsentation von wissenschaftspolitischen Machtansprüchen sein. E RK EN N T N I S G EW I N N B Z W. P RODU KTI ON VON SI N NZUSA M M EN H Ä NGEN A L S Ü B E RG E O RD N ET E F U N KTION

Die Fähigkeit von wissenschaftlichen Bildern, innerhalb ihres Kontextes zu Erkenntnissen zu führen und Sinnzusammenhänge zu produzieren, wird von mir als übergeordnete Bildfunktion vorausgesetzt. Ich unterstelle, dass sie auf alle naturwissenschaftlichen Bilder anwendbar ist, sofern diese in ihrem originären Kontext stehen. Alle weiteren Bildfunktionen sind mit der Funktion des Erkenntnisgewinns strukturell eng verknüpft. Die Reihenfolge ist dabei willkürlich und nicht hierarchisch. Eine Hierarchisierung der Funktionen ist nur in einzelnen Bildern in bestimmten Kontexten gegeben. Da Bildern in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Funktionen zugeordnet werden können, werden sie hier ausschließlich innerhalb ihres Entstehungskontextes betrachtet, d. h. in den meisten Fällen als Bildtafeln anatomischer Schriften.

125 126

Ebd. Vgl. Burke (1996), S. 117.

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Aus wissenschaftlichen Abbildungen werden Erkenntnisse gewonnen; mit ihnen und durch sie wird Wissen erworben. Dies wird durch den aktiven Umgang mit ihnen erreicht: zum einen, indem sie gemacht werden, zum anderen, indem sie wahrgenommen werden. Wissenschaftliche Abbildungen haben ganz allgemein gesprochen eine Vielzahl von Erkenntnisfunktionen. Dabei stellt Zittel einschränkend fest, dass nicht alle anatomischen Bilder eine kategoriale Erkenntnisfunktion besitzen, sondern teilweise nur das Erkennen begleitend unterstützen.127 Erkenntnisgewinn als Ziel wissenschaftlicher Arbeit schlechthin macht Wissenserwerb zur universalen Bildfunktion. Ebenso ist die Produktion von Sinnzusammenhängen und mithin die Wissensgenese eine Suprafunktion. ›Wissen‹ begreife ich nicht als statische Kategorie, sondern als Annäherung: den Prozess des Findens oder Entdeckens. Es kann sukzessive erworben werden, z. B. durch genaues Beobachten natürlicher Phänomene, oder indem Bilder erstellt oder ausgewertet werden. Wissenserwerb verstehe ich demnach als heuristische Bildfunktion: Das Bild dient als methodische Anleitung, als Anweisung, etwas Neues zu finden. Im Bild wird eine vorläufige Annahme dargestellt, mit dem Zweck, einen Sachverhalt besser verständlich zu machen. Es geht mit Fischer darum, »die Fährte des wissenschaftlichen Erkennens mit Bildern«128 oder durch Bilder zu verfolgen. Durch Abbildungen werden Sinnzusammenhänge oft erst hergestellt. Bilder bewirken oder sind laut Boehm »Manifestation von Sinn«129 . So wird letztlich Wissen durch sie generiert. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass sich wissenschaftliches Arbeiten und Handeln nicht allein auf den Begriff ›Wissen‹ zuspitzen lassen. Wissen meint hier niemals etwas Abgeschlossenes, Begrenztes, Definitives. Nicht Wissen, sondern Forschung ist der entscheidende Faktor. Wenn wir mit wissenschaftlichen Bildern oder über wissenschaftliche Bilder nachdenken, sollten wir die Beziehung von Wissen auf der einen und Forschen, Fragen, Bestätigen und Zweifeln auf der anderen Seite immer wieder in Frage stellen. Wenn an dieser Stelle also von Erkenntnisfunktionen die Rede ist, so bezieht sich dies nicht auf unumstößliche finale Erkenntnis um festgeschriebenes, nicht mehr umzudeutendes Wissen, sondern auf Erkenntnis als eine Form wissenschaftlichen Erkennens, sehenden Begreifens. Verwissenschaftlichung im Sinne einer induktiven Forschungsstrategie ist eine Annäherung an noch nicht Wissenschaftliches. Anders gesagt: In einer induktiven Wissenschaft, die allgemeine Aussagen aus einer Anzahl begründeter Einzelaussagen gewinnt, lassen sich durch das Zusammentragen verschiedener Einzelaussagen immer präzisere Schlüsse ziehen.130 Gerade für das Gebiet der Hirnforschung zeigt sich, dass wir mit der Kategorie Wissen im Sinne von erlernter Objektivität nicht weiterkommen. Das Hirn ist 127 128 129 130

Vgl. Zittel (2005), S. 126. Fischer (2002), S. 29. Boehm (2007), S. 34. Vgl. Breidbach (2005), S. 20.

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II. WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS IM BILD

nicht Sache des Wissens, sondern das Objekt einer unendlichen Annäherung. Sie erfolgt über Beobachtung und Mutmaßung als Strategien wissenschaftlicher Wahrnehmung. Zwei kurze Beispiele sollen vor Augen führen, wie selbstverständlich Bilder als Objekte wissenschaftlicher Beobachtung dienten. Darwins Schrift Die Abstammung des Menschen (1871) dokumentiert, obwohl sie nur drei Abbildungen enthält, wissenschaftliches Arbeiten anhand von Bildern. Auf einer Tafel (Abb. 13) verglich Darwin das Bild eines menschlichen Embryos (nach Ecker) mit dem eines Hundes (nach Bischoff ) und kam so zu Schlussfolgerungen über historische und gattungsübergreifende Übereinstimmungen zwischen Lebewesen: »Dass er diese Wende unmittelbar am Bild vollzog«, so Voss, »belegt nicht nur die Rede vom »Portrait des Embryo«.«131 Im Text machte Darwin seine Leser auf seinen Anspruch an die Abbildungen wie folgt aufmerksam: »Da manche meiner Leser vielleicht noch niemals die Abbildung eines Embryo gesehen haben, habe ich nebenstehend eine solche von einem Menschen und eine andere vom Hunde von ungefähr derselben Entwicklungsstufe gegeben, beides Kopien nach zwei Werken von zweifelloser Genauigkeit.«132 Diese Genauigkeit meint Ähnlichkeit zum vorgefundenen Objekt. Es wird wieder die Forderung nach größtmöglicher Realitätsnähe oder Naturtreue an das Bild gestellt. Wissenschaftliches Objekt konnten die Embryonenbilder insofern sein, als die Darstellung dem Dargestellten in allen wichtigen Details ähnlich war. Diese Bilder hatte Darwin nicht selbst erstellt. Er musste, um zu seinen Thesen zu kommen, die Embryonen zuvor nicht einmal selbst gesehen haben. Darwin traf anhand der Embryonenbilder Aussagen, die auf dieser Ähnlichkeitsbeziehung beruhten. Mit Ähnlichkeit lässt sich ein Bezug zwischen dem im Bild sichtbaren Bildobjekt und der Sache selbst herstellen.133 Die Forschung an Bildern von den Objekten ersetzte die Forschung an den Objekten selbst. Dies ist auch bei solchen Bildern der Fall, bei denen Ähnlichkeitsbeziehungen irrelevant sind, etwa bei Diagrammen. Wie bereits erwähnt entwickelte Darwin seine Evolutionstheorie u. a. anhand von selbst gezeichneten Diagrammen.134 Ähnlich wie Darwin mit den Embryonenbildern verfuhr Georges Cuvier (1769– 1832), ein Wegbereiter der vergleichenden Anatomie als moderne Wissenschaftsdisziplin. Anhand der Zeichnung eines Flugsaurierskeletts ordnete er diese Spezies den Reptilien zu und löste damit einen wissenschaftlichen Disput aus.135 Dieser basierte allerdings nicht auf der Tatsache, dass Cuvier lediglich ein Bild des Urtieres zur Verfügung stand. Das wissenschaftliche Verfahren, an Bildern zu arbeiten, wurde nicht in Frage gestellt. Bilder als Beschreibung der Natur können mit Ergebnissen von Mes131 132 133 134 135

Voss (2007), S. 189. Darwin (1909a), S. 5. Vgl. Wiesing (2005), S. 63. Vgl. Voss (2007), S. 95–174. Vgl. Breidbach (2005), S. 112f.

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Abb. 13: Embryo eines Menschen und eines Hundes aus Die Abstammung des Menschen, Darwin (1919a).

sungen verglichen werden: Beide sind Ergebnisse von Beobachtungen, in denen die Ansicht des Beobachters jeweils hervorgehoben ist.136 Damit hat dieser sie gewissermaßen vorinterpretiert. Eine der Bildfunktionen, die hier Anwendung finden, ist die ordnende. Durch Analyse des Bildes wurde es möglich, eine Spezies in eine mögliche Ordnung zu stellen. Eine weitere ist die argumentative Funktion des Bildes, das im Streit zwischen Cuvier und Soemmerring als Beweismittel diente. Wenn wir etwas wissenschaftlich wahrnehmen, bewerten wir es zugleich, unabhängig davon, ob wir ein Objekt oder ein Bild betrachten. Ein Bild kann ein wissenschaftliches Objekt sein, indem es beispielsweise einen sezierten Körper repräsentiert. Dennoch ist es immer auch eine eigenständige Kategorie. Es ist selbst wissenschaftliches Objekt mit eigenen Funktionen, das von Bildtraditionen und solchen wissenschaftlicher Wahrnehmung abhängt. Auf welche Art das Bild zum Erkenntnisgewinn beiträgt, wie durch Bilder gelehrt und gelernt wird, oder wie sie Teil des wissenschaftlichen Diskurses werden, legen die hier beschriebenen Bildfunktionen fest. Voraussetzung für solche Überlegungen ist das Einverständnis darüber, dass das Bild in den Wissenschaften mehr ist als ein Platzhalter für das abgebildete Objekt. Es visualisiert Gedankengänge, leitet Handlungen an, befeuert Kommunikation und bezieht 136

Vgl. ebd., S. 114f.

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auch unbewusste Darstellungskonventionen ein. Diese Anteile sind wissensfixiert am schwierigsten zu erfassen. Wie nun trägt das Erstellen von Bildern zu Wissensbildung und Erkenntnisgewinn bei? Zeichnungen vermitteln nicht nur dem Betrachter Wissen. Sowohl das Bilder-Lesen als auch das Herstellen von Bildern sind Erkenntnismethoden.137 Die Wahrnehmung desjenigen, der sein Forschungsobjekt betrachtend – oder es sich zumindest vor sein geistiges Auge rufend – abbildet, unterscheidet sich fundamental von der des Bildbetrachters. Der Prozess des Abbildens zwingt zu genauem Hinsehen und bewirkt eine vertiefte Erkenntnis. So konnten z. B. Anatomen die Objekte wiederholt anschauen, Schichten und Strukturen wahrnehmen, Neues entdecken, Gewusstes bestätigt oder widerlegt finden und immer wieder in den Prozess des Erstellens eingreifen. Neben der Beobachtungsgabe sind die künstlerischen bzw. handwerklichen Fertigkeiten, z. B. die Strichführung, ein wichtiger Faktor, wie Putscher betont: »Etwas genau zu zeichnen, ist eine hervorragende Möglichkeit, Wissen zu erwerben.«138 Kurz: Das Darstellen selbst dient dem Erkenntnisgewinn, die Darstellungspraxis ist eine Forschungsmethode. Etwas darzustellen, heißt hier, sich etwas bewusst zu machen. Dieser Prozess wird bei Betrachtung der Arbeitsweise Leonardos besonders deutlich. Sein Sehen und Zeichnen war Kemp zufolge immer ein Akt der Analyse, auf dessen Grundlage er schöpferisch die ihn umgebende Welt erfassen und immer neu erschaffen konnte.139 Kemp wörtlich: »Leonardo’s notion of what it is to ›see‹ embraced the double sense of the verb (in both Italian and English) – that is to say, ›to look at‹ and ›to understand‹.«140 Zeichnen und mithin Abbilden wurden in den Händen Leonardos zu Methoden der Analyse. Es scheint, als habe er mit den Händen ein wissenschaftliches Experiment durchgeführt, dessen Ergebnis wirklich zu beweisen scheint, wie die Dinge funktionieren.141 Dies kann unter Umständen zu einem doppelten Erkenntnisgewinn führen: »Die Darstellung der sichtbaren Welt, sei es in der Anatomie oder in der Kartographie, in der Geologie oder in der Botanik«, führte Leonardo zu immer »neuen Erkenntnissen, die zu neuen Fragen weiterleiten«.142 Bei Leonardo fungierte »das Zeichnen als Mittel anatomischer Forschung«, so Putscher. Er »will alles erkennen, indem er es ›macht‹«.143 Die exemplarische Typik von Einzelheiten wird durch das Herauslösen aus Gesamtzusammenhängen (z. B. durch die 137

138 139 140 141 142 143

Moderne Herstellungstechniken anatomischer Bilder (Fotografie, Röntgentechnik, Computergrafik etc.) werden hier nicht einbezogen. Eine Untersuchung darüber, ob die genannten Parameter auch auf sie zutreffen, steht noch aus. Putscher in Baur/Bott/et al. (1984), S. 43. Vgl. Kemp (2004), S. 5. Ebd., S. 51. Vgl. ebd., S. 96. Ladendorf in Baur/Bott/et al. (1984), S. 13. Putscher in ebd., S. 41.

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Trennung bestimmter Organe aus dem Körperganzen), Vergrößerung und Beschriftung hergestellt.144 Putscher sieht die Kunst als Mittel zur Erkenntnis der Wirklichkeit. Sie schreibt, Leonardo sei der Gefahr, Wissenschaftler zu werden entronnen, »weil seine Erkenntniswege – die Zeichnungen – Schönheit haben«145 . Hier fällt es schwer, sowohl die Begriffe als auch die Perspektive zu übernehmen. Die höhere Qualifizierung des Künstlers vor dem Wissenschaftler und die scharfe Trennung der Kategorien scheint mir, gerade bei Leonardo, unangemessen. R EPR Ä SEN TATI V E F U N KTION EN

Eine der übergeordneten Funktionen von Bildern besteht in ihrer Fähigkeit zur Repräsentation, in ihrer Referenz auf die Realität. Die Repräsentation ist die Vergegenwärtigung von Nichtgegenwärtigem. Das Bild nimmt Bezug auf etwas, das es nicht selbst ist. Das Bild steht für etwas anderes: »Aliquid stat pro aliquo«, so lautet der Zeichenbegriff der Scholastik.146 Zeichen und Repräsentation stehen in einem engen Verhältnis. Es sei an dieser Stelle betont, dass die vorliegende keine semiotische Arbeit ist, und dass sowohl die repäsentative, als auch die anschließend vorgestellte verweisende Bildfunktion, nicht immer mit semiotischen Theorien kongruent sind. Im naturwissenschaftlichen Bild wird das Ergebnis oder der Vorgang einer Beobachtung repräsentiert. Es kann beispielsweise ein Versuchsauf bau oder ein Exemplar einer Spezies vergegenwärtigt werden. Bezogen auf die Anatomie stellen sich in diesem Zusammenhang primär zwei Fragen: Was soll im Bild repräsentiert werden? Einerseits könnte das anatomische Bild einen sezierten Körper oder dessen Teile repräsentieren, andererseits den Akt der vorausgegangenen Sektion vergegenwärtigen. Die zweite Frage ist: Auf welche Realität soll referiert werden – auf die des toten Körpers oder die des lebendigen Leibes? Wenn Zeichner vergangener Jahrhunderte ihre Federn zur Hand nahmen, zeichneten sie nach Skizzen von Anatomen, nach Wachsmodellen oder nach vor ihnen liegenden sezierten Körpern. War schon dieser tote Körper ein Bild, das in einem weiteren Bild reproduziert wurde? Ist ein Körper die Repräsentation eines lebendigen (beseelten) Leibes? Albrecht von Hallers Biograph verweist auf den enormen Arbeitsaufwand, den die Herstellung anatomischer Präparate bedeutete: Zunächst sei gefärbtes Terpentinöl oder aufgewärmtes Wachs in die Gefäßbahnen eingespritzt worden, die dann mit einem Messer sorgsam heraus ziseliert werden mussten. »Erst jetzt konnte der Zeichner arbeiten und der Stecher war der dritte nötige Künstler.«147 Diese Formulierung 144 145 146 147

Vgl. Herrlinger (1967a), S. 83. Putscher in Baur/Bott/et al. (1984), S. 42. Vgl. Sendlmeier (1996). Balmer (1977), S. 53.

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verdeutlicht, dass die präparatorische Tätigkeit sowohl als wissenschaftliche Praxis als auch als eine künstlerische Arbeit aufgefasst werden kann. Geschieht Letzteres, kommt man zu einer anderen Deutung des anatomischen Bildes als der, wonach sich die Tafel (als Darstellendes) auf den toten Körper (als Dargestelltes) bezieht. Ist der Körper selbst künstlerisches Material, bedeutet das, dass er an sich schon ein Bild ist: Er ist materieller Bildträger und Darstellung in einem. Das, worauf er sich bezieht, was er repräsentiert, ist der lebendige Leib mit seinen körperlichen Funktionen. Das anatomische Bild, die Tafel, bezieht sich in diesem Fall auf ein Bild – den sezierten, präparierten Körper. An die oben genannten Fragen schließt die Überlegung an, ob ein repräsentiertes Abwesendes überhaupt existiert hat, und wenn ja, ob es in der dargestellten Form existiert bzw. existiert hat, ob also Bildern (in ihrer Repräsentationsfunktion148 ) notwendigerweise reale Vorbilder zugrunde liegen müssen. Wenn wir feststellen, dass Wissen häufig erst durch Bilder hergestellt wird, müssen wir anerkennen, dass die Frage einer ›realen‹ Existenz des Abwesenden nicht geklärt ist. Am Beispiel der Hirnfunktionen wird deutlich, dass sich der größte Teil körperlicher Phänomene der direkten Beobachtung entzieht. Effekte sind beobachtbar, die Tätigkeit selbst nicht. Sie kann repräsentiert werden, obwohl sie nicht in den Blick genommen wurde. Das heißt allerdings nicht zwingend, dass sie nicht existiert hat oder nicht real ist. Heute setzen aufnehmende Apparate Daten so um, dass für unsere Augen wahrnehmbare Bilder und somit Repräsentationen (real nie gesehener) Dinge entstehen, von Dingen, etwa solchen der Nanowelt, die auch gar keine primär sichtbaren Phänomene sind. Sie können selbst mit den stärksten Mikroskopen nicht gesehen werden. Dennoch ermöglicht die zeitgenössische Bildgebung, Phänomene dieser Art zu visualisieren, sichtbar zu machen. Fischer geht so weit, »einen Grundzug der technischen Entwicklung in unserer Kultur dadurch zu charakterisieren, daß er auf die zunehmenden Bemühungen verweist, das Unsichtbare sichtbar zu machen«. Messdaten werden so auf bereitet, dass ein Bild entsteht. Ob dieses einer (wenn auch nicht sichtbaren) Realität oder einem Imaginären entspricht, wäre die nächste Frage, die sich aufdrängt. Und ist Letzteres der Fall, wäre dann eine zum Bild gemachte Imagination eine Repräsentation? Ja, denn dem Bildermachen ist immer eine bildliche Vorstellung, ein Imaginäres vorgängig, auch wenn sich das Bild auf ein reales Objekt bezieht. Wiesing stellt die »eigentlich relevante Frage« die Repräsentation betreffend, und zwar »ob ein Bild immer eine Repräsentation und damit eine Bezugnahme sein muß«.149 Bilder sind nicht selbst das, was sie vertreten. Aber sie sind, im Gegensatz zum vertretenen nicht Anwesenden begreif bar. In der Fähigkeit zu repräsentieren liegt die Macht der Bilder. Wie das? 148 149

Den Begriff Repräsentationsfunktion verwendet Huber als Überbegriff, unter den z. B. die Selbstreferenz von Bildern fällt, vgl. ders. (2004), S. 66. Fischer (2002), S. 18.

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Gehen wir mit Huber vom Beobachter aus: Beziehe der sich in seiner Bildbetrachtung auf die Welt, entwerte dies die Darstellungen: »Sie werden zu einem Stellvertreter, einem Repräsentanten im wahrsten Sinne des Wortes. Denn im Grunde ist ein Repräsentant ein Nichts und ein Niemand. Er ist ein No-body, einer der keinen Körper hat.«150 Doch zusätzlich dazu, dass er etwas repräsentiert, so Huber weiter, ist er selbst auch etwas, nämlich ein Bild. Diese materielle oder körperliche Vertreterfunktion gebe dem Repräsentanten Macht, denn das »Abwesende kann im Fall einer bildlichen Darstellung nicht ohne ein sichtbares Anwesendes gedacht, beobachtet oder geschrieben werden«151. Artefakte neuester bildgebender Verfahren werden fast immer für Visualisierung anatomischer Tatsachen gehalten. Der Apparat gilt lediglich als leistungsfähigeres Auge. Solche Hirnbilder entsprechen einer doppelten Repräsentation. Zum einen ist das Bild der Repräsentant des nicht sichtbaren Gehirns. Zum anderen wird diesem Bild die Fähigkeit zugeschrieben, durch eine Visualisierung von durch Apparate erzeugten Messdaten z. B. kortikaler Prozesse, selbst schon Repräsentation anatomischer und physiologischer Realitäten, eben diese selbst abzubilden und damit zu repräsentieren. Bilder repräsentieren Gehirnfunktionen. Bilder machen Gehirnfunktionen. Die Realität des Abwesenden scheint dabei nicht in Frage zu stehen. Repräsentationen und mithin Bilder dienen einer Existenzversicherung. Sie ersetzen das Reale nicht; sie werden selbst für Realität genommen. Für sich genommen ist ein Bild etwas, das konkret in der Welt vorhanden ist, aber es repräsentiert zugleich etwas, das nicht da ist, ein Abwesendes. Somit ist es immer auch ein Anscheinendes.152 Dieses Abwesende muss allerdings kein Spezifisches sein. Ich kann das Gehirn von Gauss, aber auch ›das‹ weibliche Gehirn zur Darstellung bringen. Im ersten Fall hole ich Gauss’ Gehirn aus dem Glasgefäß und zeichne es ab. Im zweiten Fall könnte ich auf gesammelte Daten aller weiblichen Gehirne, die ich je seziert oder gesehen habe, zurückgreifen, überlegen, wie sie in einem konkreten Bild zu repräsentieren wären und ein entsprechendes Bild erstellen. Für die Analyse der Bildfunktionen kommt hinzu, dass jedem Bild nicht nur eine Form von Repräsentation innewohnt, oder es nur eine Art von Repräsentation darstellt. Meist vereint es – je nach Perspektive – mehrere Formen in sich. Um beim Beispiel der anatomischen Darstellung zu bleiben, kann das Organ als Teil des Leibes auf den ganzen Leib und dieser wiederum auf den Körper dessen, der seziert wurde, also auf das lebende Individuum selbst und seine funktionierenden Organe verweisen, etwa als Repräsentation von Sterblichkeit. Eindeutigkeit ist bei solchen Ketten von Verweisen kaum gegeben. Zum Begriff des Bildes (hier image) und seinem Verhältnis

150 151 152

Huber (2004), S. 66. Ebd., S. 67. Vgl. Böhme (1999), S. 21.

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zu sich überlagernden Schichten von Repräsentation schreiben K. B. Roberts und J. D. W. Tomlinson: It is also possible to attempt to reproduce not only the pattern but also the actual appearence of the organs as revealed by dissection: to represent in two dimensi­ ons what can be seen in the round. The word image may be used to indicate such representation; this word can also embrace the pictorial translation of structures seen during dissection into representation of those of a supposed living person. Anatomical images can, therefore, represent either the actual appearance of a dissection, or alternatively the make­believe appearance of a living being as that person might appear had dissection been performed without the loss of life […] – in this way evincing at the same time both stoicism and a miraculous physiology: a remarkable conceit.153

Hier werden verschiedene Formen bildlicher Repräsentation aus dem Feld der Anatomie angesprochen. Ein Organ wird auf der Bildfläche repräsentiert, reduziert um eine Dimension. Auch die Person, der das dargestellte Organ einst entnommen worden ist, wird durch die Darstellung ihres Organs ins Bild zurückgeholt. Sie ist als Ganzes im dargestellten Teil gegenwärtig. Auf diese Weise kann auch die Essenz der Idee von Mikro- und Makrokosmos erklärt werden, von der später noch zu sprechen sein wird. Nach dem Pars-pro-toto-Prinzip ist dabei das Körperganze in seinen Teilen, z. B. den Organen, repräsentiert und umgekehrt. Wir haben es hier mit der bereits beschriebenen Vergegenwärtigung anatomischer Praxis zu tun, ein Vorgang, vergangene Aktionen aus ihrer Zeit zu lösen und zu einem Teil der Jetzt-Zeit des Bildbetrachters zu machen. So wird zugleich die Struktur von Wissensvermittlung selbst aufgedeckt. Ein weiterer Punkt, der durch Verwendung dieses Zitates wieder in den Blick gerät, ist die im ersten Kapitel diskutierte Unterscheidung von inneren und äußeren Bildern, also images und pictures. Indem Roberts und Tomlinson den Begriff des anatomical image wählen, implizieren sie verschiedene, einander überlagernde Bedeutungsschichten der bildlichen Repräsentation, die in einem solchen Bild des Körpers enthalten sind (z. B. jeweils zeitgenössische, also variable Körperbilder, Sterblichkeit, die Fragen nach Perspektive und Dimensionalität). Wieder zeigt sich, dass eine prinzipielle Trennung von innerem und äußerem Bild – zumindest in Bezug auf die hier untersuchten Bilder – wenig sinnvoll ist. Bildliche Darstellung und Vergegenwärtigung dienen der wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit und oft auch der Konstruktion eines Phänomens, also dessen, was durch ein Bild zu beweisen ist. Dabei wird Wissen nicht nur im Bild festgehalten. Durch Repräsentation wird Wissen geformt, oft erst erzeugt, denn das Bild zeigt eine Darstellungsweise, eine Möglichkeit, das, was nicht gegenwärtig ist, zu sehen. Bild153

Roberts/Tomlinson (1992), S. 7f.

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Abb. 14: Andreas Vesal, Frontispiz aus der französischen Ausgabe der Fabrica, Vesal (1569).

produzenten nutzen die Darstellung, um ihr Wissen bzw. ihre Annahmen oder Theorien an den Betrachter zu vermitteln. Für die spezifischen Blicke mag das Bild zwar anders konnotiert sein, als es intendiert war, doch der Ausschnitt wurde vom Zeichner gewählt, die Perspektive von ihm festgelegt. Darauf hat der Betrachter keinen Einf luss. Seine Zeugenschaft ist nur eine virtuelle. Sie ist Zittel zufolge »solange keine Bestätigung, als nicht selbst anhand einer Leiche das Bild geprüft wurde«154 . Schließlich gibt es noch eine weitere Form von Repräsentation: die von Macht, Könnerschaft oder Autorität. Durch Bilder üben Medien mit »ihrer Strategie der Neuheit, der Selektion und der Verführung […] in der Sozialgeschichte Macht aus«155 . Der professionelle Umgang mit menschlichen Leichen wird dem Betrachter anatomischer Bilder Respekt einf lößen. Etliche Anatomen haben sich selbst beim Vollzug einer Sektion abbilden lassen, meist im Frontispiz eines anatomischen Atlanten. Herausfordernd scheint Vesal uns anzublicken (Abb. 14). Sein Können, seine soziale Stellung sind im Bild repräsentiert. Weniger direkt ist dies der Fall, wenn nur das Werk154 155

Zittel (2005), S. 126. Belting (2007), S. 49.

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II. WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS IM BILD

zeug zusammen mit dem sezierten Körper oder Organ abgebildet ist.156 Wie das Organ den ganzen Körper, so holt die Darstellung des Werkzeugs den Anatomen ins Bild. Das Werkzeug fungiert dabei sowohl als Extension seines Körpers als auch als Symbol seines Handwerks. V E RW EISEN DE F U N KTION EN

Vom Aspekt der Repräsentation ist der Verweischarakter eines Bildes zu unterscheiden. So wie Bilder repräsentative Funktionen im Sinne einer ikonischen Zeichenqualität haben können, gibt es auch Bilder, die eine indikatorische Zeichenqualität haben, also in die Klasse der Indizes (Verweiszeichen) fallen.157 Funktionieren Bilder als Verweissysteme, weisen sie vom Bild weg, aber auf etwas anderes hin; etwas, das sie selbst nicht sind, eine Sache, einen Wert, einen Sinn. Ein Sektionsinstrument kann auf die Person hindeuten, die die Sektion durchgeführt hat, oder auch auf das Wissen, das benötigt wird, um eine Sektion durchzuführen. Ein Verweis muss sich also nicht auf etwas Reales oder als Wissensphänomen Konstruiertes beziehen. Die Darstellung einer Sanduhr auf einer anatomischen Tafel kann auf den Tod oder auf die Tatsache verweisen, dass der Mensch sterblich ist. In der Renaissance sollten Darstellungen von Naturdingen oft auf den Schöpfer verweisen. Bilder fungierten, wie Breidbach formuliert, als »Chiffren eines Höheren«158 . Ebenso können Bilder auf Theorien (z. B. bei Descartes) oder auf Imaginiertes, Phantastisches (z. B. im mittelalterlichen Physiologus159 ) hindeuten. In solchen Fällen dienen Bilder als Illustrationen von Ideen. Bilder können auf die Allmacht Gottes, aber auch auf weltliche Macht verweisen, z. B. auf die ihres Auftraggebers. So konnte etwa ein Anatom im 16. Jahrhundert durch die Verwendung besonders großformatiger Abbildungen oder durch üppige Ausgestaltung der Szenen im Bildhintergrund die Überzeugungskraft seines Werkes steigern und sein eigenes – im bourdieuschen Sinne – kulturelles Kapital vermehren. Die Insignien, die die Macht des Wissens repräsentieren, sind vielfältig. Den Bildern, die Charles Estienne (1504–1564) Mitte des 16. Jahrhunderts von der Anatomie des Gehirns in Auftrag gegeben hatte, sind einige solcher Attribute beigefügt.160

156 157 158 159

160

Vgl. z. B. Abb. 42a aus Dryanders Anatomia mundini. Wiederum möchte ich betonen, dass auch die Begriffe um die verweisende Bildfunktion nicht immer deckungsgleich mit den entsprechenden Begriffen der Semiotik sind. Breidbach (2005), S. 59. Der Physiologus ist ein Bestiarium, eine mittelalterliche Sammlung von Bildern und Texten zu fabelhaften und real existierenden Tieren, die auf einer griechischen Vorlage beruht. Vgl. Text, Bilder und Quellen des »Älteren Physiologus« (um 1070) in www.hs-augsburg. de/~Harsch/germanica/Chronologie/11Jh/Physiologus/phy_intr.html (10. 9. 2007). Vgl. S. 218 und Abb. 60.

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Dass Bildung zu dieser Zeit bereits einen hohen Stellenwert besaß, und wie dies über Bilder vermittelt wurde, beschreibt Burke am Beispiel der Portraits der Kanzler von Florenz.161 Solche Gelehrtenportraits bilden zusammen mit heutigen Forscherportraits eine eigene Kategorie, da sie nur indirekt als wissenschaftliche Abbildungen gelten können. Sie haben allerdings Vorläufer in anatomischen Drucken der Renaissance, auf denen Anatomen selbst in einer dargestellten Sektionsszene agieren (vgl. Abb. 14). Die Kleidung des Anatomen zeigt seine soziale Stellung und seine wirtschaftliche Potenz an. Elemente antiker Architektur im Bildhintergrund verweisen auf das kanonische Wissen Aristoteles’ oder Galens, bzw. darauf, dass der sezierende Anatom sich im Übergang zwischen schriftlich tradierter Lehre und neuzeitlicher empirischer Wissenschaft befindet. Dieses Bild ist beispielhaft dafür, dass einander scheinbar widersprechende Zeichenqualitäten innerhalb eines Bildes zusammenkommen können. Hier drücken sich machtpolitische Begehrlichkeiten aus. Auf der Ebene der Bildfunktionen treffen Repräsentation und Verweis zusammen: Zum einen ist im Bild Vesal repräsentiert, d. h. es besteht ein ikonisches Ähnlichkeitsverhältnis. Zum anderen gibt es Anzeichen, die als Indizes auf Machtgefüge oder Bedeutungsverschiebungen verweisen (Körperhaltung, Ornat, architektonische Referenzen). Die Macht des Abgebildeten ist im Bild ebenso gegenwärtig, wie der Verweis auf diese Macht das Begehren des Abgebildeten spiegelt. Das Bild wird zum magischen Gegenstand. Verweise auf Status und Macht finden sich ebenfalls in zeitgenössischen Forscherportraits. Solche Effekte werden verstärkt, wenn repräsentative Bildnisse zusätzlich fetischhafte Objekte (z. B. ein Gehirn) enthalten. Nicht wenige prominente Hirnforscher lassen sich mit ihrem Forschungsobjekt in der Hand verewigen. Dabei deutet sich nicht nur für »das Bild des Naturwissenschaftlers, wie es die populären Printmedien in Umlauf bringen, dieselbe Verbindung von Sensation und metaphysischer Tiefe an wie für die Wissenschaftsbilder«. Zusätzlich, so Ullrich weiter, »fördern diese Fotos die gesellschaftliche Legitimation der Naturwissenschaften«.162 Das habe zur Folge, dass ihre Relevanz nicht in Zweifel gezogen werden könne, da die Öffentlichkeit so kontinuierlich mit Bildern von Naturwissenschaftlern als Avantgarde versorgt werde. Ullrich findet es allerdings kaum vorstellbar, dass »jemals ein Geistes- oder Sozialwissenschaftler in ähnlich dramatisch-magischer Weise abgebildet werden könnte«163. Bezogen auf Hirnbilder ist dies allerdings bereits der Fall, wenn auch Philosophen sich vor einer Wand aus Bildschirmen ablichten lassen, die allesamt Hirnschnitte präsentieren.164

161 162 163 164

Vgl. Burke (1996), S. 120f. Ullrich (2003), S. 80f. Ebd., S. 81. Vgl. Fotografie des Philosophen Joshua Greene, in Blech/von Bredow (2007), S. 114.

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II. WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS IM BILD

Im 18. Jahrhundert gehörten zu Wunderkammern und wissenschaftlichen Sammlungen selbstverständlich Bilder, die vorgezeigt wurden, um die umfassende wissenschaftliche Bildung ihrer Besitzer zu bezeugen. Dabei stand das Bild im seltsamen Gefüge öffentlich-privater Repräsentation. Gerade bei Wunderkammern spielten persönliche Vorlieben (so genannte Steckenpferde), der Wunsch, die privaten Räume auszuschmücken, und der Wunsch, gesellschaftlich etwas darzustellen, unweigerlich ineinander. Politische und soziokulturelle Funktionen von Bildern, wie die, das Prestige des Aufraggebers oder derer, die solche Bilder erwarben, zu steigern, werden in dieser Arbeit nicht explizit berücksichtigt, müssen aber stets mitgedacht werden. Dass wissenschaftliche Bilder vergangener Zeiten heute devotionale Funktionen haben, sei hier nur angemerkt. Allein die Preise, die Bücher und Einzelblätter auf Auktionen erzielen, lassen darüber keinen Zweifel zu. DI DA KTISCH E U N D H A N DLU NG A N W EISEN DE F U N KTION EN

Didaktische und Handlung anweisende Bildfunktionen sind weitgehend selbsterklärend. Dass es Bilder gibt, die prinzipiell zur Vermittlung von Informationen bestimmt sind, ist unbestritten.165 Die Frage ist, welche Rolle Bilder in der Wissensvermittlung spielen, und inwiefern sie Mittel ästhetischer bzw. epistemischer Erkenntnis sind.166 Bilder in wissenschaftlichen Werken dienen dazu, Betrachtern Wissen zu vermitteln und helfen, Gelerntes leichter memorieren zu können: »Die ikonische Präsentation in den Büchern« sollte laut Giesecke in der frühen Neuzeit »eine ebenfalls bildhafte Repräsentation im Gedächtnis der Benutzer ermöglichen«.167 Dabei sei der Umweg über die symbolisch-sprachliche Kodierung vermieden worden. Dem Betrachter wird das im Text Erklärte durch Bilder verdeutlicht oder umgekehrt: Wissen wird durch den Prozess des sehenden Begreifens in oben beschriebener Weise vertieft. Unter Umständen können wir auch von einer illustrierenden Funktion sprechen. Bilder erscheinen als in den Lehrtext implementiert. Sie können ihn illustrieren (im Sinne von ergänzen) oder über das illustrierende Moment hinausgehen, den Text ersetzen, überf lüssig machen. Noch 1855 galt es Treviranus als ein bedeutender Vorteil des Holzschnitts, »dass die Figuren im Texte des Buches gleich neben der Beschreibung anzubringen und daher mit den Daten derselben aufs bequemste zu vergleichen sind«168 .

165 166 167 168

Vgl. Elkins (1999), S. 4. Vgl. Fiorentini, in Pfisterer (2003), S. 247. Giesecke (2006), S. 627. Treviranus (1949), S. 1.

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In der vorliegenden Arbeit werden die Textinhalte und ihre Beziehung zum Abgebildeten sowie die Art und Weise, wie abgebildet wurde, ausführlich erörtert. Doch geht es dabei um weit mehr, als nur darum, dass ein Bild im Text Dargelegtes veranschaulichen oder verdeutlichen soll. Für sich gesehen reichen die Möglichkeiten von Bildern in wissenschaftlichen Arbeiten weit über einen Text bebildernden, mithin uneigenständigen Effekt hinaus.169 Wie wir gesehen haben, ist die Produktion von Sinnzusammenhängen und wissenschaftlicher Objektivität für die Forschungsgemeinschaft170 (und später über sie hinaus) vom Umgang mit Bildern abhängig. Beim didaktischen Aspekt der Erkenntnisgewinn-Funktion können Bilder als Lehr-, Lern- oder Erinnerungshilfen fungieren, die mit bestimmten Theorien oder Methoden wissenschaftlicher Lehre einhergehen. Lehrenden dienen die Bilder als Objekte der Veranschaulichung. Sie gehören zu ihrem vermittelnden Instrumentarium. Aus der Schule kennen wir Tafelbilder, die argumentativ eingesetzt werden, um Sachverhalte zu visualisieren und damit zu (er)klären. Tafelbilder nehmen eine Sonderstellung ein, da sie in der Dynamik ihres Entstehens die Statik von Bildtableaus überwinden. Vor den Augen der Anwesenden entsteht ein Bild, das die Chronologie von Abläufen und Richtungswechseln einbeziehen kann, oder sogar morphologischen Entwicklungsstadien gerecht zu werden vermag.171 Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die meisten Bildfunktionen unabhängig von grafischen Techniken zu sehen sind: Ein wissenschaftliches Bild kann eine bestimmte Funktion erfüllen, unabhängig davon, ob es eine Federzeichnung oder eine Fotografie ist, ob die Art der Darstellung schematisch oder naturalistisch ist. Dessen ungeachtet hängen einige Darstellungsformen eng mit bestimmten Bildfunktionen zusammen. Wir werden kaum Diagramme, Lehrgrafiken oder Merktafeln finden, die nicht auch didaktische Funktionen hätten, also der Vermittlung von Wissen dienen. Diagramme fassen mehr oder weniger abstrahierend Daten, Zahlen und Sachverhalte zusammen und können so komplizierte Sachlagen unter Umständen auf einen Blick vergleichend vermitteln. Solche Bilder halten laut Putscher fest, »was einmal verstanden wurde und nun als Lehre weitergegeben werden kann«172 .

169 170

171

172

Zum Verhältnis von Text und Bild vgl. auch Charlotte Schoell-Glass, »Text und Bild«, in Pfisterer (2003), S. 348ff. Als Forschungsgemeinschaft verstehe ich diejenigen Wissenschaftler, die sich zu einer bestimmten Zeit mit der Erforschung eines bestimmten Objektes oder innerhalb des selben Wissensgebietes beschäftigt haben. Der Begriff fungiert hier als allgemeines Kürzel, auch wenn er in der Verwendung für die frühe Neuzeit eigentümlich anmutet. Interessant wäre eine Untersuchung, ab wann Tafelbilder in der anatomischen Lehre zur Anwendung kamen. Etwas Vergleichbares habe ich nur für einen späteren Zeitraum gefunden: Massimiano Bucchi, Images of Science in the Classroom: Wall Charts and Science Education, 1850–1920, in Pauwels (2006), S. 90–119. Putscher (1972), S. 22.

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II. WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS IM BILD

Zur didaktischen Originalität in Leonardos anatomischen Zeichnungen schreibt Robert Herrlinger, dass es vor allem »die Art der Darstellung des Objektes [ist], sublimiert durch die didaktische Formgebung des geistigen Urhebers, die uns jede medizinische Abbildung als ein komplexes Objekt erscheinen läßt«173. Ziele, die mit didaktischen Bildern erreicht werden sollen, werden durch die jeweilige Technik beeinf lusst. In den meisten Fällen anatomischer Abbildung werden vorgefundene Körper möglichst naturalistisch oder realitätsnah dargestellt. Solche mimetischen Abbildungen kopieren Entitäten der Natur.174 Dahinter steht nach Glassl die Absicht, »Ärzten, die die Möglichkeit einer Sektion oder Operation hatten, einen Leitfaden an die Hand zu geben, da die Tafeln ein ausgezeichnetes Bild von der Lage der einzelnen Organe bieten. Zudem erleichtern die Darstellungen das Einprägen des menschlichen Körpers in seiner Beschaffenheit und Form.«175 Anhand des Bildes kann ein Objekt identifiziert und bestimmt werden. Anatomische Atlanten sind keine konventionellen Bestimmungsbücher, dienten frühen Medizinern jedoch dazu, einzelne Organe zu erkennen. Ein geöffneter Bauchsitus zeigt Betrachtern, wie Körper im Inneren aussehen. Die Darstellung eines Operationsinstrumentes im Zusammenhang mit dem Körperteil, an dem die Operation durchzuführen ist, verweist auf eine Methode, macht sie anschaulich und nachvollziehbar. In einigen Fällen sind sogar die tätigen Hände des Operateurs (Abb. 15) oder des Wissenschaftlers, der sein anatomisches Präparat zubereitet (vgl. Abb. 107), mit abgebildet. Schematische Abbildungen wie Aderlass- und Tierkreiszeichenmänner sind Lehrgrafiken, die Herrlinger als Merktafeln bezeichnet. Diese böten Antworten auf bestimmte mit therapeutischen Eingriffen verknüpfte Fragen.176 Informationen über gewonnene Erkenntnisse waren (und sind heute) nicht nur für forschende Wissenschaftler von Interesse. Im Falle der historischen Anatomie wurde gewonnenes Wissen an Vertreter praktischer Anwendungsberufe wie Bader, Chirurgen oder Wundärzte weitergegeben – vermittelt durch Abbildungen. Ein so genannter ›Lassstellenmann‹ diente dem Arzt oder Bader im Mittelalter dazu, am Körper seiner Patienten die entsprechenden Stellen für den Aderlass zu finden. Das Bild zeigt also etwas und gibt damit eine Handlung auf, die vom Betrachter auf das Vorbild, hier den menschlichen Leib, übertragen werden kann. Durch den Vergleich des Bildes vom Körper mit dem Körper selbst wird ein Handeln im Sinne der Intention des Abbildenden möglich. Im Falle einer solchen direkten Handlungsanweisung (der praktischen Lehre) hat das Bild explikative und unter Umständen

173 174 175 176

Herrlinger (1967b), S. 82. Vgl. Wilkin (2003), S. 53. Glassl (1999), S. 24. Vgl. Herrlinger (1967a), S. 37.

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Abb. 15: Operation am Kehlkopf, Tab. XXII aus De Vacis Auditusq[ ue] Organis, Casserio (1601).

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II. WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS IM BILD

edukative Funktionen – edukativ auch in Bezug auf Abbildungen Gesundheit erhaltender Maßnahmen wie die Darstellung hygienischer Verhaltensweisen. Eine Reihe von Bildern mit didaktisch-instruktiver Funktion ist überwiegend im historischen Kontext von Bedeutung. Das Studium des Bewegungsapparates und die richtige Darstellung des menschlichen Skeletts waren schließlich nicht allein darauf ausgerichtet, Knochenbrüche so zu heilen, dass die Beweglichkeit der Extremitäten erhalten blieb. Seit dem 16. Jahrhundert wurde eine enge Verknüpfung von Kunst und Anatomie vor allem darin offensichtlich, dass anatomische Darstellungen zeitgenössische Kunst zitierten und umgekehrt.177 Das Anliegen der Renaissancekünstler an anatomische Forschung war es, durch genaue Kenntnis der menschlichen Anatomie den Figuren eines Gemäldes mehr Ausdruck verleihen zu können. Bereiche anatomischer Forschung wie der Bau von Knochen und Muskeln erlaubte Künstlern das Studium der Bewegung der Gliedmaßen. Dadurch wurden ihnen beispielsweise Veränderungen im Ausdruck der Gewandbewegung von gemalten Figuren ermöglicht. Kurz: Eine anatomisch korrekte Darstellung des Körpers erlaubte es Künstlern, die ästhetische Qualität ihrer Gemälde zu optimieren. Für die hier hauptsächlich diskutierten Darstellungen des Gehirns ist Letzteres jedoch zu vernachlässigen. Zwar führte das Studium dieses Organs langfristig zur Veränderung seines visuellen Ausdrucks. In der Malerei des hier untersuchten Zeitraums spielte dies (bis auf Ausnahmen, wie Rembrandts Gemälde einer Hirnsektion, Abb. 55) jedoch keine Rolle. Die Problematik dieser Sonderform anatomischer Bilder mit didaktischer Funktion speist sich u. a. aus der Schwierigkeit, die Kategorien Kunst und Wissenschaft gerade in der Renaissance auseinanderzudividieren. So bildeten die Künstler zum einen die Gruppe der Nutzer, nämlich indem sie anatomische Forschung für die Verbesserung ihrer Arbeit nutzten. Zum anderen waren sie Produzenten, die selbst als Auftragnehmer der Anatomen Bilder herstellten. Diese gehörten, nachdem sie fertiggestellt waren, dem naturwissenschaftlichen Kontext, und damit einem anderen Diskurs an. Didaktisch-instruktive Funktionen anatomischer Bilder, ihre Fähigkeit zu belehren oder aufzuklären, führte aber in beiden Fällen dazu, Handlungsanweisung zu geben: sowohl als Produkt der Künstler für den naturwissenschaftlichen Kontext als auch als von ihnen verwendetes Bildungsmaterial innerhalb ihres eigenen KunstKontextes. Eine besondere Beziehung zwischen anatomischer Lehre und den bildenden Künsten bestand weit über die Zeit der Renaissance hinaus. In der Werkausgabe der Arbeiten und in Vorlesungen Pieter Campers (Petrus Camper, 1722–1789) von 1821 beschrieb der Übersetzer diese Beziehung als intimate connexion, in der beide Disziplinen voneinander profitierten. Er machte allerdings darauf aufmerksam, dass das Verhältnis zwischen ihnen durchaus ein problematisches ist: 177

Vgl. Zeuch (2005), S. 252.

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The Artist, whose attention is solely confined to one particular object, and whose knowledge is as circumscribed as his employment, may become expert in the me­ chanic, or operative part of his occupation, but we are not to expect from him any considerable improvements, or peculiar indications of taste; nor will he be quali­ fied to propose rules, by which others might be taught to excel.178

Nach dieser Darstellung wird der Künstler in seiner Rolle als Hand des Wissenschaftlers bestätigt. Seine Einsicht in diese Degradierung habe den Künstler förmlich dazu genötigt, sein Wissen zu vergrößern, also tiefere Einsicht in die Natur zu gewinnen, um einer bloß mechanistischen Wiedergabe des jeweiligen Objektes entgegenzutreten. Heute, wo Computer als Extensionen wissenschaftlicher Augen und Hände die Bilderstellung übernommen zu haben scheinen, wird diese Beziehung noch einmal aus einem gänzlich anderen Blickwinkel zu beleuchten sein. A RGU M EN TATI V E ( BEW EISEN DE ) F U N KTION EN

Als eine weitere augenfällige Funktion wissenschaftlicher Abbildungen sei die beweisende Funktion genannt. Auch wenn sie hier so deklariert ist, stellt sich die Frage, ob Bilder überhaupt Beweise sein können. Ganz allgemein ist ein Beweis von Georgi Schischkoff als Unterfangen definiert, das »die Richtigkeit einer Behauptung, die Gewißheit einer Erkenntnis herbeizuführen oder, falls sie bestritten wird, sie zusätzlich und ergänzend zu sichern«179 im Stande ist. Durch Bilder soll meist etwas bewiesen werden. Sie dienen als Argumente, also Beweismittel, Begründung oder Rechtfertigung der statuierten Fakten. Bilder werden in den Dienst der Validität gestellt. Eine Funktion wissenschaftlicher Bilder kann es sein, die Gültigkeit von Aussagen zu bestätigen oder zu bestärken. Oben wurden Wissenserwerb und Erkenntnisgewinn, also heuristische Funktionen beschrieben. Wenn das im Bild dargestellte Wissen nur Hypothese ist, nicht für alle Zeiten festgeschrieben wird, sondern als wissenschaftliche Momentaufnahme funktioniert, kann das Bild selbst kein Beweis sein. Ein Bild kann der Form nach ein Argument sein (z. B. als Tabelle oder Diagramm) oder inhaltlich, in seiner Aussage. Bei Untersuchung dieser Bildfunktion gilt es besonders, im Auge zu behalten, dass eine Bildaussage kaum eindeutig sein oder so gesehen werden kann. Zudem ist es immer kontextrelativ. Das bedeutet, dass sowohl andere Bilder aus dem Kontext, in dem es erscheint, berücksichtigt werden müssen, als auch mit dem Bild in Verbindung stehende Texte sowie Entstehungszeit und -ort, das Medium und der geistesgeschichtliche Rahmen, in dem das Bild veröffentlicht wurde. Mit dem geistesgeschichtlichen 178 179

Cogan in Camper (1821), S. iiv. Ich nehme an, Herausgeber (T. Cogan) und Übersetzer (Autor des Vorworts) sind hier identisch. Schischkoff (1991), S. 75.

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Rahmen ist hier das gemeint, was Huber in seinem Entwurf einer Bildwissenschaft ›Milieu‹ nennt, also ein spezifisches Einbettungsverhältnis aus institutionellen Rahmenbedingungen, verschiedenen Umwelten und Situationen.180 Auch das 16. Jahrhundert kannte schon einen Unterschied zwischen wissenschaftlichen Publikationen und solchen, die wir heute als populärwissenschaftlich bezeichnen würden. Ein Beispiel sind die als ›Fliegende Blätter‹ verbreiteten anatomischen Drucke: [G]anze Figuren mit den Namen der Theile oder erklärendem Texte, auf Einem Blatte oder auf zwei zusammengehörigen besonderen Blättern, sämmtlich nur auf Einer Seite bedruckt, erschienen in dieser [vorvesalschen, W. L.] Zeit mehrere und zwar meistens für populäre Belehrung oder für Bader und Wundärzte, wahr­ scheinlich zum Aufhängen in den Besuchsstuben der Bader.181

Wenngleich die Bilder auf solchen Blättern isoliert erschienen, gehörten sie doch zu einem Kontinuum an Bildern und Texten oder mündlich verbreiteten Geschichten und waren so in einen Diskurs eingebunden, innerhalb dessen sie gelesen werden konnten, und in dem sie als Argument dienten. Wenn das Gegenteil des Beweises die Widerlegung ist, dann kann auch eine Behauptung durch Bilder widerlegt werden. Vesal fand z. B. durch Autopsie heraus, dass die menschliche Leber im Gegensatz zu der des Affen nur drei Lappen hat. Damit war das bis dahin kanonisierte Wissen aus den Schriften Galens widerlegt und bewiesen, dass dieser keine menschliche Leber seziert hatte. Diese Erkenntnis konnte anhand einer Abbildung des Organs demonstriert werden, die so als Argument gegen Galens Behauptung diente, bzw. zu deren Widerlegung führte. Die voranstehenden Ausführungen erklären, warum die beweisende Funktion nur eingeschränkt greift. Uneingeschränkt richtig erscheint mir die Charakterisierung als argumentative Funktion. Das wissenschaftliche Bild wird wie eben beschrieben als Argument, also als Beweismittel genutzt und als solches von vielen Wissenschaftlern mit einem Beweis gleich gesetzt. In der rezenten Medizin ist die Beweisfunktion von Abbildungen essentiell, so in besonderem Maße in der Herstellung und Deutung funktionaler Hirnbilder. Unsichtbare Phänomene wie der Austausch von Botenstoffen zwischen einzelnen Hirnstrukturen oder Bereiche von Gehirnaktivität werden im Bild dargestellt, so etwa bei der positronenemmissionstomographischen Aufnahme (PET) eines Gehirnschnitts, bei dem die aktiven Bereiche in verschiedenen Abstufungen eingefärbt werden. Hier soll das Bild eindeutig als Beweis fungieren. Die Mathematik arbeitet heute ebenfalls mit Visualisierungen, die auf Zusammenhänge hinweisen sollen. Solchen Visualisierungen wird allerdings keinerlei Be180 181

Vgl. Huber (2004), S. 9/S. 20/S. 147ff. Choulant (1971), S. 39.

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weiskraft beigemessen.182 In der nächst beschriebenen Bildfunktion, der Demonstration, wird diese Frage wieder aufgegriffen. DE MONST R I E R EN DE F U N KTION EN

Demonstration (demonstratio) meint in seiner unmittelbaren Wortbedeutung u. a. Hinweis, anschauliche Schilderung, Veranschaulichung. Diese Worte verweisen auf die Verben Schauen, Sehen, Erblicken, »Augenfällig-Machen«183 , die wiederum in Nuancen sehr Verschiedenes bezeichnen, mit Zittel: »vom bloßen Zeigen, bis hin zum Beweis«184 . Das oben diskutierte Problem, ob ein Bild überhaupt ein Beweis im engeren Sinne sein kann, erweitert Zittel um die Frage, ob eine demonstratio ad oculus zum Beweisverfahren herangezogen werden kann. Er erklärt die Zusammenhänge zwischen Beweis und Demonstration in Bezug auf empirische Forschung und Ursachenerklärung. Am Beispiel von William Harveys (1578–1657) Erforschung des Blutkreislaufes zeigt er, dass dieser »nicht mit Ursachen und beweisbaren Prinzipien demonstriert, sondern durch die Sinne und die Erfahrung bestätigt« werde: Die Blutzirkulation ist daher laut Harvey weder eine Theorie noch eine Hypothese, sie kann daher durch die Sinne, Beobachtungen und Experimente weder demons­ trativ bewiesen noch falsifiziert werden, sondern nur (demonstrativ) gezeigt und bestätigt. Harveys Bild zeigt daher nur, wie man empirisch eine Erfahrungstatsa­ che bestätigt, es erklärt nicht, warum das Blut zirkuliert.185

Ebenfalls im Zusammenhang mit Harvey verdeutlicht Breidbach, dass eine Sektion der Lunge oder des Herzens nicht zur Demonstration des Blutkreislaufs gereicht hätte. Seiner Meinung nach stand Harveys Theorie abseits von der Erfahrung. Der Blutfluss ließ sich nicht einfach an der Anatomie aufzeigen, sondern ist Ergebnis theoretischer Überlegungen, die zum Teil auf schon Bekanntem fußten, das Harvey neu kombinierte. Demonstriert (z. B. durch das Bild von den Zeigefingern, die das Blut in den Armen durch Druck aufstauen (Abb. 16)) wurden lediglich Effekte, die seine Theorie illustrieren sollten.186 Seit dem 14. Jahrhundert war die demonstratio als Schritt bei der Durchführung von Leichensektionen eine Lehrmethode.187 Sie wurde von der darauf folgenden lectio unterschieden, bei der das Demonstrierte expliziert wurde. Die Demonstration durch einen zum Medium gewordenen Körper oder durch ein Bild legt einen Befund oder 182 183 184 185 186 187

Vgl. Heintz/Huber (2001), S. 16f. Breidbach (2005), S. 67. Zittel (2005), S. 111. Ebd., S. 113. Vgl. Breidbach (2005), S. 72ff. Vgl. S. 102.

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ein Ergebnis dar. Ich sehe etwas und ziehe aus dem Gesehenen Schlüsse. Roger K. French beschreibt, wie in einer anatomischen Schrift des 16. Jahrhunderts der Holzschnitt als Form der demonstratio diente. Er sollte zeigen, was Anwesende bei einer Sektion gesehen hätten.188 Das Bild fungiert als zweidimensionales Substitut in der Natur vorgefundener dreidimensionaler Strukturen. Wenn wir den Faktor Zeit einbeziehen, ist das Bild sogar Substitut vierdimensionaler Strukturen, da im Zeitverlauf der Sektion nach und nach Objektteile hervortreten. Breidbach definiert die Demonstration als »unmittelbare Darstellung einer Beobachtung im Kreise von Fachkollegen«189 und verweist auf ihre Bedeutung für die Funktionsanatomie bis ins späte 19. Jahrhundert. In dem Fall, dass Demonstrationen durch Abbildungen ersetzt wurden, erfüllen Bilder konkret demonstrierende Funktion. Anders gesagt nahm ein Bild den Platz der zu jener Zeit noch praktizierten Demonstration ein. Es war damit selbst Demonstration. Das Bild war im beschriebenen Fall eine Handlung. Solche Überlegungen führen zurück zu Mitchells Topos des lebendigen Bildes.190 Die Frage nach der Demonstration und ihrer Beweisfunktion scheint mir damit noch nicht hinlänglich geklärt. Im 18. Jahrhundert, etwa bei Wolff und Kant, ist Demonstration die Bezeichnung für den wissenschaftlichen Beweis einer Behauptung.191 Das Bild soll zur Gewissheit führen, also zu zweifelsfreiem, eindeutigem Wissen. Nun ist aber gerade Eindeutigkeit etwas, was ein Bild nicht leisten kann, insbesondere wenn man anatomische Abbildungen betrachtet. Bei anderen wissenschaftlichen Bildern, z. B. mathematischen Tabellen oder Grafen, mag es sich anders verhalten. Ein Bild ist sowohl in der Deutung als auch in seinen Funktionen variabel. Vollständige Gewissheit über ein Bild ist nicht möglich, da Eindeutigkeit nur unter Umständen gegeben ist, und zwar ausschließlich dann, wenn sie vom Betrachter selbst festgelegt wird. Mit Goethe gesagt: »Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht.«192 Die Beobachtung und das Ergebnis einer Beobachtung, mithin das, was dem Beobachter evident, also offenkundig, klar ersichtlich und überzeugend erscheint, hängt demzufolge immer davon ab, was er schon weiß. Evidenz ist der Begriff, der uns in unseren Überlegungen weiterbringen kann. Evidenz oder Augenscheinlichkeit wird von Schischkoff definiert als »höchste im Bewußtsein erlebte und zur Gewißheit führende Einsichtigkeit; das, was dem Denken und der Erkenntnis ›einleuchtet‹«193. Im Österreichischen bedeutet ›etwas in Evidenz halten‹, etwas im Auge zu behalten. Das ist eine sinnreiche Metapher dafür, dass Evidenz ausschließlich im Auge des Betrachters gegeben ist. 188 189 190 191 192 193

Vgl. French in Wear/French/Lonie (1985), S. 61. Breidbach (2005), S. 87. Vgl. S. 4. Vgl. Schischkoff (1991), S. 124f. Goethe (1948), Bd. 23 (Brief an F. v. Müller, 24. 4. 1819), S. 52. Schischkoff (1991), S. 193.

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Abb. 16: Das Blut in den Armen wird durch manuellen Druck gestaut, Pag. 81 (Fig. 3 und Fig. 4) aus Exercitatio Anatomica De Motu Cordis, Harvey (1628).

Offensichtlich sind die Grenzen zwischen Demonstration und Beweisfunktion f ließend194 . Schischkoff definiert Demonstration als strengen oder deduktiven Beweis, der durch die als wahr erkannten Beweisgründe oder Argumente gestützt wird.195 Diese auf juristische und mathematische Sachverhalte zurückzuführende Definition auf Bilder zu übertragen, ist zumindest bedenklich, denn wie sollen Bilder als wahr erkannt werden? Sie sind nicht Argumente solcher Art, sondern unterliegen einem »Sehzwang«196 , wie Zittel es nennt. Das Sehen ist abhängig von der Behauptung oder Theorie, die mit dem betreffenden Bild bewiesen werden soll. Ich sehe das, was ich beweisen will. Ein Bild kann das beweisen, was ich in ihm sehen will. Streng genommen kann ein Bild nur in diesem Sinne Beweisfunktion haben. Sie geht von demjenigen aus, der mit ihm etwas beweisen will. Ein Beispiel aus der Geschichte der Hirnforschung mag dies verdeutlichen. Vesal kannte das Rete mirabile als eine von Galen beschriebene Struktur im Gehirn und stellte sie in seiner Fabrica dar.197 Dies entsprach der allgemeinen Lehrmeinung seiner Zeit. Obwohl diese Struktur nicht Teil des menschlichen Gehirns ist, bildete er sie, ganz unter dem Einf luss der Autorität seines großen Vorgängers stehend, ab. Zur Zeit der Drucklegung der Fabrica war sich Vesal bereits darüber im Klaren, dass das Rete mirabile beim Menschen nicht existierte. Er illustrierte nicht anatomische Wirklichkeit, sondern ein Konzept.198 Anatomen nach Vesal sahen dieses Bild, trauten – sofern 194 195 196 197 198

Vgl. Zittel (2005), S. 114 . Vgl. Schischkoff (1991), S. 75. Zittel (2005), S. 117. Vgl. S. 115, 172 und 205f. Vgl. Clarke/Dewhurst (1972), S. 58.

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sie selbst sezierten – ihren eigenen Augen nicht und reproduzierten, was sie wussten, sahen und sehen wollten. Wenn ein Akteur durch (Bild)Beobachtung zur Gewissheit kommen kann, kann er sich, je nach Perspektive oder Ausgangsfragestellung, ebenso täuschen (lassen). Die Täuschung als mögliche Funktion wissenschaftlicher Abbildungen geht mit denen der Argumentation und Demonstration einher. Im Bild können Ergebnisse demonstriert werden, die so nicht vorgefunden worden sind, deren Veröffentlichung aber bestimmten Zwecken dient, wie der Profilierung auf einem bestimmten Wissensgebiet zur Vermehrung des Einf lusses im jeweiligen wissenschaftlichen Feld. Falsche Auslegung des im Bild Gesehenen führt zur (Selbst)Täuschung. Ebenso ist eine aktive Täuschung durch wissentlich und willentlich falsch (anders als beobachtet) Dargestelltes möglich. Wie funktioniert die Täuschung? Bilder regen Zweifel und Misstrauen an; sie scheinen etwas zu zeigen, das sie nicht sind. Diese Zweifel können laut Kruse auf die platonische Ontologie zurückgeführt werden. Platon habe das Bild relational zum wahren Sein des Originals und der Idee definiert. Weil Bilder den Dingen, die sie darstellen, ähneln, können sie ihren Betrachter täuschen.199 DOK U M EN TI E R EN DE , FI X I E R EN DE U N D KONSE RV I E R EN DE F U N KTION EN

Haben Bilder dokumentierende, fixierende und konservierende Bildfunktionen, bedeutet dies, dass darin mit den Sinnen wahrnehmbare Phänomene oder zeitliche Abläufe festgehalten sind. Indem beobachtete Handlungsverläufe, z. B. Sektionen, medialisiert werden, wird bereits Vergangenes im Bild gegenwärtig. Dieser Aspekt des wissenschaftlichen Bildes lässt eine Bilddefinition wie die Flussers zu: »Ein Bild ist eine Reduktion der «konkreten», vierdimensionalen Verhältnisse auf zwei Dimensionen.«200 Durch das Abbilden wird die Sektion als Handlung in ihrem zeitlichen Ablauf gestoppt, der Moment festgehalten und im Bild fixiert. Auf der Bildfläche werden räumliche und zeitliche Aspekte der Sektion zusammengebracht. Im wissenschaftlichen Rahmen werden so Bilder zu Dokumenten. Bezogen auf die Anatomie sind Bilder vom Körper Dokumentationen dessen, was derjenige, der ein bestimmtes Bild erstellt, sieht oder gesehen hat, also dessen, was er erkannt hat. Sehen und Erkennen sind, wie oben ausgeführt, zwei Ebenen. Das Bild ist notwendigerweise immer eine Abstraktion, selbst bei scheinbar objektiven Methoden der Bilderzeugung wie der Fotografie. Nach Breidbach sind Abbildungen nur Dokumente von Beobachtungen.201 Sein ›nur‹ bezieht sich insofern auf die Abbildung, als sie als 199 200 201

Vgl. Kruse (2007), S. 1. Flusser (1998), S. 111. Breidbach (2005), S. 14.

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bloßes Dokument von Beobachtung dem Akt der Wahrnehmung nachgestellt ist. Die Wahrnehmung, das Sehen des für die jeweilige Wissenschaft interessanten Objekts, ist das Primäre, was im Bild dokumentiert wird. Eine Reihe wissenschaftlicher Bilder definierten Inhalts, wie sie in dieser Arbeit vorgestellt wird, ist insgesamt gesehen noch eine andere Art von Dokumentation. Sie dokumentiert den Wandel wissenschaftlicher Wahrnehmung sowie ihrer Visualisierung. Es wurde behauptet, dass die anatomische Darstellung neuen Stils (stil nuovo), wie sie sich seit Ende des 15. Jahrhunderts entwickelt hat, ihren dokumentarischen Charakter verloren hat und zum Kunstwerk wurde.202 Diese Aussage ist nicht nur angesichts der Tatsache, dass sich gerade zu jener Zeit Kunst und Wissenschaft kaum trennen ließen, problematisch. Ihr liegt eine schwer nachvollziehbare Definition des Dokumentationsbegriffs zugrunde. Danach könnten nur solche Bilder dokumentieren, die naturgetreu oder realistisch darstellten. Weiterhin werden anatomische Bilder als Kunstwerke beschrieben, die, wie z. B. die Skelette Estiennes, in idealen Landschaften oder reich dekorierten Räumen platziert wurden. Ob ein solches Bild eine dokumentierende Funktion hat oder nicht, ist m. E. jedoch völlig unabhängig von Stil und Darstellungsmethode. Natürlich gilt auch hier die Formel Form ist Inhalt. Dass die formalen Aspekte eines Bildes Einf luss auf seine Inhalte nehmen, soll durch das zuvor Gesagte nicht revidiert werden. Dennoch ist bestimmten (künstlerischen) Formen nicht die Fähigkeit abzusprechen, bestimmte (dokumentarische) Inhalte zu transportieren. Sowohl die Form eines Bildes als auch Bildinhalte lassen unwillkürlich auf den Entstehungszeitraum schließen. Bestimmte Bildelemente (z. B. Operationsinstrumente) sind zeitgebundenes Beiwerk. Als eindeutige Indizien dokumentieren sie die Bildmoden einer Epoche. Doch es wäre falsch anzunehmen, dass z. B. heutige Wissenschaftsbilder nicht ebenso einem Stil unterliegen wie die des späten 15. Jahrhunderts. Sofern sie Ergebnisse wissenschaftlicher Beobachtung sind, dokumentieren all diese Bilder zumindest die Art und Weise, wie im wissenschaftlichen Rahmen wahrgenommen wurde. Darüber hinaus können sie noch weitere Befunde, Vorgehensweisen, Abläufe etc. fixieren und so für den späteren Zugriff dokumentieren. Das im Bild Fixierte kann als wissenschaftlicher Befund unterschiedlichen Individuen zu unterschiedlichen Zeiten und Zwecken zugänglich gemacht werden. Hagner zufolge geht es gerade in der modernen Hirnforschung darum, »das Flüchtige beständig zu machen, die kontingenten Produkte des Labortisches in transportable wissenschaftliche Objekte oder Erkenntnisse umzuwandeln« sowie darum, »ein Organ wie etwa das Gehirn oder Funktionen wie Motorik und Sensorik zu fixieren und damit wissenschaftsfähig zu machen«.203 Im Bild wird so der wiedergegebene Forschungsstand einer wissenschaftlichen Epoche konserviert. 202 203

Huard (1967), S. 77 Hagner (2006), S. 169

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Darüber hinaus verweisen die Figuren teilweise auf Abläufe wie den der Sektion, indem sie die Reihenfolge des Abtragens einzelner Schichten bildlich nachvollziehen. So ließ z. B. Vesal bei der Sektion der männlichen Geschlechtsorgane die aufeinander folgenden Figuren im Uhrzeigersinn anordnen. Hier lenkt ihre Nummerierung den Blick und verdeutlicht sehr eindringlich das Verstreichen der Zeit während der Zergliederung.204 Nicht nur der zeitliche Ablauf, sondern auch die Transformationsprozesse selbst, etwa die Überführung des Leibes in ein Präparat, können dokumentiert werden. Was in diesem Fall auf dem Bild erscheint, sind Spuren des Zugriffs auf den Leib, beispielsweise veranschaulicht durch chirurgische Instrumente, die neben dem sezierten Körperteil liegen gelassen worden sind, oder durch Nadeln, die Haut auf einem Holzblock in Spannung halten (vgl. Abb. 4a und Abb. 4b). Der konservatorische Akt des Präparierens von Haut wird auf das Bild übertragen. Die Spuren der Herstellung werden sichtbar. Damit wird der Prozess der Herstellung selbst gegenwärtig. WA H R N EH MU NG ST RU KT U R I E R EN DE F U N KTION EN

Das eben genannte Beispiel der im Uhrzeigersinn angeordneten Bilderfolge zeigt auch, wie Wahrnehmung durch Bilder strukturiert wird. Bei der angesprochenen Tafel Vesals wird der Blick durch ein Nachvollziehen der Nummernabfolge gelenkt. Auf bildimmanente Methoden wird er z. B. durch die Größenverhältnisse der Figuren einer Tafel geführt, durch differierende Detailliertheit oder durch die Farbgebung des Abgebildeten. So erfolgt eine Strukturierung der Wahrnehmung vom ganzen Organ zu den Darstellungen der einzelnen Schichten bzw. Details oder von der Bauweise zur Funktion. Eine Veränderung in der Darstellungsweise wissenschaftlicher Inhalte geht mit einer sich wandelnden Bildwahrnehmung einher. Der große Einf luss z. B. anatomischer Abbildungen zeigt sich auch in einer veränderten Wahrnehmung des Leibes selbst. Andere Organe waren zur Zeit Vesals sowohl morphologisch als auch funktional besser erschlossen als das Gehirn. Es kollabierte leicht, seine Teile und Strukturen waren vergleichsweise klein und schwer voneinander zu trennen. Gut erforscht waren beispielsweise die äußeren Geschlechtsorgane, was erklären könnte, warum Vesal und seine Nachfolger für Teile des Gehirns begriff liche Analogien zu Geschlechtsteilen etablierten.205 In welchem Zusammenhang steht dies mit der Strukturierung der Wahrnehmung? Zittel beschreibt, wie ein Leitbild die Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Theorie schafft, bzw. ihr Ergebnis bestimmt, die verwendeten Begriffe und die

204 205

Vgl. Buschhaus (2005b), S. 179 ff.

Vgl. S. 283.

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Art der Wahrnehmung festlegt.206 Begriff liche Analogien wie die eben beschriebene sind dafür ein ebenso gutes Beispiel wie visuelle. Zittel erklärt: »Solche Leitbilder wirken wie Wahrnehmungsfilter«207. Innerhalb definierter Theorien sorgten Bilder für Deutlichkeit. Dies bewirke eine Eindeutigkeit, die ein Bild für sich gesehen nicht leisten könne. Erst durch die Kohärenz, die innerhalb des Bilderkanons einer Theorie bestehe, werde eine bestimmte Deutungshoheit generiert. Zu Recht bestreitet Zittel die tatsächliche Allgemeingültigkeit einer aus solchen Prozessen entstehenden allgemeinen Sichtweise. Vorstellbar ist eine graduelle Annäherung wissenschaftlicher Disziplinen an derartige Leitbilder: Innerhalb einer Disziplin formt sich an Bildern ein Wahrnehmungsparadigma. Es entwickelt sich stetig weiter, bis es durch einen neuen Gedanken, ein neues (Leit)Bild, ersetzt wird. Damit ist der kuhnsche Paradigmenwechsel 208 angesprochen, der sich hier allerdings etwas anders darstellt. Er schlägt sich in der Strukturierung der Wahrnehmung durch Bilder nieder, wird allerdings auch durch Bilder (die ggf. zu Leitbildern werden) ausgelöst. Somit wäre ein pictorial turn immer auch eine scientific revolution. OR DN EN DE , ORGA N ISI E R EN DE U N D V E RWA LT EN DE F U N KTION EN

Die beschriebene Strukturierung der Wahrnehmung führt zur Ordnung und Organisation von Wissen. Beide Funktionen sind eng miteinander verknüpft und bedingen sich gegenseitig. Ordnen als Bildfunktion meint hier eine auf Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und Bildlichkeit basierende Systematisierung von Theorien, Fragestellungen und Forschungsergebnissen oder auch schlicht von Formen, Strukturen und Organismen. Ist ein wissenschaftliches Objekt identifiziert worden, wie in der didaktischen Funktion beschrieben, wird es im nächsten Schritt klassifiziert, dem Einzelnen wird ein Platz innerhalb eines Ordnungsgefüges zugewiesen.209 Ergebnis davon ist eine Taxonomie als künstliche Ordnung, also eine Systematisierung von Wissensinhalten, die durch Benennung festgeschrieben wird. Über die Nomenklatur hinaus kann sie im Bild visualisiert und durch die verwendeten Darstellungsmodi verdeutlicht werden. 206 207 208

209

Vgl. Zittel (2005), S. 117. Ebd. Nach Thomas Samuel Kuhn (1922–1996) wachsen und entwickeln sich die wissenschaftlichen Disziplinen nicht kontinuierlich oder verbessern sich stetig, sondern werden durch eine Abfolge von Paradigmenwechseln konstituiert. Ausgelöst würden diese Paradigmenwechsel von scientific revolutions, die im Wechsel mit Phasen von normal science auftreten, vgl. Kuhn (1962). Vgl. Breidbach (2005), S. 14.

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II. WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS IM BILD

Aus Naturführern bestens bekannt sind Tafeln verschiedener Spezies, die durch bildliche Repräsentation in Kategorien wie Familien, Gattungen oder Arten gegliedert werden. Breidbach bezeichnet solche Tafeln, auf denen systematisierte Beobachtungen notiert sind, als Tableaus: »Im Tableau wird eine bestimmte Kombination von Merkmalen nebeneinander notiert, die es erlaubt, eine spezielle Form auf Grund ihrer Merkmalsverteilung in dieser Tafel zu positionieren und damit über deren Identifikation auch ihren systematischen Ort festzustellen.«210 Solche Systematik findet sich auch auf anatomischen Tafeln, wenn z. B. bei Bidloo Ausschnitte von Dermis und Epidermis als präparierte Blöcke auf einer Tafel verteilt gezeigt werden. Wie bereits am Beispiel des Flugsauriers beschrieben können Taxonomien im Bild nicht nur dokumentiert werden. Unter Umständen ermöglicht es erst die Auswertung von Bildmaterial, solche Taxonomien zu erstellen. Dieses Beispiel verdeutlicht den wechselseitigen Bezug zwischen Bildern und Ordnungssystemen: Es besteht die Möglichkeit, Ordnungssysteme anhand von Bildern zu entwickeln. Die hergestellte Ordnung wird darauf hin wiederum in Bildern dokumentiert. In der Praxis werden Wissensinhalte häufig durch eine Kombination von Bild und Text geordnet oder verwaltet. Ohne eine Würdigung dieses Zusammenspiels lässt sich die Qualität der technischen und der naturwissenschaftlichen Bücher in der Neuzeit nicht begreifen.211 Die Bildlegende ist dem Bild dabei noch näher als der eigentliche Text einer wissenschaftlichen Abhandlung. Dieser rekurriert zwar oft ebenfalls auf die Bildtafeln (z. B. indem die Nummerierung einzelner Bildelemente im Text verwendet wird), jedoch nicht so unmittelbar wie Bildlegenden oder durch Indices mit Bildern verbundene Begriffe, die selbst Teil von Bildern sind. Eine besondere Form der Verbindung von Bild und Text ist die von Estienne verwendete Methode, Texte zu Bildelementen werden zu lassen. Eingerahmt in Zierleisten, die wie Bilderrahmen in den Räumen hängen, in denen sich die sezierten Körper befinden, oder in von Skeletten und Muskelmännern gehaltenen abgebildeten Steintafeln gemeißelt, finden wir Texte oder Bildlegenden (vgl. Abb. 60–63). So werden Wort und Bildwissen direkt miteinander verknüpft. Eine Figur, die Arterien und Venen präsentiert, weist sogar mit dem Zeigefinger auf die Tafel, als ob sie diese Verbindung noch zu verstärken sucht.212 Dieses Beispiel zeigt ebenso, wie Wahrnehmung über Bilder strukturiert werden kann. Das Bild (die abgebildete Hand, der Indexfinger) weist den Weg vom Bild zum Text. Es gibt die Richtung vor und scheint eine Gewichtung zugunsten des Bildes zu bestärken.

210 211 212

Ebd., S. 152. Vgl. Giesecke (2006), S. 626. Vgl. Estienne (1546), S. 135.

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N O RM ATI V E ODE R N O RM I E REN D E F U N KTION – N O RM I E RU N G VO N B Z W. D U RC H W I S S E N

Bilder sind bzw. wirken normativ. Der Terminus Normierung ist erklärungsbedürftig. Er kann im Sinne der Begriffe Norm oder normal verwendet werden, Werte der industriellen Moderne, die so erst seit dem 19. Jahrhundert gebräuchlich sind. Im Zusammenhang mit normativen Funktionen verstehe ich die Norm als Gesetz, auf das man sich innerhalb eines weltordnenden Diskurses verständigt hat. So definiert ist die normative kategorial von der normierenden Funktion zu unterscheiden. In Bezug auf die anatomische Abbildung lässt sich die normierende Bildfunktion besonders gut verdeutlichen. Würde ein Bild eines ›normalen‹, also eines typischen Körpers (ohne körperbauliche Abweichungen) dem Bild eines individuellen Körpers gegenübergestellt, würde das Bild den Körper durch seine anatomische Darstellung normieren. Etwas Ähnliches passiert, wenn die Daten diverser individueller Körper in einem Bild zu einem durchschnittlichen Körper(Bild) zusammengefasst werden. Das Ergebnis ist wiederum eine normierende Darstellung. Durch Bilder können Regeln veranschaulicht werden. Ein Beispiel bildlicher Normierung von Wissen ist der Entwurf einer zoologischen oder botanischen Systematik über Kategorien, die zur Erstellung eines (gezeichneten) Bauplans führen. Sie kommt zustande, indem sich eine Gruppe von Personen mit gemeinsamen Forschungsinteressen auf einen bestimmten Wissenskanon einigt. Anhand der abgebildeten Phänomene und im Bild festgelegter Ordnungsparameter wird ein Bezugsrahmen für die jeweilige Wissenschaft geschaffen. Normen unterliegen einer Vielzahl von Einf lüssen. Durch neue Erkenntnisse werden sie bestätigt, relativiert oder gar umgestoßen. Neue Bilder sind Ausdruck veränderter Seh- und Abbildungsgewohnheiten. Sie können eine Popularisierung oder eine Spezialisierung zur Folge haben. Sie dokumentieren Weiterentwicklungen oder Paradigmenwechsel und repräsentieren den aktuellen Wissensstand. Bildinhalte haben Einf luss darauf, was gerade als Status Quo eines bestimmten Forschungsfeldes wahrgenommen wird. Sie veranschaulichen, wie ein Körper repräsentiert sein soll. Bilder können logischen oder ästhetischen Normen folgen, sie aber auch vorgeben. Eine Idealisierung des Körpers, z. B. seine Darstellung als antike Statue im 16. Jahrhundert, zeigt den Einf luss ästhetischer Normierung auch im wissenschaftlichen Bereich. In Bezug auf die Darstellung des menschlichen Körpers spielen auch sittliche Normen eine Rolle. So ist der weibliche Situs je nach Zeit anders dargestellt. Bestimmte Bereiche werden selbst beim geöffneten, bloßgelegten Körper verhüllt. Das Bild ist eine ethische Richtschnur dafür, wie dieser Körper anzusehen ist. Einigen Anatomen kommt es darauf an, einen Typus z. B. des Gehirns abzubilden. Erwin Hentschel und Günther Wagner nennen drei Varianten des Typus: den nomenklatorischen Typus, den systematischen Typus und den morphologischen Typus,

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ein idealer, einheitlicher Bauplan, der qua Abstraktion ermittelt wird (Urbild).213 Letzterer entspricht am ehesten dem, was Anatomen des ausgehenden 18. Jahrhunderts als Typus ansahen. Goethe ging bei seiner Suche nach dem Typus vom buffonschen Prototyp aus und definierte den Begriff später als »allgemeinen Leitfaden durch das Labyrinth der Gestalten« oder als »allgemeines Schema«.214 Cuvier verband mit dem Typusbegriff die Idee eines bestimmten Bauplans, »der sich im abgestuften Rang von Merkmalen einzelner Organsysteme darstellt«215. Andere Forscher hingegen wollen keinen Typus, sondern ein individuelles Organ zeigen, beispielsweise um eine bestimmte Bauweise einer entsprechenden Eigenheit, Veranlagung oder Verhaltensweise zuzuordnen. Damit zeigt sich, dass anatomische Bilder beides repräsentieren können: das Typische wie das Individuelle. Ersteres hat in den meisten Fällen Vorrang. Selbst Geschlechtsunterschiede werden bisweilen zugunsten der Allgemeingültigkeit einer Darstellung bewusst vernachlässigt. Durch Normierung des Körpers wird das Durchschnittliche an ihm herausgestellt. Dies allerdings ist zu allen Zeiten verschieden. Ein heute geschlechtsspezifisch durchschnittlich großer Mensch ist wesentlich größer als Menschen vergleichbaren Alters im 17. Jahrhundert. Auch durch Krankheit oder Behinderung gezeichnete Körper finden wir nur in wenigen anatomischen Atlanten, obwohl dies dem medizinischen Praktiker sicher dienlich gewesen wäre. Diese zunächst seltsam anmutende Tatsache wird im III. Kapitel näher erläutert. Sowohl normierende als auch normative Bildfunktionen trugen dazu bei, dass sich in den einzelnen Epochen kanonisches Wissen (wie die medizinischen Lehren Galens, die sich über Jahrhunderte hielten) und damit einhergehend ein Bilderkanon (z. B. Vesals Fabrica) entwickelte. KOM MU N I K ATI V E U N D DISK U R SI V E F U N KTION EN

Wissen, das in Form von Bildern vorliegt, ist auch über Sprachgrenzen hinweg verfügbar und kommunizierbar. Die Relevanz von Bildern in der Wissenskommunikation hat über die Jahrhunderte zugenommen. Es liegt auf der Hand, dass Bilder Teil kommunikativer Abläufe in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Diskursen sind. Als kommunikativ definiere ich solche menschlichen Interaktionen, die als gemeinsames Handeln gesprochene und geschriebene Sprache oder auch Bilder involvieren.216 Damit wird die von Heintz und Huber gestellte Frage, ob Bilder diskursive Argumente ersetzen können, obsolet, zielt sie doch auf einen rein sprachlich konzi213 214 215 216

Vgl. Hentschel/Wagner (1996), S. 597f. Jahn (2000), S. 277. Ebd., S. 327. Kommunikation kann in Anlehnung an Kierkegaard und Heidegger auch gemeinschaftliches Schweigen sein oder sich darin konstituieren, vgl. Schischkoff (1991), S. 389.

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pierten Diskursbegriff ab.217 Ich halte also fest, dass Bilder stets Teil wissenschaftlicher Diskurse gewesen sind. Damit wende ich mich gegen jene philosophischen Positionen, nach denen das diskursive Denken als ein rein begriff liches und nicht als bildliches (anschauliches) Denken gefasst wird. Bilder sind Teil des gesellschaftlichen Phänomens Kommunikation.218 Sie dienen m. E. ebenso wie Sprache als Träger von Wirklichkeit. Auch Bilder sind also Erscheinungsformen, die in ihrer Zeit mit dem korrelieren, was jeweils als Wirklichkeit empfunden wird. Innerhalb meiner Arbeit wird der Diskursbegriff insofern erweitert, als Sprache nicht durch Bilder ersetzt, sondern um sie ergänzt wird. Und nicht anders als Sprache folgen Bilder Gestaltungsregeln, Konventionen und Codes, d. h. die Bilder sind »perspektivisch, partiell und von den Umständen abhängig« 219 , ebenso wie der Zugriff auf sie und die Kommunikation über sie bzw. die Diskurse, in denen sie vorkommen, oder deren Teil sie sind. Als kommunikative Funktionen lassen sich verschiedene Bildfunktionen zusammenfassen. Auch die oben beschriebenen didaktischen und Handlung anweisenden Funktionen sind Teil von Kommunikation oder dienen ihr und damit letztlich einem wie auch immer gearteten (öffentlichen oder wissenschaftsimmanenten) Diskurs. Bilder befeuern Diskurse. Das sind zum einen Diskurse über Bildinhalte, zum anderen Diskurse über Bildlichkeit, darüber, was Bilder eigentlich sind. Schwierig ist es, zwischen Diskursen über Bilder und Diskursen durch Bilder zu differenzieren. Wenn über sie gesprochen (kommuniziert) wird, also ein Austausch durch Sprache stattfindet, haben wir sie als innere Bilder (images) oder als äußere Bilder (pictures) stets vor Augen. Innerhalb einer Forschungsgemeinschaft wird Wissen erst konstituiert. Breidbach formuliert: »Die Wissenschaft ist ein Gefüge von Aussagen. Sie ist nicht als solche, sondern in ihren Wissenschaftlern tätig.«220 Bilder sind dabei Teil einer diskursiven (Wissenschafts)Praxis. Die Bildern (und Sprache) zugeschriebene Fähigkeit, Bedeutung herzustellen, bzw. die Möglichkeit, dies durch Bilder (und Sprache) zu tun, sind eng verknüpft mit dem, was ich als kommunikative Bildfunktion beschreibe. Es sind Phänomene dieser Art, die im Fokus neuerer Forschung zur visual culture stehen, wie Sturken und Cartwright ausführen: »Language and systems of representation do not ref lect an already existing reality so much as they organize, construct, and mediate our understanding of reality, emotion, and imagination«221. Durch visuelle und sprachliche Diskurse werden Denk- und Sagbarkeitsräume geschaffen. Indem da217 218 219 220 221

Vgl. Heintz/Huber (2001), S. 10. Vgl. Eco (1972), S. 417. Ebd., S. 418. Breidbach (2005), S. 19. Sturken/Cartwright (2001), S. 13.

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durch und darin Wissen generiert wird, geht Kommunikation als Bildfunktion über bloße Vermittlung hinaus. Das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit ist reziprok. Sie stehen nicht für in sich geschlossene, klar voneinander abzugrenzende Einheiten, sondern sie unterhalten eine Wechselbeziehung, durchdringen einander. So geht beispielsweise der Phrenologiediskurs im 19. Jahrhundert über eine Diskussion innerhalb in sich geschlossener wissenschaftlicher Disziplinen hinaus. Das scheinbar bloß wissenschaftliche Phänomen des Schädelvermessens wurde als Sujet bildender Kunst oder als Plot eines Theaterstücks in andere gesellschaftliche Sphären und Diskurse übertragen. In August Friedrich Ferdinand von Kotzebues (1761–1819) Lustspiel Die Organe des Gehirns222 entscheidet sich Herr von Rückenmark für einen neuen Kammerdiener, indem er die Schädel seiner Bewerber befühlt. In der Öffentlichkeit geführte Diskussionen über Inhalte wissenschaftlicher Forschung speisen sich nicht zuletzt aus einer Kommunikation über Bilder.223 Diese Tatsache, die sich als ›Fremdgehen der Bilder‹ charakterisieren lässt, provoziert eine Allgegenwart von Bildern. Naturwissenschaftliche Bilder, z. B. aus der Hirnforschung, sind derzeit in aller Munde. Gerade weil Bilder oft vieldeutig sind und Raum für Interpretation lassen, regen sie Kommunikation an. Dies geschieht innerhalb wie außerhalb von Diskursen spezifischer Disziplinen. Dabei zeigt sich beispielsweise, dass mit Bildern unterschiedliche Interessen verfolgt werden, sowohl innerhalb der Forschung, als auch hinsichtlich ihrer Veröffentlichung (z. B. Demonstration, Täuschung). Dadurch werden sie in einem anderen Rahmen kommunizierbar, treten in einen anderen Diskurs ein. Kommunizierbar sind Bildinhalte sowie Bilder als solche (in den Bildwissenschaften). Bilder sind Kommunikationsmedien und Kommunikationsmultiplikatoren. Sie zeigen, wovon man spricht, aber sie sind auch, wovon man spricht. Sie zeigen mehr als sagbar ist, und sie sind auch mehr als sagbar ist. Damit entziehen sich Bilder teilweise logozentristischen Strategien wissenschaftlichen Handelns. Dennoch verstärkt sich die Wirkmächtigkeit von Bildern in der (verbalen oder schriftlichen) Kommunikation über sie. Befragen wir historische Bilder nach ihren kommunikativen wie diskursiven Bildfunktionen, so sind Wechselwirkungen von Bild und Wahrheit ebenso Teil ihrer Problematik, wie die Wirkungskreise von Macht und Begehren, die gerade im Wissenschaftsfeld bedeutsam wurden. In diesem Zusammenhang ist eine wissenschaftliche Praxis von Interesse, deren Protagonisten in ihren Abhandlungen Diskurse über Bilder anderer Schriften initiierten. Solche Bildkritik findet sich besonders bei Steno oder Soemmerring.224 Eigene Bilder werden nicht nur als Argumente oder zur Doku222 223 224

August von Kotzebue, Die Organe des Gehirns. Ein Lustspiel in drey Acten, Leipzig 1806. Vgl. Kapitel IV. Zu Steno vgl. S. 273; zu Soemmerring vgl. S. 403f.

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mentation eigener Forschung verwendet, sondern mit ihnen wird ein Wahrheitsanspruch gegenüber Kollegen geltend gemacht. Diese letztgenannten Bildfunktionen verdeutlichen einmal mehr, dass Forscher nie im luftleeren Raum handeln, sondern dass sich ihre Theorien, Ergebnisse und bildlichen Entäußerungen immer auf andere Forschung und die Geschichte ihrer Disziplin beziehen oder davon abhängen. Zudem werden Forschungsergebnisse von nicht-wissenschaftlichen Diskursen vereinnahmt, wie etwa Studien zur Evolutionstheorie und so genannter Rassenkunde gezeigt haben. * Beim Nachdenken über Bildfunktionen, die für historische naturwissenschaftliche Bilder Geltung haben, entstand die Frage, ob sie sich im Laufe der Zeit stark gewandelt haben. Lassen sich die erarbeiteten Bildfunktionen auf die zeitgenössische wissenschaftliche Visualisierungspraxis ebenso anwenden? Anzunehmen ist, dass Interdependenzen von Sehen, Wissen und Macht noch heute bestehen. Macht hatten jene, die Zugriff auf die wenigen Bilder besaßen. Heute haben sie diejenigen, die sich Bildrechte leisten können, die aus der Fülle an Bildmaterial zu selektieren verstehen, denen die neusten Bilder bzw. die fortschrittlichsten Methoden ihrer Beschaffung zugänglich sind. Um ein Klischee als Beispiel zu nehmen: Wer die besseren Bilder vorweisen kann, wird mehr Erfolg bei der Drittmittelbeschaffung haben als andere, deren veraltete Apparaturen schlechteres Bildmaterial liefern. Mit Sicherheit haben sich heute zum einen die Adressaten solcher Wissenschaftsbilder geändert. Sie verfügen über ein nicht vergleichbares Vorwissen und sind mit Bildern aus Medien und Lebensbereichen geradezu gesättigt. Zum anderen wandeln sich die Bedingungen des Abbildens selbst. Im folgenden Abschnitt, dem ›historischen Teil‹ dieses Buches, bilde ich die verschiedenen interfunktionalen Zusammenhänge auf die Bilder der historischen Hirnforschung bzw. auf die der Suche nach dem Seelenorgan ab.

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III. A BBILDU NGSST R ATEGI EN DER HIR N FORSCH U NG IN HISTOR ISCH ER PERSPEKTI V E

Sollen jene Stationen, die Hirnforscher auf ihrer Suche nach dem Seelenorgan durch­ laufen haben, nachvollzogen und dabei verwendete Abbildungsstrategien berücksich­ tigt werden, sind verschiedene Probleme zu vergegenwärtigen. In Form eines Fragen­ katalogs sollen sie Richtschnur für die Lektüre des dritten Kapitels sein. Es gilt, sie beim Lesen im Hinterkopf zu behalten. Im dreiteiligen System der Gehirnzellen wur­ de dort, wie wir sehen werden, bis über das Mittelalter hinaus die Memoria angesie­ delt. Nimmt die anatomische Abbildung wie die anatomische Praxis immer auf das Körperganze Bezug? Wann wurde das Gehirn zur Ikone, löste sich in seiner Darstel­ lung vom Körper, wurde nicht mehr als Teil des Körpers, sondern als singuläres Organ gezeigt? Zentral ist der Punkt der ›Wanderung des Seelenorgans‹ durch das Gehirn. Welchen Weg nahm die Seele im Verlauf der Geschichte der Hirnforschung? Wann wurde das Gehirn selbst zum Seelenorgan? Wie löste es sich im 19. Jahrhundert in viele Organe einer Seele auf ? Kann der Weg der Seele in den Abbildungen des Ge­ hirns nachvollzogen werden? Zu welchen Zeitpunkten schlagen die Paradigmen der Hirnforschung in Bezug auf die Frage nach der Seele um? Lassen sich diese Paradig­ menwechsel an den jeweilig zeitgenössischen Darstellungen des Gehirns ablesen? Wenn dies der Fall ist: Welche gestalterischen Techniken wurden verwendet? Inwie­ weit also befinden sich solche Abbildungen in Abhängigkeit zu ihren technischen Vorraussetzungen? Oder anders formuliert: Haben Darstellungen des menschlichen Gehirns und somit die wissenschaftliche und künstlerische Praxis, die den verschie­ denen Visualisierungstechniken zu Grunde liegt, die Hirnforschung überhaupt erst ermöglicht, und tun sie dies heute noch?

A NATOMI E U N D BILD »Hic est locus, ubi mors gaudet succurrere vitae.« An diesem Ort dient der Tod dem Leben.1

Belting stellt in seiner Bild-Anthropologie in Bezug auf die Metapher ›Körperbild‹ die Frage, ob man den Körper auf ein Bild reduzieren kann. Er antwortet mit einer Beobachtung: »Wir tun es, wenn wir zu Bildern greifen, sobald wir vom Körper zu sprechen beginnen«2 – u. a. greifen wir zu Bildern, auf denen Körper anatomisch dar­ gestellt werden. Verschiedene Wissenschaftsdisziplinen erzeugen und nutzen völlig unterschied­ liche Bilder, die einer Vielzahl von Funktionen unterliegen. Die Anatomie war laut Markus Buschhaus die »erste der heutigen naturwissenschaftlichen Grundlagendiszi­ plinen der Medizin«, die »ihre Wissensformation programmatisch der Bildf läche ver­ schrieben hat«.3 Für eine Analyse der Bilder vom menschlichen Gehirn gilt folgende Aussage Putschers, die zur Geschichte der anatomischen Abbildung im Allgemeinen gemacht wurde: Sie ließe sich graphisch in drei Kurven über einer Zeitskala darstellen: als Geschichte der ana­ tomischen Entdeckungen, der anatomischen Sektion und der anatomischen Ab­ bildung. Diese Kurven würden gelegentlich parallel verlaufen, meistens mehr oder weniger interferieren und nur selten, unter besonderen zeitlichen wie örtlichen Be­ dingungen, teilweise oder gar völlig zur Deckung kommen, ehe die eine wieder steigt, die andere absinkt4 .

Damit ist etwas sehr Wichtiges angesprochen. Auf die Frage nämlich, ob das Bild ge­ genüber der Erkenntnis in der Wissenschaft Huhn oder Ei entspreche, kann die Ant­ wort nur lauten: mal dem einen, mal dem anderen. Auf der einen Seite können sich neue Erkenntnisse bei der Erzeugung, Betrachtung, Wertung und Deutung von wis­ senschaftlichen Abbildungen ergeben. Wissen wird durch Bilder konstruiert, so dass, wie es Buschhaus ausdrückt, »der jeweilig disziplinär autorisierte Stand des Wissens als Resultat bestimmter Bildpraktiken in den Blick genommen wird«5 . Ebenso wer­ den andererseits wissenschaftliche Entdeckungen oft durch Abbildungen veranschau­ licht, dokumentiert, bekannt gemacht oder erneut belegt. Vor dem Hintergrund des 1 2 3 4 5

Übersetzung von Richter (1936), S. 82. Belting (2001), S. 87. Buschhaus (2005a), S. 9. Putscher (1972), S. 59. Buschhaus (2005b), S. 185.

A N ATO M I E U N D B I L D

Putscher­Zitats ist auch die Bemerkung Zittels zu berücksichtigen, wonach jener tele­ ologische Fortschrittsgedanke problematisch sei, »welcher mit der Ansicht impliziert ist, daß in der Geschichte der wissenschaftlichen Illustration man zu immer besseren Abbildungen gelange« 6 . Ob mit Verbesserung lediglich eine Steigerung der Annähe­ rung an das reale Objekt gemeint ist, bleibt hier allerdings offen. Schirrmeister erklärt, warum die Anatomie als performative Praktik und zu­ gleich statische Darstellung der »allgegenwärtigen und spannungsreichen Konstella­ tion von Bild, Körper und Medium […] in besonderem Maße dazu ein[lädt], grund­ sätzliche Fragen der Darstellung neu zu überdenken«. Durch sie konnten Naturforscher erlernen, »wie wissenschaftliche Objektivität mit visuellen Mitteln hergestellt wird, und wie ein Wahrnehmungsparadigma durch Bilder organisiert wird«.7 Augenfällig ist die Idealisierung des Körpers in anatomischen Darstellungen: Er wird geschönt, dem ästhetischen Empfinden des Betrachters angenehm gemacht. Das krude Körper­ liche, die verwesende Leiche, wird im Bild nicht nur ansprechend verpackt, sondern seiner Sterblichkeit enthoben. Anatomische Darstellungen verdeutlichen damit in be­ sonderer Weise die »immer problematischeren Grenzziehungen zwischen Kunst und Wissenschaft« 8 . In der Anatomie oder Zergliederungskunst (gr. anatémnein, auseinanderschnei­ den, zergliedern) geht es heute wie in ihren Anfängen Lippert zufolge »primär nicht um das Aufschneiden, sondern um das Zusammenfügen der Teile zu einem funktions­ fähigen Ganzen« 9 . Sie setzt somit für Sven Lembke »das Wissen um den Zusammen­ hang zwischen der sichtbaren Gestalt und dem Auf bau des Körperinneren« voraus. Er sieht Anatomie als sich stets weiter ausdifferenzierendes Darstellungssystem, welches »Menschen dazu befähigt, mit den Kategorien ihrer Kultur den Körperbau von Lebe­ wesen zu beschreiben«.10 Dies geschah u. a. durch die Veränderung des Blicks, mithin einem Wandel in der wissenschaftlichen Anschauung. Beides folgte auf die (Weiter) Entwicklung unterschiedlicher Verfahrensweisen und Instrumente oder initiierte diese. Schon Anatomen des frühen 16. Jahrhunderts war Klemm zufolge »die Rele­ vanz der sinnlichen Erfahrung für die Anatomie«11 bewusst. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunders wurde die Anatomie dann definitiv zu einem Teil visueller Kultur.12 Drei Faktoren, die auch bei der Visualisierung des sezierten menschlichen Leibes zum Tragen kommen, sind Gegenstände anatomischer Forschung: 1. die Topographie innerer Organe oder Strukturen im Körperganzen oder in einzelnen Bereichen, 2. die Beschaffenheit einzelner Bereiche des Körpers (z. B. des Ader­, Nerven­, Skelett­ oder 6 7 8 9 10 11 12

Zittel (2005), S. 102. Schirrmeister (2005), S. 2f. Ebd., vgl. auch Zeuch (2005), S. 253f. Lippert (2003), S. 1. Lembke (2005), S. 19f. Klemm (2006), S. 92. Vgl. Buschhaus (2005a), S. 254.

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Muskelsystems) und 3. die Physiologie oder die Funktionen des Körpers oder ein­ zelner Organe (z. B. Blutaustausch, Verdauung, Fortpf lanzung oder Bewegungs­ abläufe). Bei der Untersuchung dieser Faktoren können drei Perspektiven auf den Körper unterschieden werden: die mikroskopische, die makroskopische und die ver­ gleichende Anatomie.13 Die mikroskopische Perspektive wurde – das liegt auf der Hand – mit der Erfin­ dung des Mikroskops möglich. Hauptsächlich durch Marcello Malpighi (1628–1694), Antony van Leeuvenhoek (1632–1723) und Robert Hooke (1635–1702) wurde die Mikroskopie im 17. Jahrhundert entwickelt und vorangetrieben. Die Sinne zu schär­ fen, ihre Unzulänglichkeiten auszugleichen, den natürlichen Organen künstliche hin­ zuzufügen – nicht weniger versprach sich Hooke von der Micrographia.14 Es sollte aller­ dings fast zwei Jahrhunderte dauern, bis sich die mikroskopische Anatomie durchsetzen konnte und »das Mikroskop im 19. Jahrhundert zum Wappentier der Wissenschaft«15 wurde. Theorien, die zu erklären versuchten, warum Mikroskope im 18. Jahrhundert eher zum Spielzeug wohlhabender Privatleute wurden und ihre Bedeutung für die Naturwissenschaften nicht zunahm, gibt es viele. Eine ist, dass für naturphilosophi­ sche Fragen die Erforschung großer Zusammenhänge und daher die Entwicklung von Teleskopen als wichtiger erachtet wurde. In Verbindung mit Hookes Forschung tauchte so der populäre Satz auf: »One who has broken his brains about the nature of maggots […] never cares for understanding mankind«16 . Bei der makroskopischen Anatomie handelt es sich im Prinzip um das, was sei­ nen Anfang in der frühen Neuzeit nahm und mit dem 17. Jahrhundert einen Höhe­ punkt erfuhr: eine überaus genaue, Detail versessene Untersuchung einzelner Organe oder kleinster Strukturen in Form von Präparaten, die mit dem bloßen Auge betrach­ tet wurden. Ausgangspunkt der vergleichenden Anatomie von Mensch und Tier ist stets ihre morphologische Struktur.17 Der Mensch­Tier­Vergleich, die Suche nach Analogien und Homologien ist eine Praxis, die in der gesamten anthropologischen Forschung eine bedeutende Rolle spielt. Vielfalt soll auf Einheitliches zurückgeführt und die Entwicklungsvorgänge sollen kausal und teleologisch erklärt werden.18 Nach Thomas Willis (1622–1675) konnte die Anatomia comparata laut Ernst Grünthal »nicht nur den Zweck und die Funktion jedes Organes, sondern vor allem auch Spuren, Einf lüsse und die bisher unbekannte Art der Tätigkeit der Seele aufdecken helfen«19 .

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Vgl. Weber (1987), S. 34. Vgl. Hooke (1665), preface. Breidbach (2005), S. 41, dazu vgl. auch S. 298f. Zit. nach Bennett (1997), S. 66. Vgl. Weber (1987), S. 37; Jahn (2000), S. 370ff. Vgl. ebd. Grünthal (1957), S. 105.

A N ATO M I E U N D B I L D

Im Mittelalter, z. B. bei Mondino dei Luzzi 20 (Lucius Mundinus, 1270–1326), wurde der Körper von Kopf bis Fuß in drei Höhlen unterteilt, die sich sowohl in der Gliederung anatomischer Atlanten und Traktate als auch in anatomischen Bildern widerspiegelte.21 Die drei Höhlen enthalten insgesamt vier Membra 22 . 1. Venter inferior: Die Bauchhöhle enthält Bauchfell und ­muskeln, Netz, die Membra naturalia (Verdau­ ungs­ und Harntrakt) und Membra genitalia (Geschlechtsorgane); 2. Medius venter: In­ halt der Brusthöhle sind die Brust selbst, mit ihren Knochen und Muskeln, Brust­ und Zwerchfell, die Membra spiritualia (Herz und Lungen) sowie Teile des Halses und Mundes; 3. Venter superior: Der Kopf umfasste als Einheit Schädel und die Membra animata 23 (Gehirn und Sinnesorgane: Augen, Ohren und Zunge). Zu diesen Höhlen kamen als vierte Kategorie anatomischer Beschreibung die Knochen (Wirbelsäule und Extremitäten) hinzu. Unter diesem Punkt wurden auch die Muskeln abgehandelt. Die Einteilung und Reihenfolge der Sektion, ihrer wörtlichen Beschreibung und nicht zuletzt ihrer Verbildlichung änderte sich im Verlauf der Jahrhunderte, obwohl Variationen der eben beschriebenen Gliederung des Körpers noch bis ins 17. Jahrhun­ dert verwendet wurden. Das hatte einen praktischen Grund: Leichen waren schwer zu bekommen und ließen sich nicht lange in einem Zustand halten, in dem Sektionen durchgeführt werden konnten. Am ersten Tag einer Sektion (in der ersten lectio) wur­ den Bauch und Eingeweide demonstriert, am zweiten die Brusthöhle, am dritten der Kopf und schließlich Muskeln und Knochen. Diese Arbeitschritte erklären die Rei­ henfolge der Themen und Bilder früher Anatomien.24 Im 12. Jahrhundert war es zu einer Spezialisierung im akademischen Bereich gekommen: Der Beruf des Arztes wurde von dem des Chirurgen, des Baders und des Barbiers unterschieden. Bei Constantinus Africanus († 1087) gingen Logik, Physik und Ethik in die pragmatisch konnotierte Heilkunde ein, die er in theoretica (naturalia, praenaturalia, non naturalia) und practica (Chirurgie, Pharmazie und Diätik) unterteilte. Um die Zusammenführung von Theorie und Praxis der Medizin bemühte sich schon Avicenna (980–1037) zu Beginn des 11. Jahrhunderts.25 Zur Umsetzung dieses Pro­ 20

21 22 23 24 25

Der in Bologna wirkende Professor findet sich in der Literatur unter einer Vielzahl von Namen bzw. Schreibweisen: Lucius Mundinus, Mondinus de Lentiis, Mondinus de Liuzzi, Mundinus Mediolanensis, Mundinus Medicus Bononiensis oder Raimondino. Zu Mon­ dino vgl. S. 120 und S. 176. Zur Enteilung des anatomischen Körpers vgl. Choulant (1971), S. 127. Dieses Wort kann mit Organ, Teil oder Glied übersetzt werden (membrana lat., dünne Haut, Häutchen; membratim lat., gliedweise). Bei Johannes Peyligk heißen sie Membra animalia, vgl. S. 128. Peyglik bezeichnete die Höh­ len (von unten nach oben) als Venter Intimus, Medius (enthält die Membra spunalia) und Supremus. Vgl. Lyons/Petrucelli (1980), S. 416 und Choulant (1971), S. 127. Vgl. Schipperges (1976), S. 110f.

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gramms kam es aber erst Jahrhunderte später. Ansätze einer Verf lechtung von Chirur­ gie, Medizin und Anatomie26 gab es bereits vor Berengario, bei Mondino und Niccolò Bertruccio († 1347). Eine Schlüsselfigur in diesem Kontext ist Gui de Chauliac (ca. 1300– 1368), dessen Chirurgia magna Sabine Tittel zufolge zugleich »den Höhepunkt und […] den Endpunkt der mittelalterlichen Chirurgie« bildete, und der damit als »der wich­ tigste Mittler zwischen mittelalterlicher Medizin in antiker Tradition und der Medi­ zin der Neuzeit« gelten kann.27 So wie Vesal für die Anatomie, war Ambroise Paré (1510–1590) der große Neuerer für die Chirurgie.28 An Universitäten des 14. und 15. Jahrhunderts wurde das Öffnen eines mensch­ lichen Körpers laut Martin Kemp und Marina Wallace wie ein ritueller Akt prakti­ ziert: »a performance staged for particular audiences within carefully monitored frameworks of legal and religious regulation«29 . Die Sektion erfolgte in drei Schritten: Auf die sectio, die Zergliederung, folgte die demonstratio und anschließend die lectio. Vor Studenten der Medizin arbeiteten ein ausführender Prosektor und ein zeigender Demonstrator an der Leiche. Vom Katheder aus kommentierte ein Professor (Præ­ lektor) die Sektionen und bezog sich dabei – unabhängig von dem, was zu sehen war – noch ganz auf den galenschen Kanon.30 Erst im 16. Jahrhundert nahmen die Medizi­ ner das Zergliedern expressis verbis in die eigenen Hände, wie der Fontispiz von Ve­ sals Fabrica zeigt, dem wichtigsten anatomischen Werk dieser Zeit und weit über sie hinausreichend (vgl. Abb. 14). Dennoch deutete zu Beginn des selben Jahrhunderts der Pariser Anatom Jacques Dubois ( Jacobus Sylvius 1478–1555) jede Abweichung vom galenschen Dogma als Anomalie und deren Anzahl als Beweis für die fortschrei­ tende Degeneration des Menschen.31 Wir müssen uns darüber bewusst sein, dass ein geöffneter (nicht präparierter oder konservierter) Leichnam seine Organe keineswegs in aller Deutlichkeit Form und Struktur preisgab. Dazu kommt, dass die bei einer Sektion Anwesenden meist kein klares Bild davon im Kopf hatten, wie ein Körper von innen aussieht, eine Vorstel­ lung, mit der sie das, was sie sahen, in Einklang bringen konnten. Ein solches (inne­ res) Körperbild konnte sich erst mit der vermehrten Produktion, Verbreitung und Rezeption anatomischer Druckwerke entwickeln. Indem sie am Körper Gefundenes aufzeigten, führten Demonstrationen zu jener Zeit in wissenschaftliche Beobach­ 26 27 28 29 30 31

Vgl. Tittel (2004), S. 5. Ebd., S. 1ff. Vgl. Eckart (1990), S. 114ff. Ambroise Paré, Dix livres de la chirurgie. Avec Le Magasin des Instrumens neceßaires à icelle, Paris 1564; ders., Anatomie universelle du corps humain reueuë & augmentee par ledit autheur avec J. Rostaing du Bignosc, Paris 1561. Kemp/Wallace (2000), S. 23. Zur anatomischen Lehre und Praxis in Oberitalien vor Vesal, vgl. Premuda (1967), S. 108ff. Premuda beschreibt, welche der frühen Anatomen sich an welchen mittelalterli­ chen oder antiken Autoritäten orientierten. Vgl. Parmentier (1991), S. 241.

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Abb. 17: Eröffnungsphase einer Hirnsektion, mittelalter­ liche Handschrift (1345).

tungszusammenhänge ein.32 Prosektoren mussten ihre anatomischen Theorien mit­ tels Demonstration vor anwesenden Fachkollegen verteidigen. In einem weiteren Schritt konnte eine solche Demonstration dokumentiert und im Bild (ebenfalls) ver­ wirklicht werden. Einen guten Einblick in die Sektionspraxis des 16. Jahrhunderts gibt ein Augenzeugenbericht Baldasar Heselers von 1540. Er schildert beispielsweise Vesals »neue und exzellente«33 Methode, die Hirnventrikel freizulegen. Am Beispiel dieses Buches wird auch sehr gut deutlich, in welcher Weise antike und mittelalterliche Au­ toritäten zitiert, diskutiert, miteinander verglichen und in Frage gestellt wurden.34 Wenn Aristoteles von paradigmata sprach, so vermuten Albert Lyons und Joseph Petrucelli, spielte er auf die anatomische Illustration an. Diese waren höchstwahr­

32 33 34

Vgl. Breidbach, S. 100. Heseler (1959), S. 219f. Vgl. ebd., z. B. S. 273.

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scheinlich Abbildungen nach Tiersektionen.35 Solche Abbildungen der Antike sind uns kaum überliefert. Für noch ältere Abbildungen, die medizinische Texte begleiten, finden sich keine Beweise.36 Sektionen wurden seit etwa 300 v. Chr. durchgeführt, besonders in Alexandria, dem Zentrum antiker Medizin, wo auch die ersten heute noch erhaltenen anatomischen Illustrationen entstanden. Mit dem Tod Kleopatras ebbte dort die Praxis der Sektion zunächst ab.37 Erst im Mittelalter lebte sie in der mehr oder weniger typischen Manier des klassischen Sektionsszenarios wieder auf, was, wie Wolfgang Eckart anführt, »eine ganze Reihe von Nachrichten und Abbil­ dungen«38 belegt. Hartnäckig hält sich der Irrglaube von einem mittelalterlichen Ver­ bot dieser Praxis durch die Kirche.39 Dessen ungeachtet können wir davon ausgehen, dass Sektionen durchgeführt worden sind. Von 1345 ist uns eine kleine anatomische Abbildung überliefert, in der die Eröffnungsphase einer Hirnsektion gezeigt wird, wie aus der Bildlegende hervorgeht (Abb. 17). Anna Ma ria Cetto erklärt, warum sie dem Betrachter statt an einer Leiche an einem augenscheinlich lebendigen Menschen vorgeführt wird. Der Künstler habe kein realistisches Abbild des Vorganges geben, sondern am als lebendig vertrauten Menschen topographisch zeigen wollen, an wel­ cher Stelle, auf welche Weise und mit welchem Werkzeug ein Anatom die Schädel­ kalotte abtrennt. Der Miniaturist habe sich bemüht zu ›verlebendigen‹. 40 Der Vorgang wird also im Bild nicht mit dem Tod, sondern mit dem Leben verbunden. Neben di­ daktischen mithin belehrenden oder auf klärenden Funktionen leitet das Bild die Wahrnehmung des Betrachters. Indem es das Objekt der Sektion im Bild zum (leben­ den) Subjekt macht, nimmt er der Prozedur den Schrecken und lenkt die Aufmerk­ samkeit auf die Handlung selbst. Bei mittelalterlichen Sektionen stand nicht das Streben nach neuen Erkenntnis­ sen über Bauweise und Physiologie des menschlichen Körpers im Vordergrund, son­ dern vielmehr eine Reproduktion und Verifizierung antiker Lehrauffassungen. 41 Die erste sicher nachgewiesene humananatomische Sektion führte 1316 Mondino durch. 4 2 Es überrascht nicht, dass bei einer historischen Betrachtung wissenschaftlicher Abbil­ dungen häufig wie selbstverständlich von einem Fortschreiten in Richtung eines 35 36 37 38 39 40 41 42

Vgl. Lyons/Petrucelli (1980), S. 399. Vgl. Clarke/Dewhurst (1972), S. 5. Vgl. Roberts/Tomlinson (1992), S. 2. Eckart (2002), S. 108. Vgl. Jankrift (2005), S. 49f. und Glassl (1999), S. 18f. Im 15. Jahrhundert benötigten italie­ nische Anatomen eine päpstliche Erlaubnis (das so genannte Breve), um Sektionen durch­ führen zu können, vgl. Premuda (1967), S. 117. Cetto in Wolf­Heidegger/Cetto (1967), S. 130. Die Handschrift von 1345 befindet sich in Chantilly, im Musée Condé. Vgl. Eckart (2002), S. 109. Vgl. Parmentier (1991), S. 240. Parmentier bezieht sich auf Fridolf Kudlien, Mondinos Standort innerhalb der Entwicklung der Anatomie, in Herrlinger/Kudlien (1967), S. 1–14.

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immer stärkeren Realismus ausgegangen und dabei Realismus mit Empirismus gleich­ gesetzt wird. Ein Vorgehen, das konfrontiert mit historischen Fallbeispielen schnell an seine Grenzen stößt. 43 Nicht zu übersehen ist hingegen, dass sich der spezifische Stil einer bestimmten Epoche in die Gesamtheit wissenschaftlicher Bilder einschreibt. Wie wir sehen werden, verändert ein Organ sein Aussehen, wörtlich genommen, mit der Zeit. Benjamin A. Rif kin verdeutlicht dies am Beispiel der Leber: »The Renais­ sance liver – complete with peripheral lobes like the horns on early wombs – is not the bulbous Baroque liver, and neither resembles the elongated Neoclassical liver.«4 4 Um solche Einf lüsse wahrnehmen zu können, bedarf es gewisser kunstgeschicht­ licher Kenntnisse. Auf den Status von Bildern in den Naturwissenschaften insgesamt übertragen, erweist sich das Beispiel der ›Renaissanceleber‹ als Schlüssel zu den äuße­ ren Einf lüssen, etwa dem jeweiligen Epochenstil oder der hauptsächlich genutzten Methode der Bilderzeugung. Ebenso wirken innere Einf lüsse auf wissenschaftliche Bilder. Gemeint sind die Bedingungen, auf deren Grundlage Forschung betrieben wird, z. B. mit welchen Methoden oder unter welchen theoretischen Grundvoraus­ setzungen gearbeitet wird. In unserem Fall ist beispielsweise von größter Wichtigkeit, ob den jeweiligen Abbildungen Sektionen zugrundelagen. Um diese inneren Einf lüs­ se besser kennen zu lernen, wenden wir uns nun der Geschichte anatomischer Praxis und ihrer Abbildungen zu, um dieses Thema dann in Bezug auf das Organ Gehirn zu konkretisieren. Auf Herrlinger und Putscher rekurrierend fasst Glassl zusammen: »Grundsätz­ lich hat die Darstellung der Anatomie des Menschen erstens den Zweck, die Lehre der menschlichen Anatomie dem Arzt und dem Physiologen anschaulicher zu machen, und zweitens dem bildenden Künstler den Menschen für seine Studien näher zu bringen.«45 Die anatomische Darstellung will jedoch nicht nur die Bauweise des Kör­ pers veranschaulichen. Sie zielt vor allem auch auf die Erkenntnis seiner Funktionen ab. Fraglich ist zudem, ob es sinnvoll ist, zwischen Mediziner­ und Künstleranatomie zu unterscheiden. Im zweiten Kapitel wurde die anatomische Abbildung in ihren didaktischen und Handlung anweisenden Bildfunktionen auch für die bildende Kunst kurz beleuchtet. Dort wird klar, dass die Motivationen für Sektionen und anato­ mische Zeichnungen vielfältig waren. Doch griffen sie, wie im Falle Leonardos, auch ineinander. Oft wird behauptet, das bis zum frühen 16. Jahrhundert allmächtige Bücher­ wissen sei im Zuge einer erneut auf lebenden Praxis der Sektion vom Körper als di­ rekte Referenz verdrängt worden. Bei Kemp und Wallace heißt es: »The real body is to become the ›book‹ to be read by the surgeon rather than the set text sanctioned by

43 44 45

Vgl. Zittel (2005), S. 101. Rif kin in Rif kin/Ackerman/Folkenberg (2006), S. 8. Glassl (1999), S. 25.

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traditional learning«46 . Eine Verschiebung der Aufmerksamkeit, weg vom Medium Buch und damit weg von einem bloßen schriftlichen Erhalt überlieferter Wissens­ kategorien, hin zum Körper selbst als medialem Vermittlungsinstrument anatomi­ schen Wissens, ist ein reizvoller Gedanke. Sicher wurde anhand geöffneter Körper tradiertes (Bücher)Wissen überprüft und neue Erkenntnisse über Morphologie und Funktionsweisen gewonnen. Das der Körper zum Medium wurde und damit das Buch vom Thron wissenschaftlicher Autorität verdrängte, ist aber nur eine Seite der Anatomiegeschichte. Die Wende zum Körper entsprach einem iconic turn. Mit dem Beginn der Ge­ schichte der gedruckten, also reproduzierbaren Bilder vom Körper führte der Weg von Wissensproduktion und ­rezeption zurück zum Buch, dem Medium, in dem der Körper in bildlicher Form sichtbar und zugänglich gemacht werden konnte. Bilder in Büchern ersetzten den Körper nicht einfach. Sie bestätigten den Körper, indem sie bei Sektionen als Vergleichsobjekt eingesetzt wurden. 47 Ich teile Buschhaus’ Annahme, dass anatomisches Körperwissen und anatomisches Bildwissen einander bedingen. 48 Bilder lösten Bücher nicht in ihrer Bedeutungshoheit ab, sondern sorgten dafür, dass die Autorität von Büchern bestehen blieb. Bilderwissen war zumeist Bücherwissen. Das Verhältnis von Text und Bild hingegen ist weitaus komplizierter. Auch die neuen (Bilder)Bücher kamen nicht ohne Text aus. Neben anatomischen Atlanten wurden unzählige Traktate veröffentlicht, die oft wenige oder keine Bilder beinhalte­ ten, auch wenn sie neue Thesen oder revidierende Kommentare enthielten. Für eine kulturhistorische Analyse ist es notwendig, zwischen dem Text selbst und der schrift­ lichen Überlieferung tradierten Wissens im Text zu trennen. Dies scheint selbstver­ ständlich, doch in der entsprechenden Literatur wird diese Unterscheidung keines­ wegs immer getroffen. Ein Paradigmenwechsel von einer Schriftmedizin zu einer Bildermedizin hat zu Beginn der Neuzeit nicht stattgefunden. Befreien wollte und konnte man sich nicht von schriftlichen oder sprachlichen Zeichen schlechthin, sondern von alten Ideen und Dogmen. Die Entwicklung einer Medizin, die sich vom Korsett schriftlicher Überlie­ ferung zu emanzipieren suchte, vollzog sich allerdings nur schleppend. Partiell fanden antike Positionen, hauptsächlich die Galens, 49 noch bis ins 18. Jahrhundert Anwen­ dung. Gleichzeitig aber wuchs das Interesse an öffentlichen Vorführungen in anato­ mischen Theatern. Durch den Buchdruck konnten die nach Sektionen erstellten Ab­ bildungen einem wachsenden Publikum bekannt gemacht werden. Überliefertes Wissen wird, wie wir gesehen haben, oft unpräzise als Bücher­ wissen bezeichnet. Im Englischen gibt es die schöne und hier doppelt bedeutsame 46 47 48 49

Kemp/Wallace (2000), S. 23. Z. B. von Vesal, vgl. S. 206. Vgl. Buschhaus (2005b), S. 164ff. Vgl. S. 114ff.

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Formulierung body of thought. Der galensche Wissenskorpus, wie dieser Ausdruck de­ fizitär übersetzt werden könnte, wurde durch neues Wissen vom Körper nicht plötz­ lich ersetzt, sondern sukzessive überlagert, unterwandert und schließlich allmählich verdrängt. Eine Gegenüberstellung des body of thought als ›gedachtem Körper‹ mit dem anatomischen Körper fand im anatomischen Theater statt. Wichtig nicht nur als Ort praktischer Handlungen am Körper gewann das Theater eine weitere Bedeutungs­ ebene: Es bildete einen Raum für philosophische Fragen des Woher und Wohin. An Universitäten weiterzugebenes anatomisches Wissen musste, auch ohne dass ein Leichnam zur Anschauung zur Verfügung stand, lehrbar und erlernbar gemacht werden. Dies konnte anhand von Texten oder Lehrgedichten, die auch in medizini­ schen Fächern genutzt wurden, nur ungenügend geschehen. Professoren der Anatomie verglichen Formen einzelner Körperteile mit Alltagsgegenständen. So hergestellte Analogien konnten versprachlicht oder, zunächst in Form einfacher Organdiagram­ me, abgebildet werden. Roberts und Tomlinson führen aus: »Diagrams could indicate topology even if they did not convey the dimensions, proportions, or appearances of the parts being considered. Such diagrams are found in books of anatomy from medie­ val times to the present day«50 . Lembke hat nachgewiesen, dass die Sektion als uni­ versitäre Praxis an deutschen und schweizerischen Universitäten des 16. Jahrhunderts noch nicht fester Bestandteil der Medizinerausbildung war und weniger oft durchge­ führt wurde und geringeren Einf luss besaß, als bisher vermutet. Er stellt dar, wie ge­ rade Vesal dazu beitrug, dass dem Kanon klassisch­humanistischer Texte, der damals keinesfalls ausgedient hatte, mit der Fabrica ein Bilderkanon hinzugefügt wurde, der das Sezieren eines Leichnams im Prinzip überf lüssig machte.51 In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts kam es in Italien an den Grenzbe­ reichen zwischen der theoretischen Medizin und Anatomie einerseits und der prak­ tischen Medizin im Sinne einer Heilkunst andererseits zu einem Konf likt.52 Die For­ schungsgebiete von Anatomie und Physiologie ließen sich seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr eindeutig trennen.53 Dennoch hatte der Stellenwert der Anatomie mit der wachsenden Bedeutung der Medizin und Chirurgie zugenommen. René Jacques Croissant de Garengeot ( Jacobi Crescentii Garengeot, 1688–1759) verdeutlichte dies in der Vorrede zu seiner Splanchnologia sive Anatomia Viscerum54 von 1744: Man wird alsdann die Anatomie als den einzigen Kompaß ansehen, der da fähig ist, die Diener der Gesundheit einen sichern Weg zu führen, sie bey der Cur aller Kranckheiten recht zu leiten, und ihnen nebst denen Krancken alle die groben 50 51 52 53 54

Roberts/Tomlinson (1992), S. 7f. Vgl. Lembke (2005), S. 44f. Vgl. Bertoloni Meli (1997), S. 21. Weber (1987), S. 34. Vgl. S. 338. Die Splanchnologie ist die sich mit den Eingeweiden befassende Medizin.

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Fehler verhüten, worein diejenige unmöglich geraten, welche nichts davon verste­ hen; und endlich wird sie als das einzige Mittel ansehen, das capable ist, unsere Kunst [die Chirurgie, W. L.] bis zum höchsten Gipfel ihrer Vollkommenheit zu brin­ gen.55

Die Anatomie wurde nicht zur Hilfswissenschaft degradiert, sondern noch immer als Leitwissenschaft unter den medizinischen Disziplinen wahrgenommen. Ihre signifi­ kante Rolle verlor sie auch im 19. Jahrhundert nicht. Hier nahm die Bedeutung der Erforschung von Mikrostrukturen des Körpers und seiner Gewebe zu. 1829 erschien Mikroskopische Beobachtungen über das Gehirn und die damit zusammenhängenden Theile des Arztes Antonio Barba (1782–1827) aus Neapel. Der deutsche Übersetzer widmete das Werk Soemmerring, auch wenn dieser das Mikroskop als Hilfsmittel noch weitge­ hend abgelehnt hatte. Sowohl er als auch Gall beschäftigten sich hauptsächlich auf makroskopischer Ebene mit Gehirnbau, Nervenstruktur und ihren Funktionsweisen. Soemmerring gab 1807 einen guten Einblick in die Praxis eines Anatomen seiner Zeit und in die verschiedenen Möglichkeiten, ein geeignetes anatomisches Präparat herzu­ stellen: Ich beschränkte mich nie auf eine einzige Methode, gleichsam auf einen gewissen Schlendrian das Gehirn zu untersuchen, sondern ich gebrauchte sowohl stumpfe als scharfschneidende Messer, ich ließ das Gehirn bald in Wasser zergehen, bald in der Luft trocknen, ich ließ es bald frieren, bald kochen; ich zerstreifte oder zer­ rupfte und zerschnitt es; ich wendete Einsprützungen, Vergrößerungsgläser und chemische Reagentien an; ich beobachtete feine Veränderungen im Weingeist und während der Fäulniß; kurz ich suchte das Gehirn von allen Seiten, auf jede mir bekannte Weise zu erforschen und kennen zu lernen, und kann mir daher we­ nigstens Einseitigkeit bei der Untersuchung desselben keine Schuld geben.56

Soemmerrings »Vergrößerungsgläser« waren neben einfachen Lupen sicher auch Be­ standteile von Mikroskopen. Wie das Zitat verdeutlicht, offerierte dieses Instrument für ihn allerdings nur eine Methode von vielen, mit denen das menschliche Zentral­ organ zu erforschen war.

55 56

Garengeot (1744), Vorrede des Autors, o. S. Soemmerring (1829), S. 54. Geschrieben wurde dieses Buch bereits 1807.

H I RN FORS C H U NG U N D H I RN B I LD It is not the anatomist who has given us such dreams, but rather the mystic or philosopher who first created in his own thought an image of the soul, and set it down in whatever organ of the body seemed at the time most mysteriuos, most free from sordid function, nearest to the inward fire. Into each of these false temples of the spirit the anatomist has come by turn, but by the very breaking of idols he has helped to win the soul a brighter raiment.57 George W. Corner

Bewusstsein entsteht im Gehirn. Was als unverrückbares Faktum erscheint, kann morgen womöglich schon nicht mehr gelten. Auch das ist Wissenschaft. Johann Hein­ rich Ferdinand Autenrieth (1772–1835) hat diesbezüglich von der »Geschichte der Meinungen von den Verrichtungen des Menschengehirns«58 gesprochen. Durch eine stetige Verschiebung der Aufmerksamkeit auf jeweils andere als relevant erachtete Strukturen kam es zu immer wieder neuen Bildern des Gehirns. 1862 fand Edwin Smith (1822–1906) in Luxor einen Papyrus (Papyrus Smith), dessen Entstehung auf 3000 bis 2500 v. Chr. geschätzt wird. Darauf sind die ersten uns bekannten Darstellungen des Gehirns zu sehen.59 Wenn wir die Anfänge dessen, was wir heute Hirnforschung oder Neurowissenschaften nennen, in der Antike suchen, so fällt auf, dass die grundsätzliche Frage immer diejenige nach der Verbindung von Leib und Seele war. Wie im oben angeführten Zitat von Anfang des 20. Jahrhunderts be­ schrieben, war dies ein Problem, das die Philosophen der Antike beschäftigte, lange bevor die Seelensuche in den Lichtkegel anatomischer Forschung rückte. Ob die Seele im ganzen Körper, im Herzen, in den Nerven, im Blut oder eben im Gehirn zu fin­ den ist, durch welchen Mechanismus sie den Leib steuert, wie sie beschaffen ist, in welcher Form sie sich mit dem Materiellen verbindet, oder ob sie selbst materiell ist, und auf welchem Wege Körper und Seele interagieren und miteinander kommuni­ zieren – die sich ergebenden Fragen führten stets zu einer erneuten Suche nach Evi­ denz des Seelischen im Körper. Im Verlauf der Geschichte der Hirnforschung wurden Marius Hagedorn (1771–1813) zufolge »der Seele und ihren Eigenschaften bald diese[r] bald jene[r] Gehirnteil, als Sitz, angewiesen« 60 . Der Autor der 1805 erschienenen Schrift zu Galls phrenologischen Erkenntnissen beschrieb die Geschichte der Seelen­ organe:

57 58 59 60

Corner (1919), S. 7. Autenrieth (1836), S. 539. Vgl. Oeser, S. 17; Carter, S. 25. Ausführlicher vgl. Changeux (1984). Andere Zeitangaben für den Papyrus macht Woollam (1973), S. 7. Hagedorn (1805), S. 7.

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So legten die mehresten alten Ärzte die Seelenkräfte in die vier Gehirnhöhlen, und zwar in den beiden vordern die innern Sinne, in der dritten die Beurtheilungskraft und der vierten das Gedächtniß. Lancisius und de la Peyronie legten den Sitz der Seele in das corpus callosum, Willes in die streifigten Körper, Descartes in die Zirbeldrüse, Mayer in den Anfang des Rückenmarks, Haller und Wrisberg in die Varolsche Brücke und Soemmering in die Gehirnhöhlen-Feuchtigkeiten.61

Diese unterschiedlichen Theorien entstanden in Studierstuben oder in anatomischen Theatern, vor dem geöffneten Körper eines Menschen. Operationen am Hirn lassen sich bis mindestens 8000 v. Chr. nachweisen.62 Es wurden Schädeleinschnitte mit ver­ heilten Knochenrändern gefunden, die mit Bestimmtheit auf ein Weiterleben des Menschen nach dem Eingriff schließen lassen. Der Durchführung von Trypanationen (gr. trypán, durchbohren) lag wahrscheinlich die Vorstellung zugrunde, »dass man ›Besessene‹ heilen könne, wenn man den bösen Geistern das Ausfahren aus dem Kopfe erleichtere« 63. Mit der Hirnsektion, die im besseren Falle erst nach Ableben eines Menschen durchgeführt wurde,64 sind Wissenschaftler seit über 2000 Jahren der Seele und schließlich den Bewusstseinsregungen auf der Spur. Dieses ›Licht‹ oder ›Fünk­ lein‹, wie das Wesen der Seele von den deutschen Mystikern genannt wurde, welches den Menschen eine Aufnahme des Göttlichen ermöglichen soll, wird noch heute ge­ sucht. Hiermit beschäftigt sich das Forschungsfeld Neurotheologie. Bekannt gewor­ den sind beispielsweise die Untersuchungen des Neuroradiologen Andrew Newberg, der die Hirntätigkeit sowohl betender Ordensschwestern als auch meditierender Zen­ Mönche mit einer Spect­Kamera abgebildet hat.65 Wenn wir davon ausgehen, dass sich Anatomie und Physiologie des mensch­ lichen Gehirns in den vergangenen zweieinhalb Jahrtausenden nicht (oder wenigstens nicht messbar) verändert haben, so müssen wir doch bedenken, dass der antike, mit­ telalterliche und frühneuzeitliche Blick auf das unpräparierte, ganz frische oder schon verwesende Organ ein anderer ist, als der auf ein mit Formalin behandeltes.66 Zudem stammte die Mehrzahl der untersuchten Gehirne nicht vom Menschen. Alle folgenden Aspekte früher Hirnforschung und ­darstellung sollten vor diesem Hintergrund be­ trachtet werden. Höhepunkte einer Geschichte der Hirnforschung werden in diesem Kapitel vor allem unter Bezugnahme auf die Ausgangsfrage hinsichtlich ihrer Bild­ erzeugnisse beschrieben. Eine Beschränkung auf jene frühen Hirnforscher, deren Werken für meine Untersuchung interessante Bilder zugefügt sind, sowie derer, die 61 62 63 64 65 66

Ebd. Hervorhebungen im Original. Vgl. Oeser (2002), S. 16f. Lippert (2003), S. 500. Dass dies der Praxis nicht immer entsprach, stellt Erhard Oeser dar, der ausführlich von Vivisektionen an Tieren und Menschen berichtet, vgl. Oeser (2002), S. 35, 38, 136ff. Vgl. Linke (2004), S. 14ff. Zu diesem Gedanken vgl. Woollam (1973), S. 5–18.

HIRNFORSCHUNG UND HIRNBILD

selbst gestalterisch tätig waren, ist unumgänglich. Hirnforschung wie sie vor dem späten 15. Jahrhundert betrieben wurde, wird wegen der wenigen überlieferten oder zugänglichen Bilder nur kurz umrissen. Dabei sind Herrlinger zufolge »die wich­ tigsten Möglichkeiten des didaktischen Bildes schon in der Antike gefunden worden« 67. Seit der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern nahm die Zahl und Ver­ fügbarkeit der anatomischen Abbildungen rapide zu. Eine Ausnahmeerscheinung ist das anatomische Werk Leonardos, das zu seinen Lebzeiten nicht in Buchform veröf­ fentlicht wurde. Seine äußerst präzisen Zeichnungen, die neben der Anatomie auch die Physiologie des Menschen abbilden, stehen im drastischen Gegensatz zu den gro­ ben Holzschnitten seiner Zeitgenossen. Vesal, der ›Vater der modernen Anatomie‹, trug zu einer großen Verbreitung anatomischen Wissens bei. Die Abbildungen in sei­ ner Fabrica blieben lange Zeit Vorbild für Künstler und Wissenschaftler. Durch die Lehren Descartes’ entstand eine gänzlich andere Auffassung vom Körper. In diesem Kontext soll untersucht werden, ob sich die Loslösung der Seele vom Gehirn in die Bilder einschrieb, und ob nicht die Theorien eines Steno oder Willis für wissen­ schaftlich Denkende im 17. Jahrhundert von größerer Bedeutung waren als der karte­ sianische Dualismus. Die Auf klärung revolutionierte die Wissenschaften. Die zentrale Stellung der Anthropologie im Wissenschaftssystem und ihr Einf luss auf die Hirnfor­ schung dieser Zeit bilden einen der Forschungsschwerpunkte der vorliegenden Arbeit. Soemmerring und Gall sind Bindeglieder zwischen den Disziplinen. Insbesondere die von Gall etablierte Phrenologie zeigt, dass sich bis heute praktizierte Methoden der Hirnbilddeutung weniger im medizinischen als vielmehr im philosophischen und weltanschaulichen Bereich verorten lassen und letztlich auf physiognomische Prin­ zipien des 18. und 19. Jahrhunderts zurückgreifen. So bildet der Rückblick von der Antike bis zu der Zeit vor 1700 eine Einfüh­ rung in die Theorien, die später aus diesen Grundlagen weiterentwickelt wurden. Haben sich die kulturell erzeugten Hirnbilder durch eine verstärkte Introspektion (auch im Sinne von Selbst­Bewusstwerdung) verändert, so hat sich doch der Mensch, so Belting, »nie von der Macht der Bilder befreit,« diese aber »immer an anderen Bil­ dern und auf andere Weise erfahren«.68

67 68

Herrlinger (1967a), S. 7. Belting (1990), S. 27.

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F RÜ H E H I RN FORS C H U N G Veraltete Theorien sind nicht prinzipiell unwissenschaftlich, nur weil sie ausrangiert wurden.69 Thomas S. Kuhn

Bei der Suche nach der organischen Residenz menschlicher Unsterblichkeit galt Assy­ rern, Juden und Griechen die Leber als Ursprung von Leben, Körperwärme (Energie) und höheren Qualitäten, die den Menschen von der ihn umgebenden Natur unter­ schieden.70 Vorstellungen von Leben, Atem und Seele waren eng miteinander verbun­ den. Im Judentum (Altes Testament) und in der Antike war Blut und dessen Verknüp­ fung mit Seelentätigkeit von besonderer Bedeutung.71 Die Idee vom Gehirn als menschlichem Zentralorgan ist möglicherweise ägyptischen Ursprungs 72 und verbrei­ tete sich von dort aus in Griechenland. Im 6. Jahrhundert v. Chr. trat Alkmaion von Kroton73 (attisch Alkmeon, ca. 570– 500 v. Chr.) für einen Zephalozentrismus ein, wie nach ihm Hippokrates (ca. 460– 370 v. Chr.) und Platon (427–347 v. Chr.). Diese gingen ebenso wie Demokritus (ca. 460–370 v. Chr.) von einer dreieinigen Seele aus. Sie kannten, neben der (für Platon unsterblichen) Seele im Gehirn, die mit dem Intellekt in Verbindung gebracht wurde, noch zwei weitere Seelen (oder Seelenteile): die des Willens in der Brust und die der Begierde, die sie im Bauch, genauer in der Leber, verorteten.74 Bevor das Gehirn vollends ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Seelensucher rückte, galt Aristoteles (384–322 v. Chr.) das Herz als Zentralorgan, als Sitz der Seele, des Denkens und der Sinnesempfindungen. Grundsätzlich liegt das Seelische »in der Form, d. h. Struktur eines Organismus und ist von dessen Körperlichkeit in keiner Weise abtrennbar« 75 , d. h. Körper und Seele bilden zusammen eine Einheit: das Lebe­ wesen. Der aristotelischen Theorie nach dient jedoch nicht das Gehirn als Ort dieser Vereinigung. Es funktioniert lediglich als Kühlelement für das arbeitende Herz. Diese kardiozentristische Sichtweise wirkte bei einigen Gelehrten bis ins Mittelalter. So bil­ dete noch bei Hildegard von Bingen (1098–1179) das die Seele enthaltende Herz den Mittelpunkt des Menschen. Von dieser Mitte gingen seine Entscheidungen aus. Ana­ log dazu sei der Mensch Mittelpunkt der Erde und Christus der Mittelpunkt im Her­ 69 70 71 72 73 74 75

Kuhn (1993), S. 17. Vgl. Corner (1919), S. 1f. Vgl. Autenrieth (1836), S. 522f. Vgl. ebd., S. 527. Durch seine Sektionen an Tierkörpern begründete Alkmaion in Süditalien die Wissen­ schaft von der Anatomie, vgl. Lyons/Petrucelli (1980), S. 399. Zu Platons Seelentheorie gibt Levi Robert Lind eine kurze Übersicht, vgl. ders. in Vesal (1949), S. 53. Kanitscheider (2003), S. 64.

FRÜHE HIRNFORSCHUNG

zen Gottvaters, der seinen Sohn aussende wie der Mensch seine Entscheidungen.76 Wie Schipperges ausführt, verliert das Herz diesen Status erst im 16. und 17. Jahrhun­ dert, wo es »vollends seiner Symbolik entkleidet und nur noch als eines der Zentralor­ gane des Organismus betrachtet und immer sorgfältiger beschrieben« wurde, was schließlich in der Bemerkung des dänischen Anatomen, Geographen und Theologen Niels Stensen (1638–1686) kulminierte, das Herz sei nichts als ein Muskel.77 Von noch größerer Beständigkeit sollte sich die aristotelische Pneumatheorie erweisen. Danach ist der Spiritus animalis 78 (das Pneuma) ein in der Natur enthaltenes Bewegungsprinzip, ein substanzieller Hauch, der für den Transport der Empfindun­ gen zwischen Sinnesorganen und Herz verantwortlich ist, und jegliche Körperbewe­ gung überhaupt erst ermöglicht. Hagner nennt ihn das »materielle Substrat« für die »Interaktion von Geist und Körper«.79 Eine kleine Ideengeschichte des Spiritus finden wir bei Johann Christian Reil (1759–1813) um 1800: Anfangs fielen wohl nur die groben und trägen Massen den Menschen auf, und in der Folge beobachteten sie erst die Erscheinungen der feinen Stoffe der Natur. Sie empfanden in der Luft und im Winde […] Wirkungen eines Wesens, das sie mit den Augen nicht wahrnehmen, und welches sich vorzüglich durch seine Beweg­ lichkeit von den trägen und groben Massen auszeichnete. Diese Beobachtung brachte sie nach und nach auf die Meinung, daß Bewegung und Leben von einem solchen feinen und unsichtbaren Wesen abhänge. Durch die Eigenschaften der feinen Stoffe wurden sie auf die Idee von Geistern geleitet, und sie charakterisier­ ten dieselben durch die vorzüglichsten Merkmale der Luft, durch Unsichtbarkeit und Beweglichkeit. Man legte sogar dem Geiste überhaupt in der hebräischen und in fast allen alten Sprachen den Namen Luft oder Wind (Spiritus) bei.80

Bei Aristoteles sind die Sinne – aufgrund der von ihm angenommenen, im Kopf herr­ schenden niedrigen Körpertemperaturen – nahe dem Gehirn angesiedelt. In Analogie zur angeblich besonders großen Hitze des menschlichen Herzens und zur Blutfülle der Lungen erklärt sich auch die Größe des menschlichen Gehirns: Wo große Hitze entsteht, muss auch das kühlende Organ groß sein. Die Wahrnehmung der Sinnesein­ drücke erfolgt der aristotelischen Theorie nach über ein gemeinschaftliches Sinnesor­ gan, das Sensorium commune oder Sensus communis. 76 77 78 79 80

Vgl. Felbel (1989), S. 89. Schipperges (1989), S. 63. Zum Herzen als Zentralorgan vgl. ebd., S. 54ff. Spiritus animalis (sing.) bzw. Spiritus animales (pl.): Der Begriff animalis bezieht sich auf animus lat., Seele. Zur Terminologie von anima, anémos, Seele, âme, spirit, esprit, etc. vgl. Clair (1993), S. 57f. Hagner (1993), S. 3. Reil (1910), S. 3. Zu Reil vgl. auch S. 4 25f. Zur Spirituslehre in der Frühen Neuzeit vgl. Klier (2002).

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Den Sensus communis verstand Aristoteles als eine Art Übersinn. Er sorgt für die kollektive Wahrnehmung der unterschiedlichen Eindrücke, die, von den Sinnes­ organen kommend, in ihm zusammengeführt werden. Zugleich ist er Seelenorgan. Die Seele begriff Aristoteles als unteilbare Einheit: an sich körperlos und doch nicht ohne Körper. Ihr Sitz ist daher im Grunde nicht auszumachen.81 Dessen ungeachtet verortete Aristoteles den Sensus communis im Herzen. Dennoch sieht Erhard Oeser in der Erkenntnistheorie Aristoteles’ die »heuristische Grundlage der Hirnforschung« 82 . Die aristotelische Einteilung der höheren Hirnfunktionen in Gemeinsinn (Sensus communis), Einbildungskraft (Phantasia) und Gedächtnis (Memoria) blieb bestehen – im Mittelalter in die Hirnventrikel und in der Neuzeit in verschiedene Bereiche des Gehirns verlagert. Im 4. und 3. vorchristlichen Jahrhundert erlangten die alexandrinischen Ärzte Herophilos (um 300 v. Chr.) und Erasistratos (um 250 v. Chr.) durch menschliche Hirnsektionen genauere Kenntnisse über die anatomischen Zusammenhänge vom Nervensystem als eigenständiger anatomischer Struktur und von seiner Verbindung mit Gehirn und Rückenmark. Auch wenn die Nerven noch als mit Pneuma gefüllte Kanälchen beschrieben wurden, waren diese Erkenntnisse die Ausgangsbedingung für komplexe Hirntheorien. Das Gehirn wurde zur Schnittstelle zwischen bewusstem Handeln und Muskeltätigkeit auf der einen und Sinneswahrnehmung und Empfin­ dungsfähigkeit auf der anderen Seite.83 Dass dieses Zusammenspiel erkannt wurde, hatte zur Folge, dass sich die Bedeutung des Gehirns als Zentralorgan entwickeln konnte. Durch seine während zahlreicher Sektionen gewonnenen Einblicke konnte Herophilos genaue Beschreibungen der Ventrikel, Hirnwindungen und ­häute sowie des Groß­ und Kleinhirns liefern. Sein Lehrer, Proxagoras von Kos (um 370 v. Chr.), hatte noch den Vertretern der kardiozentristischen Theorie angehört. D E R KA N O N : CL AU DI U S GA L E N US

Claudius Galenus (Galenos, Galen, 129–199 n. Chr.) aus Pergamon war der erste, von dem bekannt ist, dass er sich nicht allein auf die überlieferten Schriften Hippokrates’ und anderer berief, sondern vor allem auch selbst Sektionen an Tieren, hauptsächlich an Schweinen und Berberaffen, durchführte. Ihm und seinen Vorgängern standen aber aller Wahrscheinlichkeit nach auch menschliche Skelette zur Verfügung. Seine Lehr­ schriften bildeten einen Kanon, der fast anderthalb Jahrtausende wie ein Dogma wirkte.84 81 82 83 84

Vgl. Autenrieth (1836), S. 530. Auf diesen Gedanken und die Differenz zwischen Seelensitz und Seelenorgan komme ich noch ausführlich zu sprechen, vgl. S. 395f. Oeser (2002), S. 30. Vgl. Wenzel, in Soemmerring (1999), S. 20. Vgl. Parmentier (1991), S. 239. Zum physiologischen System Galens vgl. auch Singer (1952), S. xviiiff. Singer bildet ein Diagramm ab, das dieses System hervorragend visualisiert, vgl. ebd., S. xix.

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Galen ging von der Seelentrias bestehend aus einer begehrenden Triebseele, ei­ ner leidenschaftlichen Empfindungsseele und einer mit Vernunft begabten Denkseele aus: »Daß es drei Formen der Seele gibt, und daß auch Platon dies annimmt, habe ich an anderer Stelle nachgewiesen, wie auch, daß die eine in der Leber, die zweite im Herzen, die dritte im Gehirn ihren Sitz hat.« 85 Seine Spiritusphysiologie verband laut Klemm »auf ideale Weise […] Seelenkunde mit Körperwissen – ist also grundlegender Bestandteil der Psychophysiologie der Zeit« 86 . Galens Erkenntnis nach wirken im Men­ schen drei Spiriti oder Pneumata: der Spiritus naturalis, der Spiritus vitalis und der Spiritus animalis, der auch Pneuma psychikon genannt wurde. Letzterer ist der im Rete mirabile (wunderbares Netz) in den Hirnventrikeln umgewandelte Spiritus vita­ lis und steuert die Sinneswahrnehmungen und Bewegungen des gesamten Körpers. Das Rete mirabile ist eine Struktur von Blutgefäßen an der Hirnbasis, die Galen in Rinder­ und Schweinehirnen fand, und die er auch im menschlichen Gehirn ver­ mutete.87 Der erste, der das Rete mirabile beschrieb war Herophilus. Galen übernahm diese Figur in seine allgemeine Theorie der Körperfunktionen.88 Mediziner des Mit­ telalters und der Renaissance bezogen das Rete in ihre Theorien der Hirnfunktion ein, z. B. Hieronymus Brunschwig (Braunschweig, Brunschwygk, 1450–1533), der es bei seiner Beschreibung des Gehirns ganz selbstverständlich erwähnte. In der eng­ lischen Übersetzung heißt es, dass unter Dura und Pia mater die Gehirnsubstanz lie­ ge. Unter dieser noch einmal Pia mater und »after that/lyath that mervelous net and is named Rethe mirabile«, darüber »the foundacion of the braynes/out of whiche the sene­ wes take theyr begynnynge«.89 Erst im 16. Jahrhundert wurde durch Berengario da Carpi und Vesal die Exis­ tenz einer solchen Struktur im menschlichen Gehirn bestritten. Clarke und Dewhurst schreiben, die Genannten hätten die Existenz des Rete widerlegt.90 Dies ist nur be­ dingt richtig. Gerade die Haltung Vesals zu diesem Phänomen war sehr wechselhaft und nicht immer eindeutig. 91 Auf Galen lässt sich auch die ausführliche Darstellung der sich auf die vier Ele­ mente beziehenden naturphilosophischen Säftelehre (Humoralpathologie) und deren 85 86 87

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Galen (1937), S. 10. Klemm (2006), S. 91. Tanja Klemm stellt die interessante Behauptung auf, »dass sich die (Hirn)Anatomie im frühen 16. Jahrhundert geradezu aus Vergleichspraktiken zu dieser physiologischen Lehre entwickelt«, ebd. Zum Rete mirabile vgl. Galen in Clarke/O’Malley (1968), S. 757ff.; Tittel (2004), S. 267ff.; Clarke/Dewhurst (1972), S. 56ff.; Klemm (2006), S. 87ff. Tittel konstatiert, dass das später von Willis entdeckte arterielle Netz (Willis­Netz) nicht mit der von Galen gefundenen Struktur übereinstimmt. Nur Ersteres sei sowohl im menschlichen als auch im tierischen Gehirn zu finden. Vgl. Clarke/Dewhurst (1972), S. 5. Brunschwig (1525), o. S. Vgl. Clarke/Dewhurst (1972), S. 56. Vgl. ebd., S. 56.

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Weiterentwicklung als Temperamentelehre zurückführen, die in der Geschichte der Hirnforschung eine bedeutende Rolle spielte, Einf luss auf Medizin und Physiogno­ mik92 hatte und noch im 21. Jahrhundert Wirkung zeigt. Die Säftelehre geht auf Hippokrates (Corpus Hippocraticum) zurück und wurde von Galen weiterentwickelt. Er unterschied vier Temperamente: sanguinisch, phlegmatisch, cholerisch und melan­ cholisch, denen er je eine Körperf lüssigkeit (Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle) und eine Qualität (Wärme, Kälte, Trockenheit und Feuchtigkeit) zuordnete. Die Säfte stehen in Abhängigkeit zu den Faktoren Stärke und Geschwindigkeit der Wil­ lenskräfte oder Gefühlsregungen und bilden so in unterschiedlicher Mischung und Ausprägung die Veranlagung eines Menschen. Krankheiten werden nach dieser be­ sonders im Mittelalter hochgeschätzten Lehre von einem Übermaß oder Mangel eines oder mehrerer Säfte ausgelöst. Dem Arzt standen verschiedene Maßnahmen zur Ver­ fügung, um die Säfte wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Die bekannteste unter ihnen ist wohl der Aderlass. Aber auch ohne ärztlichen Eingriff, etwa durch Ernährungs­ umstellung (Diätik), konnten Patienten eine Ausgewogenheit der Säfte erreichen. Gemäß der antiken Überlieferung ist das Gehirn ein kaltes und feuchtes Organ, im Gegensatz zum heißen und trockenen Herzen. Da Galen die Seele selbst als etwas Materielles auffasste, kann sie demnach durch die Körpersäfte, die auch materiell sind, beeinf lusst werden. Er widersprach Platon, der annahm, der vernunftbegabte Seelen­ teil sei unsterblich. Dieser nach seiner Auffassung im Gehirn befindliche Teil bestand für Galen ebenfalls in einer Mischung der vier Temperamente. Er schrieb: »Wenn aber nun das Vernunftbegabte Form 93 der Seele ist, dann muß es sterblich sein; denn es muß dann auch eine Mischung des Gehirns sein.« 94 Galen verortete die Seele nicht in den Ventrikeln, sondern in der Hirnsubstanz. 95 Auch den aristotelischen Sensus communis verlegte er in die Hirnmasse. Was in späteren Jahrhunderten als Essenz von Seelentätigkeit angesehen wurde, waren hauptsächlich die Fähigkeiten einer vernunftbegabten Denkseele. Die zwei an­ deren Seelen im triadischen System, Trieb­ und Empfindungsseele wurden zuneh­ mend durch Konzentration und Bewegungen der Körpersäfte veranschaulicht. Stanley Finger verdeutlicht dies: »A second part was in the heart and was accociated with an­ ger, fear, pride, and courage. The third part of the soul was located in the liver, or at least in the gut, where it functioned in lust, greed, desire, and related lower passions« 96 .

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Vgl. z. B. Kretschmer (1921); Klages (1926); ders. (1927). Den Begriff der ›Form‹ verwendete Galen hier im Sinne von Aristoteles: Alle Körper sind aus den beiden Prinzipien Materie und Form zusammengesetzt. Die Mischung der vier Qualitäten der Materie ist demnach die Formsubstanz eines Körpers, vgl. Galen (1937), S. 10f. Galen (1937), S. 11. Vgl. Grünthal (1957), S. 95. Finger (1994), S. 14.

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Die Rede von drei Seelen oder Seelenteilen wird m. E. durch Galens eigenes System der Wirkungen von Säften im Körper obsolet. Ebenso wie andere klassische Autoren, besonders Hippokrates und Aristoteles sowie später arabische Gelehrte wie Avicenna97 (Ibn Sînâs, 980–1037) und der spa­ nisch­arabische Philosoph Averroes (Ibn Ru˘sd, 1126–1192), beeinf lusste Galen mit seinen Schriften die medizinische Ausbildung und Lehre an den europäischen Univer­ sitäten noch über die Renaissance hinaus.98 Die sich im 9. Jahrhundert vollziehende Phase umfassender Übersetzung wissenschaftlicher Texte ins Arabische bewirkte, dass neue Schriften jüdischer und christlich­orientalischer Ärzte in Arabisch geschrieben wurden. So verfasste z. B. Averroes den laut Ilse Jahn »bedeutendsten Aristoteles­ Kommentar der arabisch­islamischen Periode« und beinf lusste damit die geistige Ent­ wicklung Europas vom 13. bis zum 16. Jahrhundert entscheidend.99 Die Humanisten der europäischen Renaissance bemühten sich Eckart zufolge, »die klassischen Autoren der Antike unter Umgehung arabischer Verfälschung und Verkürzung aus ihren griechi­ schen und lateinischen Quellen sprachlich und rezeptionsgeschichtlich möglichst un­ mittelbar zu studieren«100 . In immerhin 15 seiner insgesamt 131 überlieferten Bücher hat sich Galen mit der Anatomie beschäftigt.101 Sowohl Leonardo als auch Vesal bezogen sich in vielen Punkten auf ihn, kritisierten ihn aber auch. Thomas Willis’ (1621–1675) Biograph, Hansruedi Isler erläutert, dass zur Zeit von Willis’ Medizinstudium in Oxford, die Texte antiker Autoren (vor allem Galens) den Lehrstoff bestimmt hätten. Die dort verwendete Methode bestand im »Erlernen des Inhalts der antiken Texte und Ein­ trainieren des Gebrauchs ihrer Begriffe und Dogmen in formalistischen Disputati­ onen. Abgesehen von einigen anatomischen Demonstrationen entsprach diese Ausbil­ dung der starren scholastischen Tradition, die in Oxford durch humanistische Einf lüsse wenig aufgelockert worden war.«102 *

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Exzerpte von Avicennas stark von Galen beeinf lussten anatomischen Schriften, in denen er sich mit Gehirn und Nervensystem befasst, drucken Clarke und O’Malley ab, vgl. dies. (1968), S. 20ff. So z. B. in der Annahme, dass der cerebrale Kortex praktisch bedeutungslos sei: »Once again, the inf luence of Galen was crucial; in addition to high­lightening the ventricular system and brain substance at the expense of the convolutions, he denied that the latter had any association with psychic activity, mental capacity, or the evolutionary scale«, Clarke/ Dewhurst (1972), S. 60. Jahn (2000), S. 862. Eckart (2002), S. 105f. Vgl. ebd., S. 58. Isler (1964), S. 1.

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Abb. 18: Hockfigur aus dem Prüfeninger Codex (1158).

Kenneth D. Keele schreibt, dass die Anatomie nach Galens Tod »in tiefe Finsternis« verfiel, »[ü]ber tausend Jahre lang entstand keine anatomische Abbildung mehr, die diesen Namen verdient hätte«.103 Den frühen Christen galt die Öffnung des Körpers als heidnisch. So gewonnene Erkenntnisse wurden von ihnen für die medizinische Praxis als nicht notwendig erachtet. Überreste griechischen und römischen Wissens, das in Europa größtenteils ver­ loren gegangen war, fanden sich in Alexandria, wo auch Galen studiert hatte. Von dort aus erfolgte eine erneute Ausbreitung Richtung Persien und nach Europa. Ara­ bische Gelehrte erfanden die Hockfiguren.104 Zu einem Bilderzyklus gehörten fünf menschliche Gestalten in hockender Körperhaltung. Es waren Systembilder, an denen Schlagader­ (Arterien), Venen­, Nerven­, Skelett­ und Muskelsystem gezeigt wur­ 103 104

Keele (1980), S. xxii. Keele nennt in diesem Zusammenhang die persische Handschrift von Mansur ibn Mu­ hammed (1400), die mit ihren Hockfiguren »eins der ersten Werke« darstellt, »das An­ spruch auf den Titel »illustrierte Anatomie« erheben kann«, Keele (1980), S. xxii.

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den, oftmals ergänzt durch die Figur einer schwangeren Frau, mit der die Physiologie der Fortpf lanzung erklärt werden sollte. Herrlinger schreibt, dass ursprünglich sogar neun Bilder in einen Zyklus gehört haben könnten, wobei eines das Cerebrum zum Thema gehabt hätte.105 Leider ist ein solches Bild meines Wissens nicht überliefert. Die Hockstellung wurde in der anatomischen Darstellung bis ins 16. Jahrhundert beibehalten. Der Kopf bleibt intakt (mit Gesicht, manchmal sogar mit Haaren und Kopf bedeckung) auf dem durchsichtigen Körper. Allerdings gibt es in einigen Fällen Beschriftungen und Bezeichnungen an diesen Köpfen, die auf Hirnfunktionen hin­ deuten. So z. B. im Prüfeninger Codex106 von 1158. Einer der dort abgebildeten Hock­ figuren wurde unter der Haartracht auf der Stirn ein Halbkreis eingezeichnet. In die­ sem ist das Wort ›nervenrund(e)‹ zu lesen (Abb. 18). Möglicherweise liegt der Ursprung für diesen Begriff in der vorchristlichen Gedankenwelt. Autenrieth beschrieb in sei­ nem 1836 posthum veröffentlichten Werk Ansichten über das Natur- und Seelenleben die platonische Vorstellung vom Wohnsitz des unsterblichen Seelenteils im Gehirn: Dieses göttlichen Anteils der Seele wegen hat Gott nach dem Bilde des Weltalls den Kopf rund geschaffen, darum auch ist der Kopf das heiligste und den übrigen gebietende Theil des menschlichen Körpers. Die Untergötter schufen zuerst das Mark und bildeten das Hirn rund, in welches nun, wie in einem Acker, der gött­ liche Saamen, die denkende Seele zu sähen war.107

Noch dem christlichen Verständnis nach verweist die kreisrunde Form auf Unend­ lichkeit und Vollkommenheit. Das Gehirn als rundes und somit vollkommenes Or­ gan: Wo im menschlichen Leib, wenn nicht hier, könnte die unsterbliche (unend­ liche) Seele ihren Sitz haben?

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Vgl. Herrlinger (1967a), S. 11. Bayerische Staatsbibliothek München (Cod. Let. 13002). Autenrieth (1836), S. 528.

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HI C A N I M A E ST – D I E MI TTELA LTE RLI C H E Z ELLD O KT RI N I M F RÜ H EN BUCH DRUCK Im frühen Mittelalter war die Notwendigkeit für eine systematische Erforschung der menschlichen Anatomie weniger gegeben, da zu dieser Zeit nahezu alle pathologi­ schen körperlichen Erscheinungen durch Bewegung, Zusammensetzung und Verän­ derung der Körpersäfte erklärt werden konnten. Folgte man dieser Denkart würden genauere anatomische Kenntnisse obsolet.108 Dennoch entwickelte sich die mittelal­ terliche Anatomie durch die Praxis verschiedener Berufsgruppen weiter. Sehr bild­ reich wird dies von Michael Parmentier dargestellt: Neben den öffentlichen Henkern und professionellen Folterknechten waren es vor allem die in Zünften organisierten Zahnreißer und Barberchirurgen, die weitab vom Schauplatz akademischer Lehre und literarischer Überlieferung als Wund­ ärzte auf den Kreuzzügen ins Heilige Land und auf den Schlachtfeldern Europas beim Aderlassen und beim »Knochenkochen«, beim Einrenken und Amputieren, beim Zahnziehen und beim Öffnen von Abszessen und Fisteln neue Erkenntnisse über den menschlichen Körper und seine Funktionsweise sammelten und dieses Wissen […] an die nächste Generation weitergaben.109

Jochen Felbel unterscheidet zwei Phasen mittelalterlicher Medizin. Ihm zufolge wur­ de die Mönchsmedizin (600–1100) durch die scholastische Medizin (1100–1400) ab­ gelöst: »Ähnlich wie in der byzantinischen und arabischen Periode tritt auch hier die Medizin eher in den Hintergrund«110 . Zudem sei es nicht möglich, Heilkunde, philo­ sophische, kulturelle und religiöse Aspekte getrennt voneinander zu betrachten. Vor allem die (Rück)Übersetzung arabischer Literatur seit 1100 belebte zumindest eine theoretische Erforschung des Körperbaus. Einige Werke des späten Mittelalters galten lange als Standardliteratur, wie beispielsweise die Anatomia Mundini (1316) des Mon­ dino, die im 15. und 16. Jahrhundert diverse Male gedruckt und mit Abbildungen versehen wurde.111 Sie trug zwar zur Standardisierung mittelalterlicher Anatomie bei, bewirkte aber zugleich einen Stillstand.112 108

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Vgl. Singer (1969), S. 326f. Kai Sammet macht auf eine Verbindung zwischen Zelltheorie und Säftelehre aufmerksam. Wilhelm von Conchies (1080–1150) kombinierte beide Leh­ ren miteinander. Er hielt z. B. die erste, für die Wahrnehmung zuständige Zelle für »warm und trocken, so konnte sie die Formen und Farben der Dinge anziehen«, Sammet (2007), S. 49. Parmentier (1991), S. 239f. Felbel (1989), S. 85. Z. B. Lucius Mundinus, [Mundinus] de omnibus humani corporis interioribus menbris [sic] anathomia, Straßburg 1513. Vgl. Eckart (2002), S. 109.

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Drei Entwürfe von Hirnfunktion wurden aus der Antike ins Mittelalter über­ tragen: (1) Die Idee vom Gehirn als Sitz der Seele, (2) die Lokalisierung von moto­ rischer Aktivität und der Sinne sowie (3) das oben beschriebene Rete mirabile als Umwandler der Spiriti.113 Auf die ersten beiden Punkte bezieht sich die für das Mittel­ alter bekannteste Theorie über das Gehirn, die Zelldoktrin oder Lehre von den Hirn­ ventrikeln. Die Patristik nahm großen Einf luss auf mittelalterliche Vorstellungen der Hirn­ funktion. Im 4. und 5. Jahrhundert hatten Augustinus (350–430 n. Chr.), der dem Neu­ platonismus zugeneigte Nemesios von Emesa (um 400 n. Chr.) und andere Kirchen­ väter versucht, das Pneuma in den verschiedenen Hirnventrikeln zu lokalisieren, da ihnen das Gewebe des Hirns selbst zu irdisch und wenig rein erschien.114 Beschrieben wurde nicht die Seele selbst, sondern ihre Funktionen. Diese wurden in einzelnen Kammern oder Zellen verortet. Die so entstandene Zelldoktrin war die erste Theorie über den Sitz der Seele, die bildlich Gestalt annahm. Sie wurde auch als ›Dreizellen­ lehre‹115 bezeichnet, müsste ganz exakt aber ›Zelldoktrin ventrikularer Lokalisation der Gehirnfunktionen‹ heißen.116 Zwischen den Begriffen Ventrikel und Zelle, die häufig synonym verwendet werden, ist zu differenzieren. Obwohl sie teilweise auch Gleiches meinen, bezeichnen die Ventrikel in erster Linie die im Gehirn vorgefun­ denen anatomischen Strukturen,117 also die vier bereits von Herophilos entdeckten und von Galen genau beschriebenen Hirnhöhlen. Die Zelle hingegen meint zwar immer eine bestimmte Hirnhöhle, stellt aber zudem eine gedankliche Einheit dar. Eine Zelle ist beides, ein Symbol für einen Ventrikel, aber auch schematische Abbil­ dung seiner anatomischen Form. Sie ist Metapher für die Verbindung des Körper­ lichen mit seinem angenommenen nichtkörperlichen Inhalt. Dies zeigt sich vor allem in ihren Darstellungen. So nahm die Zelle nicht die Form des jeweiligen Ventrikels an – dessen exakte Form war freilich unbekannt und wurde erst durch Leonardo be­ stimmt –, sondern wurde kreisrund oder als eine längliche Form mit drei mehr oder weniger gerundeten Ausbuchtungen dargestellt. Die Zelle ist folglich auch die sche­ matische Darstellung eines Hirnventrikels. Eine abgebildete Zelle ist insofern ein Symbol, als sie, in Form einer einfachen grafischen Figur, Hirnfunktionen und geistig­seelische Potenz zur Anschauung brin­ gen konnte. Für Keele ist die Situsfigur, die Magnus Hundt (1449–1519) 1501 in Antropologiam abdrucken ließ, ein Beweis dafür, »daß das medizinische Interesse an der Anatomie fast rein symbolisch war«118 . Er schließt dies aus der Tatsache, dass in der Figur beide Nieren links eingezeichnet sind. Kundige der Medizin nahmen Einf luss 113 114 115 116 117 118

Vgl. Clarke/Dewhurst (1972), S. 10. Vgl. Tascioglu (2005), http://www.neuroanatomy.org (16. 4. 2007). Z. B. Grünthal (1957), S. 105. Vgl. Tascioglu (2005), http://www.neuroanatomy.org (16. 4. 2007). Zur Anatomie der Hirnventrikel vgl. S. 460. Keele in Keele/Pedretti (1980), S. xxv.

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auf den Körper, indem sie regulierend in das An­ und Abschwellen der Körpersäfte eingriffen. Anatomische Genauigkeit war zu dieser Zeit entbehrlich. Sie wurde erst von bildenden Künstlern gefordert, die, mit dem »Wunsch, die Grundelemente der wechselnden Formen des menschlichen Körpers zu verstehen«119 , eine Renaissance der Anatomie einleiteten. Die Zelldoktrin beruhte weniger auf neu gewonnenen Forschungsergebnissen als vielmehr auf einer Synthese der aristotelischen Erkenntnistheorie mit den anato­ misch­physiologischen Studien Galens.120 Im Mittelalter wurden meist drei Zellen unterschieden, da die beiden Seitenventrikel zur ersten Zelle zusammengefasst wur­ den. Diese mit Spiritus animalis gefüllten Ventrikel bildeten eine auf christliche Sym­ bolik zurückzuführende Trias. Waren mehr als drei seelische Funktionen unterzubrin­ gen, wurden die Zellen aufgeteilt, wie die Abbildungen zeigen (vgl. Abb.19 und Abb. 22). In der Antike hatte Herophilos vier Zellen unterschieden. Nichtchristliche Gelehrte wie Avicenna wagten es, auch im Mittelalter ein System zu entwerfen, das bis zu fünf Zellen enthielt.121 Bei einer Unterteilung in drei Zellen, wie sie schon bei Nemesios zu finden ist, war die erste Zelle dem Gemeinsinn (Sensus communis) und der Einbildungskraft (Vis imaginativa oder Phantasia) vorbehalten. Dahinter war der dritte Hirnventrikel als zweite Zelle geschaltet, die der Ratio unterstellt war, also den Verstand oder das verstehende Erkennen (Vis cogitativa) und die Urteilskraft oder das von Erfahrung geleitete Nachdenken (Æstimativa) beinhaltete. Der vierte Ventrikel bildete die dritte Zelle, in der das Gedächtnis (Vis memorativa) verortet wurde. Aristoteles hatte der aktiven Vernunft (Intellectus agens), die er als höchste Seelenfunktion und als den unsterblichen Teil der Seele bewertete, keinen bestimmten Ort im Körper zugewie­ sen.122 In der mittelalterlichen Zelldoktrin scheint sie kaum noch eine Rolle gespielt zu haben. Abweichungen von dieser Aufteilung gab es schon früh: Augustinus hatte das Gedächtnis in der mittleren Zelle platziert, während die dritte Zelle für die Be­ wegungsfähigkeit zuständig war.123 Zwischen den einzelnen Hirnkammern wurde eine Art Ventilsystem angenom­ men. Mit Vermis124 (lat. Wurm) wurden wahrscheinlich sowohl das Ventilsystem als auch die wurm(gang)artigen Verbindungen zwischen den Zellen bezeichnet. Jeweils ein Vermis verrichtete Torwächterfunktionen im Übergang zwischen den Ventrikeln. Sie regulierten den von Nobert Elsner so genannten »»spirituellen« Destillationspro­ zeß«. Damit ist ein »in den drei Ventrikeln stufenweise ablaufende[r] Reinigungspro­ 119 120 121 122 123 124

Ebd. Vgl. Oeser (2002), S. 41. Vgl. Tascioglu (2005), http://www.neuroanatomy.org (16.4.2007). Vgl. Oeser (2002), S. 29. Sammet (2007), S. 49. Indem Vesal den Begriff Kleinhirnwurm (Vermis cerebelli) einführte, blieb der Wurm Teil der Nomenklatur des Gehirns, vgl. Karenberg (2007), S. 34.

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zeß« angesprochen, dessen Vorbild »die repetitive Destillation bei der Herstellung von Weingeist (sic!)« war.125 Nach der Vermis­Theorie kann der Verstand im zweiten Ven­ trikel entscheiden, welche Informationen im dritten gespeichert werden, und welche dem Vergessen anheim fallen.126 Die Zelldoktrin hat sich vor allem in Form von Bildern in unser kulturelles Ge­ dächtnis eingeschrieben. Vermehrt finden sich solche Darstellungen in Handschriften seit dem frühen 15. Jahrhundert.127 Das Gros derartiger mittelalterlicher Schemata ist im frühen Buchdruck überliefert. Es ist wahrscheinlich, dass sie weniger auf gese­ henen Bildern basieren, sondern eher schriftlich tradiertes Wissen visualisieren. Clarke und Dewhurst unterscheiden vier Darstellungsweisen der Hirnventrikel: (1) die mentalen Fakultäten mit oder ohne Partitionierung der Zellen direkt in den Kopf geschrieben, (2) einzelne Zellen, meist kreisförmig dargestellt, (3) ebenso dar­ gestellte Ventrikel (nun miteinander verbunden, um dynamische Prozesse zu verdeut­ lichen) und schließlich (4) Diagramme, die das Zusammenspiel von Auge und Gehirn verdeutlichen.128 Albertus Magnus (1193 oder 1206–1280) zufolge nimmt der Mensch über seine Sinnesorgane das auf, was er mit ›Species‹ bezeichnete; wir würden heute von Reizen sprechen. Diese werden in den Ventrikeln nacheinander verarbeitet. Sensus commu­ nis, Imaginatio und Æstimatio verortete er im ersten Ventriculus (Cellula prima). Die Phantasia war bei ihm in der zweiten Zelle zusammen mit der Cogitatio zu finden, und in der dritten Zelle befand sich auch bei ihm die Memoria, zusammen mit der Erinnerung (Reminiscentia). Gedächtnis und Erinnerung nehmen aufeinander Be­ zug, so wie die Inhalte der anderen beiden Zellen auch. Albertus Magnus’ Schriften waren noch im 16. Jahrhundert populär. Der ge­ zeigte Kopf mit drei kreisrunden, jeweils zweigeteilten Zellen (Abb. 19) wurde in der Ausgabe der Philosophia Naturalis129 von 1506 abgedruckt. Der Kopf wird durch eine Aureole zu dem einer Apostelfigur: Gleich einem typografischen Heiligenschein sind die Worte I., II. und III. Ventriculus über den leeren Zellen zu lesen. Jede Zelle ist in der Mitte geteilt. Die Vermögen sind in die so entstandenen Räume allerdings nicht eingetragen – wäre dies der Fall, hätte nach Albertus Magnus’ Prinzip die erste Zelle dreigeteilt sein müssen. Es ist nichts Ungewöhnliches daran, einer mittelalterlichen Schrift noch im frühneuzeitlichen Nachdruck einen mittelalterlichen Abbildungstypus beizufügen. Seltsam mutet ein Bild dieser Art allerdings bei Berengario an, der in der Anatomie bereits neue Pfade beschritten hatte.130 Diese zu jener Zeit bereits überkommen ge­ 125 126 127 128 129 130

Elsner (2000), S. 31ff. Vgl. Oeser (2002), S. 41. Vgl. Clarke/Dewhurst (1972), Fig. 9–12 und Fig. 22–25. Vgl. ebd., S. 10. Albertus Magnus, Philosophia naturalis, Basel 1506. Vgl. dazu ausführlich ab S. 165.

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Abb. 19: Zellschema der Hirnfunktionen aus Philosophia Naturalis, Albertus Magnus (1506).

Abb. 20: Titelvignette aus Tractatus de fractura calve sive cranei, Berengario (1518).

glaubte Vorstellung der drei Zellen ist Bildinhalt der Titelvignette (Abb. 20) zu sei­ nem Tractatus de fractura calve sive cranei von 1518. Gezeigt wird – ebenso wie in der Ausgabe dieser Schrift von 1529 – ein Kopf, der drei kreisrunde Zellen enthält. Sie sind leer wie die der Basler Magnus­Ausgabe. Das Bild der Zellen als Emblem mittel­ alterlicher Medizin ist bloß noch Formel. Tradierte Vorstellungen werden in der Übergangsphase, als deren Vertreter Berengario deutliche Beispiele lieferte, formel­ haft implementiert. Die Zellen sind wörtlich inhaltsleer. Was bedeutet eine solche Form ohne Inhalt, ein Diagramm ohne Andeutung logischer Beziehungen, das schließ­ lich Bild ohne Text ist? Hier scheint sich das Bild aus dem Bilderhorizont wissen­ schaftlicher Wahrnehmung gelöst zu haben. Es wird Form, Formel, Vignette. Lassen sich hier noch Bezüge zu Funktionen wissenschaftlicher Abbildungen herstellen? Den ›rein‹ ästhetischen Aspekt haben wir bei der Entwicklung der Bildfunk­ tionen weitgehend ausgeklammert. Bilder als Schmuck in wissenschaftlichen Veröffent­ lichungen schienen kein Kriterium zu sein. Oder handelt es sich bei diesem Bild doch um etwas anderes als um ein bloßes Gestaltungselement? Letztlich kann die Darstel­ lung der drei Zellen im Tractatus als ein Verweis auf die Wissenschaftsgeschichte ge­ wertet werden. Berengario übernahm sie von Alessandro Achillini (1463–1512), einem

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Abb. 21: An einer Ganzkörperfigur dargestelltes Zellschema (Ausschnitt) aus Johannes de Kethams Fasciculus Medicinae von 1491.

Anatom aus Bologna, der sie 1503 veröffentlicht hatte.131 Achillinis Buch Opusculum perutile de cognitione animæ war die kommentierte Neuauf lage einer mittelalterlichen Schrift des Augustinermönchs Augustinus Triumphus von Ancona (1243–1328), einem Schüler Thomas von Aquins (1225–1274). Berengarios Zugriff auf ein überliefertes Bildmotiv zeigt das Selbstverständnis, mit dem frühneuzeitliche Anatomen bei der Bewusstseins­ und Seelenforschung auf ihre mittelalterlichen Wurzeln hinwiesen. Das Bild war zur Formel geworden, zum Etikett einer noch nicht als Disziplin formu­ lierten Hirnforschung. Aus dem Fasciculus medicinae132 , dem so genannten Ketham, einer Sammlung me­ dizinischer Texte, die Johannes de Ketham133 1491 in Venedig herausgab, stammt der obere Teil eines Kopfes, der in vier Partitionen unterteilt ist (Abb. 21). In drei dieser Einheiten befinden sich winzige ovale Formen, welche durch Hinweislinien mit den 131 132 133

Vgl. Clarke/Dewhurst (1972), S. 27. Besser zugänglich ist die Ausgabe Johannes de Ketham, Fasciculus medicinae in quo continentur, videlicet. […], Venedig 1495. Es handelt sich dabei um den deutschen Arzt Hans von Kirchheim. Seine genauen Lebens­ daten sind nicht bekannt. Wahrscheinlich wurde er zwischen 1455 und 1470 geboren.

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ausgelagerten kreisrunden Zellen verbunden sind. Die ersten zwei gehören dem Sen­ sus communis und der Imaginativa, der vierte zur Memorativa. Seltsam ist, dass die Hinweislinie der dritten ausgelagerten Zelle auf keine Miniaturzelle verweist. Sie enthält drei so genannte Vermögen. Wörtlich steht dort: »estimativa vel cogitativa vel rationalis«134 . Der Sensus communis musste sich also die erste Zelle nicht mehr mit der Einbildungskraft teilen. Ihr wurde eine eigene, die zweite Zelle zugeordnet. Urteils­ kraft, Kognition und Ratio sind in einer Zelle verschmolzen. Dies könnte als Einsicht gedeutet werden, dass ein Urteil nur dann gefällt werden kann, wenn Verstand und emotionale Erfahrung kombiniert werden. Im scheinbar simplen mittelalterlichen Schema verschoben sich fast unbemerkt Bedeutungen. Ketham fasste in dieser Abbil­ dung im Fasciculus medicinae geistige Vermögen neuartig zusammen und verwies da­ mit neben den traditionellen auch auf nachfolgende Hirntheorien. Diese Darstellung der Zellen blieb im frühen Buchdruck auch dann noch vor­ herrschend, als die Hirnstrukturen durch vermehrte Sektionen bereits bekannt und vereinzelt auch schon abgebildet worden waren. Sie wurden zu virtuellen Denkräu­ men, in denen eine neue Formensprache entwickelt werden konnte. Das Trilogium animæ135 ist ein von Anton Koberger (ca. 1440–1513) 1498 gedrucktes Werk des Theo­ logen Ludovicus de Prussia136 (Ludovicus Prutenus, † 1498). Neben theologischem Wissen handelt die Schrift auch von verschiedenen Aspekten der menschlichen Seele. In diesem Zusammenhang wird ein Zellschema präsentiert, das wie eine moderne Kopf bedeckung mit aufgedruckten Logos aussieht. Nicht wie ein aufgeschnittener Schädel, der das darunter Liegende verbirgt, sondern wie eine Kappe sitzt das, was ge­ zeigt werden soll, schematisch dargestellt auf einem realistisch abgebildeten Kopf (Abb. 22). Brunschwig erklärte die Zellen in seiner C[h]irurgia137 von 1497, die 1525 ins Englische übersetzt wurde: »The brayne hath .iii. cellys or chambers somwhat longe/ and eche celle hath .ii. partis/and in every parte is a parte of our understandynge/In the fyrst celle is our common wyttis/as expresly sene in this figure of the heed«. Die­ ser »common wyttis«138 ist gleichbedeutend mit dem Sensus communis. Brunschwig beschrieb, wie er sich auf das Sehen, Riechen, Schmecken, Hören und Fühlen am ganzen Körper auswirkte. »In the second is the ymagynacyon/in the .iii. is wynynge and reson/in the iiii. is remembrance and memory and there be wayes from the one to

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Cappelli (1928), rol = rationalis. Ludovicus de Prussia, Trilogium animae non solum religiosis verum etiam saecularibus, praedicatoribus, confessoribus, contemplantibus, et studentibus lumen intellectus et ardorem affectus amministrans, Nürnberg 1498. Auch Ludwich von Preußen oder Joannes Wohlgemuth. Hieronymus Brunschwig, Dis ist das buch der Cirurgia Hantwirckung der wund arzney vo[n] Hyero[n]imo brau[n]schweig, Augsburg 1497. Wit, mod. engl., basic human intelligence.

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Abb. 22: Zellschema aus Trilogium animæ, Ludovicus de Prussia (1498).

Abb. 23: Zellschema aus Chirurgia, Brunschwig (1525).

the other to thentent that the spirytis may have theyr fre course from one to another«139 . Hier kam es zu einiger Verwirrung bezüglich der Trinität der Zellen. Obwohl er zu­ nächst von drei jeweils geteilten Zellen schrieb, ließ Brunschwig eine Schilderung der Inhalte von vier Zellen folgen. Damit scheint die Dreizellenlehre relativiert. Bildlich bestätigt sich Brunschwigs Variante der Zelltheorie jedoch als Dreizel­ lenlehre. Einem männlichen Kopf liegt das Zellschema wie ein breites Band auf (Abb. 23). In diesem Band befindet sich eine ornamentale Form: Eine blattförmige Zelle geht über zwei kleine spitze Ausstülpungen in zwei hintereinander liegende kreisförmige Zellen über. Der Grund des Stirnbandes ist mit kleinen ornamentalen Ranken geschmückt. Zwei gezackte Schädelnähte zeigen an, dass das Kranium darü­ ber offenliegt. Am Kopf sind drei Sinnesorgane (Ohr, Auge und Zunge) durch Linien mit der nach vorn zeigenden ›Blattspitze‹ verbunden. An dieser Stelle befindet sich der Senso commune, auch hier das Organ der gemeinschaftlichen Sinnesrezeption. Mit ihm befinden sich Fantasia und Imaginativa in der ersten Zelle. Die beiden klei­ nen, sich nach vorn biegenden Spitzen scheinen den mit Vermis bezeichneten Über­ 139

Brunschwig (1525), o. S.

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Abb. 25: Schädelknochen von oben betrachtet aus Philosophiae naturalis, Peyligk (1499). Abb. 24: Die drei Körperhöhlen Bauch­, Brusthöhle und Kopf aus Philosophiae naturalis, Peyligk (1499).

Abb. 26: Aus dem Kopf isoliertes Zellschema aus Philosophiae naturalis, Peyligk (1499).

gang zu den hinteren Zellen zu markieren. Cogitativa und Estimativa teilen sich die zweite Zelle und Memoria nimmt wie üblich die dritte Zelle ein. Die erste Zelle hat, entsprechend ihrer drei Inhalte ihre Form verändert. Sie ist aufgeteilt, aber diese Tei­ lung geht nicht so weit, als dass analog zu jedem der Vermögen eine eigene äußere Form geschaffen worden wäre. In vielen uns bekannten Abbildungen wird die erste Zelle gedoppelt gezeigt – so auch im Philosophiae naturalis compendium140 des Johannes Peyligk ( Johann Peilicke, 1474–1522) von 1499. Peyligk verteilte fünf Vermögen auf vier mandelförmige Zel­ len. Neben dem Kopf, dem Träger des Spiritus animalis (Membra animalia), sind di­ rekt neben der ersten gedoppelten Zelle die Worte ›Sensus comuni‹ abgedruckt (Abb. 24). Über dem Rahmen, mit dem der Situs umschlossen ist, finden sich ›Imagi­ 140

Johannes Peyligk, Philosophiae naturalis compendium. Libris phisicorum: De generatione et corruptione atque de Anima Arestotelis correspondens: non sine accurata Lucidissimaque Textus eiusdem elucubratione ex varijs beati Thome doctorisangelici Egidii quoque Rhomani doctissimorum philosophie interpretum voluminibus attente congestum, Leipzig 1499.

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Abb. 27: Komplexes Schema der Hirnfunktionen aus Utriusque Cosmi Maioris scilicet et Minoris Metaphysica, Fludd (1619). Siehe Farbtafel I.

nativa‹, ›Phantasia‹, ›Logitativa‹ und ›Memoria‹. Es sind keine Hinweislinien eingefügt, die diese Begriffe bestimmten Zellen zuordnen. Wahrscheinlich ist, dass eine der vor­ deren Zellen den Sensus communis und die zweite Imaginativa und Phantasia beher­ bergt. Eine weitere Abbildung Peyligks zeigt das Zellschema in einem horizontal hal­ bierten Schädel. Bei diesem kleinen Holzschnitt ist eine Vermischung funktionaler und morphologischer Visualisierungsaspekte gegeben (Abb. 25). Die eiförmige Figur ist kaum mehr als der geometrische Teil eines Diagramms. Nur durch die mit der Rundung des Schädels verlaufende Knochennaht wird das Kranium als Körperteil erkennbar. Das Bild ist entweder durchsichtig, was einen Blick von oben auf die Zel­ len erlauben würde, oder – weniger wahrscheinlich – es zeigt die Zellen von unten gegen ein ansonsten leeres Schädeldach. Die Abbildung darunter isoliert den ›Zellclu­ ster‹ und verbindet ihn durch zwei Linien mit dem Auge (Abb. 26).

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Besonders das Beispiel Peyligks veranschaulicht, dass der Übergang von der theo­ retischen Einheit (Zelle) zur anatomischen Struktur (Ventrikel) f ließend verlief. Inte­ ressant ist in diesem Zusammenhang auch Brunschwigs Betonung der Verbindungen zwischen den Zellen, durch die der Spiritus frei f ließen kann. Anatomisch findet dies seine Entsprechung in den Löchern und anderen Verbindungsstrukturen zwischen den Ventrikeln, durch die das Hirnwasser f ließt. Die Gegebenheiten des Körpers, die durch mangelnde Sektionspraxis meist nur aus der Literatur bekannt waren, und die Theorie von seinen seelisch­geistigen Funktionen verschmolzen zu einem einheit­ lichen weltordnenden Diskurs, der sich im Bild manifestierte. Darstellungen von Zel­ len finden sich noch bis ins 19. Jahrhundert, als die Form der Ventrikel bereits bestens bekannt war, bzw. diese schon im Begriff waren, ihre Bedeutung gegenüber dem cerebralen Kortex zu verlieren.141 Ein besonderes Zellschema soll die Reihe der hier vorgestellten beschließen, wenngleich, das sei vorab gesagt, es im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht ent­ schlüsselt werden kann: das des britischen Philosophen und Arztes Robert Fludd (1574– 1637). 1619 veröffentlichte er eine äußerst komplexe Darstellung der Hirnfunktionen, die weit über ein Dreizellenschema hinausreicht (Abb. 27).142 Wie seine Vorgänger visualisierte Fludd die Hirnfunktionen in einer Bild­Hybride aus Mensch und Dia­ gramm. Es würde zu weit führen, das f luddsche System hier detailliert zu beschrei­ ben. Zu vielfältig sind die Bezüge. Entscheidend für unsere Betrachtung ist, dass sich innerhalb des Kopfes drei aus zwei Kreisen zusammengesetzte Zellen befinden. Die ersten enthalten die Vermögen Sensitiva und Imaginativa, ein Vermis leitet über zu Cogitativa und Æstimativa, und die letzten beiden Kreise sind der Memorativa und der Motiva vorbehalten. Verbunden sind die Zellen wiederum mit anderen Zellclus­ tern, kopfexternen Systemen, die stufenweise in die Sphäre der Engel und von dort zu Gott führen. Verschiedene äußere ›Welten‹: die der Sinne (Mundus sensibilis), der Imagination (Mundus imaginabilis) und des Intellekts (Mundus intellectualis) sowie die Verbindung der hinteren Doppelzelle durch das Rückenmark gewissermaßen in den Leib hinein zeigen das Bezugssystem von Mikro­ und Makrokosmos auf, mit dem sich Fludd in seinen Schriften auseinandersetzte. Mensch, Kosmos und Gott bil­ den je eine Einheit, die zusammengenommen ein Ganzes ergibt. Außergewöhnlich ist, dass Fludd die Überlappungen seines Drei­mal­zwei­Zell­ systems jeweils mit den Worten »Hic anima est« beschriftete. Der Wohnsitz der Seele ist so in drei Orte aufgeteilt. Alan Cowey hat in einer Rede vor der Royal Society in London darauf hingewiesen, wie merkwürdig es ist, dass Fludds Theorie, die erste, in 141 142

Clarke und Dewhurst zeigen einen Holzschnitt von 1840, der die Zelldoktrin in den Kon­ text phrenologischer Forschung integriert, vgl. Clarke/Dewhurst (1972), S. 39. Robert Fludd, Utriusque Cosmi Maioris scilicet et Minoris Metaphysica. Physica Atque Technica Historia […]. Tomus Secundus De Supernaturali, Naturali, Praeternaturali Et Contranaturali Microcosmi historia, in Tractatus tres distributa, Oppenheim 1619.

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der Bewusstsein durch einander überlappende Fakultäten dargestellt werde, so selten zitiert wird. Dabei habe er das einf lussreiche Modell von Frances Crick und Cristof Koch um 400 Jahre vorweggenommen.143 Fludds Bild ist, metaphorisch gesprochen, weniger ein Menschenbild als viel­ mehr ein Weltbild und führt noch darüber hinaus. Es hat die Funktion, eine äußerst komplexe Theorie auf einen Blick anschaulich zu machen. Das mittelalterliche Be­ zugssystem Zelle dient dabei lediglich als Ausgangspunkt. Die Zelldoktrin fand zu ihrem Höhepunkt, als sie schon längst überholt war, als die in Sektionen aufgedeckte Komplexität der Hirnanatomie deutlich werden ließ, dass es nicht mehr genügte, die Funktionstheorie, auf die man sich mehr oder weniger übereinstimmend verständigt hatte, einfach wiederzugeben, sondern dass sie vom Körper ausgehend neu zu denken war. Wahrnehmungsformen veränderten sich Schirrmeister zufolge erst »mit Blick auf die neuzeitliche Konstitution und die Trennung von Subjekt und Objekt«144 gra­ vierend. Im Mittelalter stellten der Mensch und sein verbildlichter Körper noch eine Einheit dar. Die Organe wurden selten separat abgebildet, wobei nur wenige solcher Organbilder überliefert sind. Diese wenigen schematisierten Bilder zeigen maximale Vereinfachungen der Form. Sie sind oft nur durch erläuternde Texte verständlich. Herr­ linger bestätigt ihnen aufgrund ihrer Reduktion die Nähe zum Symbol.145 Seiner Geschichte der medizinischen Abbildung habe ich das Organbild entnommen, das Augen und Nase durch Seh­ und Riechnerven mit einem zentralen Punkt verbindet, der, wenn auch unbeschriftet, das Gehirn symbolisieren könnte (Abb. 28). Aus der Antike über­ lieferte Organbilder der Gebärmutter traten im Mittelalter noch über die Anfangszeit des Buchdrucks hinaus auf. Die (kunst)historischen Epochen Mittelalter und Renaissance geben bei einer Betrachtung aus medizingeschichtlicher Perspektive wenig her. In der Geschichts­ schreibung wird zumeist der Fall Konstantinopels (1453) als Endpunkt des Hochmit­ telalters genannt. Jan Peter Jankrift betont, dass das medizinische Mittelalter über das 15. Jahrhundert hinausgegangen sei. Kein Mensch sei dadurch gesünder geworden, dass Kolumbus 1492 die Neue Welt betrat.146 Gegen diese Aussage argumentiert Glassl: »Mit der Entdeckung der Neuen Welt und der damit verbundenen Erweiterung der Handelswege wurden neue Naturprodukte mit verschiedenen therapeutischen Wirkun­ gen bekannt, was die naturwissenschaftlich­medizinische Forschung immens anregte«147. Besonders in den Feldern Anatomie und Chirurgie wurde der medizinische Fortschritt durch die Ausschließlichkeit des galenschen Kanons gehemmt. Erst Har­ 143 144 145 146 147

Vgl. Cowey (2001), S. 2. Vgl. auch Crick (1994); Koch (2005). Schirrmeister (2005), S. 1. Vgl. Herrlinger (1967a), S. 14. Vgl. Jankrift (2005), S. 15. Glassl (1999), S. 22.

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Abb. 28: Organbild aus dem Codex Roncioni 99 der Universitätsbibliothek Pisa.

veys Entdeckung des Blutkreislaufs zu Beginn des 17. Jahrhunderts führte die Medi­ zin in eine neue Epoche. Herbert Lippert zufolge begann für die Anatomie bereits ab dem 13. Jahrhundert die Renaissance.148 Gegen diese Behauptung spricht die Tatsa­ che, dass sich anatomisches Wissen dieser Zeit nicht in den Kommentaren wieder­ fand.149 Humanistische Kommentare fielen in den Bereich der theoretischen Medizin, wogegen Anatomie eher als praktische Angelegenheit begriffen wurde, als jenes Wis­ sen, das Chirurgen und Wundärzte benötigten, um ihrer Tätigkeit nachgehen zu können. Dieses Beispiel zeigt, dass solche Zuordnungen zu einzelnen Epochen ebenso fragwürdig sind wie epochale Einteilungen selbst. Je nach Perspektive müssen sich derartige Festschreibungen zwangsläufig verändern. Feststeht, dass die Entwicklung der Medizin nicht als einheitliches Ganzes betrachtet werden kann. So wurden Fort­ schritte in der Anatomie sehr viel früher verzeichnet als z. B. in der Ursachenforschung für Infektionskrankheiten. Zwischen dem 14. und 15. Jahrhundert kam es trotz Verbesserungen in der Tech­ nik des Holzschnittes und diverser neuer Texte im Bereich der Anatomie zu einem Niedergang derselben in Praxis und Bild.150 Im 16. Jahrhundert veröffentlichte Beren­ gario eine auf Sektion beruhende illustrierte Anatomie in Form eines Kommentars. Obwohl dieses Werk einen Durchbruch zu einer wissenschaftlichen Anatomie dar­ 148 149 150

Vgl. Lippert (2003), S. 1. Die Form des humanistischen Kommentars wird sowohl von French, Lonie und Cun­ ningham ausführlich erläutert (alle in Wear/French/Lonie (1985)), als auch von Siraisi (1987), S. 3ff. Vgl. Singer (1969), S. 332.

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stellt, die auf Beobachtung und Erfahrung eigenhändig durchgeführter Sektionen be­ ruhte, wird bei einem Vergleich mit der bildenden Kunst dieser Zeit ein visueller Bruch augenfällig. Wenn wir berücksichtigen, welche Qualität in Gemälden, Zeich­ nungen und Drucken erreicht wurde, bleibt, wie es Herrlinger ausdrückt, das »Phäno­ men der verzögerten Aufnahme neuzeitlicher Formensprache in die naturwissen­ schaftliche und medizinische Lehrgraphik […] trotz allem […] ein Buch mit noch mehreren Siegeln«.151 Warum hatte die schematische Darstellung im Mittelalter Konjunktur? Nahmen die Bilderschaffenden ihre Umwelt anders war? Was sahen sie? Herrlinger ist der An­ sicht, dass sich die »fast stereotypen Darstellungen«152 dieser Zeit aus der islamischen Bilderwelt speisten, die noch immer von einer »latente[n] Verpf lichtung der spätmit­ telalterlichen Wissenschaft an das arabische Erbe« geprägt war, das »der medizinischen Illustration als schematische, als botanische und als chirurgisch­instrumentelle Abbil­ dung begegnete«.153 Fragen dieser Art können mithin durch eine Analyse der Bildfunktionen beant­ wortet werden. Entscheidend war nicht nur, was die Menschen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit sahen, sondern auch die Frage nach dem Zweck der jeweiligen Darstellung und danach, ob die Darstellenden in der Lage waren, das Gesehene die­ sem Zweck gemäß umzusetzen. Ein Lassstellenmann diente dazu, dem Mediziner jene Punkte am Körper anzuzeigen, an denen er seinen Patienten bei einem bestimm­ ten Krankheitsbild zur Ader lassen konnte. Diese Punkte wurden anhand älterer Dar­ stellungen identifiziert. Solche Vorgänge trugen entscheidend zum ›Realitätsmangel‹ mittelalterlicher Abbildungen bei. Lyons und Petrucelli führen dies näher aus: Die Handschriftentradition des Mittelalters bediente sich zur Veranschaulichung nicht der Welt der Natur, sondern übernahm und kopierte ältere Wiedergaben. Im Allgemeinen bewiesen die Kopisten begrenzte Fertigkeiten, und da sie den Ge­ genstand nicht in der Natur beobachtet hatten, begingen sie oft Fehler im Ver­ ständnis wie auch in der Ausführung. Meist ›sahen‹ sie die Dinge so, wie sie den Alten erschienen waren und realistische Abbildungen hätten sie als ungehörige Abkürzung des rechten Studienweges betrachtet.154

Obwohl Herrlinger auf einige wenige Gegenbeispiele verweist, folgt »die große Linie der Lehrgraphik« seiner Meinung nach »dem abstrahierenden Geist, der seinen ty­ pischen Ausdruck in der Scholastik gefunden hat«.155 Diese Abstraktion findet sich 151 152 153 154 155

Herrlinger (1967a), S. 70. Oeser (2002), S. 39. Herrlinger (1967a), S. 70. Lyons/Petrucelli (1980), S. 405. Herrlinger (1967a), S. 29.

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auch in der sakralen Ikonographie wieder. Auch sie hatte, wie wir an dem Beispiel des typografischen Heiligenscheins bei dem nach Albertus Magnus dargestellten Kopf gesehen haben, Einf luss auf die Darstellungsweise wissenschaftlicher Sujets. Die Repräsentation der Wirklichkeit auf Grund von Beobachtung ist ein Kon­ zept der Neuzeit. Seit der Renaissance gilt die Natur ihren Erforschern als unmittel­ barer Erfahrungsraum, als erste Referenz, an der sich auch das Dargestellte messen lassen musste. Die Autorität des Wissens liegt seitdem nicht mehr im Metaphysischen, sondern in der Natur. In der scholastischen Medizin hatte sich der Blick weniger auf kranke Menschen gerichtet. Vielmehr hatten Bücherwissen und Theorie im Mittelpunkt des Interesses gestanden.156 Mediziner, vornehmlich Mönche, hatten alte Abbildungen und überlie­ ferte Texte studiert und kopiert und anatomisches und physiologisches Wissen nicht durch beobachtende Erfahrung an sezierten Körpern erlangt. Dadurch war eine ab­ strakte Bildsprache etabliert worden, die Realitätsnähe weder zuließ noch für wichtig erachtete. Der von Tierkreiszeichen umgebene Lassstellenmann ist ein Beispiel dafür, wie in den Naturwissenschaften Sinnzusammenhänge durch Bilder produziert wer­ den: Er stellt eine Verbindung von Säftelehre und Astronomie dar. Sie beruht auf einem komplexen System gegenseitiger Abhängigkeiten unterschiedlicher Felder. Auf diese Weise wurden etwa mathematisch­physikalische oder anatomisch­medizinische Lehren in metaphysische Theorien integriert, auf einer Bildf läche zusammengebracht und zueinander in Beziehung gesetzt. Letztlich wurde so im Bild die Welt geordnet und Wissen generiert. Im 14. Jahrhundert, als der Humanismus die Scholastik verdrängte, und die klassischen Schriften durch Petrarka (1304–1374) und andere wiederbelebt wurden, entstand ein geistiges Klima, in dem die Praxis der Sektion menschlicher Körper er­ neut aufgenommen werden konnte, namentlich von Mondino, dessen anatomische Schriften über Jahrhunderte maßgeblich blieben. Nach Felbel bildet der Humanismus dieser Zeit weniger ein philosophisches Problem, sondern steht für einen Versuch, »die Nöte einer Niedergangsphase schöpferisch zu überwinden«157. Felbel begreift so­ wohl die medizinische als auch die kulturelle humanistische Strömung als Reaktion auf das in Auf lösung begriffene Mittelalter. Sowohl die erneut praktizierte Zergliede­ rung als auch das anatomische Interesse seitens der Kunst waren Triebfedern für den quantitativen und letztlich auch qualitativen Sprung in der Abbildung des menschli­ chen Körpers. Ausschlaggebend für neue Abbildungsstrategien und vor allem für eine größere Reichweite der Bilder war die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg (ca. 1400–1468) Mitte des 15. Jahrhunderts.158 Abbildungen konnten über Bücher und Flugblätter verbreitet werden. Es sollte aller­ 156 157 158

Felbel (1989), S. 93. Ebd., S. 95. Um dies zu vertiefen vgl. Giesecke (1998).

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dings ein weiteres Jahrhundert verstreichen, bis in Druckwerken anatomischen In­ halts Abbildungen auftauchten. Die von scholastischen Vorstellungen und Begriffen wie Imaginatio und Me­ moria geprägte Zelldoktrin und mit ihr eine schematische Darstellungsweise beein­ f lussten Leonardos Hirnbild so lange, bis es ihm gelang, eine Methode zu entwickeln, mit deren Hilfe er die anatomische Form der Ventrikel zeigen konnte. Seine einzigar­ tige Sicht und Darstellung der Hirnanatomie wurde erst mit der Wiederaufnahme der Sektion von Menschen möglich, um dann alles zu übertreffen was andere Zeitgenos­ sen am Leib sahen und darstellten. Leonardos ›anatomische Phase‹ wird als verbin­ dendes Element zwischen mittelalterlicher Abbildung und frühem Buchdruck im fol­ genden Abschnitt gesondert dargestellt, auch wenn sie zu nachfolgend vorgestellten Entwicklungen teilweise parallel verlief.

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LEONA R DOS GEHIR N – IN N ER H A LB DER ZW I E BEL SCHICHTEN Im Folgenden werden die Hirnbilder in Leonardo da Vincis (1452–1519) anatomi­ schem Werk behandelt. Wie zu Beginn des zweiten Kapitels bereits beschrieben, ge­ hörten Auge und Sehsinn zu den wichtigsten anatomisch­physiologischen Forschungs­ interessen Leonardos. Der Grund hierfür liegt auf der Hand: Wissen musste durch Erfahrung erlangt werden, und Erfahrung bedeutete bei Leonardo Beobachtung. Kemp nennt ihn »a supreme visualizer, amaster manipulator of mental ›sculpture‹, and almost everything he wrote was ultimately based on acts of observation and cerebral picturing. […] If he could not ›see‹ it, he could not do it – or, rather, did not consider it worth doing«.159 Die Zwiebelschichten stehen für verschiedene Aspekte des anatomischen Werks Leonardo da Vincis. Er selbst sezierte Leichen in Schichten von außen nach innen, baute aber seine Zeichnungen oft umgekehrt, also von innen nach außen auf. Das In­ nere der Zwiebel zu erreichen, indem man ihre Häute Schicht für Schicht abzieht, ist mehr als ein rein praktischer Vorgang. Im Inneren liegt etwas verborgen, ein Keim. Wenn also der Kopf, so wie Leonardo es zeichnerisch darstellte, eine Zwiebel ist, dann konnte er über das Häuten der Zwiebel ins Gehirn vordringen. Die Metapher lässt den Gedanken zu, dass, wenn das Gehirn schon nach wenigen Schichten erreicht ist, sich nach weiteren Häutungen der Ort offenbaren könnte, um den es in dieser Arbeit geht: die Keimzelle. Dies ist der Punkt, bis zu dem sich Vertreter der mittelal­ terlichen Zellenlehre vorarbeiteten. Leonardo erreichte ebenfalls diesen mystischen Ort und ließ ihn hinter sich, mit dem Ziel, den Sitz der Seele zu finden. Er fand etwas ganz anderes: den Körper. Zeichnen war für Leonardo Problemlösung und Weltaneignung. Es war Pierre Huard zufolge das probate Mittel, um »Gedanken zu verdichten und das Universum zu begreifen«160 . In ihrer Ausgabe des anatomischen Werks fassen Charles D. O’Malley und John Bertrand de C. M. Saunders Leonardos Leistungen in historischer Perspek­ tive zusammen und weisen dabei ebenfalls auf die Notwendigkeit hin, Bild und Text als Einheit zu denken: »Without the notes it would be impossible to persive beneath the genius of his art the groping of his mind as it sought emancipation from a debased mediaeval Aristotelianism. Through acorrupted Galenism to the achivement of a po­ 159 160

Kemp (2004), S. 48. Huard (1967), S. 55. Huard merkt bei höchster Anerkennung der bildnerischen Fähigkei­ ten Leonardos an, dass der handschriftliche Teil einiger Blätter sachlich mehr oder minde­ stens ebensoviel aussage wie die Abbildungen, vgl. ebd., S. 53. Im selben Text widerspricht Huard dieser Bemerkung, vgl. ebd. S. 55. Auf diese Ambivalez in der Bewertung von Bild­ gegenüber Textwerk Leonardos treffen wir öfter. Leonardo selbst ließ keinen Zweifel da­ rüber, dass er Auge und Bild mehr traute als Ohr und Wort, vgl. Herrlinger (1967b), S. 89f.

LEONARDOS GEHIRN – INNERHALB DER Z WIEBELSCHICHTEN

sition of relative scientific independence.«161 Obwohl Leonardos Schriften wie es scheint weit weniger als seine anatomischen Zeichnungen in unser kulturelles Ge­ dächtnis eingegangen sind, wird in der Forschungsliteratur zum anatomischen Werk die Bildaussage meist der seiner Texte nachgestellt.162 Dies geschah nicht etwa, weil Bilder auf den ersten Blick ihre epochale Prägung preisgeben. Vielmehr bestätigt sich dem Betrachter noch heute ihre erstaunlich zeitlose Wirkung. Fakt ist, dass Leonardo auf vielen seiner anatomischen Blätter Textblöcke und Notizen so eng mit den Bil­ dern verschränkte, dass sie untrennbare Einheiten bilden. Und so werden auch in dieser Arbeit Leonardos Texte zu verschiedenen Aspekten ausführlich zitiert, u. a. um zu zeigen, wie er seine Leser sowohl in anatomische als auch in bildnerische Arbeits­ prozesse Einblick nehmen lässt. Genau das ist es, was seine Texte noch heute so le­ senswert macht: Sie suggerieren unmittelbare Teilhabe an seiner Arbeit. Bevor Leonardos hirnanatomische und ­physiologische Zeichnungen beschrie­ ben werden, gehe ich zunächst auf seine Zeichentechnik, visuelle Didaktik sowie auf seine Stellungnahmen zu Anatomie und Sektionspraxis ein. Dabei sollte es, ohne Leo­ nardos Leistungen auf dem Gebiet der Anatomie schmälern zu wollen, ein Bewusst­ sein dafür geben, dass die außergewöhnliche Rezeptionsgeschichte seines Gesamt­ werks unvermeidlich Einf luss auf unsere Forschung nimmt.163 Wir sehen sie immer auch mit den Augen derer, die über Jahrhunderte begeistert über dieses Werk geschrie­ ben haben. Um Superlative kommt auch die folgende Darstellung seiner hirnanato­ mischen Forschungen und Bilder nicht herum, brachte Leonardo doch, wie Belting es ausdrückt, »den Konf likt des Körpers mit der Geometrie, den Konf likt der Anatomie mit der Ästhetik unübertreff lich zum Ausdruck«164 . Dennoch sollten sich heutige Be­ trachter bewusst sein, dass Leonardos Bilder »nicht aus einem Vakuum«165 entstanden, sondern historisch stark gebunden waren, wie seine Rezeption mittelalterlicher Ana­ tomen wie Mondino zeigt. Sich aus solchen Bindungen zumindest teilweise zu lösen, und sich in »bemerkenswerte[r] fortschrittliche[r] Kontinuität aus jener Vergangen­ heit heraus«166 weiter zu entwickeln, scheint mir die eigentliche Leistung, die Leonar­ do mit seinen Arbeiten zur Anatomie vollbrachte.

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O’Malley/Saunders (2003), S. 27. Ob und inwiefern die Inhalte, die Leonardo in seinen Texten vermittelte, für die medizi­ nische Forschung relevant waren oder sind, liegt außerhalb meines Ermessensbereichs. Zwar müssen wir die Tatsache in Rechnung stellen, dass sie über Jahrhunderte kaum je­ mand gelesen hat, dennoch ist anzunehmen, dass die Inhalte mittels mündlicher Überlie­ ferung weitergegeben und so vielfach wirksam wurden. Vgl. Nova (2005), S. 136. Belting (2002), S. 102. Keele in Keele/Pedretti (1980), S. xxv. Ebd.

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SE KTION U N D A NATOM ISCH E Z EICH N U NG

Leonardo war nicht der einzige Künstler, der Skelette untersuchte und Körper sezier­ te. Mit dem anatomischen Idealbild wie es Piero Pollaiuolo (1443–1496), Andrea del Verrocchio (ca. 1435–1488), Michelangelo Buonarroti (1475–1564), Tizian (Tiziano Vecellio, ca. 1488–1576) anstrebten, wollte er sich nicht zufrieden geben.167 Sein ana­ tomisches Werk, das in der königlichen Bibliothek auf Windsor Castle auf bewahrt wird, setzte neue Maßstäbe. Keiner seiner Zeitgenossen schuf vergleichbare Abbildun­ gen der menschlichen Anatomie. Es scheint, als hätten sie andere Körper gesehen. Visuelle Erfahrung bei Leonardo ist Erfahrung der Perspektive. Hierin liegt möglicherweise der Schlüssel zur Erklärung der unleugbaren Andersartigkeit seiner Körperdarstellungen, der großen qualitativen Diskrepanzen zwischen ihm und seinen anatomisch arbeitenden Zeitgenossen. Körperlichkeit konnte erst in seiner konse­ quenten bildlichen Weiterentwicklung und Anwendung der Perspektive entstehen. Er vollzog den Bau des Körpers auf der Bildf läche nach. Leonardo brachte eine Mehr­ dimensionalität ins Bild, die auch sein Denken kennzeichnete: Es war ein körperliches Denken. Thomas von Aquin hatte das aristotelische Denken so schlüssig zusammenge­ fasst, dass seine Formulierungen für das ganze Mittelalter grundlegend blieben.168 Scholastiker hatten antiexperimentell gedacht, d. h. beobachtete Erscheinungen muss­ ten mit vorausgesetzten Wahrheiten in Einklang gebracht werden. Leonardo hatte augenscheinlich weniger Schwierigkeiten als andere Zeitgenossen, sich von der scho­ lastischen Tradition zu lösen. Mit Beginn der Renaissance wurde die Natur selbst zum Ausgangspunkt des Denkens. Forscher, die wie Leonardo empirisch vorgingen, mussten feststellen, dass es ihnen unmöglich war, ihre Beobachtungen in die bestehen­ den weltordnenden Schemata einzupassen. Ihnen fehlte es an grundlegendem Wissen. Leonardos Zeichnungen liegt Werner Hofmann und Eckhard Schaar zufolge die »Vision der organischen und funktionalen Ganzheit aller Lebensprozesse«169 zu­ grunde. Gemeint ist, dass Leonardo sich nicht nur für den in der Sektion unmittelbar zu beobachtenden Körperbau des Menschen interessierte, sondern immer auch die Physiologie der dargestellten Teile sowie des Körperganzen mitdachte und dies auch in seinen Zeichnungen vermitteln konnte. Leonardos Zeitgenosse Jean Fernel (1497– 1588) teilte die Medizin in die Arbeitsgebiete Physiologie (Normalfunktionen des Körpers), Pathologie (anormale Funktionen des Körpers) und Therapeutik (Maßnah­ men zur Heilung des Körpers) ein. Beim Sezieren interessierte Leonardo sich weniger für den pathologischen, sondern für den gesunden funktions­ und leistungsfähigen Körper. Dieser Blick auf die Ganzheit des Körpers, der von einer inneren Kraft gebaut 167 168 169

Vgl. Singer (1969), S. 333. Vgl. Lyons/Petrucelli (1980), S. 337. Hofmann/Schaar (1979), S. 7.

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und gelenkt wird, die bis in das kleinste Glied wirkt, ist bei der Fülle seiner Interes­ sens­ und Forschungsgebiete ein bestimmendes Element. Für Kemp wird dieser ganz­ heitliche Blick Leonardos auf den Körper, wie auf alle anderen sichtbaren Erschei­ nungen in dem deutlich, was er als unified field theorie beschreibt: The overarching premise on which Leonardo operated is that all the apparent diversities of nature are symptoms of an inner unity, a unity dependent on some­ thing like a ›unified field theorie‹ that reaches out to explain the functioning of everything in the observable world. For Leonardo, this unified theory relied upon the proportional (geometrical) action of every power in the world and explained the design of everything.170

So wirkte Leonardo nicht nur als Anatom und Künstler richtungweisend, sondern ebenfalls in seiner anthropologischen Perspektive. Herrlinger betont mehrfach, dass die Anatomie bei Leonardo als Basis einer Anthropologie zu verstehen sei.171 Die Bedeutung der anatomischen Zeichnungen Leonardos sehen Hofmann und Schaar auch in dem »revolutionären Entschluss, das künstlerische Anschauungs­ repertoire nicht einfach als ein Vorgegebenes, Fertiges aus den Fakten zu beziehen, sondern mit Hilfe des zergliedernden Eingriffs überhaupt erst herzustellen, nämlich sichtbar zu machen«172 . Die Tatsache, dass Leonardo Anatom und Künstler zugleich war, erlaubte ihm, die Körperteile, die ihn jeweils interessierten, selbst freizulegen. Er entwickelte und nutzte eine Vielzahl verschiedener Techniken, um den Körper zu sezieren und zu präparieren.173 Dabei fand er bis dahin unentdeckte Strukturen und kam über Hand und Auge zu einem Menschenbild, das sich durch Harmonie, Sym­ metrie174 und Funktionalität infolge perfekt ineinander greifender Teile charakterisie­ ren lässt. Menschenbild muss in diesem Fall in doppelter Konnotation gelesen werden. Indem Leonardo das Bild vom ganzen Menschen in seiner Körperlichkeit herstellte, schuf er den Renaissance­Menschen, den Menschen der Neuzeit. Eine umfassende Beschreibung dessen, wie er dabei vorging, und was er selbst als wichtig erachtete, ist uns aus seinen Schriften überliefert: Und du, der du sagst, es sei besser, einer anatomischen Vorführung zuzusehen als diese Zeichnungen zu betrachten, hättest recht, wenn es möglich wäre, all diese Dinge, die in diesen Zeichnungen dargestellt sind, an einer einzigen Gestalt zu sehen. Dort wirst du mit all deiner Fähigkeit nicht mehr als einige Gefäße sehen 170 171 172 173 174

Kemp (2004), S. 4. Vgl. Herrlinger (1967a), S. 75, ders. (1967b), S. 86 und S. 95. Hofmann/Schaar (1979), S. 7. Vgl. Huard (1967), S. 57. Keele schreibt Leonardo ein »Verlangen nach anatomischer Symmetrie« zu, Keele in Kee­ le/Pedretti (1980), S. 224.

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oder Wissen über sie erlangen, während ich, um wahres, umfassendes Wissen über sie zu erwerben, über zehn Menschenkörper seziert, alle anderen Organe zerstört und dann in kleinsten Teilen alles Fleisch entfernt habe, das die Gefäße umgab, ohne daß sie bluteten, abgesehen vom unbemerkten Bluten der Kapillargefäße. Und da ein einziger Körper nicht für eine genügend lange Zeit hinreichend war, war es notwendig, in Schritten vorwärts zu gehen, mit so vielen Körpern, bis mein Wissen vollständig war. Dies wiederholte ich zweimal, um die Unterschiede zu entdecken.175

Indem Leonardo seine Fähigkeiten als Maßstab setzte, belehrt er seinen Leser über die Voraussetzungen, derer Produzenten anatomischer Abbildungen bedürfen: Mut, Ge­ duld, Beherrschung der Zeichenfeder und, nicht zuletzt, ein starker Magen: Und obwohl dich das fesselt, hindert dich vielleicht dein Magen, und wenn dieser dich nicht hindert, hindert dich vielleicht die Furcht, die Nachtstunden in Gesell­ schaft dieser gevierteilten, abgezogenen und schrecklich anzusehenden Leich­ name zu verbringen. Und wenn dich dies nicht hindert, mangelt es dir vielleicht an zeichnerischem Geschick, das wesentlich für solch eine Darstellung ist; und selbst wenn du diese Fertigkeit besitzt, ist sie möglicherweise nicht vereint mit den Kennt­ nissen der Perspektive; wohingegen, falls sie doch so vereint ist, du vielleicht nicht geübt bist in den Methoden, die Kräfte und die Leistung der Muskeln einzuschät­ zen; oder es fehlt dir vielleicht an Geduld, so daß du nicht sorgfältig sein wirst.176

In Leonardos anatomischen Zeichnungen lassen sich verschiedene Annäherungen an den Körper ausmachen. Er besaß die Weitsicht, morphologische Strukturen als Be­ dingung und Resultat von Funktionsweisen aufzufassen und zu ergründen. Dies lässt sich auf einen doppelten Blick zurückführen, den des Naturforschers177 und den des Ingenieurs. Mehr als ein Jahrhundert vor Descartes hatte Leonardo den Körper als optimale Maschine angesehen, allerdings, so Michael White, »mit einer Mischung aus einem primitiven Dualismus und seinem eigenen metaphysischen Ansatz«, den Gott »als höchstes Produkt seines »Geistes« geschaffen« hatte.178 So wie Leonardo selbst Apparate oder Maschinen zu konstruieren in der Lage war, sah er auch den menschli­ chen Körper bzw. Leib als Maschine an, deren Konstruktionsplan im Körper selbst angelegt war, und der in Sektionen gelesen werden konnte. Der Körper war Bild und Text; er war Maschine und Konstruktionsplan. 175 176 177 178

Leonardo, 19070v, zit. nach Keele/Pedretti (1980), S. 359. Ebd. Zu Leonardos Bedeutung für die Geschichte der Biologie vgl. Jahn (2000), S. 165ff. White (2004), S. 338f. White betont an dieser Stelle, dass ›Gott‹ bei Leonardo ein unschar­ fer Begriff ist. Er habe Gott als abstrakte Naturkraft angesehen.

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Warum es Leonardo wie keinem anderen seiner Zeitgenossen gelang, den Kör­ per plastisch und belebt darzustellen, lässt sich sicher nicht abschließend klären. Wie er dies tat, ist indes oft beschrieben worden. So verschieden wie seine Sektions­ und Prä­ parationsmethoden waren auch die Formen der Darstellung: Diagramme, Schemata, Skizzen (Entwürfe ad naturam, aus dem Gedächtnis oder aus der Phantasie), detailliert ausgeführte Zeichnungen, Bewegungs­ oder Funktionsmodelle. Die Zeichnungen verdeutlichen laut Zittel »funktionale Zusammenhänge […], aber auch Vorstellungen von integraler Form werden vermittelt, dann wieder werden idealisierende Verfahren gewählt.«179 Leonardo folgte Filippo Brunelleschis (1377–1446) Prinzipien der Zen­ tralperspektive180 und ließ die Körper oder Körperteile seiner anatomischen Studien vor seinem geistigen Auge in einem dreidimensionalen Raum entstehen, in dem sie sich unter dem Einf luss der auf sie wirkenden Kräfte bewegten. Er war in der Lage, diese inneren Bilder durch Anwendung der von Leon Battista Alberti (1404–1472) 1453 beschriebenen geometrischen Prinzipien auf Papier zu übertragen.181 Durch den Einsatz verschiedener Helligkeiten und tonaler Abstufungen der Farben (die er in den Zeichnungen nur äußerst sparsam verwendete), also durch die Darstellung einfal­ lenden Lichts oder von Schatten auf unterschiedlichen Oberf lächen vollendete Leo­ nardo den Eindruck des Körperlichen in seinen anatomischen Studien. Nicht zuletzt spielten für ihn, wie überhaupt in der Architektur und Kunst der Renaissance, die Proportionen der zu bauenden oder darzustellenden Dinge eine übergeordnete Rolle. Das Bild des menschlichen (männlichen) Körpers in den ideal proportionierten For­ men Kreis und Quadrat ist dafür Sinnbild geworden und gilt als Ikone der Renais­ sance. TH EOR I E Ü BE R SE E L ENSITZ U N D H I RN F U N K T I O N EN

Wie sich an einigen seiner Notizen und Texte ablesen lässt, war es die Suche nach dem Ort der Seele, die Leonardo zur Forschung über Hirnanatomie und ­physiologie motivierte. Sich mit der Natur der Seele und ihrer Unsterblichkeit zu beschäftigen, war unter italienischen Philosophen zu dieser Zeit Usus. Zwei Deutungsansätze kön­ nen dabei unterschieden werden: Der eine besagt, dass die rationale Seele als fünftes Element Bestandteil des menschlichen Körpers und mit ihm sterblich ist. Nach dem anderen Ansatz ist »die Seele Bestandteil des universalen Verstandes« und wird »nach 179 180

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Zittel (2005), S. 124. Zur Biologie der Zentralperspektive vgl. Schmitz, (2002), S. 193ff. Zur Aufdeckung und Dekonstruktion der Zentralperspektive als Dispositiv westlicher Herrschafts­ und Macht­ ansprüche vgl. Foucault (1974), S. 31ff. Allerdings verwendet Foucault den Begriff selbst nicht, sondern er beschreibt die Wirkungsweisen »der klassischen Repräsentationen und die Definition des Raums«, vgl. ebd., S. 45. Zur Wirkung der Zentralperspektive auf die Entstehung neuzeitlicher Wissenschaft vgl. Schmeiser (2002). Vgl. Kemp (2004), S. 52f.

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dem Tod neu aufgenommen (und verwendet)«.182 Leonardo folgte dem zweiten An­ satz. Wie Hippokrates und Avicenna glaubte auch er, die Seele sei unsterblich und werde bei der Zeugung aus dem Rückenmark des Mannes auf das Kind übertragen.183 Leonardo äußerte sich in seinen anatomischen Aufzeichnungen ausführlich zur Seele. Seiner Überzeugung nach ist sie im Gehirn tätig, wo sie durch die von den Sin­ nesorganen übermittelten Sinneseindrücke angeregt wird. Der zentrale Ort dieses Geschehens ist der von Aristoteles eingeführte Senso commune. Für Leonardo bildete er den Dreh­ und Angelpunkt der Seelen­ und Hirnfunktionstheorie. Im Senso com­ mune konzentrieren sich alle Sinneseindrücke; er befiehlt dem Körper sich zu bewe­ gen, er ist Wohnsitz der Seele. Ausführlich beschrieb Leonardo die fünf Sinne als Diener der Seele: Die Seele wohnt anscheinend im Sitz des Urteiles, und der richtende Teil scheint sich an dem Ort zu befinden der ›senso comune‹ heißt; und er befindet sich nicht überall im ganzen Körper, wie viele angenommen haben, sondern allein in die­ sem Teil. Denn wenn sich alle im Ganzen und alle in jedem Teil befänden, wäre es nicht notwendig gewesen, die Instrumente der Sinne zu ein und derselben Ansamm­ lung an nur einem Ort zusammenlaufen zu lassen. Im Gegenteil, es wäre genug gewesen, daß das Auge seine sensorische Funktion auf seiner Oberfläche erfüllte, statt über die Sehnerven die Ähnlichkeiten der Dinge, die es sieht, auf den ›senso comune‹ zu übertragen, denn aus den oben erwähnten Gründen könnte die Seele sie auch auf der Oberfläche des Auges verstehen.184

Diese Schlussfolgerungen führte Leonardo ebenso für Hör­, Geruchs,­ und Tastsinn aus. Nerven oder ›perforierende Stränge‹185 verstand er als Wahrnehmungs­ und Be­ fehlsüberträger. Sie befehlen Sehnen und Muskeln, sich zu bewegen. In seiner hier sehr bildlichen Sprache entsprechen die Nerven Anführern, die den Soldaten (Sehnen und Muskeln) im Auftrag ihres Kommandanten (Senso commune) dienen, der wie­ derum von der Seele als absoluter Herrscherin abhängt. Streng hierarchisch aufgebaut stellte sich Leonardo den Ablauf im Gehirn vor, der notwendig einem universalen Plan folgt. Indem Leonardo ihn beschrieb und visualisierte, fertigte er quasi Kon­ struktionszeichnungen des göttlichen Plans an. Diese Reihung von Ursachen und Wirkungen geht in Leonardos Verständnis letztlich auf einen Urgrund zurück: »Des­ 182 183 184 185

Keele in Keele/Pedretti (1980), S. 10. Vgl. O’Malley/Saunders (2003), S. 460. Leonardo, 19019r, zit. nach Keele/Pedretti (1980), S. 88. Erst auf Blatt 19127r (um 1504– 1507) korrigierte Leonardo seine Schreibweise (commune statt comune). Im Original heißen sie le corde perforante, durchborende oder durchborte Stränge. Diese Beschreibung geht auf Alkmaion und Erasistratos zurück, vgl. Kapitel 3.2.1. Die Schwie­ rigkeit, Nerven von Sehnen zu unterscheiden, bestand noch bis ins 18. Jahrhundert, vgl. Keele/Pedretti (1980), S. 88.

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halb gehorcht das Gelenk zwischen den Knochen der Sehne, und die Sehne dem Muskel, und der Nerv dem ›senso comune‹, und der ›senso comune‹ ist der Sitz der Seele; Gedächtnis ist ihr Speicher, und die ›imprensiva‹ ihre Bezugsnorm [referen­ daria]«186 . An dieser Stelle führte Leonardo eine neue Größe ein. Was Imprensiva bedeu­ tet, beschreibt Kemp eindrücklich: Wir können sie uns als Rezeptor vorstellen, »which […] registers an impression like warm wax receiving the indent of a seal«187. Indem Leonardo den Begriff Imprensiva vorstellte, erweiterte er den aristotelischen Senso commune um einen Faktor: Aufnahme und Verarbeitung von Sinneseindrücken wer­ den voneinander getrennt. Leonardo verlagerte den Senso commune von der ersten in die mittlere Zelle. Die erste übernimmt als Vorstufe zum Senso commune die Impren­ siva, die die unüberschaubare Anzahl eintreffender Daten registriert, sie ordnet und weiterleitet. Zentral für seine Theorie der Hirnfunktion blieb der Senso commune: »Geistige Dinge, die nicht durch den ›senso comune‹ gelaufen sind, sind unnütz und führen zu nichts als voreingenommener Wahrheit.«188 Auf welche Weise für die ›gei­ stigen Dinge‹ allerdings die Möglichkeit bestünde, den Senso commune zu umgehen, darüber klärt uns Leonardo nicht auf. Der Senso commune, der Gemeinsinn, bleibt bei Leonardo der Ort, an dem sich alle Sinne vereinen und so das Gehirn und damit den Menschen zu einem Eindruck der äußeren Welt kommen lassen. Diesem Verständnis nach wird die Welt erst durch den Senso commune wahrnehmbar. Sinneseindrücke werden nicht an den Ober­ f lächen (dort wo sie auf den Körper treffen) verspürt, sondern müssen zuvor in die Seele geleitet werden, die nicht im ganzen Körper verteilt, sondern an einem Punkt konzentriert ist. Wäre dies nicht der Fall, die Seele also im ganzen Körper vorhanden, bräuchte der Mensch kein Gehirn, und die Sinnesorgane könnten quasi ›vor Ort‹ ar­ beiten. Mit dieser äußerst logischen Schlussfolgerung begründete Leonardo en passant die Existenz des Gehirns. Der Senso commune steht nicht mit der Seele in Wechselwirkung, sondern ist der aktive Part und trägt der Seele die Eindrücke der Welt zu, die er von den Sinnen erhält: »Wie der Sinn der Seele gibt und nicht die Seele dem Sinn«189 . Diese Aussage erlaubt es Leonardo, seine Theorie konsequent auf physiologische Wirkungen zu er­ weitern. Ein Mensch, der taub oder blind geboren wird, ist nicht seelenlos. Bei ihm funktioniert die Übergabe der Informationen an der Schaltstelle des Senso commune nicht. So heißt es weiter: »und wo die Seele das Sensorium entbehrt, fehlt ihr in die­

186 187 188 189

Leonardo, 19019r, zit. nach Keele/Pedretti (1980), S. 88. Kemp (2004), S. 54. Leonardo, 19070v, zit. nach Keele/Pedretti (1980), S. 362. Leonardo, 19019r, zit. nach ebd., S. 88.

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sem Leben die Information von dieser Sinnesfunktion, wie es bei einem Stummen oder von Geburt an Blinden ist«190 . Dieser Satz muss den heutigen Leser verblüffen. Leonardo entwickelte eine ge­ radezu moderne Gehirntheorie. Ein Mensch war nach seiner Auffassung nicht behin­ dert, weil mit seiner Seele etwas nicht stimmte, diese etwa von dämonischen Kräften beherrscht wurde, sondern weil die zentrale Schaltstelle im Gehirn fehlerhaft arbeitete. Der Senso commune dient bei Leonardo nicht allein dazu, Sinneseindrücke zu verarbeiten. Ebenso basieren motorische Kräfte auf Seelentätigkeit in diesem Ge­ meinschaftsorgan. Im Senso commune werden wahrnehmungsübertragende Sinnes­ impulse gekoppelt, die Befehle über motorische Nerven an entsprechende Muskeln weiterleiten.191 An anderer Stelle trieb Leonardo die Wirkung der Sinne und damit die Idee des Senso commune noch weiter: »The idea of the imagination (imaginativa) is the helm or bridle of the senses, for the thing imagined moves the senses.«192 Die Vorstellung, dass Imagination oder Vorstellungskraft die Sinne im Zaum hielt, passt zur militärischen Sprache, mit der Leonardo die Seelenfunktion im gemeinschaft­ lichen Sensorium erklärt hat. Imagination (traditionell in der mittleren Zelle plat­ ziert) und Senso commune waren in der materialistischen Psychologie der Zeit eng gekoppelt.193 Imprensiva in der ersten und Senso commune in der zweiten Zelle werden wie schon bei Aristoteles durch Memoria als drittes Vermögen ergänzt. So finden wir es bei allen Zellschemata und später – sofern sie beschriftet sind – auf den Ventrikel­ zeichnungen Leonardos vor. Das Gedächtnis in der hinteren Hirnkammer, so Ken­ neth D. Keele und Carlo Pedretti »hilft dem ›Urteil‹ mit seinem Speicher der konser­ vierten Erfahrung«194 . Selbst der Vorgang des Erinnerns, bei dem die dritte Zelle in Anspruch genommen wird, funktioniert nach Leonardo über Sinneseindrücke: »Sich Dinge im voraus vorzustellen, heißt künftige Dinge sehen; sich Dinge hinterher vor­ zustellen, ist, sich vergangener Dinge zu erinnern.«195 Im Original schrieb Leonardo nicht von Sehen, sondern Imaginieren (imaginare). O’Malley und Saunders überset­ zen fast wörtlich: »To pre­imagine is to imagine things which will be. To post­imagi­ ne is to imagine things past.«196 Übersetzten wir imaginare mit ›sich etwas bildlich vorstellen‹ oder ›etwas anschaulich machen‹, kommen wir dennoch auf die Verbin­ dung der Seelenvermögen untereinander, darauf, wie die von der Imprensiva in der ersten Zelle weitergeleiteten Sinneseindrücke im Senso commune verarbeitet und in der dritten Zelle im Gedächtnis als Bilder oder materialisierte Sinneseindrücke ge­ 190 191 192 193 194 195 196

Ebd. Vgl. Keele/Pedretti (1980), S. 90. Leonardo, 19019v, zit. nach O’Malley/Saunders (2003), S. 414. Vgl. ebd. Keele/Pedretti (1980), S. 90. Leonardo, 19019v, zit. nach ebd., S. 92. O’Malley/Saunders (2003), S. 414.

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speichert werden. Sinnesphysiologie und ­psychologie sind eng mit der »Natur visu­ eller ›Erfahrung‹«197 verknüpft, eine Tatsache, die sich sowohl in der theoretischen als auch in der bildnerisch­praktischen Arbeit Leonardos zu Gehirnfunktionen und Seelentätigkeit immer wieder äußert. Putscher vertritt die Meinung, dass Leonardo sich bei seiner Suche nach dem Sitz der Seele bald vom Gehirn abwendete und diesen Ort im Herzen vermutete, aber auch hier nicht fündig wurde.198 Dass seine Faszination für das Herz größer war als sein Interesse am Gehirn, legt die Tatsache nahe, dass er sich auf 50 der 190 überliefer­ ten Blätter anatomischer Zeichungen mit dem Herzen beschäftigte.199 Dass Leonardo die Seelensuche schließlich aufgab, und sie eher als ein Problem des Glaubens als eines der Wissenschaft ansah, zeigt eine Notiz, die er gegen Ende seines Lebens verfasste: »Zu bestimmen was die Seele ist, [überlasse ich] den Ordensmönchen, den Vätern ihres Volkes, ihnen, die alle Geheimnisse dank der göttlichen Inspiration erfassen.«200 L EONA RD O S H I RN B I L D E R

Leonardos Gehirndarstellungen zeichnen sich u. a. darin aus, dass sie das Gehirn selbst, den Kortex und die innen liegenden Organe, gar nicht zeigen. Ihm ging es haupt­ sächlich um eine ventrikulare Lokalisation der Hirnfunktionen. Wie in mittelalter­ lichen Darstellungen wurden nicht Gehirne, sondern Leerstellen abgebildet, also jene Orte, wo das Gehirn gerade nicht ist: seine Zwischenräume oder Höhlen. Diese ›lee­ ren Räume‹ im Kopf waren im Mittelalter mit Bedeutung aufgeladen und von Leonardo als Schauplätze mentaler Aktivität aufgegriffen und weiterentwickelt wor­ den.201 Wie bei seinen anatomischen Studien überhaupt, so suchte Leonardo auch im Hirn nach einem Mechanismus, der hinter den Bewegungen des Körpers stand, hier äquivalent zu den Bewegungen des Denkens. Er ging davon aus, dass auch hier Kör­ perbau und Funktion aneinander gekoppelt sind. Diese Annahme führte letztlich zu einer Weiterentwicklung traditioneller Zelldiagramme. Leonardos Hirnbilder führen uns über die Ikonographie des Mittelalters zu einer seiner wichtigsten Entdeckungen auf dem Gebiet der Anatomie, der Bestimmung von Form und Größe der Hirnkammern. Er war der bedeutendste Vertreter der Über­ gangsphase zwischen Zelldoktrin und anatomischer Ventrikeldarstellung. Verglichen mit dem Herzen hat er dem Gehirn im anatomischen Korpus weit weniger Raum gegeben: Es sind lediglich neun Blätter, auf denen im engeren Sinne 197 198 199 200 201

Keele/Pedretti (1980), S. 102. Vgl. Putscher in Baur/Bott/et al. (1984), S. 56. Vgl. Huard (1967), S. 63. Leonardo, MS. M, II, 95 a, zit. nach White (2004), S. 314. Das Bild von den Ventrikeln als Schauplätze mentaler Aktivität (sites of mental activity) habe ich von Martin Kemp übernommen, vgl. Kemp (2004), S. 54.

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Morphologie oder Funktionen des Gehirns visualisiert werden. Im Folgenden wer­ den jene Blätter Leonardos vorgestellt, auf denen er sich mit dem anatomischen Bau des Gehirns oder dessen Funktionen beschäftigte. Dabei ist die Reihenfolge, soweit dies belegt ist, chronologisch.202 Es gibt weitere Zeichnungen, die thematisch in der Nähe verortet sind. Zu nen­ nen ist insbesondere die Darstellung eines Kopfes auf Blatt 12624r (datiert auf etwa 1505), auf die noch näher eingegangen wird. Beispielhaft für diverse Schädelstudien steht Blatt 19075r.203 Blatt 12669v, auf dem sich eine winzige Zeichnung des Ventrikel­ systems findet, vergleichbar mit denen auf Blatt 19127r, 19070v und 12602r, wurde nicht aufgenommen. Im Einzelnen weisen die folgenden Blätter zwar verschiedene bilddidaktische Mittel auf, doch erfüllte Leonardo in keinem alle Maßgaben, die er an das eigene ana­ tomische Zeichnen stellte. Er zeichnete einige Objekte aus verschiedenen Perspek­ tiven, stellte aber nie alle Ebenen eines Kopfes dar – also Haut, Knochen und die verschiedenen Schichten des Gehirns. Meistens verwendete er schematisierende Tech­ niken und ließ einzelne Bereiche transparent erscheinen, um darunter Liegendes sicht­ bar zu machen. Auf einem der Blätter nutzte er die ihm eigene Methode, in Schichten geschnittene bzw. gezeichnete Körperteile auseinander zu ziehen, um damit ihre Be­ ziehungen zueinander sichtbar zu machen.204 1. 12627r [UVL] und 2. 12626r [UVL] [Drei­Zellen­Schemata], beide ca. 1487 Von den Motiven beider Blätter interessieren uns an dieser Stelle lediglich die Dia­ gramme cerebraler Lokalisation und Funktion (Abb. 29 und Abb. 30).205 Sie entstan­ den vermutlich mit geringem zeitlichen Abstand und sind einander sehr ähnlich. Bei­ 202

203 204 205

Die Nummerierung der Blätter folgt der Ordnung, die Kenneth Clark 1935 für die Windsor Collection festgelegt hat (r steht für recto, v für verso). Diese Nummerierung geben auch Keele und Pedretti in der Faksimileausgabe des Atlas der anatomischen Studien von 1980 an. Sie wird ebenfalls von O’Malley und Saunders in ihrer Ausgabe von 1982 (bzw. dem hier verwendeten Nachdruck von 2003) verwendet. Die Datierungen der einzelnen Blätter gehen ebenfalls auf Clark zurück. Wenn sie in anderen Kommentaren stark abweichen, wird darauf gesondert hingewiesen. Diese Datierung war ausschlaggebend für eine Modi­ fikation der Reihenfolge, zu der ich mich entschlossen habe: Wird ein Zeitraum angege­ ben, habe ich mich bei der chronologischen Anordnung der Blätter immer am letztmögli­ chen Entstehungszeitpunkt orientiert. Dies führt zu einer Reihenfolge der Blätter, die von den untereinander ebenfalls differierenden Folgen der genannten Reproduktionen teil­ weise abweicht. Zur besseren Orientierung habe ich einigen Blättern Namen zugeordnet, die auf ihren Inhalt schließen lassen. Diese sind in eckige Klammern gesetzt. Vgl. S. 354. Vgl. Leonardo, Weimar verso. Bei beiden Blättern ist nicht nur die Schrift, sondern es sind auch Teile der Zeichnungen nur bei UV­Licht lesbar.

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Abb. 29: Zellschema in der Ansicht von oben, Blatt 12627r [UVL] (Ausschnitt) aus Leonardo da Vincis anatomischen Studien.

Abb. 30: Zellschema in der Ansicht von oben, Blatt 12626r [UVL] (Ausschnitt) aus Leonardo da Vincis anatomischen Studien.

de zeigen eine ungewöhnliche Ansicht der drei Hirnzellen, wie wir sie auch auf anderen Blättern Leonardos finden: Ein in der Horizontalen aufgeschnittener, sche­ matisch dargestellter Kopf ist von oben einzusehen. Drei runde, hintereinander lie­ gende Zellen werden um zwei ebenso runde Augen ergänzt. Durch Linien, die von der Pupille aus durch die Augen hindurch führen, stehen sie mit der vorderen (ersten) Zelle in Verbindung. Von der zweiten Zelle aus führen Linien zu den nicht dargestell­ ten bzw. nur angedeuteten Ohren und nach vorne, in Richtung einer ebenfalls un­ sichtbaren Nase. Die Linien stehen für Nervenbahnen, die Sinnesorgane und Zellen miteinander verbinden. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Bildern besteht darin, dass die Begriffe der seelisch­geistigen Fähigkeiten, die den einzelnen Zellen zugeordnet sind, nicht einheitlich sind. Leonardo hielt sich an die tradierten Bezeichnungen. Doch unterliegen sowohl die Begriffe als auch die Anordnung der Vermögen, die sie bezeichnen, einem Wandel. Wenn wir mit Leonardos Begriffen arbeiten, muss uns bewusst sein, dass er kein Humanist war und sein Italienisch nicht identisch mit dem heutigen ist, so dass z. B. Begriffe anders konnotiert waren.206

206

Vgl. Kemp (2004), S. 53.

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Bei beiden Blättern befindet sich das gemeinschaftliche Sinnesorgan in der mitt­ leren Zelle. War die erste Zelle traditionell dem Senso commune zugewiesen worden, sitzt hier nun die Imprensiva. Wie wir gesehen haben, übernahm die Imprensiva bei Leonardo die Aufgabe, Sinneseindrücke zu registrieren und zu systematisieren. In beiden Zelldiagrammen ist der Sehnerv mit der ersten Zelle direkt verbunden. Die mittlere Zelle, bei Leonardo Ort der Seele, ist vom Auge nur über diese erste zu errei­ chen, während Ohr und Nase direkt an die mittlere Zelle gekoppelt sind. Dies er­ scheint seltsam, da da s Auge seinem viel zitierten Satz nach das Fenster zur Seele ist und nun anscheinend als einziges Sinnesorgan den Umweg über die Imprensiva gehen muss. Erst auf Blatt 12603r, auf dem er den Auf bau des Kopfes in Zwiebelschichten darstellte, korrigierte Leonardo diesen Entwurf und verband die akustischen Nerven ebenfalls mit der ersten Zelle. Die olfaktorischen Nerven bildete er dort überhaupt nicht ab. Beim Schema von Blatt 12627r schrieb Leonardo folgende Worte von unten nach oben (bzw. von der ersten zur dritten Zelle) in die gezeichneten Ventrikel: inprensiva (Imprensiva), comune senso207 (Senso commune) und memoria (Gedächtnis). Bei der Zeichnung auf Blatt 12626r ergänzte er die zweite Zelle um das Wort inteletto (Intel­ lekt), und der dritten fügte er volonta (Wille) hinzu. Etwas verwirrend ist, dass die Blätter in der von Kenneth Clark etablierten Reihenfolge genau umgekehrt angeord­ net sind. Wäre dies die Reihenfolge, in der Leonardo die Zeichnungen angefertigt hat, bedeutete das, er hätte sein Schema reduziert, statt es auszubauen. Es spricht einiges dafür, die Reihenfolge der Blätter entgegen der clarkschen Nummerierung umzudre­ hen. Keele und Pedretti tun eben dies, während O’Malley und Saunders die Blattab­ folge Clarks beibehalten. 208 Wenn die Datierung der Blätter zutrifft, kann Leonardo nicht die beschriebenen peyligkschen Zellschemata von 1499 gekannt haben. Diese wiederum beruhen aller Wahrscheinlichkeit nach auf mittelalterlichen Vorbildern, die wiederum auch Leo­ nardo bekannt gewesen sein könnten. Hinzu kommt, dass Peyligk das Auge als eine Kugel zwar doppelt mit den Zellen verbunden hatte, er die Anschlüsse zwischen Sin­ nesorgan und Zellen in seiner Abbildung aber in den Ventrikelübergängen (Vermis) 207

208

In der Philosophiae naturalis des Johannes Peyligk von 1499 ist ebenfalls von ›comunis‹ die Rede. O’Malley und Saunders geben an, dass in dieser Zeichnung Leonardos im mittleren Ventrikel der Senso commune zwar gemeint ist, dort aber comocio steht, »which is probably a misspelling of conoscio indicating the center for thought«, dies. (2003), S. 366. Kein ande­ rer Experte des anatomischen Korpus bestätigt dies. Leider ist das Wort noch auf dem be­ sten Faksimiledruck unlesbar. In Keele und Pedretti (1980) wird 12627r als 4 recto bezeichnet und vor 12626r (6 recto) abge­ druckt. Allerdings spricht sich Keele zwei Jahre später für die andere Variante aus, bei der Leonardo die Begriffe reduziert hätte: »[T]he labelling of the three ventricels is different. The anterior ventricle now contains the word ›imprensiva‹ alone. […] Leonardo is clearly changing his views about cerebral (ventricular) localisation«, Keele (1983), S. 62.

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verortete, und nicht in der ersten Zelle. Indem Leonardo die Augen in seinem Dia­ gramm anatomisch richtig anordnete, vollzog er grafisch einen Schritt von einer dia­ grammatischen in Richtung einer anatomisch­topologischen Darstellung, ähnlich wie Peyligk es mit den Schädelnähten getan hatte. Die Frage ist, ob Leonardo hinter den als Funkionsschemata formulierten Inhal­ ten morphologische Formen annahm oder nicht. Auf beiden Blättern befindet sich neben den Diagrammen jeweils der räumlich dargestellte Kopf eines Mannes (mit Hals und angedeutetem Oberkörper), der darüber Aufschluss geben könnte. In der Mitte des Schädels sind die drei Zellen als kugelförmige Gebilde hintereinander auf­ gereiht. Während diese auf Blatt 12626r auch im UV­Licht kaum zu erahnen sind, sind sie auf 12627r deutlich zu sehen; auch Verbindungslinien zu Augenhöhle und Nase sind angedeutet. Diese Skizze wird um eine weitere rechts des Schemas ergänzt, die ebenfalls erst im UV­Licht erkennbar wird. Sie verschwindet fast unter einer mit di­ ckerem Strich gezeichneten Situsfigur und zeigt das vordere Viertel eines Schädels. Die Augen sind hier perspektivisch dargestellt und mit den Zellen verbunden. Leo­ nardos Bemühen, das Funktionsdiagramm in realistisch dargestellten Köpfen zu ver­ orten, es zum Teil einer Topologie des Gehirns zu machen und damit als reale anato­ mische Struktur zu etablieren, zeigt sich nur in Ansätzen. In der Entstehungszeit dieser Blätter stellte er die Zellen ausschließlich in leeren Köpfen oder Schädeln dar. Hirnzeichnungen sind aus dieser frühen Phase seiner anatomischen Studien nicht überliefert. 3. 12603r [Zwiebelschichten], vermutlich zwischen 1487 und 1500209 Die schematische Darstellung der drei Hirnkammern als hintereinander geschaltete Zellen ist eines von drei bekannten Blättern des anatomischen Werks, denen Leonar­ do nicht eigene Beobachtung, sondern Texte zugrunde legte (Abb. 31).210 Das Blatt zeigt je einen Sagittalschnitt durch Zwiebel und Kopf sowie Details und Perspektiv­ wechsel der Kopfdarstellung. Kurios ist an dieser wohl berühmtesten Hirndarstellung Leonardos, dass sie gar kein Gehirn abbildet. Wir sehen den Kopf eines nicht mehr jungen Mannes im Profil. Unter den Zwiebelschichten befindet sich ein großer Hohl­ raum. Darin sind, nur blass angedeutet, drei zusammenhängende eiförmige Kam­ mern oder Zellen dargestellt, die von der ersten zur letzten mit o, m und n gekenn­ zeichnet sind. Die Zellen stehen mit dem Auge, »which is looked upon as an extension 209

210

Besonders bei diesem Bild ist man sich über die Datierung uneinig: »On stylistic grounds Clark believes that the drawings are typical of the period ca. 1500, but the internal evi­ dence suggests a somewhat earlier date, ca. 1490«, O’Malley/Saunders (2003), S. 330. Clar­ ke und Dewhurst datieren auch auf ca. 1490, vgl. dies. (1972), S. 33. Keele vertritt die An­ sicht, das Blatt sei eines der ersten anatomischen überhaupt, datiert es auf 1487 und bespricht es noch vor 12627r und 12626r, vgl. ders. (1983), S. 61. Herrlinger gibt einen Zeit­ raum zwischen 1495 und 1505 an, vgl. ders. (1967a), S. 74. Vgl. Putscher in Baur/Bott/et al. (1984), S. 53.

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of the brain through the optic nerves«211, in Verbindung. Es ist zwischen zwei Lagen der cerebralen Membranen eingeschlossen. Im Text bezog sich Leonardo nicht auf die drei Buchstaben. Seine Vermutungen über die Inhalte der Zellen können wir nur dann bewerten, wenn wir die ersten bei­ den schon beschriebenen Funktionsdiagramme zugrunde legen. Kurioserweise be­ zeichnete Leonardo die einzelnen Schichten mit Hinweisstrichen, die er quer über die drei Zellen sowie unter ihnen hindurch verlaufen ließ. Direkt unter der großen Zeich­ nung links ist als Detail des Kopfes das von den Zwiebelschichten eingeschlossene Auge dargestellt. Rechts davon ist ein ebenfalls beschriftetes vergrößertes Detail der verschiedenen, hier horizontal geschnittenen Schichten abgebildet. Darunter sehen wir den ganzen Kopf horizontal geschnitten. Die obere Hälfte (in sehr dünnem Strich vorgezeichnet) ist nach hinten weggeklappt. Im aufgeklappten Schädel sind Seh­ und Gehörnerven erkennbar, die in die vordere Zelle münden. Um diesen Schnitt zu ver­ deutlichen, zeichnete Leonardo links daneben den unteren Teil des Kopfes von vorn gesehen. Dass er den Schnitt auf dieser Ebene – wörtlich: auf Augenhöhe – machte, ist sicher kein Zufall. Es ist belegt, dass Leonardos anatomisches Wissen nicht allein durch die eigene Sektionspraxis, sondern auch durch seine Rezeption alter und zeitgenössischer Texte beeinf lusst wurde. Er besaß sowohl eine Ausgabe der Filosofia d’Alberto Magno als auch die Anatomia Mundini und den Ketham.212 Herrlinger führt das Blatt mit den »drei Gehirnbläschen«213 als Beispiel für eine Skizze an, die Leonardo »während der Lektüre anatomischer Lehrbücher ad usum proprium gezeichnet hat«214 . Es ist allerdings unwahr­ scheinlich, dass Leonardo hier auf Galen zurückgegriffen hat, der die lateralen Ventri­ kel paarig beschrieben hatte.215 Dem Blatt liegen stattdessen offensichtlich mittelalterliche Vorstellungen zu­ grunde. Vermutlich versuchte Leonardo Avicennas216 oder Mondinos217 Beschreibung des Gehirns zu illustrieren. Die Provenienz des Zellschemas bei Leonardo ist schwer auszumachen: »At this level of his drawings it was not clear whether Leonardo was drawing the brain observed, the brain remembered, the brain read about or the brain dissected.«218 Das unten im Blatt dargestellte Zellschema im Horizontalschnitt ist im Prinzip eine sorgfältig ausgeführte Version von 12627r und 12626r. Allerdings weicht 211 212 213 214 215 216 217 218

Keele (1983), S. 61. Vgl. Reti (1972), S. II, Nr. 2. Huard führt Leonardos »inkorrekte Zeichnungen« darauf zurück, dass er »bekanntlich nicht immer seine eigenen Gedanken, sondern diejenigen seiner literarischen Quellen« wiedergab, ders. (1967), S. 55. Herrlinger (1967a), S. 72. Herrlinger (1967b), S. 83, Hervorhebung W. L. Dargestellt wurde dies z. B. von Peyligk, vgl. Abb. 24 und Abb. 26. Vgl. Clarke/Dewhurst (1972), S. 33. Vgl. Herrlinger (1967b), S. 85. Tascioglu (2005), http://www.neuroanatomy.org (16. 4. 2007).

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Abb. 31: Zellschema in Medialansicht (Zwiebelanalogie), Blatt 12603r aus Leonardo da Vincis anatomischen Studien.

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sie in einem wichtigen Punkt ab: Die akustischen Nerven sind nicht mit dem mittle­ ren, sondern ebenfalls mit dem ersten Ventrikel verbunden. Dies ist insofern bedeut­ sam, als O’Malley und Saunders daraus eine Theorie ableiten. Danach habe sich Leo­ nardo in diesem Stadium noch nicht von dem gängigen Zellschema des Mittelalters gelöst, das den Senso commune – meist zusammen mit Fantasia und Imaginatio bzw. Imaginativa – im ersten (anterior) Ventrikel verortet. Ist dies der Fall, müsste das Blatt in einer chronologischen Ordnung vor 1) 12627r und 2) 12626r platziert werden, da es als unwahrscheinlich anzusehen ist, dass Leonardo erst seine Idee des Imprensiva ent­ wickelt hatte, um dann zu einer traditionellen Anordnung zurückzukehren. Wie wir gesehen haben, beurteilen Keele und jüngst auch Kemp dies anders und weisen auch im Fall dieses Blattes der ersten Zelle, und damit dem vordersten mit Auge und Ohr verbundenen Ventrikel, dem Imprensiva zu. Anhand der Zwiebel­Analogie erklärte Leonardo die ›Technologie‹ im Kopf: »Wenn du eine Zwiebel in der Mitte durchschneidest, wirst du Schichten oder Rin­ den sehen können und zählen, die den Mittelpunkt dieser Zwiebel rundum beklei­ den.«219 Das Sinnbild vom Kopf als Zwiebel hat seinen Ursprung in der Sektionstech­ nik Leonardos. Dort heißt es weiter: »Ähnlich wenn du durch die Mitte des Kopfes eines Menschen schneidest, du wirst erst das Haar, dann die Kopf haut, dann das Mus­ kelf leisch und Perikranium und dann den Schädel und innen die Dura mater, die Pia mater und das Gehirn schneiden; dann wieder die Dura mater und das Rete mirabile und dann den Knochen, ihre Grundlage.«220 Die Unterschiede zwischen den genann­ ten, in Struktur und Stärke differierenden Schichten sind im Bild nivelliert. Das Bild gleicht in seinem schematischen Aufriss einer Konstruktionszeichnung und hat eben diese Funktion: Es offenbart dem Betrachter nicht, wie der Kopf von innen aussieht, sondern wie er Leonardos Meinung nach funktionierte. Ob er sein Wissen um diese Funktion der Lektüre Galens oder Mondinos verdankte, ist für die Bildfunktion un­ erheblich. 4. 12603v [Brillenstudien], ca. 1490 Wer noch nie von der Zelldoktrin gehört oder Bilder von ihr gesehen hat, könnte meinen, Leonardo hätte auf diesem Blatt versucht, Sehhilfen zu entwerfen (Abb. 32). Die Brillengestelle entpuppen sich aber als Zellschemata, bei denen der Kopf von vorn und leicht schräg von oben dargestellt wurde. In der mittleren, größten Skizze entpup­ pen sich drei übereinander liegende, miteinander verschmolzene Halbkreise als die drei Zellen, dargestellt in perspektivischer Verzerrung. Der Nasensteg der Brille ent­ spricht der zwischen den Augen und der ersten Zelle (Imprensiva) liegenden Verbin­ dung durch die Sehnerven. Bei den beiden kleineren Köpfen rechts oben und links 219 220

Leonardo, 12603r, zit. nach Keele/Pedretti (1980), S. 70. Über die Schichten der ›Hirn­ Zwiebel‹ schrieb Leonardo auch im Codex Foster III, 27v bis 28r. Ebd.

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Abb. 32: Zellschema in der Ansicht von vorn (›Brillenstudien‹), Blatt 12603r aus Leonardo da Vincis anatomischen Studien.

fehlen die Zellen. Stattdessen sind die akustischen Nerven hinzugefügt, die sich auf der Mitte der eingezeichneten horizontalen Schnittf lächen nahezu treffen. Es wirkt, als habe Leonardo hier zeichnerisch überlegt, welche der Nervenbahnen auf welche der ersten beiden Hirnzellen treffen. Wie im aufgeklappten Kopf unten in Blatt 12603r (Zwiebelschichten) fehlen auch hier die olfaktorischen Nerven. Die zu unterst liegende Skizze zeigt ein Triptychon möglicher Horizontal­ schnitte, die Leonardo in anderen Skizzen verwendete. Für Leonardo waren sie »eine Übung in der Transformation, bei der die Projektion einer Vorderansicht zum Auf­ bau von Ansichten auf schräge Ebenen verwendet werden kann«221. Zur Anwendung kam diese Übung beispielsweise etwa 20 Jahre später auf Weimar verso, dem so genann­ ten ›Weimarer Blatt‹.

221

Ebd.

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5. 19052r [Chiasma opticum], ca. 1504–1506 Auf diesem hier nicht abgebildeten Blatt stellte Leonardo die Hirnnerven und erst­ mals überhaupt das Chiasma opticum (die Sehnervenkreuzung) dar.222 Im dazugehö­ rigen Text beschrieb er das Vorgehen bei der Präparation von Hirnnerven: Entferne die Hirnsubstanz von den Grenzen der Dura mater, die zwischen dem Schädelbasisknochen und der Hirnsubstanz liegt. Notiere dir dann alle Orte, an denen die Dura mater in den Schädelbasisknochen eindringt, mit den in sie einge­ hüllten Nerven und zusammen mit der Pia mater. Und du wirst solche Kenntnisse erlangen, wenn du nach und nach die Pia mater aushebst, wobei du bei den Rän­ dern beginnst und allmählich die Lage der oben erwähnten Perforation notierst, und dabei zunächst von rechts oder links beginnst und dies in seiner Gänze auf­ zeichnest; dann wirst du die gegenüberliegende Seite verfolgen, die dir Kenntnis darüber geben wird, ob die vorige richtig lag oder nicht. Darüber hinaus wirst du verstehen lernen, ob die rechte Seite gleich ist der linken, und wenn du Unter­ schiede feststellst, überprüfe andere Anatomien, um zu sehen, ob solche Varietät universell ist bei allen Männern und Frauen.223

Dieser Abschnitt verdeutlicht verschiedene Punkte. Es lässt sich hier gut nachvollzie­ hen, wie Leonardo eine Hirnsektion durchführte. Der Text zeigt, dass er sich wäh­ rend der Arbeit fortwährend Notizen und wahrscheinlich auch Skizzen machte. Die drei Einzelfiguren des Blattes, von denen eine die Blutzufuhr zum Uterus visualisiert, sind so aufgebaut, dass die Symmetrie der Organzusammenhänge augenfällig wird. Aus dem Text erfahren wir, dass es Leonardo, der einen ausgeprägten Hang zu Sym­ metrien hatte, den er auch in seinen anatomisch motivierten Körperdarstellungen auslebte, dennoch bewusst war, dass der anatomische Körper kein symmetrisches Ge­ bilde ist. Außerdem lernen wir, dass die vergleichende Anatomie bei ihm nicht auf den Mensch­Tier­Vergleich beschränkt blieb, sondern dass er das Individuelle jedes einzelnen Körpers sah. Zwar ging er nicht so weit, etwa ein weibliches Gehirn als solches zu beschreiben, dennoch versuchte er, Geschlechterunterschiede über die Reproduk­ tionsorgane hinaus auszumachen. 6. 19127r [Wachsventrikel], ca. 1504–1507224 Auf der linken Seite dieses Blattes sehen wir zwei Bilder, einen Horizontal­ und einen Sagittalschnitt durch das Gehirn, die die anatomische Lage der Hirnventrikel thema­ tisieren (Abb. 33). An dieser Stelle ist es gerechtfertigt, nicht von Zellen, sondern von 222 223 224

Vgl. Huard (1967), S. 67. Leonardo, 19052r, zit. nach Keele/Pedretti (1980), S. 168. Carlo Pedretti datiert dieses Blatt auf ca. 1508–1509, vgl. Pedretti in Hamburger Kunsthal­ le (1979), S. 31.

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Abb. 33: Hirnventrikel aus verschiedenen Perspektiven, Blatt 19127r aus Leonardo da Vincis anatomischen Studien.

Hirnventrikeln zu sprechen, da sie nicht mehr als drei Kammern oder Zellen, sondern in ihrer eigentlichen anatomischen Form dargestellt werden. Als wohl beste Darstel­ lung, die zu jener Zeit vom Kortex existierte, kann die kleine Skizze eines aus der Aufsicht dargestellten Gehirns gelten, die, nur blass vorgezeichnet, über den Ventri­ keldarstellungen angeordnet ist. Hier diente ein Ochsenhirn als Vorlage, was bei ge­ nauer Untersuchung an der Struktur der Sulci und Gyri erkennbar ist.225 Rechts ne­ 225

Vgl. O’Malley/Saunders (2003), S. 340.

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ben dieser feinlinigen Zeichnung befindet sich das von Blatt 12626r und Blatt 12627r vertraute dreizellige Schema sowie eine Darstellung der Hirnventrikel. Die Zeich­ nung rechts unten im Blatt stellt ein Gehirn aus der Untersicht dar, in das Leonardo die auffällige Struktur eines Rete mirabile eingefügt hat. In dessen Mitte befindet sich das Infundibulum oder die Lacuna cerebri.226 Darunter sind zwei blasse Vorzeich­ nungen zu diesem Bild zu erahnen. Als Objekte selbst durchgeführter Sektionen von Gehirn und Herz, »the two key centres of human life«227, hatte Leonardo, wie bereits Galen, Tiere gewählt. Die Möglichkeiten der vergleichenden Anatomie nutzte er auch in experimenteller Hinsicht. Durch Versuche mit Fröschen erkannte Leonardo, dass das Rückenmark lebensnot­ wendig ist.228 Die präparierten Ventrikel auf diesem Blatt sind als die eines Ochsen­ hirns identifiziert worden.229 Dass Leonardo hier das Rete mirabile nicht schema­ tisierend (wie nach ihm z. B. Dryander) darstellte, sondern als anatomische Struktur, lässt vermuten, dass es sich bei der Vorlage für die Abbildung der Hirnbasis unten rechts ebenfalls um ein Ochsenhirn handelte. In der selben Zeichnung deutete er Stirn­, Schläfen­ und Hinterhauptslappen an. Das Kleinhirn, das er auf keinem ande­ ren anatomischen Blatt darstellte, ist deutlich abgegrenzt. Die kleine Zeichnung über der Hirnbasis mit dem Rete mirabile zeigt möglicherweise den Vermis cerebellum (Kleinhirnwurm).230 Um die Form der Ventrikel zu bestimmen, hatte Leonardo eine Methode ent­ wickelt, bei der er f lüssiges Wachs injizierte. Zuvor mussten kleine Röhrchen in die Kammern eingeführt werden, damit die Luft entweichen konnte, wenn das Wachs hineinlief. Sobald es fest war, konnte das Gehirn, das die Ventrikel umschließt, abge­ tragen werden. Übrig blieben als autarke morphologische Formen herauspräparierte Wachsventrikel, wie in der kleinen Zeichnung oben rechts im Blatt dargestellt. Der laterale Ventrikel, nun paarig dargestellt, erstreckt sich über den dritten und vierten Ventrikel bis ganz zum Hinterhauptslappen. So wurden Senso commune und Seelen­ sitz von der ehemals zweiten Zelle in den mittleren, den dritten Ventrikel verlegt, behielten aber zugleich ihren Ort bei, denn der erste und zweite Ventrikel wurden wie ein einziger behandelt. Anschlüsse für Hirnnerven sind nicht zu sehen, allerdings bilden die ehemaligen Zellen kein in sich geschlossenes System mehr. Sie sind über den dritten Ventrikel nach außen geöffnet.

226 227 228 229 230

Lacuna lat., Loch. Durch diese Öffnung läuft nach Galen das Phlegma ab, ein Abfallpro­ dukt des Gehirns, das nachts über die Nase ausgeschieden wird. Kemp (2004), S. 94. Vgl. O’Malley/Saunders (2003), S. 29. Vgl. Huard (1967), S. 66. Vgl. O’Malley/Saunders (2003), S. 340 und Kapitel 3.2.4.

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Die Schraffur in dieser Skizze wie auch im großen Bild links unten kennzeich­ net die Hirnhöhlen nicht als solche. Leonardo zeigte im Gegenteil das Gehirn ledig­ lich als dunkle höhlenartige Grundierung für räumlich ausgeformte Ventrikel. Grund dafür, dass die Hörner der Seitenventrikel auf diesem zwischen 1504 und 1507 ent­ standenen Blatt fehlen, ist der Umstand, dass er damals noch keine Möglichkeit hatte, das Gehirn zu konservieren oder so zu präparieren, dass es während der Sektion nicht kollabierte.231 In den Texten dieses Blattes erklärte Leonardo die Wachsinjektionsmethode ausführlich. Dabei zeigt sich, dass für ihn zumindest zu diesem Zeitpunkt die Zellen mit ihren entsprechenden Seelenvermögen und die anatomischen Ventrikel kongru­ ent sind. Verdeutlicht wird das noch dadurch, dass er diesen Lehrgang in praktischer Anatomie als Methode betitelt, den Senso commune zu zeichnen: »[F]ülle geschmol­ zenes Wachs mit einer Spritze ein, indem du ein Loch in die Gedächtniskammer machst.232 Leonardo beschriftete die Zeichnung der präparierten Ventrikel mit den schon in den Zellschemata verwendeten Begriffen Imprensiva, Sensus communis und Memoria. Indem er so vorging, schuf er ein visuelles Zwischenglied, das den Sprung vom mittelalterlichen Hirnbild zu dem der Neuzeit in eindrücklicher Weise verdeut­ licht. Leonardo wird zum wichtigsten Vertreter einer Phase, die Clarke und Dewhurst als transitional period beschreiben: »This is a remarkable example of the Transitional Period, medieval physiology superimposed upon Renaissance anatomy.«233 Wie sehr die zusammenhängende äußere Form der Hirnkammern bei Leonardo zum Muster geworden ist, zeigt sich auf dem oben erwähnten Blatt 12669v. Dort be­ findet sich eine solche Form auf einer Seite unter vielen anderen kleinstformatigen Skizzen, die (mit Ausnahme einer weiteren anatomischen Skizze) über fünfzig pikto­ grammartige geometrische Formen oder technische Zeichnungen zeigen. 7. 12602r ca. 1490–1500 oder 1504 234 und 8. 19070v ca. 1504–1509 [Studien zum ›Weimarer Blatt‹] Beide Blätter scheinen Vorstudien zum ›Weimarer Blatt‹ zu sein. Das erstgenannte enthält drei Einzelzeichnungen (Abb. 34). Jede zeigt ein Gehirn als Gebilde mit einer nicht spezifisch definierten Umrisslinie. Von der Hirnbasis aus führen Sehnerven zu den Augen, das olfaktorische Nervenpaar läuft über den Augen nach vorne und wei­ tere Hirnnerven weisen nach unten ins leere Blatt. Erst auf späteren Abbildungen, als Leonardo sich stärker mit Galens Beschreibungen von sieben Cranialnervenpaaren befasst hatte (die olfaktorischen Nerven fielen für ihn nicht darunter), korrigierte er 231 232 233 234

Vgl. Tascioglu (2005), http://www.neuroanatomy.org (16. 4. 72007); Huard (1967), S. 66f. Vgl. Leonardo, 19127r, zit. nach Keele/Pedretti (1980), S. 332. Clarke/Dewhurst (1972), S. 51. O’Malley und Saunders halten die von Clark mit 1504 angegebene Jahreszahl aufgrund des anatomischen Inhalts für unrealistisch, vgl. dies. (2003), S. 336. Sie datieren beide Bätter vor 19127r (Wachsventrikel).

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Abb. 34: Hirnventrikel in Medialansicht, Blatt 12602r aus Leonardo da Vincis anatomischen Studien.

Anzahl und Verlauf der Nerven.235 Das mittlere Gehirn enthält Ventrikel, die hier durch dunkle Schraffur als Aushöhlung kenntlich gemacht sind. Der laterale Ventri­ kel ist unpaarig abgebildet. In der rechten Zeichnung wird das angedeutete Gehirn von der Umrisslinie eines Schädels und Gesichts eingerahmt. Die Hirnskizze links ist nahezu identisch mit einer auf Blatt 19070v: eine halb­ kugelige glatte Hirnform mit Augen und verschiedenen Nervenpaaren, deren Enden mit Buchstaben gekennzeichnet sind. Rechts daneben finden wir eine Darstellung der herauspräparierten Wachsventrikel als eigenständige Form, ähnlich der auf Blatt 19127r (Wachsventrikel). Im vorliegenden Fall wurden sie um das Chiasma opticum ergänzt. Ein Augenpaar führt an den Sehnerven zum ersten paarigen Ventrikel, an den ebenfalls Geruchs­ und Geschmacksnerven angeschlossen sind. Weitere Hirnner­ ven verlaufen, immer blasser werdend, von den Ventrikeln nach unten. Wie im Ver­ gleichsbild von Blatt 19127r ist der mittlere Ventrikel zur Hirnbasis hin geöffnet und vom vierten Ventrikel aus scheinen ebenfalls Nervenbahnen ohne erkennbaren Ziel­ punkt nach unten zu verlaufen. Möglicherweise handelt es sich aber auch um die Dar­ stellung einer Spritze, mit der von der Hirnbasis aus Wachs in den vierten Ventrikel injiziert wurde.

235

Vgl. ebd., S. 336.

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9. Weimar verso bzw. Weimarer Blatt, ca. 1508–1510236 Keele bemerkt, dass keines von Leonardos noch existierenden Hirnbildern auf einen Zeitpunkt nach 1508 datiert sei, obwohl die produktivste Phase seiner anatomischen Forschung und die besten seiner Zeichnungen in die Zeit zwischen 1508 und 1514 fallen: »In Volume II of the Windsor Anatomical Corpus drawings of the brain are conspicuous by their absence«.237 Auf ein Blatt, das nicht Teil dieses Kodex’ ist, son­ dern das als Teil der Kunstsammlung zu Weimar im dortigen Schlossmuseum auf be­ wahrt wird, trifft dies nicht zu (Abb. 35). Dort wird das Blatt auf ca. 1510 datiert. Es enthält neben einer Darstellung des männlichen Urogenitaltraktes zwei Zeich­ nungen, bei denen sich Leonardo mit dem Zusammenhang von Nerven und Gehirn befasste. Die obere Zeichnung zeigt einen Sagittalschnitt, wie wir ihn von 12603r (Zwiebelschichten) her kennen. Allerdings sind hier keine Zellen, sondern, dem dama­ ligen Wissensstand Leonardos entsprechend, durch Abgussverfahren ermittelte Ven­ trikel dargestellt. Diese schweben nicht in einem leeren Kopf, sondern sind Teil eines Gebildes, das nur durch seine Position und ungefähre Form als Gehirn zu erkennen ist. Diese Form tritt als Zusammenballung in Erscheinung, aus der Nerven heraus­ wachsen, die zu den Sinnesorganen führen, vergleichbar mit den Zeichnungen auf 12602r und 19070v. In der unteren Zeichnung visualisierte Leonardo die Verbindung der Hirnner­ ven zur Schädelbasis. Hier setzte er seine Idee, körperbauliche Spezifika wie tech­ nische Konstruktionszeichnungen aufzubauen, in perfekter Weise um.238 Er tat dies, indem er den Kopf mit einem Horizontalschnitt auf Höhe der Augenbrauen teilte und den oberen Teil des Kraniums wie einen Deckel nach oben gezogen darstellte. Den unteren Teil des Kopfes sehen wir dadurch schräg von oben, den oberen schräg von unten. Die Hirnrinde wird nicht dargestellt. Das Gehirn ist nicht viel mehr als ein geäderter Klops, der durch die Kraft der Nerven aus dem unteren Teil des Schädels gesprengt zu werden scheint. Dieser Eindruck entsteht dadurch, dass vom Hirn aus alle Nerven wie gespannt nach unten zeigen. Eine Ausnahme bilden die Sehnerven, an deren Enden die Augen wie Kugeln nach vorne gerichtet sind. Optisch stellen sie eine Verbindung zum unteren Teil der Hirnhöhle her. Die Sulci und Gyri wurden auch hier nicht ausgearbeitet. Das halbrunde Gehirn scheint fast glatt zu sein; an sei­ ner Oberf läche sind nur Adern eingezeichnet. Herrlinger stellt diese ›Konstruktionszeichnung‹ einem anderen Blatt Leonardos gegenüber, auf dem er Patronen(hülsen) in ähnlicher Weise darstellte.239 Dadurch verdeutlicht er einmal mehr den mechanistischen Blick, den Leonardo auf Körperbau und ­funktionen hatte. 236 237 238 239

1508: vgl. Keele (1983), S. 67; 1510: vgl. White (2004), S. 326. Keele (1983), S. 241. Vgl. Herrlinger (1967b), S. 101f. Vgl. ebd., S. 99.

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Es zeigt sich, dass Leonardos Interesse in erster Linie den Nerven galt, auch wenn im Text vom Gehirn die Rede ist: Wenn du eine Zeichnung des Gehirns anfertigst, verbinde alle Nerven, die vom Gehirn zu den Perforationen hinunterführen, die sie im Schädelbasisknochen ma­ chen. Und dies ist das richtige Verfahren, um die wirkliche Lage der Nerven in ihren oberen Teilen und ihren unteren Teilen zu zeigen. Dann wirst du eine ähnliche zu dieser anfertigen, diesmal von oben. Daneben wirst du eine Zeichnung anferti­ gen, die das Gehirn mit allen seinen Nerven darstellt, die von ihm hinunterführen, und zwar vollständig; und tue dies aus vier Aspekten.240

Warum ignorierte Leonardo den anatomischen Bau des Gehirns und seine äußere Struktur, obwohl er sie, wie die blasse Zeichnung auf Blatt 19127r oben zeigt, durch­ aus richtig gesehen hatte und darzustellen vermochte? Sehr wahrscheinlich hat er in Anlehnung an seine antiken und mittelalterlichen Lehrer dem Kortex weder in Form noch in Funktion eine Bedeutung zugemessen. Entscheidend war für ihn die Erfor­ schung der Nerven und deren Verbindung mit den Ventrikeln. Im Gegensatz zur mittleren Zeichnung auf Blatt 12602r, die eine Verbindung der Augen mit dem dritten Ventrikel lediglich andeutet, sind sie in diesem Falle konkret nachvollzogen. Die Au­ gen stehen mit dem Senso commune in unmittelbarem Kontakt. Aus heutiger Sicht scheint unverständlich, warum Leonardo die äußere Form des Gehirns, des Organs wie es heute gesehen und dargestellt wird, vernachlässigt hat. Dabei ist dies einmal mehr ein Beispiel dafür, dass anatomische Bauteile, denen keine Funktion zugeschrieben wurde, bis zu einem bestimmten Grad ignoriert wurden. Auch Leonardo, der ein Meister anatomischer Visualisierung war, ging Funktion vor Form. Diese Praxis des form follows function, heute ein Diktum des Designbereichs, war zu Leonardos Zeit ein Schritt auf dem Wege wissenschaftlicher Erkenntnis. Was heu­ te Wissensdesign ist, wurde aus einer anatomischen Visualisierungspraxis des 16. Jahr­ hunderts geboren. * Leonardos anatomisches Werk stellt innerhalb des Kanons früher anatomischer Abbil­ dungen in vielfacher Weise eine Ausnahme dar. Ein Grund dafür ist auch darin zu sehen, dass es zu seinen Lebzeiten nicht in gedruckter Form erschien. Obwohl es Plä­ ne zu einem umfassenden anatomischen (Druck)Werk gab, fertigte Leonardo die

240

Leonardo, Weimar verso, zit. nach Keele/Pedretti (1980), S. 166. Unter »Aspekten« sind bei Leonardo Perspektiven zu verstehen.

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Abb. 35: Hirnventrikel in Medialansicht, Weimar verso aus Leonardo da Vincis anatomischen Studien.

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Zeichnungen und Texte wohl in erster Linie für sich selbst an.241 Das hatte zur Folge, dass seine Zeichnungen keinerlei Modifikation durch Übertragung oder Druck un­ terliegen. Sie waren nur wenigen seiner Zeitgenossen gezeigt geworden. Dadurch konnten sie kaum jemandem als Vorlage für eigene Zeichnungen gedient haben und nur sehr begrenzt in den Kreislauf zeitgenössischer Wirkung kommen. Erst im ausge­ henden 18. Jahrhundert fand man den größten Teil des anatomischen Werks in Eng­ land. War es dennoch möglich, dass sie bereits seit dem 16. Jahrhundert sowohl stili­ stisch als auch inhaltlich Einf luss auf einen europäischen Kanon anatomischer Bilder ausübten? Es sind wenige Künstler, deren Arbeit nahelegt, dass sie Leonardos anatomische Blätter zu sehen bekommen hatten. Huard nennt den Sekretär des Kardinals Louis d’Aragon, Antonio de Beatis (1475–1519), und Albrecht Dürer (1471–1528). Dürer zeichnete sogar einige der Blätter ab. Nach Leonardos Tod sahen sie Vasari und La­ mazzo242 . Darüber hinaus ist nichts gesichert. Herrlinger, Huard und andere Leonar­ do­Experten haben in den 1960er Jahren versucht nachzuweisen, dass Berengario oder Vesal Leonardos Arbeiten gekannt und genutzt hatten. Wirklich sicher ist dies wohl nicht, auch wenn einige Bilder solche Zusammenhänge nahelegen (vgl. Abb. 38 und 39).243 Sigrid Braunfels­Esche geht davon aus, dass Leonardos Ideen in Vorlesungen an oberitalienischen Universitäten verbreitet, und Kopien in Form von Skizzen weiter­ gereicht worden sind. Die »fortzeugende Wirkung seiner naturwissenschaftlichen Illustrationsmethoden« sei demnach »in der mündlichen Weitergabe seines Gedanken­ guts« zu suchen.244 Diese machte es möglich, dass die Bildideen nicht erst durch die Reproduktion in neueren Druckverfahren als Teil allgemeiner Wahrnehmung wei­ terentwickelt werden konnten, sondern schon lange vorher einen Einf luss ausübten, dessen genaue Ursprünge und Überlieferungen heute kaum noch nachvollziebar sind. Leonardos anatomische Bilder hatten in seinen Augen wohl vor allem didak­ tische Funktionen, d. h. er richtete sich an Künstler, Mediziner und sogar Drucker. Seine diesbezüglichen ›Lehrabsichten‹ werden wiederholt in den dazugehörigen Tex­ ten angeführt.245 In der vorligenden Arbeit sind Bildfunktionen zum einen als auf 241 242 243 244 245

Keele ist der Ansicht, die Notizen seien hauptsächlich für den eigenen Bedarf verfasst wor­ den. Leonardo wende sich in seinen Notizen nicht an künftige Leser, sondern an sich selbst, vgl. Keele in Keele/Pedretti (1980), S. xxix. Möglicherweise handelt es sich um Gian Paolo Lamazzo. Die Lebensdaten habe ich nicht ermitteln können. Vgl. Huard (1967), S. 78; Herrlinger (1967a), S. 72 und 81f.; ders. (1967b), S. 89. Braunfels­Esche (1961), S. 60. Braunfels­Esche hat Leonardo­Zitate, die sich an die Adressaten dieser Lehrabsichten wenden, unter folgenden Gesichtspunkten gesammelt: für Künstler, für medizinische Zwecke, ganz allgemein für Lehrzwecke und für Druckverfahren, vgl. Braunfels­Esche (1961), S. 71f.

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Außenwirkung gerichtete Bezugspunkte beschrieben, die Bilder bei der Rezeption im wissenschaftlichen Kontext entfalten. Hier ist zu fragen, welchen Ertrag der Be­ trachter aus ihnen ziehen kann. Zum anderen geht es darum, wie durch das Herstel­ len von Bildern Erkenntnisse (z. B. über funktionale Zusammenhänge) gewonnen werden, d. h. darum, wie sich jemand ein Bild von einer Sache macht. Wenn wir die im zweiten Kapitel aufgelisteten Funktionen durchgehen, führen uns viele der unter den einzelnen Punkten zusammengefassten Ideen immer wieder zu Leonardos Zeich­ nungen. In seinen anatomischen Studien entwickelte er eine große Zahl der visuellen Verfahren, die noch heute in anatomischen Atlanten verwendet werden. Zentrales Bild für seine Arbeitsweise ist die Darstellung und Metapher der Zwiebelschichten. Keele und Pedretti sind der Meinung, dass Leonardo die Illusion entstehen lassen wollte, seine Abbildung voller überlieferter Fehler entspräche der Wahrheit.246 Diese Bemerkung führt zu zwei entscheidenden Punkten. Zum einen ist vielfach angenommen worden, die anatomische Abbildung hätte sich in stetigem qua­ litativen Fortschritt hin Realismus etwa einer Fotografie entwickelt. Zum anderen offenbart sich hier erneut die Vorstellung, dass ein wissenschaftliches Bild letztlich ›Wahrheit‹ darstellen kann. Trotz aller Fortschrittlichkeit der Herangehensweise und Meisterschaft der Zeichenkunst widersprechen Leonardos Bilder solchen positivisti­ schen Vorstellungen. Er suchte die geistige Nähe zu seinen Vordenkern und bildete seine Vorstellungen von Seele und Bewusstsein im Rekurs auf ihre Bilderwelt ab. Für Leonardo war etwas ganz anderes entscheidend: Ihm ist es gelungen, »in Bildern die Bewegung des Denkens zu erfassen«247. In Bezug auf seine Abbildungen des Gehirns kann dieser Satz Fischers im doppelten Sinne verstanden werden: Dies zeigt sich zum einen in Leonardos Fähigkeit, sich mit der Zeichnung auf ein inneres Bild, also auf ein Urbild oder einen Archetypus zuzubewegen.248 Zum anderen gelang es ihm, das tradierte Wissen von der Zelldoktrin aufzunehmen, sich anzueignen, und es schließlich der eigenen Forschung unterzuordnen. In Hinblick auf die neue Kennt­ nis körperlicher Strukturen (der Ventrikel) wagte er den Versuch, sich zeichnerisch dem Denken als Hirnfunktion anzunähern. Das Denken ist nach unserem heutigen Verständnis nicht reduzierbar auf Abbildungsmodelle. Trotzdem wird am Beispiel Le­ onardos augenfällig, dass, so Fischer, »die Kunst eine notwendige Bedingung zur Her­ stellung eines neuen Bewußtseins sein kann, von dem die zukünftige Wissenschaft ihre Bilder – und damit sowohl ihre Einsichts­ als auch ihre Kommunikationsfähig­ keit – bezieht«249 . Im Folgenden werden in Holz geschnittene Hirnbilder aus der Zeit des frühen Buchdrucks beschrieben. Dabei wird deutlich, welche bildlichen Traditionen der 246 247 248 249

Vgl. Keele/Pedretti (1980), S. 70. Fischer (2002), S. 39. Vgl. ebd. Ebd.

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Scholastik sich bis in die Renaissance hinein erhalten haben. Die Hirnforschung gab es im heutigen Verständnis einer spezialisierten Wissenschaft damals noch nicht. Den­ noch wird hier fortan jener Teil der anatomischen Forschung als Hirnforschung bezeichnet, der sich mit dem Gehirn befasst. Interessierte erlangten ihr Wissen nicht mehr ausschließlich durch das Studium kanonischer Texte. Es wurden zunehmend Bilder des menschlichen Körpers produziert. Diese Darstellungen schoben die For­ schung an, da entweder das Interesse, selbst Sektionen durchzuführen, nicht vorhan­ den war, oder aber geeignete Leichname nicht in ausreichender Anzahl zur Verfü­ gung standen. Die Rolle des Bildes für die anatomische Forschung wurde offenkundig, denn, so Charles Singer, der »menschliche Geist ist praktisch nicht in der Lage, komplexe biologische Phänomene, die dreidimensional beschrieben werden, außer in Verbin­ dung entweder mit dem Objekt oder leidlich guten Zeichnungen zu erfassen«250 . Wie wir am Beispiel Leonardos gesehen haben, ermöglichte erst die Entwicklung der Zentralperspektive diese Art von Abbildung.

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Singer (1969), S. 327.

T R A NSITION – BER ENGA R IO U N D DRYA N DER Dass die anatomische Ikonographie nicht erst mit den Holzschnitten in Anatomien und Traktaten des ausgehenden 15. Jahrhunderts ihren Anfang nahm, haben die vor­ hergehenden Kapitel gezeigt.251 Doch auch wenn das 16. Jahrhundert als Blütezeit der Anatomie gilt, enthalten nicht alle anatomischen Werke dieser Zeit Abbildungen und nur wenige solche des Gehirns.252 In diesem Kapitel konzentrieren wir uns auf Jacopo Berengario da Carpi 253 (1460–1530) und Johannes Dryander (1500–1560), die neben Leonardo wichtigsten Vertreter der Transitions­Phase, die das Bild vom Hirn zu Beginn des 16. Jahrhunderts entscheidend prägten. Neben Berengario und Dryander schrieben in dieser Zeit noch andere über das menschliche Gehirn, die in der vorliegenden Arbeit nicht näher behandelt werden. Zu nennen sind beispielsweise die Werke von Niccolò Massa (1480–1569), Jacques Dubois und Johannes Winter von Andernach 254 (ca. 1505–1574). Letzterer veröffentli­ chte die Schrift Institutiones anatomicæ secundum Galenum ad candidatos medicinæ 1536 in Paris. Zwei Jahre später gab Vesal diese Schrift in Basel neu heraus und verwendete verschiedene Abschnitte zum Gehirn 1543 in der Fabrica.255 BE R ENGA R IO

Berengario da Carpi war Sohn eines Barbiers und Chirurgen und hatte den Umgang mit dem Skalpell von frühester Kindheit an gelernt. Privaten Unterricht bekam er erst als junger Erwachsener. Sein Kunst­ und Medizinstudium an der Universität von Bo­ logna schloss er im Alter von fast dreißig Jahren ab. Interessant an diesem Lebenslauf ist die Tatsache, dass Berengario erst Praktiker, also Chirurg war, bevor er die theore­ tischen Grundlagen anatomischen Wissens erlernte.256 Der Tractatus de fractura calve sive cranei von 1518 war das erste Buch, in dem Be­ rengario Illustrationen verwendete. Sie zeigen allerdings nicht das Gehirn, sondern lediglich chirurgische Instrumente. Dieses Handbuch gibt dennoch einen Einblick in die hirnchirurgische Praxis jener Zeit. Es enthält z. B. genaue Handlungsanweisungen darüber, wie das Gehirn bei Verwundung zu versorgen war: Berengario empfahl, die Wunde zunächst mit warmer Muttermilch und in Wein gekochten roten Rosenblät­ tern zu reinigen und dann mit in Rosenöl und Honig getränkten Bandagen zu fül­ 251 252 253 254 255 256

Vgl. auch Huard (1967), S. 76 sowie diverse Darstellungen von Sudhoff und Herrlinger. Beispiele abbildungsloser Anatomien sind Zerbi (1502), die Straßburger Mondino­Ausga­ be: Mondino (1513) und Benedetti (1528). Er wurde auch Barigazzi, Carpensis oder Carpus genannt. Oft irrtümlich als Johann Guenther von Andernach (Guintherus Andernacus) bezeichnet. Vgl. Singer (1980), S. xxv. Vgl. Felbel (1989), S. 91.

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len.257 Die Behandlung des verletzten Gehirns mit Rosenöl empfiehlt auch Hierony­ mus Fabricius ab Aquapendente (1533–1619) in der Wund=Arznei von 1684, einem Handbuch über Chirurgie und Wundheilung. Auch dieses Buch enthält keine Bilder, ebenso wenig wie Brunschwigs Thesaurus Pauperum, eine Hauß Apoteck, in der er allen »menschen die ein kranck Hirn haben« empfahl, Bohnen zu meiden, da diese »das Hirn schwinden« ließen und krank machten.258 In mittelalterlichen Handschriften finden wir dagegen verschiedene illustrierte Behandlungsmethoden von Kopf­ bzw. Hirnverletzungen.259 Allerdings wurde das zu behandelnde Organ nie im Detail dar­ gestellt, sondern lediglich der Patient zusammen mit dem Chirurgen, der meist mit einem oder mehreren Instrumenten ausgerüstet war. Bereits bevor Berengario 1522 seine beiden Ansichten vom Gehirn veröffent­ lichte hatte, wurden erste Schritte vollzogen, das Organ aus seiner körperlichen Fas­ sung zu lösen. Im Spiegel der Artzny260 von 1518 hatte Lorenz Fries (Laurentius Frisius, Phryes, Phryesen, 1490–1531) ein Blatt unbekannter Herkunft abgedruckt (Abb. 36). Es ist mit Anatomia corporis Humani und der Jahreszahl 1717 überschrieben. Im Mittel­ punkt steht ein männlicher Körper mit geöffnetem Brust­ und Bauchraum. Um ihn herum sind Figuren einzelner Sektionsschritte des Gehirns angeordnet, die zwar je­ weils im Schädelknochen verankert, jedoch vom Körperganzen abgetrennt sind. Auf­ grund ihrer geringen Größe sind die einzelnen Sektionsschnitte nicht besonders de­ tailliert dargestellt, lassen aber dennoch Einzelheiten erkennen: die Großhirnrinde mit der Fissura longitudinalis cerebri, in Figur 4–6 das Chiasma opticum, und in der sechsten Figur, wo das Gehirn aus der Schädelbasis nach oben gezogen wird, wodurch noch weitere Hirnnerven sichtbar werden, so wie wir es von Leonardos Weimar verso kennen (vgl. Abb. 35). Zudem werden mit zwei langen Nägeln, mit deren Hilfe ein innen liegendes, längliches Gebilde angehoben wird, Hilfsmittel der Sektion visuali­ siert. Braunfels­Esche sieht in dieser Darstellung »im Vergleich zu allem Vorangegan­ genen, wenn wir von Leonardo absehen, eine Revolution innerhalb des Gedruckten«. Das Bild lege die Frage nahe, »ob sich nicht zu gleicher Zeit, doch unabhängig von Leonardo, in Deutschland eine eigene, fortschrittliche anatomische Illustration he­ rangebildet hatte«.261 1521 erschien Berengarios Kommentar zur Anatomie Mondinos von 1316.262 Wie schon in seinem Werk über die Frakturen des Schädels bezog sich Berengario auf 257 258 259 260 261 262

Vgl. Berengario (1990), S. 114f. Brunschwig (1570), S. 14. Vgl. MacKinney (1965), S. 66ff. und S. 235ff. Lorenz Fries, Spiegel der Arzny des gleichen vormals nie von keinem doctor in tütsch ußgangen ist nützlich und gutt allen denen so d’artzt radt begerent / auch den gestreiffelten leyen / welche sich und erwinden mit artznei umb zegon […], Straßburg 1519. Braunfels­Esche (1961), S. 61. Jacopo Berengario da Carpi, Commentaria cum amplissimus additionibus super Anatomia Mundini, Bologna 1521.

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Abb. 36: Eingeweidesitus aus Fries’ Spiegel der Artzny von 1518.

Galen, Avincenna und zahlreiche andere. Das Beispiel Leonardos zeigt, dass es nicht unüblich war, Mondino als Autorität auf anatomischem Gebiet zu Rate zu ziehen. Für Berengario war dies laut French der beste Text ob seiner Kürze und des umfas­ senden Inhalts: »short enough to be read in the necessarily short period of a dissection, and it covered all parts of the body«263. Er gab Mondinos Schrift 1521 in gedruckter Form und um seine eigenen anatomischen Entdeckungen ergänzt als Kommentar he­ raus. Das menschliche Gehirn betreffend handelt es sich bei seinen eigenen Beobach­ tungen um die Struktur der Gehirnventrikel und das als anatomische Struktur nicht vorhandene Rete mirabile.264 Bei Letzterem scheint Berengario durchaus unsicher ge­ wesen zu sein, ob er Galen oder seinen Augen trauen sollte.265 263

264 265

French (1985), S. 46. Tanja Klemm weist darauf hin, dass Mondinos Schrift nicht auf der Sektion von Menschen, sondern auf der von Schweinen beruht. Sie beschreibt die vielfa­ chen Bezüge vergleichender Anatomie im anatomischen Diskurs des 16. Jahrhunderts und die Bedeutung des Rete mirabile für Mensch und Tier, vgl. Klemm (2006), S. 93f. Vgl. French (1985), S. 51. Vgl. Klemm (2006), S. 96f.

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Abb. 37: Muskelmann aus Isagogae breves, Berengario (1522).

Berengarios Commentaria gilt als erste illustrierte Anatomie, die gedruckt wurde: The modern mind so naturally seizes upon the idea that an anatomy text should be illustrated that it is difficult not to see Berengario as taking the first essential step. But for Berengario, of course, it was not in the least natural that an anatomy text should be illustrated, since no treatment of any length of the body before him had been illustrated, and in particular the structure of the commentary form did not admit of non­verbal elements.266

Berengario schrieb eine »anatomia sensibilis«267, einen Text, der dem von Gott geschaf­ fenen Mikrokosmos Körper seinem Bau nach mit seinem Verstand, seiner Fähigkeit zur Sinneswahrnehmung und allen körperlichen Funktionen gerecht wird und das (anatomische) Wissen erweitern und verbreiten kann. Der Holzschnitt diente der Be­ weisführung: Alles was am und im Körper zu sehen war, konnte auf diese Weise dau­ 266 267

French (1985), S. 61. Ebd.

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Abb. 38: Wirbelsäulenzeichnung, Blatt 19007v aus Leonardo da Vincis anatomischen Studien.

Abb. 39: Wirbelsäulenzeichnung aus Isagogae breves, Berengario (1522).

erhaft sichtbar gemacht werden. Erst durch die Illustration konnten Dinge dargestellt werden, die sich einer Beschreibung durch Worte entzogen. Berengarios 1522 erschienene Isagogae breves268 ist ebenfalls reichhaltig illustriert. Die Holzschnitte in diesem Buch sind von eigentümlicher Schönheit. Das Bild des Muskelmannes, der dem Betrachter in einer Art Superman­Glorienschein stehend die Venen seines linken Armes präsentiert, ist ein grafisches Meisterstück (Abb. 37). French bezeichnet die Holzschnitte in Commentaria und Isagogae als »somewhat crude«269 . Si­ cher reichen sie im künstlerischen Ausdruck nicht an die Illustrationen in Vesals Fabrica heran. Sie erfüllten aber ihren Zweck, z. B. den Chirurgen zu zeigen, wo sie schnei­ den mussten, um keinen Muskel zu verletzen. Darüber hinaus waren die Buchseiten als Gesamtkompositionen grafisch anspruchsvoll, wie z. B. die Tafel der Wirbelsäule. 268 269

Jacopo Berengario da Carpi, Isagogae breves, perlucidae ac umerrimae, in anatomiam humani corporis a communi medicorum academia usitatam, Bologna 1522. French (1985), S. 62.

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Abb. 40a/40b: Hände als Indices aus Isagogae breves, Berengario (1522).

Vergleicht man diese mit Leonardos Wirbelsäulenzeichnung, so fällt eine große Ähn­ lichkeit sofort ins Auge (Abb. 38 und Abb. 39).270 Interessant ist auch die Verwendung von Händen als körperlich implementierte Vektoren, die wie Indices den Blick und damit die Aufmerksamkeit des Betrachters führen (Abb. 40a/40b). Erwähnenswert scheint mir zudem die Reihenfolge der verhandelten Körperteile. Das Herz wurde zu dieser Zeit, so auch bei Berengario, immer zuerst behandelt, obwohl der Blutkreislauf noch nicht entdeckt war. Ob damit schon eine qualitative Aussage gemacht wurde, ist nicht eindeutig feststellbar. Diese Reihenfolge wird aber in den meisten anatomischen Lehrbüchern bis heute fortgeführt. Im dritten Teil der Isagogae, der der obersten Körperhöhle271 gewidmet ist, be­ schrieb Berengario das Gehirn in der Reihenfolge der Sektion: von außen nach in­ nen. Anhand der Morphologie des Kraniums wies er auf mögliche Zusammenhänge von Form und Funktion hin: Seine runde Form schützt vor Verletzungen und vergrö­ ßert die Kapazität. An den Seiten ist der Kopf leicht zusammengedrückt. Nach An­ sicht Berengarios werden dadurch die Ventrikel in die Länge gezogen und vergrößern so die Verstandesleistung.272 Die Ventrikel waren demzufolge bei Berengario der Ort geistiger Fähigkeiten. Waren sie zugleich der Sitz der Seele? In der Isagogae befinden sich zwei Ansichten von Hirnschnitten, die auf einer Tafel untereinander abgebildet sind. Das Gehirn liegt wie eine Walnuss in der aufge­ sprungenen Schale der Dura mater. Der darunter liegenden Pia mater, die im Gegen­ 270 271 272

Vgl. Berengario (1522), S. 63 und S. 64. Auch Herrlinger betont die große Nähe zu den Skizzenbüchern Leonardos, vgl. ders. (1967a), S. 86. Ob, wann und wie Berengario Ein­ blick in Leonardos anatomisches Werk erhalten hatte, bleibt unklar. Das Buch ist, angelehnt an die Einteilung des Körpers selbst, in drei Hauptteile gegliedert, die Lind mit lower, middle und uppermost body cavity übersetzt. Darauf folgt die anatomische Beschreibung der Extremitäten. Vgl. Berengario (1959), S. 138: »so that its ventricles may be long, thus better to serve the operations of the intellect«.

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Abb. 41: Gehirn von oben in verschie­ denen horizontalen Schnittebenen aus Isagogae breves, Berengario (1522). Siehe Farbtafel II.

satz zur harten Hirnhaut im Bild nicht benannt ist, wies Berengario besondere Be­ deutung zu. Sie ernähre das Gehirn wie der Mutterkuchen den Fötus und bereite Blut oder Spiritus vitalis (vital spirit) so vor, dass daraus in der Hirnsubstanz oder den Ven­ trikeln Spiritus animalis erzeugt werden könne.273 Die in späteren Abbildungen stärker hervorgehobene typische Blumenkohl­ struktur der Sulci und Gyri lässt sich schon erkennen. In der oberen Figur wurde die Teilung der zwei Hemisphären deutlich dargestellt (Abb. 41). Die vom Betrachter aus gesehen rechte Seite ist durch einen Schnitt von der obersten Schicht befreit. Die so entstandene Ebene ist mit Medulla (Mark) 274 bezeichnet. Gemeint ist der zweiteilige cerebrale Kortex, der aber ein einziges Organ bildet.275 Berengario beurteilte ihn im Sinne der Säftelehre: Da er kalt und feucht sei, könne er die vom Herzen kommenden 273 274 275

Vgl. ebd., S. 141. Myelos gr., Rückenmark. Vgl. Berengario (1959), S. 142: »a single member«.

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heißen Spiriti kühlen.276 In der höhlenartigen Vertiefung eines freigelegten Ventri­ kels, über dem ein Stück der Pia Mater nach unten weggeklappt wurde, steht das Wort Vermis. Hier kann nicht der ›Vermis‹ cerebelli (Kleinhirnwurm), der unpaare mittlere Teil des Kleinhirns, gemeint sein. Es ist zu vermuten, dass der Begriff von der mittelalterlichen Bezeichnung für eine Art Ventilsystem zwischen den Ventrikeln in die nach einer Sektion entstandene Abbildung übernommen wurde. Tradiertes Wissen mittelalterlicher Medizin fand immer wieder seinen Weg in neuzeitliche Bilder. Im Text berief sich Berengario allerdings nicht auf allgemein An­ genommenes, wie etwa beim Rete mirabile. Zu dessen Lokalisation schrieb er, es be­ fände sich unter der Dura mater: »[A]bove the mouth in the bottom of the head […] common usage places the marvelous net«277. Interessant ist, dass Berengario an dieser Stelle nicht behauptete, das Rete dort gesehen zu haben, oder gar, dass es dort sei. Er merkte lediglich an, dass es im Allgemeinen dort platziert (im Sinne von angenom­ men) würde. Auch in dem Abschnitt, der dem Rete mirabile gewidmet ist, schickte er der Bemerkung, dass er selbst dieses Netz nie gesehen habe, ausführliche Beschrei­ bungen von dessen Position voraus, immer mit Zusätzen wie »the authors commonly say« versehen.278 Als Vertreter frühneuzeitlicher Anatomie war ihm offensichtlich wichtig, zwischen allgemein angenommenem (tradiertem) Wissen und selbst beob­ achtetem oder durch Verstandesleistungen (sense) erbrachtem Wissen zu unterschei­ den. Letzteres war die Frucht seiner wissenschaftlichen Wahrnehmung, hervorgegan­ gen aus eigener Sektionspraxis und genauer Beobachtung: seine Wahrheit. Auf diese bezog er sich auch hinsichtlich der Vermes, wenngleich sich Levi Ro­ bert Lind in seiner Übersetzung zwischen den Begriffen Wahrheit und Vernunft nicht klar entscheidet: According to truth (sense), the two worms located within the ventricles of the brain draw their origin from these veins and arteries [die der Pia mater, W. L.] by which the spirit and the blood which nourishes the inner parts of the brain are carried down within the ventricles. In the walls of the ventricles also there is some portion of the pia mater that carries blood and spirit, blood to nourish the parts nearby to it, spirit for the operations of the soul, as do the worms just mentioned.279

Wie die Pia mater dienen nach dieser Vorstellung die Vermes (worms) der Versorgung der Hirnhöhlen, sodass die Seele darin agieren kann. Dazu muss sie sich aber auch dort auf halten. Ob sie sich ausschließlich dort befindet oder dort nur wirkt, aber über den ganzen Körper ausgedehnt ist, bleibt unklar. 276 277 278 279

Vgl. ebd. Berengario (1959), S. 137. Vgl. ebd., S. 147: »Yet I have never seen this net« und S. 146. Ebd., S. 142.

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An anderer Stelle kam Berengario erneut auf die Vermes zu sprechen. Der Übersetzer weist darauf hin, dass es sich hierbei um den Plexus chorioideus ventriculi laterales handelt. Nach heutigem Verständnis ist der Plexus die Produktionsstätte des Liquors. Je ein Plexus befindet sich in den Seitenventrikeln sowie im dritten und vierten Ventrikel.280 Davon war bei Berengario noch nicht die Rede. In seiner Be­ schreibung ihrer Funktion, die im Bild nicht ersichtlich wird, geht er in einer vagen Formulierung wieder auf überliefertes Wissen ein: »This [worm, W. L.] has motion, according to some, opening and closing the ventricles voluntarily. […] In these afore­ said ventricles, commonly in their anterior part, are placed fancy [ fantasia], common sense, and imagination.«281 Auch die anderen Fakultäten des mittelalterlichen Zellen­ schemas erwähnt Berengario: die des Erkenntnisvermögens (cognition), des Verstandes oder der Vernunft (reason) und der Erinnerung (memory), die er in den ersten beiden Höhlen (cavities) verortete.282 Er betonte, dass diese Fähigkeiten in beiden Seiten gleich vorhanden sind. Damit trug er der binären Morphologie des Gehirns Rechnung und ging auch hier über die Vorstellung eines einzigen mittig verlaufenden Perlenstrangs dreier Zellen hinaus. Zudem hob er hervor, dass der mittlere und der dritte Ventrikel nicht identisch sind und verteilte die Fakultäten entsprechend vorgefundener anato­ mischer Merkmale um. Das Cerebrum nannte Berengario im Text vorderes (anterioris) Gehirn. Das Cerebellum benannte er in Anlehnung an Aristoteles und wies darauf hin, dass es keinen Ventrikel beinhaltet. Die zweite Figur der Tafel zeigt einen weiteren Horizon­ talschnitt. Dieser legt beide lateralen Ventrikel frei. Im Bild ist in einem Ventrikel das Wort Anterior und im anderen Venter notiert. Setzt man die Worte zusammen, sind damit beide höhlenartigen Vertiefungen beschrieben. Dieses Vorgehen ist durchaus verwirrend: Derjenige, dem nur das Bild vorliegt, könnte auf zwei verschiedene Bau­ teile des Gehirns schließen. An dieser Stelle benötigt das Bild zum Verständnis den Text; mehr noch: Der Text käme hier durchaus ohne die Figuren aus. Durch den Poster Medius werden die Ventrikel voneinander getrennt. An sei­ nem oberen Ende wurde als runde Form das Embotum 283 eingezeichnet. Damit ist entweder ein zwischen dem dritten und vierten Ventrikel liegender Kanal, das so ge­ nannte Aquädukt von Sylvius284 (Aquaeductus cerebri) gemeint oder eine damals an­ genommene Öffnung, durch die über die Hypophyse die ventrikulären Abfälle ent­ 280 281 282 283 284

Vgl. Gertz (2003), S. 137. Berengario (1959), S. 143. Vgl. ebd., S. 144. Embothros, Embothron (n.) gr., das Hohle oder der Hohlraum: »like apit or hole«, Liddell/ Scott (1973), S. 540. Es ist benannt nach Franciscus de la Boë (Sylvius, 1614–1672), der die Anatomie des Ge­ hirns beschrieben hat, und der auch der seitlichen Gehirngrube (Fossa Sylvii) ihren Na­ men gab. Nicht zu verwechseln mit Vesals Lehrer Jacques Dubois ( Jacobus Sylvius, 1478– 1555).

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sorgt werden.285 Mondino und Avicenna sind die Autoritäten, die Berengario nannte, und deren Begriffe er angab. Er selbst wählte mit Embotum eine überlieferte Bezeich­ nung, die sich ebenfalls auf die morphologischen Merkmale dieser Struktur bezog: »This vacuity is called lacuna by Mundinus, head of the rose by Avicenna, and embo­ tum by others because it is broad above, narrow below, and surrounded on all sides by a thin panniculus as far as the basilar bone.«286 An diesem Beispiel zeigt sich deutlich, dass die Entwicklung der anatomischen Nomenklatur oft auf visuellen Analogien be­ ruht. Wem es gelang, das beste ›Bild‹ für einen Körperteil zu finden, der prägte oft dauerhaft dessen Namen. Zweifel klingt bei Berengario bezüglich der Funktion des dritten Ventrikels an: »Authors commonly regard this vacuity as the middle [third] ventricle, in which they say there exists the cogitative or reasoning faculty.«287 Das Zitat zeigt, wie ungewöhn­ lich sein Umgang mit historischen Quellen war. Er kannte sie und erwähnte sie, ver­ wies aber doch auf seinen eigenen Text, wo er sich für die eigene Wahrnehmung während des Sektionsvorganges stark machte. Von Zeit zu Zeit wirkt es, als wollte er sich über den kanongläubigen Leser lustig machen: »From what has been said, the ser­ vices of the brain are evident. They are of one sort according to Aristotle and of ano­ ther according to Galen and his followers: look them up.«288 In seinem Text führte Berengario eine virtuelle Demonstratio ad oculus durch. Indem er auf Vorgehen und Instrumentarium der Sektion verwies und diese seinen Lesern mit Worten vor Augen führte, verzichtete er darauf, den Bildern jene Bedeu­ tung zu geben, die dem sezierten Körper vorbehalten sein sollte. Die Bilder haben selbst keine demonstrierende Funktion. Der Beschreibung cerebraler Morphologie fügte er fast lapidar den Satz hinzu: »sense demonstrates all these facts«289 . Hieran lässt sich erkennen, wie gering Berengario die Bedeutung bildlicher Repräsentation schätzte, nicht aber die des Sehens, also dessen, was wir wissenschaftliche Wahrnehmung nen­ nen.290 So erklärte er auch die Absenz des wunderbaren Netzes damit, dass er es nie gesehen hatte: »among these reasons [for the non­existence of this net] the experience of the senses is my chariot­driver«291. Er schloss die Existenz dieser Struktur zwar nicht ganz aus, begründete seinen starken Zweifel jedoch damit, dass er sich auf seine Sinne verließ. An vielen Stellen betont er die Evidenz der Funktionalität einzelner

285 286 287 288 289 290 291

Vgl. Berengario (1959), S. 145. Dazu vgl. auch Clarke/Dewhurst (1972), S. 52. Berengario (1959), S. 143. Ebd., S. 144. Ebd. Ebd., S. 143. »Having seen one side, look at the other. In this you will see the same thing as in the pre­ vious side«, ebd., S. 143. Vgl. ebd.

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Strukturen.292 Was evident ist, ist offenkundig, offensichtlich, klar ersichtlich, also leicht zu sehen und zu verstehen. Die Priorität der Sinne (vornehmlich des Sehsinnes) als Werkzeuge wissenschaftlicher Wahrnehmung zeichnet Berengario als Anatom einer neuen Epoche gegenüber den (diesem Verständnis nach ›blinden‹) Anhängern kano­ nischen Wissens aus. Bilder gehörten anscheinend nur eingeschränkt zu den Objekten dieser Wahr­ nehmung. Obwohl Berengario Loris Premuda zufolge in seiner Isagogae »deutlich und im modernen Sinn die Bedeutung der anatomischen Abbildung zu didaktischen Zwe­ cken wahr[nahm]«293 , trifft dies nicht auf alle Bilder gleichermaßen zu. Wenn wir da­ von absehen, dass es schon ein didaktischer Akt war, die Anatomie des Gehirns über­ haupt sichtbar zu machen, stehen sie doch in dieser Funktion beispielsweise hinter den Bildern der Wirbelsäule deutlich zurück. Dies wird besonders am zweiten, hier nicht gezeigten Bild, deutlich. Dort ist eine klare Gliederung zu erkennen; das Objekt wird aus verschiedenen Perspektiven gezeigt und mit anderen Körperteilen (z. B. dem Be­ ckenknochen) in Verbindung gesetzt. Typographie erscheint als Bildelement indem das Rückenmark durch Worte gebildet wird. In seiner Beschreibung des Gehirns bezog sich Berengario nur ein einziges Mal direkt auf die Figuren: »I have spoken better and in greater length about these matters in my Commentary on Mundinus. (But so that the matters discussed may be better understood I have accommodated below such Figures of the brain as I was able, in which some of the matters previously described can be understood, as you see.)«294. Er handelte die einzelnen Hirnteile und ihre Funktionen nicht Punkt für Punkt an den Figuren ab. Im Gegensatz zu der Doppelseite mit den Bildern der Wirbelsäule nahm er keine Nummerierung der Abbildungen vor, auf die er sich im Text hätte beziehen können, und er fügte keine Legende bei. Die Funktionen der beiden Hirnbilder wa­ ren mehr dokumentierender Natur. Mit ihnen illustrierte Berengario lediglich den Text, der im Bezug auf die cerebrale Anatomie als Hauptsache angesehen werden kann. Herrlinger nennt die Doppelabbildung des Gehirns in der Isagogae »grob, aber ihren Prinzipien nach überraschend modern«295 . Damit ist zum einen die Darstellung des Horizontalschnitts angesprochen, die Vesal später für seine Fabrica übernahm (vgl. Abb. 47a und Abb. 47b). Zum anderen hatte außer Leonardo und Fries bisher kaum je­ mand etwas als Hirnwindungen Erkennbares dargestellt (vgl. Abb. 36). Auch bei Be­ rengarios Hirnbildern sind Sulci und Gyri zu erkennen, wenngleich sie weder gra­ fisch besonders ausgeprägt sind, noch morphologisch korrekt ausgearbeitet wurden. Trotz dieser Mängel (aus heutiger Sicht) wurden die Hirnbilder der Isagogae durchaus 292 293 294 295

So z. B. bezogen auf die Nerven: »Their form, size, site, number, and connections are evi­ dent […]. Their services are evident«, ebd., S. 146. Vgl. Premuda (1967), S. 116. Berengario (1959), S. 145. Vgl. Herrlinger (1967a), S. 86.

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zu Vorbildern – nicht als Funktionsbilder wie die des Mittelalters, sondern als reine Visualisierung morphologischer Merkmale. Vom Sitz der Seele handeln diese Bilder nicht. DRYA N DE R

Als größte anatomische Autorität des Mittelalters erfüllte Mondino für die Anatomen des 16. Jahrhunderts auch auf dem Gebiet der Sektion noch immer eine Vorbildfunk­ tion. Eine reich illustrierte Ausgabe seiner Anatomia mundini erschien 1541 in Mar­ burg.296 Herausgegeben wurde sie von Johann Eichmann aka Johannes Dryander, der als Mediziner und Mathematiker selbst verschiedene Bücher verfasst hatte. Bereits 1537 wurde seine eigene Anatomiae297 gedruckt, die in der Ausgabe der Hamburger Staatsbibliothek mit der von ihm herausgegebenen Anatomie Mondinos zusammen­ gebunden ist. Dies scheint insofern merkwürdig, als Dyrander für beide Anatomien die selben Holzschnitte verwendete, diese also in einem Band bis auf wenige Ausnah­ men doppelt vorkommen. Zum Teil sind in der später gedruckten Anatomia mundini die Zierrahmen entfernt worden. Die Identität des Zeichners und evtl. auch Form­ schneiders dieser Abbildungen ist nicht abschließend geklärt. Es könnte sich um Georg ( Jörg) Thomas von Basel 298 gehandelt haben. Dieser variierte sein Monogramm G.V.B. auf den verschiedenen Schnitten; häufig kommt ein ›G‹ zusammen mit einem Zirkel vor.299 Zu Dryanders Verdiensten gehört es, dass er das ganzformatige Tafelbild teil­ weise zugunsten von Abbildungen einzelner Organe oder Funktionszusammenhänge aufgab.300 Dieses Vorgehen war auch durch die eigene Sektionspraxis vorgegeben: Denn im Gegensatz zu Rembrandt van Rijns (1606–1669) berühmter Darstellung einer Hirnsektion im Bild Die Anatomie-Vorlesung des Dr. Joan Deyman301 (vgl. Abb. 52) deutet alles »darauf hin, daß man de facto das Hirn am abgetrennten Kopf zu sezieren pf legte, schon aus Gründen der praktischen Handlichkeit«302 . Die Sektionsserie des Kopfes und des Gehirns wird in der vorliegenden Arbeit vollständig wiedergegeben, da sie in anschaulicher Weise den Vorgang des Abtragens 296

Johannes Dryander, Anatomia Mundini ad vetustissimorum, erundemque aliquot manu scriptorum, codicum fidem collata iustoque suo ordini restitua […]. Marburg 1541. 297 Johannes Dryander, Anatomiae, Hoc Est, Corporis humani dissectionis pars prior, […], Marburg 1537. Dieses Buch enthält neben der dryanderschen Schrift noch zwei weitere ( je dreiseiti­ ge) Schriften: eine Anatomie des Schweines von Copho und eine Kinderanatomie Gabriel de Zerbis. Beide stammen ebenfalls aus dem Jahr 1537 und enthalten keine Abbildungen. 298 Lebensdaten unbekannt. 299 Nagler (1860), S. 940 und Herrlinger (1967a), S. 88. 300 Vgl. Herrlinger (1967a), S. 99. 301 Vgl. S. 201. 302 Cetto in Wolf­Heidegger / Cetto (1967), S. 314.

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der einzelnen Schichten und so das Prinzip des Zwiebelschälens verdeutlicht, das auch Leonardo proklamiert hatte (Abb. 42a –Abb. 42h). Die aufeinander folgenden Zustän­ de der Sektion sind, wie wir es heute vom Comic­Strip kennen, in einzelnen Frames dargestellt. Nach Estienne war Dryander laut Herrlinger der zweite, der einen »neuen Weg [beschritt], eine Serie von Sektionspräparaten systematisch, in einer Folge, die dem Gang der Anatomie entsprach, abzubilden oder abbilden zu lassen«303. Allerdings erschienen Estiennes Abbildungen erst 1545 im Druck,304 sodass sich schwer entschei­ den lässt, welchem der beiden diese Leistung zuzusprechen ist. Die oben erwähnte Reihenfolge in anatomischen Schriften, die zunächst dem ganzen Körper und auf der Ebene der Organe dem Herzen und oft auch dem Verdau­ ungstrakt den Vorrang vor dem Gehirn gab, wurde in Dryanders Anatomiae aufgege­ ben. Er ordnete die Bilder seiner Mondino­Ausgabe um und gab der Serie den Vor­ rang, die eine Sektion vom unversehrten Kopf zu den inneren Organen des Gehirns nachverfolgt. Die Köpfe werden zusammen mit den für den jeweiligen Arbeitsschritt verwendeten chirurgischen Instrumenten dargestellt. Dies zeigt an, dass es sich nicht um einen Band für interessierte Laien, sondern um ein praktisches Handbuch für Me­ diziner handelt. Die Köpfe sind nicht, wie beispielsweise die Lunge oder der Schädel, in idealen Landschaften platziert oder auf Sockel montiert, umgeben von allego­ rischen Attributen, sondern sie liegen auf einem durch eine horizontale Linie ange­ deuteten Tisch, von Schlagschatten plastisch hervorgehoben. Die ganze Serie zur Sektion des Kopfes wird in schlichten schwarzen Rahmen präsentiert – Fenster, durch die wir in den Operationssaal blicken. Die ersten beiden Tafeln (Dryander hat alle Tafeln mit ›Figura‹ betitelt) zeigen noch nichts vom Gehirn. Vielmehr wird der abgetrennte Kopf auf die Hirnsektion vorbereitet. In Humani Capitis, Figura prima ist auf Höhe einer imaginären Hutkrempe ein Band um den Kopf gelegt, das festlegt, wo die Säge anzusetzen ist. Die Kopf haut ist kreuzweise eingeschnitten. Skalpell und Haken zeigen an, welche Instrumente für diesen Arbeitschritt nötig waren. Auf der zweiten Tafel ist der Schädel freigelegt, die Knochensäge liegt bereit. Die dritte Tafel zeigt den Kopf, der halb auf der abgesägten Schädeldecke liegt. Beide Hirnhemisphären sind deutlich zu erkennen. Ein Bild wei­ ter ist die Dura mater abgeschält, und die Sulci und Gyri sind freigelegt. Der Kopf ist dabei erstaunlich f lach – das dargestellte Gehirn müsste so den Kopf nahezu bis zum Kinn ausfüllen. Die Figura quinta zeigt den Kopf von oben. Die dem Betrachter zuge­ wendete Großhirnhälfte ist entfernt, und die Großhirnsichel (Falx cerebri), eine Haut, die sich zwischen den Hemisphären befindet, herausgezogen worden. An dieser Stelle ist der Sektionsablauf bildlich unterbrochen, denn im folgenden Bild, der Figura

303 304

Herrlinger (1967a), S. 86. Vgl. S. 210.

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sexta, sind wieder beide Hirnhälften im Kopf und auf einer Ebene horizontal abgetra­ gen (Abb. 43). Bei den so sichtbar werdenden, dunkel schraffierten, verzweigten For­ men handelt es sich vermutlich um arterielle Blutgefäße. Dunkel und sichelförmig sind in beiden Hirnhälften die oberen Anfänge des lateralen Ventrikels auszumachen. Im der Figura septima zugrunde liegenden Sektionsschnitt wurde das Kleinhirn bzw. der Hirnstamm freigelegt. Die Hirnnerven scheinen dem Kleinhirn zu entspringen.

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Abb. 42a–42h: Sektionsserie des Kopfes aus Anatomia mundini, Dryander (1541).

Mit 1 ist der Bulbus olfactorius, mit 2 das Chiasma opticum bezeichnet. Die zottelar­ tige dreigliedrige Struktur, die zwischen den olfaktorischen und optischen Nerven­ paaren liegt, deutet möglicherweise die Vierhügelplatte an. Das Cerebellum steht auch in der Figura octava im Vordergrund. Zum ersten Mal in der Geschichte hirnana­ tomischer Bilder ist der Kleinhirnbaum deutlich zu erkennen. Er ist allerdings keine Hirnstruktur, sondern ein Bild, das sich an der Schnittf läche sagittaler Kleinhirn­

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Abb. 43: Hirnschnitt von oben, Humani Capitis Figura sexta aus Anatomia mundini, Dryander (1541).

Abb. 44: Kopie der Figura sexta (Abb. 43) von Baldung Grien, Tab. IXX aus Des aller fürtrefflichsten […] Anatomi, Ryff (1541).

schnitte zeigt. An Dryanders Darstellung bleibt unklar, auf welche Art bzw. in wel­ chem Winkel er das Cerebellum geschnitten hat. Das Bild verwirrt schon aus dem Grund, dass, wie in der Figura septima, kein Übergang zum Hirnstamm erkennbar ist. Die kopfanatomische Serie Dryanders wurde 1541 von Hans Baldung (Grien, ca. 1484–1545) für die Anatomie Walter Hermann Ryffs305 (Gualtherium Rivius, 1500–1548) kopiert. Dabei veränderte und verbesserte er die Vorlage so weit, weil Matthias Mende behauptet, Grien hätte ohne medizinische Vorkenntnisse oder die Mithilfe eines Arztes diese Qualitätssteigerung nicht erreichen können. Zudem will Mende eine Beseeltheit der einzelnen Köpfe erkannt haben, die er als Darstellung in­ dividualisierter Krieger deutet. Die ebenfalls von Dryander übernommenen chirur­ gischen Instrumente werden zu Kampfwerkzeugen. Das »Brechen des Auges, das Ver­ 305

Walter Hermann Ryff, Des aller fürtrefflichsten […], des menschen (oder dein selbst) warhafftige Beschreibung oder Anatomi seines wunderbarlichen ursprungs […], Straßburg 1541.

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Abb. 45: Kopfdarstellung, Blatt 12624r aus Leonardo da Vincis anatomischen Studien.

hauchen des letzten Atemzuges, der Schmerz des Todes und die erlösende Ruhe sind erschütternd nacherlebt«306 . Wahrscheinlicher ist, dass es sich hierbei um ein und denselben Kopf in verschiedenen Stadien seiner Entblätterung handelt. Die Barttracht des Mannes ist auf allen Bildern nahezu identisch, ebenso die vorn eingekerbte Nase. Eine Verbesserung in der grafischen Technik ist eindeutig bei der Abbildung des männlichen Kopfes mit den Großhirnhöhlen zu erkennen. Dryanders Humani Capitis, Figura sexta (Abb. 43), bei der der Hirnschnitt von oben, der Kopf aber seitlich darge­ stellt ist, was zu einer merkwürdigen Verzerrung der Perspektive führt, ist bei Baldung perspektivisch richtig dargestellt (Abb. 44). Ob die leicht variierte Form der darge­ stellten Höhlen wirklich, wie Mende behauptet, auf eigenen anatomischen Untersu­ chungen beruht, oder ob sie lediglich Ergebnis einer ästhetisch motivierten Ornamen­ tarisierung anatomischer Formen war, bleibt unklar. Ein Bild der Anatomiae scheint nicht in die Sektionsserie zu gehören. Dryander ließ es sogar zweimal im Buch abdrucken: einmal vor dem Sektionsablauf und einmal dahinter. Eine Kopfdarstellung Leonardos (Abb. 45), die sich auf Blatt 12624r [112 recto] befindet, erinnert an Dryanders ›Portrait‹, die Universalis Figura Capitis (Abb. 46). Schon Keele und Pedretti legen nahe, dieses Beispiel »monströser Anatomie« bei Leonardo mit Schädelsektionen Dryanders und mit Verfahren zu vergleichen, die Rembrandt in seinem Bildnis des Joan Deyman nutzte.307 Dieser Bezug ist umstritten. O’Malley und Saunders sehen Leonardos Zeichnung in der Tradition monströser oder phantastischer

306 307

Mende (1975), S. 23. Vgl. Keele/Pedretti (1980), S. 358.

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Köpfe.308 Diese wurden durch Übertreibung natürlicher Gesichtszüge, etwa einer Vergrößerung von Lippen, Nasen oder Augen, erstellt. Eine weitere mögliche Quelle für Dryanders Bild ist bei Hundt aus Magdeburg zu suchen. 1501 stellte dieser den Kopf noch mit halblanger Haartracht dar, die bei Dryander durch die einzeln abgeschälten Hirnhäute ersetzt wurde.309 In Dryanders Kopf treffen Klemm zufolge »latent unvereinbare Bildformulare aufeinander«310 . Ein realistisch dargestellter Renaissance­Kopf wird mit diagrammatischen Elementen mittelalterlicher Funktionstheorie in einem Bild zusammengebracht. Die Strukturen der einzelnen Schichten und die Verbindungslinien zwischen Sinnesorganen und be­ stimmten Ventrikelbereichen sowie die unterschiedlichen blattartigen Formen der einzelnen Zellen sind grafisch durch verschiedene Schraffuren herausgearbeitet. Gleich­ mütig scheint der junge Edelmann sein Rete mirabile über der Nasenwurzel zu prä­ sentieren, dessen Schraffur an ein stilisiertes Netz erinnert. Das von Dryander an einem so ungewöhnlichen Ort positionierte Rete übernimmt im Bild laut Klemm eine visu­ elle Mittlerstelle: So sei es dem Bertachter möglich gewesen, das Rete mirabile unter anatomischen Maßgaben, d. h. als mimetische Form oder aber physiologisch gesteu­ ert, d. h. bezüglich seiner Funktion innerhalb des physiologischen Systems der Spiri­ tuslehre, in den Blick zu nehmen.311 Auffällig ist hier wie auf anderen Darstellungen der Zellenlehre auch eine bild­ liche Spaltung in Ansicht und Durchsicht. Gesichter, die ja durch die in ihnen reprä­ sentierten Sinne eine wichtige Position in der Erklärung hirnphysiologischer Vor­ gänge einnahmen, wurden meist in ihrer äußeren Beschaffenheit mit Haut und ›funktionstüchtigen Sinnesorganen‹, Augen, Nase und Zunge, unversehrt dargestellt. Wie auf anderen zeitgenössischen Bildern auch wurden bei Dryander die Zellen mit den so genannten Vermögen bzw. den Hirnfunktionen als Funktionsdiagramm auf dem Schädelknochen angebracht (vgl. Abb. 19–Abb. 24). Dass dieser nicht durchsich­ tig dargestellt wurde, sondern sein Inhalt gleichsam bildlich hervorgeholt und von außen auf den Kopf aufgebracht wurde, zeigen Schädelnähte und Schraffuren. In etlichen Dar­ stellungen der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden Zellen als Funktionsdia­ gramme und diese meistens auf Kopf umspannenden Bändern dargestellt.312 Diese Stirnbänder partitionieren von der Seite oder im Halbprofil sichtbare Köpfe: Über ihnen der entblätterte Schädel, der immer auch seine Funktion als Memento mori er­ füllte, unter ihnen das von Haut bedeckte – also lebendige – Gesicht. M. E. unter­ scheidet er sich aus zwei Gründen von vielen zeitgenössischen Darstellungen dieser Art: Der Dryander­Kopf ist im Halbprofil gezeichnet. Dadurch wirkt die heraus­ 308 309 310 311 312

Vgl. O’Malley/Saunders (2003), S. 137. Vgl. Clarke/Dewhurst (1972), Fig. 32 und Klemm (2008), Abb. 8. Klemm (2006), S. 101. Vgl. ebd., S. 102. Vgl. Clarke/Dewhurst (1972), Fig. 44–56.

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Abb. 46: Zellschema, Universalis Figura Capitis aus der Anatomia mundini, Dryander (1541).

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gestreckte Zunge, die den Geschmackssinn repräsentiert, vornehm zurückhaltend. Weit bedeutsamer ist jedoch, dass der abgebildete Kopf, obwohl er zugleich ein Dia­ gramm darstellt und damit schematische Elemente enthält, ein individueller ist. Der Mann ist jung, hat feine Gesichtszüge und sein Kragen ist bestickt. Er stellt in der doppelten Wortbedeutung etwas dar. Dieser Kopf zeigt mehr als geistig­seelische Funktionen des Gehirns. Er repräsentiert eine soziale Hierarchie und das sich heraus­ bildende Selbstbewusstsein derer, die Anatomie als neue Wissenschaftsdisziplin leh­ ren und lernen. Mit dem Selbstverständnis dieses Bildes kommt die Sektion mensch­ licher Körper aus ihrer ›Schmuddelecke‹ vermeintlich häretischer Handlungen heraus. Dryander war Clausberg zufolge »mit seiner Kopfanatomie […] im Übergang von großzügigen mittelalterlichen Leitbildern zu vesalscher Wiedergabepräzision begrif­ fen«313. Die Universalis Figura Capitis markiert einen Höhepunkt der Transitions­Phase, die die anatomische Abbildung im 16. Jahrhundert durchläuft, und die bei Vesal in den strahlenden Posen sezierter Körper bereits weitgehend abgeschlossen ist. Diese Transition ist allerdings nicht in einem einzigen Bild auszumachen. Dieser Übergang oder Wechsel von einer (Bild)Tradition zur nächsten wird erst deutlich, wenn die Universalis Figura Capitis im Ensemble mit den anderen Hirnbildern Dryanders gese­ hen wird. Noch weitere Bildfunktionen werden an Dryanders Universalis Figura Capitis Humani offensichtlich. Aus einem Augenzeugenbericht wissen wir, dass Vesal dieses Bild im Rahmen einer öffentlichen Sektion verwendete: »[Vesalius] asked us also to look at the picture of the anatomy of the head, printed in Marburg in Germany, which certainly very much contributes to the knowledge of the brain.«314 Hier wurde von einem Zeitgenossen die Fähigkeit eines Bildes anerkannt, zur Wissensbildung beizu­ tragen. Vesal demonstrierte sowohl am Körper als auch am Bild. Es diente ihm als Beweismittel für die später von ihm bezweifelte Existenz des Rete mirabile. Darüber hinaus wurde es als didaktisches Instrument genutzt, wie heute eine Dia­ oder Film­ projektion in einer Vorlesung. Und schließlich wurde es durch Vesals Demonstration in den wissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit aufgenommen. Es regte ihn nachhaltig an, denn die bildgewordene Existenz des Rete mirabile sollte Vesal und noch die nachfolgende Anatomengeneration beschäftigten. Dazu trugen nicht zuletzt die vor dem Hintergrund dieser Bilder geführten Debatten bei. * Zwischen den Veröffentlichungen Berengarios und Dryanders steht zeitlich die Ana­ tomie des Niccolò Massa. 1536 in Venedig erschienen basierte auch sein Liber Introductorius anatomiæ auf eigener Sektionserfahrung. Da es keine Bilder enthält, ist es für diese Arbeit kaum von Interesse. Singer hält Massas Beschreibung des Gehirns für 313 314

Clausberg (1999), S. 18. Heseler (1959), S. 219, vgl. auch S. 206.

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nicht gelungen.315 Erwähnenswert ist jedoch, dass Massa behauptete, das Rete mira­ bele bei Sektionen selbst mehrfach gesehen zu haben, und dass er sich darüber em­ pörte, dass einige Kollegen es für eine Erfindung Galens hielten. Seine Äußerung zeigt, dass es neben Berengario noch andere Prä­Vesalianer gegeben haben muss, die die Existenz des wunderbaren Netzes angezweifelt haben.316 Bereits 1543, zwei Jahre nach Dryanders Mondino­Ausgabe, erschien Vesals Fabrica. Sie gilt als Entwicklungsgrundlage für die moderne Medizin. Vor diesem Hintergrund betrachtet, kann die Anatomie als erste anerkannte Naturwissenschaft gelten.317 Allerdings war die Fabrica keine singuläre Erscheinung. Sie wurde, wie Herr­ linger nachweist, von den Arbeiten Berengarios und Dryanders beeinf lusst, die völlig Neues beinhalteten, das »von Vesal nur übernommen und weiterentwickelt zu wer­ den brauchte«318 .

315 316 317 318

Vgl. Singer (1952), S. xxv. Vgl. ebd. Vgl. Lippert (2003), S. 1. Herrlinger (1967a), S. 83. Damit widerspricht Herrlinger Singer, der die Meinung vertritt, Dryander hätte von Vesal, der schon in der Vorbereitung zur Fabrica war, »geklaut«, ebd., S. 86f.

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A BGEKU PFERT – A N DR E AS V ESA L U N D SEIN E Z EITGENOSSEN Das Erscheinen der Fabrica319 des Andreas Vesal (Vesalius, 1514–1564) gilt als grundle­ gendes medien­ und kulturhistorisches Ereignis für die Entdeckung des inneren Menschen.320 Ihr Siegeszug gründet überwiegend auf den enthaltenen Bildern: der Expressivität der dargestellten Figuren, der sorgfältigen Ausführung und der detail­ reichen Gestaltung der sie umgebenden Szenarien. Auch Vesals Sinn für dramatische Posen und gruselige Effekte, wie den an den Extremitäten herunterhängenden, gera­ dezu schmelzend tropfenden Hautlappen, oder die auseinander gebogenen Kiefer­ knochen, die manche Schädel wie Teufelsköpfe aussehen lassen, machten diese Bil­ derschau zur Ausnahmeerscheinung. Auf dem Titelblatt zur Fabrica ließ sich Vesal in einem riesigen architektonisch idealisierten Theater darstellen (vgl. Abb. 56). Er wird sich seiner Rolle als »heroic measurer of the ›divine symmetry‹ of the human body«321 bewusst gewesen sein, ja sie sogar lanciert haben. Dennoch war Vesal mehr als ein Gunther von Hagens der Renaissance. In diesem Kapitel wird untersucht, ob auch die Gehirnabbildungen in der Fabrica die Ausnahmestellung dieses Werkes begründet haben, und welchen Einf luss sie auf spätere Darstellungen hatten. Außerdem soll ihre Sonderstellung relativiert werden, indem das etwa zeitgleich erschienene De dissectione partium corporis humani (1545) des französischen Anatomen Charles Estienne (Carolus Stephanus, ca. 1504–1564) und an­ dere Werke des 16. Jahrhunderts zur Fabrica in Beziehung gesetzt werden. Dabei wird deutlich, dass die beiden Pole, zwischen denen sich Vesal und seine Zeitgenossen be­ wegten, noch immer die Lehrmeinung Galens einerseits und die Ergebnisse der eige­ nen Sektion, der Beobachtung und der daraus gefolgerten Anschauung andererseits waren. Die Anatomen des 16. Jahrhunderts lassen sich im Wesentlichen zwei Schulen zuordnen, denn an der Grundsatzfrage der institutionellen medizinischen Ausbildung schieden sich die Geister: Die einen bestanden auf der Autorität schriftlicher Überlie­ ferung als nicht hinterfragbare Größe und Basis der Ausbildung. Die anderen for­ derten dazu auf, dem Kanon alter Schriften nicht blindlings zu vertrauen, sondern im Rahmen von Sektionen am Körper selbst zu lernen und sich ein eigenes Bild zu ma­ chen. 319

320 321

Andreas Vesal, De Humani corporis fabrica Libri septem, Basel 1543. Im selben Jahr erschien auch die so genannte Epitome (Suorum de humani corporis fabrica librorum epitome), eine kürze­ re Fassung der Fabrica. In seiner englischen Übersetzung hat Lind das lateinische Original mit abgedruckt. Skelette oder Muskelmänner halten hier Schädel mit Hirnschnitten, die denen in der Fabrica vergleichbar sind, allerdings so klein dargestellt, dass Einzelheiten kaum erkennbar sind, vgl. Vesal (1949), Anhang. Vgl. Schirrmeister (2005), S. 2 und Jütte (1998). Kemp/Wallace (2000), S. 23.

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Für die erste Richtung steht z. B. Juan Valverde de Amusco (ca. 1525–1588), des­ sen Anatomia del corpo humano 1560 in Rom erschien. Er ging bei seiner Arbeit vom abgebildeten Typus und so von einem Idealzustand aus, bei dem die Authentizität des Sektionsvorgangs lediglich simuliert wurde.322 Andreas Vesal, Arzt und Anatom aus Brüssel, war ein Neuerer der universitären Praxis. Eigenhändig führte er zahlreiche Sektionen durch. Er griff, wie Parmentier es malerisch beschreibt, »selbst zum Messer und öffnete die dunkle stumme Welt der Eingeweide dem forschenden Blick und der öffentlichen Neugier«323. Immer wieder wird Vesal als bedeutender Fürsprecher der Sektion als pädagogisches Instrument ge­ nannt.324 Obwohl Kritiker seiner Verherrlichung davor warnen, sein Werk zum Aus­ gangspunkt neuzeitlicher Erfahrungswissenschaft zu stilisieren,325 begründet Klemm das Label ›Erfahrungswissenschaftler‹, das sie auf Vesal, Berengario und Massa be­ zieht, schlüssig: Die Genannten betonten trotz unterschiedlicher Ergebnisse immer wieder, »der sinnlichen Erfahrung Vorrang gegenüber der tradierten Lehrmeinung zu geben«326 . Sicher ist, dass auch Vesal den Kanon medizinischen und anatomischen Wissens konsultierte und sogar aus Respekt gegenüber Galen den eigenen Augen nicht immer zu trauen wagte. Als Anatomieprofessor in Padua beauftragte Vesal wahrscheinlich den Tizian­ Schüler Jan Stephan von Calcar327 ( Joannis Stephani Calcarensis, ca. 1500–1568) mit der Herstellung der großformatigen Tafeln zur Fabrica. Von O’Malley wissen wir um die wechselvolle Geschichte der Zuordnungen der Illustrationen. Bis heute bleibt sie eine Geschichte vager Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten. Ist von ›Vesals Fabrica‹ oder von ›Vesals anatomischen Abbildungen‹ die Rede, wird Vesal mit der Autorschaft des Werkes auch die der darin enthaltenen Abbil­ dungen zugesprochen. Er wird also mit seinem Werk und dessen Abbildungen syno­ nym gesetzt. Die Grenzen zwischen Anatom und Bildschaffendem sind f ließend. In Texten zur anatomischen Abbildung hat sich weitgehend eine Praxis durchgesetzt, die den Künstler und/oder Kupferstecher außen vor lässt, denn oft wissen wir nichts oder wenig über sie. Auch in der vorliegenden Arbeit bleiben diese Leerstellen weit­ gehend bestehen, da hier weniger Autor­ oder Urheberschaft oder der Status des Künstlers zur jeweiligen Entstehungszeit, sondern vielmehr die Bilder selbst im Mit­ telpunkt des Interesses stehen. Die Tatsache, dass mir eher die Anatomen als die ausführenden Künstler bekannt sind, behindert mich nicht an der ausführlichen Bear­ beitung meiner Fragestellung. Zudem haben Lyons und Petrucelli darauf aufmerksam gemacht, »daß die Bedeutung der Illustrationen gerade darin liegt, daß sie Ergebnis 322 323 324 325 326 327

Vgl. Schirrmeister (2005), S. 5. Parmentier (1991), S. 242. Vgl. Lemke (2005), S. 26. Vgl. Zittel (2005), S. 107. Klemm (2006), S. 97. Auch Jan Joest von Kalkar, vgl. Gerson (1968), S. 398.

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der Zusammenarbeit von Anatom und Künstler sind und die Verbindung von Kunst und Wissenschaft herstellen«328 . Erhellend in diesem Zusammenhang ist auch O’Malleys Vermutung, dass Vesal (wie vermutlich viele der anderen Anatomen auch) selbst Skizzen als Vorlagen zum Tafelwerk angefertigt hat.329 An einer Stelle erwähnte Vesal einen Maler, der eine Kunstfigur gewesen zu sein scheint. Er nahm diesen Schöpfer des Bildwerks, den er nicht beim Namen nannte, als fiktive, aber mit ihm selbst identische Person, von der er berichten konnte, ohne sich selbst auf die Stufe eines Handwerkers zu stellen. Singer sieht in dem Umstand, dass Vesal nicht selbst handwerklich tätig wurde, keine Minderung seiner Bedeutung als der Schöpfer des Gesamtkunstwerks Fabrica: [It does not] detract from the achievement of Vesalius that he was not his own draughtsman, for his was the mind that conceived the plan, his the hand that made the preparations, his the voice that directed the artist, his the drive and en­ ergy that carried this excessively intricate and difficult research to a triumphant end.330

Wodurch heben sich die Tafeln der Fabrica von anderen zeitgenössischen anatomischen Bildern ab? Unbenommen sind die Klarheit der Darstellung morphologischer Struk­ turen, die anatomische Genauigkeit und detailreiche Ausführung der einzelnen Bild­ elemente und Figuren sowie ihre Gesamtkomposition auf den Tafeln zu dieser Zeit einzigartig. Die starke physische Präsenz des Abgebildeten bei Vesal speist sich zum einen aus der Lebendigkeit in der Darstellung der Figuren: Sie scheinen in Bewegung zu sein, sind nicht starre Körper, sondern noch bewegliche, ja beseelte Leiber. Zum anderen liegt diese Präsenz in der Großartigkeit der Posen begründet, wie der des be­ rühmten Skeletts, das sinnierend einen auf einem Steinaltar liegenden Schädel be­ trachtet. Ganz im Sinn des Humanismus verlieh Vesal seinen Figuren Würde, stellte selbst im gehäuteten Menschen noch ein Individuum dar, das Haltung annimmt, in klassischen Posen verharrt. Zudem verweist die Vielfalt der im Bild gezeigten The­ men auf eine differenzierte Kenntnis ästhetischer Strategien seiner Zeit. Abgesehen von der Landschaft, der klassizistischen Kunst und Architektur wurden Metaphern von Vergänglichkeit und Tod, Eitelkeit und Melancholie eingebracht. Auch das oben erwähnte Monströse der dargestellten Leiber hatte Konjunktur. Indem Vesal diese Tendenzen in seiner Anatomie aufgriff und Figuren, Landschaften und Architektur in harmonischen Kompositionen zusammenbrachte, schuf er einen universellen Bilder­ kosmos.

328 329 330

Lyons/Petrucelli (1980), S. 416. Vgl. O’Malley (1964), S. 124ff. Singer (1952), S. xii.

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Suchen wir psychohistorische Zugänge zu Vesals Werk, müssen wir die Ausein­ andersetzung mit der Angst des Menschen vor seiner Vergänglichkeit näher betrach­ ten. Einsichten über Leben und Tod manifestierten sich nicht ausschließlich in der Bildmetaphorik. Schon in der anatomischen Praxis wird der Sieg der Wissenschaft über den Tod, der als Folge der Sünde verstanden wurde, deutlich. Damit wird der Tod in den Dienst des Lebens gestellt.331 Im Bild wurde der Prozess des körperlichen Vergehens aufgehalten, indem die dargestellten Muskelmänner eher als vitale Leiber, denn als Zombies die Buchseiten bevölkern. Obwohl sie eindeutig einer Sektion un­ terzogen wurden, erscheinen sie lebendig. Aby Warburg gab seinen Fragmenten zur Psychologie der Kunst das Motto: »Du lebst und tust mir nichts.«332 Das ›lebendige‹ Bild kann den Schrecken des Todes darstellen, ist selbst aber ungefährlich. Oder, wie Gombrich es ausdrückt: »Wir projizieren Leben in die Bilder der Kunst, aber wir brauchen vor ihnen keine Angst zu haben: sie wahren den Abstand«333. Was für das Leben gilt, gilt auch für den Tod. In der Fabrica wurde der Tod im Bild gebannt und so abgewendet. Das religiöse Motiv der Hoffnung auf Auferstehung ist allgegenwär­ tig. Dem Verfall des Fleisches steht die Schönheit gegenüber, die noch der tote Körper besitzt. Über das Menschenbild der Fabrica lässt sich auf Vesals Weltbild schließen, wel­ ches das naturwissenschaftliche Wahrnehmungsparadigma seiner Zeit zwar nicht ge­ nerierte, aber doch spiegelte und letztlich beeinf lusste. Wir können davon ausgehen, dass diese Bilder im 16. Jahrhundert anders verstanden, ja sogar anders gesehen wur­ den als heute. Die visuelle Kultur war von klassischen Idealen geprägt. Nicht als Leiber ohne Extremitäten, sondern als Teile antiker Statuen dargestellt, zeigen die Situsfiguren der Fabrica beispielhaft, dass nicht durchschnittliche, sondern idealische Körper Gegenstand des vesalschen Bilderkanons sind. Wichtig erscheint mir an dieser Stelle die Feststellung Zittels, dass in der anatomischen Darstellung keine Entwick­ lungstendenz vom Idealismus zum Naturalismus besteht. Ihm zufolge haben in der Medizingeschichte beide Formen stets nebeneinander existiert.334 Vesal sei – so wie Soemmerring im ausgehenden 18. Jahrhundert – Idealist, ebenso wie z. B. Bidloo den Naturalisten zuzuordnen sei. Vielleicht lässt sich dies schon aus dem bis heute namengebenden Wort des Titels herauslesen: Fabrica kann mit ›kunstvoller Bau‹ übersetzt werden. Auch die im meta­ phorisch bestückten Raum handelnden Skelette und Muskelmenschen sind ideale Fi­ guren und als Teile einer größeren Ordnung harmonisch mit ihrer (Bild)Welt ver­ bunden. Wiewohl expressiv im Ausdruck, so stellen sie doch in der Sache Klarheit her, z. B. bei der sechsten Figur der Blutadern, die deren Anordnung im Gehirn zeigt. 331 332 333 334

Vgl. Parmentier (1991), S. 246. Warburg zit. nach Gombrich (1992), S. 98. Gombrich (1992), S. 98. Vgl. Zittel (2005), S. 131.

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Indem Vesal nur die Hirngefäße, also die Anfänge der Blut­ und Pulsadern darstellen ließ, erreichte er zweierlei: Zum einen entstand ein erstaunlich klares Bild, wo sonst allein die schiere Anzahl und Verworrenheit der Gefäße die Darstellung äußerst er­ schwerten; zum anderen wird sogleich die Analogie eines Zweiges mit seinen Veräste­ lungen augenfällig. Indem er die Enden der Gefäße offen ließ, die Äste also beschnitt, konnte er künstlich (auch im Sinne von kunstfertig) eine Ordnung und Übersichtlich­ keit erzeugen. Vesal war selbst allerdings mit dem Ergebnis nicht zufrieden und kriti­ sierte den Holzschnitt als nicht einfach und einleuchtend genug.335 Zum Gehirn äußerte sich Vesal im dritten, vierten und siebten Buch der Fabrica. Im dritten Buch geht es um dessen Blutversorgung, im vierten um seine Verbindung mit dem Nervensystem. Uns interessiert im Folgenden das siebte Buch, in dem die Figuren der ›Funktionseinheit Kopf‹ beschrieben werden. BUCH V II : DI E H AU P TFIGU R EN

Im Liber Septimis, Cerebro Principis Animalis’que facultatum sedi, & sensuum organis dedicatus336 sind die so genannten Hauptfiguren (Figuren des Kopfes), d. h. die Anatomie des Gehirns und der Sinnsorgane dargestellt. Die verschiedenen Hirnschnitte werden innerhalb männlicher Köpfe dargeboten, an ihnen oder von ihnen gezeigt. Beeindru­ cken muss die Pracht der Schnurr­ und Backenbärte, die den Betrachter fast vom Ge­ hirn ablenken. In der vorliegenden Arbeit werden Tafeln bzw. Figuren gezeigt, die nicht der Erstausgabe von 1543 entnommen sind: Die ersten sechs Hirnbilder entstammen der ersten französischen Ausgabe der Fabrica, die der Dramatiker und Mediziner Jacques Grévin (Iaques Grevin, ca. 1539–1570) 1569 in Paris veröffentlichte.337 Bemerkenswer­ terweise handelt es sich dabei nicht um Holzschnitte, sondern um Kupferstiche. Grévin hatte die Möglichkeit, die Originalplatten des Londoner Kupferstechers Thomas Geminus (eigentlich Thomas Lambrit, † 1562) zu verwenden, die dieser für die Lon­ doner Ausgabe von 1545 angefertigt hatte. Sie sind dem Medium gemäß sehr feinlinig ausgeführt, allerdings anders angeordnet als in der Originalausgabe. Ich gehe davon aus, dass durch die Art und Weise, wie Figuren auf einer Tafel und Tafeln innerhalb eines Buches angeordnet sind, bestimmte Funktionen erfüllt werden. Daher wird zu­ nächst beschrieben, wie Vesal die Tafeln im Erstdruck positionierte. Dort sind die Hauptfiguren auf vier aufeinander folgenden Blättern abgedruckt, deren ungewöhnliche Lesrichtung Vesal bewusst anstrebte, und auf deren Bedeutung 335 336 337

Vgl. Vesal (2004), S. 112. Vesal (1555), S. 755. Andreas Vesal, Les Portraicts Anatomiques de toutes les Parties du Corps Humain, gravez en taille douce, par le commandement de feu Henry huictiesme, Roy d’Angleterre. Ensemble L’Abregé d’André Vesal, & l’explication d’iceux, accompagnee d’une declaration Anatomique. Par Iaques Grevin […], Paris 1569.

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er eingangs verwies. Auf die ersten beiden Figuren, die sich auf Blatt 1 befinden, fol­ gen Figur III und IV auf Blatt 2, dann Figur V und VI auf Blatt 3 und VII und VIII auf Blatt 4. Dann folgen die Figuren IX bis XI wieder auf Blatt 1 und so fort. Würde man die vier Seiten wie ein aufgeklapptes Leporello nebeneinander legen, entblätterte sich das Gehirn in zwei Zeilen vor uns. Wie zwei Filmstreifen, auf denen Bild für Bild die Sektion demonstriert wird. Das war Vesals erklärte Intention, bzw. die des vorgeb­ lichen Malers. Er gab zu bedenken, diese Ordnung werde »etwas zerstört, wenn in einem Buch (wie hier geschehen) die Blätter zusammengebunden werden. Wenn du aber aufmerksam bist, wozu ich dich oben ermahnt habe, wirst du dich kaum irren«338 . Er fordert also den Leser auf, seiner Nummerierung zu folgen. In der Anordnung der einzelnen Figuren wird der zeitliche Verlauf einer Sektion bildlich fixiert. Diese Bild­ funktion, die sich erst aus der Gesamtgestaltung und Kombination der einzelnen Fi­ guren auf Tafeln sowie aus der Abfolge verschiedener Tafeln innerhalb des Buches ergibt, geht in späteren Ausgaben (z. B. in der von 1555) durch eine andere Anordnung der Figuren verloren. In Grévins französischer Ausgabe von 1569 muss der Betrachter der Lesrichtung von links nach rechts und von oben nach unten auf jeder Seite folgen (Abb. 47a/47b). Zusätzlich zum Sektionsverlauf visualisiert die Anordnung das sukzessive Ab­ schälen der einzelnen Membranen und Strukturen, das wir bereits von Dryanders Mondino­Ausgabe kennen. Ein derartiges Entblättern des Hauptes lenkt die Auf­ merksamkeit auf seinen Kern: Inmitten des Gehirns wird eine Wahrheit angenom­ men, die es zu entschleiern gilt. Ist der Ort der hypostasierten Seele Zielpunkt der Hirnsektion? Die ästhetische Ansprache wird bei aller anatomischen Präzision auch in den Hirnbildern nicht vernachlässigt. In kleinen Einzelheiten findet sich der bildliche Be­ zug zur klassisch­griechischen Architektur. Betrachten wir die siebte Figur auf dem vierten Blatt der Hauptfiguren (Abb. 48): Es handelt sich um einen Horizontalschnitt, bei dem der hintere Teil der Hirnsubstanz weggenommen wurde, um bestimmte Strukturen besser sichtbar zu machen.339 Wie schon bei Figur vier bis sechs unter­ schied Vesal die graue (er sah sie »lehmfarben und überhaupt nicht aschenfarbig«340 ) von der weißen Hirnsubstanz und betrat damit Anatomie­terminologisches Neuland. Auffällig ähnlich einem Akanthusblatt am korinthischen Kapitell wirkt die Form, die von Linie C beschrieben wird. Sie zeigt »Einwälzungen und Windungen des Hirns«341 an und trennt beide Hirnsubstanzen voneinander. Dieses Akanthus­Ornament korres­

338 339 340 341

Vesal (2004), S. 160f. In diesem Kapitel zitiere ich der besseren Lesbarkeit halber aus der Ausgabe von 2004, für die der Text in zeitgenössisches Deutsch übertragen wurde. Vgl. Vesal (2004), S. 168. Ebd., S. 165. Ebd., S. 164.

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Abb. 47a: Sektion des Kopfes, Hauptfiguren I–IV aus De Humani corporis fabrica, Vesal (1569).

Abb. 47b: Sektion des Kopfes, Hauptfiguren V–VIII aus De Humani corporis fabrica, Vesal (1569).

pondiert harmonisch mit der Nase. Die Linien, die Sulci und Gyri der Frontal­ und Schläfenlappen beschreiben, korrespondieren mit der klassischen Barttracht. Im Faltenwurf der abgestreiften Hautlappen (Fig. II und III), in der Darstellung der weichen Haarlocken (Fig. XII), den kühn geschwungenen Bärten (Fig. IV) und in der Würde und Gefasstheit der Gesichter scheint eben jenes Menschenbild auf, das in der Einheit von Körper und Seele zum Ausdruck kommt. Am augenfälligsten wird dies durch strenge Symmetrien in der Darstellung. Einschränkend bleibt zu erwäh­ nen, dass die Bildvorlage, der menschliche Körper, mehr oder weniger symmetrisch aufgebaut ist. Zudem ließ Vesal auch nicht alle Hirnfiguren achsensymmetrisch dar­ stellen (Fig. I und II). Dennoch führt die Betonung der vorgefundenen Symmetrien zu neuen Bildern, die im krassen Gegensatz zu vorgängigen Hirndarstellungen, etwa denen Berengarios, stehen. Vesal war nicht nur ein pedantisch genauer Anatom und Beobachter, er gab dem Körper in seinen Darstellungen eine neue Form. Die Bilder sind sorgsam komponiert, um immer auch solche Gehirnteile sichtbar zu machen, die bei glatten Schnitten verdeckt geblieben wären. Vesal wies mehrfach

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Abb. 48: Horizontalschnitt, siebte Figur der Hauptfiguren aus De Humani corporis fabrica, Vesal (1569).

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Abb. 49: Horizontalschnitt mit Blick aufs Kleinhirn, achte Figur der Hauptfiguren aus De Humani corporis fabrica, Vesal (1569).

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Abb. 50: Kleinhirn und Hirnstamm von oben aus der Schädelbasis gehoben, neunte Figur der Hauptfiguren aus De Humani corporis fabrica, Vesal (1569).

darauf hin, z. B. indem er erklärte, wie er bestimmte Teile zur besseren Sichtbarkeit »nach oben und dann nach hinten«342 bog. So auch bei der achten und neunten Figur, in denen es um das Kleinhirn geht (Abb. 49 und Abb. 50). In der neunten Figur

342

Ebd., S. 168.

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wird das gleiche Stück des Hirns wie in der achten Figur behalten. Hier ist es aber ganz ausgebreitet dargestellt […]. Das Kleinhirn hängt hier nach unten, weil es mit den Händen von der Hirnschale abgelöst und ein wenig zurückgebogen wurde, damit der Ort, an dem die Hirnschale sonst anliegt, und auch die Höhle des Rückenmarks […] gesehen werden können. Außerdem sind hier die erste und zweite Ausbuchtung des harten Hirnhäutchens geöffnet, sodass die Zusammen­ kommung etlicher Blutadern und Nerven deutlich zu erkennen ist.343

Diese manuelle Manipulation war aber nicht in allen Fällen bildwürdig. In der Erklä­ rung zur fünften Figur (Abb. 51) heißt es: Der obere Teil der gerade genannten Trennung [wird] dem aufblitzenden Kör­ per 344 angelegt. Diese Trennung konnte nicht anders gemalt werden, wenn er wie jetzt auseinander gerissen ist. Es ist auch gleichwohl eine andere Figur, wenn zwei Hände (wie ich das Schneiden gewohnt bin) den aufblitzenden Körper, der noch nicht ganz von seinem vorderen Ort abgelöst ist, ein wenig ausheben, damit diese Trennung noch intakt gesehen wird. Dies sah in der Abbildung aber nicht so gut aus, wie es sich beim Schneiden darstellt, sodass ich diese Figur weggeworfen habe, damit sie das Blatt nicht verdunkelt.345

Damit bestätigte Vesal, dass ihm ästhetische Gesichtspunkte seines Bildmaterials min­ destens ebenso wichtig waren wie der anatomische Erkenntnisgewinn seiner Leser. Drei Figuren, die nicht zu den Hauptfiguren, sondern ins Liber Quartus gehören, zeigen ebenfalls den anatomischen Bau des Gehirns. Der didaktische Schwerpunkt liegt hier auf Hirnnerven und Nervensystem. Letzteres wird in seiner Gesamtheit als Auffaltfigur präsentiert: eine aus Nerven geformte Gestalt, die anstelle eines Kopfes ein hochgeklapptes Gehirn darbietet (Abb. 52). Wie bei Estienne ist hier das Gehirn Teil eines ganzfigurigen Tafelbildes (vgl. Abb. 60–Abb. 63). Doch anders als bei jenem geht es bei Vesals Tafel um mehr als um ein Gehirn in einer bestimmten Sektions­ phase, das von einem Muskelmann lediglich zur Schau gestellt wird, der demgemäß nur Trägerfigur ist. Vesals Tafel ist eine Illustration des Begriffs Nervensystem: Bild­ lich stellt sie den Sinnzusammenhang zwischen Gehirn und Nerven her bzw. das Ge­ hirn als Teil des Nervensystems dar. Der Blick des Betrachters wird in die Nerven­ bahnen gelenkt und geht doch immer wieder über das Rückenmark zum Gehirn zurück. Damit wird gezeigt, wie das Gehirn rein anatomisch aber auch funktional mit jedem Teil des Körpers in Verbindung steht. Im Bild werden erstens die Ursprünge 343 344 345

Ebd., S. 170. Gemeint ist das Corpus callosum, das Vesal bei der dritten Figur des Kopfes mit den Wor­ ten »[e]in auf blitzender harter Körper des Hirns« bezeichnete, Vesal (2004), S. 164. Ebd., S. 165f.

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Abb. 51: Horizontalschnitt, fünfte Figur der Hauptfiguren aus De Humani corporis fabrica, Vesal (1569).

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Abb. 52: ›Nervenkörper‹ am Ende des vierten Buches aus De Humani corporis fabrica, Vesal (1555).

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Abb. 53: Gehirn von der Basis aus gesehen aus De Humani corporis fabrica, Vesal (1555).

der Nerven an der Hirnbasis nachvollziehbar. Zweitens wird die Beziehung zwischen dem Gehirn als Steuerungseinheit und den Nerven als Leiterbahnen seelischer Ener­ gie veranschaulicht. Dies visualisieren auch zwei Figuren, die sich im Erstdruck auf einer Tafel be­ finden. Ich zeige sie, da sie in den folgenden Jahrhunderten immer wieder abgekup­ fert wurden und sowohl perspektivisch als auch konzeptionell richtungweisend wa­ ren. In der ersten von ihnen zeigt Vesal als erster das Gehirn von der Basis her. Aus

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Abb. 54: Gehirn von der Seite gesehen und Nerven aus De Humani corporis fabrica, Vesal (1555).

dieser Perspektive ergibt sich für den Betrachter ein Blick auf das Chiasma opticum (H), den Bulbus olfactorius (F) und die weiteren Hirnnervenpaare (Abb. 53). Die an­ dere Abbildung ist eine Art bildliche Kurzform der zuvor beschriebenen Auffaltfigur. Das Gehirn ist hier von der Seite dargestellt. Von ihm aus führen die Spinalnerven nach unten und enden in einem stilisierten wurzelartigen Nervengebilde (Abb. 54). Gleich einer Blüte oder Baumkrone vollendet das Gehirn in diesem ebenso künst­ lichen wie künstlerischen Präparat die organische Einheit Nervensystem. Im Bild wird die Stellung des Gehirns als Seelensitz demonstriert.

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SE E L ENS ITZ

Rembrandts Gemälde Die Anatomievorlesung des Doktors Joan Deyman (1656; Amster­ dam, Rijksmuseum) (Abb. 55) ist oft mit dem etwa ein Jahrhundert älteren Frontispiz zu Vesals Fabrica (Abb. 56) verglichen worden. Kurioserweise schrieb 1968, dem Jahr der Studentenrevolte, der deutsche Kunsthistoriker Horst Gerson, Vesal habe beim Demonstrieren des Uterus den »Sitz der Verderbtheit« gezeigt. Doktor Deyman dage­ gen habe sich von der Bauchhöhle der männlichen Leiche dem Gehirn, dem Sitz der

Abb. 55: Anatomievorlesung des Doktors Joan Deyman (Ausschnitt), Rembrandt van Rijn (1656).

Seele, zugewendet.346 Die seltsame Wertung, die in einer solchen Aussage liegt, eröff­ net verschiedene Felder: Sie ließe den Schluss zu, Vesal hätte das Gehirn überhaupt nicht gezeigt. Wie wir wissen, ist das Gegenteil der Fall. Das Hirn wurde allerdings in der Fabrica nicht nur ausführlich abgebildet und im Text thematisiert, es wurde zudem

346

Vgl. Gerson (1968), S. 398.

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Abb. 56: Frontispiz zu Vesals De Humani corporis fabrica, Vesal (1555).

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Abb. 57a/57b: Uteri in verschie­ denen Stadien der Schwangerschaft aus Ein schoen lustig Trostbuechle, Rueff (1559).

von Vesal explizit als »Sitz und Wohnung der sinnlichen und wichtigsten lebendigen Kraft und Bewegung«347 definiert. Ein weiterer Punkt ist im Zusammenhang mit Gersons Bemerkung erwähnens­ wert: Die Beobachtung nämlich, dass das Gehirn bis zum 19. Jahrhundert ausschließ­ lich in männlichen Köpfen gezeigt wurde, und es so gesehen kulturgeschichtlich als männliches Prinzip einem weiblichen gegenübersteht, das anatomisch immer durch die Fortpf lanzungsorgane repräsentiert wurde. Wenn wir an die Hockfiguren früher anatomischer Darstellungen denken, so war die einzige unter den Figuren eine weib­ liche, die den Regenerationsprozess visualisierte. Dieser kleine Exkurs schließt mit der Beobachtung, dass Mitte des 16. Jahrhunderts Abbildungen von Uteri entstanden, die denen von Gehirnen seltsam ähnlich sehen. Die eiförmigen Gebilde (Abb. 57a und Abb. 57b) aus dem Trostbuechle348 von Jacob Rueff (1500–1558) erinnern an die Hirn­ bilder Berengarios (vgl. Abb. 41). Eine Verwandtschaft der Visualisierungstraditionen 347 348

Vesal (2004), S. 29. Jacob Rueff, Ein schoen lustig Trostbuechle von den Empfengnussen und Geburten des Menschen, Zürich 1554.

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beider Organe scheint also zu bestehen (was auch Metaphern wie ›Kopfgeburt‹ nahe­ legen), die andernorts näher zu untersuchen wäre. Dass Vesal die Seele nicht im Uterus verortete, steht außer Frage. Wo aber im Gehirn befindet sie sich seinem Wissensstand nach? Vesal hing der Zelldoktrin nicht mehr an. Er griff zwar auf das noch ältere Spiritus­Konzept zurück, stellte aber die Ventrikel anatomisch richtig dar. Der lebendige Geist, ein durch die Atmung sowohl im Herzen aus dem Dampf des Blutes als auch in den Hirnkammern entstehender Spi­ ritus, erfüllte verschiedene Aufgaben. Das Hirn benötigt einen Teil für die »vor­ nehmlichsten Ämter der Seele«, einen anderen »aber übersendet es durch die Sehnen [Nerven, W. L.], die von ihm geboren sind, zu den Instrumenten, die des sinnlichen Geistes bedürfen (welche hauptsächlich Werkzeuge der freiwilligen Empfindung und Bewegung sind)«.349 Über die Hirnkammern und das Rückenmark dient ein weiterer Anteil des Spiritus der Versorgung der Nerven. Bei der Produktion des Spiritus fallen nach dieser Vorstellung Abfälle an. Dieser überf lüssige Schleim kann durch die Nase ausgeschieden werden. Auf dieses Phänomen hatte bereits Galen aufmerksam ge­ macht. Zwar hatte er den Begriff Hypophyse noch nicht gekannt, sie aber als »ein Glied in der langen Reihe von Auswurforganen, welche die Purgamenta s. Excemen­ ta cerebri, als Nasenschleim, ab und auszuführen haben«350 beschrieben. Vesal gab der Drüse den von Galens Beschreibung abgeleiteten Namen Glandula Pituitaria (»Schleim­ drüse«351). Indem er sie als Trichter darstellte, betrieb er funktionelle Physiognomik. Die Form der Drüse wurde ihrer Funktion angepasst (Abb. 58). Vesal hatte zwar Kenntnis von der Zelldoktrin und explizierte sie auch, verfes­ tigte ihre Bedeutung aber nicht dadurch, dass er sie abbildete. Damit ging er einen deutlichen Schritt weiter als Dryander, der alte und neue Darstellungsformen in einem anatomischen Werk vereint hatte. Nach Vesal wird der Spiritus animalis vom Hirn aus verwaltet und verteilt, doch dampft er im ganzen Körper. Er ist nicht selbst Seele, sondern ihr Werkzeug. Es scheint, als wäre hier jener Moment in der Geschichte der Hirnforschung greif bar, in dem mit der genauen Darstellung der Ventrikel der Ort der Seele zunächst unsicher wurde (vgl. Abb. 51). Einen weiteren Gegenbeweis für die Existenz der Seele in den Ventrikeln bil­ dete für Vesal die Tatsache, dass er ähnlich geformte Ventrikel auch in Tieren vorfand. Da diese als seelenlos galten, und er bei seinen Sektionen festgestellt hatte, dass die Lage und Anzahl der Ventrikel beim Menschen denen der Tiere entsprechen, musste er zu dem Ergebnis kommen, dass die Hirnkammern unmöglich Wohnsitz der Seele sein konnten: »Hence I do not hesitate to ascribe to the ventricles a part in the produc­

349 350 351

Vesal (2004), S. 30. Galen, zit. nach Hyrtl (1880), S. 259. Karenberg (2007), S. 27.

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Abb. 58: Glandula Pituitaria (›Schleimdrüse‹), Fig. XIX aus De Humani corporis fabrica, Vesal (1555).

Abb. 59: Das wunderbare Netz (Rete mirabile), Fig. XVII aus De Humani corporis fabrica, Vesal (1555).

tion of animal spirit, but I belive nothing ought to be said of the locations of the facul­ ties of the principal soul in the brain.«352 Dass Vesal die genaue Lage der Ventrikel richtig darstellte und ihren Inhalt als wässrige Flüssigkeit beschrieb, führte laut Oeser dazu, dass Vesal sie letztlich weder als Sitz der Seelenvermögen, noch als den Produktionsort des Spiritus animalis ansah.353 Diese Aussage ist hochinteressant, wenn auch der zweite Teil durch das zuvor ange­ führte Zitat Vesals widerlegt wird. Die Suche nach dem Seelenorgan wurde diesem Gedanken nach durch die neu erworbenen Fähigkeiten zu einer ›anatomisch rich­ tigen‹ Darstellungsweise als sinnlos erachtet. Es waren die Bilder vom Gehirn, die das ›Bild vom Gehirn‹ – die Theorien über seine Funktionsweise – veränderten. Obwohl er mit seinen Bildern einen Typus statuierte – es war ihm gelungen, Grundformen, Urformen bzw. Urgestalten für die anatomische Abbildung zu schaf­ fen – verwies Vesal in den Legenden zum Tafelwerk der Fabrica ausdrücklich auf indi­ viduelle körperliche Merkmale. Er gab z. B. bei der Anordnung der Nerven der Hand zu bedenken, dass man eine bestimmte »Verwicklung« nicht bei allen Menschen fin­ det.354 Trotz seiner Aufforderungen zu genauerer Beobachtung bildete Vesal das Rete mirabile auf dem dritten Blatt der Hauptfiguren äquivalent zu den anderen Hirnfi­ guren so ab, als hätte er es selbst gefunden, und nicht kanonisches Wissen reprodu­ ziert (Abb. 59). Interessant ist, dass er in der Legende zu der entsprechenden Bildtafel gar nicht behauptet, es im Gehirn gesehen zu haben. Vesal weist lediglich darauf hin, 352 353 354

Vesal, zit. nach Clarke/O’Malley (1968), S. 718. Vgl. Oeser (2002), S. 44. Vesal (2004), S. 175.

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dass Galen es an dieser Stelle beschrieben hat: »In dieser Figur haben wir die verwor­ rene Verwicklung bzw. das Netz abgebildet, wie es auch in der Beschreibung des Galenus in den Büchern vom Gebrauch der Teile des menschlichen Leibs steht.«355 Es wirkt, als sei ihm klar gewesen, dass eine Beschreibung und Abbildung der Hirnana­ tomie ohne diese bedeutungsschwere Struktur nicht möglich gewesen wäre – ob sie nun zu finden war oder nicht. Das Rete ist Vesals wunder Punkt. Hier ist er angreif bar: Klemm hat die wech­ selnden Standpunkte nachvollzogen, die er zu dieser wunderlichen Struktur einnahm, und nachgewiesen, dass sich Vesal zwischen 1538 und 1543 mit dieser Problematik befasst hatte und sowohl seine verbalisierten als auch visualisierten Ansichten darüber mehrfach änderte.356 Baldasar Heseler formulierte einen Augenzeugenbericht zu den öffentlichen Sektionen, die Vesal 1540 in Bologna durchgeführt hatte. Während der fünfundzwanzigsten Demonstration habe dieser seinen Studenten das Rete mirabile gezeigt: He first showed at each side the net­like plexus of arteries which ascend from the rete mirabile […]. At last he showed us the rete mirabile, situated higher up in the middle of the cranium near where the arteries ascend and forming the plexus in which the spiritus animales are produced out of the spiritus vitales transferred the­ re. And it was a reddish, fine, netlike web of arteries lying above the bones, which I afterwards touched with my hands.357

Zuvor, während der fünfzehnten Demonstration, hatte Vesal den Anwesenden ein Bild gezeigt: Dryanders Darstellung eines geschälten Kopfes, auf dem das Rete zu se­ hen ist (vgl. Abb. 45).358 Dass er Bilder zum Vergleich heranzog, zeigt, dass er ihnen durchaus Beweiskraft zuschrieb. W EN DEPU N KT FABR IC A

Taugt die Fabrica als Symbol für einen Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaf­ ten? Neben wissenschaftlichen Visualisierungsstrategien prägte Vesal auch die institu­ tionelle Anatomie der nachfolgenden Jahrhunderte. Der Unterschied zwischen dem Lernen aus Büchern und dem Lernen am Körper und somit am jeweiligen zu sezie­ renden Individuum war eine Grundsatzfrage der medizinischen Ausbildung, die die Universitäten des 16. Jahrhunderts spaltete. Nicht als einziger seiner Zeitgenossen, aber als der bis heute bekannteste Anatom dieser Zeit stellte Vesal die Autoritäten in 355 356 357 358

Ebd., S. 174. Vgl. Klemm (2006), S. 98ff. Heseler (1959), S. 289. Vgl. ebd., S. 219.

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Frage und wirkte so einem geistigen Wiederkäuen tradierten Wissens nachhaltig ent­ gegen. Zweifellos nimmt die Fabrica also eine Mittlerstelle zwischen überliefertem Wissen und neuzeitlicher Wissenschaft ein. Wie die genannten Beispiele zeigen, war Vesal allerdings kein Umstürzler. Er lehnte Galens medizinische Schule im Großen und Ganzen nicht ab, sondern versuchte, sie mit seinen eigenen Beobachtungen in Einklang zu bringen. Während der öffentlichen Demonstrationen verwies er seine Studenten immer wieder auf die Lehren Hippokrates’, Avincennas und Mondinos, aber vor allem Galens und forderte sie stetig auf, die betreffenden Stellen bei Letzte­ rem nachzulesen.359 Feststeht, dass das leise Opponieren Vesals gegen Galen seinen Zeitgenossen die willkommene Möglichkeit gab, sich an ihm zu reiben. Die Tatsache, dass Vesals Anatomie genauso unkritisch wie die humanistischen Klassiker Eingang ins medizinische Kurrikulum gefunden haben, erklärt Lembke damit, dass das Ler­ nen am »Bild als gedeutete körperliche Wirklichkeit«360 für den ungeübten Studieren­ den effektiver gewesen sei, als selbst eine Autopsie vorzunehmen. Die Aufrufe Vesals, Sektionen durchzuführen, deutet er als »Beglaubigungspraktiken eines publizistisch ambitionierten Autors, nicht aber als Kernsätze einer erneuerten Wissenschaft vom dekonstruierten oder objektivierten Körper«361. Singer ist der Ansicht, dass die Fabrica »eine nur allzu kurze Vereinigung von Kunst, Humanismus und Wissenschaft«362 verkörpert. Neben dem unleugbar bahn­ brechenden Einf luss, den sie auf die Anatomie und so auf die Medizin insgesamt hat­ te, ist ihre Nachwirkung in anderen Bereichen erstaunlich. Selbst in Dichtung und Textproduktion wirkte Vesals anatomische Praxis exemplarisch.363 Seit dem 16. Jahr­ hundert finden sich Metaphern aus der Anatomie z. B. in wissenschaftlichen Schrif­ ten. Text­›Körper‹ wurden aufgebaut, gegliedert und nach anatomischen Kriterien in einzelne Sektionen zerlegt.364 Parmentier spricht von einem bis heute anhaltenden »intellektuelle[n] Kannibalismus«: Er ist der Ansicht, dass der »rationale Akt des Zer­ gliederns, Zerlegens und Zerschneidens […] zum grundlegenden und umfassenden Paradigma aller neuzeitlichen Wissenschaften geworden« ist.365 359 360 361 362 363 364

365

Vgl. Heseler (1959), auf nahezu jeder Seite. In Bezug auf das Gehirn vgl. z. B. S. 277. Lembke (2005), S. 46. Ebd. Singer (1969), S. 335. Vgl. Mitchell in Schirrmeister (2005), S. 224–251. Wie Vesal die visuellen Konventionen seiner Zeit vereinnahmte und reproduzierte, ver­ deutlicht nicht zuletzt auch der Text der Fabrica. Im 5. Kapitel der Nürnberger Ausgabe von 1551 Vom Hirn und von den Instrumenten, die erschaffen sind, dem Hirn zu dienen benutzte Vesal verschiedene sprachliche Bilder. Die Referenz an die klassische Architektur, die er abbilden ließ, findet sich in Metaphern wie »Gewölbe«, »Kammer« oder »Höhle« wieder. Ein anderes Mittel, dessen er sich bediente, war es, Analogien zu anderen, offenliegenden und daher bekannteren Körperteilen herzustellen, wie z. B. zu »Arschbacken« oder »Ho­ den«, Versal (2004) S. 29. Parmentier (1991), S. 238.

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Der Einf luss von Vesals Werk auf die bildende Kunst war sicherlich nicht immer so offensichtlich wie bei jenen Gemälden, in denen die Arbeit von Ärzten oder Pro­ sektoren dargestellt wurde: »From the f layed f lesh portrayed so dramatically by An­ dreas Vesalius […] to Rembrandt’s tribute to Dr. Tulp, anatomy in the late sixteenth and early seventeenth century was very conspicuously the art of dead bodys.«366 Dem ästhetischen Gehalt der Fabrica zum Trotz und alle Unterschiede des visuellen Aus­ drucks zwischen Gemälde und Druckgraphik einbeziehend scheint sich beim Ver­ gleich wissenschaftlicher Darstellungen mit solchen der bildenden Kunst eine Kluft aufzutun. Schon 1521/22 hatte Hans Holbein d. J. (ca. 1497–1543) mit seinem Gemäl­ de Der Leichnam Christi im Grabe Belting zufolge »in einem unerhörten Verismus einen Körper dar[gestellt], der zwischen anatomischer Figur und apolinischem Ideal eine prekäre Balance hält«367. Vergleicht man Hirnbilder gedruckter Anatomien mit dem Wenigen, was wir von diesem Organ auf Rembrandts Doktor Deyman (Abb. 52) er­ kennen können, fällt dessen um Vieles naturalistischer wirkende Darstellung der ce­ rebralen Gyri auf.368 Auch wenn Rembrandt die Möglichkeit gegeben war, die Holz­ schnitte Berengarios, Dryanders, Vesals und anderer zu studieren, so wird er doch einer Hirnsektion beigewohnt haben, die Oberf lächenbeschaffenheit am Objekt selbst studiert haben. Cetto erklärt, warum man hiervon ausgehen kann: [D]ie Illustrationen in den Büchern waren farblose Druckgraphik. Auch zeigten sie den Kopf gewöhnlich, der Aufgabe entsprechend, schräg von oben, nicht frontal. Rembrandts Farbgebung des Großhirns und der herabgeschlagenen Weichteile läßt jedoch erkennen, daß er sich auf den Anblick der Wirklichkeit gestützt hat.369

Zurückführen lässt sich der Realismus­Vorsprung der Malerei auf die unterschied­ liche Bedeutung, die Form und Inhalt oder Morphologie und Funktion zugemessen wurde. Konnten die Künstler ihr Studium des Körpers auf die Oberf lächen, das offen zutage Liegende, beschränken, beschäftigten sich Anatomen mit dem inneren Bau der Körperteile, deren Funktion sie interessierte. Hier unterscheiden sich Bildfunktionen künstlerischer und wissenschaftlicher Anatomie: Hatte eine Struktur keine bis dahin vermutete oder bekannte Funktion, wie beispielsweise die Hirnrinde, bestand für den Anatomen keine Notwendigkeit, sich mit der genauen Darstellung ihrer Form aufzu­ halten. Hingegen war es die Form des Organs, die einen Maler wie z. B. Rembrandt interessierte. Sie diente dazu, sowohl die vom Bild ausgehende Repräsentationskraft des Mitglieds der Chirurgengilde zu stärken, als auch den ›inneren‹ Menschen als Gottes Wunderwerk zu zeigen. Nicht zu leugnen ist hingegen, dass sich Wissen­ 366 367 368 369

Wilkin (2003), S. 57. Belting (2002), S. 100. Vgl. Clarke/Dewhurst (1972), S. 68. Cetto, in Wolf­Heidegger/Cetto (1967), S. 314.

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schaftler vielfach auch von ästhetischen Gesichtspunkten leiten ließen. So hing das Interesse an Funktionen bestimmter Organe, die Art, wie wissenschaftliche Objekte wahrgenommen wurden, sehr wohl auch von ihrer Oberf läche ab, davon wie sie aus­ sahen. Kemp führt beispielsweise die Bedeutung, die den Hirnkammern im Mittelal­ ter zugeschrieben worden war, bzw. den Fakt, dass man den Kortex weitgehend igno­ riert hatte, nicht zuletzt darauf zurück, dass die Hirnrinde ästhetisch nicht ansprechend ist: »our ›grey matter‹ looks very unpromising to the naked eye«370 . Dass ästhetische Paradigmen für die Naturwissenschaften entscheidend waren und blieben, auch dafür steht Vesals grafisches Vermächtnis. * Anatomische Werke, die vor der Fabrica erschienen waren, werden häufig unter dem Label ›Prä­Vesalius‹ zusammengefasst. Es bezieht sich weniger auf die Tatsache, dass diese Anatomien und Traktate vor 1543 erschienen sind, sondern vor allem darauf, dass ihre Abbildungen weniger gut waren.371 Die Unzulänglichkeiten sind in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die Anatomen vor Vesal ihre Abbildungen lieber auf den Erkenntnissen ihrer philosophischen Betrachtungen auf bauten und mehrheit­ lich darauf verzichteten, Sektionen durchzuführen. Dennoch kann nicht verallgemei­ nernd behauptet werden, dass Prä­Vesalianer ihren Augen nicht getraut hätten. Wie wir gesehen haben, entwickelten sich vor Erscheinen der Fabrica und etwa zeitgleich durchaus interessante Positionen anatomischer Forschung und Darstellung. Später wurden diese häufig ignoriert oder marginalisiert und neue Abbildungsstrategien häufig Vesal zugeschrieben. So wurde beispielsweise vielfach angenommen, der ver­ änderte Status des Körpers, der sich von der Passivität des der Sektion ausgelieferten Leibes hin zu aufrecht stehenden »gehäuteten Muskelmenschen«372 , vom objekthaften Toten zum agierenden, sich präsentierenden Subjekt entwickelt, gehe auf Vesal zu­ rück. Dabei waren nicht erst seine Muskelmänner und Skelette belebte, agierende Subjekte, die das Grauen des toten Fleisches angesichts der ästhetischen Überhöhung der Darstellung vergessen ließen. Solche Darstellungen kennen wir z. B. auch schon von Berengario und von Estienne, der in den 1540er Jahren mit Vesal um den Ruf des bedeutendsten Anatomen des Abendlandes konkurrierte (vgl. Abb. 37). CH A R L E S E STI EN N E

Zwischen Charles Estienne und Andreas Vesal gibt es erstaunlich viele Parallelen. Beide studierten beim Galenisten Jacques Dubois in Paris. Ebenso wie Vesal zweifelte Estienne an den überlieferten Lehren und sezierte selbst. Den Aufenthaltsort der Seele 370 371 372

Kemp (2004), S. 54. Vgl. French (1985), S. 42. Jankrift (2005), S. 51.

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zu finden, war bei Estienne kein vorrangiges Anliegen. Als entscheidenden Faktor der Gehirnfunktion sah er den Spiritus animalis an, den er als Instrument oder Werkzeug der Seele deutete: »lequel esprit a esté de tous estime principal orgne & instrument de l’ame«373. Aufgrund eines Rechtsstreites mit seinem Mitarbeiter Estienne de la Rivière (Stephano Riverio, † 1569) erschien De dissectione partium corporis humani374 erst zwei Jahre nach der Fabrica, war zum großen Teil aber bereits 1539 fertiggestellt worden.375 Von den Zeichnungen der anatomischen Details, die vielfach als Insets in die ›Bild­ umgebung‹ eingesetzt sind, stammen die meisten wahrscheinlich von Estienne de La Rivière, die Zeichnungen der Figuren und des Umfeldes sowie die Holzschnitte von verschiedenen Künstlern376 . Die in der vorliegenden Arbeit abgedruckten Abbildun­ gen stammen aus der französischen Ausgabe La dissection des parties du corps humain377, die 1546 in Paris erschienen war. In diesem Zusammenhang weise ich auf eine Merkwürdigkeit bezüglich der es­ tienneschen Tafeln hin, die schon vielfach diskutiert worden ist. Ausgenommen die Tafeln des ersten und die ersten beiden Tafeln des zweiten Buches wurden für alle Ganzkörperfiguren zusätzliche Holzblöcke hergestellt und nachträglich in die Ge­ samtkomposition eingefügt. Die Ansichten darüber, warum dies geschah, ob z. B. ein misslungener früherer Versuch ausgebügelt werden sollte, gehen auseinander. Chou­ lant hat die Meinung vertreten, die Figuren hätten vor oder nach dem Erscheinen von De dissectione nicht­medizinischen Zwecken gedient.378 Herrlinger findet diese Mög­ lichkeit abwegig und unterstützt die »Hypothese, das ganze Werk sei anatomisch überarbeitet worden, um Fehler und Unzulänglichkeiten zu verbessern«379 . Ist Letzte­ res der Fall, bietet sich damit auch eine Erklärung dafür, warum das Werk erst so spät erscheinen konnte. Die Vermutung der Biographen Vesals, dieser sei im Zuge des verspäteten Er­ scheinens von De dissectione durch Estienne und de la Rivière plagiiert worden, weist

373 374 375 376 377

378 379

Estienne (1546), S. 274. Charles Estienne, De Dissectione partium corporis humani libri tres à Carolo Stephano ed. Unà cum fig. et incisionum declarationibus à Stephano Riverio compositis, Paris 1545. Vgl. Herrlinger (1967a), S. 91. Über deren Identität herrscht Uneinigkeit. Herrlinger nennt Jollat als den Hauptverant­ wortlichen, über den wenig Genaues ausgesagt werden kann, vgl. Herrlinger (1967a), S. 93 und S. 100. Charles Estienne, La dissection des parties du corps humain divisee en trois livres faictz [sic] par Charles Estienne docteur en Medecine: avec les Figures & declaratio des incisions, composees par Estienne de la Riviere Chirurgien, Paris 1546. Dieser Ausgabe ist ein Abriss der vesalschen Anato­ mie mit Abbildungen beigefügt (Abregé de l’Anatomie d’André Vesal). Vgl. Choulant (1971), S. 37. Obwohl sie als widerlegt gilt, wird seine Vermutung teilweise noch heute vertreten, vgl. Rif kin/Ackerman/Folkenberg (2006), S. 83. Herrlinger (1967), S. 96.

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Herrlinger zurück und behauptet es umgekehrt.380 Oft wird dieser Zeitverzug als Grund dafür angegeben, dass sich Vesal als größter Anatom vor seinen Kollegen pro­ filieren konnte. Seit den 1960er Jahren bemühen sich Medizin­ und Kunsthistoriker darum, Estiennes Leistungen, die neben denen Vesals stets übersehen wurden, zu würdigen und ihn gewissermaßen zu rehabilitieren.381 Hier interessiert diese Proble­ matik jedoch weniger. Vielmehr stellt sich uns die Frage, warum Estienne die Hirn­ schnitte bildlich nicht vom Körper trennte, und sie lediglich als winzige Elemente seiner Bildensembles erscheinen ließ. Insgesamt gibt es vier formatfüllende Tafeln, auf denen Estienne das Gehirn präsentiert. Zunächst werden im Folgenden die anatomischen Aspekte der gezeigten Hirnschnitte vorgestellt, bevor wir uns anschließend den nicht­anatomischen Bilde­ lementen dieser Gehirntafeln zuwenden, die am Beispiel der ersten beiden Tafeln be­ schrieben und mit Hilfe der Bildfunktionen analysiert werden. In der ersten Tafel geht es um die Ventrikel (Abb. 60). Dabei ist das Gehirn so geschnitten, dass das Kleinhirn unversehrt ist und das rechte und linke Horn des late­ ralen Ventrikels deutlich zu erkennen sind. In der Legende werden die vier am Bild ausgewiesenen Punkte benannt, die alle mit den Ventrikeln zu tun haben: (A) Der Ort, an dem der rechte Ventrikel des Gehirns sich mit dem linken verbin­ det. (B) Die Rückkehr und Ausdehnung der Choroide genannten [Ader]Haut um­ schließt die oben genannten Ventrikel. (C) Der Anfang der oben genannten Ader­ haut verläuft aufwärts und zieht sich hinter die Hirnventrikel zurück. (D) Die Substanz der hinteren Hirnventrikel, fest und gewunden wie keine der anderen, zieht ihre schräge Bahn hier und dort durch die Mitte der genannten Ventrikel, sodass sie den Rückstand des genannten Ventrikelinhalts in seinem Zustand be­ lassen.382

Was Estienne hier beschreibt, ist die Tela choroidea, die den Plexus choroideus bildet. Dieser ist für die Bildung des Liquor cerebrospinalis zuständig.383 Dieser Flüssigkeit, die in den Ventrikeln enthalten ist, und in der letztlich das ganze Gehirn schwimmt, wurde in einer Zeit, in der die Säftelehre äußerst populär war, große Bedeutung zugemessen. Der Ventrikelinhalt, seine Rückstände (z. B. Schleim), die bei der Arbeit des Spiritus animalis in den Ventrikeln anfallen, interessierten Estienne und seine Zeitgenossen sehr. Davon zeugt, dass die blutreiche Haut an den Ventrikelwänden in einer so kleinen Abbildung als gesondert schraffierte Form ins Bild mit aufgenommen wurde. 380 381 382 383

Vgl. Herrlinger (1967a), S. 92. Vgl. z. B. Rath (1967), S. 143–158. Orig. Französisch vgl. Estienne (1546), S. 261. Vgl. z. B. Anhang S. 460; Benninghoff (1985), S. 46f.

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Abb. 60: Erste Hirntafel aus La dissection des parties du corps humain, Estienne (1546). Gehirndetail siehe Farbtafel III.

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Abb. 61: Zweite Hirntafel aus La dissection des parties du corps humain, Estienne (1546). Gehirndetail siehe Farbtafel III.

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In der Legende der zweiten Tafel (Abb. 61) sind folgende Punkte ausgeführt: (A) Das Gewölbe des Gehirns, das man Psallioide oder Muschel nennt. (B) Der Anfang des Wurmförmigen an der Stelle der Membran, die als Sperre zwischen den vorderen Ventrikeln dient. (C) Eine Conarion genannte Drüse. (D) Die Länge und Ausdehnung des Wurmförmigen. (E) Die kleinen Gesäßbäckchen des Hirns, ebenso die Bänder, & die Teile, die das Wurmförmige umgeben. (F) Der Kanal oder Durchgang, der zwischen dem dritten und vierten Ventrikel besteht.384

Mit dem Wurmförmigen (le vermiforme) meinte Estienne den heute Vermis cerebelli genannten Kleinhirnwurm. In deutscher Sprache kann man z. B. 1656 von einem »Wurm­formigen Fortsatz des Hirnleins/vermiformis cerebelli processus« lesen.385 Die Drü­ se, die er Conarion nennt, ist die Zirbeldrüse.386 Die Gesäßbäckchen benennen die Vierhügelplatte. Die dritte Tafel ist den Hirnnerven gewidmet (Abb. 62). Besonders deutlich tritt die typische Kreuzung der optischen Nerven im Chiasma opticum hervor. Estienne zeigt sie nicht wie Vesal von der Basis aus, sondern im von oben abgetragenen Gehirn. Das Kleinhirn ist so weit zur Seite geschoben, dass der Hirnstamm zu erkennen ist. Auch die Rückenmarkshäute werden in der Legende genannt. Diese am Bild nachzu­ vollziehen, ist allerdings schwierig. In der vierten Tafel ist das Gehirn schon dem Schädel entnommen (Abb. 63). Die Dura mater ist vom Knochen aus nach unten gezogen, sodass die Schädelbasis zur Hälfte sichtbar wird. Unter Punkt G verweist die Legende auf eine Lücke (lacune) im Gaumen, die dazu dient, dass Gehirn zu reinigen: »(G) La la cune qui se rend au palais, pour purger & nettoyer le cerveau.«387 In diese Reihe gehört noch eine fünfte Tafel, auf der die Schädelbasis abgebildet ist.388 Sie ist hier nicht als Bild mit aufgenommen, da uns an ihr lediglich ein Aspekt der Legende interessiert: Buchstabe C bezeichnet fünf Löcher im Schädelbasiskno­ chen. Durch die ersten beiden verlaufen Nervenbahnen zu den Sinnesorganen. Die dritte Öffnung ist groß und lang. Durch sie »passent les carotides [nach Galen die Ar­ teria carotis interna] pour móter amont & faire la retz merueillable«389 . Denn obwohl Estienne Galens Lehren ernsthaft in Frage stellte, ging er nicht so weit wie Vesal, der

384 385 386 387 388 389

Orig. Französisch vgl. Estienne (1546), S. 262. Casserio/Pauli (1656), S. 208. Auch Henry More (Henricus Morus, 1614–1687) verwendete diesen Begriff in Immortality of the Soul (1659), vgl. Byers (2006), S. 752. Estienne (1546), S. 271. Vgl. ebd., S. 275. Ebd., S. 276.

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Abb. 62: Dritte Hirntafel aus La dissection des parties du corps humain, Estienne (1546). Gehirn­ detail siehe Farbtafel III.

diesem (hier in Bezug auf das Rete mirabile) in seiner Publikation, also gewisserma­ ßen öffentlich, widersprach.390 Wie bei Vesal, so haben sich auch in Estiennes De dissectione die anatomischen Figuren von den Seziertischen erhoben und sind ins Freie getreten. Die Landschaften repräsentieren die Zugehörigkeit des Menschen zur Natur, während üppige Interieurs und architektonische Detailverliebtheit seine kulturellen Errungenschaften offenbaren. Während die weiblichen Figuren, die ausschließlich die Fortpf lanzungsphysiologie veranschaulichen, bis auf eine Ausnahme in geschlossenen häuslichen Umgebungen zu finden sind, verortete Estienne seine männlichen Skelette und Muskelmänner meist in idealischen Landschaften. Zwei der männlichen Gestalten, an denen das Ge­ hirn gezeigt wird, sind zwar ebenfalls in Räumen dargestellt, haben aber an Fenstern Platz genommen und werden so mit der Weite der Landschaft in Beziehung gesetzt (Abb. 60 und Abb. 63). Da die Interieurs und Landschaften so raumgreifend, und die Gehirne jeweils als Teil eines im Ganzen abgebildeten Körpers dargestellt sind, neh­ men sie sich winzig aus. Um ihre Struktur und die einzelnen Teile zu erkennen, be­ darf es fast einer Lupe. Macht man sich die Mühe, genau hinzuschauen, lassen die stets in der Horizontalen geschnittenen Gehirne Einzelheiten und unterschiedliche Struk­ turen erkennen. Die Figuren recken ihre halbierten Schädel dem Betrachter wie ge­ 390

Vgl. Rath (1967), S. 144f.

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Abb. 63: Vierte Hirntafel aus La dissection des parties du corps humain, Estienne (1546). Gehirndetail siehe Farbtafel III.

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köpfte Eier entgegen. Kleinhirn und Großhirn sind durch grafische Muster voneinan­ der abgesetzt. Das Cerebrum ist an der Schnittf läche gepunktet, und von den äußeren Hirnwindungen ist ein schmaler Rand sichtbar. Das Cerebellum ist gestreift. Die Formen der als dunkel schraffierte Flächen abgesetzten Ventrikel sind deutlich auszu­ machen. Solche Muster sind beileibe keine willkürlich gewählten Gestaltungsmittel: Die Punkte auf der Schnittf läche markieren zerschnittene Blutgefäße, und die Strei­ fen des Kleinhirns entsprechen durchaus seiner Morphologie. Vesal hatte die Kerben des Cerebellums ebenfalls angedeutet. Bei ihm ist die typische streifige Beschaffen­ heit jedoch weniger auffällig dargestellt als bei Estienne, weil es in der Fabrica noch von einem Adergef lecht überzogen ist (vgl. Abb. 54 und Abb. 55). Für so feine Struk­ turen wie Blutgefäße sind Estiennes Hirnschnitte, wie er selbst auf der zweiten Tafel zum Gehirn angibt, bei Weitem zu klein: »plus difficile vouloir entreprendre te monstrer bien exactement en ce passage, les parties si tenus & deliées«391. An diesem Beispiel zeigt sich, dass Detailtreue nicht unbedingt die Ausbildung eines Typus fördert. Die geringe Größe der dargestellten Strukturen forderte ihren Schöpfer dazu heraus, an ihnen nur das zu zeigen, was sich auf den ersten Blick erkennen lässt, oder was ihre Gestalt ausmacht. In fast allen nachfolgenden Gehirndarstellungen werden, wie bei Estienne, die typischen Streifen der Kleinhirnmorphologie hervorgehoben, wobei es oft weniger auf morphologische Exaktheit, sondern vielmehr auf die Wiedererkenn­ barkeit des Organs ankommt (vgl. z. B. Abb. 73). Alle vier Tafeln enthalten ihre Bildlegenden als Teil des Motivs, in Rahmen oder Paneele eingefügt, die wie Gesetzestafeln in den Räumen oder Landschaften aufgehängt oder ­gestellt sind. Bilder wurden zu dieser Zeit meistens nicht in Texte implementiert. Im vorliegenden Fall verhält es sich sogar umgekehrt: Der Legenden­ text und andere erläuternde Textblöcke werden zu einem Teil des Bildes. In einem Fall funktioniert dieser didaktische Zug jedoch nicht problemlos: Der Protagonist der dritten Tafel (Abb. 62) liegt in einer querformatigen Landschaft, und auch die Ziffern, die die verschiedenen Hirnteile bezeichnen, liegen für den Leser auf der Seite. Die Legendentafel ist wiederum auf den Leser ausgerichtet. Hier ist die in den Bildfunk­ tionen angedeutete enge Beziehung, die bei Estiennes Tafeln zwischen Text und Bild besteht, gebrochen.392 In der ersten Tafel sitzt der das Gehirn präsentierende Muskelmann auf einem durch reichlich Schnitzwerk versehenen und mit Borten behängten, thronartigen Stuhl. Auf einem Wandbrett stehen verzierte Gefäße, eine brennende Kerze und Bü­ cher. Links neben der dargestellten Figur liegt auf einem Hocker die abgesägte Schä­ delkalotte, in der ebenfalls die Ventrikel als dunkle Flächen zurücktreten (Abb. 60). Der Muskelmann der zweiten Tafel liegt mit dem Oberkörper über einen auf freiem Feld stehenden Holztisch gebeugt (Abb. 61). Auf dem Operationstisch neben 391 392

Estienne (1546), S. 262. Vgl. S. 90.

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ihm liegen drei Instrumente: zwei gabel­ und hakenförmige und eine gebogene Na­ del. Der sein Hirn vorführende Muskelmann selbst ist nicht leichenhaft leblos: Seine Beinmuskulatur ist angespannt und stützt den schweren Körper, mit einer Hand hält er die mit Flügeln verzierte, an eine Harfe erinnernde Tafel, die die Legende zu sei­ nem Hirnschnitt darbietet. Noch etwas Ungewöhnliches zeigt die Tafel. Links hinter dem Körper auf der Balustrade einer kulissenartigen Ruine lehnen zwei Männer: ein alter mit Bart, Mantel, Stock und Haube und ein jüngerer Mann, an dem sich keine Kleidungsstücke erkennen lassen. Mit nacktem Arm weist er in Richtung des hori­ zontal geschnittenen Hirns. Direkt neben den beiden befindet sich im Himmel schwe­ bend ein Textblock. Aus den an der ersten und zweiten Hirntafel beschriebenen Bildelementen, so­ wohl den Gegenständen als auch den dargestellten Personen, die die bloße Darstel­ lung sezierter Körperteile ergänzen, und die in Estiennes Tafeln reichlich vorhanden sind, ergibt sich ein Ensemble von Bildfunktionen. Bei beiden Tafeln stehen repäsen­ tative Bildfunktionen im Vordergrund. Estiennes Drang, sein Wissen und die damit verbundene Macht im Bild repräsentiert zu sehen, wird besonders an der ersten Ge­ hirntafel (Abb. 60) deutlich. Die Fläschchen und Tiegel erweitern visuell das Wissen des Anatomen um die Arzneikunde; die Kerze ist entzündet, von ihr tropft der Wachs: Wer sich kostspielige Lichtquellen leisten konnte, war in der Lage, noch spät zu stu­ dieren; die Darstellung von Büchern ergänzt das Bild des gelehrten und unermüdlich lernenden Mediziners, das Estienne und de la Rivière hier geschaffen haben, und mit dem sie auf sich selbst verweisen. Ähnlich verhält es sich mit der Darstellung der chirurgischen Instrumente. Sie gleichen denen auf Vesals Werkbank (vgl. Abb. 3), wenngleich dort eine große Anzahl unterschiedlicher Geräte liegen: Sägen, Zangen, Schere, Skalpelle, ein Hammer, Na­ del und Faden, ein Schwamm und vieles mehr. Der Unterschied besteht darin, dass Vesal sein Handwerkszeug, mithin die Repräsentation seiner chirurgischen Kunstfer­ tigkeit, in einer gesonderten Tafel zu Papier bringen ließ. Dass er es zudem so detail­ liert darstellen ließ und auch eine Legende anlegte, zeigt, dass es ihm ernsthaft darum ging, dem Betrachter die handwerklichen Aspekte seiner Arbeit zu erläutern. Bei Es­ tienne dagegen sind Hilfsmittel und Sektionsergebnis im selben Rahmen dargestellt. Sie sind Teil des anatomischen Bildes. Wie bei Dryander (vgl. Abb. 42a) befinden sich die Instrumente mit der vollzogenen Sektion auf einer Bildebene. Zwar wird im Bild eine Demonstration wissenschaftlicher Methodik durchgeführt – die Inblicknahme der Instrumente lässt (begrenzt) Schlüsse auf den Vorgang der Operation zu –, in ers­ ter Linie wird jedoch der Repräsentationspf licht wissenschaftlichen Expertentums Genüge getan, sowohl demjenigen Estiennes als auch dem de la Rivières. Indem sie die Instrumente präsentieren, repräsentieren sie sich selbst als Chirurgen und Prosek­ toren im Bild. Neben den repräsentativen Eigenschaften der gezeigten Gegenstände interes­ siert uns eine weitere Bildzugabe, die die zweite Tafel über ihre Hirnfigur hinaus

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auszeichnet: die ›Balkonkommentatoren‹. In diesem Aspekt zeigt sich die Bandbreite der Möglichkeiten, Texte und Bilder als Bestandteile einer diskursiven Wissenschafts­ praxis miteinander zu kombinieren. Vermutlich ist der junge Mann mit den musku­ lösen Armen das Alter Ego des sezierten Muskelmannes. Bei dem älteren Mann könnte es sich um den Chirurgen handeln. Obwohl weder Estienne noch de la Rivière zu diesem Zeitpunkt alte Männer waren, drückt sich doch im Alter Würde und Weisheit aus, die dem Stand eines Anatomielehrers oder dem eines Chirurgen zukommt. Die Art der Kopf bedeckung lässt den Schluss zu, dass Estienne hier das Bildnis Galens oder eines anderen Vertreters antiker Medizin (z. B. Hippocrates) einfügen ließ. Die­ ser Deutung nach wird dem Protagonisten der pre­sektionistischen Anatomie anhand einer Sektion die Anatomie des Gehirns vom anatomischen Objekt selbst erklärt. Sinngemäß wiedergegeben erfährt er Folgendes: An dieser Stelle werden dir nur jene Orte gezeigt, an denen man den Kleinhirn­ wurm sieht, und solcherlei andere kleine Partien. Weil all diese nur schwerlich dem bloßen Auge gezeigt werden können, wenn man den Körper zerschneidet; auch wäre es an dieser Stelle ein viel schwierigeres Unternehmen, dir diese so feinen und filigranen Teile ganz genau zeigen zu wollen.393

Interessant ist, dass im Text sowohl auf die Schwierigkeit verwiesen wird, bei der Sektion etwas zu erkennen, als auch auf die Probleme bei der Visualisierung, die darin bestehen, noch die kleinsten Teile genau darzustellen oder zu zeigen. Wenn man von der Annahme ausgeht, dass der junge Mann mit dem Muskel­ mann identisch ist, so demonstriert sich dieser im doppelten Sinne selbst: zum einen aus der Zuschauerposition heraus und zum anderen als sich darbietender Körper. Wir sehen eine Metapher dafür, dass es der Körper selbst ist, der bei kunstvoll ausgeführter Sektion dem Interessierten seine Geheimnisse offenbart. Dies ist Mitte des 16. Jahr­ hunderts noch keine Selbstverständlichkeit. Was sich also im Bild zusätzlich ausdrückt, ist das neue Selbstbewusstsein derjenigen Mediziner, die eigenhändig Sektionen durch­ führen. Zudem verdeutlicht dieses spezielle Beispiel, dass und wie Bildinhalte auf der Bildf läche selbst verhandelt werden. Estiennes Bild regt einerseits dazu an, über kom­ munikative Bildfunktionen und andererseits über die Tatsache nachzudenken, dass Bild und Text in keinem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen, sondern einander ergänzen und so Inhalte nachdrücklich vermitteln. Diese Beobachtungen führen uns zur Eingangsfrage zurück: Warum trug Estienne der Komplexität des Gehirns nicht Rechnung und ließ die Hirnschnitte groß ab­ bilden, anstatt sie derart im ›Kleingedruckten‹ verschwinden zu lassen? Diese Frage lässt sich nicht zufriedenstellend beantworten. Obwohl sich die Entstehungszeit von Estiennes Tafeln nicht präzise festlegen lässt, ist anzunehmen, dass er die Werke der­ 393

Text vgl. Abb. 61.

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jenigen Anatomen kannte, die das ganzfigurige Tafelbild schon überwunden hatten. Dennoch übernahm er die Methode Berengarios oder Dryanders nicht. Bis auf wenige Ausnahmen, wie die Darstellungen des Auges und die verschiedener Muskelfasern,394 sind alle Organe oder Funktionseinheiten des Körpers als Teil eines Körperganzen abgebildet. Die Analyse der Bildfunktionen hat verdeutlicht, dass repräsentativen Bildele­ menten in den Tafeln viel Raum gegeben wurde. Musste Estienne seine Kennerschaft besonders hervorheben, um an die Popularität der Fabrica heranzureichen? Diese The­ se ist nicht haltbar, wenn man davon ausgeht, dass die Druckvorlagen zu De dissectione bereits fertiggestellt waren, bevor die Fabrica erschien. Zu einer möglichen Erklärung führt der Hinweis Herrlingers, dass die Vorbilder (abgesehen von den Insets mit den anatomischen Details) aus dem Bereich der bildenden Kunst oder von älteren Druck­ werken stammen könnten.395 Daraus können wir schließen, dass es Estienne wichtiger war, ein gefälliges und somit gut verkäuf liches Buch anzubieten, als einen Meilen­ stein in der Visualisierung anatomischer Präparate zu setzten. Die hauptsächlich reprä­ sentativen Bildfunktionen hängen hier im besonderen Maße von ästhetischen Erwä­ gungen ab, an die sich wiederum neue Aspekte wie der des Markterfolgs anschließen. GI U LIO CA SSE R IO

Die Tatsache, dass die Universität Padua den geistigen Hintergrund für eine große Anzahl gedruckter Anatomien des 16. und 17. Jahrhunderts geboten hat, lässt sich nur zum Teil auf den großen Erfolg der Fabrica zurückführen. Ein weiterer positiver ›Pro­ duktionsfaktor‹ der Universitätsstadt war ihre Nähe zu Venedig, wo viele Künstler, Drucker und Verleger ansässig waren.396 Nicht zu unterschätzen ist neben dem Einf luss Vesals der des Hieronymus Fabricius ab Aquapendente (1533–1619). Er führte die aris­ totelische Anatomie in Padua ein. Als Inhaber des Lehrstuhls für Anatomie beeinf lusste er eine ganze Generation von Anatomen. Unter seinen Schülern waren Giulio Casserio ( Julius Casserius Placentinus, 1561–1616), Johann Vesling ( Johannes Veslingius, 1598– 1649), Adrian van der Spiegel (Adrianus Spigelius, 1578–1625) und William Harvey (Guilielmi Harvei Angeli, 1578–1657). Obwohl Fabricius ab Aquapendente seinen eigenen großen anatomischen Atlas nie veröffentlicht sah – die gemalten lebens­ großen Tafeln gingen nach seinem Tod verloren und wurden erst 1909 in Venedig wiederentdeckt – beeinf lusste das Werk seine Schüler, da es zu seinen Lebzeiten frei zugänglich war.397

394 395 396 397

Vgl. Estienne (1546), Abb. vom Auge, S. 318; Abb. der Muskel, S. 339–362. Vgl. Herrlinger (1967a), S. 100f. Vgl. Folkenberg, in Rif kin/Ackerman/Folkenberg (2006), S. 113. Vgl. Riva/Kumakura/Murakami (2006), S. 1.

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Wie mit illustrativen Druckvorlagen zu dieser Zeit umgegangen wurde, lässt sich gut anhand der anatomischen Tafeln des Casserio zeigen: Spiegel war Schüler Casserios und dessen Nachfolger als Anatomieprofessor in Padua. Er ließ Casserios Tafeln 1632 drucken.398 In einer posthumen Ausgabe fasste Johannes Antonides van der Linden (1606–1665) wiederum sämtliche Werke Spiegels unter dem Titel Opera Omnia399 1645 zusammen. Die überwiegende Zahl der verwendeten Tafeln stammte aus dem Nachlass Casserios. Andere hatte Daniel Rindf leisch (Bucretius, † 1631) ste­ chen lassen und bereits seiner Ausgabe der casserioschen Tafeln von 1627 hinzuge­ fügt. 400 Diese wurden wiederum in die Spiegel­Ausgabe von 1632 übernommen. Der deutsche Arzt und Anatom Simon Pauli (Simonis Paulli, 1603–1680), als Leibarzt am dänisch­norwegischen Königshof tätig, gab die deutsche Fassung der Anatomie Cas­ serios in Auftrag, die 1656401 gedruckt wurde. Damit ist Casserios Anatomie ein gutes Beispiel, um zu zeigen, wie wenig praktikabel und wenig sinnvoll eine streng chrono­ logische Abfolge der Bilder in einer Arbeit wie der vorliegenden ist. Die Figuren von 1632 orientieren sich an Dryander und Vesal, sind aber doch eigenständig und lassen die Vermutung zu, dass sie auf erneuten Sektionen beruhen. Vergleicht man diese Ausgabe mit der von 1645 und der deutschen des Jahres 1656, so fällt auf, dass hauptsächlich vorlagentreue Nachstiche angefertigt wurden, auf denen jedes Barthaar und jede Hirnwindung exakt kopiert wurde wie auf der zweiten Tafel des Liber X (Abb. 64 und Abb. 65). Zu den wenigen Ausnahmen zählen die Tafeln VII und VIII des Liber X der Ausgabe von 1632 (Abb. 66). Sie sind im Druck von 1645 miteinander ›verschmolzen‹ worden (Abb. 67). In der deutschen Ausgabe von 1656 ist wieder alles beim Alten: Die Motive sind wie die von 1632 auf zwei Tafeln verteilt (Abb. 68 und Abb. 69). Daraus kann man schließen, dass Pauli van der Lindens Spiegel­ bzw. Casserio­Ausgabe nicht kannte und sich auf Spiegels Bucretius­Ausgabe bezog. Interessant ist, dass die Anord­ nung auf dem Blatt von 1645 fast identisch ist. Figuren I und II, auf denen das Klein­ hirn noch im Schädel sitzt, sind mittig platziert, alle anderen Figuren weiter an die linke und rechte Tafelseite gerückt, und die beiden kleinsten Figuren, das Chiasma 398 399

400 401

Adrian van der Spiegel, De humani corporis Fabrica libri 10. Opus posthumum Daniel Bucretius, Frankfurt a. M. 1632. Adrian van der Spiegel/Johannes Antonides van der Linden, Adrinani Spigelii Bruxellensis Equitis. D. Marci, olim in Patavino Gymnasio Anatomiæ et Chirurgiæ Profeßoris primarii Opera Quæ extant, Omnia Ex recensione Ioh. Antonidæ van der Linden Med. Doct. et Profeßoris in Academia Franekerana, Amsterdam 1645. Vgl. Choulant (1971), S. 77. Giulio Casserio/Simon Pauli, Anatomische Tafeln/Mit Denselben Daniel Bucretivs hinzugethan/und aller beygefügten Erklärung; Zu Nutz und Ehren der Wund=ärzte […] ins Deutsche übergesetzet/nun aber allererst an den Tag gegeben/Nebenst einer Lateinischen Zugabe/In sich begreiffend Die Einführung der Anatomen=Kunst/und derer offentlichen Ubung/Auff der uhralten und weitberühmten Königlichen Academien Kopenhagen, Frankfurt a. M. 1656.

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Abb. 64: Erste Schritte einer Hirnsektion, Tafel II des Liber X von Spiegels Ausgabe der Tafeln Casserios, De humani corporis Fabrica libri 10, van der Spiegel (1632).

Abb. 65: Erste Schritte einer Hirnsektion, Tafel II des Liber X der deutschen Ausgabe Casserios, Anatomische Tafeln, Casserio/Pauli (1656).

opticum mit der Hypophyse (Fig. XII) und der Kleinhirnwurm (Fig. XIII), sind links und rechts unten in die Ecken des Blattes verlegt. Das Ergebnis ist erstaunlicherweise kein chaotisches, sondern ein geordnetes Blatt. Einzig die Nummerierung der Fi­ guren geht durcheinander. Es besteht zwar eine Ordnung nach Sektionsschritten, doch diese ist einzig anhand der Nummerierung nachzuvollziehen. Das heißt, im Bild wird keine Ordnung offensichtlich. Zeitablauf und Sektionsschritte erschließen sich ausschließlich über die Legende. Aber auch diese weist bei einem Vergleich mit der Art, wie Vesal seine Nummerierung der Figuren und Bezifferung einzelner Teile an­ legte, Mängel auf: Vesal hatte, wo er die Möglichkeit sah, die vielfach identischen Teile der verschiedenen Figuren mit den jeweils gleichen Buchstaben bezeichnet, so­ dass z. B. A in den meisten Figuren die rechte und B die linke Hirnhälfte anzeigt. Zur fünften Figur schrieb er: »Vom A, A, A und B, B, B und anschließend D, D, D und E

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Abb. 66: Verschiedene Präparate und Ansichten von Kleinhirn und Hirnstamm, Tafel VIII von Spiegels Ausgabe der Tafeln Casserios, De humani corporis Fabrica libri 10, van der Spiegel (1632).

und F und G und H zeigen hier dasselbe an wie in der vierten Figur, ebenso wie dann auch das L, L und M, M und O und P und Q dasselbe wie zuvor angeben.« 402 Die von oder nach Casserio gestalteten Tafeln entziehen sich solcher logischen Zusammen­ hänge. Das Kleinhirn ist beispielsweise auf fünf verschiedenen Tafeln mit den Buch­ staben A, B, C, E und I gekennzeichnet. Sie sind vorrangig nach ästhetischen Ge­ sichtspunkten aufgebaut, die den Gesamteindruck der jeweiligen Tafel betreffen: Achsensymmetrisch stehen formal gleichartige Teile einander gegenüber; Teile, die kein Pendant haben, sind mittig angeordnet. Dies ist schon auf der Tafel von 1632 der Fall und wird auch in der deutschen Ausgabe nicht behoben. Dieses unkritische Über­ nehmen auch unlogischer Elemente verwundert, machten sich doch die Wiederhe­ rausgeber die Mühe, alle Tafeln neu stechen zu lassen, da ihnen die Original­Druck­ vorlagen nur in den seltensten Fällen zur Verfügung gestanden haben dürften. Der ästhetische Gesamteindruck der Tafel stand hier eindeutig vor bildfunktionalen Aspekten.

402

Vesal (2004), S. 165.

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Abb. 67: Verschiedene Präparate und Ansichten von Kleinhirn und Hirn­ stamm, Tafel VIII der Amsterdamer Ausgabe Casserios, Opera Quæ extant, Omnia, van der Spiegel/van der Linden (1645).

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Abb. 68: Das Kleinhirn im Verhältnis zum ganzen Gehirn, Tafel VIII der deutschen Ausgabe Casserios, Anatomische Tafeln, Casserio/Pauli (1656).

Abb. 69: Verschiedene Ansichten Präparate und Ansichten von Kleinhirn und Hirnstamm, Tafel IIX der deutschen Ausgabe Casserios, Anatomische Tafeln, Casserio/Pauli (1656).

Das innerhalb der Zeitspanne von fast einem viertel Jahrhundert unveränderte Bild der Hirnbasis (Tafel X) ist in der zugehörigen Legende an Vesal orientiert, weist aber visuell etliche Unterschiede auf (Abb. 70, vgl. Abb. 53). Am auffälligsten ist, dass Casserio die Basis um 90° drehte. Bei ihm befindet sich das Kleinhirn oben. Das Chi­ asma Opticum ist gekappt, sodass die »Augenhäutchen«403 nicht im Bild und die Hirn­ windungen von Hirnhaut bedeckt sind. Anders als Vesal, der das Rete Mirabile als einzelne Figur abgebildet hatte (vgl. Abb. 59), ist es bei Casserio direkt an der Hirnba­ sis dargestellt. Unter LL gibt die Legende Auskunft über das »Wunder­ oder wunder­ bahre­Netze (Rete mirabile) wie es geheissen«, das von einem »Aste der Schlaf­pulß­ ader (arteria carotis) verursachet« wird. 404 403 404

Vesal (2004), S. 120. Casserio/Pauli (1656), S. 212.

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Abb. 70: Hirnbasis, Tafel X der deutschen Ausgabe Casserios, Anatomische Tafeln, Casserio/Pauli (1656).

Beide Ansichten der Hirnbasis haben eine demonstrierende Funktion. Der Un­ terschied liegt in der Frage, was jeweils demonstriert werden soll. Bei Vesal ist die Hirnbasis jenem Abschnitt der Fabrica beigefügt, der vom Nervensystem des Men­ schen handelt. Die Lage der Hirnnerven ist dann besonders gut zu erkennen, darauf weist Vesal in der Legende ausdrücklich hin, wenn die Hirnhäute vom Hirn abge­ trennt werden. Casserio dagegen wollte die Blutgefäße des Gehirns von basal de­ monstrieren. Noch in heutigen Anatomiebüchern werden diese unterschiedlichen Inhalte in getrennten Bildern vermittelt. 405 Wie wir durch Heseler erfahren haben, zeigte Vesal seinen Studenten das Rete mirabile während einer Sektion, obwohl er in der Legende zur Netz­Figur nicht be­ stätigt, es mit eigenen Augen gesehen zu haben. Stattdessen verweist er im Text auf Galen. Casserio demonstriert das Netz als Gebilde aus »Aestlein«, von denen eines in der »Garn­verwickelung der Blut­ und Puls­adern (plexus choroides)« endet oder mit ihm verknüpft ist. 406 Er hat es augenscheinlich ›gesehen‹, da ihm bewusst gewesen sein muss, dass es sich dort befindet. Beim Herauspräparieren der Gefäße an der Hirnbasis 405 406

Vgl. z. B. Trepel (2004), S. 103 und S. 260. Ebd.

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ordnete er das, was er wusste, dem zu, was er sah. In der Abbildung demonstrierte er diese Beobachtung und schuf so einen Sinnzusammenhang zwischen überlieferter Theorie und erlebter Praxis. BA RTOLOM EO EUSTACH I

Obwohl Bartolomeo Eustachi (Eustachio, um 1500–1574) an den Körpern von Mensch und Tier forschte und selbst in römischen Spitälern Leichenöffnungen einge­ führt haben soll, also am Körper praktizierte bzw. beobachtete, war er ein Verfechter galenscher Anatomie. 407 Dass er Vesal als Antipode gegenübergestellt wird, 408 lässt sich durch einen Vergleich ihrer Bilder erklären. Eustachi schuf anatomische Bilder, die, obwohl sie gerahmt sind, aus dem Rahmen fallen. Er zeichnete sie wahrscheinlich selbst und ließ sie 1552 in Kupfer stechen. Lediglich acht seiner Tafeln wurden 1564 in Venedig gedruckt. Erst 140 Jahre nach Eustachis Tod erschienen alle Figuren seines groß angelegten anatomischen Werks als Tabulæ anatomicæ. Die hier abgedruckten Abbil­ dungen sind der Ausgabe von 1722 entnommen, die Giovanni Maria Lancisi (1654– 1720) herausgeben und mit einem Vorwort versehen hatte. Zudem wirkten Hermann Boerhaave (1668–1738), Bernhard Siegfried Albinus (1697–1770) und andere mit. Es handelt sich also nicht um einen bloßen Abdruck einer Anatomie, die Mitte des 16. Jahrhunderts entstanden war, sondern um ein erweitertes Werk. In Bezug auf das Gehirn wird in einer Epistola auf anatomische Entdeckungen Raymond Vieussens’ (1641–1716), Willis’ und Ridleys hingewiesen, Autoren, deren entsprechende Abhand­ lungen zur Entstehungszeit der eustachischen Tafeln noch nicht geschrieben waren. 409 Schlechtere Nachstiche der eustachischen Tafeln enthält zudem das Theatrum Anatomicum410 , das Jean­Jacques Manget ( Joh. Jacobi Mangeti, 1652–1742) 1717 in Genf her­ ausgegeben hat. 411 Die nach Eustachi gestochenen Tafeln sind kleiner im Format und laut Choulant zum Teil fehlerhaft. 412 Wird Eustachis eigenständiger Stil heute gelobt, beurteilte Choulant seine Zeichnungen 1852 als »trocken, hart und wenig künstlerisch behandelt« 413. Eine di­ daktische Stringenz haben Kritiker den Tafeln stets zugestanden: Sie sind »in der ana­ 407 408 409 410 411 412 413

Vgl. Choulant (1971), S. 59. Vgl. Herrlinger (1967a), S. 134. Vgl. Eustachi (1722), S. xxiiif. Joh. Jacobi Mangeti, Theatrum Anatomicum, Quô, non tantùm Integra Totius Corporis Humani in suas partes, ac minutiores particulas evoluti, & quasi resoluti, Fabrica, ex Selectioribus, Veterum & Recentiorum omnium Observationibus, retecta fistitur […], Genf 1717. Zu Mangets Bibliothecæ, einem umfangreichen medizinischen Lexikon, von der das Theatrum Anatomicum nur einen Band ausmacht, vgl. Michael Stolbergs Einführung zur Mikro­ fiche­Ausgabe, www.haraldfischerverlag.de/hfv/AEL/ael_3­20_einleitung.php (24. 7. 2007). Vgl. Choulant (1971), S. 62. Choulant (1971), S. 559.

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Abb. 71: Ganzkörper­Figur mit den geöffneten drei Körperhöhlen Bauch­, Brusthöhle und Kopf, Tab. IX aus Tabulæ anatomicæ, Eustachi (1722).

tomischen Darstellung genau und lehrreich«414 . Hundert Jahre später bezeichnet Herr­ linger sie als »verblüffend modern« und »von glasklarem Intellekt«. 415 Was machte diese Modernität der Darstellung aus, und inwiefern ist ihnen Eustachis Intellekt ein­ geschrieben? Ein Grund für dieses Urteil ist möglicherweise in der von Eustachi eingeführten Methode der Beschriftung zu sehen. Statt Indices zu benutzen, rahmte er die Tafeln mit graduierten Randleisten. Das ermöglicht eine Zuordnung der Bildpunkte zu den entsprechenden Erklärungen in der Legende. Der erste angegebene Punkt bezieht sich dabei auf die senkrechte Randleiste, der zweite auf die waagerechte. Die Figuren selbst bleiben auf diese Art von Buchstaben, Ziffern oder anderen Beschriftungen un­ berührt. Auch durch den klaren, schnörkellosen, eher auf Flächen­ als auf Detail­ 414 415

Ebd. Herrlinger (1967a), S. 133.

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Abb. 72: Rückenmark, verschiedene Schnitte bzw. Präparate von Groß­ und Kleinhirn, Tafel XVII aus Tabulæ anatomicæ, Eustachi (1722).

bestimmungen angelegten Strich wirken die Bilder puristisch, eben geradezu mo­ dern. Die einzelnen Tafeln sind dort, wo die Inhalte dies zulassen, streng symmetrisch aufgebaut. Strukturen sind geglättet, Formen vereinfacht. Auf Tafel IX ist wie bei Estienne das Gehirn Teil einer Ganzkörperfigur (Abb. 71). Anders als bei Ersterem handelt es sich hier nicht vordergründig um eine Hirntafel: An einer ganzen Gestalt sind Schädel und Bauchraum geöffnet. Präsentiert werden Hirn, Lunge und ein kleiner Teil des Verdauungstraktes. Bei der Darstellung eines Bauchsitus war es durchaus nicht üblich, dass die Schädelkalotte der Figur entfernt und über dem zirkulären Sägeschnitt die Großhirnrinde sichtbar gemacht wurde. Sie ist noch mit Hirnhaut bedeckt, so deuten die Adern an, dennoch sind die Hirnwin­ dungen gut erkennbar. Der Kopf, vielmehr das Gehirn ragt über den Rahmen hinaus. Auch Tafel XVII (Abb. 72) weicht vom Üblichen ab: Mittig im Bild ist die Zeichnung des herausgetrennten Rückenmarkstranges, von dem aus die beschnitte­ nen Nerven stachelartig abstehen. An seinem oberen Ende ›hängt‹ ein mediosagittal

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aufgeschnittenes Cerebellum (Fig. II). Zum ersten Mal ist der Kleinhirnbaum oder Lebensbaum (Arbor vitae), den Dryander bereits 1537 gezeigt hatte (vgl. Abb. 42h), in sagittaler Schnitttechnik deutlich zu erkennen. Auch Figur I zeigt einen Mediosagit­ talschnitt, doch sieht man nichts von den inneren Strukturen, sondern lediglich den Teil des Kortex, der beim ganzen Hirn zwischen den beiden Hemisphären verborgen liegt. Für Figur III und IV wurde das Hirn wie zu dieser Zeit üblich von oben hori­ zontal abgetragen, sodass die lateralen Ventrikel abgebildet werden konnten, und die Aderhaut (Tela choroidea) an den Ventrikelwänden sichtbar wird. Die vierte Figur zeigt so einen Einblick in die von oben eröffneten Ventrikel. Der Fonix, »ein dickes Faserbündel, [das] den Hippocampus mit anderen Zentren des limbischen Systems« 416 verbindet, wurde unter dem Corpus mamillare durchgeschnitten und zurückgeschlagen. Dabei wurde der Corpus mamillare entfernt. Diese Technik eröffnet den Blick auf die Vierhügelplatte, die darüber liegende Zirbeldrüse (in der Legende ist der Bild­ punkt 49–16 angegeben) und den Thalamus. Die vielen Blutgefäße im Bild zeigen den Plexus choroidus in Punkt 51–13 an. Er hat Anteil an der Produktion des Spiritus animalis. In Punkt 46–15 befindet sich der Hypophysenstiel (Infundibulum). Neue Schnitttechniken zeigt Eustachi in Figur V und VI. Die Reihenfolge ist etwas verwirrend. Als Vorlage für Figur VI wurde das Gehirn ebenfalls in der Hori­ zontalen geschnitten, allerdings von der Basis aus. In der Sektion wurden die Tempo­ rallappen und das Kleinhirn entfernt. So ist es auch in der fünften Figur, für die aller­ dings zusätzlich der Frontallappen weggeschnitten wurde. Korrespondierend mit der lateinischen Fünf, die die Figur beziffert, zeigen die abgeschnittenen optischen Nerven V­förmig nach oben (40–43). Der in Figur IV herunter geklappte Corpus fornicis, ein Teil des Fornix, der sich »bogenförmig unter dem Corpus callosum nach vorn zieht«417, ist wieder hochgeschlagen dargestellt und endet unterhalb des Chiasma opticums. Die siebte Figur ist die des vom Hirnstamm abgetrennten Kleinhirns, eine Dar­ stellung, die wir ebenfalls bereits von Vesal kennen (Abb. 73 und Abb. 74). In der Le­ gende der Fabrica ist die Ansicht, die sowohl Vesal als auch Eustachi wählten, genau beschrieben: Das von Hirnschale und Rückenmark entfernte Kleinhirn »liegt halb auf dem Rücken, sodass sein unterer Ort, wo es am Rückenmark anliegt [bei Vesal mit G G bezeichnet, W. L.], und seine Beschaffenheit zu sehen sind« 418 . Das ganze Organ wurde von Vesal leicht aufgebogen bzw. entrollt, um den Blick auf sein Inne­ res freizugeben. Zudem sind die obere und untere Spitze des Kleinhirnwurms unter der großen Figur noch einmal dargestellt. In Eustachis Bild ist die Ansicht leicht ge­ kippt, sodass wir mehr von der Unterf läche des Kleinhirns sehen. In seiner Legende zum Bild bemerkt er lediglich, es zeige das umgewendete Cerebellum mit der zum

416 417 418

Forssmann/Heym (1985), S. 145. Ebd. Vesal (2004), S. 171.

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Abb. 73: Kleinhirn, Fig. VII von Tafel XVII aus Tabulæ anatomicæ, Eustachi (1722).

Abb. 74: Kleinhirn, elfte Figur der Hauptfiguren aus De Humani corporis fabrica, Vesal (1569).

Siegelring gehörigen höckerförmigen Vorragung sowie das obere und untere Ende des Kleinhirnwurms. 419 Ein Vergleich der beiden Kleinhirnansichten verdeutlicht die Unterschiede im visuellen Ausdruck Vesals und Eustachis. Vesals organischem Gebilde, an dem mor­ phologische Einzelheiten gut erkennbar und beziffert sind, scheint mit Eustachis sym­ metrischer abstrahierter Form ein symbolisches Organ gegenüberzustehen, das, stün­ de es für sich, ohne jeden Bezug zum anatomischen Kontext, kaum als Kleinhirn zu identifizieren wäre. Bei Vesal verdeutlichen die Furchungen des Kleinhirns die mor­ phologische Bildung des Organs, seine »Beschaffenheit«, wie es in der Legende heißt. Die Linien sind mehr als graphische Elemente. Sie geben die jeweilige Richtung an, in die sich die einzelnen Teile wölben oder einrollen. Damit erfüllt Vesal seine im 419

»Figura VII. præbet observandum cerebellum inversum cum protuberantia annulari 75.43, & processu vermiformi parte superiori 73.43, inferiori verò 77.43«, Eustachi (1722), S. 44.

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Text gestellte Zielvorgabe im Bild. Eustachis Furchungen bzw. Linien wirken dage­ gen wie mit dem Zirkel gezogen. Sie betonen eine Kreis­ bzw. Kugelform der Klein­ hirnhemisphären. Dadurch wird jedoch die Morphologie des Organs unterschlagen. Weitere Einzelheiten sind nicht benannt und kaum zuzuordnen. Was für eine Funkti­ on hat ein solches Bild, wenn es nicht dazu dient, anatomische Einzelheiten zu ver­ mitteln? Der Tafel des inneren Hirnbaus lässt Eustachi eine weitere Hirntafel (XVIII) folgen, in der auf einen Blick die Beziehung von Gehirn und Nerven deutlich wird (Abb. 75). Hier sind erstmals eine linke und eine rechte Hirnhälfte getrennt vonei­ nander auf einem Blatt dargestellt. Zwar kennen wir eine einzelne rechte Hirnhälfte in der Ansicht von oben von Vesals zweitem Blatt der Hauptfiguren (vgl. Abb. 47a), Eustachi jedoch setzt beide Hirnhälften in der Ansicht von basal zueinander in Be­ ziehung. Streng symmetrisch sind sie als Einzelfiguren je zweimal untereinander ent­ lang der Wirbelsäule, die als optische Mittelachse fungiert, positioniert. Auf der Wir­ belsäule throhnt eine Hirnbasis, die in ihrer Darstellungsweise mehr Ähnlichkeit mit Vesals separat dargestellter Hirnbasis hat (vgl. Abb. 53), als mit seiner vom Bildauf bau eher vergleichbaren Hirnbasis, die Teil eines ganzen ›Nervenkörpers‹ ist (vgl. Abb. 52). Eustachi führt auf seiner Tafel Bildbeobachtungen, die er anhand der Fabrica gemacht hatte, mit solchen Beobachtungen zusammen, die er an Präparaten gemacht hatte. So verarbeitete er, was er bei Vesal gesehen hatte, stellte aber im Gegensatz zu ihm nicht alles in den Zusammenhang des Körperganzen, sondern systematisierte das von Vesal gelernte auf seiner eigenen Tafel. Die Bildlogik, die Hirnbasis mit den Hirnnerven zur Wirbelsäule in Beziehung zu setzen, und ihnen, sofern sie nicht zu den Sinnesor­ ganen führen und gewissermaßen im Kopf enden, in ihrem weiteren Verlauf zu fol­ gen, übernahm er von Vesal. Die anatomischen Einzelheiten muss er selbst am Präpa­ rat und schließlich im Bild erarbeitet haben, da sie z. T. deutlicher sind als bei Vesal oder in der Darstellungsweise von dessen Figuren differieren. So sind das Chiasma opticum und der Bulbus olfactorius wie bei Vesal klar herausgearbeitet, die optischen Nerven allerdings kurz hinter dem Chiasma gekappt – eine Darstellungsweise, die sich bis auf wenige Ausnahmen durchgesetzt hat. Der mittlere Teil der Hirnbasis ist wesentlich detaillierter ausgearbeitet als bei Vesal, bei dem die Brücke (Pons) und der Bereich, an dem die Medulla oblongata austritt, als knäuelartiges Gebilde erscheinen. Eustachi hingegen gelingt es, noch den feinsten Nerv (der über dem dicken Nervus trigeminus entspringende Nervus trochlearis) oder das Nervenpaar unter dem Chias­ ma opticum, das die Bewegung der Augen steuert, einzuzeichnen. Da sich die Entstehungsgeschichte der Tabulæ anatomicæ über einen so langen Zeitraum erstreckt, ist es wenig hilfreich, aus dem Text Eustachis eine Theorie der Hirnfunktionen extrahieren zu wollen. In der Auslegung einer solchen Theorie kön­ nen wir uns ausschließlich auf die Bilder beschränken. Seine beiden Hirntafeln sind Ordnungsschemata, innerhalb derer sich Bedeutung festschreibt. Beim Kleinhirn kam es ihm nicht auf Genauigkeit an, da er diesem Hirnorgan keinerlei Bedeutung

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Abb. 75: Gehirn, Rückenmark und Nerven, Tafel XVIII aus Tabulæ anatomicæ, Eustachi (1722). Siehe Farbtafel IV.

beimaß. Seine Darstellung dient lediglich der Vollständigkeit der Gehirnanatomie. 420 Dem Nervensystem – das ist offensichtlich – kommt in Eustachis bildlich systema­ tisierter Hirnanatomie eine wichtige Position zu. Eine von zwei Tafeln ist ihm ge­ widmet. Die Nerven sind in ihren Ursprüngen detailliert dargestellt. Ihnen wurde in ihrem Verlauf gefolgt. Wie Wurzeln (von der Wirbelsäule aus sich nach unten stre­ ckend) und Äste (von den Hirnbasen aus sich nach oben reckend) des menschlichen Lebensbaumes wuchern sie im Bild. Daraus lässt sich folgern, dass auch Eustachi sie als Transportwege für die ›Diener der Seele‹ ansah, die der Verteilung des Spiritus ani­ malis im Körper dienen. Dieser Bedeutungslogik folgt die Logik der Darstellung. Die Bildfunktionen werden wie hier oft erst aus einer Zusammenschau eines Ensembles von Tafeln deutlich. 420

Wie im nächsten Abschnitt beschrieben, überdachte Constantino Varoli (1543–1575) nur wenig später die Funktionen des Kleinhirns.

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Wie Eustachi so war auch sein Schüler Juan Valverde de Amusco (auch Giovan Valverde di Hamusco oder Joannes Valverdus, ca. 1525–1588) ein Anhänger des tradi­ tionellen medizinischen Kanons. Obwohl er selbst als Anatom ausgebildet war, beru­ hen die Abbildungen seiner Historia de la composición del cuerpo humano4 21 von 1556 nicht auf eigener Sektion, sondern auf den Tafeln der Fabrica. Sie sind ein gutes Beispiel dafür, wie von Vesal abgekupfert wurde, und dies, obwohl Valverde selbst in Opposi­ tion zu Vesal stand und als eindeutiger Galen­Adept firmiert. 422 Eines der bekanntes­ ten und meist diskutierten Bilder der Fabrica ist die Darstellung einer Vagina als inver­ tierter Phallus. Von Valverde und etlichen anderen Anatomen übernommen steht sie für die auf Galen zurückgehende These, dass der weibliche Körper sich vom männ­ lichen nur dadurch unterscheide, dass die Reproduktionsorgane bei der Frau im Inne­ ren des Körpers lägen. 4 23 Für Folkenberg repräsentiert diese Abbildung »a triumph of cultural attitudes over observation«424 . Die Debatte über dieses Bild in seiner viel­ schichtigen Beweisfunktion hält in feministischen und post­feministischen Theorien bis heute an und verdeutlicht einmal mehr die kulturelle Prägung wissenschaftlicher Wahrnehmung. A N DE R BA SIS : CONSTA N TI NO VA ROLI U N D CA SPA R BAU H I N

Der erste, von dem wir wissen, dass er das Gehirn von der Basis ausgehend sezierte, war der Bologneser Anatomieprofessor und spätere Leibarzt des Papstes Constantino Varoli (Constantinus Varolius, Constanzo Varolio, 1543–1575). Allerdings war er nicht der erste, der eine Basalansicht des Gehirns veröffentlichte. Damit waren ihm Vesal und Eustachi zuvorgekommen (vgl. Abb. 52–54 und Abb. 75). Varolis Bild einer Hirn­ basis wurde dreißig Jahre nach Erscheinen der Fabrica in De Nervis Opticis4 25 (1573) abgedruckt. Die Tafeln der vorliegenden Arbeit sind Varolis De Resulutione Corporis Humani426 von 1591 entnommen. Dieses Werk erschien posthum und enthält die Schrift von den optischen Nerven. Allerdings sei hier darauf hingewiesen, dass die Holz­ schnitte »in einer etwas anderen Manier umgeschnitten worden« sind, wobei man

421 422 4 23 424 4 25 426

Juan Valverde de Amusco, Historia de la composición del cuerpo humano, Rom 1556. Vgl. Folkenberg, in Rif kin/Ackerman/Folkenberg (2006), S. 95. Vgl. Schiebinger (1989), S. 163. Folkenberg, in Rif kin/Ackerman/Folkenberg (2006), S. 95. Constantino Varoli, De Nervis Opticis nonnulisque aliis præter communem opinionem in Humano capite observatis. Ad Hieonr. Mercurialem, Padua 1573. Constantino Varoli, De Resulutione Corporis Humani, Libri IIII. A Joan Baptista Cortesio nunc primum editi. Eiusdem Varolii & Hier. Mercurialis De nervis Opticis nonnulisque aliis præter communem opinionem in Humano capite observatis Epistolæ, Frankfurt a. M. 1591.

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Choulants Meinung nach »in der Zeichnung willkürlich und nicht genau genug ver­ fahren ist«. 427 Varoli gehörte zu jenen Anatomen, die ihre Zeichnungen selbst anfertigten. Choulant hat, indem er den Schnitt als »deutlich und belehrend«428 bezeichnete, schon Bildfunktionen ausgemacht. Worüber wollte Varoli qua Bild belehren und welche bildnerischen Mittel nutzte er? Seine beiden Figuren der Hirnbasis wirken seltsam rechteckig, gleichsam zu­ sammengedrückt (Abb. 76 und Abb. 77). Anscheinend wurden sie in den Satzspiegel eingepasst, d. h. die anatomische Form wurde in das Raster der Seitengestaltung ge­ zwängt und so diesem untergeordnet. Beide Holzschnitte sind zwar eher grob, zeich­ nen sich jedoch durch eine klare Strichführung aus. Die einzelnen Teile sind durch verschiedenartige Schraffuren gut voneinander zu unterscheiden – allerdings fallen dadurch auch typische ›Muster‹ wie die streifige Struktur des Kleinhirns weniger deutlich aus. Im Gesamtbild wirken beide Tafeln gleichermaßen schematisierend: Die Formen sind vereinfacht, auf Einzelheiten wie die grafische Ausarbeitung unterschied­ licher morphologischer Strukturen ist weitgehend verzichtet worden. Es kann Varoli nicht an einer möglichst realistischen Darstellung gelegen haben. Vielmehr sollte das Bild dem Betrachter ermöglichen, einzelne Formen und damit verbunden auch im Text beschriebene Sinnesfunktionen schnell zu erfassen. Dies gilt besonders für die Hirnnerven, die zum größten Teil einfach weiß gelassen wurden, statt sie durch Schraf­ furen räumlich wirken zu lassen. Dadurch fallen sie schneller ins Auge, d. h. sie wer­ den als besonderes Forschungsinteresse Varolis akzentuiert. Varolis Methode, das Gehirn aus dem Schädel zu lösen und mit der Sektion von unten zu beginnen, diente dazu, die Hirnnerven in ihren Ursprüngen zu zeigen. Dies hatten zwar bereits Vesal, Eustachi und, wie wir heute wissen, auch Leonardo getan, doch Varolis Fokus lag dabei besonders auf zwei Hirnteilen: dem Pons (Pons Varolii) und dem Cerebellum. Den Pons (Brücke) sah Varoli als Teil des Kleinhirns an, in welchem er Gehör und Geschmack verortete: »I have observed one other notable pro­ cess of the cerebellum which, although it has received notice from no one else, I belie­ ve it to be worthy of the greatest consideration as its description will reveal.«429 Er maß also, anders als seine Vorgänger und Zeitgenossen, dem Kleinhirn große Bedeutung bei und vertraute darauf, dass sich diese Vermutung durch die genaue Beschreibung der Morphologie dieses Organs bestätigen würde. In seiner Figura prima integrierte Varoli die Augen in das Bild der Hirnbasis. Da sie nicht Teil des Gehirns sind, hatte z. B. Vesal lediglich die »Augenhäutchen, in wel­ chen der Gesichtsnerv ausgebreitet und verwandelt wird«430 dargestellt. Die Hirnner­ 427 428 429 430

Vgl. Choulant (1971), S. 70. Ebd., S. 69. Varoli (1591), S. 129. Englische Übersetzung zit. nach Clarke/O’Malley (1968), S. 635. Vesal (2004), S. 120.

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ven sind an der vom Betrachter aus rechten Seite des verlängerten Marks eingezeich­ net. Auf der linken Seite ist das Mark weiter abgetragen, sodass tiefere Schichten sichtbar werden (g bezeichnet Medullæ spinales corbus, h den Processus cerebelli seu Pons unde Nervum auditus ortum ducere vides). Es fällt etwas schwer, Varolis visueller Be­ schreibung zu folgen und zwischen dem Pons und dem verlängerten Mark zu diffe­ renzieren. Eustachi war dies wesentlich besser gelungen, nur lag dessen Tafelwerk noch nicht im Druck vor (vgl. Abb. 75). Die Figura secunda ist ähnlich schwer zu durchschauen. Varoli schob das Klein­ hirn nach links (vom Betrachter aus rechts) und zerschnitt den Hirnstamm der Länge nach. Eine Seite klappte er nach oben, die andere nach unten. Es sieht aus, als habe er bis zum Corpus callosum durchgeschnitten, was er auch in der Legende bestätigt. 431 Das Gewicht, das Varoli auf die genaue Kenntnis des anatomischen Gehirnbaus legte, begründen Clarke und O’Malley damit, dass es im 17. und 18. Jahrhundert kei­ ne signifikanten Bemühungen gab, cerebrale Funktion zu erklären. Statt sich damit zu begnügen, das Gehirn und seine Strukturen von außen zu beschreiben, hätten Varoli und andere versucht, die inneren Strukturen zu ergründen. 432 Solche Überle­ gungen lassen freilich die Funktionstheorien Descartes’ außer Acht, die, wie wir se­ hen werden, eben nicht aus der genauen Analyse anatomischer Strukturen und deren bildlicher Repräsentation entwickelt wurden. Caspar Bauhin (Gaspard Bauhin, 1560–1624) ist heute als Botaniker bekannter als für seine Leistungen als Anatom. Zu Bauhins Lebzeiten waren seine Anatomiebücher Standard­Lehrmaterial an europäischen Universitäten, bis sie von den Anatomien sei­ nes Schülers Bartholin und denen Veslings abgelöst wurden. 433 In der Botanik zeich­ nete er sich vor allem als Systematiker aus, der rund 6000 Pf lanzenarten beschrieb, und dabei erstmals Gattung von Art auch in der Benennung unterschied. Dabei be­ mühte er sich um ein ›natürliches‹ Ordnungssystem, eine Klassifikation, die von na­ türlichen Merkmalen abgeleitet wird, und dazu führt, die Nomenklatur zu vereinfa­ chen. 434 Dieses Bestreben zu ordnen, zu systematisieren und zu klassifizieren ist auch aus seiner anatomischen Forschung nicht wegzudenken. In den Institutiones Anatomicæ 435 (1592) werden die Venen, Arterien, Nerven, Muskeln und Knochen des mensch­ lichen Körpers auf dreißig Seiten in hierarchischer Form tabellarisch dargestellt. In den Institutiones Anatomicæ sind zwei Tafeln der Hirnbasis abgedruckt, die wir allerdings ebenfalls schon kennen (Abb. 78 und Abb. 79). Es handelt sich um Nach­ 431 432 433 434 435

Vgl. Varoli (1591), S. 153. Vgl. Clarke/O’Malley (1968), S. 635f. Vgl. Poynter (1968), S. 211. Zu Bartholin und Vesling vgl. S. 282ff. und S. 289ff. Vgl. Jahn (2003), S. 184 und S. 773. Mir lag die Ausgabe von 1609 vor: Caspar Bauhin, Institutiones Anatomicæ Corporis Virilis et Muliebris Historiam Exhibentes […] Hippocrat. Aristot. Galeni auctoritat. illustratæ & nuis inuentis plurimis hac Editione Quarta auctæ, Basel 1609.

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Abb. 76: Hirnbasis mit Hirnnerven und Augen, Prima Figura aus De Resulutione Corporis Humani, Varoli (1591).

Abb. 77: Hirnbasis mit sagittal geschnittenem Hirnstamm, Figura Secunda aus De Resulutione Corporis Humani, Varoli (1591).

stiche Varolis (vgl. Abb. 76 und Abb. 77). Sie sind im Umriss nicht mehr so eckig, un­ terscheiden sich aber im Übrigen kaum von den Originalen. Bauhin fügte keine ana­ tomischen Details hinzu und änderte auch die Bezifferung nicht. Putscher erklärt, dass es Bauhin anscheinend gleichgültig war, »ob seine Tafeln »nach der Natur« oder nach einem Vorbild gezeichnet wurden«436 . Sie begründet dies damit, dass hier das Bild selbst Objekt sei. Es trete an die Stelle der Realität, kläre diese und ermögliche so erst Beobachtung. Sie geht dabei davon aus, dass ein Blick auf einen Ausschnitt von Wirklichkeit erst dann gegeben sei, wenn Bild und Objekt kongruent sind. Diese so erfahrene Wirklichkeit »mag dann neu gesehen, auch gezeichnet, vervielfältigt, wie­ der zum Bilde werden und mit anderen Bildern der Wirklichkeit in Beziehung treten«437. Um was für eine (Bild)Wirklichkeit geht es hier? Das Bild vom Gehirn, das Bauhin von Varoli übernommen hatte, ist das Ergebnis des Versuchs, sich Realität bzw. Welt im Bild anzueignen, und zwar jener Ausschnitt, den Varoli beobachtet und 436 437

Putscher (1972), S. 18. Ebd.

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Abb. 78: Hirnbasis mit Hirnnerven und Augen nach Varoli aus Institutiones Anatomicæ, Bauhin (1609).

Abb. 79: Hirnbasis mit sagittal geschnittenem Hirnstamm nach Varoli aus Institutiones Anatomicæ, Bauhin (1609).

dargestellt hatte. Bauhin konnte sich dessen Bilder deshalb so unkritisch zu Eigen ma­ chen, weil sie nicht weniger als das Gehirn, mithin alles, was Varoli über Hirnanato­ mie und ­funktion wusste, bzw. alles, was zu dieser Zeit zu wissen war, repräsentie­ ren. Dass Bauhin die Tafeln seiner anatomischen Werke von älteren Vorlagen kopieren ließ, beruhte also nicht auf dem Bewusstsein eigener Unzulänglichkeit, sondern auf einem Gespür für die Leistungen seiner Vorgänger. Die Tafeln, die 1590 nach Vesals Fabrica für Bauhins De corporis humani fabrica Libri IIII 438 entstanden waren, wurden noch fünfzig Jahre später in Bauhin­Ausgaben benutzt (Abb. 80, vgl. Abb. 54). Indem er die Zeichnungen anderer übernahm, konnte er sich selbst voll und ganz darauf konzentrieren, anatomische Details wie die Nierenklappe zu erforschen und diese seit 1592 auch abzubilden. 439 * 438 439

Caspar Bauhin, [Theatrum Anatomicum] Vivæ Imagines partium corporis humani æneis formis expressæ, et ex Theatro anatomico Caspari Bauhini desumptæ, Frankfurt a.M. 1640 [Erstausgabe 1592]. Vgl. Bauhin (1609), Figura I und II, o. S.

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Abb. 80: Gehirn von der Seite mit Nerven von Vesal abgekup­ fert (vgl. Abb. 54), Tafel XIV aus Theatrum Anatomicum, Bauhin (1640).

Die Fabrica hatte, dank ihrer weiten Verbreitung, diverser Neuauf lagen und Überset­ zungen sowie der Verwertung ihres Tafelwerks in anderen Anatomien, z. B. bei Val­ verde oder Felix Platner (1536–1614) beträchtlichen Einf luss auf die europäische Seh­ kultur und mithin auf die wissenschaftliche Wahrnehmung. Zwar kam es in der Theorie der sinnlichen Wahrnehmung, des Bewusstseins und der Seele durch Des­

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cartes zum großen Umbruch, aber in der Darstellung des Gehirns blieb man der Fabrica teilweise noch bis ins 18. Jahrhundert verpf lichtet. 440 Das bedeutet nicht, dass die anatomischen Figuren immer eins zu eins übernommen wurden, aber eine tenden­ zielle Übereinstimmung ist oft nicht zu übersehen. Das gilt wohl am stärksten für posierende Skelette und Muskelmänner, z. B. bei Bidloo oder Pietro Berrettini (da Cortona, 1595–1669), kann aber auch für das Gehirn behauptet werden. Eine der we­ nigen Ausnahmen, bei denen sich kein Zusammenhang mit den vesalschen Abbil­ dungen herstellen ließe, bildet, wie wir sehen werden, die 1664 erschienene franzö­ sische Ausgabe des L’Homme de René Descartes. Sie verfolgte mit ihren Illustrationen völlig neue Abbildungsstrategien und zeigte ein neues Bild vom Gehirn. Die Tradi­ tion der Naturstudien der Renaissance hatte sich schließlich totgelaufen. Sie schei­ terte, weil andere Modelle, z. B. mathematische, entwickelt worden waren, die dann Eingang ins Visuelle fanden, und weil Apparate erfunden und eingesetzt wurden. Allerdings geschah dies, wie im Falle des Mikroskops, oft über einen langen Zeitraum hinweg und nur sehr zögerlich. Wie sich ein neues Bild vom Hirn in Theorie und Bildpraxis durchzusetzen vermochte, und welche anderen Positionen parallel einge­ nommen wurden, davon handeln die nächsten beiden Kapitel.

440

Es gibt sogar Vergleiche mit Darstellungen zeitgenössischer Anatomiebücher, und auch Lehrbücher mit anatomischen Zeichenvorlagen nehmen auf Vesal Bezug, vgl. Harms (2006).

C O M M ERCIUM A N I M A E ET CORPOR IS Somit ist es genausowenig notwendig, daß unsere Seele ihre Funktionen im Herzen ausübt, wie es auch nicht notwendig ist, daß sie im Himmel sei, um dort die Sterne zu sehen. 441 René Descartes

[T]he brain neither sees nor hears & c., yet [knows] all things. 4 4 2 William Harvey

Die Hirnforschung des 17. Jahrhunderts wird in zwei Teilkapiteln behandelt. Zuerst werden drei wissenschaftliche Denker zum Thema gemacht, die das Bild vom Gehirn nachhaltig prägten: René Descartes (1596–1650), Thomas Willis (1621–1675) und Niels Stensen (Nicolaus Steno, 1638–1686). Diese Wissenschaftler sind als Neuerer der Hirnforschung ihres Jahrhunderts herausgestellt worden. Aus Sicht des 20. Jahrhun­ derts kommen ihnen unterschiedliche Verdienste zu. Während Willis’ Beiträge zur Hirnforschung besonders im Bereich der Anatomie und Physiologie des Gehirns liegen, werden Descartes’ Schriften eher in der Philosophie und in psychologischen Kontexten rezipiert. 443 Steno ist heute nicht ausschließlich für seine Leistungen in der Hirnforschung bekannt, sondern für die Gesamtheit seiner anatomischen Forschungen sowie als Geologe. Ambition, Disposition und Wirkung der Hirnbilder, die in ihren Werken veröffentlicht wurden, weichen ebenso voneinander ab, wie ihre Theorien vom Seelensitz oder die Methoden, mit denen sie danach suchten. Im zweiten Teilkapitel zum 17. Jahrhundert lege ich dar, welchen Einf luss ihre Theorien auf die Entwicklung der Hirnforschung, insbesondere der hirnanatomischen Abbildung, ausübten, und welche Positionen sich parallel entwickelten. Bei der Wahl der Abbildungen bzw. der ausführenden Künstler legten Willis und Steno ebenso wie die Verleger Descartes’ Wert auf Originalität. Es scheint, als sei dieses Kriterium für etliche Zeitgenossen verzichtbar gewesen. Häufig wurde Bewährtes kopiert, meist mit eindeutigem Qualitätsverlust. Ein Blick auf jenen Teil der bildenden Kunst, der sich mit anatomischen Sujets befasste, verdeutlicht die Diskrepanz zwischen künstleri­ scher und wissenschaftlicher Abbildung dieser Zeit. Die mäßigen Fortschritte, die im Bereich grafischer Darstellung erzielt wurden, waren nicht zuletzt auf verbesserte Sektions­ und Präparationstechniken zurückzuführen. Der Mediosagittalschnitt kam vermehrt zum Einsatz und erweiterte die Perspektiven auf das Zentralorgan.

441 442 443

Descartes (1996), § 33, S. 57. Harvey (1961), S. 215. Vgl. Clarke/Dewhurst (1972), S. 68.

DESCA RTES, W ILLIS U N D STENO Der Fokus liegt in diesem Kapitel zunächst auf Descartes. Seine philosophischen Be­ trachtungen von Leib und Seele werden dem Bildwerk der posthum veröffentlichten Schrift Über den Menschen (De Homine oder Traité de l’Homme, 1632) gegenübergestellt. Als entschiedener Praktiker wendete sich Willis von der Philosophie ab. Durch seine neue Lokalisationstheorie der Hirnfunktionen wurde er zum Begründer der neuzeitlichen vergleichenden Hirnanatomie. 4 4 4 Steno war ein sehr genauer Beobachter. Seine 1665 gedruckte Rede über die Anatomie des Gehirns wird von mir als Bildprogrammatik gelesen und gibt als solche Auf­ schluss über den Status des anatomischen Bildwerkes dieser Zeit. R EN É DE SCA RT E S

Da die Seele ursprünglich als etwas Materielles aufgefasst worden war, stellte ihre In­ teraktion mit dem ebenfalls materiellen Körper philosophisch betrachtet kein großes Problem dar. 445 Erst bei René Descartes wurde der Mensch zum gespaltenen Wesen. Sein Menschenbild beruhte auf der Annahme eines Dualismus zwischen dem der ma­ teriellen Welt angehörenden Körper und der Seele oder dem Geist 446 , die er einer nichtmateriellen Sphäre zuordnete. Diese Teilung in res extensa, das materielle Gehirn und res cogitans, den nichtmateriellen Geist, veränderte das Denken über den Men­ schen grundlegend. 447 Zwar wurde die Unterscheidung zwischen Körper und Seele nicht erst von Descartes getroffen, dennoch formulierte sie niemand vor ihm so ein­ deutig. Erst Descartes gründete sein Denken über den Menschen auf der Annahme dieser Teilung. Londa Schiebinger beschreibt dies treffend: »What Descartes had to offer was agrounding for this notion in a new epistemology and ontology« 448 . Anders als bei Aristoteles, bei dem der Dualismus von Materie und Geist als durch das Leben 444

445 446

447 448

Vgl. Oeser (2002), S. 58f. Eine moderne Lokalisationstheorie wurde im 19. Jahrhundert entwickelt. Dabei werden jeweils bestimmten Rindenfeldern bestimmte Körperfunktio­ nen möglichst genau zugeordnet, bzw. finden bestimmte Körperabschnitte ihre kortikale Repräsentation, vgl. Schurz (1975), S. 26f.; Forssman/Heyn (1985), S. 104ff. Die noch heu­ te gebräuchliche Einteilung und Nummerierung des Kortex in 52 Felder geht auf K. Brodmanns Vergleichende Lokalisationslehre der Großhirnrinde, Leipzig 1909, zurück. Zur Lo­ kalisationstheorie bei Thomas Willis vgl. auch Isler (1964), S. 91. Vgl. Eccles (1999), S. 277. Geist und Bewusstsein waren für Descartes untrennbar miteinander verbunden. Wilkie bestätigt: »[F]or Descartes, the defining characteristic of mind was consciousness; and he would have considered the expression ›the unconscious mind‹ self­contradictory«, Wilkie (1973), S. 19. Die Begriffe stehen auch für ›Ich‹ und ›Welt‹: Das Ich ist, mit res cogitans bezeichnet, ein denkendes Ding. Die Außenwelt ist res extensa, ein ausgedehntes Ding. Schiebinger (1989), S. 174.

DESC ARTES, WILLIS UND STENO

vermittelt gilt, erscheint bei Descartes die res extensa zugleich auch als Leben.449 Die Frage nach dem Zusammenleben und dem Interaktionsort von Geist und Seele, dem »Commercium animae et corporis«450 , veranlasste Descartes zu philosophischen Über­ legungen, die über alle zu seiner Zeit gängigen Vorstellungen von Gehirn und Ner­ vensystem hinausreichten.451 Klaus Hammacher weist als Herausgeber und Übersetzer von Descartes’ Die Leidenschaften der Seele ausdrücklich darauf hin, dass »erst die Un­ terscheidung der zwei Substanzen ein Begreifen des lebendigen Organismus ermögli­ chte«. Sie trat an die Stelle »der letztlich mythischen Vorstellungen von Körperseelen, deren Zusammensetzung aus Stoffen und deren Qualitäten astrologisch das Zusam­ menwirken des Organismus erklären sollen«. 452 Indem Descartes die Substanz in Ausdehnung (Körper) und Erkenntnis (Seele) teilte, verdeutlichte er, dass der Körper und seine Funktionen physikalischen Geset­ zen gehorchen, Seelisches aber in der körperlichen Welt keinen physikalisch sinnvoll anzugebenden Platz hat. Die Seele sei dennoch in der Lage, über Gefühle in das kör­ perliche Geschehen einzugreifen. Eine Interaktion ist möglich, eine Vermischung je­ doch undenkbar. 453 Die scholastisch tradierte Naturlehre hatte Bewegung und Leben gleichgesetzt und dies mit der Beseeltheit des Körpers erklären können. Descartes hingegen sprach der Seele keinen Anteil an Leben und Beweglichkeit des Körpers zu, sondern sah diesen als Automaten oder Maschine an. Der dem Menschen eigene freie Wille wird ihm durch die Seele ermöglicht und macht ihn vor Gott für sein Handeln verantwortlich. Die Idee des Dualismus vom rein mechanisch funktionierenden Körper und der denkenden, vernunftbegabten Seele behielt ihre Zugkraft. Und dies obwohl sich wis­ senschaftsgeschichtlich ergeben hat, »dass immer, wenn der Ort und die Weise der Wechselwirkung eines geistigen mit einem materiellen Objekt spezifiziert wurden […], die Hypothese einer Interaktion des Geistes mit der Materie widerlegt werden konnte«454. Als Beispiel für solche empirisch nicht zu beweisenden Dualismustheorien nennt Bernulf Kanitscheider neben John Eccles’ Liaison­Gehirn besonders Descartes’ Epiphysenhypothese. Doch noch heute kommt niemand, der sich mit der Theorie der Seele beschäftigt, an Descartes’ Theorie vorbei. Ein namhafter Anhänger der dualis­ tischen Position im 20. Jahrhundert ist neben Eccles beispielsweise Karl Popper. Des­ cartes »skelettierte«, so drückt es Oeser aus, »die Menschenseele bis aufs denkende

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Vgl. Mocek (1995), S. 78. Unter ›Leben‹ versteht Mocek hier im Wesentlichen tierisches Leben. Dieses »ist mechanisches stoff liches Dasein, den Gesetzen der Körperwelt unter­ worfenes Maschinenleben«, ebd. Auch »Commercium corporis et mentis«, vgl. Klier (2002), S. 112. Vgl. Rothschuh (1969), S. 438. Hammacher, in Descartes (1996), S. 336. Vgl. Mocek (1995), S. 74. Kanitscheider (2003), S. 66.

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Ich«455 . Seine Lehren stellten einen Epochenwechsel dar, wie er in der Hirnforschung selbst kaum ein zweites Mal zu finden ist. Die für die vorliegende Arbeit relevante Frage ist, ob dies auch auf die Bilder vom Gehirn in dieser Zeit zutrifft. Im Folgenden soll anhand der in Descartes’ Über den Menschen verwendeten Abbildungen des Ge­ hirns, insbesondere denen der Zirbeldrüse, betrachtet und überprüft werden, ob und wie sich dieser epistemologische Bruch bildlich manifestierte. Diese Menschen werden – wie wir – aus einer Seele und einem Körper zusammen­ gesetzt sein. Daher ist es erforderlich, daß ich zuerst den Körper für sich und da­ nach auch die Seele ebenso für sich beschreibe. Und schließlich werde ich dar­ stellen, wie diese beiden Naturen miteinander verbunden und vereint sein müssen, um Menschen entstehen zu lassen, die uns ähnlich sind. 456

Mit diesem programmatischen Satz beginnt Über den Menschen. Dem hier formulier­ ten Vorsatz folgte Descartes nur bedingt. Vielmehr beschäftigt sich das Buch fast aus­ schließlich mit dem Gehirn und seinen Funktionen. Clarke weist darauf hin, dass die zweite Hälfte des Programms, eine Abhandlung über den Geist (mind) und die Ver­ bindung von Geist und Körper, von Descartes nie realisiert worden ist.457 Louis de La Forge (1632–1665), der sowohl die Illustrationen zur französischen Ausgabe von Über den Menschen schuf, als auch den Text um Fußnoten ergänzte, wurde sich dessen be­ wusst und nahm diese Lücke zum Anlass, 1664 seinen Traité de l’Esprit de l’Homme de ses facultez et fonctions, et de son union avec le corps. Suivant les principes de René Descartes zu schreiben.458 In Über den Menschen werden Tiere und Pflanzen als hydraulische Maschinen beschrieben. Im Unterschied zu ihnen habe der Mensch, dessen körperliche Gege­ benheiten ebenfalls auf mechanistischen Prinzipien beruhten, eine Seele, die in der Zirbeldrüse des Gehirns mit dem Körper interagiere. Im Dualismus Leib­Seele setzte Descartes das Gehirn stellvertretend für den Leib und begründete sein ungewöhn­ liches Postulat aus heutiger Sicht »vollkommen unzureichend damit, daß die Zirbel­ drüse das Organ sei, das unmittelbar durch den Anstoß der menschlichen Seele be­ wegt werde«459 . In seiner letzten Schrift Die Leidenschaften der Seele (Passions de l’Ame, 1649) spezifizierte Descartes, warum ausschließlich die Zirbeldrüse als Vereinigungs­ ort in Frage komme und markierte damit vorerst das Ende der Ventrikellehre. Die 455 456

457 458 459

Oeser (2002), S. 55. Descartes (1969), S. 43. »Homines isti haud aliter atque nos ex anima & corpore erunt com­ positi. Et necesse est ut primum seorsim describam corpus. Deinde animam quoque seor­ sim; ac denique ut ostendam quo pacto hæ duæ naturæ junctæ & unitæ esse debeant, ad componendos homines, qui nobis similes sint«, Descartes (1677), S. 1. Vgl. Clarke, in de La Forge (1997), S. xiii. Vgl. ebd., S. xiiif. Das Werk erschien 1666 bei Théodore Girard in Paris. Eccles (1999), S. 278.

DESC ARTES, WILLIS UND STENO

Hirnkammern dienten nun lediglich als Aufenthaltsort der Lebensgeister und hatten so die ihnen im Mittelalter verliehene Bedeutung verloren. Descartes war nicht der erste, der die Idee von der Zirbeldrüse als Seelensitz hat­ te. Schon in der griechischen Antike hatte es diesen Gedanken gegeben. 460 Unter De­ scartes’ Zeitgenossen nahm sich u. a. Thomas Willis dieser Frage an. Da selbst Fische und Vögel eine Zirbeldrüse besäßen, so argumentierte er, könne diese nicht der Sitz der Seele sein: »because Animals, which seem to be almost quite destitute of Imagina­ tion, Memory, and other superior Powers of the Soul, have this Glandula or Kernel large and fair enough«461. 150 Jahre später widerlegte Soemmerring Descartes, indem er genau gegensätzlich zu Willis argumentierte: Die Zirbeldrüse könne deshalb nicht als Seelesitz angenommen werden, weil Tieren diese Drüse fehle, sie aber dennoch beseelt seien. Oeser sieht in der behaupteten Seelenlosigkeit der Tiere eine der dunk­ len Kehrseiten kartesianischer Hirntheorie, da sie vermehrt zu Vivisektionen geführt hatte. 462 Um die Funktion der Zirbeldrüse in den Lehren Descartes’ und ihre Bedeutung für die Seelentätigkeit zu ergründen, sollen zunächst die Spiritus animales (esprits animaux), wie sie in Über den Menschen dargestellt sind, erklärt werden. Die »lebhaftesten, stärksten und feinsten Teile«463 des Blutes gelangen vom Herzen in die Gehirnkam­ mern. Dort dienen sie zum einen der Nahrung und Erhaltung der Hirnsubstanz, zum anderen erzeugen sie »einen gewissen, sehr feinen Hauch […] oder besser eine sehr lebhafte und reine Flamme, die man die Spiritus animales nennt«464 . Fragile Arteri­ enstrukturen sammeln sich »um eine gewisse kleine Drüse« 465 , die Zirbeldrüse, die am Eingang der Hirnkammern gelegen ist. Sie ist also nicht mit dem Gehirn verwachsen, sondern baumelt »an den Arterien aufgehängt zwischen dem dritten und vierten Hirnventrikel vor den sie umgebenden Nervenendigungen«466 . Die Arterien geben feinste Partikel in die Zirbeldrüse ab, von der aus sie wie von einer »reichlich über­ strömenden Quelle […] gleichzeitig nach allen Seiten« als Spiritus animalis »in die Kammern des Gehirns ausströmen«. 467 Der Spiritus animalis kann über die Nerven in die Muskeln eindringen und, gleich der Wasserkraft bei einem hydraulischen Auto­ maten, die Mensch­Maschine in Bewegung setzen. Nerven stellte sich Descartes noch als hohle Röhren vor, durch die f lüssige oder gasförmige Substanzen transportiert werden. Neu war der Gedanke von einem den

460 461 462 463 464 465 466 467

Vgl. Brazier (1984), S. 23. Willis (1965, II), S. 106. Vgl. Oeser (2002), S. 55. Descartes (1969), S. 52. Ebd., S. 54. Ebd. Klier (2002), S. 112. Descartes (1969), S. 56.

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einzelnen Nerv durchziehenden Markfaden. 468 Diese Markfäden würden durch Sin­ neseindrücke so gezogen, dass sie durch die Nervenenden, die man sich als winzige Ventile an der Oberf läche der Hirnhöhlen vorstellen kann, den Fluss des Spiritus zur Zirbeldrüse hin entsprechend verändern. In der so genannten ›kleinen Drüse‹ erschei­ ne darauf hin der Abdruck des Sinneseindrucks, z. B. ein über die Augen wahrgenom­ menes Bild. Ihre Beweglichkeit, die in den Abbildungen der französischen Ausgabe darge­ stellt ist (vgl. Abb. 87), ermögliche es der Zirbeldrüse, die Ströme der Spiriti zu regu­ lieren. Finger merkt an, dass eine solche Regulierung des Spiritus animalis durch Be­ wegungen der Zirbeldrüse schon von Galen vorgedacht und für absurd befunden worden war. 469 Welche Rolle spielt in den Überlegungen Descartes’ die Seele in der Zirbeldrüse? Er wählte die Metapher des ›Quellmeisters‹, in dessen Funktion die von Gott gegebene, vernunftbegabte Seele (l’âme raisonnable) den »Verteiler, an dem alle Röhrchen dieser Maschine zusammenkommen, bedienen muß, wenn [sie] in irgend­ einer Weise ihre Bewegungen beschleunigen, verhindern oder ändern will«. 470 Kurz, Descartes war der Meinung, dass willkürliche Bewegungen erst durch die Interaktion von vernunftbegabter Seele und Körperautomaten möglich wurden. Interessant ist, auf welche Art Descartes die Seele in seine Betrachtungen einbezog. Die Seele wird personifiziert: Sie sieht einen Gegenstand, auf den das Auge gerichtet ist, sie lernt ihn kennen, sie wird getäuscht.471 Sie ist es auch, die Appetit verspürt. 472 Mit anderen Worten: Die Begriffe Seele und Mensch werden hier synonym verwendet. In den auf diese Passage folgenden Kapiteln werden die verschiedenen Sinne und ihre Funktionsweisen erklärt, die dann auf die Gemütszustände und ihre Abhän­ gigkeit vom Spiritus animalis überleiten. Dessen Beschaffenheit, Menge, Beweglich­ keit variiert, wodurch verschiedene Stimmungen 473 oder natürliche Neigungen ent­ stehen, aber nur insoweit »als sie nicht von der Beschaffenheit des Gehirns oder von besonderen Affektionen der Seele abhängen« 474 . Wie dies geschieht, führte Descartes erst in Die Leidenschaften der Seele weiter aus. Die Gedanken (pensées) sind demnach als Funktionen der Seele aufzufassen und können in Tätigkeiten (actions) – das sind die 468 469 470 471 472 473

474

Vgl. Rothschuh (1969), S. 439. Vgl. Finger (1994), S. 26. Ebd., S. 57. Gerhard Klier schreibt, Descartes habe die Zirbeldrüse anschließend an Bauhin und Fernel als »eine Art Röhrenmeister« angesehen, vgl. Klier (2002), S. 112. Vgl. ebd., S. 88ff. Vgl. ebd., S. 95. Rothschuh weist darauf hin, dass das Wort Stimmungen eine Übersetzung von humeurs ist, das »entsprechend den Humores bzw. dem »Temperamentum« der traditionellen Säfte­ lehre« verwendet wurde, vgl. Kapitel 3.2.1. Gemeint sei jedoch »die Verfassung des Cha­ rakters im psychologischen Sinn. Hier mischt sich altes mit neuem«, Rothschuh, in Des­ cartes (1969), S. 97. Descartes (1969), S. 97.

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Willensakte – und Leidenschaften (passions) – das sind alle Arten von Wahrnehmun­ gen oder Kenntnissen – der Seele unterteilt werden. 475 Wahrnehmungen (perceptions) können aber ebenso wie Stimmungen oder Neigungen körperliche oder seelische Gründe haben. Sie werden der Seele durch die Nerven vermittelt. 476 Wenn also die äußeren Sinnesorgane durch Sinnesgegenstände bewegt werden (z. B. durch den Klang einer Glocke), kann die Seele dies durch die Nerven im Hirn empfinden. 477 Körperliche von rein seelischen Funktionen zu trennen ist schwierig. Die Über­ gänge scheinen f ließend, denn alle dieselben Empfindungen, welche die Seele mittels der Nerven bemerkt, [kön­ nen] ihr auch durch die zufällige Bahn der Lebensgeister vergegenwärtigt werden […], wobei es keinen anderen Unterschied gibt als den, daß die Einprägungen im Hirn durch die Nerven gewöhnlich lebhafter und ausgeprägter sind als die, wel­ che die Lebensgeister [allein] dort hervorrufen478 .

Eine Vereinigung von Körper und Seele wird demnach durch Übertragungskom­ petenzen der Nerven ermöglicht. Mit dem ganzen Körper verbunden lässt sich die Seele nicht ausschließlich im Gehirn verorten. Descartes erklärte, »daß man genauso genommen nicht sagen kann, sie sei in bestimmten Teilen des Körpers mit Ausschluß der anderen«479 . Als Grund hierfür sah er die Einheit des Körpers an. Die Seele bezieht sich immer auf die Gesamtheit der Organe, obwohl sie nicht als räumlich ausgedehnt verstanden werden kann: »Wie ersichtlich ist, kann man nicht die Hälfte oder ein Drittel einer Seele begreifen, noch welchen Raum sie einnimmt, oder daß sie kleiner würde, wenn man einige Glieder des Körpers abschnitte, denn sie trennt sich von ihm gänzlich, wenn man den Gesamtzusammenhang seiner Organe auf löst.«480 An diesen Gedankengang zur Verteilung der Seele im Körper schließen die Überlegungen zur Bedeutung der Zirbeldrüse an. Dass alle anderen Teile des Gehirns und die äußeren Sinnesorgane doppelt vorhanden seien, mache es nötig, daß es eine Stelle gibt, wo zwei Bilder, die von den beiden Augen kommen oder zwei andere Eindrücke, die von einem einzigen Gegenstand durch die doppelten Organe der anderen Sinne kommen, sich zu einem verbinden können, bevor sie zur Seele gelangen, damit sie dieser nicht zwei anstatt einem Bild darbieten. Man kann auch leicht bemerken, dass sich diese Bilder oder anderen Eindrücke in dieser 475 476 477 478 479 480

Vgl. Descartes (1996), §17, S. 33. Vgl. ebd., §21/22, S. 39. Vgl. ebd., §23, S. 41. Ebd., §26, S. 45. Ebd., §30, S. 51. Ebd., §31, S. 53. An dieser Stelle bezieht sich Descartes auf die aristotelische Seelentrias, vgl. diese Arbeit S. 112. Dazu auch Hammacher, in Descartes (1996), S. 336.

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Drüse durch Dazwischentreten der Lebensgeister, welche die Kammern des Hirns füllen, vereinigen. Es gibt aber keine andere Stelle im Körper, wo sie somit vereinigt worden sein können, wenn sie es nicht in dieser Drüse sind. 481

Das verwirrt: Die Seele ist, obgleich sie keine Räumlichkeit besitzt, im ganzen Kör­ per anwesend, verbindet sich jedoch ausschließlich in einem Punkt mit ihm, dem Hauptsitz der Seele: »le principal siege de l’ame«482 . Als Mediziner und Philosoph präzisierte de La Forge die Ursachen der Vereini­ gung von Körper und Seele in seinem Traité de l’Esprit de l’Homme im Sinne Descartes’. Neben dem göttlichen Willen, den er als Urgrund oder Hauptursache (general cause) ansah, bestehen zwei weitere Ursachen (particular causes), eine körperliche und eine geistige (spiritual). Die erste hänge von der spezifischen Konstitution eines menschli­ chen Körpers ab, geformt durch Temperament, Bewegung der Säfte und Spiritus ani­ males usw. Die zweite Ursache sei abhängig vom Willen eines Menschen oder ge­ nauer, vom Willen seiner Seele. Der Ort dieser Vereinigung sei dort, wo die Seele ihre Funktionen sofort und unmittelbar ausführe. 483 Unter Seelensitz verstand de La Forge jenen Teil des menschlichen Körpers, durch dessen Bewegung die Gedanken eines Menschen mit seinem Körper in Verbin­ dung treten. Nach seiner Auslegung der kartesianischen Theorie kann dies nicht im ganzen Körper der Fall sein, da nichts, was nicht durch eine Bewegung der Nerven übertragen wird, zu uns vordringt. Da der größte Teil des Gehirns dem Speichern von Erinnerungen dient, ist dem Seelensitz nur ein kleiner Teil vorbehalten. Es muss ein beweglicher Körperteil sein, an dem die Spiritus animales dazu gebracht werden, in die Muskeln einzutreten und so Bewegungen zu bewirken. Außerdem muss sich dieser Ort in der Nähe der Hirnhöhlen befinden, wo der Spiritus animalis erzeugt wird. Weiterhin muss der gesuchte Ort einfach (simple) und einzigartig (unique) sein, da sonst die Eindrücke, die über die doppelt vorhandenen Sinnesorgane aufgenom­ men würden, nicht zu einem einzigen vereint werden könnten. All diese Vorgaben treffen nur auf einen Ort zu, die Zirbeldrüse. 484 In Die Leidenschaften der Seele stellte Descartes zusammenfassend fest: »Alle Tätigkeit der Seele besteht aber darin, daß allein dadurch, daß die kleine Hirndrüse, mit der sie eng ver­ bunden ist, sich in der Art bewegt, wie erforderlich ist, um die Wirkung hervorzuru­ fen, die diesem Willen entspricht.«485 Nachdem er seinen Discours de la méthode 1637 publiziert hatte, machte Descartes die Erfahrung, dass sowohl die Kirche, die zu dieser Zeit inquisitorische Maßnahmen 481 482 483 484 485

Descartes (1996), §32, S. 54f. Ebd., §34, S. 56. Vgl. de La Forge (1997), S. 137. Vgl. ebd., S. 138ff. Descartes (1996), §41, S. 68f.

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gegen Galileo Galilei (1564–1642) durchführte, als auch einige Kollegen seinen Ideen mit großem Misstrauen begegneten und letztlich seine Schriften in Utrecht nicht mehr gelehrt werden durften. 486 Dies könnten Gründe dafür gewesen sein, dass Über den Menschen erst posthum veröffentlicht wurde. Laut Rebecca Wilkin, die sich auf Baillet bezieht, wollte Descartes dieses Manuskript aus seinem ›schwedischen Koffer‹ überhaupt nicht veröffentlichen. 487 Sowohl diese Vermutung als auch die Tatsache der posthumen Veröffentlichung sind für eine Deutung der Abbildungen dieses Werkes entscheidende Momente. Mary Brazier betont, dass kaum eine der zahlreichen Illus­ trationen von Descartes erstellt oder auch nur gesehen worden ist. Daher könne er auch nicht für anatomische Fehler wie unrichtige Annahmen über den Sitz der Zir­ beldrüse verantwortlich gemacht werden. 488 Laut Hammacher waren Descartes’ eige­ ne Zeichnungen der Zirbeldrüse »sehr unzulänglich und die nach ihnen angefertigten Stiche von De La Forge sehr schematisch«489 . Die erste Ausgabe, Des Cartes de homine490 , gab der Philosophieprofessor Florent Schuyl (1619–1669) 1662 auf Latein heraus und versah sie mit eigens hergestellten Fi­ guren, die in Kupfer gestochen waren. 1664 folgte dann die französische Ausgabe Claude Clerseliers (1614–1684), L’Homme de René Descartes491, mit völlig neuen Illustra­ tionen. Auf die besondere Rolle, die Clerselier als Herausgeber Descartes’ spielte, weist Wilkin hin. Da die nach dem Tod Descartes’ vom schwedischen Königshof nach Frankreich gesendeten Papiere nach einem Schiffsunglück drei Tage auf dem Grunde der Seine geruht hatten, habe Clerselier Lücken füllen, den Inhalt ordnen und Zer­ störtes oder Verlorenes ersetzen müssen. 492 Den Auftrag für die neuen Holzschnitte erhielten zwei Wissenschaftler, Louis de La Forge und der Anatom und Mathematiker Gérard van Gutschoven (1615–1668). Clerselier entschied sich in den meisten Fällen für die Vorlagen van Gutschovens, da diese seiner Ansicht nach qualitativ besser waren, verwendete aber bei unterschied­ lichen Darstellungsweisen beide und kennzeichnete sie jeweils mit einem G oder F.493 486 487 488 489 490 491

492 493

Vgl. Brazier (1984), S. 20. Vgl. Wilkin (2003), S. 61 und 66. Vgl. Brazier (1984), S. 21. Hammacher, in Descartes (1996), S. 336. René Descartes, Renatus des Cartes De Homine. Figuris et Latinitate Donatus a Florentino Schuyl, Inclytæ Urbis Sylvæ Ducis Senatore, & ibidem Philosophiæ Professore, Leiden 1662. René Descartes, L’homme de René Descartes et un traitté de la formation du foetus du meme autheur. Avec les remarques de Louys de la Forge sur le traitté de l’homme de René Descartes, Paris 1664. Wenn in der vorliegenden Arbeit von der ›französischen Ausgabe‹ die Rede ist, so schließe ich deren lateinische Neuauf lage mit ein, da auch sie die Abbildungen de La For­ ges und van Gutschovens enthält, und diese hier auch abgedruckt sind: Renati Des-Cartes Tractatus de Homine, et de Formatione Fœtus. Quorum prior Notis perpetuis Ludovici De La Forge, M. D. illustratur, Amsterdam 1677. Vgl. Wilkin (2003), S. 41. Vgl. Clarke, in de La Forge (1997), S. xv.

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Karl E. Rothschuh erwähnt zwei Textfiguren, die von Descartes selbst stammen und in Clerseliers Ausgabe aufgenommen worden sein sollen. 494 Um welche der Abbil­ dungen es sich hierbei handelt, verrät er nicht. Ein Absatz im Titel der französischen Ausgabe lässt darauf schließen, dass sich in Descartes’ Nachlass Entwürfe zu Zeich­ nungen fanden. Dort heißt es, dass dem Buch Bemerkungen des Mediziners Louis de La Forge beigefügt seien, die zum einen den Text Descartes’ beträfen, zum anderen die von ihm erfundenen Figuren (les Figures par lui inventées). Ob der ›Erfinder‹ dieser Tafeln Descartes oder de La Forge war, bleibt hier m. E. unklar. Wilkin schreibt, dass Clerselier in Descartes’ Nachlass keine Bilder vorgefunden hat. 495 Allerdings gab er an, aus anderer Quelle eine Originalzeichnung zu besitzen, die er, versehen mit dem Kürzel D, als Figur Nr. 7 in seine Ausgabe mit aufnahm. 496 Da die Figuren nicht ein­ heitlich durchnummeriert oder mit Buchstabenkürzeln versehen wurden, bleibt im Dunkeln, welche Figur gemeint ist. Wenn die siebte Figur diejenige ist, die Roth­ schuh als Fig. 7 in seine Übersetzung aufgenommen hat, so handelt es sich um die Zeichnung eines Jungen, der vor einem Feuer kniet. An dieser Figur wird der Zusam­ menhang von Sinneswahrnehmung und Bewegung verdeutlicht. Das Gehirn ist auf eine Hirnkammer reduziert. Diese allerdings ist nicht mehr als ein eiförmiges Bläs­ chen im Kopf des Jungen. Zwei Skizzen des Gehirns von der Hand Descartes’ sind indirekt überliefert. Sie befinden sich in einer Handschrift der vormals Königlichen Bibliothek zu Hanno­ ver. 497 Das mit Excerpta ex Cartesio überschriebene Manuskript stammt von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), der die Zeichnung einer Schafshirnbasis sowie die winzige Skizze eines sagittalen Hirnschnitts von Descartes übernommen hatte (Abb. 81a/81b). Es lässt sich natürlich nicht mehr feststellen, ob Leibniz sich an den grafischen Ausdruck Descartes’ gehalten hat, oder ob er selbst für den f lüchtigen Stil der Skizze verantwortlich war. Sie diente wohl hauptsächlich als Hilfe, sich anhand der groben und f lüchtigen Zeichnung eine Hirnstruktur vor Augen zu führen, um daran einen Gedanken festzumachen oder zu verdichten. Obwohl der cerebrale Kortex für Descartes’ Theorien praktisch keine Rolle spielte, ist dessen Darstellung bei Schuyl z. B. in Fig. LIII gemessen an zeitgenössischen Pendants gut gelungen (Abb. 82). Dennoch gibt dieses Bild Rätsel auf. Es zeigt das Gehirn von schräg hinten. Obwohl die Sulci und Gyri anscheinend unversehrt sind, also nichts auf einen horizontalen Schnitt durch die Rinde hindeutet, ist das Klein­ hirn in Gänze zu sehen. In dieser Position wäre dies allerdings nur dann möglich, wenn der Hinterhauptslappen (Lobus occipitalis) zumindest teilweise entfernt wor­ 494 495 496 497

Vgl. Rothschuh (1969), S. 31f. Vgl. Wilkin (2003), S. 44. Vgl. ebd., S. 50. Heute ist dies die Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek (Niedersächsische Landesbiblio­ thek). Es handelt sich um die Handschrift der Signatur LH IV, I, 4b Bl. 3–12 und ex Mso Cartesii in 4 unter LH IV, I, 4b Bl. 13–14.

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Abb. 81a/81b: Zeichnung einer Schafshirnbasis und Skizze eines sagittalen Hirnschnitts aus dem Leibniz Manuskript der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek.

den wäre. Es sind jedoch keine Schnittf lächen dargestellt. Vielmehr sieht es so aus, als seien sie teilweise unter das Kleinhirn geschoben worden. Zwischen den Hemisphä­ ren und dem Kleinhirn erhält der Betrachter einen Einblick in die Tiefen des Gehirns: Ein kleiner Ausschnitt des Hirnstamms von dorsal eröffnet den Blick auf die Zirbel­ drüse über der Vierhügelplatte (zu dieser Zeit mit Nates und Testes bezeichnet). Die­ ser Umstand nun macht es vollends unwahrscheinlich, dass ein einziges Organ zur Bildvorlage gedient hat. Die Zirbeldrüse liegt zu tief, um bei unversehrtem Großhirn sichtbar zu sein. 498 Zudem hätte das Kleinhirn aus dieser Perspektive eine andere Form. Wahrscheinlich ist, dass, um die Abbildung herzustellen, verschiedene Präpa­ rate kombiniert wurden, bis das, worauf es ankam, die Zirbeldrüse nämlich, sichtbar 498

Vgl. Clarke/Dewhurst (1972), S. 68.

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wurde. Visualisiert wurde also weniger nach morphologischen Kriterien als vielmehr der Bedeutung nach. Anders gesagt hierachisiert die Bildlogik den Blick des Betrach­ ters. Wahrgenommen wird ein rundes Organ, in dessen Zentrum die funktional prioritäre Struktur liegt. Dass dieses Gehirn ein fiktives ist, ist dabei belanglos. Dahin­ gehend ist auch die Bemerkung Stenos zum Tafelwerk der Schuyl­Ausgabe in einem Brief an Thomas Bartholin (1616–1680) zu deuten: »Man sieht darin recht hübsche Figuren, die sicherlich einem genialen Gehirn entstammen; ob man sie aber jemals in einem Gehirn zu sehen bekommen wird, möchte ich sehr bezweifeln.« 499 Hinsichtlich der nächsten Tafel können wir ebenfalls feststellen, dass es sich bei Schuyls Vorlagen entweder nicht um menschliche Gehirne handelte, oder dass Schuyl die Anatomie des Gehirns nicht einleuchtete. Eine dritte Möglichkeit ist, dass er sie bewusst ignorierte. Tafel XXXI visualisiert einen Medianschnitt durch das Gehirn, bei dem die Hirnrinde nicht die typische, von Gyri und Sulci bestimmte Struktur aufweist, sondern in regelmäßigen Falten vom Vorder­ zum Hinterhaupt liegt (Abb. 83). Auch hier scheint das Kleinhirn weit hinter dem Hinterhauptslappen hervor, wie es beim primitiven Säugetiergehirn, z. B. dem des Igels, bei dem es völlig frei liegt, der Fall ist.500 Auffällig ist, dass die Zirbeldrüse, in beiden Ausgaben von Über den Menschen mit H beschriftet, von Schuyl stets um einen sich nach oben hin fahnenartig öff­ nenden Strang gekennzeichnet ergänzt wurde. In einigen Figuren (z. B. Fig. LI, hier nicht abgedruckt) ist oben, zwischen den unversehrten Hirnhälften, ein Löchlein eingezeichnet, durch welches das Fähnchen herausweht. Optisch dient es als eine Art Windrose: Wo es nach oben steigt, ist die Oberseite des Gehirns. So auch in Fig. LIII (vgl. Abb. 82), in der das Gehirn mit seiner Oberseite zur unteren Blattkante hin ab­ gedruckt ist, das Fähnchen also nach unten weht. Eine weitere Deutungsmöglichkeit besteht darin, dass Schuyl mit diesem Bildelement den feinen Hauch bzw. die »sehr lebhafte und reine Flamme«501 darstellte, als die Descartes den Spiritus animalis be­ zeichnet hatte bzw. die Beweglichkeit der Zirbeldrüse visualisieren wollte. Auch in Tafel N. 56 (Abb. 84), deren Vorbild Vesals Fabrica entstammt (vgl. Abb. 52), wurde das Fähnchen eingefügt. Noch größer ist die Ähnlichkeit dieser Tafel zu Eustachis Hirnbasis (vgl. Abb. 75). Obwohl es unwahrscheinlich ist, dass Schuyl die Druckvorlage gekannt hatte, stellte er wie Eustachi den Corpus mamillare als zwei Kreise und anstelle des Infibulums bzw. der Hypophyse eine dunkle Öffnung dar. Das Zirbelfähnchen weist in Tafel N. 56 allerdings nicht in Richtung der Hirnober­ seite. Die Zirbeldrüse ist von der Hirnbasis aus nicht zu sehen. Daher zeigt das Fähn­

499 500 501

Stensen, zit. nach Scherz (1964), S. 170. Vgl. Kahle/Frotscher (2005), S. 210. Michael Frotscher erläutert, dass das Kleinhirn »in der Primatenreihe von den Endhirnhemisphären mehr und mehr bedeckt« wird, ebd. Descartes (1969), S. 54.

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Abb. 82: Kortex und Kleinhirn von schräg hinten, Fol. 118/Fig. LIII (Ausschnitt) aus De Homine. Figuris et Latinitate Donatus a Florentino Schuyl, Descartes (1662).

Abb. 83: Sagittaler Hirnschnitt, Fig. XXXI aus De Homine. Figuris et Latinitate Donatus a Florentino Schuyl, Descartes (1662).

chen an, dass sie sich aus dieser Perspektive hinter dem Pons befindet. Würde es nach oben steigen, wäre es für den Betrachter unsichtbar. Diese Beispiele zeigen, dass und wie die Figuren der schuylschen Ausgabe von der Anatomie mehr verbergen als offenlegen. Im Gegensatz zu den von Clerselier in Auftrag gegebenen Holzschnitten, bei denen die Linien gröber gearbeitet sind, und die demzufolge insgesamt rustikaler wirken, sind die Kupferstiche Schuyls fein ausge­ führt und zeigen viel mehr Details, wie z. B. kleinste Gefäße. Auch die Textur unter­ schiedlicher Hirnteile ist lebendig wiedergegeben, doch der Bau des Gehirns und die Anordnung seiner Einzelteile sind oft nicht eindeutig zuzuordnen und nachzuvoll­ ziehen. Eine auf dieser scheinbar ungenügenden Genauigkeit der Bilder abzielende Kritik muss insofern überdacht werden, als es nicht der anatomische Bau war, auf den es Descartes bei seiner Funktionstheorie ankam. So sind die Schuyl­Abbildungen

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Abb. 84: Hirnbasis und Nerven nach Vesals Fabrica (vgl. Abb. 52), Fig. N.56. (Ausschnitt) aus De Homine. Figuris et Latinitate Donatus a Florentino Schuyl, Descartes (1662).

Formeln für Hirnfunktion, oder sie visualisieren doch zumindest neben der Anato­ mie die Bedeutung der Funktionselemente. Wieviel Gewicht Schuyl selbst der Über­ setzung von Hirnfunktion ins Bild beimaß, ist daran zu sehen, dass er eine ›virtuelle Anatomie‹ erstellte: Descartes’ Theorie folgend ließ er in Fig. LIV eine Zirbeldrüse aus Papier einkleben, die sich hochklappen lässt, sodass der Betrachter ihre Beweg­ lichkeit nachvollziehen kann (Abb. 85).502 Schuyls Abbildungen sind uneinheitlich. Sie legen seine Zweifel darüber offen, ob bei einer Visualisierung kartesianischer Theorien eher die Funktion des Gehirns hervorgehoben werden sollte, oder ob es nicht doch vor allem auf eine naturgetreue Darstellung der Hirnanatomie ankam. Diese Unentschlossenheit konnte Clerselier, der die Darstellungen Schuyls ausführlich kritisierte, in der französischen Ausgabe fast vollständig überwinden. Clerselier gelang es, aus der Analyse der Abbildungen seines Vorgängers zu lernen und seine Erkenntnisse in die neuen Bilder zu übertra­ gen. Im Anschluss an die Beschreibung der von ihm verwendeten Holzschnitte wird ein Vergleich der Bilder beider Ausgaben zeigen, dass und inwiefern Schuyl den Weg zur ›reinen‹ Funktionsabbildung für Clerselier geebnet hat. 502

Vgl. Wilkin (2003), S. 48.

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Abb. 85: Zirbeldrüse zum Ausklappen, Fig. LIV aus De Homine. Figuris et Latinitate Donatus a Florentino Schuyl, Descartes (1662). Siehe Farbtafel V.

Abb. 86: Ventrikel und Zirbeldrüse aus De Homine, Descartes (1677); zuerst erschienen in Descartes (1664).

Die Herausgabe des Traité de l’homme auf Französisch gab der Diskussion um die kartesianische Biologie neuen Schwung, besonders in Paris, wo viele Anhänger und einige Kritiker Descartes’ regelmäßig zusammentrafen.503 Viele der Figuren der Cler­ selier­Ausgabe finden sich in abgewandelter Form mehrfach verwendet, d. h. inner­ halb einer Grundform werden verschiedene Zustände dargestellt. Im Briefwechsel zwischen Descartes und Marin Mersenne (1588–1648) wird die Zirbeldrüse aufgrund ihrer Form mit einem Pinienzapfen verglichen und als conarium bezeichnet.504 Die typische Tropfenform der Zirbeldrüse wiederholt sich in allen Bil­ dern, sodass dieses in der kartesianischen Theorie bedeutsamste Hirngebilde immer wiedererkennbar ist. Die kern­ oder tropfenförmige Drüse sitzt meist plastisch, d. h. in einer leicht schrägen Seitenansicht, verschiedenen Hirnschnitten auf. Diese Sche­ mata treten als organische Gebilde in Erscheinung, die dem Jugendstil vorzugreifen scheinen. Sie sind ornamental, stilisiert, symmetrisch. Die einzelnen, im Text als sol­ 503 504

Vgl. Scherz (1964), S. 171. Vgl. Brazier (1984), S. 23.

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che ausgewiesenen Gewebestrukturen sind durch grafische Muster und Schraffuren zu unterscheiden. An einer Figur, die im Buch gleich dreimal abgebildet ist, sollen diese Muster entschlüsselt werden (Abb. 86).505 In den zu einer Form zusammengefassten Ventrikeln (E) befindet sich die Zir­ beldrüse (H). Der die Ventrikel umgebende karierte Bereich A markiert die Öff­ nungen der Nerven (a) in die Ventrikelwände hinein. Als äußeren Ring umschließen die auch der Länge nach zu sehenden Nerven (tuboli) zwischen B und C die Figur wie einen Strahlenkranz. Weitere tropfenförmige Gebilde (I, K und L) sorgen für ei­ nen Abtransport des Schleims über die Hypophyse, ein Vorgang, dessen Dynamik wiederum durch gepunktete Linien dargestellt ist.506 Dieses f loral wirkende Objekt basiert wahrscheinlich auf einem horizontalen Hirnschnitt. Bis auf die Verzwei­ gungen angedeuteter Adern in den Ventrikeln lässt sich visuell kaum eine Verbindung zu anatomischen Strukturen herstellen. Vielmehr gleicht es einer Distelblüte am Stiel. Eine andere Figur, ein horizontaler Hirnschnitt in Seitenansicht, erinnert in ihrer äußeren Form an ein Seerosenblatt (Abb. 87). Doch auch diese scheinbar ab­ strakte Form findet ihre anatomische Entsprechung in den Hinterhörnern (Cornu occipitale) des lateralen Ventrikels. In dieser Zeichnung sind die feinen Arterien dar­ gestellt, an denen die Zirbeldrüse aufgehängt ist, bzw. auf denen sie fußt. Die kleinen Kreise, die die Blattform beschreiben, sind die Nervenenden. Die Nerven selbst sind durch Schrägstriche angedeutet. Diese Figur wird innerhalb einer anderen (Fig. 48) in einen größeren Zusammenhang gestellt (Abb. 88). Hier wird gezeigt, wie die opti­ schen und andere Nerven zu den Ventrikelwänden führen. Unten aus der Zirbeldrüse scheinen Flammen zu schlagen, wie bei einer Rakete kurz vor dem Start. Das Gehirn bzw. der Kortex bildet scheinbar einen Raum, der den Ort der Hirntätigkeit schüt­ zend umschließt. Warum es sich hierbei um eine Augentäuschung handelt, wird wei­ ter unten aufgelöst. Die Visualisierung der funktionalen Prozesse, findet durch optische Verbin­ dungslinien statt. So gibt Fig. 41 eine Detailansicht der Kommunikation zwischen Nervenenden und Zirbeldrüse, indem verschiedene Punkte beider Formen mit durch­ gezogenen Linien verbunden sind (Abb. 89). Die Bewegung der Zirbeldrüse wird z. B. in Fig. M durch eine Wiederholung ihrer Form in einer gepunkteten Linie dar­ gestellt (Abb. 90, vgl. auch Abb. 10). Wozu dient nun die starke Schematisierung in den Bildern der französischen Ausgabe? Clerselier ging es augenscheinlich darum, die Funktionsweisen eines Or­ gans oder seiner Teile zu erklären, also darum, Descartes’ Theorien im besten Wort­ 505

506

Vgl. Descartes (1677), S. 101; S. 117; S. 162. Sofern die Figuren der französischen Ausgabe überhaupt bezeichnet sind, ist ihre Benennung uneinheitlich. Bezeichnungen werden hier nur dann angegeben, wenn sie eindeutig zuzuordnen sind. Wenn Seitenangaben gemacht werden beziehen sich diese auf die Amsterdamer Ausgabe von 1677. Vgl. S. 55 und Abb. 9–10. Im Text bezeichnet kein Buchstabe dezidiert die Schleimdrüse (Hypophyse), vgl. Descartes (1677), S. 116.

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Abb. 87: Horizontaler Hirnschnitt in Seitenansicht aus De Homine, Descartes (1677); zuerst erschienen in Descartes (1664).

Abb. 88: Optische und andere zu den Ventrikelwänden führende Nerven aus De Homine, Descartes (1677); zuerst erschienen in Descartes (1664).

Abb. 89: Detailansicht der Kommunikation zwischen Nervenen­ den und Zirbeldrüse aus De Homine, Descartes (1677); zuerst erschienen in Descartes (1664).

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Abb. 90: Schematische Darstellung der Bewegung der Zirbeldrüse aus De Homine, Descartes (1677); zuerst erschienen in Descartes (1664).

sinn zu ›illustrieren‹. Rothschuh bestätigt: »Die Figuren sind keine anatomischen Darstellungen, sondern sie sollen die Meinung von Descartes verdeutlichen«507. Wil­ kin bezeichnet sie als heuristische Werkzeuge, die dazu dienen, unsichtbare Dinge greif bar zu machen oder zu konkretisieren.508 Ihrer Meinung nach lag die Ursache für Clerseliers Kritik an den Abbildungen der schuylschen Ausgabe in seiner Sorge, diese könnten den Absichten, die Descartes mit Über den Menschen verfolgt hatte, zuwider laufen und so seinem Andenken schaden.509 Clerseliers Ziel war es, dem Betrachter nicht die Natur, sondern die Absichten, Meinungen und Ideen eines geistigen Erneu­ erers nahe zu bringen. Betrachten wir die Arbeiten de La Forges und van Gutschovens vor diesem Hintergrund, so stellt sich die Frage, ob sie jenen neuen Blick auf den Menschen vermitteln konnten, den die kartesianische Philosophie evozierte. Wilkin vergleicht die Bilder mit einer Bedienungsanleitung: »The schematic Figures commissioned by Clerselier resemble those in an operating manual. By me­ chanizing the human body, Clerselier not only followed Descartes’ intentions, he 507 508 509

Rothschuh, in Descartes (1969), S. 32. »heuristic devices that reify invisible things«, Wilkin (2003), S. 53. Vgl. Wilkin (2002), www.indiana.edu/~frithome/news/events/WilkinLecture.html (10. 05. 2006).

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Abb. 91: Mediosagittale Ansicht ähnlich der Fig. XXXI Schuyls (vgl. Abb. 83) aus De Homine, Descartes (1677); zuerst erschie­ nen in Descartes (1664).

drew attention away from the author’s dead body to promote the immortality of his disembodied ›thought‹.«510 Ihr Hinweis, Schuyl habe den toten Descartes visualisiert, und Clerseliers Bilder hätten sich im Gegenzug dessen unkörperlichen Gedanken ge­ widmet, ist bedenkenswert. Der Fakt, dass Descartes’ Geist eine schier übermensch­ liche Kondition hatte, sein Körper jedoch vergänglich war, wird von ihr mit jener Bedeutung aufgeladen, die, gespeist aus seinen Schriften und ihrer Rezeption, bis heute besteht. In der mechanisierten Körperwelt der Abbildungen de La Forges und van Gutschovens kommen Verfall und Sterblichkeit nicht vor. Der Geist triumphiert in Wort und Bild ebenso wie im Verlauf der Geistesgeschichte über den Körper. Zusätzlich sind die Abbildungen der französischen Ausgabe des L’Homme Lehr­ grafiken, die den hypothetischen Bau des Steuerungsorgans der Mensch­Maschine darstellen. Dazu führt Rothschuh aus: Descartes’ Maschine mußte so gebaut sein, daß der größte Teil aller körperlichen Bewegungen ohne Einflüsse von seiten der Seele richtig vonstatten gehen kann. Diesen Mechanismus auszudenken, bedurfte ebensosehr einer ungewöhnlichen Phantasie und Erfindungsgabe wie einer möglichst sorgfältigen Berücksichtigung physikalisch mechanischer Vorgänge.511

Abbildungen im kartesianischen Sinne sollten nicht die Natur repräsentieren. Das von Clerselier herausgegebene Werk war nicht als Anatomiebuch geplant.512 Die Wahr­ 510 511 512

Ebd. Rothschuh, in Descartes (1969), S. 100. Vgl. Wilkin (2003), S. 50.

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heit, die sich in Descartes’ Worten und Denken offenbart, und die durch die Abbil­ dungen repräsentiert werden soll, ist nicht das Ergebnis empirischer Naturforschung. Diese Wahrheit basiert auf vernunftgemäßem Nachdenken.513 Für Descartes stellte »die Natur selbst nur eine der möglichen Illustrationen seines Systems von theoretisch angenommenen Axiomen und Konsequenzen«514 dar. Vorbilder fand er z. B. im Be­ reich der Technik, denn wenngleich die Zeichnungen nicht von Descartes’ Hand stammen, gab er uns metaphorische Darstellungen, die auf sein Bildverständnis schlie­ ßen lassen. So verglich er beispielsweise die Spiritusverteilung im Körper mit der Luftverteilung in Orgeln. Hammacher erklärt das, was ich an dieser Stelle als ›sprach­ liches Bild‹ bezeichne, als Denkmodell: Im Denkmodell wird mittels einer Analogie, die aber keine analogia entis, sondern eine Analogie im Aufbau von Denkschritten ist, ein Phänomenbereich überhaupt erst methodisch aufgeschlossen, aus den im Bild trennbaren Möglichkeiten wer­ den logisch unterscheidbare Operationen für eine methodische Erkenntnis ge­ wonnen515 .

Bei Clerselier wird dies im Bild nachvollzogen: Durch die von ihm gewählte Art der Darstellung wird Hirnfunktion mechanisiert. Leonardo hatte auf zahlreichen seiner anatomischen Blätter naturalistische Darstellungen schematischen gegenübergestellt, um daran beispielsweise die Muskelbewegung von Extremitäten zu verdeutlichen.516 Die in Descartes’ Text bezüglich der Abbildungen implizit gestellte Aufgabe, nämlich zu visualisieren, wie das Gehirn funktioniert, erwies sich als wesentlich schwieriger. Im Gegensatz zur Muskelbewegung waren Hirnprozesse weder beobachtbar noch messbar. Clerselier entschloss sich daher, nicht wie Leonardo, mit bildlichen Gegenü­ berstellungen zu arbeiten und auch nicht, wie Schuyl, Funktion und Anatomie in einem Bild zu vereinen, sondern ›reine‹ Funktionsbilder herstellen zu lassen. Diese Entscheidung rückt seine Figuren in die Nähe der Darstellungen der Zelldoktrin. Auch hier hatte man sich, abgesehen von körperlichen Rahmungen, ganz auf die Darstellung von funktionalen Abläufen konzentriert. Erst nachdem sich das Funk­ tionssymbol Zelle zur anatomischen Form Ventrikel entwickelt hatte, etablierte sich eine andere Art der Darstellung von Gehirnfunktion. Dass Clerselier in seinen Bil­ dern von den anatomischen Gegebenheiten des Gehirns wenig Notiz nahm, bedeutet nicht etwa, dass das Gehirnbild mit Descartes einen Rückschritt erfuhr. Es ist im Gegenteil ein Beispiel dafür, dass geistig­körperliche Vorgänge in verständliche Bilder

513 514 515 516

Vgl. ebd., S. 49. Oeser (2002), S. 54. Hammacher, in Descartes (1996), S. xxx. Vgl. z. B. Leonardo 19013r ; 19003r ; 19008v, in O’Malley/Saunders (2003), S. 42, S. 43, S. 46.

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übersetzt werden können, indem von vorgefundenen und im Falle des Gehirns außer­ ordentlich komplexen physischen Strukturen abstrahiert wird. So übersetzte auch Descartes in dem bereits erwähnten »berühmten und sehr anschaulichen Bilde«517 der Orgel. Er stellte die von Herz und Arterien verursachte Bewegung des Spiritus animalis der Luftbewegung der Blasebälge einer Orgel gegen­ über und erklärte, dass bei beiden Vorgängen die Funktionen »in keiner Weise von der äußeren Gestalt all dieser sichtbaren Teile abhängen«, die die Anatomen im Falle der Hirnfunktion »in der Substanz des Gehirns feststellen«.518 Eine solche »Abkopp­ lung der eigentlichen Funktionen von Konstruktionsmerkmalen«519 und somit die Möglichkeit des Erkenntnisgewinns abseits vom Sichtbaren oder Beobachtbaren ist für den Denker des »video ergo sum«520 im höchsten Maße erstaunlich. Dennoch prokla­ miert diese Sichtweise ein Bildverständnis, in dem vielmehr Ideen als physiologische Fakten, also beobachtbare Naturerscheinungen zur Darstellung gebracht wurden. So konnte Descartes posthum dazu beitragen, einen, so Clausberg, »eigenständigen Ty­ pus von Wissenschaftsillustration« zu etablieren, der durch »halbschematische, funk­ tionserhellende Darstellungsweisen« gekennzeichnet war: »Eine neuzeitliche Domäne der Wissenschaftsbilder hatte sich endgültig vom Regime künstlerischer Naturstu­ dien abgespalten.«521 * Wilkin hat die Abbildungen beider Ausgaben untersucht und verglichen. Sie bemerkt, dass Schuyl seine Abbildungen vom Gehirn ausgerechnet an solchen Textstellen ein­ fügte, an denen Descartes deutlich machte, dass es sein Ziel nicht war, zu zeigen, was Anatomen schon längst offengelegt hatten.522 Er wollte Dinge sichtbar machen, die 517 518 519 520

521 522

Rothschuh, in Descartes (1969), S. 96. Descartes (1969), S. 96. Clausberg (1999), S. 18. In seinem Text Video, ergo sum? belegt Clausberg, dass diese Phrase Descartes direkt zuge­ schrieben werden kann und verweist auf die Quelle: Descartes (1992), S. 3. Dort heißt es: »Unter Denken verstehe ich alles, was derart in uns geschieht, daß wir uns seiner unmittel­ bar aus uns selbst bewußt sind. Deshalb gehört nicht bloß das Einsehen, Wollen, Einbil­ den, sondern auch das Wahrnehmen hier zum Denken. Denn wenn ich sage: »Ich sehe, oder: ich gehe, also bin ich«, und ich dies von dem Sehen oder Gehen, das vermittels des Körpers erfolgt, verstehe, so ist der Schluß nicht durchaus sicher; denn ich kann glauben, ich sähe oder ginge, obgleich ich die Augen nicht öffne und mich nicht von der Stelle be­ wege, wie dies in Träumen oft vorkommt; ja, dies könnte geschehen, ohne daß ich über­ haupt einen Körper hätte. Verstehe ich es aber von der Wahrnehmung selbst oder von dem Bewußtsein (conscientia) meines Sehens oder Gehens, so ist die Folgerung ganz sicher, weil es dann auf den Geist bezogen wird, der allein wahrnimmt oder denkt, er sähe oder ginge«, vgl. auch Clausberg (1999). Clausberg (1999), S. 19. Vgl. Wilkin (2003), S. 49.

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unsichtbar waren, zu klein für das Auge. So verfehlte Schuyl mit seinen minutiösen anatomischen Abbildungen, so kunstvoll diese auch sein mögen, Descartes’ Intention. Clerselier kritisierte die Tafeln Schuyls als nicht kartesianisch. Er lobte Schuyl zwar für seine grafischen Fertigkeiten und die Druckqualität, warf ihm aber vor, die epistemologische Funktion, die Descartes solchen Bildern beigemessen hatte, nicht verstanden und dessen Vergleich des Menschen mit einer Maschine vernachlässigt zu haben.523 Schlecht wären Schuyls Bilder demnach nicht nur dann, wenn man sie als Abbildungen anatomischer Realität begreift. Für Clerselier galt dieses Werturteil auch für ihre Funktion als visualisierte kartesiansche Theorie. Wenn wir jedoch mit dem gegebenen zeitlichen Abstand auf die Bilder Schuyls blicken und ihre Bildfunktionen dahingehend deuten, dass sie den Betrachter zum Beobachter der kartesianischen Theorien machen, relativiert sich dieses Urteil. Den Bildern der Clerselier­Ausgabe wurde nie vorgeworfen, morphologische Hirnstrukturen schlecht wiederzugeben. Ihre Naturferne wurde stets betont. Im Ge­ gensatz zu Schuyl schafften es van Gutschoven und de La Forge, die Morphologie fast völlig in abstrakte Formen zu übersetzen und sich so einer negativen Bewertung ihrer Darstellungskompetenzen zu entziehen. Offensichtlich war die Funktion ihrer Bilder keine handlungsanweisende. Sie sollten nicht als anatomische Lehrgrafiken der Chi­ rurgengilde dienen. Stellt man der oben beschriebenen Tafel XXXI von Schuyl (vgl. Abb. 83) eine vergleichbare Tafel der französischen Ausgabe gegenüber, werden die Unterschiede zwar evident, aber ebenso fallen Ähnlichkeiten zwischen den Abbil­ dungstypen ins Auge (Abb. 91). So verzichteten Clerselier und van Gutschoven zwar völlig darauf, das Kleinhirn darzustellen, deuteten aber die Hirnwindungen im Fron­ tallappen an. Die bereits erwähnte Form des Ventrikels im Horizontalschnitt sowie die Äderchen an den Ventrikelwänden sind weitere Merkmale, die ein Einbeziehen anatomischer Formen ins Bild erkennen lassen. Wie bei Fig. 48 ist in vielen Figuren das Auge zwar schematisiert, aber immer auch als das Sinnesorgan erkennbar darge­ stellt (vgl. Abb. 88). An dieser Figur lässt sich auch zeigen, dass van Gutschoven zwar nicht die Natur, d. h. anatomische Präparate, aber durchaus naturalistische Abbil­ dungen zum Vorbild gedient haben. Ein Vergleich mit der Figura capitis quarta aus Caspar Bartholins (1585–1629) Institutiones anatomicæ (in der Ausgabe von 1641) belegt dies zweifelsfrei (vgl. Abb. 98).524 Bei der oben angedeuteten Augentäuschung glaubt der Bildbetrachter, eine leere Höhle im Kopf zu sehen, in der sich auf einer horizonta­ len Bildebene Hirnfunktion abspielt. Es handelt sich jedoch um eine merkwürdige Verbindung aus morphologischen Merkmalen und Funktionsdiagramm. Die Höhlen­ wand stellt sich dabei als von Bartholins Tafel übernommene Falx cerebri heraus. Sie schlägt in beiden Bildern etwa auf Höhe des Cerebellums identische Falten. Ganz links, unter dem kartesianischen Funktionsdiagramm, dort, wo in einem naturalistischen 523 524

Vgl. ebd., S. 45ff. Vgl. S. 282ff.

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Bild das Cerebellum säße, fällt bei diesem zweiten Blick ein der äußeren Hirnrinde gleichendes Stück ins Auge. Ebenso wie Schuyl, der auch abstrahierte und bildlich schematisierte Hirnfunk­ tion in seine Figuren einf ließen ließ, hielt also auch Clerselier an der anatomischen Form fest. Die Steigerung in Richtung Abstraktion und damit einhergehender Sche­ matisierung der Bilder Clerseliers zu denen Schuyls ist eine graduelle. Ohne Bildkri­ tik an der lateinischen Ausgabe zu üben, hätte Clerselier, obwohl er vor Schuyl be­ gonnen hatte, seine Ausgabe vorzubereiten, vielleicht zu keiner so entschlossen vorgenommenen Abstraktion und damit letztlich zu einer überlegenen Bildsprache gefunden. Die Bilder in Clerseliers Ausgabe von Über den Menschen haben demonstrierende Funktion. Wie gezeigt werden darin Hirnfunktionen in weitgehend abstrakte For­ men übersetzt. Auf einer zweiten Ebene demonstrieren sie aber nicht nur körperlich gebundene, am Körper feststellbare Tätigkeiten, also letztlich materielle Faktoren, sondern auch etwas Immaterielles, eine Idee. Clerselier wollte hauptsächlich die Phy­ siologie des Gehirns ref lektieren. Seine Bildtafeln sind Medien der dualistischen Leib­Seele­Theorie. Sie haben es nicht zuletzt ermöglicht, Descartes’ Idee auf breiter Ebene zu kommunizieren. THOM A S W I LLIS [T]o explicate the uses of the Brain, seems as difficult a task as to paint the Soul.525 Thomas Willis

1664, im selben Jahr, in dem Clerselier Descartes’ Traité de l’Homme auf Französisch veröffentlichte, erschien mit Thomas Willis’ Cerebri anatome526 wohl eines der wich­ tigsten Bücher in der Geschichte der Hirnforschung.527 In ihrer Präzision erscheint die Neuroanatomie Willis’ als logische Weiterführung der von Vesal im Bildwerk der Fabrica gesetzten Maßstäbe.528 Das Cerebri anatome selbst enthält nur acht annähernd formatfüllende Abbildungen, doch diese in bestechender Qualität. Ausgeführt wur­ den sie von Christopher Wren (1632–1723), dem Architekten der Londoner St. Paul’s Cathedral. Als Wren Willis’ Assistent in Oxford wurde, war er bereits selbst Anatom, der Demonstrationen gehalten und Präparate und Zeichnungen angefertigt hatte.529

525 526 527 528 529

Willis (1965, II), The Preface. Thomas Willis, Cerebri Anatome. Cui Accessit Nervorum Descriptio Et Usus, London 1664. Vgl. Finger (1994), S. 23. Vgl. Sammet (2007), S. 51. Vgl. Poynter (1967), S. 212.

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Nur drei der Abbildungen im Cerebri anatome, bzw. in dessen englischer Über­ setzung von Samuel Pordage (1633–1691), The Anatomy of the Brain and Nerves530 von 1681, auf die ich mich im Folgenden beziehe, zeigen ein menschliches Gehirn. Darü­ ber hinaus werden Gehirne von Schafen sowie Innenansichten der Schädelknochen eines Menschen und eines Kalbes gezeigt. Zusätzlich zu den acht großformatigen Ab­ bildungen finden sich in Kapitel VIII vier kleine Figuren, die u. a. das Rete mirabile aus dem Hirn eines Kalbes zeigen.531 Für die Theorie hinter den Bildern des Cerebri anatome war eine Veränderung des Fokus’, weg von den Ventrikeln, hin zum cerebralen Kortex ausschlaggebend. Willis etablierte das Konzept von den Zwillingsseelen, die aus der nur beim Men­ schen anzutreffenden Vernunftseele (anima rationalis) und der von ihr kontrollierten Tier­ oder Körperseele (anima brutorum532 ) besteht: »The Brain is accounted the chief feat of the Rational Soul in a man, and of the sensitive in brute beasts, and indeed as the chief mover in the animal Machine, it is the origine and fountain of all motions and conceptions.«533 Der die menschliche (oder animalische) Maschine antreibende Motor wirke als anima sensitivum zusammen mit der anima vitalis, einer im Blut enthal­ tenen Lebenskraft. Die drei Seelenvermögen der aus der scholastischen Tradition be­ kannten Zellen wurden in andere, bis dato wenig bedeutsame Hirnregionen umge­ siedelt: Gedächtnis und Willen wurden durch die cerebralen Gyri kontrolliert; die Memoria fand ihren Platz im cerebralen Kortex; der Sensus communis saß nun im Corpus striatum; die Phantasie verlegte Willis ins Corpus callosum.534 Der Spiritus animalis wird ihm zufolge in der Rindensubstanz aus arteriellem Blut hergestellt.535 Nachfolgende Autoren reduzierten dieses komplexe System auf die Aussage, Willis habe den Seelensitz im Streifenkörper bestimmt.536 Für eine neuzeitliche Medizin, die sich von den Prinzipien der Säftelehre zu lö­ sen begann, war Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs die Grundvoraussetzung. Sie war es ebenso für Willis’ Überlegungen zu den Hirnfunktionen. Er erforschte das cerebrale Gefäßsystem und beschrieb als erster die funktionalen Zusammenhänge der 530

531 532 533 534 535 536

Thomas Willis, Of the anatomy of the brain. […] Of the description and use of the nerves, in The remaining medical works of that famous and renowned physician Dr Thomas Willis […]. With eighteen copper plates / Englished by S. P., London 1681. Ein Faksimile dieser Ausgabe hat William Feindel 1965 in zwei Bänden in Montreal herausgegeben. Vgl. Willis (1965, II), S. 86f. Ein Buch mit diesem Titel (De Anima brutorum) veröffentlichte Willis 1672. Willis (1965, II), S. 91. Vgl. Finger (1994), S. 23 und Lyons/Petrucelli (1980), S. 440. Vgl. Isler (1964), S. 78. Vgl. z. B. Hagedorn (1805), S. 7. Laut Johann Christoph Andreas Mayer (vgl. S. 350ff.) sie­ delte Willis den »Wohnplatz der inneren Sinne in dem gestreiften Körper an«, vgl. Mayer (1779), S. 43. Im Gegensatz zu Marius Hagedorn (vgl. S. 411) benannte Mayer jedoch auch die beiden anderen relevanten Orte: die Rinde für das »Gedächtniß« und den »harten Kör­ per« für die »Einbildungs­ und Beurtheilungskraft«, vgl. ebd.

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Hauptarterien an der Hirnbasis (Circulus Willisii, heute meist als Circulus arteriosus bezeichnet). In Verbindung mit seinem Interesse am Blutkreislauf kam bei Willis auch der Iatrochemie eine wichtige Rolle zu. Diese Theorie, »die Gesundheit und Krank­ heit auf chemische Vorgänge zurückführte«537, erlaubte es ihm, den chemischen Pro­ zess der Spiritusgewinnung aus dem Blut zu erklären.538 ›Wohnhaft‹ sind die Spiriti in der Marksubstanz der grauen Hirnrinde, deren Windungen als Speicher dienen. Wil­ lis bezeichnete diese Speicher interessanterweise ebenfalls als »Cells«539 . Die begriff­ liche Bindung an das mittelalterliche Modell der Hirnfunktionen ist wahrscheinlich keine zufällige. Nach Clarke und Dewhurst stellte sich Willis dem Dilemma von Wissenschaft und Religion, indem er die höheren Hirnfunktionen des Menschen an eine unsterb­ liche Seele knüpfte. Damit habe er Gott einen Platz zugewiesen, »beyond the realm of the scalpel, scepticism or speculation of the anatomist«540 . Um seine Theorie der Hirn­ physiologie zu untermauern, zog Willis allerdings einen Schluss qua vergleichender Anatomie. So erklärte er, dass die Großhirnrinde einer Katze weniger Windungen als die des Menschen hat, und diese einen kleineren Anteil am Gesamtvolumen ihres Ge­ hirns ausmachen: »Those Gyrations or Turnings about in four footed beasts are fewer, and in some, as in a Cat, they are found in a certain Figure or order: wherefore this Brute thinks on, or remembers scarce any thing but what the instincts and needs of Nature suggest.«541 Beim Menschen drängten die Spiritus animales bei Willensregun­ gen von der Hirnrinde aus bis in die Nerven vor. Die bewussten, höheren seelischen Vorgänge – nach Galen die animalischen Hirnfunktionen – Vorstellung, Erinnerung und Begehren spielten sich im Großhirn ab.542 Das Kleinhirn erzeuge die unbewuss­ ten, nach Galen die natürlichen Funktionen, wie Sinnesfunktionen, Affekte, Bewe­ gung oder Instinkte.543 Indem er dieses laut Steno »ganz sondernbare System«544 etablierte, hatten Ven­ trikel und Zirbeldrüse bei Willis als Seelensitz ausgedient. Die Ventrikel bilden im Kopf nur mehr leere Räume, ein Vakuum, von dem Willis annahm, es könne nicht grundlos bestehen. Die Alten hätten angenommen, dass diese Höhlen als Werkstätten für die Spiriti dienen, aber Willis widersprach dieser These. Die Spiriti seien so f lüch­ tig und könnten so leicht entweichen, dass sie nicht so großer Räume bedürften. Darauf auf bauend folgerte Willis, dass ›die Natur‹ die Ventrikel nicht absichtsvoll

537 538 539 540 541 542 543 544

Sammet (2007), S. 51. Vgl. Willis (1965, II), S. 87ff. Ebd., S. 92. Clarke/Dewhurst (1972), S. 70. Willis (1965, II), S. 92. Vgl. ebd., S. 95. Vgl. Isler (1964), S. 80. Stensen (1965), S. 169.

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gestaltet habe, sondern diese Höhlen sich vielmehr durch die Gestaltung der anderen Hirnteile quasi zufällig ergeben hätten: Further, if any one shall exactly consider the fabrick of the Brain, and seriously weigh, that these Ventricles are not formed out of primary intention of Nature, but result only secondarily and accidentally from the complication of the Brain, he will be far from thinking, that the supreme seat of the Soul is fixed there, where being hem’d in with the most noble Guard of Spirits, it doth execute and perform its functions.545

Auch für die Unwahrscheinlichkeit der Zirbeldrüse als Seelensitz gab Willis eine lo­ gische Erklärung. So finde der Anatom sie nicht nur bei Menschen und Vierfüßlern vor, sondern auch bei Vögeln und Fischen: »Wherefore, although from hence it may be concludet, that this is of necessary use; yet we can scarce belive this to be the seat of the Soul, or its chief Faculties to arise from it«546 . Zum Ort der Seele wurde bei Willis das ganze Hirn. In ihrer Zusammenarbeit erreichten Thomas Willis und Christopher Wren eine Naturtreue in der Darstellung der Hirnbasis, wie sie in den folgenden 100 Jahren nicht mehr erreicht werden sollte.547 Isler beschreibt die Entlarvung Willis’ als Schar­ latan, der sich mit fremden Federn schmückte, und seine anschließende Rehabilitie­ rung als Wissenschaftler. Islers Text hebt u. a. Wrens Bedeutung für Cerebri Anatome hervor.548 In seinem Vorwort The Preface to the Reader verschwieg Willis weder die Hilfe der Ärzte Richard Lower (1631–1690) und Thomas Millington (1628–1704), noch die Wrens, der ebenfalls bei den Sektionen zugegen gewesen war und sich an der Diskussion um die Teile des Gehirns und ihre möglichen Funktionen beteiligt hat­ te.549 Die Methode, Tinte in Blutgefäße zu injizieren, um diese deutlicher und besser darstellbar zu machen, hatte Willis wohl von Wren erlernt. Später übernahm sie der Niederländer Frederick Ruysch (1638–1731) und kam dadurch zu seiner Behauptung, der cerebrale Kortex bestehe ausschließlich aus Blutgefäßen.550 Bevor er nach dem großen Feuer in London 1666 Architekt wurde, war Wren als Astronomieprofessor tätig. Auch hatte er sich schon in jungen Jahren mit Anato­ mie beschäftigt, Sektionen beigewohnt und Experimente zum Blutkreislauf gemacht. Während er mit den Abbildungen für Cerebri Anatome beschäftigt war, arbeitete Wren an Entwürfen für das Sheldonian Theatre. Schon im selben Jahr (1663), in dem er die Zeichnungen für Willis anfertigte, hatte Wren die Architektur zu seinem Hauptberuf 545 546 547 548 549 550

Willis (1965, II), S. 97. Ebd., S. 106. Vgl. Grünthal (1957), S. 102. Vgl. Isler (1964), S. 92f. Willis (1965, II), S. 53f. Vgl. diese Arbeit S. 301f. Vgl. auch Clarke/Dewhurst (1972), S. 83.

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gemacht.551 Dies ist vielleicht eine Erklärung dafür, warum seine anatomischen Zeich­ nungen wie auch die nach ihnen angefertigten Tafeln im besten Sinne konstruiert wirken, statisch aufgebaut und präzise in der Ausführung sind. Interessant ist, dass sich auch Willis für seine Beschreibungen des Baus und der Funktionen des Gehirns Metaphern aus der Architektur im weitesten Sinne bediente. So sprach er von der Marksubstanz als »Storehouses«552 , »Cloisters or Cells«553 , vom Balken als Marktplatz, »Emporium or Mart«554 , an dem sich die Spiritus animales sammeln und auf halten, und vom Gehirn als Werkstatt, »principal Shop or Work­House«555 der Spiriti. Obwohl auf der ersten Tafel, einer Darstellung der Hirnbasis, die Einteilung des Kortex in die verschiedenen Lappen offensichtlich wird, gelingt es auch Wren bei aller Genauigkeit nicht, die Struktur der Sulci und Gyri präzise darzustellen (Abb. 92). Zur Großhirnkonvexität bemerkte Willis lediglich, dass die Hirnoberf läche aus ge­ wundenen Formationen besteht, die in Spiralen von vorn nach hinten verlaufen, und dass diese an Gedärme erinnern: »for all its whole exterior superficies is made uneven and broken, with turnings and windings and rollings about, almost like those of the Intestines«556 . Die Hirnrinde wurde in der Schuyl­Ausgabe von Über den Menschen teilweise besser getroffen (vgl. Abb. 82, Abb. 84 und Abb. 85). Clarke und Dewhurst bezeichnen sie als bis dato am akkuratesten ausgeführte Repräsentation dieser Struk­ tur und unterstreichen ein damit verbundenes Paradoxon, »first, that this drawing should be represented by an author who has no interest in the brain surface, and se­ condly the fact that it is more accurate than the illustrations of Thomas Willis […], who belived in the prime importance of cortical function«557. Obwohl Willis also den Kortex als entscheidenden Ort der Hirnfunktion beurteilte, gelang Wren die Darstel­ lung des ›Innenlebens‹ des Organs grafisch besser. Er stellte nicht nur die Hirnnerven an Pons und Hirnstamm präzise dar, sondern fügte Blutgefäße, namentlich die Arte­ rien des Gehirns, als weitere Bildebene ein. Wurden in früheren anatomischen Schrif­ ten meist die einzelnen Systeme, wie Nerven­ und Gefäßsystem, Knochen oder Mus­ keln in Einzelbildern dargestellt, kombinierten Willis und Wren einzelne Aspekte der Anatomie zu einem Gesamtbild. Die großen Arterien, die hier sichtbar werden, sind die vom Hirnstamm kommenden paarigen Aa. Vertebralis (TT), die sich beim Über­ gang zum Pons zur A. basilaris (V) zusammenschließen, um sich unterhalb des Corpus mamillare (YY) wieder zu verzweigen. Rechts und links vom Hypophysenstiel (X) sind die beiden Karotiden (P) abgeschnitten, die zusammen mit der Basalarterie den Circulus Willisii bilden, der wie ein Ring am Gehirn das Chiasma, die Hypophyse 551 552 553 554 555 556 557

Vgl. Feindel, in Willis (1965, I), S. 33. Willis (1965, II), S. 92. Ebd., S. 95. Ebd., S. 93. Ebd., S. 95. Ebd., S. 91. Clarke/Dewhurst (1972), S. 68.

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Abb. 92: Hirnbasis mit Hirn­ stamm und ­nerven, Tafel I aus Cerebri Anatome, Willis (1664). Siehe Farbtafel VI.

und die Corpora mamillaria umschließt.558 Bereits 1641 hatte Vesling diese Ader­ struktur abgebildet (vgl. Abb. 102). Allerdings ist seine Figur eher schematisch, und auch wenn er sowohl Adern als auch Nerven im selben Bild darstellte, sind diese rein optisch nicht zu unterscheiden. Tafel III des Cerebri Anatome zeigt das Gehirn von hinten (Abb. 93). Die hinteren Großhirnlappen wurden angehoben, sodass die Teile, an denen sie normalerweise das Kleinhirn berühren würden (A), über dem Balken (B) zu liegen kommen. Ein Teil des Hirnstammes ist in dieser Aufsicht von dorsal zu sehen. In der Bildmitte befindet sich die Vierhügelplatte (GH), darüber die Zirbeldrüse (F) und der Thalamus (E) und darunter das vierte Hirnnervenpaar (L). Willis war der erste, der das Gehirn in dieser ungewöhnlichen Ansicht darstel­ len ließ, in der es an eine f liegende Taube ohne Kopf erinnert. Die Struktur der Hirn­ windungen ist noch weniger ausgeprägt als auf der vorhergehenden Tafel. Das Groß­ hirn wirkt wie gebügelt. Diese Tafel gehört zu den später von Steno kritisierten. Er bemängelte, dass die Zirbeldrüse keine Spitze aufweist, sondern als runder Ball darge­

558

Vgl. Benninghoff (1985), S. 182.

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Abb. 93: Gehirn in der Ansicht von hinten oben mit auseinander geschobenen Okzipitallappen, Tafel III aus Cerebri Anatome, Willis (1664).

stellt ist.559 Außerdem sehe der hinter der Drüse befindliche Zwischenraum »ganz an­ ders aus, als man ihn in Wirklichkeit betrachten kann«560 . Der hier beklagte Mangel an Wirklichkeitsnähe war sicherlich lange Bildkritikpunkt Nummer eins.561 Steno setzte damit der Darstellung die Beobachtung entgegen. Diese im zweiten Kapitel bereits erörterte Diskrepanz und das Streben nach Realismus waren immer Teil der Geschichte wissenschaftlicher Ikonographie. Auch die vierte, hier nicht abgebildete Figur des Cerebri Anatome zeigt ein Ge­ hirn aus dieser Ansicht. Es handelt sich in diesem Fall allerdings um ein deformiertes Organ, das Gehirn eines geistig behinderten jungen Mannes, in der Legende als Wechselbalg bezeichnet: »The Effigies of an humane Brain of a certain Youth that was foolish from his birth, and of that sort which are commonly termed Changelings«562 . Das individuelle Organ, das uns in diesem Bild erhalten ist, zeigt für Willis eindeutig

559 560 561 562

Vgl. Stensen (1965), S. 178. Ebd. Vgl. S. 273ff. Willis (1965, II), S. 70.

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Spuren der Behinderung: »it was thinner and lesser than usual«563. Willis hatte zudem beobachtet, dass sich das ihm vorliegende Organ leichter manipulieren ließ, sodass die tieferliegenden Teile (Zirbeldrüse, Nates, Testes usw.) besonders gut einzusehen wa­ ren, weil diese besser zusammenhielten und nicht beim Schneiden kollabierten. Es ist möglich, dass die Figur dieses Organs nicht von Wrens Hand ist: Die Tafel ist klein­ formatiger als die beiden hier gezeigten und im Gegensatz zu ihnen gerahmt. Die Sulci und Gyri sind weniger plastisch ausgearbeitet, und Zirbeldrüse, Nates und Te­ stes sind nicht wie in der dritten Figur durch verschiedene Oberf lächen voneinander abgesetzt. Zudem sind kaum Kreuzschraffuren eingesetzt, die für das hohe Maß an Plastizität sorgen, das Wrens Bildern eigen ist. Das ganze Gehirn wirkt vertrocknet und zusammengezogen. Wren legte in seinen Zeichnungen offensichtlich besonderes Gewicht auf die symmetrische Erscheinungsform des Gehirns. Die naturgemäß paarig auftretenden abgeschnittenen Nerven und Enden von Blutgefäßen werden ebenmäßig ausgerich­ tet, sodass die Gebilde zwar organisch, aber auch ornamental anmuten. Beim Betrach­ ten der Tafeln, besonders der siebten, ein Schafshirn darstellenden Figur, scheint eine Nähe zu Haeckels Lithografien von Radiolarien auf: Ebenso wie dessen Strahlentier­ chen sind auch Wrens Gehirne Kunstformen der Natur 564 . Im Gegensatz zur vierten Figur, dem Gehirn des Changelings, sind die von ihm geschaffenen Bilder die von überindi­ viduellen, stilisierten Organen. Ihre ästhetische Überlegenheit, die von Putscher beschriebene magische Qualität565 gegenüber anderen Hirnbildern dieser Zeit, erreichten Wrens Abbildungen durch ihre räumliche Tiefenschärfe, die Klarheit der Formen, die Vielzahl der Grauwerte, die sie nahezu farbig erscheinen lässt, die verschiedenartigen, durch feinste Schraffu­ ren ausgearbeiteten Oberf lächen. Was die Bilder durch ihre kunstfertige Ausführung zu leisten vermochten, ist nicht zuletzt, Aufmerksamkeit zu erringen. Diese Auf­ merksamkeit sorgte sicher auch für eine gesteigerte Popularität des Werkes, in dem sie erschienen waren. Durch die ästhetischen Mittel wird Anschaulichkeit erreicht. Die demonstrierende Funktion der Bildfiguren liegt mehr im genauen Zeigen als im Be­ weisen. Gezeigt wird vor allem der nach Willis benannte Arterienring. Kombiniert mit dem Wissen um Harveys Erkenntnisse zum Blutkreislauf erlauben es die Bilder dem Betrachter, Schlüsse über die Bewegung des Blutes im Gehirn zu ziehen. Was Demonstration hier nicht meint, ist eine Teilhabe des Betrachters an einer Sektion. Weder Operationsinstrumente, noch abstützende Holzblöcke oder hautstraf­ fende Nadeln werden von Wren mit ins Bild genommen. Er zeigt uns keine weiche Masse wie später Bidloo (vgl. Abb. 113 und 114), sondern sorgfältig ›durchgestylte‹ Präparate, an denen nichts an die Vergänglichkeit des Fleisches erinnert. Indem sie 563 564 565

Ebd. Vgl. Ernst Haeckel, Kunstformen der Natur, Leipzig 1904. Vgl. den Abschnitt Bildfunktion und Ästhetik, S. 61 und Putscher (1972), S. 142.

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Ordnung in das Gewirr der Nerven und Adern bringen, schaffen seine Bilder Ge­ wissheit über den inneren Bau des Gehirns. ST ENO

Ebenfalls im Jahr 1664 wurde Niels Stensen (Steno) in Paris Mitglied einer Gruppe von Wissenschaftlern um den Gelehrten Melchisédec Thévenot (1620–1692). Zu die­ sem Kreis gehörten die renommiertesten Anatomen und Chirurgen der Stadt. Unter ihnen befanden sich auch ausgesprochene Anhänger der kartesianischen Lehren.566 Einer der Teilnehmer schrieb im folgenden Jahr: »M. Stensen, the Dane, has perfor­ med the most marvellous experiments ever in this field. He has even forced the obsti­ nate and dogmatic Cartesians to admit the error of their leader with regard to the gland of the brain and its function«567. Wie stand Steno zur Frage des Sitzes der Seele im Gehirn, zur Unvereinbarkeit der zwei ›Substanzen‹? Steno strebte danach, seine Religiosität mit den Ergebnissen seiner anatomischen Forschung in Einklang zu bringen. Das Problem der kartesianischen Theorie bestand für ihn darin, dass sie nicht erklären konnte, wie die nicht­materielle Seele im materi­ ellen (dinghaften) Körper Bewegung bewirken kann. In einem Brief an Malpighi von 1671 beklagte er sich über einige dänische Anhänger Descartes’, die philosophische Betrachtungen über solche des Glaubens stellten. Guido Giglioni führt dazu aus: [T]he letter in question shows the anxieties of a mind, both religious and scientific, torn between the improvement of anatomical knowledge and the safeguarding of the reasons for faith […]. Apologetic reasons seem to guide Stensen’s choices even with regard to anatomy.568

Die Rede über die Anatomie des Gehirns, die Steno 1665 in Paris gehalten hatte, wurde 1669 unter dem Titel Discours de Monsieur Stenon sur l’Anatomie du Cerveau ver­ öffentlicht.569 Liest man, wie es Gustav Scherz in seiner Einführung zum Discours vor­ schlägt, nur die Überschriften, so ergeben sie eine Übersicht, die sowohl die Hirna­ natomie seiner Vorgänger kritisch und detailreich beleuchtet, als auch ein Programm für die zukünftige Hirnforschung. Viele der genannten Aspekte lassen sich auf die Problematik hirnanatomischer Abbildungsstrategien übertragen. Im ersten Punkt beklagt Steno, dass das Hirn, das Meisterwerk der Schöpfung, fast unbekannt sei: »wenn man solides Wissen sucht«, wird man »nichts befriedigendes 566 567 568 569

Vgl. Scherz (1965), S. 75ff. Capelain, Lettres 2, 93, zit. nach Scherz (1965), S. 70. Giglioni (1997), S. 150. Niels Stensen, Discours de Monsieur Stenon sur l’Anatomie du Cerveau, a Messieurs de l’Assemblée, qui se fait chez Monsieur Thévenot, Paris 1669.

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in all den verschiedenen Schriften über das Hirn finden«, obwohl es »zweifellos das wichtigste Organ unserer Seele und das Instrument [ist], mit dem sie wunderbare Dinge vollführt, und diese Seele glaubt, so in alles rings um sie eingedrungen zu sein, dass nichts in der Welt ihrer Erkenntnis eine Grenze setzen könnte«. Doch diese Grenze sei schon erreicht, »wenn sie dann in ihr eigenes Haus zurückkehrt«. Sie kön­ ne »es nicht beschreiben und kennt sich selbst nicht«.570 Zu einer Zeit also, in der die wissenschaftliche Gemeinschaft von den kartesianischen Ideen in große Aufregung versetzt worden war, und ein medizinisches Studium noch immer zu großen Teilen aus den Lehren Hippokrates’, Aristoteles’ und Galens bestand, prangerte Steno man­ gelnde Grundlagenforschung an. Die weiße Hirnmasse sei noch unerforscht, die Erklä­ rungen der Ventrikel beruhten auf reinen Vermutungen, und die Sektionsmethoden seien ungenügend. In seiner Rede zählte er die »Irrtümer und Fehler im einzelnen«571 auf. Diese Fehler, etwa die Trennung zusammenhängender Hirnsubstanz oder die Bezeichnung der Substanz als Membran, beruhen nach Steno auf mangelhaften Sek­ tionstechniken. Zudem stellte er die Beweiskraft der überlieferten Ventrikeltheorien in Frage. Die kurz zuvor vorgenommene Neueinordnung der Seelenvermögen aus den Ventrikeln in Corpus callosum, Corpus stratium und graue Hirnsubstanz durch Thomas Willis hielt er für ebensowenig begründet und haltbar. An der kartesianischen Theorie kritisierte Steno, dass diese nicht einen Men­ schen und dessen Körperbau, sondern eine mit menschlichen Fähigkeiten ausgestat­ tete Maschine beschrieb. Dennoch bewundere er Descartes’ Kunstfertigkeit, welche die aller anderen Naturphilosophen übertreffe.572 Seine glänzende Begabung wiege die Fehler seiner Hypothesen auf.573 Trotz dieser Anerkennung bewertete Steno das kartesianische Modell als unzulänglich: »Wenn sie aber beweisen wollen, dass Des­ cartes’ Mensch wie andere Menschen gebaut ist, dann wird die praktische Anatomie lehren, dass ihnen dieses Vorhaben nicht glücken kann.«574 Detailliert erklärte Steno, inwieweit sich Descartes bezüglich der Zirbeldrüse geirrt hatte. Ihm zufolge hatte er in erster Linie in Bezug auf deren Sitz und ihre Fähigkeit zur Bewegung gefehlt. Au­ ßerdem zeigte Steno, dass nicht Arterien die Epiphyse mit dem Hirn verbinden, son­ dern Venen, die das Blut zum Herzen zurückführen.575 Er kritisierte mit den Fakten auch die Figur, in der sie dargestellt wurden.576 Leider ließ er uns nicht wissen, von welcher Abbildung in Über den Menschen er ausging. Unter dem Titel Passages tirez des

570 571 572 573 574 575 576

Stensen (1965), S. 163f. Ebd., S. 167. Vgl. ebd., S. 176. Vgl. ebd., S. 170f. Ebd., S. 176f. Vgl. ebd., S. 176. Vgl. ebd., S. 173.

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écrits de Monsieur des Cartes, qui confirment ce qui a esté allegué en la page [?] 577 & suivantes de ce discours hatte Steno seinem Vortrag in der Druckversion noch drei Seiten angefügt, in denen er Descartes ausführlich zitierte, um eigene Aussagen zu untermauern. Die Motivation hinter so einer expliziten Würdigung der kartesianischen Lehren zu Seele und Gehirn kann nur vermutet werden. Sicher schätzte Steno Descartes als (Vor) Denker und wollte die in der Rede geübte Kritik abmildern. Von besonderem Interesse für die vorliegende Arbeit ist Kapitel II.6., Gute und schlechte Zeichnungen578 . Hier sprach Steno zunächst von den Schwierigkeiten bei Sek­ tion und Präparation sowie der Untauglichkeit manches Zeichners.579 Seinem Lob an Willis, der die bisher »besten Figuren vom Hirn«580 präsentiert habe, folgte eine detaillierte Kritik derselben. Von den Darstellungen Vesals oder Casserios wollte er gar nicht sprechen, denn wenn Willis’ Abbildungen, »die letzten und genauesten so viel an einer erreichbaren Vollkommenheit zu wünschen übrig lassen, kann man sich leicht vorstellen, wie unvollkommen die anderen gewesen sein müssen«581. Hier wur­ de Steno seiner Kapitelüberschrift nicht gerecht, da er zwar die allgemeine Qualität der Zeichnungen in Willis’ Cerebri anatome heraushob, sonst aber nur Mängel feststell­ te und mit einer Auf listung der Teile im Hirn endete, die noch niemals fehlerfrei oder richtig positioniert dargestellt worden waren. Was hätte nach seinem Dafürhalten eine gute Zeichnung ausgemacht? Eine Bildprogrammatik im Sinne einer Arbeitsanleitung wurde und wird dem Leser an dieser Stelle noch verwehrt. Im Folgenden kam Steno einer solchen aber im­ mer näher. Im weiteren Verlauf seiner Rede machte er seine Zuhörer darauf aufmerk­ sam, dass der Glaube an die Erkenntnisse, die aus einer so mangelhaften Sektions­ praxis wie Darstellungsweise erwachsen, kaum gerechtfertigt sei. Einer ausführlichen Terminologiekritik folgt die sehr modern anmutende Aufforderung an seine Kolle­ gen, ihre Methoden zu hinterfragen,582 inspiriert vielleicht von Descartes’ Discours de la méthode. Der Anatom sollte sich auf seine Sinne verlassen, sich Zeit nehmen, selbst sezieren, wahre Wissbegierde zeigen, die alte Hirnlehre zwar nicht völlig aburteilen, aber sehr kritisch hinterfragen, denn selbst aus deren Fehleinschätzungen gelte es zu lernen. Sicherlich können diese Faktoren auch für die Produktion anatomischer Ab­ bildungen fruchtbar gemacht werden. In dem in Kapitel IV aufgestellten »neuen For­ schungsprogramm für die Hirnanatomie«583 griff Steno die genannten Punkte auf. Er beschrieb bei der Sektion des Gehirns auftretende Probleme genau und schlug Strate­ 577 578 579 580 581 582 583

In der Faksimileausgabe von 1965 ist hier eine Leerstelle. Es wurde im Druck anscheinend versäumt, eine entsprechende Seitenzahl zu setzen. Ebd., S. 177. Vollständiges Zitat vgl. S. 25. Stensen (1965), S. 177. Ebd., S. 179. Vgl. ebd., S. 183f. Ebd., S. 189.

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gien zu ihrer Abhilfe vor. Er erdachte z. B. neue Werkzeuge zur schonenden Öffnung des Kraniums.584 Würden alle genannten Methoden beachtet, führe dies zu einer »korrekte[n] zeichnerische[n] Darstellung«585 , wie Kapitel IV.5 überschrieben ist. Es wird an dieser Stelle vollständig zitiert, da es einen guten Einblick in die Bildpro­ grammatik Stenos eröffnet und versucht, eine Antwort auf die oben gestellte Frage zu geben: Worin besteht die spezielle Schwierigkeit bei der Abbildung des menschlichen Zentralorgans? Hat man einen verlässlichen und genauen Plan der Teile des Gehirns angelegt, die begangenen Fehler und ihre Ursachen gefunden und die richtige Art und Wei­ se, diese Teile zu demonstrieren, unter Einhaltung aller möglichen Vorsichtsregeln festgelegt, sollte man endlich versuchen, das auszudrücken, was man erkannt hat. Es sollte jedoch mit Hilfe von wirklich ähnlichen und korrekten Figuren geschehen; denn besser wäre es, keine Figuren zu bringen, als schlechte oder unkorrekte. Man benützt ein Bild, wenn man einen Gegenstand nicht zur Hand hat, um ihn sich damit in die Erinnerung zurückzurufen. Es gibt auch manche Menschen, wel­ che solche Dinge nie anders als in Bildern sehen. Ihr Widerwillen gegen Blut hin­ dert sie daran, ihren Wissensdurst durch die Betrachtung der Gegenstände und der wirklichen Verhältnisse zufriedenzustellen. Als eine Folge davon bringen ihnen Figuren, die nicht so sind, wie sie sein sollen, beim Studium der Anatomie ver­ kehrte Ideen bei; für die anderen aber, die damit nur ihrem Gedächtnis nachhel­ fen wollen, sind sie ärgerlich.586

Gleich der erste Satz macht darauf aufmerksam, dass ein anatomisches Bild Ergebnis einer Vielzahl von Beobachtungen ist. Ihm liegt gewissermaßen eine Geschichte der Forschungstätigkeit des jeweiligen Wissenschaftlers zugrunde: Erfahrungen (nicht nur visuelle), Thesen, Verifizierungen und Falsifizierungen. Rein praktisch drückt sich dies auch darin aus, dass meist mehrere Präparate die Vorlage für eine Zeichnung bil­ den.587 Außerdem ist ein solches Bild immer das Ergebnis von Entscheidungen. Es basiert auf selbst aufgestellten Regeln. Bildwürdig ist nicht notwendigerweise das, was man in einem konkreten Fall sieht. Vielmehr soll sich laut Steno im Bild das aus­ drücken, was man erkannt hat. Wie so oft, ist der Bezug zwischen Bild und Bildfunktion, den wir von dieser Arbeitsanweisung Stenos ableiten können, wechselseitig: Die Abbildung zu betrach­ ten, führt ebenso zum Erkenntnisgewinn, wie sie zu konzipieren. Sie ist das Ergebnis von Beobachtungen, die in Sinnzusammenhänge gestellt wurden, und führt Betrach­ 584 585 586 587

Ebd., S. 193. Ebd., S. 196. Ebd., S. 196f. Obwohl Steno dies unten im Zitat nur für die Hirnanatomie gelten lässt.

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ter unter Umständen dazu, sie innerhalb eigener Forschungstätigkeit in neue Sinnzu­ sammenhänge zu stellen. Ebenfalls im Spektrum der Bildfunktionen vertreten, ist der nächste im zitierten Abschnitt angesprochene Punkt: die Fähigkeit eines Bildes zur Repräsentation. Hier werden zwei Varianten, das Bild zu nutzen, genannt: Entweder erinnert es an den Forschungsgegenstand (führt ihn vor Augen), oder aber es ersetzt ihn. Letzteres be­ deutet, dass das Bild den Forschungsgegenstand nicht mehr nur zeigt, sondern da­ durch, dass dieser im Bild repräsentiert ist, wird das Bild selbst zum Forschungsgegen­ stand. Zu beiden Zwecken muss es möglichst ähnlich und möglichst richtig getroffen sein. Steno gibt die Devise aus, besser gar nicht als schlecht abzubilden und verkettet so die Funktion des Bildes, zum Erkenntnisgewinn zu führen, mit dem der Repräsen­ tation. Im folgenden Absatz werden die Arbeitsschritte aufgezählt, die Steno gerade in Bezug auf die hirnanatomische Darstellung als notwendig erachtete: Man solle alle möglichen Mittel anwenden, um genaue Zeichnungen zuwege zu bringen. Dazu ist ein geschickter Zeichner ebenso notwendig wie ein geschickter Anatom. Viel Fleiss und besonderes Studium ist auch erforderlich, um seine Maßregeln auf die rechte Weise zu treffen und zu sehen, wie die Sektion durchgeführt werden soll, und wie die Teile geordnet werden sollen, damit man deutlich alles wiederge­ ben kann, was man im Gehirn sehen kann. Wenn man nämlich dieses Organ zeichnet, so besteht dabei eine demselben eigentümliche Schwierigkeit. Bei ande­ ren Organen genügt es, sie ein einziges Mal zu präparieren, um Darstellungen von ihnen anzufertigen. Wenn man das Gehirn präpariert, sinkt es zusammen, ehe die Zeichnung fertig ist, so daß man nach mehreren Exemplaren von Gehir­ nen zeichnen muß, um eine einzige Figur zu vollenden. Daß man dies vielleicht nicht in Erwägung gezogen hat, könnte Schuld daran sein, daß es in der Anatomie keine unvollkommeneren Darstellungen gibt als die des Gehirns.588

Zu den oben genannten Faktoren, die Steno hier ausführt und in praktische Bezüge setzt, kommt noch ein entscheidender hinzu: Steno fordert zwar, korrekt abzubilden, doch sieht er ebenso, dass ein Bild Ergebnis individueller Forschungsinteressen und Herangehensweisen ist. Es geht darum, »seine Maßregeln auf die rechte Weise zu treffen«, d. h. jeder Forscher hat eigene Vorgaben, denen er im Bild oder durch das Bild entsprechen will. Dabei gilt es, aus der Fülle möglicher Forschungsschritte zu selektieren und diese Auswahl im Bild überzeugend umzusetzen. Diese Überlegungen machen Kategorien wie richtige und falsche, gute und schlechte Abbildungen zwar nicht obsolet, zeigen aber auf, dass es entscheidend ist, bei solchen Urteilen nie die jeweilige Fragestellung aus dem Blick zu verlieren. 588

Stensen (1965), S. 197f.

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Abb. 94: Mediosagittalschnitt, Plate I aus Nicolaus Steno’s Lecture on the Anatomy of the Human Brain.

Im gesamten Text des Discours zeigt sich Steno als moderner Denker, nicht zu­ letzt deshalb, weil er sich für eine vergleichende Hirnanatomie ausgesprochen hat, die verschiedene Entwicklungsstadien, pathologische Organveränderungen und experi­ mentelle Hirnforschung mitdachte und einforderte. Indem er auf seinem Sektor Auf­ klärung forderte, die im darauffolgenden Jahrhundert in fast allen Wissenschaftsbe­ reichen tatsächlich auf den Weg gebracht werden sollte, wurde Steno zum Wegbereiter moderner Hirnforschung. Dass dies nicht nur für seine methodischen Überlegungen und praktischen Arbeitsanweisungen gilt, zeigt sich, wenn man die Bilder vom Ge­ hirn betrachtet, die Steno seinem Discours hinzufügte. Im Tafelteil erfasste er »mit

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Abb. 95: Nachstich von Steno’s Mediosagittalschnitt aus Adversaria anatomica, Tarin (1750).

pädagogischem Geschick […], dass eine ganz einfache Strichzeichnung, die sich auf die Hauptsache beschränkt, eine grosse Hilfe sein kann für das Verständnis der voll­ ständigen zeichnerischen Wiedergabe, die notwendigerweise viel komplizierter ist«589 . Was eine Rezeption dieser Strichzeichnungen erschwert, ist die Tatsache, dass Steno ihnen keine Legende beifügte. Dieses Problems sind wir heute allerdings enthoben, da in Scherz’ Faksimile­Druck des Discours zu zwei der Zeichnungen (Tab. I, Fig. I und Tab. III, Fig. I) eine moderne Legende abgedruckt ist.590 Auf Tafel I des Discours sieht man zwei Abbildungen des selben Mediosagittal­ schnittes, einmal als Strichzeichnung, darunter plastisch und mit Struktur versehen (Abb. 94). Scherz benennt allein an der ersten Figur von Tafel I 43 Hirnteile, Adern, Drüsen etc. Dies soll an dieser Stelle nicht wiederholt werden. Fakt ist, dass Steno uns hier ein vollständiges Bild liefert. Ein Vergleich mit einem zeitgenössischen Anato­ miebuch zeigt, wie wenig sich in der Darstellung bis heute geändert hat, auch wenn es aus jetziger Sicht einige Kritikpunkte gibt.591 Zum ersten Mal in der Geschichte der Hirnforschung wurde ein Mediosagittalschnitt durch das Großhirn abgebildet. Vom Kleinhirn kennen wir diese Schnitttechnik bereits von Eustachi (vgl. Abb. 72, Fig. II). Es sollte lange dauern, bis wieder jemand das Gehirn zeichnerisch aus dieser Perspek­ tive anging. So nahm Mangeti zwar Willis’ Gehirndarstellungen in sein Theatrum 589 590 591

Faller/Andreasen (1965), S. 202. Vgl. Stensen (1965), S. 202ff. (Legenden), S. 207f. (Abbildungen). Vgl. Clarke/Dewhurst (1972), S. 81.

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Abb. 96: Frontalschnitt des Gehirns auf Höhe des Corpus mamillare, Plate III aus Nicolaus Steno’s Lecture on the Anatomy of the Human Brain.

Abb. 97: Schnitt durch Kleinhirn und verlän­ gertes Mark und Transversalschnitt durch Großhirn und Zwischenhirn, Plate IV aus Nicolaus Steno’s Lecture on the Anatomy of the Human Brain.

Anatomicum mit auf, ignorierte jedoch Stenos Medianschnitte. Erst fast 80 Jahre später bildete Gautier d’Agoty ein Gehirn in dieser Schnitttechnik ab, diesmal farbig (vgl. Abb. 8). Kurz darauf kopierte Tarin die zweite Figur der ersten Tafel Stenos, wenn­ gleich in geringerer Genauigkeit der Darstellung, z. B. in Bezug auf die Zirbeldrüse (Abb. 95). Steno zeigt seinen Lesern noch eine weitere revolutionär neue Schnitttechnik: den Frontal­ bzw. Transversalschnitt. Für Tafel III wurde das Gehirn auf Höhe des Corpus mamillare geschnitten. Er ist im Bild als zwei kleine Ausbuchtungen unter der ovalen Öffnung des dritten Ventrikels zu erkennen (Abb. 96). Auf Tafel IV zeigt die obere Figur einen Schnitt durch das Kleinhirn und verlängerte Mark, allerdings

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unvollständig: Die innere Struktur ist nicht ausgeführt. In der größeren zweiten Fi­ gur unten ist ein Transversalschnitt durch Großhirn und Zwischenhirn (Diencepha­ lon) dargestellt (Abb. 97).592 Diese Tafeln sehen Adolf Faller und Erik Andreasen als Zeugnis dafür an, »wie wenig konventionell Stensen in seiner Forschung war«593. Seinem Biographen zufolge hat Stenos sein Hirnforschungsprogramm auch für seine Zeichnungen angewandt, und er sei, so Scherz weiter, »dadurch zu einer überra­ schend gründlichen Kenntnis vom Gehirn«594 gelangt. Scherz ist der Meinung, dass die Zeichnungen wesentlich zum Verständnis des Discours beitragen. Stensen habe gerade in diesen Zeichnungen seine »positiven Beobachtungen« in der Hirnforschung zeigen wollen, besonders »nachdem er im Text sein die Zeit weit überragendes Wissen in einer in der Form freundlichen, im Wesen aber vernichtenden Kritik des dama­ ligen Wissens vom Gehirn bewiesen hatte«.595 Diese Deutung verortet das ›positive Wissen‹ im Bild und das ›negative Wissen‹ (der Zeitgenossen) im Text. Im Text kritisierte Steno nicht zuletzt Descartes, insbesondere den falschen Sitz der Zirbeldrüse. Anhand des Bildes widerlegte er ihn, indem er das Organ in der sei­ ner Meinung nach richtigen Position zeigte. Das Bild wurde zum Argument für den Gegenbeweis. Zudem dokumentiert und kommuniziert es den neuen Status Quo in Bezug auf die anatomische Lage des zu dieser Zeit wichtigsten und meistdiskutierten Teil des Gehirns. Dass die letztgenannten Bildfunktionen nur greifen können, wenn die Bilder greif bar sind, sich also auch in neueren Ausgaben finden, muss in diese Überlegungen einbezogen werden. Vor diesem Hintergrund wird die Entscheidung etlicher Herausgeber (bis ins 20. Jahrhundert hinein), die Zeichnungen nicht mit ab­ zudrucken, völlig unverständlich. Einmal mehr zeigt sich, dass die Fähigkeit von Bil­ dern, Wissen vermitteln zu können, immer wieder unterschätzt wurde. * Der gemäßigten Kritik, die Steno in seinem Discours an Descartes übte, schenkte das Pariser Journal des Sçavans besondere Aufmerksamkeit. In diesem Journal, das für das 17. Jahrhundert etwa das darstellte, was heute das Magazin Nature leistet, wurde akzen­ tuiert, dass sich der kartesianische Mensch besonders in Bezug auf sein Gehirn von anderen Menschen unterscheidet. Steno hatte den von Descartes falsch angegebenen Sitz der Zirbeldrüse korrigiert. Allerdings wurde der Hypothese Descartes’ eine Schön­ heit und Originalität zugestanden, die sie über die Trugschlüsse erhaben machte.596 Die Widersprüche in seinen hirnphysiologischen Überlegungen wurden, wie hier ge­ zeigt, größtenteils noch innerhalb des 17. Jahrhunderts aufgedeckt. Dennoch haben 592 593 594 595 596

Faller/Andreasen (1965), S. 205f. Ebd., S. 205. Scherz (1964), S. 178. Ebd., S. 179. Vgl. Le Journal des Sçavans pour l’année MDCLXX Du Lundi 10. Fevrier 1670, zit. nach Scherz (1965), S. 72.

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sie, so Clausberg, »ihren grundlegenden Modellcharakter nie eingebüßt«. Mit ihnen stellte Descartes »die richtigen, nämlich richtungsweisenden Fragen nach der Natur, das heißt, Organisation menschlicher Intelligenz«.597 In seiner History of Biology schreibt Singer, dass die kartesianische mechanistische Theorie von Biologen nicht lange akzeptiert worden sei, sondern über Jahrhunderte hinweg eher »certain literary men with scientific taste«598 angesprochen habe, genauso wie später bei den Theorien Julian Offray de La Mettries (1709–1751). Trotz solcher Einschätzungen erwies sich Descartes’ »methodisches Postulat, die Organismusfunktionen als Teil der räumlich ausgedehnten Materie (Res extensa) unabhängig von der denkenden Seele (Res cogi­ tans) zu betrachten und sie Stück für Stück auf Ursache und Wirkung zu analysieren«, laut Oeser als »richtungsweisend für die weitere Entwicklung der Hirnphysiologie, die sich nun von den vitalen und sensitiven »Seelenvermögen« löste und völlig in den Bann des mechanistischen Denkens geriet, das in de La Mettries ›Homme machine‹ seinen Höhepunkt erreichte«.599 Die vergleichende Anatomie des Gehirns, wie Willis sie vorgenommen hatte, diente vielen späteren hirnanatomischen Werken und der weiteren Erforschung der Primatengehirne als Grundlage, so etwa der Edward Tysons 600 von 1699.601 Clarke und Dewhurst sehen in Willis’ Theorie der Hirnfunktion das Eintreten der Hirnfor­ schung in die Moderne.602 Dieser Schritt könne allerdings nur unter Bezugnahme auf die Theorien Descartes’ verstanden werden.

597 598 599 600 601 602

Clausberg (1999), S. 9. Singer (1959), S. 357. Oeser (2002), S. 54f. Vgl. S. 373ff. Vgl. Isler (1964), S. 89. Vgl. Clarke/Dewhurst (1972), S. 68.

EIN K A RTESI A N ISCH ES JA H R H U N DERT? Schön ist das, was wir sehen, schöner, was wir wissen, weitaus am schönsten ist aber, was wir nicht fassen können.603 Niels Stensen

Welchen Einf luss hatten Descartes’ Theorien auf die Hirnforschung der nächsten Ge­ neration von Anatomen und Ärzten? Schon am ersten Beispiel, dem der dänischen Anatomenfamilie Bartholin, zeigt sich, dass Descartes’ Epiphysentheorie »auf Grund […] ihrer anatomischen Unzulänglichkeiten recht schnell verworfen wurde« 604. Dass seine Überlegungen für einige Forscher dennoch zur Grundlage für die erneute Su­ che nach dem Wohnsitz der Seele im Gehirn wurde, erklärt Hagner durch eine allge­ meine Fehldeutung Descartes’. Obwohl ihm bewusst gewesen sei, dass die immate­ rielle Seele keinen Sitz in einem materiellen Körper einnehmen könne, habe sich Descartes um das Problem herumlaviert, indem er die Epiphyse »als sensomotorischen Umschlagspunkt oder Sensus communis« und damit als jenen Ort festlegte, an dem sie »ihre hauptsächliche Wirksamkeit entfaltete«: Diese »Uminterpretation des Sensus communis zu einem materiellen und funktionalen Gebilde« war, so Hagner, »die Vor­ aussetzung dafür, daß in der Folgezeit von einem Seelenorgan oder einem Sitz der Seele in einem physiologischen Kontext gesprochen werden konnte«.605 Die Chronologie, der dieses Kapitel folgt, ist nur eine scheinbare. Da Descartes’ De Homine erst posthum veröffentlicht worden war, konnten Anatomen erst seit 1664 über seine Theorien verfügen. Stetig neu aufgelegte Werke, Übersetzungen in ver­ schiedene Sprachen, ein Sohn, der das Werk seines Vaters neu herausgab, oder ein englischer Anatom, der die Tafeln eines niederländischen Kollegen als eigene veröf­ fentlichte, verwirren und erschweren eindeutige Zuordnungen nach Erscheinungs­ jahren und lassen eine darauf basierende Chronologie wenig sinnvoll erscheinen. Weiterhin ist oft unklar, wieviel eigene Überlegungen und Interpretation Herausge­ ber und Übersetzer dem Originaltext hinzufügten, ob sie originäre Bildvorlagen ver­ wendeten oder Platten nachstechen ließen. Diesem Chaos Rechnung tragend entsteht nachfolgend, wenn auch ausschnitt­ haft, das Bild einer wissenschaftlichen Hirnforschung, die sich noch immer stark auf Vordenker vergangener Jahrhunderte bezog. In die vielfachen Neuauf lagen und Über­ setzungen f lossen neue Überlegungen und Erkenntnisse sukzessive mit ein. Thomas Bartholin, Johann Vesling oder Godefridus Bidloo arbeiteten zwar, wie zumeist auch ihre jeweiligen Herausgeber und Übersetzer späterer Auf lagen, als Ärzte oder Ana­ 603 604 605

Mit diesem vielzitierten Satz begann Niels Stensen seine Rede zu einer öffentlichen anato­ mischen Demonstration am 18. 2. 1673, vgl. auch Stensen, Op. phil. II, S. 254. Hagner (1993), S. 3. Ders. (2000), S. 28f.

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tomen, entwickelten aber kaum eigene Theorien über Hirnfunktion, sondern repro­ duzierten Althergebrachtes, mischten es auf zum Teil kuriose Weise mit volkstüm­ lichem Wissen und reicherten ihre Texte durch Analogien oder Erklärungen der aus dem Lateinischen übersetzten Fachtermini an. Erst Anatomen wie etwa Marcello Malpighi (1628–1694), die sich neue techni­ sche Vorraussetzungen geschaffen und damit einhergehende neue Forschungs­ und Präparationsmethoden angeeignet hatten, waren in der Lage, auf Theorien ihrer Zeit und vorangegangener Jahrhunderte nicht mit Spekulationen, sondern durch eine Ver­ änderung des Blicks 606 einzugehen, sie zu bestätigen bzw. außer Kraft zu setzen. CA SPA R U N D THOM A S BA RTHOLI N

Wie Steno waren auch Caspar Bartholin (1585–1629), sein Sohn Thomas Bartholin (1616–1680) und dessen Sohn Caspar Bartholin (1655–1738) Lehrende der Universität Kopenhagen. Dänische Anatomen waren lange gezwungen gewesen, im Ausland (vor allem in Italien) zu studieren, da es nur dort erlaubt war, Sektionen durchzuführen. Dies hatte einen Brain Drain in der anatomischen Ausbildung in Dänemark zur Fol­ ge, was wiederum dazu führte, dass dort hauptsächlich ausländische Anatomen lehr­ ten.607 Erst im 17. Jahrhundert änderten sich die Vorraussetzungen, sodass Anatomen wie die Vertreter der Familie Bartholin Forschung und Lehre katalysieren konnten. Auch Caspar Bartholin (Senior) hatte neun Jahre im Ausland verbracht, bevor er als Arzt und Professor der Medizin und Theologie nach Kopenhagen zurückkehrte. In seiner Anatomie von 1611608 finden sich noch keine Abbildungen. Zudem wird dem Gehirn erstaunlich wenig Raum gewidmet, im Gegensatz z. B. zu den Knochen. Als Elias Wallner 609 1677 mit der Neu-verbesserte[n] künstliche[n] Zerlegung deß Menschlichen Leibes610 die von Thomas Bartholin ergänzte Anatomie seines Vaters von 1641611 in deutscher Übersetzung neu herausgab, war der aktuelle Forschungsstand teilweise berücksichtigt worden. So wurde u. a. der Nutzen des ›Gehirnleins‹ (Klein­ 606 607 608 609 610

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Barbara Stafford beleuchtet in ihrem Aufsatz Gewalt und Naturgeschichte die durch das Mikroskop zu stillende »alte Sehnsucht des Menschen […], mit seinem Blick in gänzlich andere Bereiche vorzudringen«, Stafford (1997), S. 79. Vgl. Snorrason (1967), S. 224f. Mir lag nur die Ausgabe von 1622 vor: Caspari Bartholini Philosophi & Medici Anatomicæ Institutiones Corporis Humani, […], Rostochii 1622. Die Lebensdaten Wallners habe ich nicht ermitteln können. Thomas Bartholin, Neu-verbesserte künstliche Zerlegung deß Menschlichen Leibes […] mit neuen Figuren von dem Autore versehen. Nunmehr aber mit allem Fleiß / zu Nutz denen Wund-Aerzten und Liebhabern dieser Zerleg-Kunst / aus dem Lateinischen in die Teutsche Sprache übersetzet / durch Eliam Wallern […], Nürnberg 1677. Casp. Bartholini D. & Profes. Regii Institutiones anatomicæ, novis recentiorum opinionibus et observationibus, quarum innumeræ hactenus editæ non sunt, Figurisque auctæ ab auctoris filio Thoma Bartholino, Leiden 1641 (zweite Auf lage: Leiden 1645).

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hirn) nach Willis beschrieben, aber auch alte Diskurse, wie der über die Existenz des wunderbaren Netzes, wurden integriert. Das Rete mirabile sei zwar in den Kälbern und Ochsen »anders beschaffen, allwo solches sich scheinbarer den Augen vorstellet / als in dem Menschen; unterdessen kan man nicht laugnen / daß solches in diesem nicht zu finden sey / wie Vesalius sich irret« 612 . Widersprüchliche Aussagen wie diese trugen freilich wenig zur Klärung der alten Probleme bei. Thomas Bartholin, der Lehrer Stenos war, blieb zwar Altem verhaftet, begrüßte aber, wie sein Übersetzer Wallner, der 1677 schon den De Homine gekannt haben muss, gleichermaßen neues Wissen. Er beschrieb verschiedenste Formen und Struk­ turen des Gehirns auf eine eigentümliche Weise, die er von Vesal übernommen hat­ te.613 Es zeigt sich, dass sich Analogien der Form einer Struktur in der Nomenklatur wiederspiegelten, wobei die allgemeine Wahrnehmung einer bestimmten Form wie­ derum davon abhing, wie sie in Bildern dargestellt worden war. So nannte Bartholin bzw. Wallner die Hypophyse das »Schlamm­Drüslein«, das unterhalb des Trichters gelegen den »verwerff lichen Unrath des Gehirns […] auffanget« 614 , außerdem »Hirn­ Schaam« (Vulva), »Hirnärschlein« (Anus), »Hirn­Arsch­Bäcklein« (Nates) und »Hirn­ Hödlein« (Testes), die letzten beiden Strukturen »Stücklein von den Wurzeln des ver­ längerten Hirn­Marckes« sowie »Hirnwurzeln«, womit die Vierhügelplatte gemeint ist.615 Dieser Nomenklatur schrieb Wallner – wie schon Steno vor ihm 616 – nur einen geringen Gebrauchswert zu. Interessanter erschien dem deutschen Übersetzer, dass das »Refier« dieser vier Aufwerfungen von Willis mit Bedeutung belegt worden war. Die Vierhügelplatte wurde nicht als Teil des verlängerten Markes gesehen. Ihr Nut­ zen bestand vielmehr darin, »daß sie ein kleine Herberg sey / in welche die sinnlichen Geister […] wegen etlicher sinnlichen Verrichtungen / sich verweilen« 617. Hier wurde eine Bedeutungszuschreibung für Strukturen vorgenommen, die in unmittelbarer Nachbarschaft zur Zirbeldrüse liegen, und die er als Hirn­Ruthe (Penis) bezeichnete. Die Analogie von männlichem Geschlechtsorgan und der zwischen den Hirn­Höd­ lein gelegenen Drüse wird in der Beschreibung ihrer Bauweise und ihres Verhaltens stark betont: Die Drüse habe »ein hartes Wesen«, im lebenden Körper groß, von Stricken befestigt und werde im erkaltenden Körper kleiner oder vergehe »wie das Salz an einem feuchten Ort«.618 Verschiedene Deutungen des Nutzens dieses Organs werden in der Schrift aufgeführt, bis schließlich folgende von Descartes Erwähnung findet:

612 613 614 615 616 617 618

Wallner in Bartholin (1677), S. 529. Vgl. Vesal (2004), S. 169; Heseler (1959), S. 289. Wallner in Bartholin, S. 530. Ebd., S. 537. Vgl. das 7. Kapitel in Stenos Discours: Eine sinnlose und unwürdige Terminologie, Stensen (1965), S. 180ff. Wallner in Bartholin (1677), S. 538. Ebd., S. 539.

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Die Seele begreiffet in diesem Drüslein allein / durch diese Bewegungen / alle äusserliche / empfindliche Sachen / und alle sinnliche Vorbildungen / welche von den fünff Sinnen herkommen (als in einem Mittel­Punct) dieselbe auch als erkennt­ lich unterscheidet / und danach durch dessen Hülffe die Geister nach unterschied­ lichen Spann­Adern [Nerven, W. L.] verschicket; gleich wie in einem kleinen run­ den Spiegel alles nach solcher Gestalt angenommen wird / als sich dasselbe in einem Feld oder Gemach befindet.619

Was in der deutschen Übersetzung nicht zum Tragen kommt, ist die Tatsache, dass Thomas Bartholin der Zirbeldrüse ihren Namen gab: Glandula pinealis. Laut Axel Karenberg kam die Zirbeldrüse erst im 17. Jahrhundert zu ihrem noch heute gebräuchlichen Namen.620 Doch die Ähnlichkeit ihrer Form mit einem Pinien­ zapfen war Berengario da Carpi bereits 1522 aufgefallen: »a certain glandulous f lesh called conarium because it is in the form of a cone ore pineapple« 621. Karenberg be­ schreibt, dass Zweifel am Drüsen­Status des Zirbels aufgekommen waren, was ihre Umbenennung in Corpus pineale bewirkt habe. Heute »ist die Zugehörigkeit der tra­ ditionsreichen Zirbel­Struktur zum innersekretorischen System eindeutig belegt«: Sie heißt wieder Glandula pinealis »wie vor 350 Jahren«.622 Wenngleich Descartes die Zirbeldrüse als »Sitze der ersten Erkenntniß deß Ge­ mütes und der Einbildung« charakterisiert hatte (das Gedächtnis befand sich »ausser­ halb diesem Drüslein«), so fand Wallner doch »viel Ursachen / die uns von dieser neuen und sinnreichen Meinung abhalten«.623 Erstens sei dieses »Stücklein« zu klein und zu dunkel, um alle Dinge in der Vorstellung abzubilden. Deshalb würden auch die Nachfolger Descartes’ die Zirbeldrüse immer »grösser abmalen«.624 Diese Beob­ achtung ist ebenso interessant wie zutreffend. Van Gutschoven und de La Forge stell­ ten die Drüse in der Tat gemäß ihrer bei Descartes überragenden Bedeutung und nicht ihrer tatsächlichen Größe dar. Weiter argumentierte Wallner, dass nicht alle sinnlichen Abbildungen in die Zirbeldrüse gelangen könnten, »weil die Spann­Adern dieses Drüslein nicht berühren« 625 . Außerdem befinde sich die Drüse an einer Art Abfallgrube der zwei vorderen Hirnkammern, an welcher schließlich auch die »Ab­ bildungen der äusserlichen Dinge unsauber wurden« 626 . Diese interessante Deutung sinnlicher Wahrnehmung wurde in den nächsten Punkten weiter ausgeführt. Wallner verknüpfte, wie Descartes es getan hatte, die Physiologie des Auges mit der Seelentä­ 619 620 621 622 623 624 625 626

Ebd., S. 540. Vgl. Karenberg (2007), S. 32. Berengario (1959), S. 144. Karenberg (2007), S. 32. Wallner in Bartholin (1677), S. 541. Ebd. Ebd. Ebd., S. 542.

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tigkeit. Zudem brachte er ein Argument an, das noch im 18. Jahrhundert angewendet wurde, um der kartesianischen Idee von der Zirbeldrüse als Seelensitz zu widerspre­ chen: die Beobachtung nämlich, dass in Tieren, die doch keine Vernunft besäßen, diese Drüse größer als im menschlichen Gehirn ausgebildet sei.627 Abschließend be­ merkte Wallner, dass weder durch farbliche Veränderungen der Drüse noch durch das Vorhandensein von »Steinchen« oder »Schweiß­Löchlein« in derselben Veränderun­ gen der Vernunft bemerkt worden waren. Auch der von Descartes angenommenen Fähigkeit zur Bewegung widersprach er. Die Drüse habe keine »Mäuslein« (Muskeln) und sei an einer Seite stark im Gehirn verankert. Auch könne sie nicht von »Geistern« (den Spiritus animales) bewegt werden, da sie nicht hohl sei, und die von »aussen her­ zu kommenden Abbildungen« könnten ihre Position ebenfalls nicht verändern, denn »sie können nicht das geringste Federlein bewegen«.628 Diese aufwändige Gegendarstellung zur Bedeutungshoheit der Zirbeldrüse bei Descartes muss zum Teil auf eigener Beobachtung beruht haben – ein Indiz dafür, dass es in der anatomischen und physiologischen Forschung nicht zum Stillstand kam. Bartholins Anatomie (mit ihren Ergänzungen durch Wallner) bezeugt aber auch, wie schwer man sich von alten Vorstellungen löste und wie absonderlich sich die Mi­ schung von altem und neuem Wissen zumeist darstellte. In diesem Werk wurde nicht eine einzige, ›richtige‹ Art, das Gehirn zu zerlegen, vorgestellt, sondern verschiedene Methoden. Diese wurden genau beschrieben, sodass Nutzer des Buches entweder ler­ nen konnten, eine traditionelle Methode anzuwenden, oder nach Sylvius 629 oder Wil­ lis vorgehen konnten. Dies trifft in gewisser Weise auch auf das Tafelwerk zu. Die Tafeln und Figuren der verschiedenen Ausgaben basieren auf jeweils aktuellen Vorlagen. Dominierten zunächst noch Vesals Figuren, wurden diese bald von denen der Anatomen des 17. Jahrhunderts ersetzt. Die Gehirnabbildungen beider Leidener Ausgaben (von 1641 und 1645) sind in Anzahl und Reihenfolge identisch, nur die Seitenzahlen unterschei­ den sich. Es handelt sich hauptsächlich um Kopien der vesalschen Hauptfiguren (Fig. 1–Fig. 3, Fig. 6 und Fig. 8–Fig. 9). Drei neue Tafeln wurden ergänzend zwischen den Kopien eingefügt. Sie sind jedoch grafisch wesentlich ausdrucksärmer und anato­ misch ungenauer als die nach Vesal gearbeiteten Tafeln. Die erste dieser drei neuen Abbildungen (Fig. 4) haben wir schon im Zusammenhang mit einer Tafel der franzö­ sischen Descartes­Ausgabe kennen gelernt (Abb. 98, vgl. Abb. 88). Das Gehirn ist in einem von der Seite, in einer schrägen Aufsicht dargestellten Kopf präsentiert. Die Kopf haut wurde mit Haaren abgezogen, und die vom Betrachter aus gesehen hintere Hirnhälfte ist vollständig mit Hirnhaut bedeckt, sodass sie hinter der Großhirnsichel 627 628 629

Vgl. u. a. Willis (1965, II), S. 106. Wallner in Bartholin (1677), S. 543. Silvius (Franciscus de la Boë) hatte großen Einf luss auf Steno, vgl. Scherz (1965), S. 89. Noch vor Willis erkannte Sylvius als einer der ersten die Bedeutung des Kortex.

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Abb. 98: Gehirn von der Seite in schräger Aufsicht, Fig. 4 aus Institutiones anatomicæ, Bartholin (1641).

(Falx cerebri) versteckt ist. Fast alle Teile, die uns von der vorderen Hirnhälfte gezeigt werden, sind allein durch die Legende zu entschlüsseln. Erschwert wird dies dadurch, dass die ganze Figur so dunkel ist, dass manche Buchstaben kaum zu erkennen sind. Zu x liest man dort: »Ventriculi dextri pars inferior & exterior, quà carotidis arteriæ ramulus penetrat ad choroeidem plexum« 630 . Nur hat der Betrachter Mühe, x zu fin­ den. Der rechte Ventrikel ist nicht mehr als eine dunkle Rinne. Weder der Plexus choroidis, noch andere der genannten Einzelheiten lassen sich im Bild unterscheiden. Hirnwindungen sind nicht erkennbar, lediglich der weiß gelassene Balken (f ) scheint als Landmarke auf. In der fünften Figur sind vornehmlich die Sulci und Gyri darge­ stellt, allerdings auch nicht besonders differenziert. Der sechsten Figur, einem Hori­ zontalschnitt nach Vesals Quinta Figura (vgl. Abb. 51), folgt die letzte der neuen Ab­ bildungen (Abb. 99). Auch sie ist nur mit Hilfe der Legende wörtlich genommen herauszubuchstabieren. Im Schädel, an dessen Seiten noch die Ohren (a und b, kaum lesbar) aufscheinen, liegt eine linke Hirnhälfte. Sie wurde von oben eingeschnitten, sodass der linke Seitenventrikel (f ) eröffnet ist. In der Mitte liegt als dunkler Ring (p)

630

Bartholin (1641), S. 256.

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Abb. 99: In der Schädelbasis liegende linke Hirnhälfte mit eröffnetem Seiten­ ventrikel, Fig. 7 aus Institutiones anatomicæ, Bartholin (1641).

der Ansatz (radix631) des verlängerten Marks, aus dem Hirn­ und Rückenmark (g und h) quillt. In den verschiedenen Ausgaben des bartholinschen Gemeinschaftswerks sind nur wenige Abbildungen veröffentlicht worden, die keine Nachstiche älterer Anato­ mien waren, sondern laut Choulant z. B. den Monographien Stenos oder Sylvius’ ent­ nommen waren.632 In der deutschen Ausgabe von 1677 wurde auf Vesals Bilder, die in den anderen Ausgaben mit abgedruckt wurden, verzichtet. Neben den drei für Bart­ holin hergestellten nahm Wallner wiederum fünf weitere Tafeln auf, die sonst nicht enthalten sind. Die meisten dieser Figuren orientieren sich stark an Vesling und Cas­ serio. Die zweite Figur der ersten Tafel ist von Veslings erster Kopf­Tafel kopiert (vgl. Abb. 100, Fig. I). Der Künstler hat sie nur leicht verfremdet: Indem er die Figur genau abzeichnete, erscheint sie im Druck spiegelverkehrt. Darüber hinaus verpasste er ihr einen Schnurrbart. Die zweite Tafel ist die vierte der lateinischen Ausgabe (vgl. 631 632

Radix lat., Wurzel, Ursprung. Vgl. Choulant (1971), S. 123. Choulant bemerkt, dass die Gehirnabbildungen des Sylvius »in der Ausgabe von 1641 zum erstenmale nach dessen eigenhändigen Zeichnungen« er­ schienen sind, ebd.

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Abb. 98). Sie wurde allerdings nachgestochen und ins Hochvormat gesetzt, sodass Kopf haut und Nase nicht im Bild sind. Neu ist die dritte Tafel, zu der es allerdings keine Legende gibt, und die abgesehen davon, dass sie auf der gegenüberliegenden Seite in einer Marginalie Erwähnung findet, nicht näher erläutert wird.633 Tab. IV der deutschen und Figura 5 der lateinischen Ausgabe sind gleich, allerdings auch querfor­ matig. Dann folgt in der alten Ausgabe wieder eine Vesal­Kopie, wogegen die jüngere Ausgabe mit Kopien von Vesling und Casserio aufwartet. Deren Figuren wurden teil­ weise sogar gemeinsam auf einer Tafel zusammengestellt. Für die fünfte Tafel wurden zwei Figuren von Vesling verwendet: eine Darstellung des Kleinhirns (vgl. Abb. 102, Fig. IV), ein horizontaler Hirnschnitt in der Aufsicht und wieder spiegelverkehrt (vgl. Abb. 100, Fig. III) von Casserio ein Schnitt durch das Kleinhirn (vgl. Abb. 66, Abb. 67 und Abb. 69). Die sechste Tafel ist eine stark vergrößerte spiegelverkehrte Kopie nach Vesling (vgl. Abb. 100, Fig. IV). Ihr folgt die siebte Figur der lateinischen Ausgabe (vgl. Abb. 99). Die Abbildungsserie zum Gehirn endet mit einer Kopie der vierten Figur aus Willis’ The Anatomy of the Brain (Cerebri Anatome), dem Gehirn des ›Wech­ selbalgs‹.634 Im Anschluss an diesen systematischen Bildvergleich wird einer der ›Vorbildner‹ näher beleuchtet. Doch bevor wir uns Johann Vesling zuwenden, werfe ich die Frage auf, wie mit den eben beschriebenen Bildern zu verfahren ist: Ein wichtiger Faktor bei der Ermittlung von Bildfunktionen scheint mir darin zu liegen, Bilder innerhalb des Kontexts zu besprechen, in dem sie erschienen bzw. aus dem sie hervorgegangen sind. Nun könnte man argumentieren, dass die genannten Beispiele aus den Anato­ mien der Bartholins als Bestandteile anatomischer Atlanten oder Traktate ihren ur­ sprünglichen Kontext nicht verlassen hätten. Das würde bedeuten, dass z. B. Vesals Bilder, die 100 Jahre nach ihrem Erstdruck Teil neuer anatomischer Arbeiten wurden, noch immer die gleichen Bildfunktionen verfolgen. Ob sie diese als Teil heutiger Schriften der praktischen Anatomie 635 noch haben, ist fraglich. Wenn sie jedoch als Ausstellungsstücke in zeitgenössischen Museen hängen, bedinen sie unzweifelhaft an­ dere Funktionen. Hier stellt sich die Frage, wie und wo dieser Ablösungslösungspro­ zess von jenen Bildfunktionen beginnt, die mit dem Ausgangskontext und den damit verbundenen Diskursen identifiziert werden können.

633 634 635

Vgl. ebd., S. 512. Vgl. S. 270. Vgl. z. B. Harms (2006).

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Abb. 100: Hirnsektion in sechs Schritten, Tab. I/ Cap. XIV aus Syntagma Anatomicum, Vesling (1647).

JOH A N N V E SLI NG

Da Descartes’ in Bezug auf das Gehirn wichtigstes Werk erst posthum erschien, blie­ ben etliche eigentlich zeitgenössische Abhandlungen zu diesem Thema völlig unbe­ rührt von seinen Theorien. Ein Beispiel ist das Syntagma Anatomicum 636 des deutschen Anatomen Johann Vesling637 ( Johannes Veslingius, 1598–1641) aus Minden. Am ana­ tomischen Lehrstuhl in Padua war Vesling einer der ersten Nachfolger Fabricius ab Aquapendentes. 1641 in Padua erschienen wurden die Tafeln des Syntagma Anatomicum mit den später verschollenen und erst im 20. Jahrhundert wieder entdeckten far­ 636 637

Die hier abgedruckten Tafeln sind der zweiten 1647 in Padua erschienen Ausgabe entnom­ men: Johannes Vesling, Syntagma Anatomicum, Locis plurimis actum, emendatum, novisque iconibus diligenter exornatum, Padua 1647. Auch Wesling oder Weslingius.

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bigen Tafeln in Verbindung gebracht.638 1653 wurde Veslings Anatomie ins Englische übersetzt.639 Sie sollte, wie im langen Titel der Londoner Ausgabe beschrieben, jun­ gen Ärzten als Lehr­ und Handbuch dienen. Die Rechnung ging auf: Das Syntagma Anatomicum wurde laut Oeser »das am meisten von Chirurgen sowohl in Italien als auch in England verwendete Lehrbuch der Anatomie« 640 . Seinen Erfolg verdankt Veslings Antomie wohl nicht zuletzt seinem Tafelwerk. Allerdings wurde der ästhetische Wert der Tafeln nicht uneingeschränkt bestätigt. Im Gegensatz etwa zu den zeitgleich erschienenen Tafeln Wrens in Willis’ Cerebri anatome wurden diejenigen Veslings nicht in Mangets Sammlung anatomischer Abbil­ dungen aufgenommen. Laut Choulant, der Vesling kaum Platz einräumt, handelt es sich zwar um Originale, sie sind seiner Meinung nach jedoch »von geringerer Arbeit und für das gewöhnlichste Bedürfnis berechnet, ohne Kunstwerth« 641. Wie also wur­ de das Buch so erfolgreich? Dieser Frage können wir uns über die Bildfunktionen am Beispiel der Hirnbilder nähern. Der entscheidende Punkt ist, dass die Tafeln, obgleich sie nicht allgemein als schön empfunden werden, doch »anatomisch richtiger als die [der] Vorgänger« 642 sind. Veslings Beschreibungen einzelner Hirnstrukturen und ­teile sind äußerst plastisch und zeugen von beträchtlicher Erfahrung im Sezieren.643 Die erste Tafel des Kapitels XIV (Abb. 100) zeigt in sechs Einzelfiguren eine schrittweise Hirnsektion. Vergleicht man diese Tafel mit den Tafeln des Casserio, die van der Linden den in Opera Omnia 644 1645 zusammengefassten Schriften Spiegels beigefügt hatte, wird scheinbar deutlich, an welchen Vorbildern sich Vesling orientiert hatte. Doch muss nicht – eingedenk der Tatsache, dass Vesling seine Schrift erstmals 1641 veröffenlichte – Casserios Tafelwerk als Weiterentwicklung der Vorlagen Veslings angesehen werden? Dagegen spricht die schon erwähnte Ausgabe Rindf leischs, der die casserioschen Tafeln bereits 1627 hatte drucken lassen. Diese Verstrickungen zeigen, wie schwer es ist, nachzuweisen, wer hier wen kopierte. In Fig. I der veslingschen Sektionsfolge ist die Dura mater auf der vom Betrach­ ter aus rechten Hirnhälfte (C) über das Ohr heruntergezogen dargestellt. Beim Ver­ gleich mit Casserios Tafeln fällt auf, dass er diesen Sektionsschritt in zwei Stufen dar­ stellen ließ.645 In der zweiten Figur von Veslings Tafel ist duch einen frontalen Schnitt durch die Mitte der rechten Großhirnrinde das Corpus callosum (B) freigelegt. In der 638 639 640 641 642 643 644 645

Vgl. Riva/Kumakura/Murakami (2006), S. 1. Johannes Vesling[ius], The Anatomy of the Body of Man. Wherein is exactly described every Part thereof, in the same Manner as it is Commonly shewed in Publick Anatomies […], London 1653. Oeser (2002), S. 45. Choulant (1971), S. 91. Ebd. Vgl. z. B. die Beschreibung der Zirbeldrüse, Vesling (1653), S. 61. Vgl. S. 221. Vgl. v. d. Linden (1645), Tab. II, Fig. I und Fig. II.

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Abb. 101: Horizontaler Hirnschnitt (Fig. I) und Kleinhirn mit Einsicht in den vierten Ventrikel über dem Hirnstamm (Fig. II), Tab. II/ Cap. XIV aus Syntagma Anatomicum, Vesling (1647).

dritten Figur macht ein horizontaler Schnitt durch beide Hirnhälften den linken und rechten Seitenventrikel (E und D) und darin den Plexus choroides (F) sichtbar.646 Die­ se Struktur wird auf der zweiten Tafel Veslings (Fig. I) noch einmal besonders hervor­ gehoben, indem sie mit Teilen der Tela choroidea aus den Ventrikeln herauspräpariert und wie Girlanden im Bogen nach links und rechts drapiert wurden (Abb. 101). Um den nächsten Schritt einer Hirnsektion zu zeigen, ist in Veslings vierter Fi­ gur der ersten Tafel der Fornix (B) nach oben geklappt. Dies eröffnet die Sicht auf die Zirbeldrüse (a) und die jeweils paarigen Nates (b) und Testes (c) sowie die Vulva (d).647 Dieser Formation von Zirbeldrüse und Vierhügelplatte wurde, wie wir am Beispiel Bartholins gesehen haben, große Bedeutung zugemessen. Bei Vesling wird die Vier­ hügelplatte nicht mehr unterhalb der Zirbeldrüse platziert, sondern die Zirbeldrüse 646 647

Vgl. ebd., Tab. III, Fig. I und Fig. II. Vgl. ebd., Tab. V, Fig. II.

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wird mehr und mehr von den oberen Hügeln (Nates) umschlossen. Das hat mit ihrer von Bartolin beschriebenen Funktion als ›Hirnrute‹ zu tun. Soll die physiologische Analogie greifen, muss sie, um sich zu versteifen bzw. zu erschlaffen, in direkter ana­ tomischer Verbindung mit den ›Hirnhoden‹ (Testes) stehen. So muss das Bild der Er­ klärung der Hirnfunktion angepasst werden. Die Zirbeldrüse rutscht nach unten. In Figur V zeigt Vesling die »nach Herophilus benannte Zusammenf lussstelle der Hirnsinus (Torcular Herophili F)« 648 . Zu dieser Zeit war durch Harveys Entde­ ckung die Tatsache des Blutkreislaufs bereits medizinischer Status Quo. Außer Frage stand, dass auch das Gehirn mit Blut versorgt werden musste. Vesling benennt in sei­ ner Legende zu Figur V fünf verschiedene Sinusse (a–e), also Hohlräume, durch die venöses Blut f ließt. In der letzten Sektionsphase (Fig. VI) wird das Kleinhirn (D) mit dem Kleinhirnwurm (E) sichtbar. Dazu hatte Vesling den hinteren Teil des Großhirns entfernt. Dieses Vorgehen zeigt auch das casseriosche Vergleichsbild.649 Dabei ist Ves­ lings Tafel grafisch wesentlich anspruchsloser. So ist z. B. das Großhirnrelief ungenau ausgeführt. Was seine Tafeln dennoch gegenüber den genannten Vergleichstafeln Casserios auszeichnet, wird mit Blick auf die Bildfunktionen deutlich. Durch die sys­ tematische und klare Anordnung der Figuren auf einer einzigen Tafel gelang es Ves­ ling, eine Sektion als Ablauf darzustellen und die Arbeitschritte zu strukturieren. So wurde zugleich das jeweils erwünschte Ergebnis einer jeden Phase dokumentiert. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass es sich immer um den selben Kopf han­ delt, wogegen Casserio die einzelnen Arbeitschritte an verschiedenen individualisier­ ten Köpfen zeigt. Die einzelnen Figuren der dritten Tafel orientieren sich an Vesal, Eustachi und Casserio, sind aber durchaus eigenständig (Abb. 102). Vor Willis selbst zeigt Vesling den später Circulus Willisii genannten Ring der großen Hirnarterien (Fig. III). Dabei ist der Hypophysenstiel (Infundibulum) als große dreieckige Form (E) in dessen Mit­ te aufgespannt. Eustachis Einf luss auf diese Tafel ist vor allem in formalen Aspekten zu sehen, etwa in den wie mit dem Zirkel gezogenen Falten der Kleinhirnrinde (Fig. IV) oder in der symmetrischen Ausrichtung der Nerven entlang des Rücken­ marks (Fig. V). Die Schematisierung der Arbeitsvorgänge auf Veslings Tafel I (vgl. Abb. 100) entsprechen dem Lehrbuchcharakter, den das Syntagma Anatomicum für die chirur­ gische Ausbildung hatte. Der Prosektor hatte alle Arbeitsschritte gebündelt im Auge zu behalten. Ihm dienten die Bilder als Schneideanleitung, und nicht dazu, eine The­ orie der Hirnfunktionen zu vermitteln. Von der Seele ist nur ein einziges Mal die Rede. Sie wird nach Veslings Verständnis durch den Spiritus animalis dazu angeregt,

648 649

Oeser (2002), S. 47. Vgl. v. d. Linden (1645), Tab. VII, Fig. I.

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Abb. 102: Hirnnerven in Beziehung zur Schädelbasis (Fig. I), zu den Sinnesorganen (Fig. II), an der Hirnbasis (Fig. III), vom Rückenmark ausgehend (Fig. V) und das Kleinhirn (Fig. VI), Tab. III/Cap. XIV aus Syntagma Anatomicum, Vesling (1647).

die äußeren und inneren Sinne sowie die Bewegung zu »performen« und wird, wie später bei Samuel Collins, als »Governess of the Body« bezeichnet.650 Der Erfolg des Syntagma Anatomicum als Lehrbuch führte zu weiteren Überset­ zungen. Künstliche Zerlegung deß ganzen Menschlichen Leibes651 lautet der Titel der deut­ schen Ausgabe, die erstmals 1652 und dann erneut 1687 von Gerhard Leonard Blasius (1626–1692) in Nürnberg herausgegeben wurde. In seiner Vorrede betonte Blasius, der selbst Arzt war, die Möglichkeiten des Büchleins, Wundärzten eine praktische Handlungsanleitung zu bieten. Er beschrieb das Werk als »eine schrifftliche wolge­ 650 651

Vesling (1653), S. 59. Mir lag die Ausgabe von 1687 vor: Johannes Vesling, Künstliche Zerlegung deß ganzen Menschlichen Leibes. Anfangs in Lateinischer Sprache beschrieben / und mit vielen Figuren gezieret von dem hoch-gelährten und weit-berühmten Herrn D. Joanne Veslingio […] ins Teutsche übersetzt durch Gerhardum Blasium, Leon. Fil. Med. Doctorem, Nürnberg 1687.

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fasste / und mit schönen / die Beschaffenheit der Glieder menschlichen Leibes eigent­ lich abbildenden Figuren verzierte Unterrichtung« 652 . Indem hier neben dem »wolge­ fasste[n]« Text die Abbildungen hervorgehoben werden, unterstreicht der Herausgeber ihre Bedeutung für die anatomische Praxis. Zwar wird insbesondere die ästhetische Qualität der Bilder betont, ihre Schönheit und Fähigkeit das Buch zu verzieren, aber zugleich macht Blasius mit dem Wörtchen »eigentlich« noch auf eine andere Qualität aufmerksam. Dass die Figuren die ›eigentliche Beschaffenheit‹ des Körpers zu fassen vermögen, bedeutet, dass sie in der Lage sind bzw. die Funktion haben, dessen echte, exakte, richtige und genaue Struktur offenzulegen. Was hier anklingt ist nicht weni­ ger als die Forderung nach objektiver Darstellung dessen, was wissenschaftlich beob­ achtet werden kann. Zum Vergleich nahm er auf eine ebenfalls ins Deutsche über­ setzte Ausgabe der Anatomie Caspar Bartholins Bezug,653 die, obwohl »viel richtiger und ordentlicher« 654 , keine Figuren enthielte. Er erklärte, dass nicht nur der Text wich­ tig sei, sondern »durch beygefügte Figuren / so viel immer möglich / abbilde / durch offentlichen Druck / den Liebhabern dieser Kunst / vornehmlich aber den Schülern der Wund­Arzney […] mitzutheilen« 655 . Das ästhetische Moment des Druckerzeug­ nisses ordnet Blasius der didaktischen Bildfunktion, d. h. der Anwendung dieser Bil­ der in der medizinischen Praxis, unter. Wie Elias Wallner in der Übersetzung Bartholins zog auch Blasius Vergleiche bestimmter Hirnstrukturen zu anderen Körperteilen. Es liegt nahe, dass er direkt von Wallner abschrieb, da sich z. B. bei der Beschreibung der Zirbeldrüse nahezu gleiche Formulierungen finden: »das Zirbel­drüslein / also geheissen / weil es einer Zirbel­ nuß / so da etwas spitzig zugehet / etlicher massen gleich siehet« 656 . Dafür spricht auch, dass, wie oben beschrieben, Blasius eine frühere deutsche Ausgabe Bartholins im Vorwort lobend erwähnte. Dort heißt es: »so wegen seiner äusserlichen das Zirbel­ Drüslein genennet wird; weil es einem Kern von einer Zirbel­Nuß sich vergleichet«.657 Das wunderbare Netz wird thematisch nur gestreift. Es könne beim Menschen seiner großen »Subtilheit halber / kaum mit einem Netze […] verglichen werden« 658 . An diesem Beispiel kann man gut beobachten, wie der Einf luss Galens erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts ganz allmählich aus der Literatur verschwand. Über die Funktion der Zirbeldrüse oder ihren kartesianischen Status als Sitz der Seele steht in diesem Handbüchlein für Wundärzte nichts. Für deren Praxis scheinen Betrach­ tungen dieser Art nicht von Bedeutung gewesen zu sein.

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Blasius, in Vesling (1687), S. 3/Verso der Vorrede. Es handelt sich um eine andere als die oben besprochene Ausgabe. Ebd., S. 4/Recto der Vorrede. Ebd., S. 4/Verso der Vorrede. Vesling (1687), S. 219; vgl. Bartholin (1677), S. 539. Vesling (1687), S. 225.

EIN K ARTESIANISCHES JAHRHUNDERT?

In den Bildern ging es Vesling offenbar nicht um eine Demonstration neuen Wissens, sondern darum, die Wahrnehmung zeitlicher Abfolgen und Handlungs­ schritte zu strukturieren und so Wissen für die Lehre nutzbar zu machen. Wieder zeigt sich: Es sind nicht zuletzt die Bilder, anhand derer sich anatomisch­medizinische Schriften kategorisieren lassen. A MOS COM EN I US

Um die Gedankenwelt eines Descartes’, Stenos und Willis’ noch einmal auf eine ganz andere Art zu kontrastieren, soll hier kurz ein Druckwerk des späteren 17. Jahrhun­ derts in Wort und Bild dargestellt werden, das eine von christlichen Vorstellungen geprägte, ›bodenständige‹ Interpretation vom Leib­Seele­Verhältnis und dem dazu­ gehörigen Bild liefert. Johann Amos Comenius ( Jan Komensky, 1592–1670) war The­ ologe und Pädagoge. Er arbeitete lange als Lehrer und gilt als Begründer der Didak­ tik. Sein berühmtestes Werk, der Orbis sensualium pictus, der 1668 in Nürnberg erschien, zeigt seinen Betrachtern »Die sichtbare Welt«.659 Diese Bilderfibel war eine Enzyklo­ pädie und Sehschule für Kinder, in der die Bilder einen höheren Stellenwert einnah­ men als die Texte. Das Denken und Begreifen wurde mit dem Prozess des Sehens verknüpft. Um den Betrachtern die Welt verständlich zu machen, nutzte Comenius die Wechselwirkung, die zwischen Sprache und Anschauung besteht. Auf den Seiten 86 und 87 beschrieb er »eusserliche und innerliche Sinnen«: Die innerliche Sinnen sind dreye. Die gemeine Empfindnis / 7 unter dem Vorhaupt / ergreiffet die von den eusserlichen Sinnen eingebrachte Sachen. Die Einbildungskrafft / 6 unter dem Wirbel / entscheidet dieselben Sachen / denket / träumet. Die Gedächtnis / 8 Unter dem Hinterhaupt / verwahret alle Sachen / und langt sie wieder hervor: etliches verliehrt sie; und das ist die Vergessenheit. Der Schlaff / ist eine Ruhe der Sinnen.660

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660

Johann Amos Comenius, Orbis sensualium pictus. Hoc est: Omnium fundamentalium in mundo rerum, et vitá actionem pictura et nomenclatura. Die sichtbare Welt. Das ist: Aller vornehmsten WeltDinge/und Lebensverrichtungen/Vorbildung und Benamung, Nürnberg 1668. Die in der vorlie­ genden Arbeit abgedruckten Abbildungen entstammen der lateinisch­schwedischen Aus­ gabe: Orbis Sensualium Pictus. In qvo Res omnes sensibus expositae, singularibus Schematibus depinguntur, et Nativis vocabulis ita describuntur; adeo ut Nomenclatura Prima dici mercatur, Cum versione Sveca […], Regio 1682. Der Übersetzer war Johannes Gezelius d. Ä. (1615–1690). Comenius (1668), S. 87.

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Interessant ist, dass wir hier erneut dem mittelalterlichen Schema der drei Zellen und deren Inhalt begegnen: dem Gemeinsinn (Sensus communis) in der ersten Zelle, der Einbildungskraft (Phantasia) in der zweiten und dem Gedächtnis (Memoria) in der dritten Zelle. Giesecke ist der Ansicht, dass sich bei Comenius der spirituelle Hinter­ grund der Sinneseinteilung schon vollständig verf lüchtigt habe: »Die inneren Sinne werden dem Leser als Organe in einem neuzeitlichen Sinne vorgestellt, sie gleichen also mehr den ›fleischlichen‹ als den ›geistigen‹ Sinnen.« 661 Mit den anatomischen Ortsangaben – »unter dem Vorhaupt«, »unter dem Wir­ bel« und »unter dem Hinterhaupt« – verbindet Comenius Idee und Fleisch ebenso, wie Leonardo bei den Wachsventrikeln verfahren war, in die er die tradierten Be­ griffe eingetragen hatte. Bei Comenius sind auf der dazugehörigen Abbildung die typisch runden Zellformen in einem ansonsten inhaltslosen Kopf einem realistisch dargestellten Gehirn gewichen (Abb. 103). Comenius hatte 1642 in den Niederlanden Descartes kennen gelernt. Mit ziem­ licher Wahrscheinlichkeit kannte er auch dessen Schriften. Die folgende Beschrei­ bung der menschlichen Seele scheint von den Lehren Descartes nicht ganz unberührt geblieben zu sein: Die Seele ist des Leibes Leben / einig in dem ganzen: Allein eine Wachstümliche / in den Pflanzen; zugleich eine Sinnliche / in den Thieren: auch eine Vernunftige / in dem Menschen. Diese / bestehet in dreyen Dingen: Erstlich in der Vernunft oder in dem Verstand / wodurch sie erkennet und verstehet / das Gute und Böse / entweder das wahrhafte oder das scheinbare; Hernach / in dem Willen / wodurch er erwählet / und verlanget / oder verwirft / und verabscheuet / das erkandte; Zum dritten / In dem Gemüthe / Wodurch er nachstrebet dem erwählten Guten; Oder fliehet das verworfne Böse. Daher entspringet Hoffnung / und Furcht / in der Begierde / und Abscheu. Daher ist auch Liebe / und Freude / In der Geniessung: 661

Giesecke (2006), S. 579.

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Abb. 103: Äußere und innere Sinne (Sensus externi & interni), Tab. XLI aus Orbis Sensualium Pictus, Comenius (1682).

Abb. 104: Die menschliche Seele, Tab. XLII aus Orbis Sensualium Pictus, Comenius (1682).

Aber Zorn und Schmerze / in der Leidenschaft. Die wahre Erkäntnis eines Dings / Ist eine Wissenschaft: Die falsche / ein Irrtum Wahn und Verdacht.662

Comenius beschrieb die Seele als aus Verstand, Willen und Gemüt zusammenge­ setztes Ganzes: »Die Seele ist des Leibes Leben / einig in dem ganzen«. Die folgenden Zeilen deuten auf die drei Spiriti hin, die den Körper beleben und sein Wachstum sowie den Gebrauch der Sinne steuern. Comenius traf keine Aussage über die Stoff­ lichkeit der Seele, stellte nicht die Frage nach dem Zusammenwirken von Leib und Seele, beschrieb keinen Ort, an dem dies vor sich gehen könnte. Zwar ordnete er, wie Descartes, dem Menschen die vernunftbegabte Seele zu, seine Abbildung der Seele erscheint jedoch wie eine esoterisch vernebelte Vera Icon, als die auf einem Tuch ein­ geprägte Form eines menschlichen Leibes. Der ganze Körper, nicht das Gehirn, ist beseelte Erscheinung (Abb. 104). Sicherlich, der Orbis sensualium pictus ist eine Art Bildlexikon, das in erster Linie für Kinder hergestellt wurde, und kein Anatomie­ buch. Daher nimmt es auch eine Ausnahmestellung in dieser Bilderschau ein. Und doch spiegelt er wider, was zu seiner Zeit nach Meinung Comenius’ ›zu sehen‹ war.

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Comenius (1668), S. 88f.

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M I K ROSKOPI E I N DE R H I R N FOR SCH U NG

Für die Erforschung der Mikrostruktur des Gehirns sind im 17. Jahrhundert drei Na­ men maßgeblich: van Leeuvenhoek, der trotz seiner einfachen Technik eine bis zu 300fache Vergrößerung erreichte, Malpighi und Ruysch.663 Sie versuchten, durch optische Vergrößerung des Untersuchungsobjektes die Frage nach der Beschaffenheit des cerebralen Kortex zu beantworten. In dessen Strukturen meinte van Leeuvenho­ ek etwas zu erkennen, das er »globules« 664 nannte. Ruysch nahm an, der Kortex beste­ he aus Blutgefäßen. Malpighi war der Meinung, es handele sich beim Gehirn wie bei Leber, Nieren und Testikeln um Drüsengewebe.665 Viele Anatomen jener Zeit sowie nachfolgender Generationen scheinen sich die­ ser neuen Technik verweigert zu haben. Ein entscheidender Grund für ihre ablehnen­ de Haltung lag in den großen methodischen Problemen, die es bereitete, ein brauch­ bares Präparat zu erstellen. Erst im 19. Jahrhundert machten sich die Auswirkungen des Mikroskopierens auf die Abbildungen vom Gehirn bemerkbar. Als Professor der praktischen Medizin war Malpighi gezwungen, tradiertes Wissen an die Studenten weiterzugeben. Er sezierte und lehrte aber auch in seinem Privathaus und gab die Ergebnisse seiner neuartigen Forschungsarbeit an Studenten und Kollegen weiter. Die von ihm entdeckten Strukturen dokumentierte Malpighi in Form zahlreicher Kupferstiche. Sie belegen die Signifikanz, die er der visuellen Re­ präsentation seiner Forschungsergebnisse beimaß »and emphasize that his publications were intended to be seen as much as read« 666 . Dennoch bot die neue Technik nicht nur neue Erkenntnisse, sondern auch Stoff für Fehlinterpretationen und Missverständnisse. Bei der Rezeption früher mikrosko­ pischer Praxis vergessen wir oft, wie schwierig es beispielsweise war, die Präparate der Optik der Apparate anzupassen. Auch wenn hier nicht näher darauf eingegangen werden kann, muss uns bewusst sein, dass es zu kurz greift, die Mikroskopie lediglich als eine Methode wissenschaftlicher Wahrnehmung zu behandeln. Bennet weist zu Recht darauf hin, dass die historische Forschung bisher das Mikroskop als gegebenen Faktor und als unproblematisch angesehen hat: There is, in short, little critical thinking about what a microscope was in the seven­ teenth century. It is as though the instrument required no mediation, raised no question regarding its purpose and function, needed no effort to make it work and obliged no discussion of how successful working could be recognised.667 663

664 665 666 667

Vgl. S. 100.

Diese Globules (Kügelchen) sind nicht mit Zellen gleichzusetzen, vgl. Clarke/Dewhurst (1972), S. 88, Fußnote 16. Zum Begriff der Zelle vgl. S. 421f. Vgl. Meli (1997), S. 25 und S. 46. Ebd., S. 21. Bennett (1997), S. 63.

EIN K ARTESIANISCHES JAHRHUNDERT?

Malpighi hatte verschiedene Methoden ausprobiert, das Gehirn für das Mikroskop zu präparieren. Er wurde auf eine Struktur aufmerksam, die winzigen Orgelpfeifen oder einem Elfenbeinkamm glich. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich bei seiner Entde­ ckung um die Ganglienzellen im Kleinhirn handelte. Die gleiche Struktur fand er in menschlichen Testikeln, was ihn zu dem Schluss kommen ließ, dass es sich bei beiden Organen um Drüsen handelt. Was er nicht bedacht hatte, war die Tatsache, dass die angewendete Methode, das Gehirn zu kochen, von der Pia mater zu befreien und mit Tinte einzufärben, dessen Struktur verändert hatte, und er somit ein Artefakt betrach­ tete.668 Ruysch vertrat die Meinung, dass Drüsen ausdifferenzierte Gefäße seien. Sein um Einiges jüngerer Freund Boerhaave aus Leiden hielt, wie Malpighi, Drüsen für distinkte Gebilde, die einander ihrer anatomischen Struktur nach glichen.669 Die Fi­ xierung auf Drüsen oder Drüsengewebe bei Malpighi hatte einen tieferen Grund. Vielleicht vergleichbar mit Goethes Idee von der Urpf lanze, die seine Morphologie be­ stimmte, suchte Malpighi nach einer Grundform, einem Archetypus, einer Struktur omnium simplicissima.670 In Malpighis Schrift De cerebro 671 ist als einzige Abbildung ein Schnitt durch den Sehnerv eines Schwertfisches aufgenommen. A NATOM I E I N DEN N I E DE R L A N DEN : RU YSCH U N D BI DLOO

Der niederlänische Zoologe, Naturforscher und Anatom Jan Swammerdam (1637– 1680) warf Malpighi in Bezug auf dessen botanische Veröffentlichungen vor, »that Malpighi’s Figures were not seen with the eyes but conceived with the mind (Figuram mentem concepisse)« 672 . Dieser Weg, wissenschaftliche Abbildungen nach der Idee der Funktion des jeweils Betrachteten zu kreieren, ist uns von den Tafeln in Descartes’ De homine bekannt. Wovor Swammerdam warnte, war eine Forschung, die das sah, was sie sehen wollte. Ob eine eigene Theorie oder die Rezeption alter Schriften, wie im Falle des Rete mirabile, die Vorstellung beeinf lusste und so möglicherweise die er­ kennende Anschauung behinderte, ist hierbei wahrscheinlich marginal. Andererseits führten und führen in der Wissenschaft auch Fehleinschätzungen oder fehlerhafte Untersuchungen nicht selten zu schließlich richtigen Ergebnissen. Sich vom inneren Auge leiten zu lassen, heißt nicht zu erblinden, sondern kann unter Umständen visio­ när wirken. 668 669 670 671

672

Vgl. Meli (1997), S. 46. Vgl. Lindeboom (1968), S. 126. Vgl. ebd., S. 49. Marcello Malpighi, Tetras anatomicarum epistolarum de lingua, et cerebro É quibus Anonymi accessit exercitiatio de omento, pinguedine, & adiposis ductibus, Bologna 1665 und ders., Exercitatio Epistolica De Cerebro. Clarissimo & Amicissimo Viro Carolo Fracassato, Pisis Medicinæ Professori Ordinario, Marcellus Malpighius S. P. D, in Malpighi (1687). Meli (1997), S. 57.

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Abb. 105: Fetal­Skulptur (Aus­ schnitt), bei der die Hirnhaut als Taschentuch dient, Tab. I aus Thesaurus Anatomicus (Bd. 1), Ruysch (1701).

Frederik Ruysch (1638–1731) war Schüler von Franciscus Sylvius und des uns als Herausgeber von Descartes’ De Homine bekannten Florentius Schuyl. Ruysch arbeite­ te an anatomischen und botanischen Problemen. Bekannt wurde er vor allem für sei­ ne morbiden Skulpturen aus Fetalskeletten673 und für die Kupferstiche von diesen Skulpturen. Die für Wunderkammern bestimmten Objekte sind selbst Miniatur­ Wunderkammern. In ihrer bildlichen Darstellung zeigen sich harmonisch angeord­ nete Naturgegenstände, die auf kunstvollen Holzpodesten zu Artefakten erhoben wurden: Skelette von Föten, die in Landschaften aus Blasen­ und Nierensteinen und 673

Zar Peter I. erwarb diese Skulpturen für seine Kunstkammer, vgl. Dutch Treat: Peter the Great and Frederik Ruysch, in Wolff Purcell/Gould (1992), S. 13–32.

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Abb. 106: Ein Stück fetales Hirngewebe, Tab. II Fig. II aus Adversariorum Anatomico-Medico Chirurgicorum (Bd. 2), Ruysch (1720).

zu Bäumen arrangierten präparierten Arterien gesetzt sind. Sie sind Sinnbilder für die Verquickung von Kunst, Kunsthandwerk und Naturwissenschaft. Abgesehen von ei­ ner Szene, in der eines der Skelette im Begriff ist, sich in eine zum Taschentuch um­ funktionierte Hirnhaut zu schnäuzen (Abb. 105), finden sich keine Hirnpräparate in den Bildern. Auch wenn sie damit thematisch vom hier behandelten Problem abwei­ chen, weise ich an dieser Stelle darauf hin, dass diese Bilder dafür prädestiniert sind, mit Hilfe der Bildfunktionen ›durchleuchtet‹ zu werden.674 In seinem viele Bände umfassenden Werk zu Anatomie und Pathologie, das eine schwer überschaubare Anzahl von Neuauf lagen erfuhr, räumte Ruysch dem Gehirn keinen vorrangigen Platz ein. Neben der fetalen Entwicklung und den möglichen darin auftretenden Anomalien interessierten ihn vor allem körperliche Gewebestruk­ turen von Knochen, Organen und Blutgefäßen, die er präparierte und unter dem Mikroskop betrachtete. Im Bild werden die Präparate meist als an Nägeln aufgehängte Gewebeproben dargestellt, wie etwa ein Stück fetales Hirngewebe (Abb. 106).675 Zu seiner Technik und dem Effekt, den sie auf die Präparate hatte, beschrieb Ruysch eine Demonstratio ad oculus: »I now declare, indeed, demonstrate, that the cortical substance of the cerebrum presents the appearance of moss and of a mass of hair […], and that this appearance is, so to speak, nothing other than the protuberant extremities of little blood vessels« 676 . Diese Aussage zeigt, dass sich Ruysch in der Lage sah, seine Behaup­ tung, der Kortex bestehe aus Blutgefäßen, zu beweisen. Er verkündete nicht nur, dass es sich so verhalte, sondern er demonstrierte anhand dessen, was sichtbar wurde, am Aussehen einer Struktur vermittelt durch das Bild, das die fragliche Struktur als moo­

674 675 676

Die Bilder der Fetal­Skulpturen sind im 18. Jahrhundert diverse Male gedruckt worden, z. B. in Ruysch (1701), Bd. 1, Tab. 1 und (1703), Bd. 3, Tab. 1. Vgl. Ruysch (1720), Tab. 2, Fig. 2. In der Legende heißt es: »Portio Cerebri vitulini, à fe­ mianno in utero vaccæ matris mortui«, ebd., S. 47. Ruysch, in Clarke/O’Malley (1968), S. 420f.

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Abb. 107: Injektion von Wachs bzw. Farbe in die Blutgef äße des Gehirns, Tab. 10 aus Opera Omnia Anatomico-Medico Chirurgica, Ruysch (1737). Siehe Farbtafel VII.

siges, fellartiges Gebilde zeigt. Das Bild funktioniert hier als Argument, mit dem er seine These beweisen will. Von Ruysch sind zwei Hirnbilder überliefert, die von seinem Interesse für neue Forschungsmethoden zeugen. Die Aufsicht auf beide Hirnhälften innerhalb eines Kopfes, dessen Schädelkalotte fehlt, wurde erstmals 1697 als Tabula X in Ruyschs Epistola Anatomica, Problema nona 677 in Amsterdam veröffentlicht (Abb. 107). Unge­ 677

Vgl. Frederik Ruysch, Epistola Anatomica, Problema nona […] De cursu arteriarum per Piam matrem cerebrum involventem, de tertia cerebri meninge, de arteriis membranarum cavitates ossis frontis supra narium radices & eas sub sella equina investientium, nec non de vasis arteriosis novis Hepatis & Diaphragmatis, Amsterdam 1697. In dieser Ausgabe gibt es einen Zahlendreher: Im Fron­ tispiz steht die Jahreszahl 1679. Das Werk ist 1724 und 1744 neu aufgelegt worden. Das Bild der Hirnbasis ist in beiden Auf lagen enthalten.

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Abb. 108: Hirnbasis, Tab. 13 aus Opera Omnia Anatomico-Medico Chirurgica, Ruysch (1737).

wöhnlich ist, dass hier nicht nur das Gehirn abgebildet ist, sondern dass auch die Technik veranschaulicht wird, mit deren Hilfe das dargestellte Präparat hergestellt werden kann. Wie schon erwähnt war Ruysch der Ansicht, dass der Kortex aus Blut­ gefäßen besteht. Die von Willis übernommene Methode der Injektion von Wachs oder Farbe in die Blutgefäße erscheint im Bild als Momentaufnahme: Oben rechts sind Kinn, Mund und Nase, also der Teil eines Gesichtes dargestellt. Im Mund hält dieses ›Teilgesicht‹ einen Halm oder ein Röhrchen (C) 678 , aus dessen unterem Ende eine Substanz läuft. Auffällig ist, dass die Größenverhältnisse nicht stimmen: Beide Gesichter, sowohl das Gesicht des handelnden Subjekts, als auch das des unbelebten 678

In Mangetis Legende steht unter der Ziffer C: »Tubus inter Membranam Arachnoideam & Piam Matrem insertus, ut f latû adactô à se invicem recedant.« Mangeti (1717), S. 293.

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Objekts, sind im Gegensatz zum Gehirn, dem eigentlichen Forschungsobjekt, ver­ kleinert dargestellt. Tabula X hat eindeutig eine handlungsanweisende Funktion, denn ein beispiel­ haft handelndes Subjekt ist mit im Bild. Es erklärt, wie die Handlung durchzuführen ist, indem es sie vorführt. Der Zeitraum, in dem die Präparation der Gefäße abläuft, wird an einem Punkt gestoppt und im Bild fixiert. Die demonstrierte Tätigkeit wird unterstützt, indem das, was erreicht werden soll, nämlich die Blutgefäße besser einzu­ färben und so besser sichtbar zu machen, im Bild bereits umgesetzt ist. Ursache und Wirkung sind kongruent abgebildet. Die Oberseite des Gehirns ist von einem Netz deutlich wahrnehmbarer dickerer und feiner Gefäße überzogen. Zudem ist diese Ober­ f läche proportional zu den Gesichtern vergrößert dargestellt, um das, was demons­ triert werden soll, als Hauptsache des Bildes festzulegen. 1699 wurde das Bild einer Hirnbasis abgedruckt (Abb. 108). An der Organober­ f läche treten die mit Wachs injizierten Blutgefäße deutlich heraus. Ruysch folgte dem Verlauf der Arterien, anstatt sie wie Willis in seinem Bild der Hirnbasis von 1664 in feinen, stilisierten Ästchen enden zu lassen (vgl. Abb. 92). Ein Vergleich beider Tafeln macht deutlich, dass es Willis darum ging, seinen Arterienkreis zu demonstrieren und ihn zu diesem Zweck schematisiert abzubilden. Bei Ruysch ist das nicht der Fall. Ihm ging es darum, das gesamte Gefäßnetz darzustellen. Sogar das Rete mirabile (T) macht er zum Teil dieses großen Netzes und bildet es ab. Auch Willes vermeinte, bei seiner Erforschung des Weges der Arterien durch die Schädelbasis, das Rete mirabile gefunden zu haben: Among the various uses and offices which the Cuniform or Wedge­like Bone yields to the Brain and its Appendix, it is not of the least note or moment, that it transmits the Carotidick Arteries […]; and that in the middle way, by which they must pass, it contains the pituitary Kernel [Hypophyse], and sometimes the won­ derful net.679

Im Gegensatz zu Ruysch bildete er es in seiner Hirnbasis jedoch nicht ab. Ruyschs Figur der Hirnbasis erschien 1699 als Tabula XIII in der Antwort des deutschen, in den Niederlanden praktizierenden Anatomen und Chirurgen Johann Jakob Rau (1668–1719): Responsio ad qualemcunque Defensionem Fredrici Ruyschii 680 . Eine Form des wissenschaftlichen Diskurses jener Zeit bestand darin, dass Wissenschaftler ihre Kolle­ gen dazu aufforderten, in Form eines Briefes (Epistola Anatomica Problematica) zu einem 679 680

Willis (1965, II), S. 70. Johannis Jacobus Rau, Responsio ad qualemcunque Defensionem Fredrici Ruyschii, Quam haud ita pridem edidit, pro Septo Scroti, In qua hujus Litis Anatomicæ detegitur Origo: Et Septum Scroti, ab ipso descriptum & alineatum, fictitium esse, clare demonstratur, Amsterdam 1699. Die hier ver­ wendete Abbildung stammt aus der Ausgabe von 1721.

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bestimmten Problem Stellung zu beziehen. Diese reagierten darauf in einem Antwort­ schreiben (Responsio). Diese Praxis begünstigte, dass bestimmte Bilder in verschie­ denen schriftlichen Diskursen wieder abgedruckt wurden. Im Fall der beiden ge­ nannten Hirnbilder Ruyschs handelte es sich um die Epistolae der Anatomen Andreas Ottomar Goelicke 681 (1670–1744) und Michael Ernst Ettmüller 682 (1673–1732). Bereits 1717 nahm Manget beide Abbildungen in sein Theatrum Anatomicum auf.683 Es ist schon mehrfach betont worden, wie stark auch naturwissenschaftliche Bil­ der von Moden der Darstellungsweise und vom jeweiligen Zeitgeschmack abhängen. Tabula 14 der Epistola Anatomica verdeutlicht diesen Punkt besonders einleuchtend (Abb. 109). Auf dieser Tafel wird die als barocke Hängung bezeichnete Art, Gemälde verschiedener Größen und unterschiedlicher Sujets an einer Wand symmetrisch anzu­ ordnen, nachempfunden. Im Gegensatz zur später üblichen Petersburger Hängung, bei der die Bilder wandhoch wild durcheinander hingen, wurden dabei besonders geschätzte Werke mittig positioniert, und andere Bilder, zu denen ein Pendant vor­ handen war, wurden links und rechts der gedachten Mittelachse angebracht. Diese Mode, die die Sammler des Barock in den Galerien und Salons ihrer Häuser schätzten, übertrug Ruysch auf die anatomische Tafel. Die einzelnen Figuren wurden (wie die Gemälde auch) an gezeichneten Nägeln aufgehängt. Um ein mittig gehängtes großes Präparat von kortikalem Gewebe und arteriellen Gefäßen (Fig. 2) sind vier kleinere Figuren angeordnet: oben im Bild leichte, feine Gefäßpräparate und unten schwerere Teile des Hirnstamms, Pons und verlängertes Mark mit Olive (Nucleus olivaris) und Pyramiden (Pyramides) (Fig. 4) sowie der unterhalb des Pons liegende Abschnitt des verlängerte Marks noch einmal einzeln herauspräpariert. Mit dieser repräsentativen Anordnung ahmte Ruysch im Bild die Logik von Sammlungen nach. Das Bild strukturiert die Wahrnehmung seiner einzelnen Ele­ mente (der Figuren) innerhalb einer imaginierten Miniatur­Wunderkammer. In den Kunst­ und Wunderkammern jener Zeit bedingen wissenschaftlicher Blick und äs­ thetische Wahrnehmung einander. Im Sammeln ihrer Erzeugnisse zeigt sich ein Be­ dürfnis nach sinnlicher Erfahrbarkeit von Natur. In seinem Bild machte sich Ruysch das Prinzip der Anordnung ähnlicher Formen in einem klar gegliederten Bildauf bau zunutze und hebt damit den wissenschaftlichen Charakter des Bildes bewusst hervor.

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Andreas Ottomar Goelicke, Epistola Anatomica, Problematica, Nona. Authore Andrea Ottomaro Goelicke, Med: D. Ad Virum Clarissimum Fredericum Ruyschium, Med. Doct. Anatomiæ ac Botanices Proffesorem. De Cursu arteriarum per Piam matrem cerebrum involventem, de tertia cerebri meninge […], Amsterdam 1718. Michael Ernst Ettmüller, Epistola Anatomica Problematica, Duodecima, Autore Mich. Ernesto Ettmullero, M. D. & c. Ad Virum Clarissimum Fredericum Ruyschium, Med. Doct. Anatomiæ & Botanices Proffesorem. De Cerebri Corticali substantia, & c, Amsterdam 1721. Vgl. Manget (1717), Tab. XCIII, Fig.2 und Tab. XCIX, Fig.1.

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Abb. 109: Verschiedene Gef äßpräparate sowie Teile vom Hirnstamm, Tab. 14 aus Opera Omnia Anatomico-Medico Chirurgica, Ruysch (1737).

Die Anatomia Humani Corporis684 (1685) des als Arzt, Anatom und Schriftsteller be­ kannt gewordenen Godefridus Bidloo (auch Govaert oder Govard Bidloo, 1649–1713) enthält eine große Zahl ästhetisch herausragender Bilder. Neben in der Landschaft agierenden Skeletten in vesalscher Manier finden wir detaillierte Bilder innerer Or­ gane. Sie sind höchstwahrscheinlich das Ergebnis eigener Sektionen und äußerst ge­ nauer und kleinteiliger Beobachtung und Darstellung. Das Werk gibt Einblicke in, wie es scheint, eben geöffnete Körper, die durch gelungene Perspektive und Verwen­ dung von Techniken wie das Setzen von Glanzlichtern auf einzelnen Organen einen neuen Realismus in der gedruckten Anatomie etablieren. Nicht zuletzt sind diese qualitativ hochwertigen Bilder auf neue Präparations­ techniken zurückzuführen, die Swammerdam entwickelt hatte: »Swammerdam […]

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Godefridus Bidloo, Anatomia Humani Corporis, Centum & quinque Tabulis, per artificiosiss. G. de Laairesse ad vivum delineatis, Demonstrata, Veterum Recentiorumque Inventis explicata plurimisque, hactenus non detectis, Illustrata, Amsterdam 1685.

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Abb. 110: Auseinander geklappte Hemisphä­ ren mit zerteiltem Cerebellum und oberem Teil des Rückenmarks (unterer Teil vgl. Abb.1), Tab. 10 aus Anatomia humani corporis, Bidloo (1685).

invented a way to inject specimens with a concoction of talc, white wax, and cinnabar, which highlighted and preserved details that otherwise collapsed into invisibility«.685 Jahn zeigt Abbildungen von Glaskanülen und Injektionsspritzen, mit deren Ver­ wendung Swammerdam z. B. Blutgefäße sichtbar machte.686 Möglicherweise diente Swammerdam aber noch auf andere Weise als Vorbild: zum einen in seiner Nutzung des Mikroskops als neue Untersuchungsmethode, die »die »subtile Anatomie« noch weiter ins Innere der Organe« 687 führte, zum anderen durch seine Klassifizierung von Insekten in verschiedene Gruppen. Diese wissen­ schaftliche Praxis übernahm Bidloo für das Erscheinungsbild einiger seiner Tafeln. Tafel 10 ist auffaltbar und zeigt die entlang der Fissura longitudinalis cerebri auseinan­ der geklappten Hemisphären mit zerteiltem Cerebellum und das in seiner gesamten Länge dargestellte Rückenmark (Abb. 110). Die Wahrnehmung wird durch die Ord­

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Folkenberg, in Rif kin/Ackerman/Folkenberg (2006), S. 131. Vgl. Jahn (2000), S. 211f. Ebd., S. 104.

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Abb. 111: Erste Schritte einer Hirnsektion, Tab. 5 aus Anatomia Humani Corporis, Bidloo (1685).

nung einzelner Bildelemente strukturiert. Dadurch wird das Wissen um die Beschaf­ fenheit einzelner Funktionselemente des Körpers organisiert. Die erste Tafel (Tab. 5) ist schon fast traditionell zu nennen und orientiert sich in der Art, den Kopf ›abzuschälen‹ an Vesal und Casserio (Abb. 111, vgl. Abb. 47a und Abb. 64). Auf anderen Tafeln Bidloos werden die Leichname selbst als (anatomische) Theater inszeniert. In dramatischen Szenen sind Teile des sezierten und mit f lie­ ßenden Tüchern ausstaffierten Leibs gleich Vorhängen aufgezogen. Das Körperinnere bietet sich so, halb bedeckt, halb entblößt, dem Betrachter dar. Es wird zum Schau­ platz, der Leib zum Bühnenraum für die Darsteller: Das sind einmal die inneren Or­ gane (Tab. 21), ein anderes Mal ist es ein Fötus (Tab. 56). Hirntheater wird auf Tafel 7 und 8 gespielt (Abb. 112 und Abb. 113). Beide Figuren der siebten Tafel entbehren nicht der Dramatik. In der ersten ist die Gehirnmasse mit einem gewebten Schmuck­

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Abb. 112: Gehirnmasse mit Band und zwei Steinen zurückgebunden (Fig. 1), Kleinhirn und Hirnstamm aus der Schädelbasis gezogen (Fig. 2), Tab. 7 aus Anatomia Humani Corporis, Bidloo (1685).

band und mit Hilfe zweier Steine zurückgebunden, um den Blick auf das noch mit Hirnhaut bedeckte Kleinhirn (F) »in naturali situ« 688 freizugeben. Seiner natürlichen Umgebung wird es in der zweiten Figur regelrecht entrissen: Wie schon Vesal (vgl. Abb. 50) und nach ihm Vesling (vgl. Abb. 102, Fig. 1) zeigt Bidloo die Hirnnerven am verlängerten Mark, indem das mit dem Hirnstamm verbundene Kleinhirn halb aus dem Schädel gezogen wird. Bei Bidloo wurde dazu das Großhirn entfernt und der Schädelknochen frontal abgesägt, sodass der Kopf dort, wo sich sonst das Gesicht be­ findet, auf einer ebenen Fläche zu liegen kommt. Hirnhäute und Kopf haut sind auch hier in glänzenden Falten zurückgezogen, um den Blick in die Tiefe des Schädels zu eröffnen. Der Blick geht also wörtlich bis ins Mark. 688

Bidloo (1685), Legende zur Septimæ Tabulæ, o. S.

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Abb. 113: Hirn in einer Schüssel angerichtet (Fig. 5) und verschiedene Hirnhaut­ präparate, Tab. 8 aus Anatomia Humani Corporis, Bidloo (1685).

Auf Tabula 9 sind die Figuren von unten nach oben angeordnet. Die erste und größte Figur ist die eines Gehirns von basal (Abb. 114). Sie hat diverse Vorgänger: Obwohl sie durch die vielen Blutgefäße der Hirnhaut eher an Ruysch als an Willis denken lässt, zeigt sie dennoch den Circulus Willisii (P) (vgl. Abb. 108 und Abb. 92). Die Tafeln Bidloos zeigen im hohen Maße ästhetisierte Körperteile und Organe. Da­ rüber hinaus haben sie noch eine ganz andere, unerreichte Qualität, die sich beson­ ders in dieser ersten Figur der neunten Tafel zeigt: Sie vermitteln dem Betrachter der Bilder etwas vom Gewicht des Dargestellten, von seiner Konsistenz, dem Aggregat­ zustand. An diesem Gehirn ist alles ein Quellen und Fließen, ein Auseinanderlaufen. Das sinnliche Erleben des Auges wird während der Beobachtung zu einem Erleben auch anderer Sinne. Der Trompe l’Oeil­Charakter der Bilder wird von den harten Schlagschatten der Präparate und dem starken Hell­Dunkel­Kontrast der Figuren verstärkt.

EIN K ARTESIANISCHES JAHRHUNDERT?

Abb. 114: Hirnbasis (Fig. 1), Frontallappen von einer Hand angehoben (Fig. 2) und Schädel­ basis mit Nerven (Fig. 3), Tab. 9 aus Anatomia Humani Corporis, Bidloo (1685).

In der zweiten Figur hebt eine Hand (B) den Frontallappen (A), um tieferlie­ gende Hirnteile zu zeigen: die olfaktorischen und optischen Nerven (F und G), den Nerv für die Augenbewegung (H) und das Infundibulum (C) mit der Hypophyse (D). Diese sichtbar gemachte Manipulation erklärt zum einen die anatomische Tätigkeit und setzt zum anderen den lebenden mit dem toten Körper in Beziehung. Die Hand verweist auf den schöpferischen Akt, der für die Herstellung anatomischer Bilder es­ sentiell ist. So ist der Körper bei Bidloo Material desjenigen, der mit ihm handwerk­ lich umgeht. Eine Trennung von Kunst und Wissenschaft erscheint anhand dieser Bilder weder hinsichtlich ihres Ausdrucks, noch in Bezug auf die ihnen zugrunde liegende anatomische Praxis möglich. 1672 publizierte der Utrechter Professor Isbrand van Diemerbroeck (1609–1674) sein Werk Anatome Corporis Humani. Es ist behauptet worden, dies sei das vorerst letzte

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Anatomiebuch gewesen, in dem die Seele als Teil der routinemäßigen Beschreibung des menschlichen Körpers einbezogen wurde: »After this the soul disappeared from the scope of anatomy as heaven had vanished from the maps of terrestrial geogra­ phers.« 689 Ein Blick über den Ärmel­Kanal wird jedoch zeigen, dass dies keineswegs der Fall war. Bevor wir uns allerdings den Engländern Collins und Ridley zuwenden, beschäftigen uns die Bilder eines französischen Willis­Adepten. R AYMON D V I EUSSENS

1684 erschien in Lyon Raymond de Vieussens’ (Raymundus, 1641–1716) Neurographia universalis690 . Damit wollte Vieussens das Werk Willis’ fortsetzen. Dabei galt sein be­ sonderes Interesse dem weißen Mark.691 Auch Vieussens erklärte die Hirnfunktion verschiedener Teile oder Strukturen anhand ihrer Morphologie. Das Mark ist ihm zufolge aus langen Fasern variabler Form gebildet, die so ineinander gefaltet und mit­ einander verbunden sind, dass sie einem Schwamm ähneln. Durch diesen kann sich der Spiritus animalis in verschiedene Richtungen und in schwer nachzuvollziehender Weise ausbreiten. In diesen komplexen Verschaltungen sah Vieussens die materielle Grundlage für die Entstehung verschiedener Gedanken im Bewusstsein.692 Der Neurographia universalis verdanken wir eine der nach meinem Dafürhalten interessantesten Abbildungen, die in dieser Zeit vom menschlichen Gehirn erstellt wurde (Abb. 115). In einer bis dato ungewöhnlichen Perspektive blickt der Betrachter auf einen Kortex: Eine Halbaufsicht auf das Hinterhaupt bildet durch die Fissura lon­ gitudinalis eine Diagonale; das Kleinhirn lugt unter dem Großhirn hervor. Durch die Ansicht von schräg oben wirkt das Organ, dessen Hirnhäute wie aufgespannte Flügel dargestellt sind, nicht wie ein statisches Präparat, sondern äußerst dynamisch. Diese Dynamik eines Körperteils, visualisiert als eigenständige Einheit, verlockt zur Formu­ lierung einer kühnen Metapher: Das Gehirn f liegt dem 18. Jahrhundert entgegen und kündigt in seinem Flug schon die Leistungen des menschlichen Geistes während der Auf klärung an. Dieses Bild eröffnet sich so selbstverständlich nur aus der historischen Perspektive der Gegenwart, in der Bücher mit dem Titel Das Gehirn und seine Freiheit 693 entstehen. Mit Vieussens Intentionen oder den Bildfunktionen des Erstdrucks dieser Tafel hat ein solches Gedankenspiel nichts zu tun. Doch in einer zweiten Be­ deutungsebene sagt die Metapher vom f liegenden Gehirn auch etwas über das Bild vom Gehirn zu jener Zeit aus: Das Organ löst sich mehr und mehr aus der Einheit 689 690 691 692 693

Corner (1919), S. 6. Raymond de Vieussens, Neurographia Universalis, Lyon 1684. Den hier abgedruckten Tafeln liegt die Leidener Ausgabe von 1685 zugrunde. Vgl. Clarke/O’Malley (1968), S. 586. Vgl. Vieussens (1684), S. 55f. Eine englische Übersetzung bieten Clarke/O’Malley (1968), S. 586ff. Roth/Grün (2006).

EIN K ARTESIANISCHES JAHRHUNDERT?

Abb. 115: Halbaufsicht von schräg hinten auf ein Gehirn mit ›aufgespannten‹ Hirnhäuten, Tab. II aus Neurographia universalis, Vieussens (1685).

Körper und stellt im Bild oder als Bild eine separate Einheit dar. Das Bild vom Gehirn befindet sich auf dem Weg dazu, zur Ikone zu werden. Es bedarf keiner bildlichen Verbindung mit Körper oder Kopf, um erkannt oder ›gelesen‹ werden zu können. Das Gehirn hat an diesem Punkt ikonische Bedeutungshoheit erlangt. Voraussetzung für Fortschritte in der Erforschung von Anatomie und Funktion eines Organs war es, mit Präparationsmethoden zu experimentieren. Bessere Präparate ermöglichten differenziertere Beobachtungen, die wiederum zur Erweiterung des Spektrums wissenschaftlicher Abbildungen führen konnten. Von Vieussens ist über­ liefert, dass er seine Gehirnpräparate in kochendem Öl herstellt hat.694 Lässt sich die Darstellungsweise seiner Abbildungen analog zu dieser Präparationsmethode erklä­ ren? Bisher wurde die künstlerische Qualität von Vieussens’ Tafeln als eher gering beurteilt.695 Richtig ist, dass verglichen mit den nur um ein Jahr jüngeren Tafeln Bid­ loos, die Hirnwindungen grob gezeichnet sind und nicht sehr organisch wirken. Auf 694 695

Vgl. Clarke/O’Malley (1968), S. 593. Vgl. Clarke/Dewhurst (1972), S. 83.

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Tabula V, an der Clarke und Dewhurst vor allem die Darstellung der Hirnwindungen (convolutions) monieren, sind die Parital­ und Temporallappen deutlich zu unterschei­ den (Abb. 116). Die Einfaltungen der Gyri sind jedoch eher als graphische Elemente harmonisch gestaltet, als der Anatomie entsprechend dargestellt. Entlang der Umriss­ linie sind sie fast vollständig geglättet. Zwischen den beiden Frontallappen ist das Ge­ hirn allem Anschein nach etwas auseinandergezogen. Dadurch können die optischen Nerven (H) weiter verfolgt werden, die Sehnervenkreuzung ist heruntergeklappt, und die Riechkolben zeigen nach außen. Das verlängerte Mark ist im Bild in acht kleine Körper unterteilt. Auf den ersten Blick scheint es sich hier um Fantasiestruk­ turen zu handeln. Sie sind erst anhand der Legende zuzuordnen: Flankiert von den Oliven (O) sind die Pyramiden (N), die verdickten Vorderstränge des verlängerten Marks, eingezeichnet. Letzteres ist unter der Brücke (M) abgeschnitten, wobei die Schnittf läche (P) dem Betrachter zugewandt ist. Darunter kommen Teile des Klein­ hirnwurms (Q und R) zum Vorschein. Unabhängig von den im Einzelnen gezeigten Hirnteilen wirkt die Hirnbasis hart, trocken, wie zusammengezogen. Mangeti druckt eine weitere Darstellung der Hirnbasis nach Vieussens ab, in der dies nicht der Fall ist (Abb. 117). Die Dreidimensionalität der Hirnwindungen ist wesentlich besser ausge­ arbeitet, und der Hirnstamm ist im Vergleich zu dem in Tabula V konventionell dar­ gestellt. Die beiden Tafeln sind insgesamt sehr unterschiedlich. Entweder wurden sie von verschiedenen Künstlern geschaffen, oder das jeweilige Ausgangspräparat wurde anders hergestellt. So amüsant es sein mag, dass es Vieussens als Franzose vorzog, das Gehirn zu frittieren – wir können nicht davon ausgehen, dass er mit all seinen Präpa­ raten so umging. Wie die Bildvorlagen aussahen, bleibt ungeklärt. Es stellt sich die Frage, ob Vieussens überhaubt eine realistische Darstellungsform anstrebte. So weisen in Tabula V Pons (M) und Kleinhirn (D) unterschiedliche, regelmäßig gestreifte Ober­ f lächen auf, d. h. die morphologischen Strukturen sind schematisiert dargestellt. Müs­ sen wir also nicht annehmen, dass Vieussens insgesamt schematische Bildformulie­ rungen im Kopf und im Auge hatte? Vieles spricht dafür. In seinen Beschreibungen des anatomischen Baus ist Vieussens äußerst präzise. Er interessierte sich für Struk­ turen und Texturen, Anordnung und Richtungsverläufe einzelner Elemente und schildert im Text sehr genau, wie in einer Sektion zu schneiden ist, um diese Punkte nachvollziehen zu können.696 Wollte er aus einem tradierten Bilderkanon ausbrechen, indem er andere Per­ spektiven auf das Gehirn zur Darstellung wählte oder den Hirnstamm anders schnitt und in Einzelteile zerlegte, so ist ihm dies nicht gelungen. Seine Ideen sind grafisch nicht stimmig umgesetzt, wodurch es seinen Figuren an Überzeugungskraft mangelt. Mit einem anderen Künstler hätte Vieussens sicher nachhaltigere Spuren in der histo­ rischen Folge anatomischer Hirnabbildungen hinterlassen können. 696

Vgl. Vieussens (1684), S. 55f.

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Abb. 116: Hirnbasis, Tab. V aus Neurographia universalis, Vieussens (1685).

Abb. 117: Nachstich einer weiteren Ansicht der Hirnbasis bei Vieussens, Tab. XCVII Fig. 1 aus Theatrum Anatomicum, Mangeti (1717).

SA MU E L COLLI NS

Ein Jahr nachdem Vieussens’ Neurographia universalis erschienen war, veröffenlichte der Anatom und Physiologe Samuel Collins (1618–1710) aus London A Systeme of Anatomy697. In zwei Foliobänden verfolgte er den ehrgeizigen Plan, die gesamte Säu­ getieranatomie auf Basis der vergleichenden Methode darzustellen (vgl. Abb. 6).698 Ob­ wohl er Edward Tyson699 als Mitarbeiter hatte gewinnen können, erwies sich sein Projekt letztlich als nur mäßig erfolgreich. Neben unzähligen Tiergehirnen, die Collins in seinem Buch vergleichend ab­ bildete, sind dem menschlichen Gehirn nicht mehr als zwei Tafeln gewidmet. Die erste Tafel (Tab. 47) ist ungewöhnlich, da sie in der ersten Figur die Hirnhälften nicht wie üblich in einem Kopf mit Gesicht, Haaren und Ohren, sondern in einem aufge­ sägten Totenschädel darstellt (Abb. 118). Unter dieser monströsen Figur, die noch den Nasenknorpel und Ohren zu haben scheint, befinden sich zwei weitere Totenschädel, von denen einer von der Seite und einer von basal dargestellt ist. Die zweite Tafel 697

698 699

Samuel Collins, A Systeme of Anatomy, treating of the Body of Man, Beasts, Birds, Fish, Insects, and Plants. Illustrated with many Schemes, Consisting of Variety of Elegant Figures, drawn from Life, and Engraven in Seventy four Folio Copper-Plates. And after every Part of Man’s Body hath been Anatomically Described […], London 1685. Vgl. Poynter (1967), S. 217. Vgl. S. 373 ff.

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(Tab. 48) ist die einer Hirnbasis, bei der die Seitenventrikel (D) eröffnet sind (Abb. 119). Durch diese Methode können große Blutgefäße an den Ventrikelwänden (e) und der Plexus choroideus (F) »in its natural situation« 700 gezeigt werden. Zudem sieht man die Großhirnschenkel (Crura cerebri) (K), die auf anderen Bildern der Hirnbasis verborgen bleiben. In der Legende zu dieser Tafel korrigierte Collins seinen Landsmann Willis di­ verse Male, z. B. indem er feststellte, dass es sich beim Corpus mamillare (i) nicht um Drüsen handelt, oder indem er kritisierte, dass Willis das verlängerte Mark (M) nicht vom Pons701 (L) unterschieden hatte. Letzteres war ihm besonders deshalb unverständ­ lich, »since Nature has so remarkably done it to our hands; for the Surface of one is stria­ ted, the other plain«702 . Um die vielfältigen Oberf lächen am und im Körper, für die die Natur sorgt, auch im Bild fühlbar zu machen, hätte es eines anderen Illustrators bedurft. Als anatomischer Atlas steht Collins Großwerk weit hinter dem William Cowpers (1666–1709) zurück, dessen Stärke in den hervorragenden Bildtafeln liegt, die allerdings fast vollständig von Bidloo abgekupfert sind.703 Dennoch lässt sich an Collins gut zeigen, wie gegen Ende des Jahrhunderts einerseits verschiedene Denk­ schulen und ­traditionen zusammentreffen, und wie andererseits neues Wissen einbe­ zogen wird. Eine eindeutige Aussage über Seelenfunktion verliert sich allerdings im uns heute esoterisch erscheinenden Pathos der Formulierungen. Das Gehirn wird im zweiten Band des Systeme of Anatomy ausführlich behandelt. In der Einführung zum Tafelwerk pries es Collins als Juwel des menschlichen Kör­ pers: This curious Art [Anatomy, W. L.] is a Key unlocking the Scull, the Ivory Cabinet of the Head, (shaded with Hair and immured with many other fine Coverings) where­ by you may see the more noble Jewel of the Brain (the Pallace of Minerva) encir­ cled with fine Vails, investing the Mæanders of its Ambient Parts, which being opened, you may treat your self with the fruitful Branches of divers Arterial and Venal Ducts, and with various Sinus as so many Cysterns of Vital Juice, and the streaky compagne of the Brain, consisting of many minute Fibrils, the Channels of Nervous Liquor, transmitting it through the Processes of the Brain into the more remote Apartiments of the Body.704

Diese Auszeichnung des Gehirns als erhabenstem Körperteil bekräftigte er an ver­ schiedenen Stellen: »The Brain, the most noble part of the whole Body, in reference to 700 701 702 703 704

Ebd., Legende zu Tab. 48, o. S. Collins nennt ihn in der Legende »Caudex Medullæ oblongatæ«, ebd. Ebd. Vgl. Rif kin/Ackermann/Folkenberg (2006), S. 131ff.; Poynter (1967), S. 219. Collins (1685), Einführung, o. S.

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Abb. 118: Gehirn im Schädel, Tab. 47 aus A Systeme of Anatomy, Collins (1685).

Abb. 119: Hirnbasis mit eröffneten Seitenventrikeln, Tab. 48 aus A Systeme of Anatomy, Collins (1685).

its Devine operations, hath a Fabrick fitted to accomplish them, being finely compo­ sed of great variety of minute Fibres, feated one above another in excellent order.« 705 Geben die göttlichen Operationen, die in unterschiedlichen Hirnteilen ablaufen, einen Hinweis auf den Ort der Seele bei Collins? Collins unterschied zwischen Animal Liquor und Animal Spirits. Der Liquor, von ihm als »the feat of most refined Spirits, the Ministers of Intellectual and Sensitive Operations« 706 beschrieben, wird im höchst entwickelten Teil des Gehirns, dem Kor­ tex, produziert, durch die Nerven in die niederen Hirnteile weitergeleitet und von dort aus in den ganzen Körper transportiert. Ganz in aristotelischer Tradition sind bei Collins Animal Spirits verfeinerte, gasförmige Partikel oder Dämpfe des Nervensafts,

705 706

Ebd., S. 994. Ebd., S. 1001.

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seine aktivsten und am stärksten vergeistigten (most spirituous) Anteile.707 Collins pries sie als »great Ministers of State, by which the Souls Glorious Empress of this Micro­ cosme, giveth her Commands to the rational Function, as the more noble, and to the Sensitive, as her meaner Subjects« 708 . Die alles beherrschende Seele bedient sich der Spiriti. Sie sind die Exekutive im Körperkosmos. Wie in der kartesianischen Theorie informieren die sich durch die Nerven bewegenden Spiriti die Seele im Gehirn. Da­ mit ist ein Verbindungspunkt markiert, an dem bei Collins das Commercium animae et corporis stattfindet. Was die Seele selbst ist, worin sie besteht, ob und wo genau im materiellen Körper sie ihren Regierungssitz hat – diese Fragen lässt Collins unbeant­ wortet. Hinsichtlich der Anatomie des Gehirns sowie der Funktion und Bedeutung der Hirnventrikel bezog sich Collins weniger auf Galen und die anderen Alten. Maßgeb­ liche Autoritäten waren nun Vesal und andere Gelehrte (Learned) des 16. und 17. Jahr­ hunderts. Physiologisch betrachtet dienen die Ventrikel Collins’ Beschreibung nach den Sekreten (Recrements), die dem Hirn angehören, als Rezeptoren. Sie können durch die Nasenlöcher eingesogene Luft aufnehmen und so das Corpus callosum und andere Teile des Gehirns damit versorgen. In der Luft sind f lüssige Partikel enthalten. Diese sind angereichert mit energiereichen Teilchen, »æreal Atoms, streaming out of the lucide body of the sun, and other Luminaries« 709 . Solche kosmischen Energieparti­ kel fungieren in Collins’ Theorie als Katalysatoren für Animal Liquor und Spirit, wodurch Leben, Sinneswahrnehmung, Bewegung und die Versorgung des Körpers mit Nährstoffen ermöglicht werden. Charakterisiert sind diese Lebensfunktionen als »useful and noble instruments, made by the Omnipotent Agent, for the preservation und perfection of Humane Bodies« 710 . Der Verweis auf den Schöpfer legt nahe, dass Collins, ein Wissenschaftler des ausgehenden 17. Jahrhunderts, in seinem Kapitel über die Hirnventrikel doch einen Seelenentwurf wagte und sich damit von der tradierten Annahme eines Zusammenhangs zwischen Hirnventrikeln und Seele nicht vollstän­ dig lösen konnte.

707 708 709 710

Vgl. ebd., S. 1005. Ebd., S. 1004. Ebd., S. 1011. Ebd.

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H U M PH R EY R I DL EY U N D W I LLI A M COW PE R

Dieses Kapitel sei mit The Anatomy of the Brain 711 beschlossen, einer Schrift, die Hum­ phrey Ridley (Henrici Ridley, 1653–1708) 1695 in London veröffentlicht hat. Darin bündelte er das Wissen, das zu diesem Zeitpunkt über das menschliche Zentralorgan bestand, und ergänzte seinen Text um sieben Bilder. Noch heute wird seine schrift­ liche Arbeit gelobt, ohne dass die darin enthaltenen Abbildungen Erwähnung finden: Von seinem »important neuroanatomy text« ist zu lesen, von diesem »important and timely book«.712 Warum, so fragt man sich, wird der Stellenwert von Bildern in der Wissensproduktion derart gering geschätzt, dass diese (z. B. in medizinhistorischen Abhandlungen) nicht einmal genannt, geschweige denn in eine Kritik eingebunden werden? In Bezug auf Ridley könnte die Frage nach der Originalität der Bildtafeln aller­ dings ein Kriterium sein, diese zu ignorieren: Die Bilder wurden nicht exklusiv von ihm oder für ihn geschaffen, sondern aus einem bereits erfolgreichen anatomischen Atlas kopiert. An dieser Stelle sollte allerdings beachtet werden, dass auch der Prozess einer Auswahl schon ein implizit deutender ist. Nicht ohne Grund wird sich Ridley für eben jene Bilder entschieden haben. Ebenso wie er im Text Wissen zusammenfas­ sen und auf den Punkt bringen wollte, mussten auch die ausgewählten Bilder im Stan­ de sein, dies zu leisten. Die hier abgedruckten Abbildungen sind der lateinischen Übersetzung seines Werkes entnommen, die 1725 unter dem Titel Anatomia cerebri complectens in Leiden erschienen war.713 Sie sind identisch mit denen der englischen Ausgabe und stammen aus dem Appendix zu William Cowpers (1666–1709) Anatomy of Humane Bodies714. Cowper hatte die 105 von Gérard de Lairesse (1640–1711) und Abraham Blooteling (1640–1690) geschaffenen Tafeln Bidloos sehr erfolgreich mit einem eigenen eng­ lischen Text drucken lassen. Diesem Bild­Text­Korpus ist ein Anhang beigefügt, des­ sen neun Tafeln von Henry Cook (1642–1700) gezeichnet und Michiel van der Gucht (1660–1725) graviert worden waren. Auf dem Titelblatt zu diesem Anhang formuliert 711

712 713 714

Humphrey Ridley, The Anatomy of the Brain. Containing its Mechanism and Physiology; Together with some New Discoveries and Corrections Of Ancient and Modern Authors Upon that Subject. To which is annex’d a particular Account of Animal Functions And Muscular Motion. The Whole illustrated with Elegant Sculptures after the life […], London 1695. Uttal (2005), S. 89. Humphrey Ridley, Anatomia cerebri complectens ejus mechanismum et physiologiam, simulque nova inventa. Cum Correctionibus aliquod Veterum ac Recentiorum, qui in eandem Materiam scripserunt, Leiden 1725. William Cowper, The Anatomy of Humane Bodies, with Figures drawn after the Life by some of the best Masters in Europe, And Curiously Engraven In One Hundred and Fourteen Copper Plates, illustrated with large Explications, containing many new Anatomical Discoveries, and Chirurgical Observations […], London 1698.

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Cowper, aus welchen Gründen er ihn für notwendig erachtete: »An Appendix, Re­ presenting the External Muscles, And Divers Parts Of Humane Bodies Which are either Omitted, or not well Exprest in the Preciding Tables. Drawn after the Life.« 715 Obwohl er sich also der bidlooschen Tafeln bemächtigt hatte, beurteilte Cowper des­ sen bildliche Anatomie als unvollständig und teilweise ungenügend im Ausdruck. Wie die Tafeln Bidloos, so sind auch die des Appendix ausdrücklich ›nach dem Leben‹ gezeichnet. Eine kuriose Formulierung, bedenkt man, dass es sich bei den Vorlagen definitiv um tote Körper oder Organe handelte. Bis auf eine Ausnahme übernahm Ridley seine Hirntafeln aus dem Appendix. Er ließ sie von dem niederländischen Zeichner und Kupferstecher Regnier Blokhuysen716 nachstechen. Hier drängt sich die Frage auf, warum es notwendig war, die Appendix­ Tafeln von Blokhuysen nacharbeiten zu lassen. Warum übernahm Ridley nicht Cowpers Druckvorlagen, wenn doch zwischen beiden ein gutes Einvernehmen bzw. eine Zu­ sammenarbeit bestand? 717 Dass Ridley sich für die Hirndarstellungen des Appendix und nicht für diejenigen entschied, die Cowper von Bidloo übernommen hatte, legt zwei Vermutungen nahe: Entweder stimmte Ridley (wie Cowper) mit Bidloos Hirn­ ansichten nicht vollständig überein, oder er wollte sich nicht in die von Plagiatsvor­ würfen belastete Debatte um die bidloo­cowperschen Bilder einmischen. Neben wis­ senschaftlichen und ästhetischen Erwägungen können demnach auch ökonomische, bildrechtliche und wissenschaftspolitische Faktoren in die Bildauswahl hineingespielt haben. Ridleys erste Abbildung (Fig. I) ist Figur 28 auf der sechsten Tafel in Cowpers Appendix (Abb. 120). Das Bild des Gehirns von basal ist ein Jahrhundert nach Varoli kein Ausnahmephänomen mehr. Es ist Standard. In diesem Fall sind durch ihre Größe und bildliche Prominenz besonders die venösen Blutleiter des Gehirns (z. B. D und F) und wie bei Willis die Arterien (z. B. E, c, d, e) hervorgehoben. Die Hirnhälften sind wie bei Ruysch von der Dura mater bedeckt, sodass anstelle des Infundibulums nur ein kleines Loch (Foramen) (a) zu sehen ist, und die Hypophyse selbst unsichtbar bleibt. Auch die Hirnhaut des Rückenmarks (G) wird von Nadeln auf einem Holz­ block in Spannung gehalten gezeigt. In diesem Punkt erinnert die Tafel an Bidloo, doch ein direkter Vergleich beider Bilder macht mehr Unterschiede als Gemeinsam­ keiten deutlich (vgl. Abb. 110). Bidloos zehnte Tafel zeigt keine Hirnbasis, sondern ein Gehirn von dorsal. Dessen Hälften wurden mitsamt dem Kleinhirn sagittal ge­ schnitten und auseinander geklappt, die Hirnhaut abgezogen und mit zusammenge­ schrumpelter Falx über dem Gehirn ausgebreitet. Was Bidloo zeigen wollte, waren 715 716 717

Cowper (1998), Titelblatt zum Appendix. Auch Reynier Blokhuisen. Seine Lebensdaten sind nicht sicher zu ermitteln. Vermutlich wurde er zwischen 1664 und 1684 geboren. Erwähnt wird er in Leiden zwischen 1709 und 1724, vgl. Mettenleiter (2001), S. 146. Vgl. Medvei (1993), S. 78.

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Abb. 120: Hirnbasis, Fig. I aus Anatomia cerebri complectens, Ridley (1725).

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Abb. 121: Falx cerebri, Fig. IV aus Anatomia cerebri complectens, Ridley (1725).

innere Strukturen. Seine Tafel ist eine bildliche Sektion, eine Demonstration von Hirnteilen, die am unmanipulierten Organ nicht sichtbar sind. Cowper übernahm zwar die Methode, das Rückenmark mit seinen Häuten, Nerven und Blutgefäßen zu präparieren, interessierte sich aber in diesem Fall für die Physiologie des Blutkreis­ laufs. Die Vermutung, dass es auch Ridley um diese Thematik ging, und er seine erste Figur aus diesem Grund auswählte, wird durch die vierte Figur bestärkt, die weder dem Appendix noch Bidloos Anatomia Humani Corporis entstammt (Abb. 121). Bei Mangeti wird sie Ridley zugeschrieben.718 Es ist allerdings denkbar, dass sie ebenfalls von Cowper bzw. Cook stammt und nicht in den Appendix aufgenommen wurde. Sie ist vergleichbar mit der ersten Figur der achten Tafel Bidloos (vgl. Abb. 2): Dura mater und Falx cerebri sind mit Nadeln und Nägeln aufgespannt. Bidloo fixierte das Präpa­ rat zusätzlich mit drei Stäbchen oder Nägeln und hängte es an zwei Fäden auf, sodass es die Form hält, die es auch um das Gehirn herum einnimmt. Ridley hingegen wollte auch an diesem Präparat und Bild hauptsächlich die ve­ nösen Gefäße demonstrieren. Die Sinus durae matris sind starrwandige Sammelstel­ len für sauerstoffarmes Blut, das aus den Venen des Gehirns, den Hirnhäuten, den Schädelknochen und den Augen zusammenf ließt.719 Er nummerierte die Sinus durch und benannte sie teilweise auch, allerdings mit anderen als den heute üblichen Bezeich­ nungen, was eine Zuordnung erschwert. Dem Betrachter wird die Falx von vorn bzw. von oben präsentiert, sodass sich der für Ridley dritte oder longitudinale Sinus (heute der Sinus sagittalis superior) in einem Bogen von der Mittelachse des Bildes nach links 718 719

Vgl. Mangeti (1717), S. 292. Vgl. Forssmann/Heym (1985), S. 246.

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Abb. 122: Mit Wachs präpariertes Gehirn (ohne Okzipitallappen) in der Aufsicht von schräg hinten, Fig. V aus Anatomia cerebri complectens, Ridley (1725).

aufspannt. Rechts und links dieses zentralen Gefäßes sind Stücke von Dura (n) und Pia mater (o) aufgespannt. Die Falx ist so gedreht, dass auch der fünfte Sinus (heute der Sinus sagittalis inferior) am unteren Rand der Falx zu sehen ist. An der Stelle, wo die aufgestellte Falx jenem Teil der Dura mater entspringt, der zur Hirnbasis führt, ist die Darstellung uneindeutig. Es entsteht eine Hautf läche, die mit Nadeln auf einer gedachten Grundlage fixiert ist. Außer diesen Nadeln benutzte Ridley anders als Bid­ loo keine im Bild sichtbaren Hilfsmittel, um seinem Präparat die gewünschte Form zu geben. In der Legende ist allerdings ein im Bild unsichtbares Hilfsmittel genannt:

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»Fig. IV. Shews the superiour and lateral Sinus’s of the Dura Ma ter, opened after they had been injected with Wax.« 720 Im Gegensatz zu Ruysch (vgl. Abb. 107) stellte Rid­ ley hier nicht die Methode der Wachsinjektion dar, sondern nutzte sie, um seinem Präparat die nötige Festigkeit zu verleihen. In die Gefäße wurde erst Wachs injiziert, bevor sie aufgeschnitten wurden. So demonstriert er anhand des Bildes etwas, das er mit Bidloos Abbildung der Falx nicht hätte zeigen können, dass nämlich die Sinus aus Dura mater bestehen. Dies erschließt sich allerdings nur dem Betrachter mit dem nö­ tigen Vorwissen – Ridley gelingt es m. E. nicht, im Bild Eindeutigkeit zu schaffen. Ridley hatte seine fünfte Figur wiederum aus dem Appendix (Tab. 7, Fig. 30) Cowpers (Abb. 122) übernommen: »Representing the Brain in a middle section, the Blood­vessels being first injected with Wax.« Das mit Wachs präparierte Gehirn ist in der Aufsicht von schräg hinten dargestellt. Kleinhirn und Hirnstamm sind unver­ sehrt, der Hinterhauptslappen entfernt. Die Fornix (A) ist an ihren Wurzeln (roots) (b) gekappt und nach unten geklappt, sodass der Blick auf den Plexus choroideus des drit­ ten Ventrikels (a, e) und auf einen Teil des Thalamus (c) freigegeben ist. Ein langer Metallstift (Style) (x) dient dazu, zwei große Venen des Plexus (h) im Wortsinn her­ vorzuheben. Außerdem wird in dieser Figur das nach Vieussens benannte Centrum ovale (n), ein »zwischen Rinde und Ventrikel gelegenes Marklager« 721, gut sichtbar. Es erscheint als durch zerschnittene, feine Blutgefäße gepunktete Fläche, die hier deut­ lich von der grauen Rindensubstanz (Medullary part of the Brain) unterschieden wird. Hierin folgt sie einer Tafel Vieussens’, auf der dieser elf Jahre zuvor seine Entdeckung festgehalten und dokumentiert hatte.722 * Die Bilder, die im Verlauf des 17. Jahrhunderts vom Gehirn entstanden sind, bilden keine einheitliche ›Ikonographie des Gehirns‹. In eine chronologische Reihe gebracht ergeben sie ein weites Panorama an Methoden, historischen und thematischen Bezü­ gen, Bildfunktionen. Versuche, neue Theorien bildlich zu fassen, zu vermitteln und weiterzuentwickeln, haben genauso ihren Platz wie solche, die sich von dem ikono­ grafischen Erbe Vesals zu befreien, sich an ihm abzuarbeiten oder ihm schlicht nach­ zueifern suchen. Wer sich auf diese mäandernden Entwicklungswege einlässt, wird immer wieder neue Verbindungslinien aufspüren. Wer allerdings nach einer stetigen Verbesserung der Methoden oder einem gleichmäßig ansteigenden Grad an Realis­ mus im Bild sucht, der wird erfahren, dass ein solches Ansinnen vergeblich ist.

720 721 722

Ridley (1695), Legende zu Fig. IV, o. S. Kahle/Frotscher (2005), S. 222. Vgl. Mangeti (1717), Tab. XCV, Fig. 2 und Legende, S. 333.

AU F K LÄ RU NG BEGIN N T I M KOPF Wie schön wäre es, seine Seele zu sehen. […] Wir nennen Seele, was beseelt. Mehr darüber wissen wir kaum dank unserer begrenzten Erkenntnis. Drei Viertel der Menschengattung fragen nicht weiter und beunruhigen sich um das denkende Wesen nicht; das übrige Viertel sucht; niemand hat etwas gefunden, und niemand wird etwas finden.723 Voltaire (1694–1778)

In der Einleitung zu diesem Kapitel der Hirnbilder des Überjahrhunderts, als das die Zeit der Auf klärung häufig gedeutet wird, soll zunächst die sich stetig vollziehende Ausdifferenzierung in naturwissenschaftliche Einzeldisziplinen nachvollzogen wer­ den. Dabei gilt es, ihre Vordenker, vor allem Descartes, stets im Blick zu behalten: Es war das Werk eines Stranges der Aufklärungsphilosophie von Spinoza über Leibniz zu Kant und Schelling, den Dualismus Descartes’ abzubauen und im Voll­ zug dieser Destruktion einen Begriff von Substanz, von Materie, von organischem Leben hervorzubringen, der sich behutsam von dem scheinbar unüberbrückbaren Gegensatz von Seele und Leib, von Geist und Materie absetzte.724

Was Mocek hier umreißt, ist die zentrale Stellung, die dem kartesianischen Dualis­ mus im 18. Jahrhundert zukommt: Die Philosophie der Auf klärung, begriffen als ein Reagieren auf und ein sich Abarbeiten an Descartes. So verabschiedeten sich die meisten ›Weltweisen‹ von den Theorien des 17. Jahr­ hunderts, in denen die Lebenserscheinungen vornehmlich durch chemische und phy­ sikalische Gesetzmäßigkeiten erklärt worden waren. In der medizinischen Lehre an den Universitäten hingegen zeigte sich der Einf luss mechanistischer Körperbilder erst langsam: »[W]e find the great leaders there giving more time to polemics than to the laboratory.« 725 In dieser kritischen Bemerkung beklagt Brazier einen Stillstand in der medizinischen Forschung, der durch mangelnde Rezeption zeitgenössischer Texte und durch das dogmenhaft wirkende Werk Descartes’ begünstigt wurde. Ist eine sol­ che Kritik gerechtfertigt? Nach einer Diskussion der auf klärenden und aufgeklärten Naturwissenschaften wird im Folgenden die Unterscheidung von Leib und Seele aus Sicht von Naturge­ schichte, Medizin und Philosophie knapp umrissen. Es sei vorangestellt, dass es un­ möglich ist, dies in der angemessenen Ausführlichkeit zu tun. Dies ist ein Thema, das schon jetzt ganze Werkreihen füllt. 723 724 725

Voltaire (1984), S. 711. Mocek (1995), S. 75. Brazier (1984), S. 121.

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Vor diesem geistesgeschichtlichen Hintergrund werden anschließend die Hirn­ forschung des 18. Jahrhunderts, ihre Protagonisten und Bilderzeugnisse betrachtet. In Bezug auf das Seelenorgan ist dabei das Umschlagen von der Lokalisationslehre zur Äquipotenztheorie am augenfälligsten. Dennoch – so umwälzend diese Zeit in ver­ schiedener Hinsicht gewesen sein mag – die Hirnforschung schien ihr großes Jahr­ hundert bereits hinter sich zu haben. Diese Annahme findet sich in der Literatur im­ mer wieder bestätigt: »Das helle Licht der Auf klärung war offensichtlich kaum auf jenen Körperteil gefallen, dessen Maschinerie die Wissenschaft damals zu beschäfti­ gen begann. Vielmehr hatte sich am Vorabend der modernen Hirnforschung tiefe Resignation verbreitet.« 726 Es sei darauf hingewiesen, dass auch in diesem Buch das 17. Jahrhundert als ›goldenes Zeitalter der Hirnforschung‹ und das 19. Jahrhundert als Be­ ginn der modernen Hirnforschung gewürdigt wird. Dennoch werfe ich die Frage auf, ob man es sich mit dieser Sicht der Dinge, will heißen einer angenommenen Leerstel­ le der Wissenschaftsgeschichte im 18. Jahrhundert, nicht zu einfach macht, oder ob es sich nicht vielmehr um eine Forschungslücke handelt. Mit der Suche nach Verbin­ dungslinien zwischen Anthropologie und Hirnforschung will die vorliegende Arbeit auf diese Lücke zumindest aufmerksam machen. DI E NAT U RW ISSENSCH A F T U N D DE R HOMO DU PL E X

Über Naturwissenschaft im 18. Jahrhundert kann nicht ohne eine Würdigung Isaak Newtons (1642–1727) geschrieben werden. Newton zeigte die Ordnung einer sich nach Gesetzmäßigkeiten entfaltenden Natur. Der Wandel vollzog sich von einem Bild der Natur als scheinbar willkürlicher, undurchschaubarer Übermacht hin zu einem berechenbaren Umfeld, das nicht nur auf den Menschen wirkt, sondern auf das auch der Mensch wirken kann, das er studieren, erkennen, durchdringen kann. Dies be­ deutet jedoch nicht, dass sich der Mensch, indem er sich Naturgesetze aneignete, in einer Opposition zur Natur begreifen lässt. Er ist und bleibt Teil der Natur. Der Pro­ zess und die Geschichte dieser Aneignung sind kulturell überformt. In physiko­theologischen Schriften, die den newtonschen Erkenntnissen folg­ ten, wurden die neuen Gesetze anschaulich gemacht. Gleichzeitig stillten sie das Ver­ langen nach Religion. So bezeichnet Richard Toellner die Naturforschung dieser Zeit als »wahre[n] Gottesdienst« und »Haupttriebfeder und das Naturbild von der vollkommenen Ordnung des Schöpfers [als] die wichtigste Voraussetzung für die em­ pirische Naturforschung«.727 Wenn auch der Bedeutungszuwachs philosophischer Konzepte den Einfluss der Theologie auf die Naturwissenschaften im Verlauf des 18. Jahrhunderts gemindert haben mag, lässt sich in Bezug auf religiöse Themen auch das Phänomen des ›Homo Duplex‹ als Problem der Neuroanatomie erklären. Die 726 727

Karenberg (2007), S. 21. Ebd., S. 209.

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Doppelnatur des Menschen ergab sich zum einen aus dem Platz, den er in der Stufen­ leiter der Lebewesen annahm. Er ermöglichte es, so Hagner, die Seele »als Spielart des Lebens« zu begreifen. Zum anderen »wurde der Glaube an die göttliche Schöpfung, an die Unsterblichkeit und Unteilbarkeit der Seele aufrechterhalten«.728 Die einseitige Auffassung von der Auf klärung als einer Epoche, in der es durch intrumentelles Denken und ein positivistisches Wissenschaftsverständnis gelang, sich von allem (Aber)Glauben loszusagen, ist überholt. Ersetzte die »erkenntnistheore­ tische Bedeutung für die Naturerkenntnis« an den Universitäten auch größtenteils die »paradigmatische Rolle der Theologie«,729 so bleibt die von Nicolao Merker beschrie­ bene Deutung Max Wundts in diesem Zusammenhang beachtenswert. Letzterer hat­ te die Einheit von Religion und Philosophie, die sich während der Zeit der Auf klä­ rung geformt hat, bekräftigt. Eine neukantianische Interpretationslinie sieht in dieser einheitlichen Verbindung sogar den Höhepunkt der Auf klärung.730 Eine Strömung dieser Verbindung war der Pantheismus. Im Deutschland des 18. Jahrhunderts prägte er sich in einer immanent­transzendenten Form aus. Es ist eine ›All­Gott­Lehre‹, die besagt, dass sich Gott in den Dingen verwirklicht und überall in der Natur enthalten ist. Seinen Pantheismus offenbarend schrieb Goethe: »Die Natur verbirgt Gott! Aber nicht jedem.« 731 Die Religiosität wandelte sich, nahm andere For­ men an. Doch auch die kartesianische Souveränität der rationalen Vernunft hatte ein Dasein Gottes nicht geleugnet, sondern wies ihn mit Hilfe der Idee nach.732 Wissenschaft im Zeitalter der Auf klärung war mehr als voraussetzungslose, wertfreie, berechenbare Tatsachenfeststellung.733 Ihr sinnlicher Bereich, der über die reine Anschauung der empirischen Forschung hinausging, kann nicht geleugnet wer­ den. Nach Gottfried Willems wurde Goethes naturwissenschaftliche Forschung von einem auf klärerischen Denken getragen, welches besagte, dass sich die menschliche Vernunft von der Natur leiten lassen müsse. Dabei wird Auf klärung auch als Kampf gegen Hypothesen und Systeme verstanden. Willems geht davon aus, dass Auf klärung und moderne Naturwissenschaft zwei ganz unterschiedliche Projekte sind, die sich zwar gegenseitig fördern und befruchten, aber sowohl einen differierenden Natur­ als auch Wissenschaftsbegriff ausbilden.734 Er folgert: Der Naturbegriff der Aufklärung, wie er die anschauende »Erkenntnis« in den Mit­ telpunkt rückt und ihr nicht nur die Gewinnung von »Naturgesetzen«, sondern auch die Begründung der Sozialität durch »sinnlich­sittliche Wirkung« gesetz­ 728 729 730 731 732 733 734

Hagner (1993), S. 4. Jahn (2000), S. 231. Vgl. Merker (1982), S. 16f. Goethe (1949), Bd. 17, S. 708. Vgl. Schischkoff (1991), S. 129. Vgl. Geyer (1997), S. 4. Vgl. Willems (1994), S. 21ff.

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mäßigen Charakters zutraut, ist dem Siegeszug der Wissenschaft more geometrico zum Opfer gefallen; daran hat auch Goethes lebenslanges Engagement für die­ sen aufklärerischen Naturbegriff nichts ändern können 735 .

Ich deute Willems so, dass nicht nur die Auf klärung und die moderne Naturwissen­ schaft unterschiedliche Projekte waren, sondern auch der (Neu)Humanismus den hier genannten Siegeszug der Wissenschaften ›nach geometrischer Art‹ beeinf lusste. In­ dem er sinnlich­sittliche Aspekte der auf klärerischen Naturauffassung betont, und obwohl diese nach seinem Verständnis letztlich gescheitert ist, kritisiert Willems da­ mit indirekt eine Interpretationslinie, die die Vernunft der Auf klärung auf die instru­ mentelle Vernunft und eine vollständig berechenbare Natur reduziert. Im Übergang zwischen den Jahrhunderten stand der Leidener Mediziner Her­ man Boerhaave (1668–1738), der selbst kein Anatom war, dessen großes Interesse an der Anatomie ihn jedoch noch im fortgeschritten Alter die Schulbank drücken ließ, wenn er unter Studenten die Vorführungen seines eigenen Schülers Albinus im ana­ tomischen Theater verfolgte.736 Boerhaave beschäftigte sich sein ganzes Leben lang mit dem Geheimnis der Seele und der Verbindung zwischen Körper und Seele.737 Nach ihm besteht der Mensch aus Körper und Seele, die sich zwar in ihrer Natur un­ terscheiden, aber doch miteinander verbunden sind.738 Das Prinzip der Seele ist die Vernunft. Ausdehnung, Form oder Bewegung gehören dagegen der Sphäre des Kör­ pers an. Die Einf lüsse körperlicher Leiden auf die Seele hatte Boerhaave durch eigene Krankheiten zu spüren bekommen und sicher auch bei seinen Patienten beobachten können. Umgekehrt nimmt auch die Seele Einf luss auf den Körper, und diese Wech­ selwirkungen waren es, die Boerhaave beschäftigten. 1708 erschien Georg Ernst Stahls (1660–1734) Theoria medica vera 739 , in der er den Animismus darlegte, wonach die Seele als Prinzip des Lebens aufgefasst wird. Die Lebensvorgänge beruhen dabei nicht auf einer mechanistischen, sondern als Resultate immaterieller Kräfte auf einer vitalistischen Ordnung. 100 Jahre später schrieb Auten­ rieth in seinen Ansichten über das Natur- und Seelenleben: Bis jetzt haben nur die berühmte ärztliche Schule Stahls […] und der scharfsinnige Schottländer Robert Whytt […] es gewagt, auszusprechen, daß der Seele Untheil­

735 736 737 738 739

Ebd., S. 27. Vgl. Lindeboom (1968), S. 123. Vgl. ebd., S. 271. Vgl. ebd., S. 272. Georg Ernst Stahl, Theoria medica vera, physiologiam et pathologiam, tanquam doctrinae medicae partes vere contemplativus e naturae & artis veris fundamentis instaminata ratione et inconcussa experientia sistens […], Halle 1737 (korrigierte Ausgabe des Originals von 1708).

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barkeit und geistige Persönlichkeit ohne körperliche Ausdehnung zukomme, ihr Daseyn aber doch auf keinen einzigen Theil des Raums beschränkt sey, den unser theilbarer Körper einnimmt; was offenbar nur dann einen Sinn gewinnt, wenn man beifügt, die Seele habe ein selbständiges geistiges Daseyn, das als solches durch keine Raumerfüllung bedingt ist.740

Diese Auffassung von Seele, wonach sie keine körperliche Ausdehnung besitzt, steht einer Theorie vom körperlichen Seelensitz prinzipiell entgegen. Sie widerspricht je­ doch nicht einer Wirkung der Seele auf den Körper. Stahl erklärte, dass ein Mecha­ nismus von einem Organismus grundlegend verschieden sei: »Was den Körper erhalte und dem Verfall entgegenwirke, sei die Wirkung von einem seelischen Faktor, der ›anima‹, die gleichwohl im lebenden Körper wirke.« 741 Mocek schreibt den Einf luss Stahls auf Biologie und Medizin dem Umstand zu, dass er eine Position »zwischen der zu Ende gehenden, aber in der Biologie methodisch fest verwurzelten aristotelischen Naturanschauung einerseits und […] der neuen, cartesischen Naturanschauung ande­ rerseits« 74 2 eingenommen hatte. Nach der aristotelischen Theorie bildet die Seele den Leib aus und kann somit auch direkt in die körperlichen Vorgänge eingreifen. War das wissenschaftliche Vorgehen bei Aristoteles empirisch­qualitativ geprägt gewesen, so wurde mit Descartes, Galilei und Bacon ein analytisch­quantitativer Denkstil üblich,743 d. h. der Vergleich sinnlich­anschaulicher Phänomene und eine da­ raus resultierende Charakterisierung und Einordnung wurden von einer Annahme der Natur abgelöst, die nach Gesetzmäßigkeiten funktionierte, welche sich durch Ex­ perimente überprüfen ließen. Dennoch hatten die Doktrinen Stahls laut Brazier einen gegenteiligen Effekt: Sie hätten, dogmatisch und arrogant vorgetragen, dazu geführt, dass seine Anhänger es unterließen, experimentell zu arbeiten.74 4 Experimente am Körper durchzuführen, um dadurch z. B. der im Körper ›arbeitenden‹ Seele auf die Spur zu kommen, gewann in den Naturwissenschaften insgesamt jedoch immer mehr an Bedeutung. War Stahl noch Theoretiker gewesen, der die Seele eher abstrakt, als einheitliche bewegende Lebenskraft in seine Theorien eingebunden hatte, enthüllten Haller und andere »das Eigenleben der Organe« 745 durch Tierversuche.

740

741 742 743 74 4 745

Autenrieth (1836), S. 537. Der schottische Medizinprofessor Robert Whytt (1714–1766), ebenfalls ein Boerhaave­Schüler, vertrat die Theorie, dass die Seele nicht nur im Gehirn, sondern auch im Rückenmark ansässig sein müsse, da geköpfte Tiere noch eine Zeit lang bewegungsfähig seien. Diese These hielt sich bis zur Veröffentlichung Eduard Friedrich Wilhelm Pf lügers (1829–1910) über die Rückenmarksseele, vgl. Pf lüger (1853). Mocek (1995), S. 77. Ebd., S. 79. Vgl. ebd. Brazier (1984), S. 128. Balmer (1977), S. 54.

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Noch in der frühen Auf klärungsphase versuchte Julien Offray de La Mettrie (1709–1751), ein Schüler Boerhaaves, nachzuweisen, »daß der Mensch keine spezi­ fische Seele besitzt, sondern die Gedanken vom Gehirn abgesondert werden, wie Gallensaft von der Leber« 746 . La Mettrie beschrieb 1748, also fünfzig Jahre nach Des­ cartes, den L’homme Machine 747. In diesem paradigmatischen Werk, das er Albrecht von Haller (1708–1777) wid­ mete, deutete La Mettrie die Seele als bloße Ref lexion des Körpers. Damit wider­ sprach er gänzlich dem kartesianischen Dualismus. Er unterschied den Menschen nicht grundsätzlich vom Tier mit der Begründung, dass auch der Mensch eine »kom­ plex ausgebildete Maschine« 748 sei: »L’Homme est une Machine si composée« 749 . Die geistigen Prozesse werden nach dieser Theorie rein mechanisch generiert. Infolge die­ ser Sichtweise wurde La Mettrie als Materialist abgekanzelt: »Thus, J. O. La Mettrie represented human nature as the organizing powers of living matter, deliberately ear­ ning himself ashocking reputation as a materialist.« La Mettries Idee, die Gedanken mit dem Saft der Galle zu vergleichen, kam nicht von ungefähr. Auch er stand noch unter dem Einf luss der Lehren Galens. Im 17. Jahrhundert hatte die englische Natur­ philosophin Margaret Cavendish (1623–1673) sich selbst und ihren Geschlechts­ genossinnen Unrecht getan, indem sie das weibliche Gehirn für zu kalt und weich befand, um ernst zu nehmende Gedanken zu produzieren.750 Analogiebildungen sol­ cher Art stellten im 18. Jahrhundert noch immer eine übliche Forschungsmethode dar. Die Eigenschaften Hart, Weich, Kalt und Warm zeigen den aktiven Gebrauch der Säftelehre zu dieser Zeit an. Ganz allgemein wurde die Unterlegenheit der Frau damit erklärt, dass sie weniger warm sei.751 Diese Qualität wurde schlicht auf das Gehirn übertragen. Die Aggregatzustände des Hirns wurden allerdings konträr gedeutet. So galt für La Mettrie ein festes Gehirn als Merkmal großer Denkkraft, ein weiches deu­ tete auf Schwachsinn hin. Nicht nur in dieser Hinsicht widersprach er seinem Lehrer Boerhaave, der genau das Gegenteil behauptet hatte. Ein weiterer bedeutender Schüler Boerhaaves war Haller, auf dessen Theorien und Bilder vom Gehirn weiter unten näher eingegangen wird. Zusammen mit Boerhaave und Bernhard Siegfried Albinus 752 (1697–1770) übte er großen Einf luss auf die nächs­ te Forschergeneration, namentlich auf Mayer und Sommering, aus. Ein anderer Natur­ forscher, der hinsichtlich seiner philosophischen Fragestellungen in den Naturwissenschaf­

746 747 748 749 750 751 752

Jahn (2000), S. 204. Auf eine andere Verbindungslinie zwischen Gedanken und Körper­ f lüssigkeiten stößt man im 19. Jahrhundert, vgl. S. 448. Julien Offray de La Mettrie, L’Homme Machine, Leiden 1748. Borrmann (1994), S. 118. La Mettrie (1748), S. 7. Vgl. Schiebinger (1989), S. 2. Vgl. ebd., S. 161. Zu Albinus vgl. Punt (1972), S. 325–345; Weber (1987), S. 15.

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ten zum Vorbild wurde, war Charles Bonnet (1720–1793), dem Haller freundschaftlich verbunden war. Bonnets Überzeugung nach verbinden sich im Menschen zwei Substanzen. Dazu heißt es im zweiten Teil der Philosophischen Palingenesie753 : Wenn sogar die Thiere dazu bestimmt zu seyn scheinen, in einem andern Zustand eine erhabnere Glückseligkeit zu geniessen, wie groß muß erst diejenige seyn, welche in einem andern Leben demjenigen Wesen aufbehalten ist, welches bloß in Ansehung seines Körpers Thier ist, und in Ansehung seines Verstandes an die höhern Naturen gränzet! Der Mensch ist ein vermischtes Wesen: er entsteht aus der Vereinigung zwoer Substanzen. Die besondere Art dieser Substanzen, und wenn man noch will, die Manier, wie sie vereinigt sind, machen die eigne Natur desjenigen Wesens aus, welches Mensch heißt, und unterscheiden es von allen andern Wesen.754

Bonnet vertrat die gängige Meinung, dass der Sitz der Seele in der Verbindung zwi­ schen den beiden Hälften des Großhirns, im markigen Querband (Corpus callosum), zu finden ist.755 Er verteidigte die Annahme einer immateriellen Seelensubstanz und sah beispielsweise den Sitz der Erinnerung, einer Tätigkeit der immateriellen Seele, im materiellen Gehirn.756 Kant hingegen beschrieb die Seele aus zwei Perspektiven: vom anthropologischen Standpunkt aus, »wo man nämlich davon absieht, ob der Mensch eine Seele (als besondere unkörperliche Substanz) habe oder nicht«, und vom psychologischen, »wo man eine solche in sich wahrzunehmen glaubt, und das Gemüt, welches als bloßes Vermögen zu empfinden und zu denken vorgestellt ist, als beson­ dere im Menschen wohnende Substanz angesehen wird«.757 Aus der Tatsache heraus, dass sich der Mensch als beseeltes Wesen erfährt, kann noch nicht auf eine Seelensub­ stanz gefolgert werden. Kant wies die Idee der Seele als Substanz zurück. Eine solche materielle Substanz wäre »einem allmählichen Vergehen unterworfen« 758 . Er ordnete die Seele dem inneren Sinn des Menschen zu: »Der Gedanke Ich ist […] gar kein Be­ griff, sondern nur innere Wahrnehmung, aus ihm kann […] folglich auch nicht die Beharrlichkeit der Seele, als Substanz, gefolgert werden.« 759 Seine Position in dieser Frage war also dezidiert antimaterialistisch. Das bedeutet allerdings nicht, dass sich diese Position in allen Bereichen der Hirnforschung im ausgehenden 18. bzw. frühen 753 754 755 756 757 758 759

Charles Bonnet, Philosophische Palingenesie. Oder Gedanken über den vergangenen und zukünftigen Zustand lebender Wesen […], Zweyter Theil, Zürich 1769. Ebd., sechszehntes Stück, S. 1f. Vgl. Oeser (2002), S. 79. Vgl. Wunderlich (2005), S. 119ff. Kant (1912), S. 57. Ders. (1997), S. 99. Ebd.

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19. Jahrhundert durchsetzen konnte. Im ›Material Gehirn‹ wurde lange noch dem ›Material Seele‹ nachgespürt. * Dieser Einblick in das Leib­Seele­Problem, wie es im 18. Jahrhundert aus naturwis­ senschaftlicher Perspektive verstanden, beurteilt und bearbeitet wurde, wird im Fol­ genden in Richtung anatomischer und physiologischer Hirnforschung fortgesetzt und in Hinblick auf die zu dieser Zeit veröffentlichten Hirnbilder vertieft. H A LL E R S ICON ES A NATOM IC Æ

Albrecht von Haller war Wissenschaftler im universalen Sinn: Er plädierte dafür, ver­ schiedenste naturwissenschaftliche Disziplinen, »die Anatomie, die vergleichende Ana­ tomie, die Entwicklungsgeschichte, den Tierversuch, die Pathologie, die Chemie und die Physik« als »Bausteine der Physiologie« nutzbar zu machen und folgte diesem Credo in seiner eigenen Arbeit.760 Die Physiologie beschrieb er als belebte oder be­ seelte Anatomie: »Sed Physiologia est animata anatome« 761. Einer der vielen Forschungsbereiche, mit denen sich die Physiologie nach der Auffassung Hallers befassen sollte, war die Untersuchung der Vorgänge, die dazu füh­ ren, dass Sinneseindrücke an die erkennende Seele übermittelt werden.762 Er erbrachte den experimentellen Nachweis dafür, dass »die Grundkräfte der belebten Materie, Irritabilität und Sensibilität, an die Muskelfaser bzw. an die Nervenfaser gebunden sind« 763. Durch seine Irritabilitätslehre, also die Lehre von den Kräften des Leben­ digen, wurden die Begriffe ›Irritabilität‹ (Reizbarkeit – an den Muskel gebunden) und ›Sensibilität‹ (Reizbarkeit der Nerven) zu übergreifenden Maximen. Entscheidend für Hallers Untersuchungen der cerebralen Physiologie war die Sensibilität. In Tierversu­ chen zeigte er, dass die Gehirnsubstanz sensibel ist, und er erkannte eine funktionelle Homogenität des Gehirns.764 Willis hatte mit seiner Lokalisationstheorie als Erster den Zusammenhang von Zentralnervensystem und Vitalorganen aufgezeigt und damit die durch Experimente beweisbaren Funktionen des Kleinhirns erkannt.765 Haller widersprach Willis’ Dok­ trin cerebraler Lokalisation, die über ein Jahrhundert lang Status Quo gewesen war.766 Als Verfechter der Äquipotenztheorie war Haller der Ansicht, dass »die Seele nicht im Gehirn lokalisierbar wäre, und alle geistigen Funktionen vom Gehirn als Ganzem 760 761 762 763 764 765 766

Bretschneider (1977), S. 22. Haller (1747), Vorwort, o. S. Vgl. Mani (1977), S. 68. Toellner (1984), S. 196. Vgl. Mani (1977), S. 72. Vgl. Isler (1964), S. 91. Vgl. Clarke/Dewhurst (1972), S. 70.

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ausgeführt würden« 767. Einer seiner Biografen, Heinz Balmer, schreibt, dass Haller der Suche nach der menschlichen Seele bei seinen anatomischen und physiologischen Stu­ dien einen geringen Stellenwert zumaß. Während andere über einen Urbegriff des Lebens, der Seele und des Geistes nachgesonnen hätten, habe Haller den Körper schlicht in seine Teile zerlegt und nach dem Gefüge und der Leistung der inneren Organe gefragt.768 Doch auch Haller konnte sich solchen grundlegenden Fragen nicht verschließen. 1762 veröffentlichte er den vierten Band der Elementa physiologiæ corporis humani769 , in dem es um das Gehirn, die Nerven und die Muskeln ging. Sechs Jahre später erschien das Werk übersetzt von Johann Samuel Halle (1727–1810) auf Deutsch. Der achte Abschnitt der Anfangsgründe der Physiologie des menschlichen Körpers770 ist Mutmassungen betitelt. Daraus interessiert uns Paragraph 23, Der Wohnsitz der Seele. Dass dieser sich überhaupt im Gehirn befindet, war für Haller ein unumstößliches Faktum. Er führte Beispiele zusammengewachsener Menschen an, die nur ein Herz, aber zwei Köpfe besaßen, und bei denen »auch ein gedoppelter Wille, und verschiedene Emp­ findungen bemerkt worden« 771 waren. Haller zufolge ist das gesamte Mark, das sich sowohl im Groß­, als auch im Kleinhirn befindet, »der allgemeine Sammelplatz der Empfindungen«. Die Seele aber kann »in diesem Marke nicht wohnen«.772 Auch wenn der ganze Körper empfinden könne, so sei doch der Quell der Empfindungen im Ge­ hirn zu suchen. Um Hallers Position zum Seelensitz zu ermitteln, ist es notwendig, den Sammelplatz der Empfindungen vom Wohnsitz der Seele abzugrenzen. Der Text gibt uns eine Definition von Empfindung: [W]enn das Empfinden blos irgend eie Veränderung, oder ein Druck im Nerven von den äusserlichen Dingen ist; so wird freilich das Empfinden aller Orten ge­ schehen; wenn aber das Empfinden eine Sache der Seele ist, und eine Verände­ rung in der Seele bedeutet, davon die Ursache in dem Drucke eines Körpers ausser uns, auf unsere Nerven liegt, so geschiht in der That die Empfindung des Nerven in keinem einzigen Theile des belebten Körpers, ausser im Gehirne 773.

Empfindungen des Körpers sind, ohne dass sie den Weg über die Nerven ins Gehirn bzw. in die Seele zurücklegen, undenkbar. Anders gesagt: Wenn man die Nervenver­ 767 768 769 770 771 772 773

Hagner (1993), S. 4. Zur Äquipotenztheorie bei Haller vgl. auch Oeser (2002), S. 75ff. Vgl. Balmer (1977), S. 62. Albrecht von Haller, Elementa physiologiæ corporis humani. Tomus quartus: Cerebrum. Nervi. Musculi, Lausanne 1762. Albrecht von Haller, Anfangsgründe der Physiologie des menschlichen Körpers, Band 4: Das Gehirn, die Nerven und Muskeln, Berlin 1768. Haller (1768), S. 620. Ebd., S. 619. Ebd., S. 621.

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bindung eines Körperteils zum Gehirn kappt, reagiert dieser Körperteil nicht länger auf Reize, er wird empfindungslos. Eine Teilbarkeit der Seele stritt Haller nicht gänz­ lich ab. Ihre Fähigkeit, durch Empfindungen im ganzen Körper wirksam zu werden, registrierte er. Was jedoch »die Art betrift, wie die Seele mit diesem weitläufigen Empfindungsquelle verbunden sei« 774 , blieb für Haller letztlich ungeklärt. In Paragraph 25, Ob sich der Wohnsitz der Seele noch enger einschränken lasse, sind diverse Hirnteile aufgezählt, die Hallers Vorgänger zum Seelensitz erklärt hatten. Er bezweifelte, dass es notwendig sei, der Seele überhaupt eine »engere Wohnung, als der gesammte Ursprung aller Nerven ist«, anzuweisen, denn »es steht uns nicht frei, der Seele irgend eine Stelle zur Wohnung einzuräumen, wenn wir nicht alle Nerven zu derselben hinzuführen vermögend sind«.775 Dass Haller den Seelensitz in der Brücke des Varoli verortete,776 ist in Hinblick auf die Äquipotenztheorie, die ein solches Vor­ gehen per se unsinnig gemacht hätte, nicht ganz richtig. Allerdings kann man von einer Tendenz Hallers in diese Richtung sprechen. Er schrieb: »Und so würde in der Brücke [des Varolius], welche viele Nerven hervorbringt, auch zugleich der Ver­ sammlungsplatz von vielen Bewegungen und Empfindungen zu suchen sein.« 777 Letztlich ging er aber vom Speziellen aufs Ganze über und bekundete einen »gemein­ schaftlichen Nutzen der gesammten Gehirnmasse« 778 . In den Icones anatomicæ779 , die zwischen 1743 und 1756 in acht Bänden in Göttin­ gen gedruckt wurden, erschienen die später von Mayer gelobten Hirnbilder Hallers sowie andere aus methodischen Erwägungen heraus interessante anatomische Bilder (vgl. Abb. 3, Abb. 4a und Abb. 4b sowie Abb. Methode 7a und 7b). 1740 hatte Haller die Bekanntschaft des jungen französischen Medizinstudenten Christian Jeremias Rollin (1707–1781) gemacht, dessen Stich »unglaublich treffsicher« 780 war. Balmer be­ schreibt, wie dieser beim Zeichnen vorgegangen war: Zuerst habe Rollin die Umrisse entworfen, sie dann auf ein neues Blatt übertragen, um sie zu schattieren. Die stich­ fertige Vorlage sei erst auf einem dritten und vierten Blatt entstanden. Rollin, sein Nachfolger Joel Paul Kaltenhofer (1716–1777), der nicht wie Rollin Arzt, sondern 774 775 776 777 778 779

780

Ebd., S. 622. Ebd., S. 623. Vgl. Hagedorn (1805), S. 7. Haller (1768), S. 624. Haller verweist in einer Fußnote an der Stelle, an der ich die eckige Klammer einfüge, auf Varolius. Ebd., S. 626. Albrecht von Haller, Icones anatomicæ quibus præcipuæ aliquæ partes Corporis Humani delineatæ proponuntur & Arteriarum potissimum Historia continetur Auctore Alberto de Haller, Göttingen 1756; ders., Fasciculus VII. Arteriæ cerebri. Medullæ spinalis. Oculi, Göttingen 1754; ders., Fasciculus II. Arteria Maxillaris, Coeliacae T. I. & II. Thyreoidea inferioris T. I. & II. Uterus, Göt­ tingen 1745; ders., Fasciculus I. Diaphragma, Medulla Spinalis, Vagina Uteri, Omentum, & Cranii Basis, Göttingen 1743. Genannt sind nur die für die vorliegende Arbeit relevanten Bände. Balmer (1977), S. 52.

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Abb. 123: Hirnbasis, Tab. I aus Icones anatomicæ, Fasciculus VII, Haller (1754). Siehe Farbtafel VIII.

Künstler war, und zwei Stecher »waren Hallers Stützen für des Tafelwerk« 781 der Icones anatomicæ. Bei allen Tafeln dieses breit angelegten Werkes fällt auf, wie mikroskopisch fein die Stiche sind, welche Detailtreue an den Tag gelegt wird. Alle größeren Arterien in Hallers Bild der Hirnbasis (die ungewohnterweise mit dem Kleinhirn nach oben ab­ gebildet ist) haben eine zart gemaserte Oberf lächenstruktur und wirken durch sorg­ fältige Schattierung überaus plastisch (Abb. 123). An den Schnittf lächen der durch­ trennten Adern lässt sich gut erkennen, dass sie hohl sind, ebenso wie dies bei den Nerven eindeutig nicht der Fall ist. Im Bild wird demonstriert, dass die Nerven keine Röhren sind, durch die die Spiritus animales f ließen, wie das Blut in den Arterien und Venen. Haller zeigt, wie sich von der inneren Halsschlagader (Arteria carotis interna) aus, die links und rechts des Chiasma opticum durchtrennt ist, die mittlere Hirnarterie (Arte­ ria cerebri media) seitwärts in die Fossa Silvii (C) zieht. Dort teilt sie sich in mehrere starke Äste.782 Um diesen Verlauf zu demonstrieren und seine Lage im Bild zu vermit­ 781 782

Ebd., S. 53. Vgl. Kahle/Frotscher (2005), S. 272.

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teln, wurde der vom Betrachter aus linke Lobus temporalis mit Hilfe eines langen, unten zugespitzten Stäbchens zurückgezogen und fixiert. Darunter ist die Fossa Silvii als Einschnitt zwischen vorderem und mittlerem Hirnlappen zu erahnen. Die Blutversorgung des Gehirns hatte bereits die Forscher des 17. Jahrhunderts interessiert. Die Erforschung der Verläufe von Arterien und Venen ließ, wie das Bei­ spiel Hallers bezeugt, auch im 18. Jahrhundert nicht nach. Auf Abbildungen vom Ge­ hirn wurden immer feinere Adergef lechte gezeigt. Dabei galt die Aufmerksamkeit weit weniger den mikroskopischen Strukturen als man annehmen könnte. Obwohl Haller den Wert der Mikroskopie als eine unter vielen Forschungsmethoden gewür­ digt hatte,783 sollte das Mikroskop erst im 19. Jahrhundert zum wissenschaftlichen In­ strument schlechthin und auch für die Hirnforschung relevant werden. Weit größer war zu Hallers Lebzeiten das Interesse an makroskopischen Präparaten. Um die Ader­ verläufe nachvollziehen zu können, war das Gehirn auf anderen als den bisher gängi­ gen Ebenen zu schneiden, und verschiedene Schnitttechniken mussten miteinander kombiniert werden. Für die zweite Hirntafel hatte Haller das Gehirn horizontal auf Höhe des late­ ralen Ventrikels geschnitten und zeigt dessen Aderhaut und seinen Plexus choroideus (L) sowie den unversehrten Thalamus (H) (Abb. 124). Zudem gibt die Tafel einen Blick auf den Streifenkörper (Corpus striatum) (G) frei, ein »großer grauer Komplex in der Tiefe der Hemisphäre« 784 . Dieser Blick wird in der dritten, arteriarum Cerebri bezeichneten Tafel noch ver­ tieft (D) (Abb. 125). Wie der Titel besagt, ist das anatomische Thema, also das, was im Bild repräsentiert wird, das Gef lecht der Arterien und ihre Verzweigungen (Rami). Um das entsprechende Präparat herstellen zu können, kombinierte Haller drei Schnittebenen: Das Hirn ist wie in Tabula II in der Ansicht von schräg oben horizon­ tal geschnitten, und zwar so tief, dass die Zirbeldrüse (O) sichtbar wird. Ein frontaler Schnitt duch den Lobus temporalis legt das Kleinhirn frei. Dieses wurde links und rechts der Mittelachse zweimal sagittal geschnitten, sodass ein Segment entnommen werden konnte, um den Hirnstamm und den Plexus choroideus des vierten Ventrikels (T) zu zeigen. Erstaunlicherweise zeugen Hallers Tafeln letztlich weniger von seinem Interesse für die Reizübertragung durch die Nerven, als vielmehr von einem Bestreben, die zur (Zusammen)Arbeit des ganzen Gehirns notwendigen Transportwege der Nähr­ stoffe zu zeigen. Er machte es sich zur Aufgabe, die Blutgefäße des Gehirns bis in die feinsten Verästelungen exakt darzustellen und in den Legenden zu benennen. Haller brachte, wie sein Biograph es ausdrückt, »Ordnung in die verwickelten Verhältnisse

783 784

Vgl. Balmer (1977), S. 60. Kahle/Frotscher (2005), S. 238.

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Abb. 124: Gehirn horizontal auf Höhe des lateralen Ventrikels geschnitten, Tab. II aus Icones anatomicæ, Fasciculus VII, Haller (1754).

Abb. 125: Großhirn horizontal und Kleinhirn sagittal geschnitten, Tab. III aus Icones anatomicæ, Fasciculus VII, Haller (1754).

der Schlagadern« 785 . In diesem Sinne haben auch seine Bilder der Hirnarterien klassi­ fizierende, taxonomisierende, ordnende Funktionen. Neben der herausragenden Schönheit von Hallers Werk lobt Balmer dessen Ent­ scheidung, seine anatomischen Gegenstände nicht mit landschaftlichen Hintergrün­ den zu umgeben. Dies habe den Effekt, dass sich die Aufmerksamkeit des Betrachters ganz auf das jeweilige Objekt richte. Landschaften hatten zu diesem Zeitpunkt aller­ dings schon seit zweihundert Jahren nicht mehr als Hintergrund für Gehirnabbil­ dungen gedient. Plausibel erscheint jedoch die Annahme, dass die Konzentration auf das Objekt selbst und dessen ästhetische Ausführung entscheidend dazu beitrugen, dass Hallers Werk für seine Schüler (z. B. Johann Friedrich Meckel (1714–1774) und Johann Gottfried Zinn (1727–1759)) vorbildlich war.786

785 786

Balmer (1977), S. 53. Vgl. Ebd.

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GA R ENGEOT U N D DA S U N BE K A N N T E V ISCUS 787

Noch Mitte des 18. Jahrhunderts gaben Chirurgen und Ärzte zu, »daß das cerebrum das unbekannteste viscus annoch ist, und dessen Erklärung, so die Anatomici davon geben, nicht auf solche Art fürgebracht wird, welche die Gemüther, die eine Sache gern ohne Dunckelheit haben mögen recht überzeugen könnte« 788 . So hatte sich René Jacques Croissant de Garengeot (1688–1759) im dritten Kapitel des dritten Teils seiner Splanchnologia 789 von 1733 geäußert, die 1744 durch Johann Alexander Mischel790 ins Deutsche übersetzt wurde. Die Splanchnologia ist in dem Sinne eine klassische Anatomie, als darin eine ex­ akte Beschreibung aller Teile des Körpers gegeben wird. Physiologische Betrach­ tungen über Funktion oder Nutzen des Gehirns wurden dabei fast völlig außer Acht gelassen.791 Garengeot interessierte zwar »die innerliche Beschaffenheit und Gestalt« der grauen und weißen Substanz, doch diese blieb ihm letztlich wie ihre Funktion verborgen. Er beklagte, dass diese nur darum »wunderbar« (i. S. v. ungewiss, noch nicht erforscht) seien, »weil der menschliche Verstand ihre Mechanic nicht auf lösen, noch den wahren Nutzen derselben erkennen« könne.792 Immerhin erkannte er fünfzig Jah­ re vor Gall, dass die graue Substanz nicht bedeutungslos sein konnte. Wenngleich dies nur eine vage Vermutung blieb, und sich Garengeot darüber hinaus, fast 70 Jahre nach­ dem Malpighi De cerebro veröffentlicht hatte, auf dessen Autorität und die Ruyschs berief, ohne deren Forschungsergebnisse zu überprüfen oder auch nur anzuzweifeln. Diese und andere Vordenker wurden meist nur im Zusammenhang mit der Nomen­ klatur erwähnt. Ihren Theorien wurde allem Anschein nach keine besondere Auf­ merksamkeit zugemessen. Warum nahm Garengeot nicht das Mikroskop zur Hilfe, um tiefer in die Struktur der fraglichen Materie einzudringen? Stattdessen begnügte er sich mit den aus Versuchen geschlossenen Annahmen Malpighis und Ruyschs, die das Cerebrum als Drüse (»corpus secretorium oder glandulosum« 793 ) angesehen hatten.794 Sich der Schwierigkeit seines Vorhabens, das Gehirn erklären zu wollen, bewusst, wollte 787 788 789

790 791 792 793 794

Viscera (pl.) lat., im Inneren der Schädel­, Brust­, Bauch­ und Beckenhöhle gelegene Or­ gane (Eingeweide). Garengeot (1744), S. 372, Hervorhebungen im Original. René Jacques Croissant de Garengeot, Splanchnologia sive Anatomia Viscerum, Das ist: Gründliche Abhandlung von allen Eingeweiden die in denen dreyen Cavitäten des menschlichen Cörpers enthalten; Mit Original-Figuren gezieret, Welche nach denen Cadaveribus gestochen worden […], Berlin 1744. Mischel war um 1730 Amtschirurgus in Berlin und Übersetzer von medizinischer Fachli­ teratur aus dem Französischen. Dies bezieht sich auf den dritten Teil, Welcher das cerebrum und die dazugehörigen Theile betrachtet, vgl. ebd., S. 347–398. Ebd., S. 375. Garengeot (1744), S. 375. Vgl. Kapitel 3.2.5.1.

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Garengeot »die Physic, nicht weniger auch die mechanischen Folgerungen solchen Leu­ ten überlassen, welche entweder mehr erleuchtet, oder von fruchtbarerer Einbil­ dung« 795 waren. Letzteres deutet an, was er von den Forschungsergebnissen einiger seiner Vorgänger gehalten haben mag. Eine Theorie des Gehirns als Sitz der Seele wird von Garengeot weder rezipiert noch selbst entworfen. Allerdings wollte er nach eigenem Bekunden auf klären, die Dinge ohne »Dunckelheit« 796 zeigen. Dazu beschrieb er die äußeren Merkmale der einzelnen Hirnteile mit großer Sorgfalt und ließ sie im Anhang auf drei Kupfertafeln darstellen. Diese sind nach einem eingefärbten Wachsgehirn gezeichnet, das der fran­ zösische Chirurg Robert François Ruffel797 hergestellt hatte: »Ehe wir aber zur Erklä­ rung dieser und der beyden folgenden Figuren schreiten, so muß man wissen, daß sie nach einem gefärbten wächsernen cerebro davon Mr. Ruffel, ein Pariser Chirurgus, Auctor ist, abgezeichnet worden« 798 . Dieses Vorgehen war nicht unüblich, da es noch im­ mer keine zufriedenstellende Methode zur Stabilisierung und Konservierung der empfindlichen Hirnpräparate gab. Bevor er die drei Gehirntafeln in einer Legende beschreibt, preist der Autor zu­ nächst ihre Qualität: »[N]iemalen ist eine Sache mit dem natürlichen so genau über­ ein gekommen als dieses Stück.« 799 Garengeot erklärte, noch kein Buch gelesen zu haben, welches ihm »eine rechte Abbildung von der äussersten Figur« 800 der weißen Hirnsubstanz (substantia medullaris oder alba) habe geben können. Er selbst habe durch sorgfältiges Sezieren die »Figur« 801 der weißen Substanz wahrnehmen können und ließ diese auf Tafel XVIII als weiße Fläche, versehen mit kleinen, zu Punkten ange­ ordneten Schraffuren, darstellen (Abb. 126). Doch das Eigenlob hält einer näheren Betrachtung nicht stand. Wie sein Landsmann Jean­Baptiste Bonhomme 802 , der sich bei den Tafeln des fünfzehn Jahre später veröffentlichten Traité de la cephalatomie 803 an Vesling und Casserio orientiert hatte, so sind auch Garengeots Tafeln in der Gehirn­ ikonographie des 17. Jahrhunderts verwurzelt. Bonhommes fünfte Tafel ist wie die achtzehnte Tafel Garengeots ein Horizontalschnitt, der allerdings etwas höher ansetzt 795 796 797 798 799 800 801 802 803

Garengeot (1744), S. 373. Ebd., S. 372. Nachgewiesen um 1753 in Paris. Garengeot (1744), S. 384. Hervorhebungen im Original. Ebd. Ebd., S. 374. Ebd., Figur meint in diesem Fall Gestalt. Bonhomme wurde Anfang des 18. Jahrhunderts geboren (erstmals erwähnt 1729) und ist wahrscheinlich der Vater von Joseph­Clément Bonhomme, der ebenfalls Arzt und Chi­ rurg in Avignon war, vgl. Brockliss (2002), S. 136ff. Jean Bonhomme, Traité de la cephalatomie, ou description anatomique. Des parties que la tête renferme. Ouvrage enrichi de Figures en taille douce, dessinées & gravées d’après nature. Par J. B. *** Chirurgien Juré d’Avignon, Avignon 1748.

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Abb. 126: Horizontaler Hirnschnitt, Tab. XVIII aus Splanchnologia sive Anatomia Viscerum, Garengeot (1744).

Abb. 127: Horizontalschnitt, der einen Ausschnitt der Balkenoberf läche und die herausgezogene Falx cerebri zeigt, Planche 5 aus Traité de la cephalatomie, Bonhomme (1748).

und so noch einen Ausschnitt der Balkenoberf läche (F) zeigt, der kurioserweise in eine Art gezeichneten Türrahmen eingefasst ist (Abb. 127). Garengeot zeigt das (Wachs)Gehirn sowohl im Horizontalschnitt als auch in der Basalansicht (Tab. XIX) ohne den es umschließenden Schädel (Abb. 128). In keinem der beiden Bilder ist die Hirnrinde durch Einfaltungen konturiert. An der Hirnbasis sind keine Nerven zu se­ hen, und die Blutgefäße sind grob eingezeichnet. Die Temporallappen scheinen zu fehlen. Eine Schnittf läche, die dann das Innenliegende zeigen müsste, fehlt ebenfalls. Garengeots Tafeln sind weder naturalistische Hirnbilder, noch können sie als gelungener Versuch einer Schematisierung gewertet weden. Diese visuellen Anachro­ nismen sind in der Tat Anzeichen dafür, dass die Hirnforschung und damit auch die Entwicklung des Hirnbildes im 18. Jahrhundert teilweise stagnierte. Dass dies aber insgesamt gesehen nicht der Fall war, zeigen die nächsten Beispiele.

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Abb. 128: Hirnbasis (ohne Temporallap­ pen), Tab. XIX aus Splanchnologia sive Anatomia Viscerum, Garengeot (1744).

FA RB ENS PI E L : GAU TI E R D’AG OT Y U N D TA R I N

Als eine der ersten vierfarbig gedruckten Anatomien erschien 1748 in Paris die Anatomie de la Tête 804 des Jacques Fabian Gautier d’Agoty (1717–1785).805 An diesem Werk ist besonders hervorzuheben, dass der als Autor genannte Gautier nicht als Anatom oder Chirurg, sondern als königlicher Hof kupferstecher (Graveur du Roi) in Erscheinung getreten war, der Einzige, dem Louis XV (1710–1774) dieses königliche Privileg ver­ liehen hatte.806 Gautier hatte für wenige Wochen der Werkstatt Jacob Christoph Le Blons (1667–1741) angehört und sich mit dessen Technik auseinandergesetzt. Le Blon 804 805 806

Jacques Fabian Gautier d’Agoty, Anatomie de la Tête, en Tableaux Imprimés qui representent au naturel le Cerveau sous différentes coupes, la distribution des Vaisseaux dans toutes les Parties de la Tête, les Organs des Sens, & une partie de la Névrologie […], Paris 1748. Vgl. S. 54. Gautier d’Agoty (1748), Titelblatt: »seul Previlégié du Roy pour cet Ouvrage«.

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gilt als Erfinder des Drei­ und Vierfarbendrucks und hatte 1737 von Louis XV für zwanzig Jahre das Recht erhalten, Bilder mit drei Platten zu drucken.807 Gautier ließ nichts unversucht, Le Blon den Titel des Erfinders des Farbdrucks streitig zu machen. Le Blon war zwar zum Zeitpunkt des Erscheinens von Anatomie de la Tête bereits tot, dennoch musste Gautier lange mit seinen Erben über das königliche Privileg streiten, bis es ihm selbst erlaubt war, mit mehreren Farbplatten zu drucken.808 Sarah Lowengard betont, dass der Bedarf an günstig zu reproduzierenden anato­ mischen Abbildungen für Medizinstudenten zu dieser Zeit in Europa immens war. Dies sei von Lehrenden der Anatomie und Buchdruckern erkannt worden. Es scheint, als schreibe sie diesem speziellen Bedarf katalytische Kräfte bei der Entwicklung des Farbdrucks zu. Zusätzlich habe sich mit dem Farbdruck eine Methode geboten, Blut­ gefäße, Muskeln oder verschiedene Organe voneinander unterscheidbar zu machen, vorausgesetzt der Farbdrucker (colorist) sei sowohl in seinem Metier als auch in der Anatomie bewandert gewesen.809 Diese Voraussetzungen waren in Gautier, der so­ wohl Anatom und Mediziner als auch Künstler und Drucker war, wenngleich in kei­ ner dieser Disziplin herrausragend begabt, vereint. Die Präparate, nach denen Gautier zeichnete, malte, stach und schließlich in acht großen Tafeln farbig druckte,810 waren von dem Pariser Chirurgen und Anatomen Joseph­Guichard Du Verney (Duverney, 1648–1730) hergestellt worden. Im Bereich gedruckter Anatomien war diese Rollenverteilung, bei der der Künstler als Autor und der Anatom als zuarbeitender Handwerker auftrat, eher ungewöhnlich. Solche äuße­ ren Faktoren sind bei der Frage nach den Bildfunktionen bedeutsam. Das repräsenta­ tive Tafelwerk besticht weniger durch neue Forschungsergebnisse, sondern demons­ triert vielmehr die neuen Errungenschaften des Druckhandwerks. Dass die Technik zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgereift war, hat ebenso Einf luss auf die Bildquali­ tät wie der Umstand, dass Gautier keine herausragenden künstlerischen Fähigkeiten besaß. Dennoch besitzen die Bilder einen seltsamen Reiz, der wohl auch mit den Bildkompositionen zusammenhängt. Zunächst fällt auf, dass bis auf eine Ausnahme (vgl. Abb. 8) immer zwei Köpfe pro Tafel dargestellt sind, die meist miteinander im Dialog stehen bzw. einander zu­ gewandt sind. So scheint es, als ob die Figuren der fünften Tafel, zwei individuelle Köpfe eines dunkelhaarigen und eines blonden Jünglings, gebettet auf ein drapiertes Tuch, trotz ihres desolaten Zustandes einander noch Geheimnisse ins Ohr f lüstern (Abb. 129). Der Betrachter wird gewissermaßen Zeuge eines intimen Momentes zwi­ schen zwei anatomischen Präparaten. Der dunkelhaarige Kopf (Fig. 1) ist horizontal über dem Ohr aufgesägt und zum anderen Ohr hin hochgeklappt, sodass beide 807 808 809 810

Vgl. Kunz (1986), S. 1ff. Vgl. Lowengard (2006), www.gutenberg­e.org/lowengard/C_Chap12.html (1. 10. 2007). Vgl. ebd. Dessinées, Peintes, Gravées, & Imprimées en Couleur, wie es auf dem Titel heißt.

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Schnittf lächen einzusehen sind. Beim zweiten Kopf (Fig. 2) ist der Schädelknochen an verschiedenen Stellen in verschiedenen Ebenen zersägt. Vom Gehirn sieht man die von Hirnhaut überzogene, vom Betrachter aus linke Hirnhälfte über der Augenhöhle. Die zweisprachige Legende (Französisch­Latein) erklärt, welche verschiedenen Schich­ ten beim Präparieren der ersten Figur von außen nach innen durchschnitten wurden. Sie stellt dies äußerst ausführlich und anschaulich dar, wodurch beim gleichzeitigen Lesen und Betrachten der Text nicht nur das Bild ergänzt oder sichtbare Teile be­ nennt, sondern es überhaupt erst erschließt: Erst wenn ich lese, was ich sehe bzw. sehen soll, sehe ich es auch. Wie alle Abbildungen in der Anatomie de la Tête wirkt auch die Cinquiéme planche verschwommen. Soll der Einsatz von Farbe zum besseren Erkennen verschiedener Strukturen beitragen, so geschieht dies auf Kosten scharfer Umrisse und präziser gra­ fischer Strukturen. Die Farbe bereichert also nicht zwangsläufig das anatomische Bild, sondern nimmt ihm unter Umständen einige seiner größten Qualitäten. Eine bessere Orientierung im Bild ist daher nicht unbedingt gegeben. Die Farbe führt nicht (wie von Gautier vielleicht geplant) zur besseren Strukturierung der Bildinhalte. Allein der Eindruck davon, welches Farbspektrum der innere Körper hat, trägt nicht zu einem besseren Verständnis von Anatomie oder Physiologie bei. Wie schon im zweiten Kapitel besprochen so gilt auch hier: Methoden ›machen‹ keine Bildfunktion, aber sie nehmen unweigerlich Einf luss auf sie. Die ersten Versuche, mit Farbe zu ar­ beiten, wurden allerdings nicht paradigmatisch für einen Umgang mit ihrer metho­ dischen Anwendung. Schon ab etwa Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in der Mehr­ zahl der anatomischen Atlanten Farbe eingesetzt, und im 20. Jahrhundert ist sie nicht mehr daraus wegzudenken, übernimmt jedoch vielfach andere Funktionen als die, das Bild lebensnäher zu gestalten. Die Präparate sind aus interessanten und zu dieser Zeit eher ungewöhnlichen Blickwinkeln ›aufgenommen‹. Die erste Figur der sechsten Tafel zeigt einen Frontal­ schnitt auf Höhe des Kleinhirns (Abb. 130). Als Großhirnschnitt kennen wir diese Ansicht des Gehirns von Steno (vgl. Abb. 96). Bei Gautier werden solche Schnitte in­ nerhalb von Köpfen bzw. Schädeln gezeigt, und auch das Kleinhirn und der Schädel­ knochen samt Haut und Haar sind mit abgebildet. Dies ist auch in der vierten Tafel, einer Profilansicht des Kopfes, der Fall (vgl. Abb. 8). Etwa um die Zeit, als Camper die »new manner of drawing portraits in profile« 811 anwandte, wurde auch das Gehirn vermehrt im Profil dargestellt. Was Steno bereits vorgeführt und Soemmerring zur Perfektion gebracht hatte, war eine Mediosagittal­Ansicht des Gehirns. Die entspre­ chende Tafel Gautiers ist zugleich diejenige, welche die Vorteile des Farbdrucks am deutlichsten herausstellt: Die Verbindung von Gehirn und Körper wird hier in schein­ bar ungesehener Weise evident. Wodurch erhält der Betrachter diesen Eindruck eines neuen Einblicks? Obwohl der Verlauf der Nerven im Rückenmark schon ungleich 811

Cogan, in Camper (1821), S. xi.

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Abb. 129: Horizontaler Hirnschnitt im aufgesägten und aufgeklappten Kopf (Fig. 1) und Kopf von vorn mit freigelegtem Frontallappen (Fig. 2), Tab. 5 aus Anatomie de la Tête, Gautier d’Agoty (1748). Siehe Farbtafel X.

genauer demonstriert worden ist, und auch andere Anatomen das Gehirn bereits we­ niger als autarke Funktionszentrale gezeigt hatten, sondern, ebenso wie Gautier es hier tut, seine Einbindung in den Körper betonten, verleiht die Farbe dem Objekt eine Fleischlichkeit, die es dem Status eines anatomischen Präparates enthebt. Durch die Farbe – Rot steht für Blut steht für Leben – wird der Eindruck lebendigen Fleisches evoziert. Diese Leiblichlichkeit vermochten zwar einige Ausnahmeerscheinungen unter den Illustratoren auch ins nicht­farbige Bild zu legen, das Beispiel Gautiers zeigt sie jedoch durch den Einsatz von Farbe auf die Spitze getrieben. Bei Gautiers Werk handelt es sich explizit um eine Anatomie des Kopfes und nicht um eine des Gehirns. So wird das Gehirn bis auf wenige Ausnahmen als Teil des Kopfes dargestellt. Der Schädelknochen dient dabei als Gefäß, in dem das Gehirn präsentiert wird, was nicht zuletzt auch sektions­praktische Gründe gehabt haben könnte. Er wird aber auch selbst zum Forschungsobjekt. Dies hat schon seit Dryanders bildlicher Sektion eines Kopfes oder seit Vesals Hauptfiguren Tradition. Für Gautier

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Abb. 130: Frontaler Hirnschnitt auf Höhe des Kleinhirns im aufgesägten und aufgeklappten Kopf (Fig. 1), Kopf, bei dem der obere Teil der vorderen Hemisphäre entfernt wurde (Fig. 2) und hinterer Teil eines horizontal zersägten Schädels mit Blick auf eine Kleinhirn­ hälfte (Fig. 3), Tab. 6 aus Anatomie de la Tête, Gautier d’Agoty (1748). Siehe Farbtafel X.

war sicherlich einer der Hauptgründe, den ganzen Kopf einzubeziehen, das Spektrum verschiedener Stoff lichkeiten zu erweitern, die durch die Farbigkeit zur Geltung kom­ men sollten: Haar, Haut, Knochen etc. – kurz: eine visuelle Promotion der eigenen Drucktechnik. Diese Annahme wird von den Eigenschaften des Selbst­ und Wis­ senschaftsverständnisses Gautiers bestärkt, wie sie Lowengard beschreibt: Gautier, der neben einer Newton widersprechenden Farbenlehre sogar eine eigene wissenschaft­ liche Theorie der Welt entworfen hatte, verstand sich sowohl als Wissenschaftler als auch als Kunst­Unternehmer (artisan-entrepreneur). Ein öffentliches Engagement für die Wissenschaften war in seinen Augen »a useful promotional tool« 812 . Dieses Werk­ zeug diente dazu, seine Kunst zu verkaufen, und dazu, für sich selbst zu werben. Ein Privileg des Königs musste nach diesem Verständnis die Öffentlichkeit vom Wert seiner 812

Ebd.

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wissenschaftlichen Theorien als auch von dem seiner Kunst überzeugen.813 So ist die Anatomie de la Tête denn auch Louis XV gewidmet, der als Förderer der Künste und Wissenschaften zur Zeit der französischen Auf klärung (Siècle des Lumières) gilt. Durch die Widmung wird seine Macht indirekt in den Bildern repräsentiert: Sie zeigen, wel­ che wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten unter seiner Herrschaft gege­ ben waren. Zusammen mit der Macht des Königs sind Gautiers eigene Größe und sein Wissen in den Bildern repräsentiert. Auch sie sind also ein ›promotional tool‹, um diese Aspekte seiner Persönlichkeit einem breiten Publikum zu kommunizieren. Zwei Jahre später, 1750, erschien ebenfalls in Paris die Adversaria anatomica 814 des Arztes Pierre Tarin (Peter Tarin, Tarinus, 1725–1761). Das zweifarbig gedruckte Buch han­ delt ausschließlich von der Anatomie des Gehirns. Das Zentralorgan ist aber nur eines von vielen anatomischen Gebieten, auf die Tarin sein Forschungsinteresse richtete. Außerdem übersetzte er Haller ins Französische und wirkte an Denis Diderots (1713– 1784) Encyclopédie mit, die von 1754 bis 1765 erschien, hauptverantwortlich für die Artikel zur Anatomie und Physiologie. Eine dort abgedruckte Gehirn­Tafel (Pl. XIV) 815 wurde von Cowper bzw. Ridley übernommen (vgl. Abb. 120), die folgende (Pl. XV) ist eine Kombination von Figuren der drei zweifarbigen Tafeln, die Tarin für die Adversaria anatomica herstellen ließ. Was die größere Gruppe nichtfarbiger Stiche angeht, die den drei Farbtafeln fol­ gen, kann die Adversaria anatomica als eine Geschichte der hirnanatomischen Abbildung angesehen werden. Auf großen Tafeln werden alle wichtigen historischen Positionen von Hundt über Berengario, Dryander, Bartholin, Vesal bis zu Steno und Willis zu­ sammengestellt. Eine nähere Beschreibung und Kritik dieser Abbildungen wäre in diesem Rahmen zu umfangreich. Wir konzentrieren uns im Folgenden ausschließlich auf die drei originären Tafeln und ihre als Umrisszeichnung ausgeführten Legenden. Die farbigen Drucke wurden vermutlich von Jean Robert (ca. 1740–1780), einem Schüler Le Blons, angefertigt. Robert druckte mit nur zwei Platten und verwendete dabei die Farben Rot und Schwarz. Einer Tafel mit nummerierten Umrisszeich­ nungen steht bei Tarin immer eine identische ohne Nummerierung gegenüber – eine Technik, die Vicq d’Azyr 1786 übernehmen sollte. Dabei ist es mühselig, der Legende zu folgen: Einige der Buchstaben in den einzelnen Umrisszeichnungen bezeichnen jeweils die gleichen Hirnteile, aber eben nicht alle. Darauf wird in der Legende zwar immer wieder hingewiesen, es erleichtert die Zuordung jedoch nur geringfügig. Auf der jeweils farbigen Tafel werden durch die Anwendung farbiger Schraffuren und 813 814 815

Vgl. ebd. Petro Tarin, Adversaria anatomica, De omnibus Corporis humani partium, tum descriptionibus, cum picturis, Adversaria anatomica Prima, De omnibus cerebri, nervorum & organorum functionibus animalibus inservientium, descriptionibus & iconismis, Paris 1750. Abb. vgl. Zill (1979), S. 107.

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grafischer Muster Räumlichkeit und Struktur der dargestellten Hirnschnitte oder ­teile verdeutlicht. Die erste Tafel ist im Querformat abgedruckt (Abb. 131 und Abb. 132). Ein hori­ zontal aufgesägter Schädel der auseinander geklappt beide Schnittf lächen preisgibt, nimmt die untere Hälfte des Bildes ein. Seine linke Hälfte ermöglicht so den Blick von oben in die eröffneten Seitenventrikel, während die rechte Hälfte zu einem Blick von unten in das Ventrikeldach verhilft. Darüber sind Detailfiguren verschiedener Organ­ formationen abgebildet, die jeweils in einem topologischen Zusammenhang stehen, wodurch wiederum funktionale Zusammenhänge zumindest angedeutet werden. Bei­ spielsweise bilden die zweite und dritte Figur den gleichen Ausschnitt des optischen Thalamus mit den umliegenden Strukturen in zwei verschiedenen Schnitttiefen ab. Obwohl er ebenfalls Farbe verwendete, unterscheiden sich Tarins Bilder in den Darstellungsmethoden sehr von denen Gautiers. Wo Gautier idealisierend nach einem naturalistischen Ausdruck strebt, sind Tarins Bilder nicht nur in den Umrisszeich­ nungen schematisierend angelegt. Die Strichführung ist klar und vereinfachend. Die Rottöne, die sich aus der Mischung mit dem Weiß des Papiers ergeben, sind innerhalb der eingegrenzten Flächen nur geringfügig abgestuft, die Muster klar definiert und auf die jeweilige Struktur begrenzt. Perspektive spielt in Tarins Bildern, wie z. B. die dritte Figur der zweiten Tafel zeigt, kaum eine Rolle (Abb. 133). Auch ästhetische Er­ wägungen bezüglich der Komposition der Tafeln scheinen nicht vorrangig gewesen zu sein. So sind die Tafeln zwar symmetrisch angelegt, doch wird die Achsensymme­ trie mit dem Hirnstamm als Mittelachse nicht eingehalten. Zudem ›endet‹ die Figur des mediosagittal geschnittenen Gehirns der zweiten Tafel (Fig. 1) unterhalb der Schädelbasis bzw. des Hirnstammes, sodass der Oberkiefer noch mit abgebildet ist, der Kopf darunter jedoch vom Bildrahmen beschnitten wird. Haare sind bei Tarins Köpfen kein individuelles oder gar verschönerndes, sondern ein biologisches Merk­ mal. Auf Tarins dritter Tafel sind zwei Klapp­Köpfe abgebildet, die auf unterschied­ lichen Ebenen frontal gesägt bzw. geschnitten sind (Abb. 134). Wie in der oben be­ schriebenen horizontalen Variante ergeben sich jeweils zwei Blickrichtungen (anterior und posterior). Die einzelnen Teile, wie sie in bis dahin üblichen Horizontalschnitten zu sehen sind, habe ich bereits umfassend beschrieben. Bilder von Frontalschnitten dagegen, waren zu diesem Zeitpunkt noch eher selten Teil der Ikonographie des Ge­ hirns. Daher erfolgt hier am Beispiel der dritten Tafel Tarins eine knappe Zusammen­ fassung dessen, was aus dieser Perspektive zu sehen ist: Die obere Figur (Fig. 1) ist auf Höhe der Hypophyse (a) bzw. des Infundibulums (&) geschnitten. Die Hirnrinde (N) ist auf beiden Seiten mittig tief zur Fossa Silvii (O) eingefaltet. Unter dem Balken (Q), der beide Hemisphären miteinander verbindet, liegt jeweils das dunkel schraffierte Vorderhorn des Seitenventrikels (T). Darunter, ebenso grau­rot gefärbt wie die Hirn­ rinde, liegt der Streifenkörper (U). In der zweiten Figur geht der Schnitt durch die Hinterhörner des Seitenventrikels (L). In der rechten Schnittf läche erkennt man, u. a.

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Abb. 131: Horizon­ taler Hirnschnitt im aufgesägten und aufgeklappten Kopf knapp unter dem Dach des Seiten­ ventrikels (Fig. 1), kleine Figuren von Detailstrukturen um den optischen Thalamus, Chiasma opticum, Hirn­ stamm und Ventri­ kelwand (Fig. 1–5), Tafel I aus Adversaria anatomica, Tarin (1750).

Abb. 132: Umriss­ Legende der ersten Tafel Tarins (Abb. 131), Tafel I aus Adversaria anatomica, Tarin (1750).

weil die Ohren von hinten zu sehen sind, auf welcher Höhe der Schnitt ansetzt. Der Plexus choroideus (R) in den Ventrikeln ist in Rot hervorgehoben. Ein helles Rosa ist der unter dem Balken (S) befindlichen Vierhügelplatte (Nates (T) und Testes (U)) nebst Zirbeldrüse (V) vorbehalten. Darunter ist das Kleinhirn (M, N, O) so geschnit­ ten, dass zwischen seinen Hemisphären der Eingang zum vierten Ventrikel und das verlängerte Mark (a–g) bis ins aufgeschnittene Rückenmark (h) zu erkennen sind.

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Abb. 133: Mediosagittal geschnittenes Gehirn im Schädel (Fig. 1), mediosagittal geschnittener und aufgeklappter Hirnstamm samt Kleinhirn (Fig. 2), horizontal geschnittenes Gehirn auf Höhe des Chiasma opticum (Fig. 3), Tafel II aus Adversaria anatomica, Tarin (1750). Siehe Farbtafel XI.

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Abb. 134: Auf zwei verschiedenen Ebenen frontal geschnittene Gehirne auf Höhe der Hypophyse (Fig. 1) und durch die Hinterhörner des Seitenven­ trikels (Fig. 2), Tafel III aus Adversaria anatomica, Tarin (1750). Siehe Farbtafel XII.

Auffällig ist, dass die Gehirnschnitte in den einzelnen Tafeln wie schon bei Gautier nicht aus dem Kopf gelöst, als singuläres Organ auftreten, sondern jeweils in den Kopf integriert sind, zumindest so weit, wie dieser nicht durch den Bildrahmen beschnitten wird. Ein Vergleich der Tafeln beider französischer Gehirn­ bzw. Kopfa­ natomien zeigt, dass es zu etlichen Überschneidungen in der Wahl der Schnittrich­ tungen oder Ansichten kommt. So wurde Tarin zu seiner ersten Tafel vielleicht von der fünften Gautiers angeregt (vgl. Abb. 129 und Abb. 131). In der Schnitttechnik sind auch Tarins dritte und Gautiers sechste Tafel vergleichbar (vgl. Abb. 134 und Abb. 130). Ebenso korrespondieren Tarins zweite Tafel mit der vierten Gautiers (vgl. Abb. 133 und Abb. 8). Allerdings habe ich keine Angaben darüber gefunden, wie lange ihre Drucke jeweils in Vorbereitung waren. Beide Autoren verlegten ihre Bücher in Paris und hatten sie wahrscheinlich auch dort geplant. Das bedeutete in Tarins Fall, dass er Kommissionen an Zeichner, Stecher und Drucker vergeben musste, wogegen bei Gautier alle Arbeitschritte in einer Hand (seiner eigenen) lagen, was ihm ein sehr viel schnelleres Arbeiten ermöglichte. Zudem leistete Tarin noch die gewaltige wissen­ schaftshistorische Arbeit, die Hirnbilder seiner Vorgänger in großer Zahl abzubilden

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und zu beschreiben. Es ist demzufolge nicht auszuschließen, dass Tarin sich schon länger mit der Gehirnanatomie befasst und die Zeichnungen in Auftrag gegeben hat­ te, noch bevor sich Gautier entschloss, eine dreifarbig gedruckte Hirnanatomie zu veröffentlichen. Es spricht wenig dagegen, dass sich auch Gautier an Tarins Tafeln orientiert haben könnte. Schwerpunktmäßig haben die Abbildungen beider Werke in der Tat ganz unter­ schiedliche Funktionen. Gautier nutzte sie als Instrument der Vermarktung seiner Drucktechnik, seiner Theorien und letztlich auch seiner Person, als jener Wissenschaft­ ler, als der er öffentlich und von Seiten des Herrscherhauses wahrgenommen werden wollte. Tarin, der versierte Mediziner und Anatom, verfolgte andere Ziele. So sind zwar die eigens für ihn erstellten Bildtafeln denen seiner Vorgänger vorangestellt und durch Farbe hervorgehoben, dennoch ist in der Adversaria anatomica seine eigene wis­ senschaftliche Arbeit innerhalb der (Bild)Tradition seines Faches präsentiert. Im Buch ist Wissen zusammengefasst und strukturiert. Durch zuvor selten publizierte Schnitte eröffnet es neue Einblicke. Tarin zeigt hier den Kanon der Hirnbilder auf und gibt sich selbst in diesem Bilderkosmos zwar einen exponierten, aber doch angemessenen Platz. M AY E R S SE E L EN ­FÄCH E R

Johann Christoph Andreas Mayer (1747–1801) lehrte Medizin und Anatomie und war zudem Leibarzt des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II. Seine Anatomisch-Physiologische Abhandlung vom Gehirn war, wie der Untertitel besagt, [ f ]ür Ärzte und Liebhaber der Anthropologie bestimmt.816 Wie sein großes Vorbild Haller war auch Mayer einer Äquipotenztheorie zugeneigt, die das ganze Gehirn als Wirkungsbereich seelischer Kräfte ansah. Dennoch konnte er, wie schon Haller, es nicht gänzlich lassen, den einen Wohnsitz zu suchen und benannte ihn schließlich auch. In seiner Vorrede verdeutlichte Mayer, dass die Kenntnis des Ortes der Seele einer Kenntnis ihrer Wirkung diene: Keinem denkenden Geschöpfe kann eine Begierde angemessener seyn, als die: den Wohnplatz seiner Seele kennen zu lernen; und ich glaube, mit Recht behaup­ ten zu können: dass diese Kenntniß nicht allein für den Arzt von ausserordent­ lichem Nutzen sey, sondern daß man auch allemal mit ihr den Anfang machen müsse, wenn man über die Wirkungen der Seele sichere Untersuchungen anstel­ len will.817

816 817

Johann Christoph Andreas Mayer, Anatomisch-Physiologische Abhandlung vom Gehirn, Rükkenmark, und Ursprung der Nerven. Für Ärzte und Liebhaber der Anthropologie bestimmt, Berlin, Leipzig 1779. Mayer (1779), Vorrede, o. S.

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Die Elemente der Seelentheorie Mayers waren nicht neu. Im Gehirn, das »im Ganzen genommen, die Werkstatt unsrer Seele ist«, sammeln sich »die Eindrücke unserer Empfindungen« und »nach seinen Würkungen [werden] die Handlungen des Körpers angeordnet.818 Mit anderen Worten: Während die Seele unmittelbar im Gehirn wirkt, wirkt der Körper dort nur mittelbar. Als Fähigkeiten der Seele tauchen die tradierten Begriffe auf: Sammlungsort innerer Eindrücke oder Empfindungen (unschwer mit Senso commune zu übersetzen), Nachdenken, Wille und Gedächtnis. Seele und Le­ ben werden dabei gleichgesetzt. Das Gehirn wird als Ort apostrophiert, der den »Sitz des Lebens« 819 in sich habe. Gleichzeitig sei bewiesen, dass es Hirnverletzungen gebe, die nicht zum Verlust des Lebens führten. Aus diesem Gedanken folgt, dass man, um den Wohnsitz der Seele im Gehirn zu ermitteln, nachweisen muss, welcher Teil des Gehirns lebensnotwendig ist. Um dieses zu bewerkstelligen, schlug Mayer vor, drei Untersuchungen durch­ zuführen: Erstens müssten Krankheiten und Verletzungen des Gehirns beobachtet und durch Leichenöffnungen bestätigt werden; zweitens sei die vergleichende Anato­ mie anzuwenden, da »die Natur, zur Hervorbringung des bloß thierischen Lebens, nur die unumgänglich nöthigen Theile des Gehirns […] schuf«; und drittens bringe eine Erforschung der Ursprünge der Hirnnerven Gewissheit, besonders derer, die zu Herz und Lunge führten, jenen Organen, die die Lebensverrichtungen bewirkten.820 Alle drei Untersuchungsfelder brachten Mayer zu dem Ergebnis, dass sich der Sitz der Seele im verlängerten Mark (Medulla oblongata) befindet. Indem er ergänzend die Frage stellte, ob in dem ermittelten Seelensitz alle see­ lischen Verrichtungen abliefen, oder ob »die Bearbeitungen der einzelnen Seelenkräf­ te in einzelnen besonders dazu organisirten Theilen des Gehirns« vorgenommen würden, wagte er sich noch weiter »in dieses äusserst spitzfindige Feld der philosophi­ schen Physiologie« vor.821 Ganz dem kartesianischen Dualismus verpf lichtet, ergänzte Mayer seine Frage in einer Fußnote um die Bemerkung, dass er diese wohl stellen könne, ohne des Materialismus beschuldigt zu werden. Die Natur der menschlichen Seele, nach der hier gefragt werde, sei eine geistige, die weder vom vollkommensten Geist noch von Gott zu trennen sei. Nach Auswertung diverser angeführter Beispiele kam Mayer zu dem Ergebnis, dass die Seele in der Tat in unterschiedlichen Hirnregio­ nen ihren verschiedenen Aufgaben nachgeht. Im Text wird eine Theorie erläutert, die es erlaubt, die geistige Entwicklung eines individuellen Gehirns zu erklären. Dass ein gesundes Gehirn jedem anderen gesunden völlig ähnlich sei, werfe die Frage auf, warum sich nicht jede Idee in jedem

818 819 820 821

Ebd., S. 33. Ebd., S. 34. Ebd., S. 34f. Ebd., S. 38f.

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Menschen entwickle. Mayer beantwortete diese Frage in einer Weise, bei der es sich lohnt, sie mit dem Stand heutiger Hirnforschung zu vergleichen: weil sich die Seele ihre Wohnung ausbauet; jede Empfindung der Sinne des Kör­ pers, auf welche sie Aufmerksamkeit richtet, und ihren dadurch bestimmten Ge­ danken in einzelne Fächer anordnet; und jede dazu nöthige Faser des Gehirns um desto beweglicher und gewandter macht, je öfter sie derselben bearf.822

Mayer beschrieb hier letztlich Lerneffekte als Ausdehnung der Seele: Durch wieder­ kehrende Reize schafft sich die Seele mehr Raum im Gehirn. Dabei gestand er dem Gehirn des erwachsenen Menschen geringere »Receptivität« zu, als dem kindlichen. So seien besonders wenig oder nicht genutzte Fächer »mit weit schwererer Mühe brauchbar zu machen, weil ihre Fasern zu steif sind«. Beim Kind dagegen sei das Ge­ hirn noch weich und daher verstärkt aufnahmefähig.823 Mit dieser Beurteilung cere­ braler Aggregatzustände argumentierte Mayer im Sinne Boerhaaves und entgegen La Mettrie. Hier eröffnet sich ein Zugang zu diversen Hirnfunktionstheorien, die über den Versuch einer physischen Ortsbestimmung von Seele hinausweisen. Obwohl Mayer entgegen der Äquipotenztheorie die Seele an einem distinkten Ort lokalisierte, be­ schrieb er doch die Art ihrer Wirkung als auf das gesamte Gehirn bezogene Entwick­ lung – gleichsam als eine Vereinnahmung des Gehirns, ausgehend vom verlängerten Mark. Damit manifestierte er die Forschungsmeinung Hallers gegen die Lokalisa­ tionstheorie Willis’. Bei Mayer war der Seelensitz jedoch lediglich Ausgangspunkt: Von ihm aus dehnt sich die Seele mit ihren Funktionen gleich einem Ballon aus, bis alle ›Fächer‹ des Gehirns gefüllt sind. Die stabilen, nicht ausgebildeten oder wieder verkümmerten Fasern, die wie Leiterbahnen zu den jeweiligen Wirkungsorten füh­ ren, lassen an Synapsenverbindungen denken. Verstärkte Lernfähigkeit im Kindes­ alter, größere Gedächtnisleistung durch Übung oder die Notio, dass »für die einzelnen Kräfte der vernünftigen Seele einzelne besonders organisirte Theile des menschlichen Gehirns bestimmt sind« 824 , sind Themen, die auch die zeitgenössische Hirnforschung noch verhandelt. Im Einzelnen hieß das, dass Mayer – wie Willis vor ihm – das Gedächtnis in der Hirnrinde und die Urteilskraft »in den inneren markigen Theilen des Gehirns« 825 ver­ mutete. Interessant ist, dass er die strikte Trennung zwischen den einzelnen Seelen­ vermögen auf hob. Die in allen markigen Teilen wirksame Einbildungs­ und Beurtei­

822

823 824 825

Ebd., S. 4.

Vgl. ebd., S. 42. Ebd. Ebd., S. 43.

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lungskraft sah er als »mit allen übrigen Seelenkräften so genau verbunden« 826 an. Mayer lokalisierte die Seelenvermögen mit Hilfe der Anatomie: Er verfolgte die Wege der Nerven und schloss daraus auf die relevanten Hirnareale. Der Text ist meist vorsichtig formuliert, die Vermutungen Mayers sind stets sorgfältig begründet.827 Mit Bestimmtheit äußerte sich Mayer allerdings in zwei Punkten: Weder die Zirbeldrüse noch die Hirnhöhlen828 , kamen für ihn als Seelensitz in Frage. Mayer lobte die Bilder, die Haller vom Gehirn veröffentlicht hatte. Diese seien für seine eigenen Zwecke nur insoweit unzureichend, als sie lediglich splanch­ nischen829 Zwecken hätten genügen müssen. Mit seinen eigenen Abbildungen geht Mayer, wie ich zeigen werde, methodisch über das von Haller Geleistete hinaus. Er hielt Bilder für unbedingt notwendig, um das Gehirn zu begreifen, denn es sei fast unmöglich »physiologische Beschreibungen, so gut wir sie auch haben, zu verstehen« 830 . In diesem Zusammenhang markiert er die Verknüpfung von Bild und Text: »Die ana­ tomische Beschreibung soll, mit den Kupfern zusammengehalten, im Stande seyn: die Lage und Ordnung der Theile, welche sich im Gehirne finden, zu erklären, und zu­ gleich die Art anzeigen, wie man dieselben in ihrer natürlichen Folge entdecken kann.« 831 Dieses Zitat verdeutlicht zum einen die Wechselwirkung, die zwischen Bil­ dern und Text besteht, und weist zum anderen darauf hin, dass nur die Verbindung beider Formen der Wissensgenese oder ­vermittlung zum Verständnis der jeweiligen Materie führt. So sind hier, wie bei anderen Beispielen, für die Autoren dies nicht so explizit herausgearbeitet haben, die Bildfunktionen nie unabhängig von den Texten zu sehen. Wissen – in diesem Falle der Hirnanatomie – wird geordnet und organisiert und die Wahrnehmung wird geleitet. Letzteres betrifft einmal mehr die Reihenfolge der Schritte einer Sektion, die Mayer als »natürliche Folge« bezeichnet, und die an­ hand der Bilder nachvollziehbar ist. Sehr deutlich stellte Mayer die Provinienz der von ihm verwendeten Bilder heraus und gab sowohl seine eigene Expertise, als auch die Kunstfertigkeit des Zeich­ ners als Richtschnur für genaues Abbilden an: »Die Zeichnungen von den Kupferta­ feln des Gehirns […] sind unter meiner sorgfältigen Aufsicht von einem unserer vor­

826 827

828 829 830 831

Ebd., S. 44f. Die genannten Faktoren können Mayers heutige Leser nur darüber in Erstaunen verset­ zen, dass die Wissenschaftsgeschichte ihm bisher anscheinend wenig Aufmerksamkeit schenkte. Obwohl er in vielen Punkten Hallers Lehrmeinung reproduzierte, bietet sein Text doch einiges Neue. Fast zwanzig Jahre später setzte sich Soemmerring über diese Einschätzung hinweg und reetablierte die Hirnhöhlen als Seelensitz, vgl. S. 394. Splanchnisch gr., viszeral, die Eingeweide betreffend. Mayer (1779), Vorrede, o. S. Ebd.

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Abb. 135: Hirnstamm von dorsal mit einer Kleinhirnhälfte, Tab. VII aus Anatomisch-Physiologische Abhandlung vom Gehirn, Mayer (1779).

züglichsten Künstler, nämlich dem Herrn Hopfer in Berlin, verfertigt worden, so daß ich für deren Genauigkeit stehen kann.« 832 Auf sieben der im Ganzen neun Tafeln, die Mayer veröffentlicht hat, sind das Gehirn oder Teile davon abgebildet. Die anderen beiden zeigen das Rückenmark nach Haller gestochen und einen geöffneten Schädel mit Schädelbasis.833 Mit dem ver­ längerten Mark verbundene Teile ließ Mayer zunächst in Nahaufnahme darstellen. In der siebten Tafel ist der Hirnstamm zunächst von dorsal dargestellt (Abb. 135). In sei­ ner Mitte befindet sich die heute so genannte Rautengrube (Fossa rhomboidea), der Boden des vierten Ventrikels, der die Form einer Raute bildet.834 Die markigen Schen­ kel der Zirbeldrüse (b), die »vierfache Erhabenheit« (d, f ) und der markige Querstrei­ fen des Gehirns (g) sind in sagittaler Richtung geschnitten. Dies dient dazu, Innenlie­ gendes wie die Wasserleitung des Sylvius (Aquaeductus Silvii) (k) und den geöffneten 832 833

834

Ebd. Der Schädel ist der Technik nach von Leonardo übernommen (Schädelstudien 19057r), der sie wiederum von den Mailänder Architekten übernommen hatte. Diese Methode erlaub­ te es, das Objekt im Bild durch Darstellung einer bestimmten Schnitttechnik von vier verschiedenen Seiten zu betrachten. Dabei blieben Schädelbasis und Gesichtsknochen un­ versehrt. Zu dieser Technik bei Leonardo vgl. Huard (1967), S. 57. Vgl. Kahle/Frotscher (2005), S. 100.

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Abb. 136: Innenraum des lateralen Ventrikels auf dem Umriss der entsprechenden, horizontal geschnittenen Großhirnhälfte, Tab. IV aus Anatomisch-Physiologische Abhandlung vom Gehirn, Mayer (1779). Abb. 137: Hirnbasis, Tab. VIII aus AnatomischPhysiologische Abhandlung vom Gehirn, Mayer (1779).

vierten Ventrikel (l) besser sichtbar zu machen. Unter der Vierhügelplatte entspringt das vierte Paar der Hirnnerven (Nervus trochlearis) (h). Vom Kleinhirn (s) wurde eine Hälfte entfernt und die verbleibende zurückgebogen, damit sie das verlängerte Mark (m) nicht verdeckt. Mayer beschreibt markige Streifen, durch die »der weiche Theil des Gehörnervs in der vierten Höhle entspringt« 835 . Der Thalamus und Tractus opticus, in der Legende als innere »Kontur der Wurzeln der Sehnerven« 836 (a) be­ zeichnet, ist nur als Kontur festgehalten. Was sich hier nur andeutet, ist in der vierten Tafel perfekt umgesetzt (Abb. 136): Innerhalb eines Bildes sind schematische und naturalistische Darstellung funktional miteinander verknüpft. Das Schema, eine einzelne, horizontal geschnittene Hemi­ sphäre, ist in zarten Umrisslinien dargestellt, eine Technik, die wir später auch bei Vicq d’Azyr finden (vgl. Abb. 142). Mayer betont das Offensichtliche in der Legende: »Der Umfang der rechten Halbkugel des Gehirns ist skizziert.« 837 Die Skizze dient der Standortbestimmung des räumlich ausformulierten Objekts, bildet die Folie, auf der der rechte Innenraum des lateralen Ventrikels (c) gezeigt wird. An dieser Stelle be­ schreibt Mayer seine Schnitttechnik und das, was durch Schnitt und Manipulation im 835 836 837

Mayer (1779), S. 64. Heute werden diese markhaltigen Nervenfasern als Striae medullares bezeichnet. Ebd. Ebd., S. 62.

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Bild gezeigt wird. Darüber hinaus fordert er den Leser/Betrachter auf, Dinge zu sehen, die nicht dargestellt sind: »Die Große Höle der linken seite, welche bedeckt liegt, muß man sich ebenfalls aufgeschnitten denken.« 838 Die durchsichtige Scheidewand (d), die beide Seiten des Ventrikels trennt, ist hier zwar nicht transparent visualisiert, aber ihr Bild, zusammen mit der Information, sie sei durchsichtig, vermag nach An­ sicht des Autors, die Vorstellungskraft entsprechend anzuregen, damit das, was er dar­ stellen will, aber aus technischen Gründen nicht darstellen kann, vor dem inneren Auge sichtbar wird. Mit Text und Bild stellt er eine Simulation her. Erst in der achten Tafel bindet Mayer die Medulla oblongata in eine Basalansicht des ganzen Gehirns ein (Abb. 137). Mit wenigen Schnitten erweitert er das Reper­ toire der basalen Ansichten. Dadurch kommen sowohl der vordere und hintere mar­ kige Schenkel des Kleinhirns (m, n), als auch das Marklager des Großhirns (c) zum Vorschein. Da kein einziges Blutgefäß abgebildet ist, wird dem Betrachter eine Kon­ zentration auf die Hirnnerven und ihre Ursprünge bedeutend erleichtert. Abgebildet ist also kein natürlich vorgefundener Zustand, sondern ein künstlich hergestelltes Ob­ jekt. Dies gilt in gewisser Weise natürlich für jedes Präparat, was schon der Begriff impliziert. In diesem Bild aber wird der Eingriff des Präperators nicht verschleiert, sondern er wird zur Methode erhoben. Durch Auswahl bestimmter Formen und Strukturen, und indem andere, in der gewählten Fragestellung (nach den Hirnner­ ven) unwichtige Teile entfernt bzw. im Bild weggelassen werden, stellt das Bild Ord­ nung her. Eine Gefahr der Verwechslung von Nerven und Adern besteht unter keinen Umständen. Das Ziel der Abbildung, Ursprung und Lage der Hirnnerven zu zeigen, wird erreicht. Eine Antwort auf die Frage, ob sich die jeweils aktuelle Theorie über den Sitz der Seele im Gehirn an ihren jeweiligen Bilderzeugnissen ›ablesen‹ lässt, fällt auch bei Mayer nicht ganz leicht. Zwar ließ er das verlängerte Mark in den von ihm in Auftrag gegebenen Zeichnungen besonders präzise und auch mehrfach mit allen von ihm aus­ gehenden Nervenenden darstellen. Liegt aber in der Präzision und Häufigkeit der Darstellung derjenigen Hirnteile, denen eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird, schon ein Urteil über deren Funktion? Mayer setzt in seinen Bildern seine For­ derung um, die Ursprünge der Hirnnerven zu erforschen, um das Lebens­ bzw. See­ lenorgan zu finden und zu illustrieren. Bei ihm ist das Bild im besten Sinne Illustrati­ on – anders gesagt: Es ist eine Demonstration des eigenen, in drei Schritten vollzogenen Gedankenexperiments.

838

Ebd.

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F É LI X V ICQ D’A Z Y R

Den Abschluss der Ausführungen zur Hirnforschung im 18. Jahrhundert bildet zu­ nächst das Werk Félix Vicq d’Azyrs (1748–1794). Er war Anatom, Naturforscher und Leibarzt Marie Antoinettes (1755–1793) in Paris. Sein Interesse galt der vergleichenden Anatomie. Ziel seiner Untersuchungen war es, Gehirne in einer Reihe darzustellen, um zu zeigen, wie sich beim ›Hinabsteigen‹ der Stufenleiter der Lebewesen die Bau­ weise des Gehirns immer stärker vereinfacht. Um Aussagen über die Natur einer Spe­ zies treffen zu können, hielt es Vicq d’Azyr für unabdingbar, die cerebrale Anatomie genau zu studieren.839 Nicht zuletzt basierte seine Hirnforschung auf moral­philosophischen Überle­ gungen, da er davon ausging, dass die grundlegende Veranlagung oder Natur einer Spezies in ständiger Relation zu ihrer Empfindlichkeit (la sensibilité générale), ihren Instinkten und Begierden, den Affekten und den intellektuellen Fähigkeiten stehen: »en un mot, avec tout ce que nous appelons le moral« 840 . In seinem groß angelegten Werk Traité d’Anatomie et de Physiologie 841, das 1786 in Paris erschien, wiederholte Vicq d’Azyr jene Methode, die Tarin bereits 1750 für seine Adversaria anatomica angewandt hatte. In der großformatigen französischen Anatomie wechseln sich 27 schwarzweiße schematische Abbildungen, deren einzelne Teile durch Zahlen bezeichnet sind, die wiederum im Text erklärt werden, mit dem jeweils dazu gehörigen Motiv in Farbe ab. Wie bei vielen seiner Vorgänger bestimmten nicht morphologische Erwägungen die Reihenfolge der Bilder, sondern der Ablauf der Sektion. Vicq d’Azyr arbeitete sich von den Hirnhäuten zum Inneren des Hirns vor. Auf der ersten Tafel ist das Organ noch mit Hirnhaut überzogen, auf Tafel III ist sie von der dem Betrachter zuge­ wandten Seite abgetrennt und hängt hinten in der Fissura longitudinalis herunter. Vicq d’Azyr orientierte sich an der seit Dryander (vgl. Abb. 42a–Abb. 42h) bestehen­ den Bildtradition, das Gehirn als Teil des Kopfes darzustellen, wobei die Schädelka­ lotte sauber abgetrennt wird, und die Kopf­ und Hirnhäute über Gesicht und Nacken herunterhängen (Abb. 138 und Abb. 139). Er bediente sich noch weiterer traditioneller Bildmittel, z. B. dem Trompe l’Oeil: Auf Tafel XV greift er, bildlich gesprochen, zu Nagel und Schnur, typischen Hilfsmitteln, um dem Betrachter die Unmittelbarkeit der Sektion und damit seine sehende Teilnahme zu suggerieren (Abb. 140). Seine Bil­ der haben dokumentierenden, fixierenden und konservierenden Charakter: Ein wei­ teres Element, das diesen Eindruck verstärkt, besteht in der darstellerischen Einbet­

839 840 841

Vgl. Clair (1993), S. 246. Vicq d’Azyr, zit. nach ebd. Félix Vicq d’Azyr, Traité d’Anatomie et de Physiologie, avec des Planches Coloriées. Représentant au naturel les divers organes de l’Homme et des Animaux, Tome Premier, Paris 1786.

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Abb. 138: Großhirnansicht: erster Schritt einer Hirnsektion, Planche III aus Traité d’Anatomie et de Physiologie, Vicq d’Azyr (1786). Siehe Farbtafel XIII.

Abb. 139: Umriss der dritten Tafel Vicq d’Azyrs mit bezifferten Hirnwindungen, Planche III aus Traité d’Anatomie et de Physiologie, Vicq d’Azyr (1786).

tung der Hirnschnitte in den Schädelknochen. In den Basalansichten ist das Gehirn jeweils losgelöst, als entkörperlichtes Organ dargestellt. Wie seine Landsleute Gautier und Tarin vor ihm, nutzte er die Farbe als neues grafisches Element. In der Mischung von roter und schwarzer Druckfarbe mit dem weißen Blatt reicht das Spektrum von Braun­ und Sepiatönen über Rosa­ und Fleisch­ farben bis hin zu leuchtendem Rot. Letzteres ist den Blutgefäßen vorbehalten. Gerade indem die Farbe bewusst sparsam verwendet wird, können mit ihrer Hilfe die ver­ schiedenen Strukturen von Hirn und Schädel nahezu fühlbar gemacht werden. So werden auf diese Weise im Bild z. B. Knochen fast fotografisch herausgearbeitet (Abb. 141). Ein wichtiger Aspekt der Hirnforschung Vicq d’Azyrs war es, die Hirnteile möglichst exakt zu benennen. Er fügte dabei der bestehenden Taxonomie etliche neue Begriffe hinzu. Des Weiteren war er bestrebt, die bestmögliche Sektionsmethode für das Gehirn zu finden. Von oben angefangen sollte es hierzu Schnitt für Schnitt hori­ zontal abgetragen werden. Dieses Vorgehen brachte Vicq d’Azyr viel Kritik ein. Man beschuldigte ihn, das Organ in eine Ansammlung von artifiziellen Details verwandelt

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Abb. 140: Horizontaler Hirnschnitt auf Höhe des Chiasma opticum, Tafel XV aus Traité d’Anatomie et de Physiologie, Vicq d’Azyr (1786). Siehe Farb­ tafel XIV.

Abb. 141: Frontaler Hirnschnitt durch die Organmitte und verschiedene Schnitte um das Chiasma opticum und durch das Ammonshorn (eine Hirnwindung im Hippocampus), Tafel XXVI aus Traité d’Anatomie et de Physiologie, Vicq d’Azyr (1786).

und die morphologische Tiefe (la profondeur morphologique) der Elemente aus dem Blick verloren zu haben.842 Kritik gab es aber nicht nur hinsichtlich der Sektionstechnik. So sollte Soemmer­ ring, dessen Tafeln von 1778 für Vicq d’Azyr vorbildlich waren, und der sich wiede­ rum in seiner Arbeit auf andere Tafeln Vicq d’Azurs bezog, dessen Tafelwerk später kritisieren.843 Vicq d’Azur übernahm Soemmerrings Tabula II als Planche XVIII. Das Bild ist bei Vicq d’Azyr allerdings um 90 Grad gedreht und die Nummerierung er­ folgt auf dem selben Blatt. Unten im Bild ist ein kleiner Textblock mit einer Art Copyright­Angabe eingefügt: »Nota. Cette planche extraite de l’Ouvrage de M r Soemmering, intitulé DE BASI ENCEPHALI, a été copiée très­exactement d’après

842 843

Clair (1993), S. 248. Vgl. S. 403.

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Abb. 142: Mediosagittaler Hirnschnitt mit und ohne Hirnstamm und Kleinhirn, Tab. XXV aus Traité d’Anatomie et de Physiologie, Vicq d’Azyr (1786).

l’original« 844 . Dass Soemmerring in diesem Fall vorbildlich für Vicq d’Azyr war, lässt Zweifel daran auf kommen, ob seine Planche XXV als Vorlage für Soemmerrings 1796 veröffenlichte, noch Jahrzehnte später hochgelobte Medialansicht des Gehirns gedient hatte, oder ob dieser sich an der eigenen Tafel von 1778 orientiert und sie ver­ bessert hatte (Abb. 142, vgl. Abb. 149 und Abb. 150).

844

Vicq d’Azyr (1786), Pl. XVIII.

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Kritik an Abbildungen zu üben, die Kollegen veröffentlicht hatten, war nicht unüblich. Im ersten Band des Traité d’Anatomie, der alle Legenden zum Tafelwerk des zweiten Bandes enthält, macht Vicq d’Azyr von dieser Methode der eigenen Stand­ ortbestimmung reichlich Gebrauch. Die ausführlichen Beschreibungen zu den Tafeln sind in fünf Partien unterteilt. Jeder dieser Abschnitte enthält einen Nachspann, der Réflexions historiques et critiques überschrieben ist. Dort werden, wie bei Tarin, anato­ mische Lehrmeinungen und Abbildungen von Vorgängern und Zeitgenossen detail­ liert besprochen. Jean Clair sieht im Traité einen Meilenstein, sowohl aufgrund der Qualität der Bilder und der Beschreibungen, als auch hinsichtlich der von Vicq d’Azyr vorgeschla­ genen methodologischen Synthese. Seine Forschung sah neben der Sektion am Men­ schen Studien in vergleichender Anatomie vor und beinhaltete sowohl Tierversuche als auch den Vergleich gesunder und krankhaft veränderter Organe.845 Zum Abschluss dieses Kapitels wird ein Bild behandelt, welches nicht das mensch­ liche Gehirn zum Thema hat. Es wird hier gezeigt, weil darin der Stellenwert der bildenden Kunst und somit des Bildes selbst gegenüber der Wissenschaft bzw. für sie zum Ausdruck kommt. Auf dem Titelblatt zum Traité ist neben den Allegorien der Wissenschaft und Medizin die der Künste zu sehen (Abb. 143). Der Künstler846 selbst äußert sich im Traité zu den Figuren. Die Frauengestalt neben dem Leichnam ist dem­ nach eine Personifikation des Studiums (l’Etude). Als Attribut trägt sie eine Lampe. Diese hat möglicherweise noch eine weitere Bedeutung: Die Flamme der Öllampe kann (wie die der Kerze) Symbol für die Seele sein – sie leuchtet und deutet so das ewige Leben der Seele an. Was hier aufgebahrt liegt, nämlich die zu sezierende Lei­ che, ist nurmehr leere Hülle. Die Lampenträgerin deckt den Leichnam auf und be­ leuchtet ihn für die zeichnende oder malende Frau (la Peinture) und die mittig stehende lorbeerbekränzte Schlangenträgerin (la Médicine). Lorbeer steht für das kluge Abwä­ gen, das einer Handlung vorausgeht, die Schlange vermag auf ein Leben nach dem Tod hinzudeuten, ist aber ebenfalls und hier hauptsächlich Sinnbild der Medizin. Die sitzende Malerin hält einen Skizzenblock auf den Knien. Neben ihr am Boden liegen eine Palette mit bunten Farbklecksen (hier sind die Druckfarbe Blau und verschie­ dene Mischtöne hinzugekommen) und ein Bündel mit Pinseln, die ein klassisches Attribut der Künste darstellen. Ausgestattet mit den Attributen Sanduhr, Harfe und Fackel schließen die oben im Bild schwebenden männlichen Figuren visuell und inhaltlich einen Kreis: In der Mitte schwebt auf einer Wolke Apollon mit der Harfe, der Gott der Medizin.847 Die 845 846 847

Vgl. Clair (1993), S. 246f. Es handelt sich um Beaublé, von dem bekannt ist, dass er Ende des 18. Jahrhunderts als Kupferstecher in Paris gearbeitet hat, vgl. Cetto, in Wolf­Heidegger/Cetto (1967), S. 289. Vgl. ebd., S. 198.

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Abb. 143: Frontispiz des Traité d’Anatomie et de Physiologie, Vicq d’Azyr (1786).

Sanduhr in der Hand der verkörperten Zeit (le Temps) deutet zum einen auf die Kunst des Wartens hin, ein Merkmal der Klugheit, zum anderen auf das Verrinnen der (Le­ bens)Zeit, das mit der Schlange korrespondiert. Der Fackelträger ist der Genius der Wissenschaften (le Génie des Sciences) Die Fackel als Symbol des Morgensterns (Eos­ phoros) bringt Licht ins Dunkel, ein Bild, das im 18. Jahrhundert für sich spricht. Sie lässt zugleich an die Morgenröte als einen Verweis auf ewige Jugend denken. 848

848

Vgl. Battistini (2003), S. 63, 88, 300f., 327, 360.

A U F K L Ä R U N G B E G I N N T I M KO P F

Vicq d’Azyrs allegorisches Blatt kann als Standpunktbestimmung der Anatomie gedeutet werden. Sie steht zwischen zwei Polen: dem Pol der verrinnenden Lebens­ zeit und dem des im Bild gebannten, somit unvergänglichen Körpers. Indem sie den toten Körper beredt macht, kann ihm die Anatomie zur Unsterblichkeit verhelfen. Zu dieser pathetischen Deutung, die einen tradierten Zugriff auf das Thema Anatomie wieder aufnimmt, kommt eine weitere: Das Bild kann als ein Statement des Ana­ tomen zur Bedeutung des Bildes in der Wissenschaft seiner Zeit gelesen werden. Die Allegorie der Malkunst seziert den Leichnam mit Zeichenfeder und Pinsel. Sie ist der Medizin gleichgestellt (wenn man ihre sitzende Position nicht als geringfügige Un­ terordnung deuten will). Auf keinem der vielen und reich ausgestalteten Frontispizen, die wir aus Anatomiebüchern vergangener Jahrhunderte kennen, wird dies so deut­ lich wie hier. Der Körper ist gewissermaßen enträtselt. Die Aufgabe der nächsten Forschergeneration ist es, sein Bild zu perfektionieren. * Wie wir gesehen haben, war Frankreich auch im 18. Jahrhundert ein Land, in dem Anatomen, Chirurgen und Mediziner beste Arbeitsbedingungen vorfanden, nicht zuletzt wegen ihrer guten Vernetzung durch die königlichen Gesellschaften849 . Neben den hier besprochenen Vertretern der genannten Disziplinen, Garengeot, Gautier d’Agoty, Tarin und Vicq d’Azyr, wären noch andere Namen zu nennen oder weiter auszuführen, wie Bonhomme oder François Gigot de la Peyronie (1678–1747), bzw. weitere Werke und Bilder zu zeigen. Resümierend kann das 18. Jahrhundert als dasjenige beschrieben werden, in dem sich Theorien der Hirnfunktion von der Suche nach dem Seelenorgan wegbe­ wegten und mit der Äquipotenztheorie einen globaleren Ansatz verfolgten. Ein sol­ ches Etikett zu vergeben würde allerdings bedeuten, die Theorien z. B. La Mettries oder später Soemmerrings zu vernachlässigen. Lokalisationsversuche wurden auch noch nach Haller unternommen. Das Seelenorgan wurde durch ihn letztlich nicht in Frage gestellt.850 So schrieb Voltaire 1664 süffisant: »Die neueste Meinung besagt, [der Sitz der Seele] sei im Rückenmark: diesen Platz weist La Peyronie ihr zu; man mußte gewiß erster Chirurg des Königs sein, um solcherart über die Wohnung der Seele zu verfügen.« 851 Aber noch eine andere Entwicklung zeichnete die Wissenschaften im 18. Jahr­ hundert aus: Die Wende zum Menschen. Die anthropologische Perspektive auf die Wissenschaften während der Auf klärung wird als Exkurs eingeführt, da sie für den Weg der Hirnforschung in die Moderne grundlegend war.

849 850 851

Société royale des Sciences und Société royale de Médicine. Vgl. Hagner (2000), S. 34f. Voltaire (1984), S. 714.

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EX KU RS PH YSISCH E A N TH ROPOLOGI E , V E RGL EICH EN DE A NATOM I E U N D PH YSIOGNOM I K A L S W ISSENSCH A F T EN VOM M ENSCH EN Die Humanwissenschaften sind […] von dem Tag an erschienen, an dem der Mensch sich in der abendländischen Kultur gleichzeitig als das konstruiert hat, was man denken muß, und als das, was zu wissen ist.852 Michel Foucault

Was macht das Menschsein aus? Wodurch erweist sich der Mensch als Mensch? Was unterscheidet ihn von anderen Lebewesen? Als Wissenschaften vom Menschen wer­ den im Folgenden jene Lehren des 18. Jahrhunderts näher beleuchtet, die sich »den Menschen in seinen empirischen Teilen zum Gegenstand« 853 genommen haben. Diese ›Wende zum Menschen‹854 fand ihren Ausdruck in der Anthropologie, die sich als Kennt­ nis vom Menschen zu einer Art universaler Wissenschaft ausgebildet hat. Dabei lässt sich während der gesamten Auf klärung »das anthropologische Interesse als allgemeine Tendenz der Wissenschaft« feststellen. Es wurde also »der in seinem Wesen neu be­ stimmte Mensch zum zentralen Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis gemacht«.855 Trotz dieser Konzentration des Interesses am Menschen als wissenschaftlichem Objekt war die Idee einer Anthropologie selbst nicht neu. Phillip Sloan führt eine lange Liste wissenschaftlicher Schriften seit Beginn des 16. Jahrhunderts auf, »which employed some variant on the term anthropology or anthropography in their titles« 856 . Kant wies in der Vorrede seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) darauf hin, dass es besonders die Erkenntnis des Menschen »als mit Vernunft begabtes Erd­ wesen« verdiene, »Weltkenntnis genannt zu werden«.857 Die Anthropologie wurde nicht nur bei ihm als Übergeordnetes gesetzt. Sie ist in diesem Sinne keine Disziplin, denn, so beschreibt es Wolf Lepenies, »es hat Wissenschaften vom Menschen gegeben 852 853 854

855 856

857

Foucault (1974), S. 413. Ebd. Heute wird mit dem Begriff der anthropologischen Wende (anthropologic turn) ein Wandel bezeichnet, der sich in den Geistes­ und Kulturwissenschaften seit den 1980er Jahren voll­ zieht. In den Blickpunkt werden dabei zeitgenössische Diskurse gerückt, die unter dem Begriff ›Anthropologie‹ die Natur des Menschen behandeln, vgl. van Hoorn (2004), S. 1. Vierhaus (1985), S. 12. Sloan (1995), S. 113. Sloan nennt u. a. die Anthropologia, de hominis dignitate, nature et proprietatibus des Magnus Hundt (1501), Otto Casmanns Psychologia anthropologica sive animae humanae doctrina (1594), die Anthropologia von H. F. Teichmeyer (1739) oder James Drakes Anthropologia nova: or, a New System of Anatomy, Describing the Animal Oeconomy, and a Short Rationale of Many Distempers Incident to Human Bodies (1707), vgl. ebd., S. 141f. Kant (1912), S. 2.

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und gibt sie immer noch, aber es gibt nicht eine Anthropologie, die alle Menschenwis­ senschaften in sich vereinigen würde« 858 . Daher kann auch für die Anthropologie gel­ ten, was bereits für die Bildwissenschaften beschrieben wurde: Es würde ihrem Ge­ brauch eher entsprechen, den Begriff im Plural zu verwenden. Die unterschiedlichen Perspektiven und Blickweisen anthropologischer Epistemologie schließen philoso­ phische, ethnologische, psychologische, soziologische, historische, evolutionsbiolo­ gische oder medizinische Ansätze ein.859 Christopher Fox warnt vor dem Versuch, sowohl die Auf klärung als auch die Wissenschaften vom Menschen vereinheitlichen und als historische Kontinuitäten be­ greifen zu wollen. Diese Sichtweise sei von Foucault, an dessen Archäologie der Hu­ manwissenschaften inzwischen zwar schon reichlich und zum Teil auch berechtigt Kritik geübt worden ist, durchaus kritisch hinterfragt worden: »[t]hat assumption, implied in earlier histories, tends to ignore ruptures, discontinuities, sometimes even history itself« 860 . Wie wir sehen werden, entwickelten sich im 18. und 19. Jahrhundert basierend auf den vielfältigen anthropologischen Studien differenzierte, aber auch differierende Seelen­ und Körperbilder, die die Folie für die sich verändernde Hirn­ forschung bildeten. Zunächst gilt es, die der Anthropologie unter­ oder nebengeordneten Diszipli­ nen aus ihrer Zeit heraus zu untersuchen. In einem zweiten Schritt sollen die Eintei­ lungen und Benennungen, die Taxonomie der Wissenschaft vom Menschen, erklärt werden. Nach heutigem Verständnis sind das seitens der Physiologie und Anatomie die Humanmedizin, die auf den Menschen bezogene Biologie 861 und im begrenzten Maße Chemie und Physik. Dazu kommen in Hinblick auf die Frage nach der Seele Psychologie und Philosophie. Anschließend gehe ich auf die vergleichende Hirnana­ tomie als wichtigen Teilbereich anthropologischer Forschung ein. Vergleichende Anatomie meint den Vergleich der anatomischen Merkmale aller Wirbeltierarten, einschließlich der des Menschen. Sie bedeutete im 18. Jahrhundert aber auch den Ver­ gleich verschiedener menschlicher ›Rassen‹. Die einf lussreichsten Anthropologen dieser Zeit, insbesondere Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840), förderten das so genannte rassenkundliche Sammeln anatomischer Präparate. Diese Sammlungen so­ wie die Berichte von Reisenden dienten als Quellen, auf deren Grundlage verschie­ dene Rassensysteme entworfen wurden.862 Abschließend wird die Anthropologie mit der Physiognomik als Menschen deutende Disziplin verknüpft. Zunächst soll der Be­ griff Physiognomik geklärt sowie ihr wissenschaftlicher Status näher beleuchtet wer­ 858 859 860 861 862

Lepenies (1980), S. 222. Vgl. Schulz »Anthropologie«, in Pfisterer (2003), S. 9. Fox (1995), S. 3. Der Bereich Anthropologie wird heute an vielen Universitäten von neuen Fachrichtungen verdrängt, z. B. an der TU Braunschweig von den Lifesciences. Vgl. Hans­Konrad Schmutz, Einführung, in Tiedemann (1984), S. X.

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den. Danach veranschauliche ich ihre Beziehung zur Anthropologie. Dies soll der Hinführung zur Hirnforschung dienen, wobei diese drei Stränge streng genommen erst im späten 18. Jahrhundert parallel laufen oder sich miteinander verweben. U N I V E R SA LW ISSENSCH A F T A N TH ROPOLOGI E

Der Begriff Anthropologie taucht heute in diversen Disziplinen auf und wird als un­ spezifisches Schlagwort geradezu inf lationär verwendet. Tanja van Hoorn teilt ihn wissenschaftssystematisch in drei Bereiche ein: (1) philosophische Anthropologie, die den Zusammenhang von Leib und Seele thematisiert; (2) Kulturanthropologie, in der zum einen der Mensch als kulturschaffendes Wesen untersucht wird, und die zum anderen »nach Unterschieden, Entwicklungstendenzen und Klassifikationsmöglich­ keiten der Kulturen sucht (Ethnologie, Ethnographie)«; (3) physische (physiologische bzw. biologische) Anthropologie, die sowohl vergleichende Untersuchungen von Mensch und Tier anstellt, als auch solche »innerhalb des Menschengeschlechts« vor­ nimmt.863 Für das Thema der vorliegenden Arbeit ist der Bereich der philosophischen Anthropologie besonders interessant. Ebenso muss auch die vergleichende Hirnanato­ mie und damit der dritte Bereich berücksichtigt werden. Beide werden in diesem Kapitel ausführlich erörtert. Vor dem 17. Jahrhundert wurde allein dem Menschen eine Seele zugesprochen. Dennoch sahen Descartes und später Jean­Jacques Rousseau (1712–1778) und Georges­ Louis Buffon (1707–1788) den Menschen als Tier an. Die höchste Position der Stufen­ leiter des Lebens indes blieb jene, auf der der Mensch thronte. Auch in der linnéschen Taxonomie wurde der Mensch als Säugetier in die Ordnung der Primaten eingereiht. Allerdings war Carl von Linné (1707–1778) noch von dem Gedanken beseelt, »dass Gott die Natur nach den Leitgedanken politischer Subordination geschaffen habe« 864. Johann Gottfried Herder (1744–1803) stützte in seiner Schrift Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784) die Stufenleitertheorie im Sinne einer Verede­ lung der Lebewesen. Sie unterschied sich von der Evolutionstheorie des 19. Jahrhun­ derts besonders insofern, als eine Steigerung oder Verfeinerung nicht prozessual ablief, sondern einer fixierten singulären Erscheinung entsprach. Ihr wurden keine natür­ lichen, sondern auf physikotheologischen Überlegungen beruhende Ursachen zu­ grunde gelegt (z. B. die vielfältigen Wirkungen des Magnetismus). Sie behielten ihre Bedeutung noch bis weit ins 19. Jahrhundert und waren auch für die Hirnforscher dieser Zeit maßgeblich.865 Herder wies in seinen anthropologischen Überlegungen besonders auf die Ähn­ lichkeiten und Verschiedenheiten zwischen Mensch und Tier hin. Dies war für ihn 863 864 865

Van Hoorn (2004), S. 1. Mann, in Mann/Dumont (1990), S. 12. Vgl. Mann, in Mann/Dumont (1985), S. 155ff.

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Teil der physischen (auch physiologischen oder biologischen) Anthropologie. Darüber hinaus beschrieb er zwei weitere anthropologische Ansätze: einen philosophischen und einen eher ethnologischen oder sozialanthropologischen.866 Das Leib­Seele­Pro­ blem fiel in den Bereich der philosophischen Anthropologie, ebenso wie das der Stel­ lung des Menschen in der Hierarchie der Lebewesen, das man auch im Bereich der biologischen Anthropologie hätte vermuten können. Hugh Barr Nisbet zufolge bil­ dete diese Problematik »zu Herders Zeit in Deutschland den Kernbereich der Anthropologie« 867, so auch in Ernst Platners (1744–1818) Anthropologie für Aerzte und Weltweise von 1772.868 Die Idee der Stufenleiter sollte erst durch Charles Darwins (1809–1882) Evolu­ tionstheorie grundlegend in Frage gestellt werden. In diesem Zusammenhang ist er­ wähnenswert, dass die durch ihn scheinbar endgültig manifestierte Einreihung des Menschen in die Ordnung der Primaten momentan eine Umdeutung und Aufwer­ tung erfährt. Den Menschen als Krone der Schöpfung zu begreifen, galt lange als unmodern. Durch erneute Inblicknahme des Darwinismus nimmt der Mensch diese Stellung hinsichtlich seiner einzigartigen Anpassungsleistung letztlich doch wieder ein, wenngleich auf überraschende Art: Während die ältere Biologie zunächst die Verwandtschaft des Menschen mit den Tieren in dem Sinne betonte, dass sie uns mit Recht unsere stammesgeschichtlichen Voraussetzungen vorhielt, also konkret zeigte, wie hinter idealistisch überhöhter kultureller Überformung Primatenverhalten wirksam bleibt, zeichnet sich eine neu­ ere, namentlich neurobiologische Sicht dadurch aus, dass sie gerade als Resultat eines evolutionsbiologischen Denkens das Spezifische des Menschen heraus­ stellt.869

Norbert M. Schmitz exemplifiziert mit diesem Gedanken, wie anthropologische und zeitgenössische neurologische Episteme erneut ineinander greifen. Es bestätigt meine Annahme einer historisch engen Kopplung der Anthropologie der Auf klärung mit der modernen Hirnforschung, als deren Bindeglieder ich die ›Non­Normal Sciences‹ Physiognomik und Phrenologie begreife.870 Rousseau leistete einer Anthropologie der Auf klärung Vorschub, die das aus dem 17. Jahrhundert überlieferte »Problem der menschlichen Doppelnatur« 871 überwinden wollte. Sie konnte den Dualismus überwinden, und in der gedanklichen Verschmel­ 866 867 868 869 870 871

Vgl. Nisbet (1992), S. 2. Ebd. Ernst Platner, Anthropologie für Ärzte und Weltweise, Leipzig 1772. Vgl. ebd., S. XVIf. Schmitz (2002), S. 190. Zum Begriff der ›Non­Normal Sciences‹ vgl. Flaherty (1995), S. 271 und den Abschnitt Von der Physiognomik zur Hirnforschung in diesem Kapitel. Moravia (1989), S. 20.

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zung von Leib und Seele lag die Möglichkeit zur neuen (Er)Kenntnis des Menschen. Die »antimetaphysische Tendenz, mit ihrem Anspruch auf wirklichkeitsorientierte, empirische Seelenkenntnis« sorgte dafür, dass sich die Anthropologie »zur führenden Auf klärungswissenschaft entwickelte«.872 Die Kombination von Medizin und Philosophie lässt sich an italienischen Uni­ versitäten bis ins ausgehende 14. Jahrhundert zurückverfolgen. Während der Zeit der Renaissance war eine Kombination von Logik, Naturphilosophie und Medizin üb­ lich.873 Eine Verknüpfung von Kunst und Wissenschaft, wie sie noch bis ins 18. Jahr­ hundert bestand, war damals gerade in Bezug auf das Studium der Medizin von Bedeu­ tung: The links between medicine and the rest of renaissance intellectual life were inti­ mate. Together with theology and law, medicine stood at the top of the university curriculum in northern universities, requiring as a precondition a full arts educa­ tion, which included the scientific elements of natural philosophy on which medici­ ne was based.874

Fragen zur Verbindung von Körper und Seele standen gewissermaßen auf dem Lehr­ plan. In Medizin und Naturgeschichte Vorläuferinnen der Biologie und Katalysatoren der Anthropologie zu sehen, erscheint logisch, da all diese Disziplinen historisch eng miteinander verbunden sind. Das Wort Naturgeschichte tauchte schon bei Plinius dem Älteren (23/24–79 n. Chr.) auf. In den 37 Büchern seiner Historia Naturalis wid­ mete er sich jedoch hauptsächlich der Medizin und Heilmittellehre. In seinem Aufsatz Naturgeschichte und Anthropologie im 18. Jahrhundert diskutiert Lepenies die Anthropo­ zentrik der Naturgeschichte und erklärt, dass ihre Fixierung auf den Menschen die Ausbildung einer Anthropologie als eigenständige Disziplin verhindert habe. 875 Der spätere Verfasser des Handbuch[s] der Naturgeschichte (1803) sowie des Handbuch[s] der vergleichenden Anatomie (1805), Blumenbach, lehrte seit 1778 Arzneiwissen­ schaften und Medizin in Göttingen. Sein Interesse galt sowohl der menschlichen als auch der tierischen Anatomie und Physiologie, was dazu führte, dass seine Arbeit für beide, die wissenschaftliche Zoologie und die Anthropologie, grundlegend wurde.876 Er steht beispielhaft für eine Forschergeneration, die davon profitierte, dass sich die verschiedenen ›Lebenswissenschaften‹ – die Medizin hier einbezogen – vielfach noch mit den selben Problemen auseinandersetzten. Dabei diente der kranke Leib lange dem gesunden als Maßstab. Vom pathologischen Status ausgehend konnte oft auf den 872 873 874 875 876

Wenzel, in Soemmerring (1999), S. 35. Vgl. Schmitt (1985), S. 4. Wear/French/Lonie (1985), S. ix. Zu Medizin und Philosophie in der universitären Lehre vgl. auch Kapitel IV. Vgl. Lepenies (1980), S. 212. Vgl. Jahn (2000), S. 780.

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›Normalzustand‹ eines unversehrten Körpers oder Geistes geschlossen werden. Wie wir gesehen haben, verhielt es sich bei der medizinischen Abbildung komplementär: Dort wurde ein Körper oder Organ idealisiert dargestellt, damit der Arzt auf den pa­ thologischen Zustand, also vom Allgemeinen auf das Individuelle schließen konnte. Im Zusammenhang mit dem Menschen als Forschungsobjekt eröffneten sich den Forschern aller möglichen Disziplinen zwei Problemfelder. Zum einen musste die Eigenbewegung des Körpers aus dem Zusammenhang von Körper und Seele erklärt werden. Zum anderen stellte sich die Frage, wie es zur Reproduktion und Entwick­ lung dieser aufgrund mechanischer Dispositionen bestehenden Lebewesen kam. Arzneikunst, Botanik, Chemie und später Physik gelten zu dieser Zeit als Hilfs­ wissenschaften der Medizin. Einen höheren Rang hatten Physiologie und Anatomie. Als 1753 Hallers medizinische Abhandlung De paribus corporis humani sensibilus et irritabilibus erschien, »bewegt[e sie] die wissenschaftliche Welt weit über die Medizin hin­ aus« 877. Haller, ein Universalgelehrter goetheschen Typs, wirkte auch als Dichter, Bo­ taniker, Anatom und Physiologe.878 Sein Einfluss machte sich später auch in Johann Caspar Lavaters (1741–1801) Schriften bemerkbar. Toellner attestiert Hallers nieder­ ländischem Empirismus Progressivität gegenüber »der vom späthumanistischen Eklek­ tizismus oder vom Rationalismus nach Art der Leibniz­Wolffschen Metaphysik ge­ prägten Schulmedizin in Deutschland« 879 . Allerdings zeigt Ralf Wunderlich, dass Christian Wolff (1679–1754) fast das ganze 18. Jahrhundert über maßgeblich war für die Entwicklung von Bewusstseinstheorien, insbesondere für die Verwendung damit zusammenhängender Begriffe.880 Unter dem Eindruck Boerhaaves und der Leidener Schule machte Haller Beo­ bachtung und Erfahrung zu Zentralpunkten der medizinischen Forschung. Damit sollte der Metaphysik in der Medizin eine Absage zugunsten einer »aufgeklärten Erfah­ rungsmedizin« 881 erteilt werden, vergleichbar der Erfahrungswissenschaft, wie Goethe sie später propagierte. In Dichtung und Wahrheit schrieb dieser: »Es war nämlich vor­ züglichen, denkenden und fühlenden Geistern ein Licht aufgegangen, daß die unmit­ telbare originelle Ansicht der Natur und ein darauf gegründetes Handeln das beste sei, was der Mensch sich wünschen könne und nicht einmal schwer zu erlangen.« 882 Als Ergebnis der empirischen Forschungen Hallers kann das allgemeine Verständnis der Sensibilität als Leitmotiv der belebten Natur gelten, auf deren Wirkung alle Ent­ äußerungen des Lebendigen zurückführbar sind. Der so entstandene Vitalismus bezog den Begriff der Lebenskraft in den bisherigen Dualismus von Körper und Seele mit 877 878 879 880 881 882

Toellner (1985), S. 195. Zu Hallers Hirnforschung und Seelentheorie vgl. Kapitel 3.2.7. Ebd., S. 197. Vgl. Wunderlich (2005), S. 122f. Toellner (1985), S. 198. Goethe (seit 1948), 15. Buch, Bd. 10, S. 717.

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ein.883 Innerhalb einer naturgeschichtlichen Tradition, die in Auf lösung begriffen ist, löst der Vitalismus in seiner »Bemühung, die Eigentümlichkeit des Lebens zu definieren« 884 , den Mechanismus ab und ermöglicht der Biologie, sich im Gefüge der vergehenden, entstehenden und sich wandelnden Lebenswissenschaften zu verorten. Bonnet und andere Schweizer Forscher setzten sich für die Theorie der Epige­ nese ein, die sich auf einen alles gestaltenden Schöpfergott stützte. Diese Entwicklung vom einfachen zum komplexen Organismus schritt durch aufeinander folgende Neu­ bildungen und Ausdifferenzierungen des Lebendigen voran. Caspar Friedrich Wolff (1734–1794), selbst Verfechter der Epigenese, unterschied sie von der ›Evolution‹, die hier etwas ganz anderes meinte, als Darwin später in Die Entstehung der Arten (1857) vorstellen sollte, nämlich eine Einschachtelung in dem Sinne, dass die Keime aller Menschen in Adam als erstem von Gott geschaffenen Wesen präformiert sind. Die sich auf Leibniz berufenden Präformisten, behaupteten, dass dem männlichen Samen (so die Animalculisten unter ihnen) oder der Eizelle (nach Meinung der Ovisten) ein Homunkulus innewohnt, ein Miniaturmensch, der nach der Befruchtung nur noch wachsen muss. Dieser Annahme einer Vorausbestimmung lag ein mechanistisches Menschenbild zugrunde, während die Epigenetiker die Spezifität in der Entwicklung jedes Keimes berücksichtigten.885 Die epigenetische Theorie entsprach auch Goethes Denken. Er nahm eine ambivalente Haltung ein, da er zwar nach Wolff Verfechter der Epigenese war, jedoch die Präformation im Keim (z. B. bei der Urpflanze) an­ nahm. Diese Fragestellungen wurden auch für die Suche nach dem Ort der Seele inte­ ressant. Das bedeutet, dass die Auseinandersetzungen um den Zeitpunkt, an dem die Seele sich mit dem Körper vereinigt, in die Debatte einbezogen wurden. In Voltaires Philosophischen Wörterbuch von 1764 sind verschiedene Thesen in Dialogform zusam­ mengefasst: Dieser sagt, die Seele des Menschen sei Teil vom Wesen Gottes selber; jener meint, sie sei Teil vom großen Ganzen; ein dritter, sie sei von Ewigkeit an geschaf­ fen; andere versichern, Gott bilde sie, je nachdem man welche brauche, und sie träfen im Augenblick der Zeugung ein. »Sie verfügen sich in die Samentierchen«, schreit dieser. »Nein«, sagt jener, »sie nehmen ihre Behausung im Eileiter.« – »Ihr irrt allesamt«, spricht einer, der hinzukommt, »die Seele wartet sechs Wochen, bis die Leibesfrucht sich gebildet; sodann ergreift sie Besitz von der Zirbeldrüse; findet sie den falschen Keim, so kehrt sie zurück und wartet auf eine bessere Gelegen­ heit.886 883 884 885 886

Dazu vgl. Reil (1919). Foucault (1974), S. 287. Vgl. ebd., S. 166. Voltaire (1984), S. 714.

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Hier wird deutlich, inwiefern sich auch in philosophischen Fragestellungen eine an­ thropologische Wende abzeichnete. Zudem zeigt sich, wie Fragen nach der menschli­ chen Natur nicht rein vernunftsmäßig, durch eine Auswertung von Ergebnissen empirischer Forschung beantwortet worden sind, sondern eine Verquickung meta­ physischer und biologistischer Deutungen stattfand. Seit den 1770er Jahren wurde die Anthropologie im Allgemeinen als eigenstän­ dige Fachwissenschaft angesehen. Es lohnt, einen Blick auf die Geschichte der An­ thropologie der Auf klärung mit möglichst geringem zeitlichen Abstand zu ihren An­ fängen zu werfen. Beim Vergleich der von Johann Samuel Ersch (1766–1828) und Johann Gottfried Gruber (1774–1851) herausgegebenen Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste 887, in der Hoff bauer um 1820 einen sehr ausführlichen Arti­ kel über die Anthropologie veröffentlichte, mit dem Systême Figuré des Connoissances Humaines, das im ersten Band von Diderots Encyclopédie 888 1751 in Paris erschien, fällt auf, dass in Letzterem die Anthropologie als Wissenschaft noch keinen Platz hat. Wenn wir heute von der physischen, physiologischen oder biologischen Anthro­ pologie sprechen, so müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass dieser Einteilung ein Entwicklungsprozess vorausgegangen ist. In ihrer frühen Phase erschien die An­ thropologie ergänzend zur medizinischen und naturgeschichtlichen Lehre Biologie. Als Lehre vom Leben oder Kunde der belebten Natur im weitesten Sinne verstanden, entwickelte sich die Biologie aus verschiedenen Disziplinen, entstand als Einzelwis­ senschaft allerdings erst um 1800. Auch sie wäre, wie die anderen modernen Natur­ wissenschaften, ohne die Methodologie Bacons oder die Erkenntnisse Descartes’ un­ denkbar. Die Naturgeschichte bildete ihr Fundament, aber noch im 18. Jahrhundert warteten sowohl die Biologie als auch die Medizin sehnlich auf ihren Newton und hatten als Lebenswissenschaften kein eigenes Regulativ.889 Mit Beginn des 19. Jahrhunderts war der Terminus Biologie dann scheinbar übergangslos in aller Munde. Ein genauer Zeitpunkt einer Begriffseinführung, etwa durch einen paradigmatischen Aufsatz, ist nicht auszumachen. Karl Friedrich Burdach (1776–1848) verwendete ihn 1800, um die Wissenschaften von den Lebenserschei­ nungen, also Morphologie, Physiologie und Psychologie unter einem Oberbegriff zusammenzufassen. Dabei bezeichnete er selbst die Biologie ausdrücklich als eine »Lebenslehre des Menschen« 890 . Gleichzeitig mit dieser anthropozentristischen Deu­ tung der Biologie entstanden solche, die sich auf das Leben überhaupt bezogen. Trevi­ ranus sah in der Biologie jene Wissenschaft, die sich mit den Formen und Erschei­ 887 888 889 890

J. S. Ersch und J. G. Gruber, Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste mit Kupfern und Charten in alphabetischer Folge, Leipzig 1818–1889. Denis Diderot, Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné, des Sciences des Arts et des Métiers […], Lausanne, Bern 1751. Vgl. Mocek (1995), S. 11. Piechocki (2007), S. 53.

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nungen des Lebens auseinandersetzt; Jean Baptist Lamarck (1744–1829) schloss alles auf lebende Körper Bezogene ein. Bis dahin war ›Leben‹ keine eigenständige Katego­ rie gewesen. Indem sich dies änderte, das Leben also als eine Weise des Seins betrach­ tet wurde, war die »Voraussetzung für die Entstehung einer modernen Wissenschaft von den Wechselwirkungen des Lebendigen mit seiner Umwelt« geschaffen.891 Später erschien die Anthropologie in universitären Curricula als Teil der Biolo­ gie. Anthropologie war also »keine Einzelwissenschaft, sondern ein System abgewo­ gener Balancen verschiedener anthropologischer Disziplinen untereinander« 892 . Dies äußerte sich u. a. darin, dass zwischen 1790 und 1840 »weit über hundert bedeutende Publikationen [erschienen], die den Begriff ›Anthropologie‹ in ihrem Titel« 893 führen. Platner nahm ebenfalls eine Dreiteilung der Anthropologie vor, wenn auch eine etwas andere als diejenige, die van Hoorn aus heutiger Sicht formuliert. Er unter­ schied die physiologisch­anatomische von der psychologischen Anthropologie. Erste­ re hatte den Körper und seine Funktionen und Letztere die Seele zum Gegenstand. Als dritten Bereich der anthropologischen Wissenschaft setzte er die Gemeinschaft von Körper und Seele. Mit dem Körper befassten sich nach Platners Einteilung zwei Wissenschafts­ zweige: ein naturhistorischer, die Anatomie, und ein naturwissenschaftlicher, die Phy­ siologie. Anatomen untersuchten den Körperbau; die Physiologie beschäftigte sich mit den Verrichtungen des Körpers. Meistens gingen diese Untersuchungen Hand in Hand. Gesetzmäßigkeiten der auf den Körperbau zurückzuführenden Verrichtungen sollten gefunden und in Zusammenhang gebracht werden. Die Idee war, dass der Körper als organisches Gebilde so organisiert ist, dass jeder Teil in Bezug zum Kör­ perganzen steht. So erhalten die Organe durch ihre Verrichtungen das Ganze, wie umgekehrt die Erhaltung des Ganzen für den Fortgang der Verrichtungen der Teile sorgt. Diese Körperfunktionen wurden in vegetative, geschlechtliche und Nerven­ verrichtungen unterteilt, wobei die Letzten auch als tierische oder animalische Ver­ richtungen bezeichnet und zur Seele in Beziehung gesetzt wurden. Von der Seele als zweitem Element handelte die psychologische oder philoso­ phische Anthropologie, wobei Letztere nicht bloß spekulativ, sondern pragmatisch betrieben werden sollte. Die Naturgeschichte der Seele beschrieb ihre Gesetzmäßig­ keiten. Zusammenhang oder Interaktion zwischen Körper und Seele wurde als Ge­ genstand der Naturlehre angesehen: »Die psychologische Anthropologie betrachtet die Selenveränderungen hauptsächlich nur so weit sie unter den inneren Sinn fallen; sie könnte daher den Körper ganz außer Acht lassen, wenn nicht die Veränderungen der Sele von Veränderungen im Körper, und diese wiederum von Veränderungen in

891 892 893

Ebd., S. 53f. Bödeker in Schneiders (1997), S. 39. Weber (1987), S. 3.

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der Sele abhingen.« 894 Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ist diese Aussage we­ sentlich physiognomisch, da sie auf die Analogiebeziehung von Körper und Seele ver­ weist, die eine Deutung grundlegend voraussetzt. Die Gemeinschaft von Körper und Seele war zunächst nicht ausschließlich Ge­ genstand einer philosophisch ausgerichteten Anthropologie bzw. konnte zunächst noch nicht als einheitliche Teildisziplin in Erscheinung treten. Die zwei Substanzen Körper und Seele, die nach Descartes voneinander getrennt waren, machten die Ge­ samtheit des Leibes aus. Die eine Substanz wurde als immateriell der Metaphysik zu­ geordnet, die andere, materielle, den Naturwissenschaften. Erst nach Überwindung dieser substanziellen Trennung konnte es zu einem einheitlichen Wissensgebiet mit den Untersuchungsinhalten Körper und Seele kommen. Dieser nach Platner dritte Bereich war der Hauptpfeiler einer physiognomischen Wissenschaft, wie Lavater sie ins Leben rufen wollte. M ENSCH ODE R A FF E ? – ZU R V E RGL EICH EN DEN A NATOM I E DE S GEH I R NS

Edward Tyson (1650–1708) gilt als »Begründer des Unterrichts in systematischer Ana­ tomie in England« 895 . Zudem leistete er aber auch grundlegende Vorarbeit für eine vergleichende Anatomie des 18. Jahrhunderts, die mit Blick auf anthropologische Fra­ gestellungen betrieben wurde. In seiner Schrift Orang-Outang, sive Homo Sylvestris: or, the Anatomy of a Pygmie Compared with that of a Monkey, an Ape, and a Man 896 versuchte er nachzuweisen, dass Pygmäen897 (Pygmies) nicht den Menschen, sondern den Men­ schenaffen (Apes) angehören. Er hielt sein Objekt für einen Orang­Utan, was auf malaiisch soviel wie Waldmensch bedeutet. Orang­Utans wurden im 17. Jahrhundert als »eine merkwürdige Art von Zwergmenschen« 898 angesehen. Das Skelett jenes We­ sens, das Tyson von Angola mitbrachte, erwies sich im Nachhinein als das eines Schimpansen, d. h. Tyson hatte an einem Schimpansen nachweisen wollen, dass der Orang­Utan zu den Menschenaffen zu zählen war. Das betreffende Schimpansenskelett kann noch heute im Natural History Muse­ um in London besichtigt werden. Dort wird die Leistung Tysons hervorgehoben, die 894 895 896

897 898

Hoff bauer in Ersch/Gruber, Vierter Theil (1820), S. 284. Poynter (1967), S. 218. Edward Tyson, Orang-Outang, sive Homo Sylvestris: or, the Anatomy of a Pygmie Compared with that of a Monkey, an Ape, and a Man. To which is added, A Philological Essay Concerning the Pygmies, the Cynocephali, the Satyrs, and Sphinges of the Ancients. Wherein it will appear that they were all either Apes or Monkeys, and not Men, as formerly pretended […], London 1699. Tyson verstand darunter ein bereits in der Antike beschriebenes (Fabel)Wesen, während wir unserem allgemeinen Sprachgebrauch nach verschiedene kleinwüchsige Ethnien in Zentralafrika unter dem Begriff Pygmäen zusammenfassen. Poynter (1967), S. 218.

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in seiner grundlegenden Untersuchung und Sektion liegt. Fälschlicherweise sei er jedoch zu dem Ergebnis gekommen, dass sein Forschungsobjekt den »missing link« zwischen Tieren und Menschen repräsentiere.899 Obwohl er also verschiedene Affen­ arten und Menschen mit einem seiner Meinung nach primitiven Menschen verglich, strebte er an, ein Wesen, was bis dato als Mensch angesehen worden war, zum Affen zu machen. Um diese Antithese zur damals gängigen Meinung (dies zeigt der Unter­ titel: »Wherein it will appear that they were all either Apes or Monkeys, and not Men, as formerly pretended«) zu bekräftigen, nutzte er die vergleichende Anatomie: What I shall most of all aim at in this Discourse, will be to give as particular an Account as I can, of the formation and structure of all the Parts of this wonderful Animal; and to make a Comperative Survey of them, with the same Parts in a Humane Body as likewise in the Ape and Monkey­kind. 900

In seiner vergleichenden Untersuchung beschrieb Tyson die Anatomie des »Orang­ Outang« oder »Pygmie« zunächst ausführlich und fertigte dann zwei Listen an. In der ersten sind jene körperlichen Merkmale genannt, in denen dieser dem Menschen mehr als den Affenarten gleicht, in der zweiten diejenigen, in denen sich sein Objekt vom Menschen unterscheidet und mehr den Affen gleicht. Die zweite Liste ist er­ staunlicherweise wesentlich kürzer, und das Gehirn tritt im Vergleich nicht auf. In der ersten dagegen steht unter Punkt 25: »The Brain was abundantly larger than in Apes; and all it’s parts exactly formed like the Humane Brain.« 901 Obwohl sein »Pyg­ mie« nun ein dem menschlichen gleichendes Gehirn besaß, konnte er doch nicht den Menschen zugerechnet werden. In vielen Kriterien ähnelte er zwar mehr einem Men­ schen als einem Affen, dennoch sah Tyson ihn in Hinblick auf seine Seele als Tier an: »at the same time I take him to be wholly a Brute, tho’ in the formation of the Body, and in the Sensitive or Brutal Soul it may be more resembling a Man, than any other Animal« 902 . Anders also als sein Untertitel suggeriert, schlussfolgerte Tyson: »That our Pygmie is no Man, nor yet the Common Ape; but asort of Animal between both.« 903 In der Abhandlung berichtet Tyson von der freundlichen, liebevollen Art des »Pygmies« im Umgang mit Menschen und seinem Desinteresse gegenüber ›anderen‹ Affen.904 Eine der Tafeln zeigt ihn lebend: ein ausdrucksvolles Gesicht mit geschlos­

899 900 901 902 903 904

Vgl. http://piclib.nhm.ac.uk/piclib/www/image.php?img=46916 (14. 2. 2008). Tyson (1699), S. 2. Ebd., S. 92. Ebd., S. 5. Ebd., S. 91. Vgl. ebd., S. 7.

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Abb. 144: Hirnbasis – einmal unversehrt (Fig. 13), einmal horizontal geschnitten und nach oben zum Kleinhirn hin aufgeklappt (Fig. 14), antike Wesen (Fig. 16­17) und Orang­Utan bzw. Schimpanse (Fig. 18), aus A Philological Essay concerning the Pygmies, Tyson (1750).

senen Augen, auf einem Stein sitzend (Abb. 144, Fig. 15). 905 Dass es sich hier eher um die Darstellung eines Schimpansen als um die eines Orang­Utans, handelt, ist an den hoch am Kopf sitzenden Ohren zu erkennen. Neben ihm sind zwei der antiken Halb­ wesen abgebildet (Fig. 16 und Fig. 17). Über der Figurengruppe befinden sich zwei Hirnpräparate. Die dreizehnte Figur ist das Bild einer Hirnbasis mit verlängertem 905

Die hier abgedruckte Abbildung ist einer späteren Ausgabe entnommen: Edward Tyson, A Philological Essay concerning the Pygmies […], London ca. 1750. Die Tafel ist allerdings mit der des Erstdrucks identisch.

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Mark. Die vierzehnte Figur zeigt das Gehirn aus der gleichen Perspektive; die Basis wurde mit einem Horizontalschnitt getrennt und nach oben zum Kleinhirn hin auf­ geklappt. Diese Schnitttechnik findet sich bei keinem seiner Zeitgenossen abgebildet. Die beinahe aufgerollte Hirnbasis drückt das ebenfalls geöffnete Kleinhirn nach oben, was dem Gehirn eine eigentümlich längliche Form gibt. Ein Grund für dieses Vorge­ hen, das kein Vorbild zu haben scheint, ist nicht ersichtlich. Noch verwunderlicher ist, dass Tyson zwar Listen der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der menschlichen Anatomie und der verschiedener Affenarten anfertigte, diesen Ver­ gleich jedoch nicht auf die Abbildungen ausweitete. Vorstellbar wäre etwa ein Bild des ›Pygmie‹­Gehirns f lankiert von dem eines Menschen und eines Affen (Monkey). Dazu kommt, dass keine der Legenden deutlich darüber auf klärt, ob es sich um das Gehirn des ›Pygmie‹­Schimpansen oder um ein menschliches handelt. Einzig zu Zif­ fer D in der Erklärung zur dreizehnten Figur ist erwähnt, dass sich der pyramidenar­ tige Körper und die Olivaria an den gleichen Stellen wie in einem menschlichen Ge­ hirn befinden. 906 Erstaunlich ist weiterhin das selbstverständliche Nebeneinander phantastischer Wesen und anatomischer Präparate: Es scheint alle Figuren kategorial auf eine Ebene zu stellen. Weniger ungewöhnlich ist es, das noch lebende Tier zusammen mit seinem Gehirn darzustellen. Für den Menschen wurde diese Art der Darstellung zu jener Zeit allerdings immer seltener gewählt. Bidloo und andere bilden zwar individuelle Men­ schen ab, doch sind diese deutlich als Leichname zu erkennen. Im ausgehenden 18. Jahrhundert interessierte sich neben Vicq d’Azyr und Goethe auch Soemmerring für die vergleichende Anatomie. In seiner Schrift vom Seelenorgan 907 endet fast jeder Absatz mit einer vergleichenden Betrachtung, in der gehirnanatomi­ sche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Mensch und verschiedenen Tier­ arten dargestellt sind. Goethe äußerte sich lobend über Soemmerrings »Arbeit über das Gehirn« und hob vor allem dessen »höchst sinnige[n]« und »folgereich[en]« Aus­ spruch hervor, dass der Mensch »sich von den Tieren hauptsächlich dadurch [unter­ scheide], daß die Masse seines Gehirns den Komplex der übrigen Nerven in einem hohen Grad überwiege, welches bei den übrigen Tieren nicht statthabe«.908 Diese Aussage verdeutlicht, dass diejenigen, die bestrebt waren, anthropologische Frage­ stellungen anhand der vergleichenden Anatomie zu beantworten, ebenso wie die Verfechter der Säftelehre, die quantitativen Aspekte und proportionalen Verhältnis­ mäßigkeiten einer qualitativen Aussage unterordneten. Allerdings kam es in der ver­ gleichenden Anatomie leicht zu Fehlurteilen, wenn individuelle Merkmale nicht

906 907 908

Tyson (1699), S. 107. Vgl. S. 394. Goethe (1962a), S. 164.

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berücksichtigt wurden. In anderen Fällen gingen Anatomen von Beobachtungen an einem Körperteil, z. B. dem Schädel aus, und schlossen dann auf eine ganze Spezies. Zeitgleich mit dem Interesse an der vergleichenden Kraniologie wurde zwar »eine indirekte Bestimmung der Hirngröße möglich […]. Direkte rassenkundliche Untersuchungen am Gehirn waren dagegen selten« 909 . In Über die körperliche Verschiedenheit des Mohren vom Europäer 910 griff Soemmerring die Theorie Johann Fiedrich Meckels (1714–1774) auf, wonach die Farbe des Gehirns mit der Hautfarbe in Bezie­ hung steht. Dies widerlegte er jedoch im selben Text: »Mit Sorgfalt zerlegte ich drey ganz frische Mohrengehirne, sah aber nicht den mindesten Unterschied in der Farbe, weder im grauen noch markigen Theile zwischen einem Europäer und Mohren.« 911 Soemmerring war bestrebt, gegenüber der bei vergleichenden Methoden allgemein üblichen Ermittlung des absoluten Hirngewichts eine des Relativgewichts zu ma­ chen. Indem er zu dem Schluss kam, der Mensch habe proportional das größte Gehirn, 912 bildet seine Theorie zumindest einen Ansatz, die Pervertierung verglei­ chender Hirnanatomie zu überwinden, die zwischen (weißhäutigen) Menschen und Tieren unterschieden hatte, zu denen Menschen schwarzer Hautfarbe hinzugerechnet worden waren. Bei seiner Untersuchung verschiedener Gehirne von Afrikanern fand Soemmerring zwar Neues heraus, merkte aber bei der Rückversicherung, dass diese Beobachtungen bei allen menschlichen Gehirnen gleichermaßen zu machen waren: »Ich fand zuerst am Mohren ein paar neue Beobachtungen zur Struktur des Gehirns bestätiget, die […] ich […] nachher auch an allen Europäern antraf« 913. Trotz seiner neuen methodologischen Ideen kam er zu dem Schluss: Daß im allgemeinen, im Durchschnitt, die afrikanischen Mohren doch in etwas näher ans Affengeschlecht, als die Europäer gränzen. Sie bleiben aber darum doch Menschen, und über jene Klasse wahrer vierfüßiger Thiere gar sehr erha­ ben, gar sehr auffallend von ihnen unterschieden und abgesondert. Auch unter den Schwarzen giebts einige, die ihren weißen Brüdern näher treten, und manche aus ihnen sogar an Verstande übertreffen. 914

In seiner Abhandlung Das Hirn des Negers mit dem des Europäers und Orang-Utans verglichen 915 griff der Anatom Friedrich Tiedemann (1781–1861), der sich um eine verglei­ 909 910 911 912 913 914 915

Hans­Konrad Schmutz, Einführung, in Tiedemann (1984), S. XI. Samuel Thomas Soemmerring, Über die körperliche Verschiedenheit des Mohren vom Europäer, Mainz 1784. Soemmerring (1784), S. 18f. Vgl. ebd., S. 21. Ebd., S. 24. Ebd., S. 32. Friedrich Tiedemann, Das Hirn des Negers mit dem des Europäers und Orang-Utans verglichen, Heidelberg 1837.

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chende Hirnanatomie besonders verdient gemacht hatte, 916 diese Thematik wieder auf. Er bezweifelte, dass das Gehirn eines Afrikaners im Durchschnitt kleiner oder, wie Soemmerring es gesehen haben wollte, seine Hirnnerven dicker wären, als die eines Europäers. 917 Im letzten Kapitel Einige Bemerkungen über die Seelen-Fähigkeiten der Neger findet Tiedemann vielfältige, im weitesten Sinne ethnologische und ethnogra­ phische Zugänge zu verschiedenen afrikanischen Kulturen. Er beschreibt das Elend der Sklaverei, die er für viele vorangegangene Fehlurteile über Charakter und Intelli­ genz von Afrikanern verantwortlich macht und listet – gewissermaßen als Gegen­ darstellung – geistige Errungenschaften schwarzer Zeitgenossen in den unterschied­ lichsten Wissensgebieten auf. Diese apologetische Textpassage, die zu extremen Anfeindungen seitens der Befürworter der Sklaverei führte, endet mit der Feststel­ lung, dass die mitgetheilten Bemerkungen über die Seelen­Fähigkeiten und die Bildsamkeit des Geistes der Neger mit dem Ergebnis der anatomischen Untersuchungen des Hirns der Neger überein[stimmen]. Wir halten uns demnach, so weit die Beob­ achtungen und Thatsachen reichen, zu dem Schlusse berechtigt, dass weder im Baue des Hirns, noch in den Seelen­Fähigkeiten ein wesentlicher Unterschied zwi­ schen Negern und Europäern obwalte. 918

Damit sah er das Vorgehen Großbritanniens, »unseren schwarzen Brüdern […] die Menschen­Rechte und gleiche Freiheiten« einzuräumen, »auch vom Standpunkte der Naturforschung aus« für vollkommen gerechtfertigt an. 919 Die Hirn­ bzw. Naturfor­ schung trat mit Tiedemann als moralische Instanz auf, eine Tradition, in der sie sich bis heute oft wieder findet. Seinen eigenen Sätzen über die Gleichheit des Hirnbaus scheinbar widerspre­ chend sind die Gehirntafeln bei Tiedemann explizit mit Titeln wie »Male Negro« (Tafel I–IV) oder »Bosjes Woman« (Tafel V) beschriftet (Abb. 145).920 Obwohl er die­ sen Tafeln keine ›europäischen Vergleichsgehirne‹ gegenüberstellte (Vergleichsobjekte sind auf Tafel VI mit jeweils zwei Figuren von Orang­Utan­ und Schimpansenhirnen repräsentiert), unterstützen die Bilder im Einklang mit dem Text die Aussage, dass Gehirne weißer und schwarzer Menschen identisch sind. Wären sie es nicht, hätte Tie­ demann Vergleichsbilder ›europäischer Gehirne‹ zum Beweis bringen müssen. Diese Leerstelle, das fehlende Bild, wird so zum Argument für seine Gleichheitsbehaup­ tung. In der Bildauswahl zeigen sich Funktionen. So kann z. B. die Abwesenheit be­ 916 917 918 919 920

Vgl. Friedrich Tiedemann, Anatomie und Bildungsgeschichte des Gehirns im Foetus des Menschen nebst einer vergleichenden Darstellung des Hirnbaues in den Thieren […], Nürnberg 1816. Vgl. Tiedemann (1837), S. 63f. Ebd., S. 81f. Ebd., S. 82. Ebd., S. 84.

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Abb. 145: Gehirn eines Afrikaners von oben, Tafel 1 aus Das Hirn des Negers mit dem des Europäers und Orang-Utans verglichen, Tiedemann (1837).

stimmter zu erwartender Bilder die Funktion vorhandener Bilder verändern oder zu­ mindest kommentieren. Tiedemann verdeutlicht durch seine Bildauswahl, dass bei gleichen Objekten der Bildvergleich keinen Erkenntniszugewinn bringt. Der Zusammenhang von Hirngewicht bzw. ­größe und Intelligenz war mit den Stu­ dien Soemmerrings und Tiedemanns nicht geklärt. Und obwohl Tiedemann zu der Erkenntnis kam, dass das Gewicht des weiblichen Gehirns im Verhältnis zur Körper­ größe der Frau gesehen werden muss, und es somit nicht kleiner ist als das des Mannes, zweifelte er letztlich die Bedeutung von Größe und Gewicht für das geistige Vermö­ gen nicht an.921 Dem weiblichen Gehirn, wie dem gesamten weiblichen Körper, kam in der Anatomie eine Sonderstellung zu. Über Jahrhunderte wurde die Frau nur in Hinblick auf ihre Reproduktionsorgane in anatomischen Atlanten behandelt. Im späten 18. Jahrhundert wurde der weibliche Schädelknochen als zu klein befunden, um ein starkes Gehirn zu enthalten. Ende des 19. Jahrhunderts sah man die Gefahr, dass Frauen bei übermäßiger Beanspruchung ihres Denkapparates die Eierstöcke schrumpfen. 922 921 922

Vgl. Ebd., S. 18ff. Vgl. Schiebinger (1989), S. 2.

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Viele der quantitativen Hirnuntersuchungen des 19. Jahrhunderts, die z. B. auf Geschlechtsspezifität oder Rassenzugehörigkeit und Hirngröße abzielten, entstanden als Reaktion auf Galls Schädellehre.923 Eine der ersten Abbildungen eines explizit weiblichen Gehirns findet sich denn auch bei Gall und Spurzheim (Abb. 146). Die Bildbeschreibung lautet: »Base d’un cerveau de femme. Toutes les parties sont dou­ bles, mais elles ne sont pas exactement symétriques.« 924 Gall und Spurzheim schreiben zwar nicht explizit, dass ihre Beobachtung, wonach keine genaue Übereinstimmung der Hirnhälften besteht, ein weibliches Phänomen darstellt, bzw. dies beim männ­ lichen Gehirn nicht ebenfalls möglich wäre. Dennoch spricht der Umstand für sich, dass das weibliche Gehirn gesondert abgebildet und mit dieser Zeile beschrieben ist. Indem Gall das weibliche Gehirn gesondert darstellte und als solches kennzeich­ nete, regte er allerdings auch die Darstellung individualisierter Organe an. Dies gilt ebenso für Tiedemanns Bild vom »Hirn der Frau eines Bosjemans, der bekannten Venus Hottentotte« 925 . Einen solchen Individualisierungsprozess hatte auch Lavater mit seinen Darstellungen von Gesichtern durchlaufen. In den Physiognomischen Fragmenten 926 wurden zuerst Gesichter allgemein besprochen, dann die verschiedener (männ­ licher) Individuen. ›Frauenspersonen‹ bildeten eine eigene, allgemeine Kategorie. Dieses Muster lässt sich auf die Hirnforschung übertragen. Erst im Zuge der Genie­ hirnforschung wurden individuelle Gehirne nicht nur erforscht, sondern vermehrt auch abgebildet.927 Soemmerrings kurze Abhandlung von 1784 enthält im Gegensatz zu der Tiede­ manns keine Bildtafeln. Wahrscheinlich war ihm Tysons Tafel bekannt, da sie Mitte des 18. Jahrhunderts erneut gedruckt worden war. Das Bild funktionierte bei Tyson als Antithese, mit der schon bestehende Theorien widerlegt werden sollen. Soemmer­ ring widerlegte wiederum Tyson. Darum erstaunt es, dass er es nicht als notwendig erachtete, seiner Schrift Bilder hinzuzufügen. Wahrscheinlich hatte er die Funktio­ nen von ihm verwendeter Abbildungen anders beurteilt. Darauf, welche Bildfunk­ tionen bei seinen späteren illustrierten Schriften von Bedeutung sind, wird unten nä­ her eingegangen. Mit Soemmerring haben wir bereits einen Protagonisten der Hirnforschung an­ gesprochen, der auch für die Geschichte der Physiognomik richtungweisend war, und zwar deshalb, »weil er ihr durch seine neuroanatomischen Untersuchungen eine an­ dere, naturwissenschaftliche Basis zu geben vermochte, die für die (physiognomisch orientierte) Anthropologie des 19. Jahrhunderts wegweisend gewesen ist« 928 . Wie eng 923 924 925 926 927 928

Vgl. Hans­Konrad Schmutz, Einführung, in Tiedemann (1984), S. XII. Gall/Spurzheim (1810a), S. 231. Legende zur fünften Tafel, ebd., S. 84. Vgl. S. 383. Auf Verbindungen zwischen Galls Lokalisationstheorien und der Elitegehirnforschung machen Brazier (1988), S. 15 und Hagner (2004) aufmerksam. Oehler­Klein (1990b), S. 87.

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Abb. 146: Weibliches Gehirn von basal, Tafel IV aus Anatomie et Physiologie du Système Nerveux en général, et du Cerveau en particulier, Atlas, Gall/ Spurzheim (1810/a).

physiognomische Fragestellungen mit denen der Hirnforschung und damit der ver­ gleichenden Anatomie des Gehirns verzahnt waren, wird im nächsten Abschnitt the­ matisiert. VON DE R PH YSIOGNOM I K ZU R H I R N FOR SCH U NG

Der Ursprung der Gesichtsdeutung liegt in der Antike. In Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft findet sich der Begriff Physiognomik als Kurzform der Physiognomonik. Sie wird dort als Wesenskunde beschrieben, »sofern sie es mit der erforschenden Beurteilung des menschlichen Charakters aus der äußeren Erschei­ nungsform zu tun hat, also aus der Gestalt (eidos) auf die Wesensart (huos) Schlüsse zu ziehen versucht« 929 . Physiognomie meinte die Gesichtsbildung oder im weiteren Sinne die ganze äußere Erscheinung der belebten und unbelebten Natur, also nicht nur die des Menschen, sondern auch die der Tiere, Pf lanzen sowie Gebirge oder Landschaf­ ten. Eine Deutung der menschlichen Physiognomie ging davon aus, dass Wechselbe­ ziehungen zwischen angenommenem Körperinhalt (der Seele) und Hülle (dem Kör­ 929

Paulys Real­Encyclopädie, Neununddreissigster Halbband (1941), Sp. 1064.

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per selbst) bestehen, aus denen sich Entsprechungen ablesen lassen. In der Allgemeinen Encyklopädie der Wissenschaften und Künste heißt es: Physiognomik [ist] die Kunst, aus den eigentümlichen Formen des menschlichen Hauptes, insbesondere der Stirn, des Angesichts, der bleibenden Mienen und Ge­ bärden, der Haltung und der Bewegung des Leibes überhaupt u.s.w., die norma­ len inneren Zustände, die stetige Beschaffenheit des Gemüthes, des Geistes, die Anlagen und Fähigkeiten der Psyche zu errathen, [sie] konnte im Altertuhm natür­ lich nur unter den gebildeten Völkern, und auch bei diesen erst dann zu einem besonderen Studium werden und eine wissenschaftliche Gestalt annehmen, nach­ dem die Psychologie und Physiologie bereits einen gewissen Grad der Cultur er­ reicht hatten.930

Wo also zunächst ›geraten‹ wurde, ermöglichen neue Erkenntnissysteme, etwa die Einteilung von Gesichtern in mathematische Einheiten, die Herausbildung einer Wis­ senschaft aus der Kunst. Doch nicht nur aus den festen Formen des Gesichts sollte ge­ deutet werden. Der Ausdruck des bewegten Körpers ermöglichte eine tiefere Einsicht über geistige und psychische Eigenschaften und solche des Gemüts. Die Worte Seele und Charakter finden sich in der Definition der Allgemeinen Encyklopädie nicht. 931 In den Schriften der Antike, besonders den Aristoteles zugeschriebenen Physiognomika, hatte der Mensch­Tier­Vergleich einen zentralen Status. Ein weiteres Augen­ merk lag auf der Entschlüsselung und dem Vergleich der Eigentümlichkeiten ver­ schiedener Volksstämme. Beide Methoden finden wir auch in der Hirnforschung wieder. Als dritter Ansatz des Aristoteles’ wird in der Allgemeinen Encyklopädie der ethi­ 930 931

Krause in Ersch/Gruber, 3. Sektion, Bd.25 (1850), S. 440. Der Definition des Wortes Physiognomik folgt ein mehrere Seiten umfassender Artikel über die Physiognomici veteres (scriptores physiognomici) des Altertums: Pytagoras, Aristo­ teles und Gelehrte aus dem Umfeld des Sokrates. Dem Disput über die Bildnisse des So­ krates werden sich auch Lavater und Goethe später anschließen, vgl. Luca Giuliani, Das älteste Sokrates-Bildnis. Ein physiognomisches Portrait wider die Physiognomiker, in Schmölders (1997b), S. 19ff. Er führt zum Themenfeld der Physiognomik als Werkzeug der Kunst­ schaffenden, vgl. Borrmann (1994), S. 59ff., und lässt die Diskussion über das Deuten von Bildnissen (wie sie Lavater hauptsächlich vornimmt) und somit über das Verhältnis von Urbild und Abbildung überhaupt anklingen. In der Allgemeinen Encyclopädie wird auch Polemon (1. Jahrhundert) erwähnt, vgl. Polemon, Physiognomik der Augen, in Schmölders (1997a), S. 176f. Bei ihm wird die Physiognomik in eine nationale und eine individuelle unterteilt, der jeweils verschiedene physiognomische Verfahren und körperliche Merkma­ le zuzuordnen sind, die es vor dem Hintergrund dieser zwei Richtungen abzuarbeiten gilt. Adamantios (Beginn des 5. Jahrhunderts), der Polemon rezipiert hatte, bestimmt u. a. noch den Unterschied der männlichen und weiblichen Physiognomik, ein Prinzip, das Lavaters Kapitel Frauenspersonen zugrunde liegt, und welches auch in der Hirnforschung des 19. Jahrhunderts eine Rolle spielte.

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sche Standpunkt genannt, welcher »die Zustände des von Affecten oder Leidenschaf­ ten bewegten Menschen« 932 beobachtet. Tendenzen dieser drei Richtungen lassen sich in der späteren Geschichte der Physiognomik stets wieder entdecken. Sie wurden weitergeführt, dabei neu akzen­ tuiert oder ideologisiert. Diesen Aspekten ordneten sich jene Merkmale unter, anhand derer jeweils Vergleiche getroffen wurden. Allen drei Punkten ist das »Gesetz der Entsprechung« 933 gemein: »Dieß Aeußerliche und Innere [des Menschen, W. L.] stehen offenbar in einem genauen unmittelbaren Zusammenhange« 934 . Die Bildung von Ana­ logien spielte nicht nur in Lavaters physiognomischen Arbeiten eine zentrale Rolle. Die von Lavater vor allem in seinem Hauptwerk, den Physiognomischen Fragmenten 935 in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begründete bzw. wiederbelebte Physio­ gnomik blieb der animistischen Theorie Stahls treu. Lavater verstand es, sie sowohl mit der dazu konträren Theorie der Präformisten als auch mit seinem pietistisch ge­ prägten Weltbild in Einklang zu bringen. Dessen eingedenk ist auch die Funktion der Analogie in der Physiognomik zu interpretieren. Die Seele ist nach Lavater sowohl im ganzen Körper zu erkennen, als auch in der kleinsten Faser, die sich analog zur Ge­ samtheit des Körpers verhält: »Wie der ganze Körper, so die Hand!« 936 . Demnach ging Lavater nicht von einem besonderen Ort der Seele aus. Dies entspricht Stahls Prinzip der »körperbauenden Seele«, das damit als »eine der Grundlagen der physiognomi­ schen Deutungslehre Lavaters« 937 angesehen werden kann. Lavater unterstützte die seit dem Altertum geläufige Auffassung, die Seele beru­ he auf der Harmonie der Elemente des Körpers. Neben der Harmonie ist ein weiterer zentraler Begriff der der Homogenität: Nach Lavater schafft die Natur im Gegensatz zur Kunst im Normalfall keine heterogenen, also unvollkommenen Gebilde. Seiner Definition nach ist Physiognomik die »Fertigkeit, durch das Aeußerliche eines Men­ schen sein Inneres zu erkennen, das, was nicht unmittelbar in die Sinne fällt, vermit­ telst irgend eines natürlichen Ausdrucks wahrzunehmen« 938 , denn der Mensch »besteht aus Oberfläche und Innhalt. Etwas an ihm ist äußerlich, und etwas ist innerlich« 939 . Goethe konstatierte: »Diese Wissenschaft schließt vom Äußern aufs Innere.« 940 Georg Christoph Lichtenberg (1724–1799) definierte die Physiognomik als »die Fertigkeit 932 933 934

935

936 937 938 939 940

Krause in Ersch/Gruber, 3. Sektion, Bd. 25 (1850), S. 441. Züst (1948), S. 39. Lavater (1984), S. 25.

Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente. Zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Leipzig 1775.

Lavater (1984), S. 201. Oehler­Klein (1990a), S. 153. Lavater (1984), S. 23. Ebd., S. 25. Goethe (1962), S. 199.

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[…], aus der Form und Beschaffenheit der äußeren Teile des menschlichen Körpers, hauptsächlich des Gesichts, ausschlüßlich aller vorübergehenden Zeichen der Gemüts­ bewegungen, die Beschaffenheit des Geistes und Herzens zu finden« 941. So selektierte er aus dem Physiognomikkonzept das, was er selbst unter dem Namen Pathognomik als wissenschaftliche Dimension der Ausdrucksdeutung beurteilte. Lavaters Verständnis des Verhältnisses von Körper und Seele war ein präformi­ stisches, das sowohl auf die leibnizsche Monadologie als auch auf die Idee von den zwei Substanzen in Bonnets Philosophische Palingenesie rekurrierte und letztlich auf den Lehren Descartes’ beruhte. 942 Der Dualismus von Geist und Körper verweist hier auf eine doppelseitige Relation von Ursache und Wirkung. Wenn das Äußere Einfluss auf das ihm zugehörige Innere hat, wirkt dann nicht umgekehrt das Innere auf sein Äuße­ res? Dieser Gedanke wurde zum Herzstück der physiognomischen Theorie Lavaters. Danach entsprechen sich Ursache und Wirkung in einer ihrer inneren Weisheit und Ordnung folgenden Natur – »allenthalben soll man nichts sicherer wahrnehmen, als dies unauf hörliche Verhältniß von Wirkungen und Ursachen«. Daraus folgerte er, dass »in dem schönsten und edelsten, was die Natur hervorgebracht hat […], im menschlichen Angesichte, [das] Verhältniß zwischen dem Aeußern und Innern, zwi­ schen Sichtbarem und Unsichtbarem« wirkt. 943 In Bonnets Schrift kam eine Präformation der Keime zum Ausdruck: Der von Gott geschaffene Keim enthalte Leib und Seele vorgebildet, die sich durch die Zeu­ gung und Zugaben wie Luft und Nahrung entwickelten. Diese Umwandlung ist viel­ mehr eine quantitative Veränderung, ein Wachsen: Aus einem Homunkulus erwächst der kleine, sich zum Großen entwickelnde Mensch. Bonnet ging davon aus, dass sich der Mensch im Sterben durch das Absondern der vorher aufgenommenen Zugaben wieder in den ursprünglichen Keim zurückverwandelt und hielt eine Auferstehung in Form einer zweiten Entwicklungsphase für möglich. 944 Dies scheint für Lavater ein naturwissenschaftlicher Beweis der christlichen Heilslehre gewesen zu sein, an dem ihm als Theologe und Naturforscher viel gelegen haben dürfte. Er verwarf diese Aussage später, da die im gesamten Körper ausge­ dehnte Seele bei Verstümmelung des Leibes Anteile verlieren müsste, was er jedoch bezweifelte. Um einem Verlust von Seele entgegenzuwirken, modifizierte Lavater die Theorie: Jener Teil der Seele, der sich in dem abgesonderten Gliedmaß befände, kön­ ne sich in die Wurzel der Seele zurückziehen. In welchem Teil des Körpers diese See­ lenwurzel seiner Ansicht nach zu finden ist, erfahren wir leider nicht.

941 942 943 944

Lichtenberg (1998), Bd. 3, S. 264. Die Philosophische Palingenesie wurde von Lavater zwischen 1769 und 1770 in Zürich ins Deutsche übersetzt. Den hier zitierten zweiten Teil veröffentlichte Lavater zuerst. Lavater (1984), S. 33. Vgl. Oehler­Klein (1990a), S. 155.

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Die Theorie der Präformisten steht der »von einem permanent wirkenden und bildenden Prinzip« 945 gegenüber. Stahl spricht der Seele einen Willen zu, durch den sie sich direkt in physische Abläufe einschalten kann. Sigrid Oehler­Klein verweist auf die Unvereinbarkeit beider Theorien, die Lavater jedoch nicht thematisierte. Wie eingangs erwähnt, gelang es ihm sogar, beide Positionen für die Physiognomik dienst­ bar zu machen. Die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Physiognomik wurde von verschie­ denen Autoren problematisiert. Sie gehört zu den »Non­Normal Sciences« des 18. Jahr­ hunderts. Dieser von Gloria Flaherty verwendete Begriff bezieht sich auf Disziplinen, die entweder eine Gegenposition zum Newtonianismus darstellten oder auf seit der Renaissance überliefertem Gedankengut fußten. Legitimiert wurden sie durch die Entlehnung wissenschaftlicher Fragestellungen oder Methoden. 946 Flaherty wirft die Physiognomik und die Phrenologie in einen Topf und schreibt, dass obwohl der Kon­ text zur Renaissance längst nicht mehr bestand, »they seemed to fill some kind of need during the Enlightenment before they submerged into folklore or became what nineteenth century then perpetrated as »the Occult«.« 947 An dieser Stelle übersieht Flaherty die enge Verbindung zur Hirnforschung, womit die Phrenologie weniger dem Okkulten als dem Repertoire der ›Normal Sciences‹ angehörte. Lavater selbst wollte die Physiognomik als »Wissenschaft der Wissenschaften« verstanden wissen, die »dann keine Wissenschaft mehr seyn [wird] – sondern Empfin­ dung, schnelles Menschengefühl«.948 Er forderte die Anthropologen und Naturkun­ digen seiner Zeit auf: »Also – Forscher der Natur! forsche was da ist! – also Mensch – sey Mensch in allen deinen Untersuchungen!« 949 Ludwig Klages nahm in seinem Aufsatz Prinzipielles bei Lavater (1901) eine Untersuchung der wissenschaftlichen Arbeits­ weise Lavaters vor. Er kam zu dem Ergebnis, dass dieser mit der Methode des induk­ tiven Vergleichens arbeitete oder, indem er die »Geschichte und Kunst im Rahmen seiner Empirie« hinzuziehe, einen »methodisch richtige[n] Forschungskunstgriff« tätig­ te.950 Schließlich habe Lavater »grundsätzlich wertvolle Beobachtungsregeln gegeben« 951 und es »nicht unterlassen, auf die in der Sprache niedergelegten physiognomischen Intuitiverfahrungen hinzuweisen« 952 .

945 946 947 948 949 950 951 952

Ebd. Vgl. Flaherty (1995), S. 271. Ebd., S. 272. Lavater (1984), S. 44. Dass die eigene Wissenschaft den Charakter einer allgemeinen Wis­ senschaft bzw. Leitwissenschaft haben soll, ist ein Anspruch, den auch Neurowissenschaft­ ler heute erheben, vgl. Gehring (2004), S. 279. Ebd., S. 146. Klages (1927), S. 64. Ebd. Ebd., S. 55.

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1791, also sechzehn Jahre nach dem Erscheinen des ersten Bandes der Physiognomischen Fragmente, veröffentlichte Johann Christian August Grohmann (1769–1847) seine Schrift Ideen zu einer physiognomischen Anthropologie, in der er die Physiognomik als Mittel der Anthropologie vereinnahmte. Wenn wir an diesem Punkt zur Doppel­ natur des Menschen zurückkehren und die Themenfelder der Anthropologie und de­ ren Verknüpfungen und Wechselwirkungen abschließend betrachten, werden die Verbindungen zur Physiognomik deutlich. Die Leiblichkeit des Menschen und seine moralische Existenz, die Individualität, der Begriff einer natürlichen Verschiedenheit, die neben Geschlecht und Trieben z. B. die Temperamente und das Unbewusste um­ fasste, bilden das Innere und Äußere des Menschen. Beide Disziplinen wollten das spekulative Element zugunsten einer empirischen Forschung aufgeben. In der Physio­ gnomik wurden die Hauptpunkte der Anthropologie zusammengeführt. Im zweiten Teil seiner Anthropologie ordnete Kant die Physiognomik der an­ thropologischen Charakteristik unter. Er definierte sie als »Kunst 953 , aus der sichtbaren Gestalt eines Menschen, folglich aus dem Äußeren das Innere desselben zu beur­ teilen« 954 . Kant problematisierte diesbezüglich die Frage des Geschmacks und schloss die Möglichkeit einer Physiognomik als Wissenschaft aus, weil die Eigentümlichkeit einer menschlichen Gestalt, die auf gewisse Neigungen oder Vermögen des angeschauten Subjekts hindeutet, nicht durch Beschreibung nach Begriffen, sondern durch Abbildung und Darstellung in der Anschauung oder ihrer Nachahmung verstanden werden kann 955 .

Zum Ende des Jahrhunderts der Auf klärung, als die große Modewelle der Physiogno­ mik langsam verebbte, war sie bei Kant ein untergeordnetes, wenn nicht fragwür­ diges Instrument zur Charakterisierung von Personen. In der physiognomischen Diskussion spielte der Begriff des Individuums eine entscheidende Rolle. Wilhelm Voßkamp verweist auf die »anthropologische Wende« im 18. Jahrhundert, »deren Interesse dem einzelnen Individuum als einem ebenso un­ erschöpf baren wie unberechenbaren und zugleich entwicklungsfähigen Subjekt gilt«. 956 Der »gottgewollte[n] Beitrag zur Anthropologie des Menschen« 957, den Lavaters Physiognomische Fragmente darstellten, verdeutlichte die Individualität und somit die Ein­ zigartigkeit des Menschen einerseits, ließ ihr allerdings durch die Schematisierung von Merkmalen und die Einordnung der Menschen keinen Raum. Bei Lavater, der dem Individuellen das Gemeinsame des Göttlichen überordnete, ist der Mensch »auf 953 954 955 956 957

Karl Vorländer weist darauf hin, dass es an dieser Stelle sowohl in der Handschrift als auch in der 1. Auf lage »Lehre« heißt. Kant (1912), S. 239. Ebd., S. 241. Voßkamp (2002), S. 150. Ebd.

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Erden« das »allerwichtigste und bemerkenswürdigste Wesen«, denn »Vollkom­ meneres, Höheres hat die Natur nichts aufzuweisen«. 958 Die Semiotik des Körpers war damit – im lavaterschen Verständnis – in die Anthropologie, die er als Kenntnis des Menschen verstand, eingegliedert. * Dem hohen Anspruch, den die Anthropologie hatte, nämlich die Gemeinschaft von Körper und Seele zu veranschaulichen, wurde die Physiognomik letztlich nicht ge­ recht. Kann die Physiognomik dennoch als Vorläuferin der modernen Hirnforschung und späteren Neurowissenschaften gelten? Bei dem Versuch, diese Frage zu beantworten, können wir zunächst feststellen, dass die Hirnforschung im 19. Jahrhundert mit der Phrenologie eine Disziplin hervor­ brachte, die, ebenso wie die Physiognomik im ausgehenden 18. Jahrhundert, über das Bemühen der Wissenschaftler um Erkenntnisgewinn hinaus eine Modeerscheinung darstellte. Das wissenschaftliche Forschen unterlag verschiedenen Methoden oder Verfahren, die mit der Zeit weiterentwickelt wurden. Für das 18. Jahrhundert war die baconsche Forderung nach einer vergleichenden Sinnesbeobachtung und dem Expe­ riment relevant, da deren »Analyse der Einzelerscheinungen zu allgemeinen Gesetzen führen« 959 . Auch Goethe äußerte sich in diesem Sinne zum wissenschaftlichen Arbei­ ten: »Nicht also durch eine außerordentliche Gabe des Geistes, nicht einmal durch eine momentane Inspiration, noch unvermutet und auf einmal, sondern durch folge­ rechtes Bemühen bin ich endlich zu einem so erfreulichen Resultate gelangt.« 960 Sol­ che intensiven und langwierigen Beobachtungen scheinen ein In­Mode­Kommen der Wissenschaft auszuschließen. Dennoch – »Wissenschaft war modisch geworden; wissenschaftliche Abhandlungen und Rezensionen veröffentlicht zu haben, befrie­ digte das Selbstbewußtsein vieler Gebildeter und diente überdies als Empfehlung für Positionen und Ämter« 961. Jeder gebildete Mensch des 18. Jahrhunderts legte sich ein wissenschaftliches Steckenpferd zu. Der Dilettantismus trieb immer neue Blüten. Er war allerdings, wie Goethe betonte, eher als Chance denn als Gefahr eines Rück­ schritts zu bewerten. 962 Wohlhabende Privatleute legten Sammlungen an, in den Sa­ lons wurde philosophiert, Gesichter und Schädelformen wurden gedeutet. Zusam­ men mit der Ausübung des Okkulten, etwa dem gemeinsamen Abhalten von Séancen, bildeten diese Praktiken so etwas wie einen gesellschaftlichen Nährboden, auf dem Wissenschaftler und Wissenschaften bestens gediehen: 958 959 960 961 962

Lavater (1984), S. 25. Jahn (2000), S. 197. Goethe (1962), S. 66. Vierhaus (1985), S. 14. Zur Kultur des Dilettantismus im 18. Jahrhundert vgl. u. a. Martin Domke, Goethe und Lichtenberg. Betrachtungen zum Wesen des Dilettantismus, Leipzig 1935.

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The legacy of physiognomy and other non­normal sciences was actually quite far­ reaching. Most obvious was their contribution to »the Occult« and the spiritualism of the nineteenth century. Less obvious was their profound contribution to the in­ vention of the human sciences. 963

Flaherty nennt verschiedene Arten der Einflussnahme nicht­normaler Wissenschaften auf den wissenschaftlichen Fortschritt. Durch sie sei die Mechanisierung von Natur in Frage gestellt worden und der Mensch mit seinen Schwächen, aber auch seinen Stär­ ken, z. B. der Phantasie, ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt: They disavowed the mechanization of nature. They kept the individual with all his foibles at the center of attention. They refused to surrender imagination to reason. They stressed the importance of understanding man’s effect on man. They upheld the idea of scientific counterculture. And they belived that joined efforts would contribute to reestablishing world harmony.964

Physiognomische und später phrenologische Studien waren Teil einer derartigen wissenschaftlichen Gegenkultur, die letztlich Einf luss auf normale Wissenschaften, wie die spätere Neurologie nahmen. Viel beachtete Publikationen und Forschungser­ gebnisse aus Anthropologie und Physiognomik regten eine Veränderung dessen an, was Hirnforschung um 1800 repräsentierte, und der Art, wie sie sich präsentierte. Zu dieser Zeit hatte sich die physische Anthropologie durchgesetzt. Daneben wurde die Neuroanatomie »mehr und mehr zu einem Instrument […] für die Legitimation von Standortbestimmungen des Menschen, die im sozialen und weltanschaulichen Gefü­ ge […] fest verankert waren« 965. Gleichzeitig spielte die Physiognomik, unabhängig von Kants Votum, noch immer eine bedeutende Rolle. Sie wurde auch in Entwürfen für neue, den Menschen betreffende Forschungsansätze berücksichtigt. Konzepte wie etwa das der Erfahrungsseelenkunde von Karl Philipp Moritz (1756–1793) zeigen, dass sich die Wissenschaften vom Menschen mit dem anatomischen Bauplan ebenso wie mit den geistigen und seelischen Kräften befassten: »Wer siehet nicht ein, daß Lavaters Physiognomik immer ein vortreff licher Beitrag zu einer Erfahrungsseelenlehre bleiben wird, und daß dieselbe vielleicht nur darauf wartet, in ein größeres Ganzes eingeschoben zu werden, um ihre völlige Nutzbarkeit zu zeigen?« 966 Dieses ›größere Ganze‹ war eine Anthropologie, die Körper und Seele zu ihren Forschungsgegenständen machte. Am vielleicht interessantesten Punkt, der Schnitt­ menge zwischen Körper und Seele, trafen sich verschiedene Disziplinen: Physiogno­ 963 964 965 966

Flaherty (1995), S. 268. Ebd. Hagner (1993), S. 5. Moritz (1999), S. 797.

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mik und in der Folge Phrenologie, Erfahrungsseelenkunde und andere auf die Psyche abzielende Ansätze, Medizin und schließlich eine begriff lich und inhaltlich noch nicht festgelegte Hirnforschung. Die Wurzeln der heutigen Hirnforschung, die selbst ja noch immer von verschiedenen Disziplinen besetzt wird, liegen letztlich also so­ wohl in metaphysischen und psychologischen, als auch in medizinischen und biolo­ gischen Diskursen. Im Jahrhundert der Auf klärung wurde der Mensch als vitale Wunderkammer fragmentarisiert, klassifiziert und inventarisiert. Auch das Hässliche, Abnorme und Pathologische im Körperbild hatte begonnen, eine Rolle zu spielen.967 Durch Analo­ giebildung und Abgrenzung vom Anormalen kamen Anthropologen zu einem Desi­ derat Mensch. Dessen Körpereigenschaften waren festgelegt. Das Ergebnis war ein Typus. Dieses normative Menschenbild, das ebensolche Bilder vom Menschen be­ günstigte, spiegelte sich in all seinen Teilen. Besonders gut lässt sich das am Zentralor­ gan Gehirn nachvollziehen. Physiognomen und Vertreter der physischen Anthropo­ logie wandten sich gegen den Materialismus eines La Mettrie, dem sie vorwarfen, die Differenzen (z. B. zwischen Mensch und Affe) einzuebnen und damit die bestehende Morallehre anzugreifen. Dabei spürten sie selbst kleinste Unterschiede zwischen ver­ schiedenen Gehirnen auf und leiteten daraus soziale und kulturelle Hierarchien ab. Hagner weist darauf hin, dass so dem Rassismus in der Hirnforschung Vorschub ge­ leistet wurde.968 Auch nach 1800 operierte die Hirnforschung mit physiognomischen Methoden, wie u. a. die gallsche Schädelkunde zeigt, die fast das ganze 19. Jahrhundert über zwi­ schen beiden Disziplinen bestand. Mit den Denksystemen Physiognomik und Phre­ nologie versuchten ihre Begründer bzw. Wiederentdecker antikes Wissen und intui­ tive Erfahrungswerte zusammenzubringen und als anthropologische Wissenschaften zu etablieren: »What the systems of Lavater and Gall and Spurzheim aspired to accom­ plish was to place the ancient and instinctual business of reading the ›signs‹ onto a basis that was ›scientific‹ by late eighteenth­century standards.« 969 Oehler­Klein hat die Funktion von Soemmerrings Neuroanatomie als Binde­ glied zwischen Physiognomik und Anthropologie dargelegt. Sie arbeitet heraus, dass zur Zeit Lavaters und Soemmerrings die Grenze zwischen Physiognomik und Anthro­ pologie nicht klar gezogen werden kann. Dies zeigt sich u. a. darin, daß Soemmerring die »Übereinstimmung seiner Forschung mit der zeitgenössischen physiognomischen Vorstellung von einer gesetzmäßigen Beziehung zwischen idealer Gestalt und vollkom­ menen geistigen Fähigkeiten deutlich machte, ja sogar mittels der Ergebnisse seiner

967 968 969

Vgl. Stafford (1993); Hagner (1999b). Vgl. Hagner (2004), S. 45. Kemp/Wallace (2000), S. 111.

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neuroanatomischen Forschung eine exakte Begründung für ein solches physiogno­ misches Urteil zu liefern glaubte« 970 . Die neurologische Methode Soemmerrings und seiner Vorgänger basierte in Teilen ebenso auf Analogiebildung wie die Physiognomik. Das hing u. a. mit der Lehre von den vier Temperamenten zusammen, die nie ganz in Vergessenheit geraten war. Aggregatzustände des Gehirns wurden auf geistige Vermögen rückgeführt. So entsprach ein weiches, gut durchfeuchtetes Gehirn einem regen Geist, wogegen ein hartes, tro­ ckenes Hirn auf einen altersschwachen oder geisteskranken Menschen hindeutete. Eine dritte und vierte Möglichkeit waren, dass der Forschende es hier mit dem Gehirn eines Menschen zu tun hatte, der dem anderen, nämlich weiblichen Geschlecht oder einer fremden ›Rasse‹ angehörte. In der Meinung einzelner Forscher variieren Bedeu­ tung und Deutungsmöglichkeiten der Größe, des Gewichts, des Flüssigkeitsgehalts, der Konsistenz oder Temperatur des Gehirns oder verkehren sich sogar ins Gegenteil. Fest steht, dass der Hirnanatom das tut, was auch der Physiognom tut: Er findet einen Zustand am sichtbaren Objekt vor und bezieht ihn auf dessen innere Eigenschaften. In der Schädellehre nach Gall war nicht mehr der ganze Körper, sondern einzig der Kopf Träger zu interpretierender Zeichen. Richtig müsste es Kopf lehre heißen, denn obwohl es der Schädelknochen war, der vermessen wurde, gab er ja lediglich die äußere Form des Gehirns an. Wie unten beschrieben sah Gall sich selbst eher als Hirn­ forscher denn als Schädelkundler. Durch seine Einteilung des cerebralen Kortex in verschiedene Segmente, in denen er festgelegte Eigenschaften verortete, versucht auch er das Seelische am Körperlichen festzumachen. Im Grunde war die Phrenologie eine weitere praktische Anwendung physiognomischen Denkens. Die enge Verbindung zwischen Physiognomik und Hirnforschung lebte immer wieder auf – bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Die Elitegehirnforschung war eng mit physiognomischen Prinzipien verknüpft. Die Kartierung der Hirnrinde diente dem Bestreben, bestimmte Eigenschaften des verstorbenen Menschen z. B. von der Anzahl der Hirnwindungen abzulesen. Auch hier ist die Idee der Analogiebildung von Belang: je mehr Hirnwindungen, desto größer das Genie. Im folgenden Kapitel weise ich auf diese besondere ›Verwandtschaft‹ immer wie­ der hin. Sie muss als ideologisches Moment noch in der aktuellen Hirnforschungs­ debatte mitgedacht werden. Die Behauptung, dass es in der Anatomie, anders als in physiognomischen Diskursen, nicht um die Verknüpfung von Körper und Persönlich­ keit gegangen sei, wird in der Hirnanatomie m. E. aufgehoben.971 Eine ›rein anato­ mische‹ Betrachtungsweise des Gehirns, d. h. eine Anatomie, die ohne Schlussfolge­ rungen auf analogische Konzepte zwischen Außen und Innen, zwischen Bau und Funktion und letztlich zwischen Körper und Seele auskommt, ist zu dieser Zeit nicht vorstellbar. 970 971

Oehler­Klein (1990b), S. 59. Vgl. Schirrmeister (2005), S. 8.

»Ü BER DI ESE GEGEN D A BER IST M A N GA R N ICHT EIN IG« 9 72 – HIR N BILDER ZW ISCH EN SE ELENORGA N U N D PH R ENOLOGI E Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren. Wo sie sich durchdringen, ist er in jedem Punkte der Durchdringung. 973 Novalis

Um 1800 hatte, wie Heinrich Steffens (1773–1845) etwa vierzig Jahre später resü­ mierte, »die Selbständigkeit des Denkens und die Sucht, Neues zu schaffen, […] eine Mannigfaltigkeit der wissenschaftlichen Formen erzeugt« 974 . Es hat sich gezeigt, dass sich die Wissenschaftsgeschichte im Versuch, eine Demarkationslinie zwischen einem rationalen Wissenschaftsbegriff der Auf klärung – der als solcher nicht haltbar ist, wie ich andernorts im Bezug auf die Physiognomik zu zeigen versucht habe 975 – und der im romantischen Philosophieren verstrickten Naturforschung des 19. Jahrhunderts zu ziehen, selbst die Luft abdrückt. Gerade Forscherpersönlichkeiten wie Samuel Tho­ mas von Soemmerring (1755–1830) oder Franz Joseph Gall (1758–1828) und Johann Caspar Spurzheim (17776–1832) führen solche Trennungen ad absurdum. Sowohl am Beispiel Galls als auch an dem Soemmerrings zeigt Oehler­Klein die Tendenz auf, mit der die traditionelle Physiognomik durch das zunehmende »Interes­ se, das man dem Gehirn als der anatomischen Basis aller psychischen und geistigen Vorgänge entgegenbrachte« 976 , an Boden verlor. Dennoch stellt sie fest, dass »die Ro­ mantik noch einmal mit der Naturphilosophie und der proklamierten Identität von Natur und Geist die ganzheitliche Physiognomik förderte« 977. Die Forschung Soem­ merrings und Galls markiert den Übergang zwischen den Denkrichtungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Am Ende der Spezialisierungsbestrebungen einzelner Posi­ tionen stehen die modernen Naturwissenschaften. Diese bleiben allerdings, wie wir in der Retrospektive und in den Beobachtungen zeitgenössischer Bestrebungen sehen können, ebenfalls nur für begrenzte Zeiträume feste Größen. Die Ursache dieses »Prinzip[s] der Vereinzelung, der wechselseitigen Entfrem­ dung« 978 , das zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Entwicklung unterschiedlicher wis­ 972

973 974 975 976 977 978

Bernoulli (1804), S. 42.

Novalis (1837), S. 161. Steffens (1956), S. 237. Steffens Erinnerungen erschienen in zehn Bänden zwischen 1840 und 1844 in Breslau. Larink (2003). Oehler­Klein (1990b), S. 87. Ebd. Steffens (1956), S. 237.

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senschaftlicher Ausrichtungen bewirkte, lag im Absolutheitsanspruch der Zeit. »Gall war kein Romantiker«, schreibt Mocek, »was die Naturphilosophie der Romantik von ihm übernehmen konnte, das war die zugleich einfache und geniale Art, aus dem romantisch­philosophischen Prinzip der Entsprechung von Innen und Außen schä­ deltheoretische Folgerungen zu ziehen«. 979 Soemmerring hingegen bediente sich bei überlieferten Hirnmythen. So wie die Romantiker auf die literarische Kultur des Mittelalters zurückgegriffen hatten, griff er die Lehre von den Hirnventrikeln wieder auf. Dabei reproduzierte er nicht einfach längst überkommene Theorien, sondern bil­ dete seine avantgardistische Hirntheorie mit Hilfe neuer anatomischer Methoden da­ rauf ab.

979

Mocek (1995), S. 40.

FOR M FOLLOWS F U NCTION – SOEM M ER R INGS HIR NSCH N ITT Samuel Thomas von Soemmerring erneuerte im ausgehenden 18. Jahrhundert die Ventrikellehre. Dabei erreichte er »den damaligen Höchststand hirnanatomischer und hirnpathologischer Untersuchungen« 980 und legte die daraus gewonnenen Erkennt­ nisse seiner Theorie vom Seelenorgan zu Grunde. Aus medizinischer Sicht ist sein größtes Verdienst eine neue Einteilung der Hirnnerven, die bis heute Gültigkeit be­ sitzt.981 Das Gehirn war für Soemmerring das vornehmste und zugleich zarteste Or­ gan des Menschen.982 Er nannte es 1788 »das ausschließliche Organ des Seelenver­ mögens und der Denkkraft« 983. Trotz dieses Statements findet sich in der frühen Schrift Vom Hirn und Rückenmark 984 noch kein Hinweis auf einen speziellen Ort für die Seele im Gehirn. Er beschränkte sich hier fast ausschließlich auf anatomische und wenige physiologische Beschreibungen. Zur Höhlenf lüssigkeit bemerkte er lediglich: »In die­ sen Höhlen scheint eine besondere Feuchtigkeit abgesondert zu werden.« 985 Bei seiner Suche nach den Anfängen und Enden der Hirnnerven kam Soem­ merring zu dem Ergebnis, dass sich diese an den Wänden der Ventrikel befinden und durch die Ventrikelf lüssigkeit (aqua ventriculorum cerebri) miteinander in Kontakt ste­ hen. Diese »Feuchtigkeit« hatte im Prinzip die gleiche Funktion wie der Spiritus ani­ malis bei Galen.986 Sie funktionierte als »vereinigendes Mittelding (Medium uniens)« 987, als Verbindung und Austauschmedium zwischen den Nervenenden. Das Sensorium commune, nach Kant der »Empfindungsplatz« 988 oder das »gemeinsame Sinnenwerk­ zeug« 989 , übersetzte Soemmerring als »Gemeinschaftlichen Empfindungsort« 990 . All diesen Formulierungen »liegt die Prämisse zugrunde, daß die Interaktion von Körper und Seele räumlich und materiell fixierbar ist« 991. Vierzehn Jahre später werden Gall

980 981 982 983 984 985 986 987 988 989 990 991

Oeser (2002), S. 101. Vgl. Wenzel, in Soemmerring (1999), S. 11. Finger beglückt uns mit dem Wissen, dass Soemmerring von Zeitgenossen liebevoll »Herr Neurologue« genannt wurde, vgl. ders. (1994), S. 77. »Encephali humani, nobilissimi simul et delicatissimi organi«, Soemmerring (1799), S. 3. Soemmerring (1788), S. 1. Samuel Thomas Soemmerring, Vom Hirn und Rückenmark, Mainz 1788. Ebd., S. 101. Vgl. Wenzel, in Soemmerring (1999), S. 21. Soemmerring (1788), S. 37. Kant in Soemmerring (1796), S. 81. Kant (1922), S. 405. Soemmerring (1796), S. 29. An anderen Stellen benutzte Soemmerring die Begriffe »Ge­ meinschaftliche Empfindungsstelle«, ebd., S. 31 oder »Gemeinschaftliches Sensorium«, ebd., S. 36. Hagner (2000), S. 10f.

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und Johann Caspar Spurzheim (1776–1832) die Existenz eines solchen Ortes vernei­ nen: »Il n’existe et il ne peut exister aucun point de réunion de tout les systèmes ner­ veux.« 992 SOE M M E R R I NG, K A N T U N D DA S SE E L ENORGA N

Noch im Jahre 1777 hatte Soemmerring eher der Äquipotenztheorie nahegestanden und die Idee, dass ein bestimmter Teil des Gehirns als Seelenorgan fungieren könnte, abgelehnt.993 Nur langsam näherte er sich der Idee vom Seelenorgan an. 1791 legte er in Vom Baue des menschlichen Körpers 994 dar, dass sich das Sensorium commune dort befindet, wo sich die Hirnnerven im Mark vereinen. 995 1796 veröffentlichte Soemmerring seine Schrift Über das Organ der Seele 996 . Er war nun beim Seelenorgan angekommen. Wie war diese Entwicklung vor sich gegan­ gen? Reinhard Hildebrand berichtet von einer Art Epiphanie, die Soemmerring bei der Lektüre Platners hatte. Während er dessen Beschreibung, wie die Seele als zen­ trales Prinzip dem Organismus Leben einhaucht, las, sei sein Blick zufällig auf einige neben ihm liegende Zeichnungen gefallen. In diesem Moment habe er gewusst, dass das Gemeinschaftliche Empfindungsorgan in der Ventrikelf lüssigkeit bestehen müs­ se. 997 Dass Soemmerring, der nach eigenem Bekunden 134 menschliche und weitere 136 Tiergehirne eigenhändig seziert hatte, 998 zu seiner ebenso vielbeachteten wie um­ strittenen Theorie vom Seelenorgan durch das Betrachten von Bildern kam, ist be­ merkenswert. Dieser am Bild initiierte Moment der Erkenntnis verdeutlicht einmal mehr, inwiefern Bilder nicht einfach Forschungsobjekte zeigen, sondern selbst solche Objekte sein können. Mit der Schrift zum Seelenorgan versuchte Soemmerring einen Spagat zwischen Naturwissenschaft und Metaphysik, und dies zu einem Zeitpunkt, da sich die einzel­ nen Disziplinen durchaus schon voneinander emanzipiert hatten und sich mehr oder weniger unabhängig entwickelten. Obwohl er Kant als Gewährsmann beansprucht hatte und so die ihm fachfremde philosophische Perspektive geadelt glaubte, hielten nicht wenige seinen Ansatz für völlig verfehlt.999 In jedem Fall muss er vor dem Hin­ tergrund von Herders Versuch betrachtet werden, beide Standpunkte der Doppel­ existenz des Menschen, den einer Naturgeschichte der Seele und den ihrer göttlichen Herkunft und Unteilbarkeit, gleichberechtigt nebeneinander zu stellen. Damit hatte 992 993 994 995 996 997 998 999

Gall/Spurzheim (1810), S. 225. Hildebrand (2005), S. 339. Samuel Thomas Soemmerring, Vom Baue des menschlichen Körpers, Frankfurt a. M. 1791. Hildebrand (2005), S. 339. Samuel Thomas Soemmerring, Über das Organ der Seele, Königsberg 1796. Vgl. Hildebrand (2005), S. 340; Soemmerring (1796), S. 32. Vgl. ebd., S. 338. So z. B. Soemmerrings Biograph Rudolph Wagner (1805–1864), vgl. Wagner (1844), S. 66.

F O R M F O L LO W S F U N C T I O N – S O E M M E R R I N G S H I R N S C H N I T T

dieser neue, allerdings äußerst stimulierende Fragen für die Hirnforschung aufgewor­ fen, die Soemmerring zu beantworten suchte.1000 Die Seele galt Soemmerring als abgeschlossene Wesenheit1001, die alle Lebens­ vorgänge steuernd durch und mit dem Körper ihre Wirkung entfaltet. Ob bei ihm die Höhlenf lüssigkeit mit dem Seelenorgan identisch ist, bleibt zunächst ungeklärt. Eine scharfe Unterscheidung von Seelenorgan und Seelensitz findet sich in Über das Organ der Seele nicht.1002 Er bleibt mehrdeutig, indem er schrieb, dass das »sensorium commune in der Feuchtigkeit der Hirnhöhlen […] bestehe, oder in der Feuchtigkeit der Hirn­ höhlen sich finde, oder wenigstens in der Feuchtigkeit der Hirnhöhlen gesucht wer­ den müsse; kurz: daß die Flüssigkeit der Hirnhöhlen das Organ desselben sey.«1003 Kant hingegen unterschied den Sitz der Seele (sedes animae) vom gemeinsamen Empfin­ dungsplatz (sensorium commune). Diese Uneinigkeit über den Begriff vom Sitz der Seele war es schließlich, die einen ›Streit der Fakultäten‹ hervorrief. Soemmerring diskutierte den Vereinigungs­ ort aller Nerven, die Markbündel des Großhirns, als möglichen Sitz der Seele, wollte aber das Gemeinschaftliche Sensorium nicht auf einen so kleinen Teil des Hirnmarkes beschränken.1004 An dieser Stelle legte er den Grundstein zu der Frage, die Kern seines Antrages an Kant werden sollte, und die er durch ihn im Nachwort zu seiner Schrift beantwortet wissen wollte. Soemmerring war überzeugt von der Unmöglichkeit, das Sensorium commune in einem starren, soliden Teil des Gehirns vorzufinden. Doch diese Erkenntnis warf wiederum die grundlegende Frage auf, ob eine Flüssigkeit »animirt seyn«1005 könne. Ihre Beantwortung fällt nach Soemmerrings Dafürhalten nicht in den Bereich der Physiologie, sondern in den der Transzendenz und wurde an Kant weitergereicht. Immanuel Kant nimmt in der Gruppe derer, die sich mit diesem Problem be­ schäftigten, eine besondere Stellung ein. Er hatte von Soemmerring selbst den Auf­ trag angenommen, das Nachwort zum Organ der Seele zu schreiben. Kant hatte drei Entwürfe verfasst, von denen der letzte im Druck Verwendung fand. Der ihm von Soemmerring angetragenen Aufgabe, den metaphysischen Aspekt der Idee vom Ge­ meinsamen Sensorium näher zu beleuchten, begegnete Kant durchaus mit Skepsis. Was sich beim ›Streit der Fakultäten‹ manifestieren sollte, deutete sich hier an. Kant sprach von der medizinischen Fakultät, die, anatomisch­physiologisch ausgerichtet, der Philosophie mit ihrer psychologischen und metaphysischen Ausrichtung entge­

1000 1001 1002 1003 1004 1005

Vgl. Hagner (1993), S. 4f. Vgl. Weber (1987), S. 1. Vgl. Wenzel, in Soemmerring (1999), S. 7. Soemmerring (1796), S. 32. Vgl. ebd., S. 34f. Ebd., S. 37.

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gensteht.1006 Er befand sich nun in dem Dilemma, der einen Fakultät anzugehören und für die andere sprechen zu sollen. Obwohl er im naturwissenschaftlichen Metier bewandert war, bereitete ihm die Kompetenzfrage doch so viel Kopfzerbrechen, dass er sie in allen geschriebenen Fassungen ausführlich erörterte.1007 Des Weiteren ging es Kant in allen Entwürfen darum, zu verdeutlichen, dass die Seele kein Gegenstand äußerer Sinne ist oder sein könnte. Aus diesem Grunde könne sie auch keinen Sitz (Ort) im Körper einnehmen. Soemmerrings Schrift, die sich mit den Gesetzen und Prinzipien der Vitalität, also der Lebenskraft in tierischen Körpern auseinandersetzte, versuchte demnach, Aussagen über zwei ungleiche Gegenstände zu machen, eben über den Leib und über die Seele. Nach Kant dürfen die Organe des Gehirns »nicht Gegenstand der Psychologie sein, so wie die Seele nicht Gegenstand der Anatomie sein darf«1008 . Ein Ergebnis wäre also nur durch eine Kompetenzver­ schränkung, also durch die Zusammenführung der Disziplinen möglich gewesen.1009 Obwohl Kant aufgezeigt hatte, dass man es bei der Bearbeitung dieses Problems nicht Philosophen und Medizinern gleichermaßen recht machen kann1010 , hat er dennoch diesen Versuch unternommen. Erstaunlicherweise argumentierte er überwiegend naturwissenschaftlich und drängte sich damit in Soemmerrings Bereich: »Der eigent­ liche Witz an Kants Antwort liegt gerade darin, daß er streng zwischen Metaphysik und Naturwissenschaften unterscheidet, um dann ohne große Hemmungen als Na­ turwissenschaftler zu reden.«1011 Kant begründete seine Argumentation damit, dass man die Frage nach dem Sitz der Seele in der Erörterung der Kompetenzproblematik außen vor lassen könne, welches um desto mehr mit Recht geschehen kann, da er eine locale Gegenwart, die dem Dinge was bloß Object des inneren Sinnes und so fern nur nach Zeitbedin­ gungen bestimmbar ist, ein Raumesverhältniß beylege, verlanget aber eben damit sich selbst widerspricht, anstatt daß eine virtuelle Gegenwart, welche bloß für den Verstand gehört, ebendarum aber auch nicht örtlich ist, einen Begriff abgiebt, der es möglich macht, die vorgelegte Frage (vom sensorium commune) bloß als physio­ logische Aufgabe zu behandeln.1012

1006 Soweit nicht anders angegeben wird im Folgenden stets Bezug auf die im Organ der Seele erschienene Druckfassung von Kants Text genommen. Die anderen Fassungen folgen Kant’s gesammelten Schriften und sind wie dort mit H1 bis H3 bezeichnet. 1007 Vgl. Kant in Soemmerring (1796), S. 81; Kant (1922), H1/H2/S. 404. 1008 McLaughlin (1985), S. 197. 1009 Vgl. Kant (1922), H2/S. 405. 1010 Vgl. Kant in Soemmerring (1796), S. 82. 1011 McLaughlin (1985), S. 198. 1012 Kant in Soemmerring (1796), S. 82.

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Mit der Einschränkung, der Seele keine räumliche, sondern lediglich eine virtuelle Präsenz in der Hirnf lüssigkeit zuzubilligen, konnte Kant sich der Frage Soemmer­ rings zuwenden, ob eine Flüssigkeit animiert sein könne. Nahm er Wasser als nichtor­ ganisierte Substanz an, musste für Kant außer Frage stehen, dass Hirnf lüssigkeit als Seelenorgan ungeeignet ist. Um diesem Problem aus dem Weg zu gehen, wechselte er von einem physikalischen auf ein chemisches Erklärungsmodell, indem er den Ner­ ven die Fähigkeit zusprach, die Flüssigkeit der Hirnhöhlen in Urstoffe zu zersetzen, die wiederum dazu in der Lage waren, unterschiedliche Empfindungen auszulösen.1013 Wenn »diese Stoffe, nach auf hörendem Reiz, so fort wiederum zusammenf lössen; so könnte man sagen, dieses Wasser werde continuierlich organisiert, ohne doch jemals organisiert zu seyn«. Durch diese Überlegung kam Kant zu dem Schluss, dass »dassel­ be erreicht wird, was man mit der beharrlichen Organisation beabsichtigte, nämlich die collective Einheit aller Sinnenvorstellungen in einem gemeinsamen Organ (sen­ sorium commune)«.1014 Dieser theoretische Schachzug jedoch erfüllte die eigentliche Aufgabe, die Be­ antwortung der Frage nach dem lokalen Sitz der Seele, nicht. Der blinde Fleck, von dem aus der Mensch mit seinen inneren Sinnen, die wie die Seele immateriell sind, im materiellen, also zu den äußeren Sinnen gehörenden Gehirn, das Gehirn selbst als Seelensitz erkennen könnte, bleibt bestehen: Nun kann die Seele sich nur durch den inneren Sinn, den Körper aber (es sey in­ wendig oder äußerlich) nur durch äußere Sinne wahrnehmen, mithin sich schlech­ terdings keinen Ort bestimmen, weil sie sich zu diesem Behuf zum Gegenstand ihrer eigenen äußeren Anschauung machen und sich ausser sich selbst versetzen müsste; welches sich widerspricht.1015

Das Problem war also metaphysisch nicht zu lösen. Dennoch erachtete Kant Soem­ merrings Aufforderung zu diesem Versuch als legitim. In seinem ungedruckten Ent­ wurf H1 hatte er sich weitaus kritischer geäußert. Er bezweifelte den Nutzen dieser Überlegungen für seine Zunft: »Daß aber der Metaphysiker dadurch weder in der Ansehung des Materialismus noch Spiritualismus etwas gewinnen oder verlieren könne, davon kann man völlig gewiß seyn.«1016 Im Entwurf H2 klang diese Kritik ebenfalls an. Kant stellte nicht Soemmerrings ganze Arbeit in Frage, sondern nur sei­ ne Absicht, sich von der Metaphysik Absolution erteilen zu lassen. Peter McLaughlin führt dieses Ansinnen Soemmerrings auf einen gravierenden Irrtum zurück: »Hier tritt Soemmerring einen Teil seines eigenen Faches an die Metaphysik ab, weil er Theorie­ 1013 1014 1015 1016

Vgl. ebd., S. 85. Ebd. Ebd., S. 86. Kant (1922), S. 404.

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oder Hypothesenbildung mit Metapysik verwechselt. Den Teil der Naturwissen­ schaft, der nicht bloß deskriptiv ist, hält er schon für transzendental«1017. Laut Hagner fungierte das Seelenorgan in der Frühmoderne »als materielles Me­ dium zwischen Körper und Seele. Damit war ein Verständnis des Menschen gewähr­ leistet, das metaphysische und religiöse Aspekte mit naturhistorischen und medizi­ nischen Ansätzen in Einklang brachte«1018 . Mit anderen Worten: Anatomen konnten sich ebenso mit dem Phänomen Seele befassen, wie dies Theologen und Philosophen zugestanden wurde, bzw. blieb es ihnen unbenommen, deren Erkenntnisse ohne Scheu vor einer disziplinären Überschreitung in die eigene Forschung zu integrieren. In diesem Sinne ist Soemmerrings Bitte an Kant, seine theoretischen Überlegungen mit einem Vorwort zu stützen, weniger als ein Hinweis auf sein mangelndes Verständnis naturwissenschaftlicher Methoden und Inhalte, sondern eher als Zeichen der Zeit aufzufassen. Kant hatte behauptet, große Vorbilder wie Platner und Descartes hätten nicht vom Sitz der Seele gesprochen, sondern wären in ihrem Feld geblieben.1019 Wie wir bei Descartes gesehen haben, entspricht dies nicht den Tatsachen. Kants Kritik an Soemmerring ist vor allem als Begriffskritik anzusehen. Die Problematik der genauen Unterscheidung zwischen dem Organ Seele und seiner Lage im Körper wurde von einigen Physiologen um 1800 ignoriert, von ande­ ren hingegen kontrovers diskutiert. Im dritten und letzten Teil seines Handbuches der empirischen menschlichen Physiologie beschrieb Autenrieth die Seele und ihre Funktionen im Zusammenhang mit dem Thierischen Leben als trennenden Faktor zwischen Men­ schen und Tieren. Es fällt auf, dass die Seele in physiologischen oder anatomischen Werken dieser Zeit der Beschreibung des Gehirns und seiner Funktion meist nachge­ stellt wurde. In diesem Fall leitete die Beschreibung der Seele zum Körperlichen über. Mir erscheint die Frage nach der Reihenfolge und die damit verbundene Frage nach dem etwaigen Vorrang von Körper oder Seele in solchen Schriften sehr interessant, da sich mit einem Versuch, sie zu beantworten, über die Jahrhunderte betrachtet sicher Bedeutungsverschiebungen markieren lassen. Autenrieth erklärte Gehirn und Nerven ausführlich, ging auf die Seele zunächst aber nicht ein. Erst im Abschnitt über die Empfindung findet sie kurz Erwähnung: »Durch die Nerven allein wird also in der Seele eine Empfindung erweckt, oder durch sie allein werden die Reitze so fortgeleitet, dass dadurch in der Seele eine Verände­ rung entsteht.«1020 Weder traf Autenrieth eine Aussage darüber, was die Seele ist, noch verortete er sie im Körper. Durch die Nähe zum Abschnitt über das Gehirn ließe sich zwar ein Zusammenhang behaupten, trotzdem ist es interessant, wie wenig sich Au­

1017 1018 1019 1020

McLaughlin (1985), S. 200. Hagner (2004), S. 12. Vgl. Kant (1922), S. 408. Autenrieth (1802), §883, S. 66.

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tenrieth als Arzt und Lehrender dieser Zeit mit dem von Soemmerring initiierten Diskurs um das Seelenorgan befasst zu haben scheint. Christoph Bernoulli (1782–1863) schrieb 1804: Dass »das Gehirn dasjenige Or­ gan ist, auf welches die Seele am unmittelbarsten wirke, […] ist von jeher behauptet worden, und lässt sich durch eine Menge von Erscheinungen hinlänglich beweisen«1021. An anderer Stelle vertiefte er diesen Gedanken: daß jenes [das Gehirn, W. L.] das unmittelbare Organ der Seele sey, daß der Grund der Geisteskrankheiten in der Beschaffenheit des Gehirns zu suchen sey, – und daß von dem vollkommenen Zustande des Gehirns die gesunde Verrich­ tung der Seele abhänge, so wie es sich denn überhaupt kaum denken lässt, daß bey den so genannten Seelenkrankheiten wirklich die immaterielle Seele selbst krank sey. Zugleich aber schien es schon lange unpassend, die Seele als ein im Gehirne allgemein verbreitetes Wesen anzunehmen; man wies ihr daher lieber einen Theil auf welchen sie unmittelbar tätig sey. Über diese Gegend aber ist man gar nicht einig.1022

Zehn Seiten weiter äußerte er sich noch einmal zur Problematik des Seelensitzes. In­ dem er das auch bei Soemmerring zentrale Sensorium commune wieder aufgriff, das er als »Mittelpunkt des ganzen Nervensystems« verstand, verortete er die Seele in »diesem Behälter zusammen geballten Nervenmarks«: »Wie in einem Brennpunkte f ließen hier alle einzelne Eindrücke, welche die Nerven an der ganzen Peripherie des Körpers enthalten, zusammen, und kommen sämmtlich erst hier, als in dem Sensorium commune, mit der Seele in Berührung, oder zum Bewusstsein.«1023 Von großem Interesse war für Soemmerring der Bau des Gehirns, namentlich seine Beständigkeit. Nieren konnten zusammenwachsen oder mehrfach auftreten; ein doppelter Uterus kam nachweislich vor; »im Hirn hingegen sind mir nur wenige […], blos feinere Varietäten in Anlehnung seiner Äußeren Gestalt und Bildung bekannt. Mehrentheils hat alles eine eigenthümliche gewöhnliche Form, Lage, Größe und Verbindung«1024. Dem widersprach Bernoulli, als er 1804 von der »große[n] Mannig­ faltigkeit der menschlichen Hirn­ und Schädelbildung«1025 berichtete, die Gall ent­ deckt hatte. Soemmerring hingegen sah die immer ähnliche Hirnbildung als sicheren Beweis dafür an, »daß die Strukturen der einzelnen Theile des Hirns um so nothwen­ diger und bestimmter zu seinen Verrichungen«1026 beitragen müssen. 1021 1022 1023 1024 1025 1026

Bernoulli (1804), S. 40. Ebd., S. 41f. Ebd., S. 50. Soemmerring (1788), S. 52. Bernoulli (1804), S. 43. Soemmerring (1788), S. 52.

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EI N BI LD VOM SE E L ENORGA N ?

Eine Zeit lang hatte Soemmerring mit den Abbildungen aus den Schriften Vicq d’Azyrs gearbeitet. Für De Basi Encephali1027, das acht Jahre vor dessen Traité d’Anatomie erschienen war, hatte Soemmerring selbst Zeichnungen nach der Natur (ad nat.) an­ gefertigt, die er von Carl Christian Glassbach (*1751) in Kupfer stechen ließ. In den Legenden verweist Soemmerring auf seine Vorgänger, von Tarin und Haller über Ruysch bis zu Estienne und Mundinus. Der Kupferstich erlaubt eine sehr detaillierte und sorgfältige Ausführung, die hier in bestmöglicher Weise genutzt wurde. Tabula I zeigt die Hirnbasis (Abb. 147). Inhaltlich neu ist, dass Soemmerring zwölf Hirnnervenpaare beschreibt statt der neun Paare, die Willis identifiziert hatte. Wie Vicq d’Azyr nach ihm zeigt Soemmerring, dass die Riechkolben beweglich sind, allerdings nicht wie der Erstgenannte, der zwei Figuren darstellte, sondern indem er einfach einen der beiden Kolben zur Seite gebogen zeichnet (vgl. Abb. 11). Die Hirn­ rinde und hier besonders die Frontallappen der ersten Tafel sind etwas zerknautscht. Es wirkt, als sei dem Präparat die Luft ausgegangen. Der Grund liegt jedoch vielmehr im Verlust von Feuchtigkeit. Soemmerring hatte sich mit verschiedenen Konservie­ rungsmethoden beschäftigt. Er hatte das Gehirn gekocht, gefroren, getrocknet oder in Alkohol gelegt, ohne dabei eine bestimmte Methode zu bevorzugen.1028 Soemmer­ rings Bild zeigt kein pralles, frisches, ›lebendes‹ Organ, sondern ein Präparat aus der anatomischen Praxis: sein Arbeitsmaterial. Die Tafel ist weniger idealisierend als das Vergleichsbild Vicq d’Azyrs, dessen Zeichnung von der Hirnbasis perfekt abgerundet und glatt ist (vgl. Abb. 11). Bei der zweiten Tafel in De Basi Encephali handelt es sich ebenfalls um ein Ge­ hirn von basal, bei dem die Temporallappen frontal durchschnitten und der halbe Kortex entfernt wurde, sodass das Kleinhirn freiliegt (Abb. 148). Auf diese Weise wirkt das dargestellte Gehirn seltsam zweigeteilt: Pons, Medulla oblongata und Kleinhirn bilden ein dem (halben) Großhirn gegenüberstehendes Ensemble. Durch die Schnitttechnik und ihre Darstellung im Bild wird auf die Bedeutung funktionaler Einheiten verwiesen. Die theoretischen Überlegungen, die Soemmerring zu seiner Darstellungsweise geführt haben mögen, sind heute in die Begriffe Metencephalon (Hinterhirn), Mesencephalon (Mittelhirn) und Myelencephalon (Nachhirn) gefasst, die auf morphologische und physiologische Zusammenhänge hindeuten. Diese Tafel findet ihr Pendant in einer hier nicht gezeigten, die das Motiv als Umrisslinie wieder­ gibt, wie wir es von Steno und Tarin kennen. Vicq d’Azyr muss diese Tabula II so beein­ druckt haben, dass er sie abkupfern ließ und um 90° gedreht 1786 in die Traité d’Anatomie als Planche XVIII aufnahm. 1027 Samuel Thomas Soemmerring, De Basi Encephali et Originibus Nervorum Cranio Egredientium Libri Quinque. Cum IV. Tabulus Aeneis, Göttingen 1778. 1028 Vgl. Soemmerring (1829), S. 54.

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Abb. 147: Hirnbasis, Tafel I aus De Basi Encephali, Soemmerring (1778). Abb. 148: Hirnbasis mit frontal durchschnittenen Temporallappen, Tafel II aus De Basi Encephali, Soemmerring (1778). Abb. 149: Mediosagittaler Hirnschnitt, Tafel III aus De Basi Encephali, Soemmerring (1778).

Tabula III ist ein Mediosaggittalschnitt, der es ihm, wenn auch nur begrenzt er­ laubt, die für die spätere Theorie vom Seelenorgan entscheidenden Hirnhöhlen dar­ zustellen: Teile der lateralen Ventrikel (g) und der unterste Teil des vierten Ventrikels (8, 9, 10) (Abb. 149). Für Gunter Mann steht Soemmerrings Entscheidung, Gehirne in mediosagittaler Schnittrichtung zu präparieren, den traditionellen Verfahren entge­ gen, die horizontalen, stratigraphischen Schnittrichtungen den Vorzug gegeben hat­ ten.1029 Wie wir gesehen haben, war Soemmerring jedoch keineswegs der Erste, der das Gehirn so darstellen ließ, geschweige denn der erste, der es auf diese Weise sezierte. 1029 Vgl. Mann in Mann/Dumont (1985), S. 167.

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Beim sagittalen Medianschnitt werden beide Hemisphären spiegelbildlich von­ einander getrennt, was die Symmetrie des Organs betont. Ihre Bedeutung wurde um 1800 vielfach hervorgehoben, so auch von Bernoulli, der schrieb: Die Gestalt des Gehirns ist von oben eyförmig. Die obere Seite ist überall mit Fur­ chen (anfractuosités) durchgraben, welche, so wohl der Lage als der Zeichnung nach, mancherley individuelle Abweichungen zeigen. Indessen sind diese Zeich­ nungen, so wie der innere Bau, so symmetrisch, daß sich das Gehirn in zwey ganz ähnliche Hälften spalten lässt.1030

Aus dieser Beobachtung ergibt sich die Frage, ob aus der Symmetrie im Bau des Ge­ hirns auf die prinzipielle Gleichheit beider Seiten auch in ihren Funktionen geschlos­ sen wurde. Vom frühen 17. bis Mitte des 18. Jahrhunderts war die Symmetrie ein ge­ wichtiges Gestaltungsthema gewesen, hatte aber in Kunst und Architektur des Spätbarocks an Bedeutung verloren. Soemmerring widmete der Symmetrie des Hirns in seiner Schrift Vom Hirn und Rückenmark einen eigenen Paragraphen: »Auch verdient nicht übersehen zu werden, daß alles im Hirn doppelt ist, und daß selbst diejenigen Teile, in der Mitte nemlich, die einfach scheinen, z. B. das Rückenmark genau be­ trachtet aus zweyen bestehen. […] Die Form also der Hirntheile ist ungemein sym­ metrisch.« Über diese Beobachtung kam er zu der Aussage, dass folglich auch »das Innerste des Kopfs dem schön symmetrisch gebauten Aeussern« entsprechen muss.1031 Analogieschlüsse dieser Art waren ein verbindendes Element zwischen Physio­ gnomik und Hirnforschung. Sie spielten im Verlauf des 19. Jahrhunderts, als Hirnvo­ lumen und ­gewicht sowie Aggregatzustände proportional zu geistigen Fähigkeiten gesetzt wurden, eine große Rolle. Auch Physiognomen beschäftigten sich mit der Symmetrie von Gesichtern, galt es doch, jede körperliche Unregelmäßigkeit zu be­ merken.1032 In der physiognomischen Lehre kommt ihr eine wichtige Position zu, da ein Ebenmaß des äußeren Körpers auf ein Ebenmaß der Seele schließen ließ. Der mediosagittale Hirnschnitt ist als kulturgeschichtlicher Untersuchungsgegenstand in dieser Hinsicht durchaus mit der Profildarstellung und dem Schattenriss in der Physiognomik, die in Lavaters Arbeit großes Gewicht erhielten, vergleichbar.1033 In der Schrift Über das Organ der Seele hat Soemmerring 1796 eine neue Zeichnung eines mediosagittalen Hirnschnitts publiziert (Abb. 150). Als Zeichner hatte er Christian Koeck (1758–1818) beauftragt, den er ebenso anleitete wie den Kupferstecher Ludwig

1030 1031 1032 1033

Bernoulli (1804), S. 37. Soemmerring (1788), § 43, S. 55. Vgl. Lavater (1984), S. 113. Vgl. ebd., S. 152ff.

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Abb. 150: Mediosagittaler Hirnschnitt, Tab. I aus Das Organ der Seele, Soemmerring (1796).

Schmidt1034 : Die Platten genügen höchsten künstlerischen wie auch anatomischen Ansprüchen.1035 Soemmerring erklärte diesen Auftrag mit einer deutlichen Kritik an den Bildern Vicq d’Azyrs, wollte aber auch seine eigene Version, die Tabula III von 1778 korrigieren. An den Bildern Vicq d’Azyrs bemängelte er vor allem, dass sie die Qualität nicht durchgängig hielten: Abbildungen des Hirns – so vortrefflich sie auch sind, so unendlich weit sie auch alle vor und nach den seinigen erschienene Abbildungen hinter sich lassen – sind doch, wie ich in den Göttingschen Gelehrten Anzeigen ausführlich angemerkt habe, von sehr verschiedener Güte. – Einige Tafeln dürfen nicht copiert werden, falls man nicht offenbare Unrichtigkeiten statt Wahrheit verbreiten will. Als soge­ nannte Studien haben sie für Liebhaber einen Werth, wenn ihnen auch Albinische Vollendung abgeht.1036 1034 Die Lebensdaten Schmidts habe ich nicht ermitteln können. 1035 Vgl. Clarke/Dewhurst (1972), S. 85. 1036 Soemmerring (1796), S. 3, Hervorhebungen im Original. Soemmerring bezieht sich an dieser Stelle auf Bernhard Siegfried Albinus (1653–1721), den er »immer wieder als das

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Dass Soemmerring zur Abbildung seines Zeitgenossen einen Katalog mit 17 Kritik­ punkten aufgestellt hat, zeigt, wie intensiv er sich mit dessen Arbeit beschäftigt hatte. Er kritisierte u. a. die Form einzelner Partien, aber auch schwerwiegendere Fehler, wie den unrichtigen Sitz der Zirbeldrüse oder das Fehlen des unteren und vorderen Randes der dritten Hirnhöhle.1037 1799 wurde auch der Ansicht der Hirnbasis bzw. des Hirnstammes eine neue Tafel gewidmet (Abb. 151). Diese Tafel, die in der nur 16 Seiten umfassenden latei­ nischen Schrift Tabula baseos encephali 1038 erschien, hatte Soemmerring in Paris von einem französischen Kupferstecher arbeiten lassen.1039 stechen lassen. Ein Zeichner ist auf der Tafel nicht angegeben. Der Vorrede (Praefatio) ist jedoch zu entnehmen, dass er den Auftrag wieder an Koeck vergeben hatte. Soemmerring weist auf die künstle­ rische Fassungskraft hin, mit der Koeck die einzigartige Schönheit des Gehirns zu erfassen in der Lage gewesen sei, und auf dessen Könnerschaft, insbesondere die Hirn­ basis zu zeichnen.1040 Zudem erklärt er, warum er sich entschlossen hatte, die Ansicht der Basis neu stechen zu lassen. Grund war sein besonderes Anliegen, alle Hirnnerven im Bild durchzunummerieren. Dies geschieht auf einer zweiten (hier nicht abge­ druckten) Tafel, welche die selbe Ansicht der Hirnbasis zeigt, und auf der zusätzlich Buchstaben und Zahlen eingezeichnet sind. Ihnen sind auf einer weiteren Seite Erläu­ terungen zugeordnet. Darin sind alle zwölf Hirnnervenpaare genauestens beschrie­ ben. So ist denn die Beschreibung der ›wahren‹ Stellung der Nerven das Hauptanlie­ gen, welches er mit den Tafeln verfolgt.1041 Wie der Titel der Schrift besagt, sind die Tafeln nicht Zugabe zum Text. Im Ge­ genteil: Sie sind die Hauptsache, die um den Text ergänzt wird. Das zeigt sich auch darin, dass Soemmerring die Tafel einmal mit und einmal ohne Bezifferung abdru­ cken ließ: Die Buchstaben und Zahlen störten eindeutig das Bild. Anderenfalls hätte er es nicht für nötig befunden, es auch ›pur‹ abbilden zu lassen. Benennungen waren jedoch notwendig. Daher musste eine zweite Tafel den erklärenden Part übernehmen. Soemmerring erklärt, er habe die Vorlagen zu seinen zwanzig Jahre früher ver­ öffentlichten Tafeln selbst gezeichnet und bemerkt, dass deren kunstvolle Ausführung und einfaches Prinzip in der Darstellung auch Vicq d’Azyr gefallen hätten. Seltsamer­ weise schreibt Soemmerring, dass das Gehirn in jener Tafel von 1778 aufs Treff lichste verhüllt werde: »ut illarum splendidissimo operi«. Handelt es sich hierbei um einen Druckfehler? Richtig müsste es dann nicht operire, sondern aperire, also enthüllen, offen­

1037 1038 1039 1040 1041

Ideal künstlerischer und ästhetischer Gestaltung heraus[stellte]«, Wenzel/Oehler­Klein, in Soemmerring (1999), S. 290. Vgl. Vicq d’Azyr (1786), S. 3f. Samuel Thomas Soemmerring, Tabula baseos encephali, Frankfurt a. M. 1799. Die Lebensdaten des Kupferstechers P. M. Alix habe ich nicht ermitteln können. Vgl. Soemmerring (1799), S. 4. Vgl. ebd.

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Abb. 151: Hirnbasis aus Tabula baseos encephali, Soemmerring (1799).

baren, erschließen oder zugänglich machen heißen.104 2 Wenn es jedoch weder ein Übersetzungsfehler Soemmerrings noch ein Fehlgriff des Schriftsetzers war, dann könnte dies auch bedeuten, dass Soemmerring eine neue Tafel für notwendig erachtet hatte, die eben nicht ver­, sondern enthüllte. Wichtig war es ihm auch, darauf hinzuweisen, dass, wer die Physiologie des Ge­ hirns erforschen will, nicht nur dessen Anatomie, sondern ebenso die erhellenden

1042 Vgl. ebd., S. 3.

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Grundsätze anthropologischer Forschung einbeziehen muss.1043 Auf diese Maßgabe hin formuliert Soemmerring zu Anfang des ersten Kapitels die bedeutsame Frage, warum der Mensch in seinen geistigen Fähigkeiten den anderen Lebewesen bei Wei­ tem überlegen ist.104 4 In dieser Fragestellung kommen die anthropologische Perspekti­ ve, die Soemmerring durch seine vergleichenden anatomischen Untersuchungen ein­ genommen hatte, und deren grundsätzliche Bedeutung für seine Hirnforschung zum Ausdruck. Die Antwort hierauf liegt zum einen in der anthropologischen Schrift Über die körperliche Verschiedenheit des Mohren vom Europäer von 1784, zum anderen in der von ihm selbst als sehr gut eingeschätzten Tafel von 1799 (vgl. Abb. 151). Die Verknüpfung geistiger Potenz mit der Beschaffenheit und Dicke der Nerven und der besonderen Aufmerksamkeit, die ihnen in der bildlichen Darstellung gewidmet wird, lässt die Vermutung zu, dass in diesem Zeitraum bei Soemmerring eine Bedeutungsverlage­ rung von den Hirnhöhlen zu den Nerven hin stattgefunden hat. Laut Zittel führte Soemmerring mit seinen Tafeln »Vesals Projekt einer Perfektionie­ rung der Natur«1045 fort. Wie konnte diese Perfektion in der Darstellung erreicht werden? Legt man die drei Tafeln, Soemmerrings Tabula III (1778), Vicq d’Azyrs Plan­ che XXV (1786) und Soemmerrings Sagittalschnitt von 1796 in eine Reihe, so fällt zunächst auf, dass Vicq d’Azyr die soemmerringsche Ansicht gespiegelt hat, was jener dann wiederum für seine neue Tafel übernommen hat. Der Profildurchschnitt Vicq d’Azyrs verzerrt das Gehirn, drückt es platt. Zudem umschließt der Hinterhauptslap­ pen das Kleinhirn. Sommerring korrigierte die Proportionen von Groß­ und Klein­ hirn zueinander und stellte die Hirnwindungen differenzierter dar. Auffällig ist, dass die ältere Tafel Soemmerrings sehr fein schattierte Strukturen aufweist, wogegen in der neuen Abbildung Hirnstamm, Balken und weitere kleinere Bereiche einfach weiß gelassen wurden. Dadurch wirkt sie fast wie ein Abdruck. Soemmerring verwies auf Camper, dessen »gelehrte, leichte und sichere Metho­ de« er übernommen hatte, um »Bezeichnungen der Stellung, relativen Lage und Ge­ stalt der Theile des Hirns« richtig darzustellen.1046 Ob er damit die von Soemmerrings Biograph Rudolph Wagner beschriebene Methode oder eine von Oehler­Klein ange­ sprochene Zeichenmethode Campers meinte, ist unklar. Bei Erstgenannter werden die sichtbaren Konturen einer Hirnschnittstelle durch eine Glasscheibe nachgezeich­ net.1047 Bei der anderen Methode handelte es sich um einen besonders drastischen Weg, der zum genauen Abbild des Gehirns führte: 1043 Vgl. Soemmerring (1799), S. 5. 1044 »[C]ur Homo animi facultatibus longe omnia reliqua animalia superet?«, ebd., Hervorhebung im Original. 1045 Zittel (2005), S. 127. 1046 Ebd. 1047 Vgl. Wagner (1844), S. 70.

IN GALL S SCHÄDEL – VOM ORGAN DER SEELE ZU DEN SEELENORGANEN

Soemmerring hatte in Anlehnung zu Camper die bestmögliche Art, Kinderköpfe darzustellen, vorgetragen. Er habe, so Soemmerring, den Kopf und Hals senk­ recht von oben nach unten in der Mitte durchgeschnitten und die beste Hälfte mit der durchgeschnittenen Seite auf ein in Öl getränktes Papier gelegt und so den Abdruck erhalten.1048

Hier wurde das Gehirn selbst als Druckvorlage genutzt. Die Spur oder der Abdruck, den das Gehirn auf diese Weise als Bild hinterlässt, ist eine Form der Visualisierung, deren Analyse sicherlich über eine mögliche Bearbeitung mit den Bildfunktionen hi­ naus zu betreiben wäre. Soemmerrings ›Profilzeichnung‹ von 1796 wurde noch fünf Jahrzehnte später als beispielhaft eingestuft: Laut Wagner bereicherte er »die Ikonographie des Gehirns durch eine neue und treff liche Tafel, einen Profildurchschnitt des Gehirns darstel­ lend, welcher unter allen Hirnansichten der instructivste ist und namentlich zur Er­ läuterung des Höhlensystems am besten dient.«1049 Und auch heute wird diese Lei­ stung noch anerkannt. Oeser hebt die Qualität der soemmerringschen Darstellung des Ventrikelsystems hervor: Sie »zeichnet sich durch eine Klarheit und Genauigkeit aus, wie sie auch später nicht übertroffen worden ist«1050 . Wagner warf zudem die Frage auf, warum eine Abbildung dieser Qualität erst zu diesem Zeitpunkt möglich wurde: Man möchte kaum glauben, dass es so spät erst geschah, solche Darstellungen zu liefern, welche wir jetzo jeden Augenblick erreichen können. Aber auch die ein­ fachste bildliche Wiedergabe eines verwickelten und im frischen Zustande wenig zugänglichen Gebildes, wie des Gehirns, setzt eine gewisse Stufe wissenschaftli­ chen Standpunkts voraus, welcher früher nicht vorhanden war.1051

Die Grundlage dafür, ein solches Bild zu schaffen, sah Wagner demnach nicht nur in einer verbesserten Technik, das Gehirn zu konservieren. Für entscheidend hielt er die Stufe des wissenschaftlichen Standpunkts, d. h. er ging von einer Art Stufenfolge der wissenschaftlichen Beobachtung aus. Diese Terminologie verführt zu einem Ver­ gleich mit der lamarckschen Evolutionstheorie, wonach der vermehrte Gebrauch des ›Organs wissenschaflicher Beobachtung‹ (der ›lebendigen Anschauung‹) dieses stärkt und es zur Vervollkommnung steigert. Wagners Aussage kann damit auf die im zwei­ ten Kapitel gestellten Fragen bezogen werden: Dadurch, dass ein bestimmter wissen­ schaftlicher Status Quo erreicht worden war, ergab sich die Möglichkeit, eine zu­ kunftsweisende Abbildung herzustellen. 1048 1049 1050 1051

Oehler­Klein (1990b), S. 77. Wagner (1844), S. 70. Oeser (2002), S. 102. Wagner (1844), S. 70.

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Nach eigenem Bekunden hatte Soemmerring zwischen 1778 und 1799 keine Möglichkeit ungenutzt gelassen, sowohl selbst zu sezieren, als auch nach den Bildern und Texten der besten Autoren zu recherchieren, d. h. der Kultur der Wahrnehmung des Gehirns nachzuforschen.1052 Wie viele Akteure in der Geschichte der anatomi­ schen Abbildung verstand es auch Soemmerring, aus den eigenen Fehlern und aus denen seiner Vorgänger zu lernen. Indem er ihre Werke genau studierte und fundierte Bildkritik übte, konnte er mit seinem anatomischen Wissen der Neuentwicklung und Kombination verschiedener Präparationsmethoden und genauer Überwachung des Entstehungsprozesses zukunftsweisende Hirnbilder schaffen.

1052 Vgl. Soemmerring (1799), S. 3.

IN GA LL S SCH Ä DEL – VOM ORGA N DER SE ELE ZU DEN SE ELENORGA N EN Schon der Ausdruck von Gehirn, als abgeleitet von Hirn, deutet auf eine kollektive Vielheit von selbständigen Ganzen; so wie Gebirg eine Zusammenstellung von Bergen, Gestirn eine Menge von Sternen bezeichnet. Unbewusst dachte man sich also von jeher unter der Schedelhöle eingeschlossenen Masse eine Synthese von Organen, und stellte eben dadurch ohne deutliche Erkenntniss den Begriff von der Selbstwirksamkeit einzelner Gehirntheile und der Unabhängigkeit ihrer Funktionen auf.1053 Philipp Franz von Walther

Seit 1796 hielt der Wiener Arzt Franz Joseph Gall Vorlesungen »[ü]ber die Verrich­ tungen des Gehirns [,] und über die Möglichkeit, mehrere Fähigkeiten und Nei­ gungen aus dem Baue des Kopfes und Schedels zu erkennen«1054. Seine Methode be­ stand darin, die Oberf läche des Schädels in Felder einzuteilen, die, von den jeweils darunter liegenden Hirnpartien ausgeformt, auf bestimmte Fähigkeiten, psychische Eigenschaften oder Charaktermerkmale verweisen sollten: »Die Ausbildung der See­ lenkräfte hat Einf luß auf die Ausbildung des Schädels, also muß die Form des Schä­ dels ein Product des Gehirns seyn.«1055 Mit Gall verabschiedete sich die Hirnforschung von der Idee eines Seelenorgans und kam zur Partitionierung der Schädel­ bzw. Hirnoberf läche in verschiedene ›Fa­ kultäten‹ oder ›Organe‹. Gall ging von der Überlegung aus, dass wesentlich verschie­ dene Tätigkeiten notwendig von verschiedenen Instanzen gesteuert sein müssten. Hirnforscher vor ihm hatten angenommen, dass der Sitz der Seele und die dort veror­ tete Kommunikation zwischen Körper und Seele an einem bestimmten Punkt im Gehirn zu lokalisieren wäre, von dem aus der Mensch gesteuert würde. Gall trieb die Lokalisation weiter. Er war davon überzeugt, dass einzelne psychische Funktionen verschiedenen Abschnitten der Hirnrinde zuzuordnen sind. P H RE NOLOGI E U N D H I RN FO R SCH U NG

Eine gute Übersicht über die Physiologie des Gehirns bei Gall und die anatomischen Methoden seiner Hirnforschung gibt Philipp Franz von Walther (1782–1849) im gleichnamigen Kapitel seiner Abhandlung über Gall.1056 Nach dessen »scharfsinniger 1053 Walther (1804), S. 75f. 1054 So lautet auch der Titel seines ersten Entwurfes der Schädellehre, der in Briefform in Der Neue Teutsche Merkur (12. Stück, Dezember 1798, S. 311–382) erschien, abgedruckt in Les­ ky (1979), S. 47–59. 1055 Schelle (1805), S. 50. 1056 Vgl. Walther (1804), S. 142–168.

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Entdeckung« gilt: »[D]ie Rinde des Gehirnes ist das Gehirn selbst«. Das Gehirn werde als »Organ der herrschenden und unfixierten Sensibilität« vom vermittelnden System der Nerven und somit vom Mark als der »wahre[n] Nervensubstanz« unterschieden. Daraus folge, dass »von jeder einzelnen Windung der Rinde, als für sich selbststän­ digem und thätigem Organe, ein ihr anliegender pulpöser Nerve entsteht«. Das aus einzelnen Nerven bestehende Mark (Pulpe oder nevroderme: Nervenhaut) sei der Ort, wo alle Enden der Nervenbahnen zusammenträfen. Es grenze direkt an die innere Oberf läche der Hirnrinde (orangoderme: Orangenhaut), ein System absoluter Sensibi­ lität, wo es seinen Ursprung habe. Solche Nerven endeten jeweils in jenem Bereich des lebenden Organismus, an dem sie ihre Reize empfingen.1057 Der Gedanke, dass die Rinde das eigentliche Gehirn ist und sich sowohl strukturell als auch funktional vom Mark unterscheidet, ist Ergebnis der Hirnforschung Galls und konstitutiv für seine phrenologische Theorienbildung. Gall unterteilte die gesamte Hirnrinde in siebenundzwanzig Felder, die er mit einzelnen Fakultäten oder Vermögen des menschlichen Wesens besetzte. Sie ergänz­ ten einander und bildeten so eine »cerebrale Biographie«1058 . Die Ausbildung des Ge­ hirns bzw. der einzelnen, den Fakultäten zugeordneten Rindenabschnitte übertrug Gall auf die Bildung des Schädels, dessen ›verantwortliche‹ Ausbuchtungen damit einer Deutung freigegeben waren. Schon 1779 hatte Mayer in seiner Anatomisch-Physiologischen Abhandlung vom Gehirn vermutet, dass im Gehirn »bestimmte Fächer«1059 für die verschiedenen Seelen­ leistungen verortet sind.1060 Seine nur ansatzweise formulierte Lokalisationstheorie scheint die phrenologischen Ideen Galls vorweggenommen zu haben. Auch folgender Satz aus Mayers Abhandlung lässt daran denken, was Gall später formulierte: Das Gehirn ist beym lebenden Menschen in beständiger Bewegung; dies sieht man bey jedem angeborten Hirnschädel, und es beweiset sich auch dadurch, daß die Hirnschädelknochen an der inneren Oberfläche die Gestalt des Gehirns an­ nehmen, welches mit seinen gespannten Häuten diese Knochen berührt.1061

Es steht zu vermuten, dass Gall Mayers Buch gekannt hat. Ob es ihn zu seiner Theorie angeregt hat, lässt sich hier nicht nachweisen. 1842 kritisierte Wagner: Galls »Lehre stützt sich auf die vorgebliche Erfahrung, daß hervorspringenden Geisteskräften vorspringende Theile am Schädel entsprächen,

1057 1058 1059 1060 1061

Ebd., S. 158. Hagner (2004), S. 55. Mayer (1779), S. 40. Vgl. Kapitel 3.2.7. Mayer (1779), S. 1.

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deren Größe von der Entwicklungsstufe tiefer liegender Hirntheile abhänge«1062 . 1805 beschrieb Hagedorn, ein Befürworter der gallschen Theorie, den Zweck für das Vor­ handensein des Gehirns nach Gall, nämlich den »Fähigkeiten und Neigungen etwas Materielles darzubieten, durch welches sie sich äußern können […]. Gall nennt diese, den Fähigkeiten und Neigungen constituierten Gehirnmassen, Organe«1063. Die sich damit beschäftigende Lehre nannte Gall selbst Schedellehre oder Organologie. Die Bezeichnung Phrenologie wird seit 1815 verwendet und geht auf Spurzheim und den englischen Arzt Thomas Forster (1789–1860) zurück.1064 Ein weiterer Begriff, den Bernoulli benutzt, und der die Wissenschaft von den Schädeln in die Nähe der Phy­ siognomik gerückt hat, ist ›Craniognomik‹. Neunzehn der von Gall und Spurzheim beschriebenen Hirnorgane werden so­ wohl für das menschliche als auch für das tierische Gehirn angenommen. Gall war der Meinung, dass anhand einer Reihung von Gehirnen, in der Anordnung vom Gehirn des niedrigsten Tieres bis zum Gehirn des Menschen, eine Weiterentwicklung nach­ vollziehbar wird. Auf diese Art würden die Forscher die aufeinander folgende Ausbil­ dung der einzelnen Hirnteile ausmachen und schließlich deren Bildungsgesetze er­ kennen können. Obwohl er heute als Begründer der Phrenologie, Kranioskopie oder Craniologie, und somit als Schädelkundler bekannt ist, war Gall in erster Linie Hirn­ forscher, »kein Quasiphysiognom«1065 , sondern eher »philosophischer Zergliederer«1066 im Sinne Herders. Steffens, der zusammen mit Goethe einem Vortrag Galls in Halle beigewohnt hatte, schrieb in seinen Erinnerungen: »Gall gehörte zu den Menschen, die in einseitigen sinnlichen Beobachtungen und ihren Kombinationen eine große Sicherheit des Erkennens zu finden vermeinten.«1067 Bei Gall war, wie schon bei Goe­ the, sinnliche Erfahrung das Fundament wissenschaftlicher Forschung. Anhand vergleichender Anatomie zog Gall Analogieschlüsse. Solch ein Denken lässt sich sowohl aus der tradierten Praxis des anatomischen Vergleichs, als auch aus der Geistesgeschichte seiner Zeit erklären. Nach Hegel beispielsweise ist die Bezie­ hung zwischen Erscheinung und Wesen nicht gebrochen, da Kern und Oberf läche identisch sind: Nichts ist beliebter und populärer, nichts aber auch nichtiger und verkehrter als Inneres und Aeußeres einander entgegenzusetzen. […] Nirgends ist aber das Ver­ hältnis des Inneren und Aeußeren, nämlich ihre völlige Identität, so einleuchtend,

1062 1063 1064 1065 1066 1067

Volkmann, in Wagner (1842), S. 583. Hagedorn (1805), S. 9f. Vgl. Lesky (1979), S. 10. Hagner (2004), S. 56. Mann, in Mann/Dumont (1985), S. 157. Steffens (1956), S. 229. Die Erstausgabe von Was ich erlebte erschien in zehn Bänden von 1840–44 in Breslau.

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wie in den Formen und Gestalten der Natur, die, was sie ist und vermag, offen darlegt und zur Schau trägt, und gar nicht im Stande ist, etwas zu verheimlichen und zurückzuhalten.1068

Bei Hegel sind Inneres und Äußeres »nicht mehr Seiten eines Verhältnisses, sondern Momente eines und desselben Wesens; ihr Verhältnis ist ihre Einheit oder Identität«1069 . Dieser Gedanke findet sich auch bei Goethe: »Natur hat weder Kern/Noch Schale,/ Alles ist sie mit einemmale«1070 . Ähnlichkeit dagegen meint eine gewisse, keine absolute Gleichheit, die bei einer Dominanz der Gemeinsamkeiten immer auch Ungleichheit in sich trägt. Eine Ver­ weis­ oder Ähnlichkeitsbeziehung besteht, wenn die Oberfläche einen Schluss auf den Kern zulässt. Von der physischen Erscheinung kann auf den Träger der Erschei­ nung geschlossen werden. Bei Lavater ist das »Aeußerliche […] nichts, als die Endung, die Gränzen des Innern – und das Innre eine Unmittelbare Vortsetzung des Aeußern«1071. Bei Gall ist es noch etwas komplizierter. Die Frage war, ob es sich bei dem Ver­ hältnis zwischen Außen (Körper/Schädel) und Innen (Gehirn/Seele), also zwischen dem äußerlich Sichtbaren und der geistig­seelischen Komponente um ein gebrochenes handelt. Dabei wurde interessanterweise das Gehirn eher der seelischen als der körper­ lichen Sphäre zugeordnet, liegt es doch zunächst unsichtbar im Inneren des Körpers verborgen. Das von Gall untersuchte Äußere des Schädels verweist nicht primär auf ein immaterielles Inneres, die Seele, sondern zunächst auf ein noch körperlich­ma­ terielles, tiefer liegendes Äußeres, die Hirnrinde, die mit ihren Fakultäten unterschied­ licher Ausprägung den Schädelknochen zu formen im Stande war.1072 Diese Idee war nicht neu. Schon Berengario hatte 1522 in seiner Isagogae breves auf die Verbindung zwischen Schädelknochen und cerebralem Kortex – er bezeichnete ihn noch mit Medulla – hingewiesen: »Its site is evident and also its form, which corresponds above and throughout to the form of the cranium.«1073 Bei Gall diente der Schädel letztlich als Verweis auf das darunter liegende Gehirn. Damit beginnt Galls physiognomisches Verweissystem erst unter dem Cranium. Die Oberf läche bildet dann die Hirnrinde, die auf Seelentätigkeit rekurriert. Messbar ist dabei nur die Ausprägung einer Qualität oder Fakultät, die Eigenschaft selbst ist bei jedem Menschen vorhanden. Es war die Säftelehre Galens, die stets analogische Deutungen der Aggregat­ zustände des Gehirns beeinf lusst hatte. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts hatte Harvey die Lehren Galens auf das Gehirn angewandt und Temperatur, Größe und Härtegrad 1068 1069 1070 1071 1072

Hegel, in Fischer (1901), S. 513. Ebd., S. 515. Goethe (1962b), S. 86. Lavater (1984), S. 25f. Wie das Gehirn während seiner Entwicklung den Schädel formt, stellte Franz Heinrich Martens (1778–1805) im Sinne Galls populärwissenschaftlich dar, vgl. Martens (1803), S.22f. 1073 Berengario (1959), S. 142.

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als voneinander abhängige Faktoren beschrieben: »The hotter the heat in animals the more ample […] the brain for intellectual activity; wherefore man, the hottest of all animals, [has] the largest brain.«1074 An anderer Stelle schrieb Harvey Geschlechterun­ terschiede an quantitativen Faktoren des Gehirns fest und gab alle möglichen Bei­ spiele vergleichender Anatomie, anhand derer Analogiebeziehungen nachvollzogen werden konnten.1075 Auch Gall war wie viele seiner Zeitgenossen davon überzeugt, dass sich messbare Faktoren wie Temperatur, Größe, Gewicht und Feuchtigkeitsge­ halt auf die Gehirnleistung auswirkten: Mit Wut gekoppelter Wahnsinn mache das Gehirn »widernatürlich hart«, zeige ein Mensch Zeichen von Wahnsinn gepaart mit Stupidität, werde man sein Gehirn sehr weich vorfinden. »Mit der zunehmenden Ab­ bildung [i. S. v. Ausbildung, W. L.] des Gehirns vervollkommnen sich und wachsen alle unsere Fähigkeiten und Neigungen, nehmen hingegen im höhern Alter, wo das Gehirn kleiner, hart und zähe wird, wieder ab.«1076 Die von Hagedorn zusammengefassten gallschen Theorien zeigen, dass auch Forscher des 19. Jahrhunderts noch den Kanon antiker Schriften sowie dessen Auf be­ reitung aus dem 16. und 17. Jahrhundert konsultierten. Solche Thesen waren durchaus populärwissenschaftliches Allgemeingut. August von Kotzebue (1761–1819), der zwar in seinem Lustspiel Die Organe des Gehirns die Phrenologie verballhornte, traf ihre in­ haltlichen Anliegen jedoch gut. Die Tochter des Grafen Rückenmark lässt er über den Vater sagen: »[D]er lästert gar zu gern über unser armes Geschlecht, besonders, seit er in die Schädellehre sich verliebt hat, sind ihm alle unsere Köpfe zu klein, zu schmal, er spricht, wir hätten wenig Gehirn.« Doch Kotzebue lässt seine Protagonistin nicht im Irrglauben des size matters verharren. Sie fährt fort: »Wenn das wahr ist, so muß es wohl nicht auf die Quantität ankommen, denn unser bisschen Gehirn […] trägt doch oft den Sieg über [die] strotzenden Hirnhälften [der Männer] davon.«1077 Hagner sieht Galls Bemühungen als eine Synthese der Erfahrungsseelenkunde, deren Ansatz die minutiöse Erforschung des individuellen Menschen gewesen sei, mit der pragmatischen Anthropologie Kants, der sich auf den überindividuellen, vernunft­ begabten Menschen konzentriert habe: »[D]ie Organologie sollte ein Wissen über das Individuum bereitstellen und gleichzeitig eine Typologie entwerfen, der im Prinzip alle Menschen eingemeindet werden konnten.«1078 Unabhängig davon, dass Gall sich auch im Fundus von Medizin­ und Anatomiegeschichte bedient hatte, waren viele Aspekte seiner Theorie originär. Der Unterschied zur physiognomischen Sichtweise besteht vor allem darin, dass Gall dem Individuum eine ›psychologische Freiheit‹ nicht absprach, die Option, angeborene Fähigkeiten und Neigungen zu entwickeln oder zu 1074 1075 1076 1077 1078

Harvey (1961), S. 215. Vgl. ebd., S. 216f. Hagedorn (1805), S. 8. Kotzebue (1806), S. 18f. Hagner (2000), S. 195.

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kontrollieren. Diese Kontrolle wird ihm zufolge z. B. dadurch erreicht, dass die Or­ gane unabhängig voneinander wirken, »so daß, wenn ein Vermögen zu stark ange­ strengt wird, dasselbe ruhen könne, so bald die Anstrengung auf ein anderes gerichtet wird«.1079 In diesen letzten Worten liegt die Möglichkeit zur aktiven Handlung. Wur­ de eine Unterscheidung getroffen, zwischen dem Gehirn, das mit seinem integrierten Regulativ sozusagen automatisch funktioniert, den Menschen also doch wieder zur Maschine macht, und einer bewussten Handlung, die im Sinne einer Triebunter­ drückung vollzogen werden muss? Bernoulli zitierte in diesem Zusammenhang eini­ ge sehr interessante Gedanken Hagedorns von 1803, die auf den späteren Verlauf der Geschichte der Hirnforschung, Psychiatrie und Psychologie zu verweisen scheinen: Inwieweit kann wohl die menschliche Kunst durch Mechanismus, oder chemische und elektrische Mittel hierin auf das Gehirn wirken; die Form zwingen; Anlagen entwickeln? Daß diese Lehre [die Craniognomik bzw. Phrenologie, W. L.] zum Materialismus führe, und die Lehre von der Freyheit des Menschen zerstöre, – sind Einwürfe, die bey jeder näheren Ansicht der Sache bald wegfallen; denn es ist blos die Rede von Organen, und das Zugestandene, daß das Gehirn Organ der Seele sey, wird nur noch näher bestimmt. – Leidet denn der Glaube an die Seele weil sie das Auge zum Sehen bedarf, und nicht für sich sieht? – Daß aber durch diese Lehre bewie­ sen werde, wie sehr die geistigen Anlagen des Menschen von den körperlichen Zuständen abhängen, ist nur ein kleiner Beytrag zu tausend anderen Beweisen. Nicht anders als die Größe der Geschlechtsorgane zur Wollust, Überfluß der Gal­ le zur Leidenschaft, u.s.w., disponiert, entstehen die Anlagen durch Lokalursachen bey der Gehirnbildung oft schon im Embryo.– Der Erziehung und Übung kommt es aber zu, die Erhöhung wieder zu ebnen, oder zum Hügel auszubilden, der ein Attribut des Virtuosen und Helden ist.1080

Diese Worte markieren einerseits die Differenz zwischen Phrenologie und Physio­ gnomik, stellen andererseits aber jene Beziehung her, die die Wissenschaft von der Gesichtsdeutung als eine Vorläuferin der modernen Hirnforschung etabliert. I M BI LDE : PH R ENOLOGI E U N D A NATOM I E

Betrachtet man die Gehirnabbildungen in Galls bzw. Galls und Spurzheims Schrif­ ten, so legen diese zunächst eine Unterteilung in zwei Gruppen nahe: die phrenolo­ gischen und die anatomischen Tafeln. Bei näherem Hinsehen fällt jedoch auf, dass der Versuch, eine solche Trennlinie zu ziehen, scheitern muss. Phrenologische Fragestel­ 1079 Bernoulli (1804), S. 44. 1080 Ebd.

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lungen waren für Gall integraler Bestandteil seines anatomischen und physiologischen Forschungsinteresses. Nachdem Soemmerring nach dem einen Seelenorgan im Gehirn gesucht hatte, kam es mit Gall zu einer Ausweitung der Bedeutungsf läche auf das ganze Gehirn. Fraglich ist, ob es mit dieser funktional­räumlichen Expansion auch in der bildlichen Darstellung des Gehirns zu einer Zäsur kam. In der Tat wurde bei Gall und Spurz­ heim insbesondere der vorher vernachlässigten Hirnrinde größte Aufmerksamkeit zuteil. Kein bereits gedrucktes Bild entsprach ihren Vorstellungen, nicht einmal So­ emmerrings Abbildung des Medianschnitts (vgl. Abb. 150), das sie dennoch für das beste von allen hielten: »pas même de ceux de M. Soemmerring, les meilleurs de tous«1081. Anstatt sich also wie viele andere Anatomen und Physiologen jener Zeit da­ mit zu begnügen, die Bilderzeugnisse ihrer Vorgänger aus dem 18. Jahrhundert ab­ kupfern zu lassen, gaben sie neue Kupferstiche in Auftrag. Von 1810–19 erschien Galls und Spurzheims Hauptwerk Anatomie et Physiologie du Système Nerveux en général, et du Cerveau en particulier in vier Bänden, dazu ein fünf­ ter, der die Bildtafeln für alle Bände enthielt, der Atlas.1082 Die Kommission für die dort auf einzeln entnehmbaren Bögen gedruckten Stiche erhielten zwei französische Künstler. Unter jedem Stich steht die so genannte Adresse: Prêtre del. und Bouquet skulpt.1083 Bei Ersterem handelt es sich wahrscheinlich um Jean Gabriel Prêtre (ca. 1800– 1840).1084 Der Kupferstecher war Louis Bouquet (1765–1814). Bevor ich jedoch auf die Bilder zu sprechen komme, sollen im Folgenden kurz einige Inhalte aus den einzel­ nen Bänden umrissen werden. Im ersten Band befassten sich Gall und Spurzheim mit einer genauen Beschrei­ bung des Nervensystems und der Anatomie des Gehirns, wobei sie sich diverse Male auf ihre Vorgänger, z. B. Bonhomme, Tarin, Vicq d’Azyr und Soemmerring bezogen. Erstaunlich ist nicht, dass sie die kartesianische Idee von der Zirbeldrüse als Seelenor­ gan ablehnten, sondern dass sie die Pinealis und die Pituitaria überhaupt nicht als Drüsen ansahen: »On convient aujourd’hui assez généralement que ces deux parties ne sont pas des glandes.«1085 Stattdessen sahen sie in ihnen zu allen Zellen der Hirn­

1081 Gall/Spurzheim (1810c), S. 233. 1082 Franz Joseph Gall/Johann Caspar Spurzheim, Anatomie et Physiologie du Système Nerveux en général, et du Cerveau en particulier, avec des Observations sur la Possibilité de reconnoitre plusieurs Dispositions intellectuelles et morales de l’Homme et des Animaux, par la Configuration de leurs Têtes, Paris 1810–19. 1083 Del., delineavit lat., hat gezeichnet; sculpt., (aere) sculpsit oder exculpsit, hat (in Kupfer) gesto­ chen, vgl. van der Linden (1990), S. 103f. 1084 Allerdings muss vorausgesetzt werden, dass Prêtre fünf bis zehn Jahre vor dem oft ge­ schätzten Datum geboren ist. Anderenfalls wäre er bei Erscheinen des Buches erst 10 Jahre alt gewesen wäre. 1085 Gall/Spurzheim (1810b), S. 222.

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Abb. 152: Gehirn in Lateralansicht mit numme­ rierten Feldern (Seelenorganen), Planche VIII aus Anatomie et Physiologie du Système Nerveux en général, et du Cerveau en particulier, Atlas, Gall/Spurzheim (1810/a).

Abb. 153: Gehirn von oben mit nummerierten Feldern (Seelenorganen), Planche IX aus Anatomie et Physiologie du Système Nerveux en général, et du Cerveau en particulier, Atlas, Gall/Spurzheim (1810/a).

masse analoge Gebilde, bestehend aus grauer und weißer Substanz.1086 Auch hier re­ kurrierten Gall und Spurzheim auf die Positionen Galens oder Descartes’, sahen Letz­ teren allerdings durch Steno widerlegt.1087 Section IV des zweiten Bandes ist mit De l’organe de l’ame überschrieben. Nach­ dem er sich u. a. mit Materialismus und Fatalismus auseinandergesetzt hatte, stellte Gall die alles entscheidende Frage: »[C]hacun se demandera: ces instruments matéri­ els sont­ils l’organisme pris collectivement, ou bien est­ce une partie unique qui sert d’organe à l’ame? et dans ce dernier cas, quelle est cette partie?«1088 Auch dieser Punkt, 1086 Vgl. ebd. 1087 Vgl. ebd., S. 223. 1088 Gall/Spurzheim (1812), S. 147. Gall schrieb ab dieser Seite nur noch im Singular, da Spurz­ heim »eben« Paris verlassen habe, um die gemeinsame Lehre in England bekannt zu ma­ chen, vgl. ebd.

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Abb. 154: Schädel in Lateralansicht mit nummerierten Feldern (Seelenorga­ nen), Planche XCIX aus Anatomie et Physiologie du Système Nerveux en général, et du Cerveau en particulier, Atlas, Gall/Spurzheim (1810/a).

die Frage also, ob es ein gesondertes Seelenorgan im Gehirn gebe, und welcher Teil des Gehirns es sei, wurde mit einem Überblick historischer Positionen eingeleitet. Gall arbeitete heraus, dass sich die meisten der befragten Autoren gegen einen räum­ lich ausgedehnten Seelensitz, also einen, der größere oder alle Teile des Gehirns ein­ bezieht, ausgesprochen hatten. Die Suche nach dem Sitz der Seele müsse demnach eine nach einem singulären Punkt sein, der mit der Einfachheit der Seele konvergiere: »La plupart des auteurs se déclarent contre l’hypothèse d’un siège de l’ame doué d’éten­ due. Un siège de l’ame qui ne seroit pas un point, leur paroît incompatible avec sa simplicité.«1089 Diese kartesianische Position wurde von Gall nicht einfach übernommen. Im zweiten Band sind zahlreiche Studien angeführt, die in mögliche Widerlegungen oder Beweise aufgeteilt sind. Gall kam letztlich zu dem Schluss, dass das ganze Gehirn als Seelenorgan anzusehen ist. Allerdings verstärkte diese Sicht seine Annahme ver­ schiedener Fakultäten, die die jeweiligen Qualitäten enthielten. Unter die Ergebnisse, zu denen er am Ende des dritten Bandes gelangt war, schrieb er einige Merksätze. Er hob hervor, dass jede dieser Qualitäten angeboren ist und von materiellen Bedin­ gungen abhängt. Das Gehirn sei dabei nicht nur das Organ aller seelischen Qualitäten 1089 Ebd., S. 148.

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und Fakultäten, sondern werde überhaupt erst aus der Gesamtheit seiner Organe ge­ bildet, wobei jedes dieser Organe aus wesentlich differenten Qualitäten bestehe: Chacune de ces qualités fondamentales devient donc une nouvelle preuve des positions que j’ai posées comme principes indispensables de la physiologie de cerveau; c’est­à­dire: Que toutes nos dispositions sont innées; Que leur manife­ station exige des conditions matérielles; Que le cerveau est l’organe de toutes les qualités et facultés de l’ame; Que le cerveau est composé d’autant d’organes, qu’il y a de qualités et de facultés essentiellement differentes.1090

Im vierten Band ordnete er folgerichtig einzelnen Hirnwindungen (circonvolutions) oder ­bereichen (Hirnorganen) bestimmte Eigenschaften (Fakultäten) zu. Wenngleich Gall seine Anordnung der Seelenorgane bildlich zumeist an Kopfumrissen oder Schä­ deln vollzogen hat, existieren auch Gehirndarstellungen, auf denen solche Eintei­ lungen vorgenommen wurden. Sie verweisen auf Bedeutungsstrukturen des Gehirns und repräsentieren damit eindeutig seelische Funktionen im anatomischen Bild. So befindet sich nach Gall und Spurzheim beispielsweise das Organ der Dichtkunst in Windung XXV.1091 Visualisiert ist dies im Atlas auf den Tafeln VIII und IX (Abb. 152 und Abb. 153). In diesen in Fakultäten aufgeteilten, durch Nummerierung gekenn­ zeichneten Gehirnansichten geht es um Oberf lächenvermessung. Das dargestellte Gehirn ist kein individuelles Organ, welches als Beispiel für Galls Thesen herangezo­ gen werden sollte, sondern eine schematisierende Abbildung, vergleichbar mit den Schädelabbildungen oder ­modellen, anhand derer die Lokalisation der Fakultäten erlernt werden konnte. Man offerierte dem Lernwilligen ein Muster, das auf die indi­ viduelle Struktur zu übertragen war. Mit dem Auszug einer Beschreibung und bildlichen Darstellung der vom Dr. Gall im Gehirn entdeckten Organe1092 erschien 1805 eine Art Yps­Heft des frühen 19. Jahrhun­ derts. Zu der Schrift erhielt der Leser als Gadget einen mit phrenologischem Grund­ riss versehenen Gipsschädel, »ganz genau nach demjenigen gezeichnet, dessen sich der Dr. Gall bei seinen Vorlesungen bedient«, denn, »Kupfer sind und bleiben hier immer etwas unvollkommen«.1093 Der menschliche Schädel selbst wurde als erstes Referenz­ objekt für die Wahrnehmung wissenschaftlich auszuwertender Phänomene betrach­ tet. Das Gipsmodell stand dem nach, bot allerdings auch erhebliche Vorzüge: Es zeigte keine individuellen Züge (bzw. Ausbuchtungen im Schädel), die von der zu erler­ 1090 Gall (1818), S. 254. 1091 Vgl. Gall (1819), S. 135 und Gall (1810a). 1092 Marius Hagedorn, Auszug einer Beschreibung und bildlichen Darstellung der vom Dr. Gall im Gehirn entdeckten Organe, wie sie sich äußerlich am Schädel zeigen. Nebst einem in Gyps modellierten Schädel, Hildesheim 1805. Die erste Ausgabe war 1803 erschienen. Ich zitiere aus der gekürzten Ausgabe, die 1805 anonym veröffentlicht wurde. 1093 Hagedorn (1805), S. 2.

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nenden Einteilung abgelenkt hätten. Zudem entfiel das unangenehme Gefühl, das sich oftmals beim Umgang mit einem echten Schädel einstellte, besonders da sich die Phrenologie nicht ausschließlich an »Anatom, Physiolog und Arzt«1094 wandte, son­ dern auch für Berufszweige interessant war, die sonst keinen engen Kontakt zum to­ ten Körper pf legten.1095 Die Lateralansicht der achten Tafel des Atlas (vgl. Abb. 152) korrespondiert mit einer zu ihr gespiegelten Schädelansicht (Pl. XCIX) (Abb. 154 ). Auf dem Schädel sind die entsprechenden Höcker markiert, die den Fakultäten bzw. den durch sie ausgebil­ deten Hirnorganen entsprechen. Was diesem bildlich dargestellten (Übungs)Schädel jedoch fehlte, war die Haptik der entsprechenden Gipsköpfe. Um die Praxis des Schä­ deldeutens zu erlernen, waren Letztere das probate Mittel. Hier bietet ein Bild gegen­ über dem ertastbaren Modell einen unzureichenden Ersatz. Es ist eine Definitionsfra­ ge, ob ein solcher Gipsschädel als Bild angesehen wird. In der vorliegenden Arbeit ist dies nicht der Fall. Allerdings ist der artifizielle Schädel ebenso wie Tafel XCIX (vgl. Abb. 154 ) ein wissenschaftliches Artefakt mit Lehrcharakter. Beide dienten als päda­ gogische Instrumente, als Studienmaterial für phrenologisches Wissen zum Abgleich mit realen Köpfen. Durch seine Dreidimensionalität und die damit verbundenen hap­ tisch­sinnlichen Erfahrungen ist ein Gips­ bzw. Metall­ oder Steinschädel einem zwei­ dimensionalen Bild des phrenologischen Schädelmodells als Lehrmittel überlegen. Sowohl die drei­ als auch die zweidimensionalen phrenologischen Schädelmodelle verweisen auf das Gehirn. Obwohl Bilder von Gehirnen mit phrenologischen Benen­ nungen existieren (vgl. z. B. Abb. 152 und Abb. 153) sind mir dreidimensionale phre­ nologische Gehirn­Modelle aus Gips oder anderen Materialien aus dieser Zeit, ob­ wohl es sie gegeben haben mag, nicht bekannt. Ein Jahr bevor Anatomie et Physiologie du Système Nerveux ab 1810 erschien, hatten Gall und Spurzheim eine Kurzfassung ihres Hauptwerks veröffentlicht.1096 Dieser Schrift sind fünf Figuren auf drei Tafeln beigegeben. Alle stellen Details der Hirnrin­ de dar. Sie zeigen lediglich kleine Ausschnitte von Gewebe und dienen dazu, genauer zu beschreiben, wie Rinde und Mark aufgebaut sind. Während z. B. bei Soemmer­ ring der abgebildete Schnitt fast mikroskopische Genauigkeit aufweist und die einzel­ nen Teile äußerst klar umrissen sind, wirken die Gehirnausschnitte bei Gall förmlich weichgezeichnet. Das liegt nicht zuletzt an der hier verwandten Spielart des Kupfer­ stichs, der Taille douce. Bei diesem Verfahren wird der Ansatz geätzt und dann mit einem Grabstichel durch übereinander gelegte Schraffuren oder Punktierungen voll­ endet.1097 Die Windungen der Hirnrinde sind von einer comicartigen Plastizität; wie 1094 Ebd. 1095 Beispielhaft wurde hier der Berufsstand der Richter genannt. 1096 Franz Joseph Gall/Johann Caspar Spurzheim, Recherches sur le Système Nerveux en général, et sur celui du Cerveau en particulier; Mémoire présenté a l’Institut de France, le 14 mars 1808; suivi d’observations sur le rapport en a été fait a cette compagnie par ses commissaires, Paris 1809. 1097 Vgl. van der Linden (1990), S. 115.

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Abb. 155: Kortex mit freigelegter Vierhügelplatte und mediosagittal geschnittenes Kleinhirn von oben bzw. schräg hinten, Planche 3 aus Exposition sommaire de la structure et des différentes parties de l’encéphale ou cerveau, Chaussier (1807).

Abb. 156: Aufgeschnittener und auseinanderge­ klappter cerebraler Gyri, Fig. III aus Recherches sur le Système Nerveux en général, et sur celui du Cerveau en particulier, Gall/Spurzheim (1809).

weich aussehende Wülste quellen sie hervor. Diese Technik findet sich auch in einem anderen in Frankreich zu dieser Zeit erschienenen hirnanatomischen Werk (Abb. 155).1098 François Chaussier (1746–1828), dessen Beitrag zur Hirnforschung hier nicht von Be­ lang ist, scheint allerdings den selben Kupferstecher wie Gall und Spurzheim beschäf­ tigt zu haben. Sowohl der punktierte Stich als auch die gestrichelten Hinweislinien legen diese Vermutung nahe. In der dritten Figur ist ein cerebraler Gyri von vorne aufgeschnitten und ausein­ andergeklappt dargestellt (Abb. 156). Dadurch sind die Fasern und Schichten deutlich zu erkennen. Gall erkannte die graue Substanz als den »Urstoff und die Quelle des Nervensystems«1099 und beschrieb ihr Aussehen äußerst plastisch: »Diese Substanz ist sulzig, gallertartig, graulich, röthlich, grauschwärzlich, blass, schmutzig blass, bald etwas derber, bald fast f lüssig u.s.w.«1100 Zwar beschrieben noch andere, etwa Bernoulli in seinem Versuch einer physischen Anthropologie, die verschiedenen Substanzen, erkannten aber nicht die Bedeutung der ›grauen Zellen‹.1101 1098 François Chaussier, Exposition sommaire de la structure et des différentes parties de l’encéphale ou cerveau, Paris 1807. 1099 Gall in Lesky (1979), S. 63. 1100 Ebd., S. 62. 1101 Vgl. Bernoulli (1804), S. 38.

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Abb. 157: Hirnbasis mit verschiedenen Sektionsschnitten, Planche V aus Anatomie et Physiologie du Système Nerveux en général, et du Cerveau en particulier, Atlas, Gall/Spurzheim (1810/a).

Ungeachtet der Tatsache, dass Gall öffentlich Sektionen durchführte und es auf diesem Gebiet zu einiger Meisterschaft gebracht hatte, blieb die Erforschung der in­ neren Struktur der Rindensubstanz problematisch. Man wusste von ihr »nichts Zu­ verlässiges; aber sie ist nicht faserig und immer weicher als die fibröse weiße Substanz«1102 . Erst im Hauptwerk ab 1810 beschrieb Gall sie näher.1103 Dort verwende­ 1102 Ebd. 1103 Vgl. Gall/Spurzheim (1810b), S. 177.

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te Gall den Begriff celles, der auf Hooke zurückgeht.1104 Nachdem Zellen vielfach bei Pf lanzen beschrieben worden waren, bestätigte Theodor Ambrose Hubert Schwann (1810–1882), der vergleichende mikroskopische Untersuchungen über Struktur und Wachstum der Tiere und Pf lanzen anstellte, 1838 die Zelltheorie für das Tierreich.1105 Gall hatte Zellen also schon in seinem Repertoire neuroanatomischer Begriffe, bevor sich nach Mitte des Jahrhunderts eine allgemein anerkannte Zelltheorie etablieren konnte. In einigen Tafeln des Atlas ist in verschiedenen Hirnabschnitten der genaue Ver­ lauf von Fasern dargestellt (Abb. 157). Dies ist einer neuen Sektionstechnik Galls ge­ schuldet: Vom Rückenmark aus arbeitete er sich mit dem Faserverlauf bis zur Rinde vor. Indem er so vorging, erkannte Gall, dass das Nervensystem aus der Marksubstanz und der Rindensubstanz besteht, und dass die verschiedenen Teile des Gehirns durch Fasersysteme verbunden sind, wie z. B. der Balken. Die Fasern blieben bei Gall unbe­ schädigt, weil er das Gehirn im Gegensatz zu seinen Vorgängern nicht von oben an­ gefangen in einzelne Segmente schnitt, sondern die Faserverläufe durch Ab­ oder Nachschaben der Nervenfäden freilegte und so ihren Verlauf nachvollziehen konn­ te.1106 Gall zerschnitt auch den Hirnstamm der Länge nach, um zu zeigen, wie dieser im Gehirn verwurzelt ist (Abb. 158). Tafel XVII zeigt, dass ein Bild von 1557 durchaus noch konsultiert wurde (vgl. Abb. 77). Es scheint, als habe Varolis Holzschnitt Gall angeregt, seinen Schnitt durch den Hirnstamm wieder aufzunehmen und weiterzu­ verfolgen. Die sich gleichzeitig mit der neuen Sektionstechnik verändernde Darstellungs­ methode erklärt Hagner damit, dass bei Gall »die anatomischen Abbildungen Be­ standteil der Untersuchungen selbst waren«1107. Dass Gall betonte, »im Gehirn nicht mehr bloße Bruchstücke«1108 sehen zu wollen, scheint auf eine ganzheitliche Methode der Hirnanatomie zu verweisen, die bemüht war, strukturelle Zusammenhänge des Gehirns zu erfassen. Dem stehen allerdings die zuvor beschriebenen Rindenaus­ schnitte in den Recherches sur le Système Nerveux von 1809 entgegen. Dass Gall aus dem Gehirn erklärtermaßen keine »Schnitzelwerke«1109 machen wollte, war auch der Grund für seine ablehnende Haltung gegenüber der Mikros­ kopie. Ein Mikroskop zu benutzen, hätte bedeutet, das Forschungsobjekt Gehirn optisch in kleinste Fragmente und Strukturen zu zerteilen: Wir haben sogar den Gebrauch der Vergrösserungsgläser ganz hintangesetzt. Nebstdem dass das Mikroscop gar zu gerne eine Brille wird, wodurch jeder sieht, 1104 1105 1106 1107 1108 1109

Vgl. S. 100 und S. 298f. Vgl. Jahn (2000), S. 952. Vgl. Gall in Lesky (1979), S. 60. Hagner (2004), S. 58. Gall in Lesky (1979), S. 72. Ebd.

IN GALL S SCHÄDEL – VOM ORGAN DER SEELE ZU DEN SEELENORGANEN

Abb. 158: Hirnbasis mit mediosagittal geschnittenem Hirnstamm und Kleinhirn, dessen eine Hälfte entfernt wurde, Planche XVII aus Anatomie et Physiologie du Système Nerveux en général, et du Cerveau en particulier, Atlas, Gall/Spurzheim (1810/a).

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was er sehen will, scheint die Hirnmasse zu dergleichen Untersuchungen gar nicht geeignet zu seyn… Wir wollen uns lieber auf unsere unbewaffneten Augen verlas­ sen, um so mehr, da sich die faserige Struktur jedem guten Auge darstellt, wenn man nach unserer Angabe verfährt; ob alsdann diese Fasern aus Kügelchen oder aus was immer bestehen, kann uns in der Bestimmung ihrer Verrichtungen keinen weiteren Aufschluss geben.1110

Obwohl Gall also, im Gegensatz zu Ruysch die Arbeit mit dem Mikroskop ablehnt hat, zeigt er doch wie Ruysch einzelne Abschnitte oder Ausschnitte des Gehirns. Dieser zum Zweck genauester Untersuchungen und Unterscheidungen praktizierte Detail­Blick steht aber der ›neuen Ganzheitlichkeit‹, die wir in den Bemühungen Galls und Spurzheims bemerken, nicht entgegen. Im Bild wird zerteilt, um so das Gehirn als Ganzes erfahrbar zu machen. Dies gilt vor allem für die vorher wenig be­ achtete Hirnrinde, die sie zwar in verschiedene Bedeutungsbereiche eingeteilt haben, die jedoch nur als Ganzes funktionsfähig ist. Neben dem Nachschaben der Fasern nutzten Gall und Spurzheim noch eine andere ungewöhnliche Methode, das Gehirn zu präparieren: seine Entfaltung. Dabei wurde die Hirnrinde vom restlichen Gehirn abgetrennt und so weit auseinandergezo­ gen, bis die Gyri geglättet waren und die gesamte Rinde wie ein Tuch ausgebreitet dalag. Diese Methode führten beide bevorzugt durch, nicht zuletzt aufgrund des Showeffekts bei öffentlichen Sektionen. Ihr Nutzen, gerade für die Organologie, wurde indes stark angezweifelt. Soemmerring beispielsweise hatte sich nie auf eine einzige Methode beschränkt.1111 In seinem 1807 verfassten, allerdings erst nach Galls Tod veröffentlichten Artikel Meine Ansicht einiger Gallschen Lehrsätze1112 kritisierte er die Praxis des Entfaltens der Hirnrinde als überbewertet. Herr Dr. G. hingegen eifert gewaltig, nicht nur gegen alle Anwendung des [schar­ fen, W. L.] Messers, gegen alles Zerschneiden, sondern selbst gegen alle Untersu­ chung von Gehirnen im Weingeiste. Natürlich, weil sich alsdann die Unstatthaf­ tigkeit seiner sogenannten Entfaltung jedem verräth; weil das Gegentheil alsdann gar zu leicht demonstriert werden kann. Er darf von dieser Einseitigkeit seiner Zer­ gliederung nicht abgehen, ohne seine Behauptung Preis zu geben.1113

Soemmerring wies nach, dass die Technik der Entfaltung weder neu – als Vorläufer nennt er Berengario – noch erkenntnisfördernd sei: 1110 Ebd., S. 60. 1111 Vgl. S. 108. 1112 Samuel Thomas Soemmerring, Meine Ansicht einiger Gallschen Lehrsätze, in: Göttingische gelehrte Anzeigen unter der Aufsicht der königl. Gesellschaft der Wissenschaften, Göttingen 1829. 1113 Soemmerring (1829), S. 54.

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Daß diese ganze Manipulation äußerst gewaltsam die so leicht nachgebende markige Masse des Gehirns zerreist, Trennungen schafft, von denen in der Natur schlechterdings auch nicht die mindeste Spur sich findet, kann man selbst jedem Laien der Anatomie augenscheinlich beweisen.1114

Die Annahme Galls und Spurzheims, bei der grauen Masse könne es sich um eine zusammengefaltete Haut handeln, wurde von Soemmerring widerlegt.1115 DI E H I R N FOR SCH U NG AU F DE M W EG I N DI E MODE R N E

Die zahlreichen zu Anfang des 19. Jahrhunderts erschienenen Schriften über das gall­ sche System aufzuzählen und detailliert zu untersuchen, ist hier nicht angebracht. Doch Johann Christian Reils (1759–1813) Kritik der Neueste[n] Schriften über Galls Schädellehre, die im März 1806 in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung erschien, verdeutlichte, dass die meisten der Gall­Rezensenten und ­Bewunderer zwar »ele­ gante Herren«, z. T. auch Ärzte, aber eben keine Anatomen waren, denen allein eine Beurteilung zustand. Nur die beiden Anatomen, die sich zu diesem Thema äußerten, hätten sich dagegen ausgesprochen.1116 Reil war sich sicher, dass Gall seine Erkenntnisse größtenteils von Willis über­ nommen hatte und wunderte sich, dass dessen Schriften einigen Anatomen und Ärzten unbekannt waren. Die Zeichnungen in Willis’ Cerebri anatome und De anima brutorum hätten über den Zusammenhang der Hirnteile Aufschluss gegeben, und so­ gar die Präparationsmethode hätte Willis vorgegeben.1117 »Ganz unstreitig ist also der Satz, dass alles Wahre, das Gall vom Gehirn behauptet, den Anatomen bekannt war, und alles ihm Eigene, von den Ganglien und Nerven im Gehirn, von der allgemeinen Durchkreuzung, von den Entfaltungen u.s.w. durchaus falsch erfunden wird.«1118 Reil wies darauf hin, dass es dem Gehirn unmöglich ist, die Schädelknochen zu verformen und kritisierte weiter: »Gall ist weder durch seine Gehirn­ noch durch seine Schädel­ lehre auf seine Hypothese von den sogenannten Organen des Gehirns gekommen, sondern durch die schlechteste und gemeinste Empirie.«1119 1114 Ebd., S. 56. 1115 Vgl. ebd., S. 59f. 1116 Vgl. Reil (1806), Sp. 562. Einer dieser kritischen Anatomen war J. F. Ackermann, Die Gallsche Hirn-, Schedel- und Organlehre, vom Gesichtspunkte der Erfahrung aus beurtheilt und widerlegt, Heidelberg 1806. Zu Reils eigenen neuroanatomischen Veröffentlichungen (zu­ sammen mit Meckel) vgl. Reil/Meckel (1807–1809). Die enthaltenen Kupferstiche, beson­ ders die der Kleinhirnstruktur, sind von großer Schönheit. Zu Meckels Beiträgen zur Hirnforschung vgl. Beneke (1934), S. 104ff. 1117 Vgl. Reil (1806), Sp. 563. 1118 Ebd., Sp. 564. 1119 Ebd., Sp. 566.

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Indem er den von Gall verwendeten Begriff der ›Anlage‹ heftig kritisierte, kam Reil auf den für uns relevanten Punkt zu sprechen. Mit Anlage meinte Gall die mate­ rielle Bedingung für die Seelenäußerung. Reil legte das folgendermaßen aus: Wenn die durch die Organe angezeigte Anlage einzige Bedingung für eine Äußerung der Seele sei, dann sei zugleich mit ihr eine Kraftäußerung gegeben. Wäre dies nicht der Fall, so müsse es noch eine innere Bedingung geben, nämlich die Seele oder das See­ lenorgan, mit deren oder dessen Hilfe die Anlage Kraft erzeugen könne.1120 Reil hatte sich lange vor Gall, noch vor dem Erscheinen von Soemmerrings Organ der Seele mit dem Wesen der Seele beschäftigt: »Eine Seele«, so äußerte er sich 1795 in seiner Schrift Von der Lebenskraft, »als Substanz betrachtet, die den absoluten Grund der Vorstellun­ gen enthält, ist ein Ding, für welches wir in der Erfahrung keinen Beweis haben.«1121 Er erklärte, dass Ärzte und Philosophen von jeher geneigt gewesen sind, »die Erschei­ nungen der belebten Natur, eben wegen ihrer vorzüglichen Vollkommenheit, von Geistern abzuleiten, die erst dadurch, daß sie der Materie beiwohnen, dieselbe bele­ ben«1122 . In Galls Theoriegebäude, so kritisierte er zehn Jahre später, fehle eine Be­ schreibung des Zusammenwirkens von Anlage und Seele. Ja, Gall habe einen gemein­ schaftlichen Empfindungsplatz sogar geleugnet. Dieser Umstand ließ Reil von einem »zertheilten Bewusstseyn«1123 bei Gall sprechen. In fünf Schritten widerlegte er die Notwendigkeit vom Vorhandensein der Organe äußerst logisch, kam dann jedoch zu dem Schluss, dass die Bedeutung, die Gall der Rindensubstanz zugemessen hatte, ins­ gesamt widersinnig ist. In diesem Punkt nun irrte Reil. Schon wenige Jahrzehnte nach ihrer Veröffentlichung, um Mitte des Jahrhun­ derts, wurde die gallsche Phrenologie tendenziell negativ beurteilt. Steffens, der sie ebenso wie andere physiognomische Methoden ablehnte, stellte selbst psychologische Überlegungen an, deren Vokabular er den physikalisch­geologischen Naturwissen­ schaften entliehen hatte. Nach Steffens bildet beispielsweise die Macht des ersten Ur­ teils über einen Menschen »die mittlere Temperatur der persönlichen Atmosphäre«1124. In dem Maße wie Galls Theorien an Relevanz verloren, konnte eine Hirnfor­ schung, wie sie Reil vertrat, profitieren: »Diese Vorlesungen Galls hatten indessen einen für die Wissenschaft heilsameren Erfolg; sie waren es vorzüglich, die Reil dazu vermochten, seine Untersuchungen über Gehirn und Nervensystem wieder aufzuneh­ men.«1125 In Alfred Wilhelm Volkmanns (1800–1877) Bemerkungen zur Entsprechung von Schädelausbildung und Gehirnaktivität heißt es: 1120 1121 1122 1123 1124 1125

Vgl. ebd. Reil (1910), S. 2. Ebd., S. 3. Reil (1806), Sp. 568. Steffens (1956), S. 236. Ebd., S. 237.

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Entspreche die Erfahrung in manchen Fällen diesem nicht, so sei zu bedenken, daß Anlagen vorhanden sein könnten, ohne zur Entwicklung zu kommen, so wie andererseits eine geeignete Erziehung den Mangel der Anlage, wo nicht ersetzen, doch verhehlen könnte. – Diese Hintertür im Gall’schen Lehrgebäude muß wohl beobachtet werden, denn sie ist es, durch welche die Phrenologen jedem ernst­ haften Angriff ihrer Gegner zu entschlüpfen wussten.1126

An dieses Zitat anschließend demontierte Volkmann die Kranioskopie. Doch letztlich leugnete er nicht, dass »das Seelenleben von der Struktur des Hirns, z. B. von dem Laufe und der Complication der Fasern, von der Wechselwirkung der grauen und weißen Substanz«1127 abhängt. Volkmanns Erklärung über eine Wechselwirkung ver­ schiedener Gaben oder Fähigkeiten, die ein bestimmtes Talent in sich vereine (dass beispielsweise die Begabung zur Malerei mehr als ein ausgeprägter Sinn für Farben und Formen ist), und die nicht notwendigerweise an einem Ort im Gehirn zusam­ menfielen, greift heutiger Lokalisationspraxis vor. In modernen Scans zeigt sich, dass bei jeder Gehirnaktivität ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Areale ab­ läuft. Obwohl argumentiert werden könnte, dass Gall den Schädel und somit das Ge­ hirn fragmentarisierte und die Teile für sich genommen betrachtete, was einer mo­ dernen Wissenschaftsmethode durchaus entsprechen würde, bewahrte er sich einen ganzheitlichen Blick. Zwar waren ihm das Gehirn und seine Organe die »materielle und instrumentale Bedingnis der geistigen Kräfte«, dennoch sprach sich Gall gegen eine »bloß lokalisierende mechanische, unbedenkliche Zergliederung« aus.1128 Im 20. Jahrhundert wurde Gall teilweise rehabilitiert. Sein Weg vom Kraniolo­ gen zum Hirnforscher wurde vielfach nachgezeichnet, auf die philosophische Dimen­ sion seiner Theorien, z. B. die geistige Nähe zur Philosophie Herders, hingewiesen.1129 Die gallsche Lehre zur bloßen Erneuerung alter Lokalisationstheorien zu degradie­ ren, greift zu kurz, da sie, wie Oeser betont, »wie keine andere Theorie zuvor, die Bedeutung der völlig vernachlässigten Großhirnrinde für die höheren geistigen Funk­ tionen klargestellt hat«1130 . Hagner geht in seiner Einschätzung der Bedeutung Galls noch weiter, wenn er sagt: »Die Einschreibungen der geistigen Qualitäten in die Hirnrinde war einer der Entstehungsherde der modernen Hirnforschung und des modernen Menschenbildes.«1131 Wann, wenn nicht an diesem Punkt, wird das Gehirn selbst zum Bild, seine äu­ ßerste Schicht Einschreibf läche für Bedeutungsstrukturen? Gall zeichnete die Fakul­ täten auf der Schädel­ bzw. Hirnoberf läche ein. Wie auf einer Landkarte gab es schon 1126 1127 1128 1129 1130 1131

Volkmann in Wagner (1842), S. 583. Ebd., S. 585. Mann in Mann/Dumont (1985), S. 163. Vgl. besonders Lesky (1979); Mann in Mann/Dumont (1985). Oeser (2002), S. 129. Hagner (2004), S. 58.

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bald keine nicht­bezeichneten, unerschlossenen Regionen mehr. Etwa zeitgleich mit Alexander von Humboldts (1769–1859) Erforschung südamerikanischer Urwälder und der damit einhergehenden Vereinnahmung des Exotischen entwickelte sich die Hirnforschung zur Arealbestimmungs­Wissenschaft. Es galt die Terra incognita zum vertrauten Terrain zu machen, kein Fleckchen auszulassen. Die Bedeutungsfelder grenzten sich scharf voneinander ab. Jeder Hügel (die Gyri) und jedes Tal (die Sulci) wurde durchkämmt, kartographiert, sich angeeignet. Mit den siebenundzwanzig Ge­ hirnorganen entwickelte Gall einen Kanon der Seelenvermögen, von denen jedes eine unverrückbare Position einnahm. * In der romantischen Naturphilosophie war das Gehirn als Organ für eine Theorie vom Seelenleben nur noch von nachrangiger Bedeutung. Vereinzelt kam es zu Ver­ suchen, den kartesianischen Dualismus zu restaurieren.1132 Die Hirnforschung ent­ wickelte sich zwar weiter, allerdings verstärkt hinsichtlich einer Erforschung patho­ logischer Veränderungen im Gehirn. Die bessere Kenntnis von Anatomie und Physiologie des Gehirns sollte es ermöglichen, Hirnkrankheiten zu erkennen, zu er­ forschen und auf lange Sicht bekämpfen zu können. Für eine bessere Kenntnis der menschlichen Seele war die Gefahr des Materialismusvorwurfs zu groß, als dass das Gehirn weiterhin als praktisches Forschungsobjekt hätte dienen können. Gall hatte sich noch unabhängig von Vorwürfen dieser Art für das Gehirn als Organ multibler seelischer Funktionen interessiert. Er war also – wie eingangs zitiert – zwar kein Ro­ mantiker, indem er aber im Absoluten die Aufgabe seiner Zeit erkannt und eine The­ orie der Hirnfunktionen geschaffen hat, die dem Schädel aufoktroyiert wurde, trug seine Hirnforschung zumindest romantische Züge. Mitte des Jahrhunderts lautete die Überschrift des II. Abschnitts in Wagners Handbuch der Physiologie unzweideutig: Das Gehirn ist das Seelenorgan. Dort wurde es als »Organ aller bewussten Lebensthätigkeit« deklariert, denn »Gehirn und Seele [verhal­ ten] sich wie Organ und Lebensverrichtung«. Nerven vermittelten diese Lebenstätig­ keit, erzeugten sie aber nicht, da »die specifische Thätigkeit des Gehirns in Vermitt­ lung des Bewusstseins und im Denken« liege.1133 Das Gehirn in seiner Gesamtheit als Seelenorgan anzusehen, als organischen Zusammenschluss voneinander abhängiger Teile und Strukturen, führte zu einem neuen Bild vom Gehirn. Nicht ein spezieller Ort im Gehirn war Fixpunkt cerebraler Gewalt, der als oberste Schaltstelle göttlich angehaucht über den Spiritus animales den ganzen Körper mit Leben erfüllte. Viel­ mehr bahnte sich mit Gall zu Beginn der modernen Hirnforschung eine Demokrati­ sierung verschiedener Bereiche des Gehirns an, d. h. es wurde ein Bewusstsein für die Bedeutung der Hirnrinde, des zwar größten aber bis dato für kaum nützlich erachte­ 1132 Vgl. Hagner (2000), S. 196. 1133 Volkmann in Wagner (1846), S. 573.

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ten Hirnbereichs geschaffen. In dem Maße, in dem die Idee eines Seelenorgans als Befehlszentrale, von der aus alle anderen Organe und Funktionen gesteuert werden, an Bedeutung verlor, nahm die Gewissheit zu, dass Bewusstsein oder Seelenleben durch ein Zusammenwirken ganz verschiedener Hirnbereiche zustande kommen. Auch in seinem weiteren Verlauf war das 19. Jahrhundert eine an Hirntheorien und praktischen Versuchen reiche Zeit. Experimente wurden sowohl an tierischen als auch an menschlichen Gehirnen durchgeführt. Neue Techniken der Bilderzeugung bereiten heutigen Kunst­ und Bildwissenschaftlern ein ertragreiches Feld. Erste Foto­ grafien des Gehirns,1134 detailreiche Lithografien1135 und später durchleuchtende Rönt­ genbilder ermöglichen völlig neue Fragestellungen und Perspektiven. Neben der Er­ findung neuer Abbildungsmethoden wurde die moderne Ikonographie des Gehirns auch von weniger offensichtlichen Faktoren beeinf lusst. Zunächst ist das die Veranke­ rung anthropologischer Perspektiven in den Naturwissenschaften, gefolgt von einer Revision der Stellung des Menschen im Naturreich durch die Evolutionstheorie Dar­ wins. Diese Einreihung wird durch die Entwicklung einer Genie(hirn)forschung oder die Erforschung ›krimineller Gehirne‹ tendenziell wieder aufgehoben, die den einzelnen, genialen oder (krankhaft) kriminellen Menschen hervorhebt. Solche For­ schungen wurden mindestens bis in die 1950er Jahre praktiziert und erfreuen sich auch heute wieder größerer Aufmerksamkeit, wie die Diskussion um die Gehirne Albert Einsteins oder Ulrike Meinhofs in den Medien zeigt.1136 In der vorliegenden Arbeit beschließen die Bilder aus Galls und Spurzheims Werk den historischen Teil. Elsner schreibt, dass der Begriff der Seele bei Gall nicht vorkommt.1137 Mit Gall, so meint man, endete damit die Suche nach dem Sitz der Seele. Dass dem nicht oder zumindest nur vorerst so war, werde ich im vierten Kapitel zeigen.

1134 Vgl. Huschke (1854). 1135 Vgl. Stilling (1846). 1136 Über den ›Werdegang‹ von Einsteins Gehirn vgl. z. B. Walter (2003), S. 58ff.; zum Gehirn Ulrike Meinhofs vgl. z. B. Röhl, www.bettinaroehl.de/Mythos_RAF/Ulrike_Meinhof/ ulrike_meinhof.html (28. 4. 2008). 1137 Vgl. Elsner (2000), S. 42.

I V. IST N EU RO -I M AGING CY BER PH R ENOLOGI E ? PH I LOSOPH ISCH E U N D K U LT U RW ISSENSCH A F T LICH E DE BAT T EN U M Z EITGENÖSSISCH E H I R N FOR SCH U NG U N D I H R E BI LDE R

Although philosophy is not the proper field of the physician he cannot avoid philosophizing.1 Lelland Joseph Rather

Bilder der rezenten Neurowissenschaften sind omnipräsent. Was sollen uns die Ergebnisse neuester Abbildungsstrategien vermitteln? Wie gehen wir mit solchen Bildern um, und was machen sie mit uns? In diesem Kapitel soll nicht »die pauschale Kritik an der Falschheit und Manipulierbarkeit der heutigen Bilder«2 wiederholt werden. Vielmehr wird über die Rolle ref lektiert, die bildgebende Verfahren im Rahmen geisteswissenschaftlicher Debatten der vergangenen Jahre, insbesondere in der so genannten Determinismusdebatte, in den Medien spielen. Unter dem von Hagner erdachten Begriff ›Cyberphrenologie‹3 verstehe ich eine Form phrenologischen Denkens, das sich aus der Rezeption und Analyse an bzw. von Computern erzeugter, virtueller Objekte der Hirnforschung speist. Diese durch Neuro-Imaging-Verfahren erstellten Bilder werden meistens so verwendet, als wohne ihnen eine empirische Beweiskraft inne. In Hinblick auf die Flut von wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Thema Hirnforschung ist es in diesem Rahmen unmöglich, das Bildmaterial der letzten Jahre zusammenzufassen. Es kursieren diverse Sonderausgaben zum Thema Gehirn. Dazu kommen ganze populärwissenschaftliche Heftreihen und eine unüberschaubare Zahl von Fachzeitschriften, die sich speziell oder immer wieder mit dem Neusten aus der Hirnforschung befassen, z. B. Neuron oder Nature.4 Und schließlich brauchen wir nur an einem beliebigen Tag die Tagespresse im Netz oder auf Papier zu konsultieren, die uns stets mit dem ›Neuesten aus der Hirnforschung‹ und den entsprechenden Bildern versorgt. Wir haben diese Bilder vor 1 2 3 4

Rather (1965), S. 41. Schulz (2005), S. 90. Vgl. Hagner (2002), S. 182ff. Vgl. Die Entschlüsselung des Gehirns. SPIEGEL special – Das Magazin zum Thema, Hamburg 2003; Spektrum der Wissenschaft Spezial Bewusstsein, Heidelberg 1/2004; das Magazin Gehirn und Geist erscheint monatlich; Neuron, vgl. www.neuron.org; Nature, vgl. www.nature.com.

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Augen. Zudem ist der visuelle Sprung von den Bildern des frühen 19. Jahrhunderts, mit denen wir die historische Schau der Hirnbilder beschlossen haben, zu den aktuellen Bilderzeugnissen der heutigen Hirnforschung so gewaltig, dass ich mich dafür entschieden habe, anstatt einer Auswahl, in diesem Kapitel überhaupt keine Bilder zu zeigen. PH I LOSOPH I E U N D M E DIZI N

Zunächst möchte ich kurz auf die Verbindung zwischen Philosophie und Medizin eingehen und damit zugleich die Selbstverständlichkeit kritisieren, mit der die erste Disziplin den Geisteswissenschaften oder Humanities, die andere den Naturwissenschaften oder Sciences zugeordnet wird. Schließlich kommt es heute »zu der paradoxen Situation, dass der Philosoph zum Objekt des Neurobiologen wird – zumindest sein Gehirn!«5 Zudem beschäftigen sich sowohl Philosophen als auch Neurowissenschaftler selbst mit den gesellschaftlichen und philosophischen Folgen der Hirnforschung. Lässt sich, wenn die Philosophie zum Objekt naturwissenschaftlicher Forschung und die Neurobiologie zum philosophischen Problem avanciert sind, diese Trennung noch aufrechterhalten? Oder hat es sie nie gegeben? Bernhard Weber schreibt in der Neuauf lage von Soemmerrings Über das Organ der Seele: Die Betrachtung unserer heutigen Zeit zeigt erneut Versuche, philosophische und psychologische Auffassungen vom Seelenleben mit neurophysiologischen Erkenntnissen zu verbinden […]. Dabei handelt es sich – wie ein Blick zurück in die Geschichte zeigt – eigentlich um Variationen der Bemühungen der Kirchenväter des 4. und 5. Jahrhunderts, die in einer ›Hirnzellen-Lehre‹ die antike Physiologie mit eigenen Anschauungen von ›Perceptio‹, ›Imaginatio‹ und ›Ratio‹ zu verbinden suchten.6

Das menschliche Gehirn scheint damals wie heute kein ausschließlich der Medizin zugehöriger Forschungs- und Wissensbereich zu sein. Denn »die Vorstellung«, so zitiert Jörg Blech im SPIEGEL, »Seele und Körper des Menschen seien getrennte Einheiten, ist inzwischen durch Erkenntnisse der Neurobiologie überholt. Die Gedanken entstehen aus Molekülen, Proteinen, Enzymen. ›Wir Menschen mögen eine Seele haben‹, sagt der Philosoph [Daniel Clement] Dennett, ›aber sie besteht aus vielen kleinen Robotern.‹«.7

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Florey/Breidbach (1993), S. VIII. Weber (1987), S. 5. Blech (2006), S. 190.

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Philosophen klären über die Seele auf, indem sie sich auf Erkenntnisse der Hirnforschung berufen; Hirnforscher machen sich philosophische Gedanken. Eine enge Bindung zwischen Medizin8 und Philosophie existiert seit der Antike. In den Lehren des Aristoteles finden sich dafür ebenso schlagende Beispiele wie bei Galen. Dessen Abhandlung Quod optimus Medicus sit quoque Philosophus, wonach der vorzügliche Arzt eben auch Philosoph sein müsse, 9 wurde von Erasmus von Rotterdam (ca. 1465–1536) übersetzt und nahm so im humanistischen Lehrgebäude beachtlichen Raum ein. Charles B. Schmitt schreibt, dass kein Zweifel über die Integration einer Kombination philosophischen und medizinischen Gedankengutes in der medizinischen Ausbildung in Alexandria besteht, »[t]he same pattern followed, when Greek learning passed on to the Arabic world […]. The philosophical component is evident in both Avicenna and Averroes«10 . Im Mittelalter umfasste das Wissenschaftsschema die sieben freien Künste. Zu den Artes liberales gehörten das Trivium der Grammatik, Rhetorik und Dialektik sowie Arithmetik, Geometrie, Musik11 und Astronomie. Die Medizin zählte zunächst nicht zu den sieben Künsten. Nach einigen Versuchen, sie in das Schema einzugliedern oder als Ars socia hinzuzurechnen,12 erhob Isidor von Sevilla (ca. 560–636) die Medizin zur Ars magistralis und etablierte sie als übergeordnete Wissenschaft.13 Er vereinte die sieben Künste so, dass sie nur als »Schemata und Figuren eines enzyklopädischen Wissens« auftauchten, »die mit Blut, Leben, Sinn und Zweck erst durch die Medizin erfüllt werden, durch das Verstehen und Handeln des praktischen Arztes«.14 Dieser erhielt den Titel eines Physicus, also Naturphilosophen. Isidor schrieb: »Daher hat man die Medizin eine zweite Philosophie genannt. Denn auch diese Disziplin verpf lichtet sich dem gesamten Menschen.«15 Der Gesamtheitsgedanke, der einer solchen Philoso­ phia secunda zugrunde lag, lässt sich auf platonisches Denken zurückführen.16 Im Verlauf der Geschichte gab es immer wieder Philosophen, die sich medizinischer Problemstellungen annahmen. In Bezug auf die Erforschung des Gehirns war 8 9 10 11

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Medizin nenne ich hier stellvertretend auch für neuroanatomische und -biologische sowie allgemeiner auch anthropologische Fragestellungen. Peter Bachmann, Galens Abhandlung darüber, daß der vorzügliche Arzt Philosoph sein muß, Göttingen 1966. Schmitt (1985), S. 3. Die Musik war in musica humana, musica mundana und musica instrumentalis unterteilt. Die beiden ersten wurden analog zueinander gesetzt und nahmen – in Bezug auf die Medizin Rabbi Joseph ben Jacob ben Zaddiks (1075–1149) – den Gedanken von Mikrokosmos und Makrokosmos vorweg. Dieser spielte später bei Leonardo eine zentrale Rolle und wirkte auch auf seine Überlegungen zu den Hirnfunktionen ein. So bei Theodulf von Orleans († 821 n. Chr.). Vgl. Schipperges (1974), S. 175ff. Ebd., S. 176. Zit. nach ebd., S. 178. Vgl. Felbel, S. 89.

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das insbesondere Descartes. Einer der Kritiker seiner Hirntheorien war Thomas Hobbes (1588–1679). Er vertrat eine materialistische Sichtweise der Natur, »all behavior being subject to physical laws«17. Der Materialismusvorwurf ist seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ein Totschlagargument im Ringen um wissenschaftliche Kompetenzen einzelner Positionen oder Disziplinen. La Mettries Mensch-Maschinen-Theorie und Galls phrenologischer Ansatz gelten als Paradebeispiele materialistischer Wissenschaft. Als materialistisch kann eine Hirnforschung bezeichnet werden, die alle Fähigkeiten und Funktionen unseres Gehirns als materielle Entäußerungen denkt, eine, die Bewusstseinsphänomene allein aus dem Austausch chemischer Verbindungen oder – im Sinne Hobbes’ – physikalisch erklärt. Ist dies, wie in weiten Bereichen zeitgenössischer Hirnforschung der Fall, wäre eine Konsequenz, dass künftig Neurobiologen die Richtlinien für unser Handeln zu liefern hätten.18 DI E DET E R M I N ISMUSDE BAT T E

Erhellend könnte ein Blick auf die so genannte ›Determinismusdebatte‹ sein. Die Idee dahinter ist die von etlichen Hirnforschern vertretene These, dass materielle Gegebenheiten des Gehirns, z. B. die genetisch bedingt spezifische Morphologie des Organs oder der individuell differierende Ausstoß von Neurotransmittern, festgelegt und dem Einf luss des Individuums entzogen seien. Daher handelt der Mensch nicht selbst, sondern sein Gehirn ›handelt‹ für ihn, d. h. er ist letztlich unfrei und kann daher auch nicht für seine Taten verantwortlich gemacht werden. Panofsky hat den Humanismus als eine Einstellung beschrieben, die auf der Überzeugung von der Würde des Menschen und dem Beharren auf den menschlichen Werten Vernunft und Freiheit sowie der Hinnahme seiner Begrenzungen (Fehlbarkeit und Hinfälligkeit) beruht.19 Dies führe zu Verantwortlichkeit und Toleranz, zwei Postulaten, denen die Deterministen ablehnend gegenüber ständen. Nach Panofsky werden göttliche, materielle und gesellschaftliche Determination unterschieden. Die hier maßgebliche biologische Determination als Grundlage der Determinismusdebatte in der Hirnforschung ist zumindest eine materielle, gebunden an die Materie Körper. Es zeigt sich, dass der Diskurs um Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen während der Auf klärung durchaus Auswirkungen auf eine frühe Determinismusdebatte im 19. Jahrhundert in Bezug auf Erkenntnisse der Hirnforschung hatte. Es ging wie heute um die Frage, ob der Mensch frei oder seine Handlungen und Entschei17 18

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Brazier (1984), S. 29. Vgl. Florey/Breidbach (1993), S. VIII. Sie weisen darauf hin, dass mit der Disziplin Neuroethologie, eine neurobiologische Richtung eingeschlagen wurde, die Ethik und Moral »zu Überlebens-Strategien der Gene« erklärt, ebd. Panofsky (1975), S. 8.

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dungen determiniert, also festgelegt oder vorbestimmt sind. Ein Traktat aus dem Jahre 1805 thematisiert den Zusammenhang von Gehirn und Freiheit: Man hat das Gehirn von Wahnsinnigen geöffnet, um darin einen Grund ihres Wahnsinns zu finden, aber nie sahe man etwas darin. Daher folgerte man: der Grund dieser Krankheit sey nicht im Gehirn zu suchen, sondern in anderen Theilen des Körpers, z. E. im Unterleibe, u. s. w. Oder man gerieht wohl gar in den Glauben, der Geist sey krank; als ob ein Geist krank seyn könne. Jetzt, da man in Wien das System des D. Gall kennen gelernt hat, kurirt man beim Wahnsinne bereits mehr auf das Gehirn.20

Der Autor Josef Schelle gehörte zu denen, die Galls Lehre durch eigene Veröffentlichungen verbreiteten und populär machten. Er riet dazu, wollte man den Wahnsinn erkennen, auf die Struktur des Schädels, der Hirnhaut und der Gyri und Sulci zu achten, denn die Windungen »strotzen« nicht mehr so, das Gehirn schrumpft im Schädel, und dieser wiederum nimmt an Gewicht und Stärke des Knochens zu: »Die Veranlassung dazu ist eine Zerstörung, eine Eiterung, oder ein Fraß im Gehirn.«21 Schelle glaubte, dass die Beschädigung eines Hirnteils die Verknöcherung des Schädels hervorruft und kam über diese Vermutung zu der Frage, ob ein Selbstmörder für seine Tat verantwortlich sei. Aus Hirnvergleichen von Selbstmördern und Wahnsinnigen schloss er, dass diese Tat nicht aus Immoralität begangen, sondern durch eine Krankheit evoziert werde, die, bei sorgfältiger Beobachtung des Kranken, hätte vorausgesehen werden können. Damit sprach Schelle de facto dem Täter einer (Straf )Tat die Verantwortung für sein Tun ab. Er begründete dieses mit dem Einfluss, den die Krankheit und damit das Körperliche auf die seelischen Zustände ausübt. Krankheit wurde hier als etwas rein fremd Bestimmtes verstanden – Überlegungen zur Psychosomatik hatte Schelle in seine Überlegungen nicht einbezogen. Im Übergang von der Auf klärung zur Romantik war unter philosophierenden Naturforschern die Regel und die Ansicht weit verbreitet, dass »Erkenntnis vor allem in der Wissenschaft vom Leben viel mehr ist als reiner Selbstzweck«22 . Zu einer Determinismusdebatte im frühen 19. Jahrhundert trug auch Gall bei, als er in seinen phrenologischen Schriften die Behauptung aufstellte, dass Menschen und Tieren ihre Fähigkeiten und Neigungen, also Geistes- und Gemütseigenschaften, angeboren seien. Diese Behauptung wurde von vielen Seiten und mit verschiedenen Waffen angefochten […], da durch diese Angeborenheit dem Menschen seine psychologische Freiheit […], vermöge des20 21 22

Schelle (1805), S. 46f. Ebd. , S. 47. Mocek (1995), S. 11.

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sen er seine Handlungen seinen Vorstellungen und Begriffen gemäß selbstthätig bestimmen kann, verloren ginge. Denn Tugend und Laster scheinen hierdurch blos Erzeugnisse unserer ursprünglichen Organisation zu seyn, und wir dadurch mehr zu Werkzeugen als Herren unserer Handlungen geeignet.23

Doch Gall ließ ein Hintertürchen offen. Durch Erziehung zum sittlich Guten und Unterordnung unter die Pflicht könne einer Neigung zum Laster entgegengewirkt werden, dem Menschen, dem »drollige(n) Mittelding zwischen Vieh und Engel«24 wurde damit eine von seinen angeborenen Neigungen unabhängige Selbstbestimmung zugesprochen.25 Die angeborenen Fähigkeiten und Neigungen haben bei Gall ihren Sitz im Gehirn.26 Anhand der von Gall zur Verfügung gestellten Modelle konnten sie sichtbar gemacht werden. Seinen Bildern wurde, trotz aller Anfeindungen, zu seiner Zeit wissenschaftliche Beweiskraft zumindest nicht abgesprochen. Die Determinismusdebatte heute enthält noch eine andere Komponente: die Ansicht mancher Neurowissenschaftler, dass die eigene Disziplin den »Grundsatzfragen nach der Natur von Erkenntnis, Empfindung, Bewußtsein und freiem Willen nicht mehr ausweichen«27 könne. Die Geisteswissenschaftler müssen sich dieser Meinung zufolge der Einsicht stellen, dass die »Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen unserer kognitiven Funktionen […] in den Zuständigkeitsbereich der Neurobiologie«28 fallen. Genau um dieses Thema, um, so der Untertitel, Die bildgebenden und die weltbildgeben­ den Verfahren der Neurowissenschaft geht es in dem Aufsatz Es blinkt, es denkt der Philosophin Petra Gehring. Sie durchleuchtet die Positionen jener Neurologen, die im philosophischen Diskurs um Gehirn und Bewusstsein seit einiger Zeit tonangebend sind. Sie stellt Überlegungen zur Rolle bildgebender Verfahren an, die sie als »›Empirie‹ hinter dem ominösen neuen Weltbild«29 anzeigt. Es wird immer wieder hervorgehoben, dass uns bildgebende Verfahren, die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angewendet werden, Einblicke ins lebende Gehirn ermöglichen. Sie können Hinweise darauf geben, welche Gehirnregionen bei welchen Erkenntnisleistungen aktiv sind. So lassen sich scheinbar auch Ich-Bewusstsein und Emotionen sehr genau im Gehirn verorten. Das hat dazu geführt, dass Hirnforscher die Willensfreiheit in Frage stellen. Die Richtigkeit dieser Annahme wird empirisch bewiesen: Der Versuchsauf bau eines nach Benjamin Libet benannten Experiments erlaubt es, die den Willensentscheidungen der Probanten begleitende Hirn23 24 25 26 27 28 29

Hagedorn (1805), S. 4. Gall in Lesky (1979), S. 44. Vgl. ebd., S. 5. Vgl. Kapitel 3. 2. 8. 2. Gehring (2004), S. 273. Ebd. Ebd., S. 274.

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aktivität zu messen. Libet-Versuche haben bewiesen, dass neurophysiologische Prozesse bereits ablaufen, bevor die Versuchsperson diese Entscheidung zu treffen glaubt.30 Voraussetzung für diese Folgerung ist die Überzeugung, »dass es möglich ist, die Beziehung zwischen Gehirnprozessen und subjektivem Erleben neurowissenschaftlich zu identifizieren«31. Das würde bedeuten, dass unser Gehirn unserem Willen vorausgeht und uns so zu Handlungen anleitet, die wir dann erst erfahren. Dass unser Gehirn solcher Art überrumpelt wird, kann, so die Theorie und Praxis in den Neurowissenschaften, durch Bilder belegt werden. Indem in den Neurowissenschaften Zweifel an der Existenz der Willensfreiheit geschürt werden, wandelt sich das Menschenbild. Es verändert sich nicht nur unser Selbstverständnis als freie und verantwortungsvolle Subjekte, sondern auch die Regeln, auf denen unser gesellschaftliches Zusammenleben beruht.32 Akte der Willensfreiheit werden als von neuronalen Verschaltungen und damit Naturgesetzen abhängige Prozesse verstanden. Michael Pauen macht darauf aufmerksam, dass dieser Sichtweise die Annahme zu Grunde liegt, dass »ein prinzipieller Gegensatz zwischen Freiheit und Determination [besteht]: Determinierte Geschehnisse wären prinzipiell unfrei«33. Wenn dies aus philosophischer Sicht auch diskussionswürdig sein mag, so haben Neurowissenschaftler stärkere Argumente zur Hand: Bilder, die mit Hilfe ständig weiterentwickelter Neuro-Imaging-Verfahren erstellt werden. Bevor ich auf die Frage, inwiefern diese Bilder Argumente sind, bzw. wie sie funktionieren, zurückkomme, wenden wir uns zunächst den technischen Voraussetzungen dieser Bilder, den bildgebenden Verfahren zu. N EU RO -I M AGI NG

Auch bei heute in den Medien weit über die ›Scientific community‹ hinaus verbreiteten Hirnbildern ist gegen die vermeintliche Beweiskraft des durch neueste Technologien sichtbar Gemachten schwer zu argumentieren. Vertraut die Hirnforschung zu sehr auf ihre Bilder? Zeigen diese Bilder, was im Gehirn passiert, oder sind sie Produkte einer virtuellen Scheinwelt? Breidbach relativiert die Bildergläubigkeit, indem er die Frage nach den Vorlieben des Bildbetrachters (bei ihm identisch mit dem Bilderzeuger) stellt: Was sehe ich eigentlich, wenn ich auf die Anzeigen eines modernen physikalischen Meßinstrumentes blicke? Ich registriere eine digitalisierte, aber eben doch 30 31 32 33

Vgl. Philberth, in Linden/Fleissner (2005), S. 196. Zur Frage der Willensfreiheit innerhalb der Neurophilosophie vgl. auch Schmidt (2003), S. 31f. Sturma (2005), S. 115. Vgl. Pauen (2003), S. 50. Ebd. , S. 51.

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reproduzierte Welt. Mit einem Knopfdruck kann ich dieses ›Weltbild‹ in seinen Farbwerten gänzlich verändern. Ist die Realität dieses Bildes die Wirklichkeit, von der der Experimentator einen definierten Ausschnitt abbildet, oder ist dieses Bild dann doch von den Vorlieben des Betrachters abhängig, der auf dem Bildschirm das inszeniert, was ihn interessiert (und das andere schlicht wegläßt)?34

Zu den verschiedenen Verfahren der funktionellen Gehirnbildgebung gehören das Elektroenzephalogramm (EEG), die craniale Computertomographie (CCT), die Positronenemissionstomographie (PET), die funktionelle Magnetresonanz-Bildgebung (fMRI), die Kernspin- oder Magnetresonanztomographie (MRT), die Magnetenzephalographie (MEG) und die Single-Protonen-Emmissions-Tomographie (SPECT). Außerdem sind verschiedene Kombinationen einzelner Verfahren möglich, z. B. die PET/CT. Dazu kommen ephemere, also zeitabhängige Bilder.35 Neben der Anatomie des Gehirns werden Neurochemie und Stoffwechsel dargestellt. Ziel ist es, strukturelle Funktionseinheiten zu lokalisieren und abzubilden. Cowey hat die 1980er Jahre die »decade of PET«36 genannt. Bei dieser bildgebenden Methode senden Positronenstrahler bei ihrem Zerfall zwei Energieteilchen aus, die sich im Winkel von 180 Grad voneinander entfernen. Ein zu Untersuchender wird durch eine PET-Kamera gefahren. Die gleichzeitige Verfolgung der beiden Energieteilchen erlaubt es, die Linie zu bestimmen, auf der der Zerfall stattgefunden hat. Aus der Überlagerung sehr vieler dieser Linien errechnet ein an die Kamera angeschlossener Computer ein Bild. Auf dem Monitor erscheint ein Schnitt durch ein aktives Organ, der krankhafte Veränderungen in der Zellstruktur oder bestimmte Prozesse verdeutlichen soll, z. B. Denkvorgänge oder Reaktionen auf Sinneseindrücke. Die so hergestellten Bilder werden wiederum am Computer bearbeitet. Es wird fokussiert, vergrößert, ein Ausschnitt gewählt. Bereiche werden hervorgehoben, markiert, andere werden gelöscht. Mit diesem und anderen Verfahren werden in der zeitgenössischen Hirnforschung Bilder generiert, die gegenwärtig als Bekräftigung (wenn nicht als Beweis) jeder neuen Erkenntnis der Hirnforschung veröffentlicht werden. Fischer betont, dass wir es, unabhängig von Abbildungsstrategie, Trägermedium und Bildinhalten mit »äußeren Bildern« zu tun haben.

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Breidbach (2005), S. 11. Hier wurde nur der zweidimensionale Bereich statischer Bilder berücksichtigt (sozusagen Bilder im engeren Sinne). Mehr zu den genannten bildgebenden Verfahren in Hüsing/Jäncke/ Tag (2006). Cowey (2001), S. 4.

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So gut die Licht- und Elektronen-Mikroskope und andere bildgebende Verfahren mit vergrößernden Wirkungen auch sind, und so tief sie auch in das Innerste der materiellen Welt eindringen, sie zeigen immer nur das, was durch den Eindruck veräußerlicht worden ist. Sie zeigen äußere Bilder des Inneren.37

Bunte Pixel auf Hirnschnitten markieren nur scheinbar Bedeutungsgefüge. Solche ›schwarz-bunten Hirnbilder‹ sind uns aus den Medien hinlänglich bekannt. Weniger bekannt ist, dass es statistische Bilder sind. Sie sind, wie der Neurologe Ludger Tebartz van Elst erklärt, »kein Abbild der tatsächlichen Gehirnaktivierung oder -durchblutung«38 . Solche Bilder werden immer dann angerufen, wenn es gilt, neuste Erkenntnisse der Hirnforschung zu illustrieren. Tebartz van Elst beschreibt ihre suggestive Kraft als ebenso verführerisch wie ihre Evidenz trügerisch ist. Jedermann glaube, die Orte struktureller oder funktioneller Hirnauffälligkeiten deuten zu können: Was sichtbar ist, ist auch da. »In Wirklichkeit handelt es sich aber um komplexe mathematische Konstrukte.«39 Die Bilder sind Ergebnisse von Experimenten. Während eine Gruppe von Probanden im Kopf bestimmte Ereignisse oder Situationen nachvollziehe, Aufgaben löse oder Gefühle wachrufe, werde ihr Hirn gescannt, die Daten würden verarbeitet, verglichen, korrigiert. Dies geschehe so lange, bis als Ergebnis »Gruppen von Bildpunkten« herauskommen, bei denen sich die Messsignale in der aktiven Bedingung von denen der Ruhebedingung unterscheiden. 40 Dabei zeige die »Farbe der Bildpunkte […] nicht unbedingt die Stärke des gemessenen Signals, da ja nur relative Größen bestimmt werden können«, sondern »wie signifikant der Signalunterschied im Gehirn bei bestimmten Aufgaben ist, also die Größe der Wahrscheinlichkeit, dass die Differenz kein Zufall ist«. 41 Wenn die ermittelten Punkte auf Gehirnschnitte projeziert würden, könne beim Betrachter zudem der Eindruck entstehen, dass, bis auf die als aktiv markierten Punkte, das Gehirn nicht reagiere. In der funktionalen Hirnbildgebung geht es nicht mehr nur um eine Verortung bestimmter Fähigkeiten, z. B. bei der Frage nach dem Hirnbereich, in dem Gesichtserkennung stattfindet, sondern auch darum, die Richtung des Verarbeitungsvorganges zu bestimmen. Der hierarchische Auf bau der Bewegung der Verarbeitung von Informationen soll erschlossen werden. Die funktionelle Hirnbildgebung hat in den letzten Jahren erstmals ermöglicht, Hirnstoffwechselprozesse lebender Menschen direkt darzustellen. Karl Clausberg und Cornelius Weiller betonen, dass man sich darüber im Klaren sein müsse, »dass solche Bildgebung immer noch Anatomie des menschlichen Gehirns ist; nicht mehr, aber auch nicht weniger. Einsichten der Philosophie und 37 38 39 40 41

Fischer (2002), S. 29. Tebartz van Elst (2007), S. 30. Ebd. Ebd. Ebd.

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Theologie, Regeln der Linguistik, Gesetzgebungen des Strafrechts oder Begriffsbestimmungen wie ›Bewusstsein‹ sind Artefakte, vom menschlichen Bewusstsein geschaffene mentale Konstrukte«42 . Wie die Physiognomen im 18. Jahrhundert halten sich die Neurowissenschaftler heute ebenso an der Oberf läche auf und besetzen diese mit menschlich konstruierten Kategorien, die wiederum kontingent sind und sich zu einer konstatierten Wahrheit in immer währender Annäherung befinden, sie aber nie erreichen können. Doch es ist nicht nur das Subjekt, das Teil des Bildes wird, sondern auch die Apparatur, die sich einschreibt. Was sich da einschreibt, ist allerdings mehr als ein Rauschen im technischen Gerät. Apparaturen, die ja die Welt nicht nach-, sondern abbilden, »transferieren einen bestimmten Aspekt der in ihnen registrierten Welt in ein neues Medium«43. Trotzdem geht das Ergebnis technischer Bildgebung, z. B. die Darstellung von Stoffwechselaktivitäten des Gehirns, über ein bloßes Abbilden hinaus. Sie sind vielmehr Resultate äußerst aufwendiger Verfahren, in denen eine Situation produziert wird, »die dann von dem Gerät, das das Hirn abtastet, in ein Bild umgesetzt wird, welches weniger nach den Möglichkeiten des Gerätes als vielmehr nach den Sehgewohnheiten des Arztes eingerichtet ist«44 . Unbestritten ist, dass rezente Hirnabbildungen durch Faktoren wie Einfärbung, Auswahl des Bildausschnitts, Freistellen bestimmter Hirnbereiche oder Strukturen und nicht zuletzt den Kontext, in dem sie gezeigt werden, der ›künstlerischen Freiheit‹ ebenso unterliegen wie die im dritten Kapitel vorgestellten historischen Beispiele. Sie sind ebenso der jeweiligen ›Mode‹ wissenschaftlichen Darstellens unterworfen, die zu einer Zeit verlangt, die Plastizität morphologischer Merkmale durch eindrucksvolle Lichtref lexe besonders herauszuarbeiten, zu einer anderen, die Abgrenzungen einzelner Bereiche durch starke Farbkontraste zu betonen. Durch diese Techniken entstehen Bilder, die, so Fischer, »derart freizügig mit so genannten Falschfarben verziert oder »verbessert« werden, daß sich der Eindruck einstellt, hier wird mehr der Schönheits- und weniger der Spürsinn des forschenden Betrachters angesprochen«. Schon Robert Koch (1843–1910) habe um die Gefahr gewusst, dass man mehr fotografieren könne als vorhanden sei. 45 Was aber bedeuten solche Aussagen über die Funktionen der künstlich-künstlerisch erstellten Hirnbilder? Haben sie andere Funktionen als die hier in ihrem historischen Kontext untersuchten Gehirndarstellungen?

42 43 44 45

Clausberg/Weiller (2004), S. 31. Breidbach (2005), S. 12. Ebd., S. 12. Fischer (2002), S. 19f.

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F U N KTION EN Z EITGENÖSSISCH E R H I R N BI LDE R

Obwohl sich nicht wenige Hirnforscher der verschiedenen Kritikpunke, die am func­ tional imaging bestehen, bewusst sind, 46 gelten die so erstellten Abbildungen nicht nur als Argumente bei der Bearbeitung bestimmter Fragestellungen, sondern sie werden bisweilen wie Beweise verwendet, etwa in der TV-Dokumentation Expedition ins Ge­ hirn.47 Dort erklärt der befragte Hirnforscher Michael Fitzgerald, dass Einsteins Gehirn vergrößerte Scheitellappen aufweist. Analog zu dieser anatomischen Auffälligkeit erhöhe sich der Dopamin-Spiegel, die Menge des Botenstoffes also, der das kreative Potential anrege. Außerdem sei das Gleichgewicht zwischen den Hirnhälften gestört, was zwar Defizite im sozialen Miteinander hervorgerufen, aber zugleich Einsteins herausragende Intelligenz bewirkt habe. Auf dem Bildschirm erscheint das Bild eines dreidimensionalen Hirnmodells. Ein Beweisstück? Die in den Medien kursierenden Bilder gleichen einander, zumal im Blick von Laien, an den sie sich, so sie z. B. in einer Tageszeitung erscheinen, auch richten. Auf schwarzem Untergrund ist eine graue wolkige Struktur erkennbar, die bei Vorwissen als Schnitt durch ein Gehirn identifiziert werden kann. Der Bereich, um den es im dazugehörigen Text geht, ist farbig markiert. Unten im Bild ist oft eine Farbskala als Legende beigefügt. Die Bildunterschrift verdeutlicht, was im Bild und mit dem Bild zu beweisen ist. So etwa in einem Artikel mit dem Titel Frauen sehen Anders. Hirnfor­ scher entdecken Unterschiede im Sehzentrum: »Areale im visuellen Kortex. Das rechte Areal zeigt Unterschiede bei Männern und Frauen.«48 Das Bild ›zeigt‹, es ›deckt auf‹, es ›beweist‹, dass diese Unterschiede existieren. Hier stellt sich die Frage, ob wir nicht schon von einem Verlust des Körpers in der Anatomie sprechen können. Stellt der »makroskopisch nicht mehr zu erkennen[de]« Körper nicht bloß noch »eine imaginäre Projektionsf läche für bildgebende Verfahren« dar?49 Von Apparaten erstellten wissenschaftlichen Abbildungen haftet eine Aura der Wahrhaftigkeit oder Glaubwürdigkeit an. Sie fußt zum einen auf der von Flusser als naiv entlarvten Annahme, dass es zwei Arten von Bildern gibt: traditionelle, d. h. vom Menschen gemachte, und von Apparaten erstellte Technobilder.50 Bei Letzteren werde eine Objektivität oder eine Kausalkette zwischen Wirklichkeit und Bild angenommen, von der selbstverständlich keine Rede sein könne.51 Zum anderen erwerben Bilder ihre Objektivität im wissenschaftlichen Kontext: Als sichtbare Ergebnisse wissenschaftlicher Beobachtung scheinen sie eine ontologisch schwer nachzuweisende wissenschaftliche Weihe zu empfangen. Die so mit Überzeugungskraft ausgestatteten 46 47 48 49 50 51

Vgl. u. a. Cowey (2001), S. 4ff. Sendung Expedition ins Gehirn, Sender arte, ausgestrahlt am 4. 6. 2007 (22. 15–23. 00). Frankfurter Rundschau, 13. Februar 2007, Nr. 37, S. 24. Buschhaus (2005a), S. 10. Vgl. Flusser (1998), S. 137. Vgl. ebd., S. 138f.

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wissenschaftlichen (Techno)Bilder werden in andere, außerwissenschaftliche Kommunikationskontexte hineingetragen. Diese ermöglichen eine weit größere Verbreitung von Bildern. Zeitungen und Nachrichtenmagazine liefern uns ständig neue Meldungen aus der Hirnforschung mit Aufmerksamkeit heischenden Überschriften und Bildern. Die Bildsprache solcher Sensationsmeldungen aus den Naturwissenschaften zu untersuchen, würde eine eigene Abhandlung erfordern. Über eine Zusammenfassung der in den Medien geführten Debatte hinausgehend wäre der Wandel in den Darstellungen des menschlichen Zentralorgans zu beleuchten, dem eine Sichtbarmachung kultureller und politischer Umstände zugrunde liegt. Es lässt sich behaupten, dass angesichts der ständigen Medienpräsenz uns unheimlich erscheinender Forschungsergebnisse (z. B. der Gentechnologie) Bilder ein Gefühl von Sicherheit schaffen, indem sie das Erforschbare im Medium bannen. Wenn wir das Bild einer Maus sehen, auf deren Rücken ein menschliches Ohr wächst, oder ein Bild vom Klonschaf Dolly, läuft uns allerdings ein Schauer über den Rücken. Dieses ›Unbehagen der Bilder‹ geht mit der im zweiten Kapitel erläuterten scheinbaren Beweiskraft wissenschaftlicher Abbildungen einher. Die reale Existenz der dargestellten Objekte konnte zu jeder Zeit in Zweifel gezogen werden. Zu der Zeit als das Rete mirabile fester Bestandteil des Wissens vom Gehirn war, wurde es gezeichnet, obwohl es nicht vorgefunden wurde, und so im Bild realisiert. In solchen Fällen ist allerdings immer zu prüfen, ob es sich beim Dargestellten um vorgefundene und bildlich dokumentierte morphologische Strukturen handelte, oder ob eine spezifische Funktionsweise modellhaft abgebildet werden sollte. Heute ermöglichen technische Verfahren nicht nur Simulationen zum Zweck besserer Vorstellbarkeit, sondern es können mit ihrer Hilfe Bildinhalte produziert und für echt verkauft werden. Die aufgedeckte Täuschung erweckt großes Misstrauen, wie vor einiger Zeit die Manipulation von Forschungsergebnissen des südkoreanischen Genforschers Hwang Woo Suk gezeigt hat. Eine Forderung nach weniger Manipulation durch (wissenschaftliche) Bilder ist nur dann realistisch, wenn den Rezipienten (den hypothetisch Manipulierten) das kritische Bewusstsein für den Umgang mit Bildern vermittelt wird. Aus der Anfangsphase gedruckter anatomisch-medizinischer Visualisierungen in Atlanten und Traktaten des frühen 16. Jahrhunderts ist eine Handvoll Bilder des menschlichen Gehirns bekannt. Bild- und Medienwissenschaftler haben es mit einer übersichtlichen Zahl von Objekten zu tun. Heute, im Zeitalter einer »Bilderf lut aus dem Körper«52 , bewirkt schon die schiere Anzahl täglich anfallender Bilder, dass sie nicht nur als Segen begriffen werden können. Die Überfrachtung mit Bildmaterial, als Daten auf Festplatten und Servern gespeichert, aber auch in gedruckter Form, stellen Wissenschaft und Praxis vor 52

Überschrift aus der FAZ (7. 05. 2003) anlässlich eines Internistenkongresses, zit. nach Buschhaus (2005a), S. 8.

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gewaltige Archivierungsprobleme. Was passiert mit den Zehntausenden von Bildern, die mittlerweile stündlich in Arztpraxen, Kliniken und Forschungslabors produziert werden? Die Notwendigkeit einer Bildproduktion von diesem Ausmaß anzuzweifeln, würde vermutlich als bilderstürmerisch aufgefasst werden. In der Antike wurde Bildern eine heilsame Wirkung zugeschrieben. Sie befreiten den Menschen von gefährlichen Affekten. Fast scheint es, als würden in rezenten medizinischen Abbildungen ebenso kathartische Kräfte vermutet, die allein durch Vermehrung der Bilder zu Heilungsprozessen und Erkenntnisgewinn über unsere Körper führen könnten. Mit Hilfe der genannten Techniken erstellte Bilder vom Gehirn fungieren als Ikonen des Wissens und beeinf lussen das Bild (image), das wir uns vom Gehirn machen, maßgeblich. Welches sind, abgesehen von technischen Aspekten, die Bedingungen ihres Entstehens? Im doing images der radiologischen Berufs- und Forschungspraxis sieht Regula Burri »ein komplexes Zusammenspiel sozialer, technischer, mikropolitischer, kultureller und kognitiver Aktivitäten«, das sich »auf den Prozess der materiellen und symbolischen Herstellungen medizinischer Visualisierungen« bezieht.53 Bilder, die so entstehen, bezeichnet sie als emergente Produkte einer soziotechnischen Interaktion.54 Ihnen wird bescheinigt, das Ergebnis eines Zusammenspiels komplexer Ursachen zu sein, z. B. des Produktionsprozesses, in dem sie entstehen, oder der professionellen und sozio-politischen Eingebundenheit derer, die diesen Entstehungsprozess anregen oder durchführen. Im Ergebnis sind sie jedoch mehr als die Summe ihrer Wirkungen. Fragen nach den Subjekten können lauten: Wer gibt eine Forschungsstudie mit welchen Intentionen in Auftrag? Wem nützt welches Untersuchungsergebnis? Welche politischen Erwägungen spielen in diesen Prozess mit hinein? In welchem gesellschaftlichen Milieu entsteht ein Bild? EI NGR IFF U N D ZUGR IFF

Das Gehirn als ein von chemischen Stoffwechseln gesteuerter Fleischklumpen von unüberwindlich scheinender Komplexität ist nicht bloß Objekt von Beobachtung und Darstellung, sondern immer wieder auch von Intervention. Das Bild als Ergebnis von inversiven Verfahren ist nicht und war zu keiner Zeit Beweis genug. Experimente waren stets Teil von Hirnforschung. Wenn neuronale Prozesse dem bewussten Erleben immer schon einen Schritt voraus sind, unser Gehirn also etwas tut, bevor wir es tun, so mag dieses Forschungsergebnis manchem Hirnforscher als Provokation dienen, mit der er (als Naturwissenschaftler) dem Philosophen (als Geisteswissenschaftler) begegnet. Denn diese Erkennt53 54

Burri (2001), S. 277. Vgl. ebd.

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nis wird laut Gehring von einigen Neurowissenschaftlern gleichsam als Ermächtigung zum Übergriff auf die Domäne der Philosophie verstanden. Als Philosophin kritisiert sie den »Provokationsgestus der Entlarvung einer Provokation«, den die Neurowissenschaftler Gerhard Roth und Wolf Singer in Bezug auf den Begriff des Determinismus zur Schau stellen: Ihrer Ansicht nach enthält die »erfolgreich promovierte Feuilleton-Diskussion […] – philosophisch gesehen – wenig Kritisches«55 . Das was an der Diskussion aufmerken lässt, ist die Möglichkeit, dass die Forschungsergebnisse auf die Strafjustiz Einf luss nehmen könnten, dass, wenn der Begriff der persönlichen Schuld durch Pathologisierung straffällig Gewordener aufgehoben würde, »womöglich die Hirnmanipulation der einzige Weg ins Freie«56 wäre. Längst ist »der Sitz der Seele Gegenstand therapeutischer Intervention«57 : NeuroEnhancement heißt das Zauberwort. Damit ist »das Tunen von Psyche, Gedächtnis und Intellekt« gemeint: Durch die Elektrodentechnik Deep Brain Stimulation (DBS) kann das Gehirn stimuliert werden, indem »hauchdünne Elektroden in bestimmte neuronale Kerngebiete tief unter der Großhirnrinde vorgeschoben« werden.58 Mit dieser Neuroelektronik können Wissenschaftler auf das zugreifen, was wir als Seelenfunktionen kennen gelernt haben. Auf die Lokalisation folgt der Eingriff. Warum soll man nicht tun, was man zu tun in der Lage ist, scheint die Devise zu lauten. ›Operationale‹ Experimente am Menschen, wie sie die Psychochirurgie bereits in den 1930er Jahren vollzogen hat, wurden erst durch die Lokalisation der Hirnfunktionen möglich – nicht zuletzt durch Bilder, auf denen Hirnfunktionen kartiert waren. Nach ihnen konnten sich Chirurgen richten, z. T. mit fatalen Folgen. Bilder als Täter begreifen zu wollen, ist natürlich Unsinn. Da Hirnforschung und Hirnbild untrennbar miteinander verwoben sind, tut sich hier (mit Blick auf die Bildfunktionen) allerdings ein interessantes Forschungsfeld hinsichtlich der Legitimation von Forschung durch Bilder auf. Dass nicht nur seitens der Geisteswissenschaften am universalen Anspruch der Neurowissenschaften gezweifelt wird, verdeutlicht die Frage, die der Neurologe Martin Kurthen 2007 einem Vortrag voranstellte: »Sind die Neurowissenschaften Motor eines Erkenntnisprozesses oder das Symptom von etwas, was schon da war, also ein gesellschaftliches Phänomen, ein Produkt?«59 Ohne Zweifel bestehen Wissenschaftstrends in allen Disziplinen. War das neurowissenschaftliche Top-Thema in den 1970er Jahren das Split­Brain und in den 1980ern 55 56 57 58 59

Gehring (2004), S. 283. Ebd., S. 291. Carl Friedrich Gethmann, zit. nach Bahnsen (2007), S. 29. Bahnsen (2007), S. 29. Vortrag von Marc Jongen und Martin Kurthen: Ins Universum der Hyperbilder. Zur Theorie einer trans­logischen Imagination – Jenseits der Sprache: nicht Bilder, sondern Handlungen. Auf der Tagung Bildprozesse. Imagination und das Imaginäre im Dialog zwischen Kultur­ und Naturwissenschaften vom 3.–4. Mai 2007 am Zentrum für Kunst- und Medientechnologie (ZKM) Karlsruhe.

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die Blindsights, so stehen seit den 1990er Jahren die Spiegelneuronen im Zentrum zumindest medialer Aufmerksamkeit. Ein anderes Gebot der Stunde ist die Suche nach Neurotransmittern und die Erforschung des durch sie gesteuerten Zusammenwirkens verschiedener Gehirnareale. Forschungsinhalte wandeln sich stetig. In den Geistes- und Kulturwissenschaften bezeichnet der Begriff turn solche Trendwenden. Dieser Begriff »schwankt zwischen dem, was Thomas S. Kuhn ein »Paradigma« genannt hat und der Attitüde eines rhetorischen Design, das an die Mode vom letzten Herbst erinnert« 60 . Der neuronal turn 61 könnte sich für die Geisteswissenschaften als ebenso Raum greifend erweisen, wie iconic und pictorial turn es z. B. für Kunst-, Kultur- oder Medienwissenschaften taten oder noch tun. Arbeiten wie die vorliegende werden ihren Teil zu solcher Entwicklung beitragen. Die Frage bleibt, inwieweit Natur- und Geisteswissenschaften den Blick auf die jeweils andere Disziplin für die eigene fruchtbar machen können. Ein Beispiel: Der in esoterischen Kontexten strapazierte Begriff der ›Seele‹ wird im Bereich zeitgenössischer Neurowissenschaften offensichtlich thematisiert: »Wo im Gehirn sitzt die Seele?«. Mit eben dieser Frage ist ein Abschnitt eines Textes von Roth betitelt, in dem er sich mit dem Verhältnis von Neurobiologie und Psychoanalyse auseinandersetzt. Roth referiert Paul MacLeans Konzept der ›drei Gehirne‹ und wendet sich dabei insbesondere dem limbischen System zu. Dieses nach heutigem Forschungsstand örtlich nicht klar abzugrenzende, »anatomisch und funktional heterogene[s] Gebilde« 62 nennt er nicht Seelensitz – im Textabschnitt taucht das Wort Seele nicht einmal auf. Dass er sich unter dem genannten Titel vornehmlich mit einem bestimmten strukturell zusammenhängenden System befasst, legt jedoch nahe, dass er limbische Leistungen mit seelischen korreliert sieht. Ob das limbische System als ›Commercium animae et corporis‹ dient, ist letztlich davon abhängig, wie die Seele definiert wird. Eine solche Definition kann nur durch ein Zusammenwirken von Natur- und Geisteswissenschaften geleistet werden. So wundert es nicht, dass Roth, wenn er auf den Sitz des Bewusstseins bzw. des Ichs zu sprechen kommt, zwischen naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Erklärungsmodellen wechselt.63 Laut Schulz bedeutet die Forderung nach Zusammenarbeit nicht zwangsläufig, die arts mit den sciences zu untermauern; daher auch nicht, die Geschichte der Bilder allein auf Grundlage der Physiologie sowie Kultur allein mit Natur zu erklären und damit zu einem Determinismus zu gelangen, wie er im Konstruktivismus der Gehirnforschung angelegt ist. Vielmehr zeigt gerade eine 60 61 62 63

Boehm (2007), S. 27. Vgl. auch Bachmann-Medick (2006a). Vgl. u. a. Geyer (2004), S. 134f. Roth (2007), S. 125. Vgl. Roth (2001), S. 378ff.

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kulturhistorische Perspektive […] die spezifisch kulturell bedingten Möglichkeiten auf, die menschliche Wahrnehmung zu stimulieren, sie zu erleben und darzustellen.64

Eine verfahrensmäßige Sackgasse ist es, der jeweils ›anderen‹ Wissenschaft ihre blinden Flecken vorzuhalten. So müssen sich Kultur- und Geisteswissenschaften (Kurthen nennt sie Nicht-Naturwissenschaften) den Vorwurf gefallen lassen, Neurowissenschaftler und deren Erkenntnisse in Anspruch zu nehmen, um eigene Thesen durch deren ›härtere‹ Ergebnisse zu untermauern, den Drittmittelf luss anzuregen oder einfach einer Wissenschaftsmode Rechnung zu tragen. Dazu greifen Geisteswissenschaftler gerne auf Vokabular und Bilder der Hirnforschung zurück. Begreifen Hirnforscher z. B. Bilder als Funktionen, in denen Input in Output verwandelt wird, erhält gleichsam die Theorie des Bildes neuen Input. Durch solche Verf lechtungen von Forschungsinteressen, die ja mitunter beiderseits erwünscht sind, könnten sich bestehende Wahrnehmungskonventionen und Repräsentationsräume verändern. Dass das Bewusstsein nicht nur einer gegenseitigen Vereinnahmung, sondern auch für eine beiden Seiten nützende Zusammenarbeit vorhanden ist, zeigt sich in einem Artikel Tebartz van Elsts, der das Süddeutsche Brain Imaging Center leitet. Er fordert zum Perspektivwechsel auf. Damit den Neurowissenschaften nicht »ähnlicher Spott wie einst der Phrenologie« drohe, bedürfe es »größerer theoretischer Anstrengungen, die zahlreichen theoretischen Befunde der bildgebenden Hirnforschung in eine umfassende und zeitgemäße Theorie des Geistes einzubinden«.65 Heute interessiere es die auf dem Gebiet des Neuro-Imaging Tätigen, das »Gehirn bei der Arbeit« 66 sichtbar zu machen. Schon weit früher hatten Physiognomen das Gesicht und Phrenologen (über die Oberf läche des Schädels) das Gehirn als Metapher für ein angenommenes Inneres zu entschlüsseln versucht. Halten sich Neurowissenschaftler nicht ebenso an Oberf lächen auf, wenn sie die von ihnen erzeugten Bilder mit wenig trennscharfen Kategorien besetzen? Die verwendeten Begriffe haben im Gang durch verschiedene Phasen wissenschaftlicher Forschung an Genauigkeit verloren, werden aber als feste Größen verwendet. Tebartz van Elst schlägt vor, »die Geisteswissenschaften bei Begriffsbildung und Interpretation von neurowissenschaftlichen Befunden« einzubeziehen und mahnt das Bewusstsein empirisch-naturwissenschaftlich geprägter Disziplinen an, sich »immer wieder an ihre eigenen Einschränkungen« zu erinnern, da sonst die Gefahr einer Hirndeutung besteht, »die aus bunten Scannerbildern wie aus Klecksen eines Rohrschachttests liest«.67 64 65 66 67

Schulz (2007), www.arthistoricum.net/index. php?id=276&ausgabe=2007_07&review_id= 12370 (18. 7. 2007). Tebartz van Elst (2007), S. 30. Zur Konjunktur der Formulierung »Dem Geist bei der Arbeit zusehen« und dem damit verbundenen Versprechen der Neurowissenschaften, vgl. Hagner (2006), S. 7. Tebartz van Elst (2007), S. 30.

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Der Grund dafür, dass die zeitgenössische Hirnforschung im öffentlichen Interesse so präsent ist, liegt in der »Pseudo-Gegenständlichkeit« 68 ihrer Bilder. Sie erwächst dem Gefühl, dass wir, was uns als Forschungsergebnis beschrieben wird, mit unseren eigenen Augen am Bild überprüfen können. Gehring betont, dass die Neurowissenschaft zwar nicht als eine Bildwissenschaft entstanden ist, »aber sie entwickelt sich rapide voran, seit sie bildrhetorisch vorgeht: Seit sie nicht nur misst, verhaltensbiologisch und neurologisch experimentiert, sondern mittels bildgebender Verfahren ein Stück des Objekts, vor dem sie ohnmächtig verharrt, sichtbar zu inszenieren vermag« 69 . Ein Blick in die historische Entwicklung der Disziplinen, die heute Neurowissenschaften sind, zeigt, dass Bilder immer Teil ihrer wissenschaftlichen Strategien waren. Sie werden, ebenso wie Begriffe, als Fakten wissenschaftlichen Denkens und Handelns verstanden. Wie jene sind sie in historischen Prozessen gewachsen, »geformt durch Überlegungen, Interpretationen und Überzeugungen« 70 , die allen denkbaren Bereichen unserer Kultur(en) entstammen. Selbst wenn sie materiell vorhanden (als pictures) vorliegen, ändert sich der Blick der Betrachter. Bilder unterliegen, wie andere Objekte oder Phänomene wissenschaftlicher Aufmerksamkeit, einer wissenschaftlichen Wahrnehmung, die innerhalb ihrer eigenen Kulturgeschichte in immer neue Phasen eintritt. Das Frische-Gefühl zeitgenössischer Neurowissenschaften, kurz vor der Entdeckung eines neuralen Codes zu stehen, mit dessen Entschlüsselung der Weg zum Bewusstsein und letztlich auch zur Seele auf der Zielgeraden ist, ist ein erstrebenswerter Zustand für wissenschaftliche Wahrnehmung und wissenschaftliches Handeln. Mein Anliegen ist es, die induktive Dynamik des Noch-nicht-Wissens der Hirnforschung und deren Bedeutung auch für die und in den Geisteswissenschaften zu betonen oder anzuregen.

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Gehring (2004), S. 294. Ebd. S. 295 Florey/Breidbach (1993), S. XI.

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SCH LUSS

In diesem Band finden sich ganz unterschiedliche Bilder vom Gehirn. Legte man einen breiteren Bildbegriff an, könnte eine komplementäre Bildgeschichte des Gehirns erzählt werden, eine der sprachlichen Bilder, Analogien, Metaphern. Der Schweizer Mediziner Paracelsus (1493–1541) riet unter Kopfschmerzen Leidenden, Walnüsse zu essen. Er setzte in physiognomischer Manier eine analogische Beziehung von Außen und Innen voraus, wie sie heute in der Homöopathie noch immer von Bedeutung ist. Das Bild vom Hirn als Walnuss oder der Walnuss als kleinem Gehirn erscheint heute, im Zeitalter der gesunden Ernährung und der stetigen Proklamation der Tugenden ungesättigter Fettsäuren und ihres Einf lusses auf unseren Stoffwechsel, auch den des Gehirns sowie des ›zweiten Gehirns‹1 im Magen-DarmTrakt, wieder aktuell.2 Willis dagegen verglich die Hirnwindungen mit denen des Dünndarms. Diese Analogie scheint die Tätigkeit des Denkens mit der Produktion von Exkrementen gleichzusetzten. So bemerkte auch Hegel in der Phänomenologie des Geistes in Hinblick auf die Theorien Galls, dass, würde der Geist auf seine materielle Struktur reduziert werden, Denken nichts als Pissen sei.3 Ähnlich äußerte sich auch August Christoph Carl Vogt (1817–1895), indem er das Verhältnis von Gehirn und Gedanken analog zu dem von der Leber zur Galle oder den Nieren zum Urin sah.4 Sympathischer ist es, das Denken nicht als Abfallprodukt des Körpers, sondern als nährend zu begreifen, wie es die Beschreibung der Großhirnrinde als »plate of macaroni«5 nahelegt. Auch für die Funktionsweise des Gehirns hat es immer Modelle und Metaphern gegeben. Jede Zeit hat sich »ihr spezifisches, von dem jeweiligen Stand der Technik

1 2 3 4 5

Vgl. Michael D. Gershon, The Second Brain. A Groundbreaking New Understanding of Nervous Disorders of the Stomach and Intestine, New York 1998. Manfred Spitzer benutzt ein Bild von Walnusshälften als Buchcover, vgl. ders., Nervensachen. Geschichten vom Gehirn, Frankfurt a. M. 2005. Vgl. Elsner (2000), S. 43f. Vgl. Hagner (2000), S. 261. Diese Formulierung benutzen Clarke und Dewhurst im Zusammenhang mit einer Abbildung in Charles Estiennes De dissectione von 1545, vgl. dies. (1972), S. 62.

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SCHLUSS

inspiriertes Bild des Gehirns und seines Geistes« 6 gemacht. In diesem Abschnitt benutze ich den Terminus ›Bild‹ im Sinne eines inneren Bildes, einer Metapher oder eines Vergleichs. Galen verglich die Funktion des Nervenkreislaufs zwischen Gehirn und Herz mit einem Flaschenzug. Andere Bilder, mit dem der Fluss des Spiritus animales durch die Hirnventrikel beschrieben wurde, waren zu Lebzeiten Galens das Heizungssystem römischer Bäder und im Mittelalter die sich in Abfolgen wiederholende Destillation bei der Herstellung von Branntwein.7 Seit Beginn der Renaissance wurden diese Bilder immer mechanistischer. Die Analogie zu Wasserspielen und Orgeln benutzte noch Descartes. Das Gehirn mit einem Konstrukt elektrischer Schaltkreise zu vergleichen, war, seitdem die Elektrizität zum Forschungsgegenstand geworden war, die logische Folge. Konstrukt ist hier im Wortsinn gemeint, als Arbeitshypothese oder gedankliche Hilfskonstruktion für die Beschreibung von Dingen oder Erscheinungen, die nicht konkret beobachtbar sind.8 Da das Gehirn anscheinend immer mit der jeweils zeitgenössischen innovativsten Technologie verglichen wurde, nimmt es nicht Wunder, dass im späten 20. Jahrhundert der Computer zum Bild schlechthin avancierte. 9 Inzwischen wird es von der Erkenntnis der Wirkung chemischer Prozesse in Form von Neurotransmittern beeinf lusst, und so wird der rein mechanistische Vergleich auf biochemische Grundlagen gestellt. Wie wir gesehen haben, nehmen die inneren Bilder immensen Einf luss auf die äußeren, von denen in dieser Arbeit hauptsächlich die Rede ist. Das zeigt sich besonders heute, wo der Rechner als Medium der Erstellung der Bilder vom Gehirn (ob in Form einer Computergrafik oder einer PET-Aufnahme) mit dem Vergleichsbild identisch ist. So könnte aus einer Betrachtung der Hirnmetaphern ebenfalls eine Geschichte der Hirnforschung abgeleitet werden. Interessant ist, dass in vielen Artikeln, die das Phänomen des Neuro-Imaging kritisch beleuchten, davon Abstand genommen wird, dessen ›Produkte‹ abzubilden. Stattdessen schaffen Grafiker aussageseelige Bildmetaphern vom und über das Gehirn. Ein schönes Beispiel bebildert verschiedene Positionen, die 2007 in der Rubrik Wissen in der Zeit erschienen ist.10 Gezeigt wird dreimal ein blau eingefärbter, nach oben offener Männerkopf mit gerunzelter Denkerstirn. Der Kopf wird zum Brunnen, dessen Schacht jeweils unterschiedlich dekoriert ist. Der erste Kopf ist im Innern mit Schubladen versehen, von denen eine von einer jungen Frau im Arztkittel geöffnet wird. Der zweite Kopf enthält statt der Schubladen weiße (Licht)Schalter und im dritten hängen gerahmte Bilder, die alle das gleiche Portrait des Mannes (seinen unver6 7 8 9 10

Elsner (2000), S. 47. Vgl. Heseler (1959), S. 277. Vgl. Duden, Das Fremdwörterbuch, Mannheim 1974, S. 394. Vgl. Elsner (2000), S. 47f. Vgl. Der Griff in die Seele, in Die Zeit, Nr. 34, 16. 8. 2007.

SCHLUSS

sehrten Kopf ) zeigen. Illustriert werden entsprechend der sachlichen Inhalte ›Zugriff‹, ›Eingriff‹ und ›Selbst‹. Ein Bild vom Gehirn braucht es nicht, um uns zu zeigen, dass ein solches oder die Eigenschaften, für die es steht (Seele, Psyche, Bewusstsein), thematisiert werden. Bildmetaphern wie Schubladenschränke oder Schaltzentralen setzen das ›Icon Gehirn‹ voraus. Sie ersetzen es spielend, da uns das Gehirn in seiner Ikonizität selbstverständlich geworden ist. Das ikonische Gehirn funktioniert inzwischen auch als Leerstelle. * Zu Anfang des dritten Kapitels sind einige Fragen gestellt worden, deren Beantwortung sich aus der Lektüre der historischen Analyse ergibt. Einige Hauptpunkte sollen hier noch einmal zusammengefasst werden. Die Frage, ob die anatomische Abbildung, wie die anatomische Praxis, immer auf das Körperganze Bezug nimmt, kann nicht durchgängig bejaht werden. Im anatomischen Atlas oder in einer (gedruckten) Anatomie, in einem Werk also, das den menschlichen Körper in einzelnen Schichten oder Organen visualisiert, bilden diese Versatzstücke des Leibes idealerweise einen vollständigen Körper nach.11 Buschhaus unterscheidet systematische von topographisch motivierten Anatomien. Die Differenz besteht darin, dass Erstere die »Systemhaftigkeit« des Körperbaus verdeutlichen, also den Auf bau aller Knochen, der Muskeln oder der Nerven eines Körpers. Topographisch motivierte Anatomien gehen nach »regionalen Gesichtspunkten« vor, indem etwa Bauchhöhle oder Schädel als Einheit gezeigt werden.12 Damit scheinen mir zwei Ansätze von Körpertheorie verbunden, die sich in der anatomischen Abbildung widerspiegeln. Im ersten Fall zeigt der Blick auf eine Systematik – also einen Teilbereich körperlicher Anlage oder Funktion – den ganzen Körper. So etwa bei der Darstellung des Skeletts oder eines Muskelmannes. Aus Knochen oder Muskelfasern gebaut entsteht das Bild einer menschlichen Gestalt. Einzelne Teilstrukturen formen einen ganzen Körper. Im zweiten richtet sich der Blick auf ein einzelnes oder mehrere, als Funktionseinheit verbundene Organe. Sie befinden sich in einem Teilbereich des ›zerstückelten‹ Leibes, sind unter Umständen zunächst als Heiles, Ganzes zu sehen, verweisen aber nicht mehr auf das Körperganze, sondern sind selbstreferentiell. Als Ergebnis einer topographisch motivierten Anatomie steht das aus dem Körperverbund gelöste Organ für sich. Dadurch kann es zur Ikone werden. Ein Beispiel hierfür ist das Gehirn. Nur in wenigen Ausnahmen (z. B. bei Vesalius vgl. Abb. 52 und Abb. 53) ist es nicht am verlängerten Mark durchtrennt, sondern 11

12

Dies wird bei Leonardo und Vesal deutlich, um deren Rolle bei der Gründung der modernen Anatomie sich gestritten wird. Beide konnten, wie wir gesehen haben, ihre herausragende Position in dieser imaginären ›Rangliste‹ nur unter Einbeziehung voraussetzungsvoller Vorarbeit erklimmen und müssen sich das Siegertreppchen teilen. Buschhaus (2005), S. 183.

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SCHLUSS

es wird durch Darstellung des gesamten Rückenmarks an das Körperganze rückgebunden. Einmal als autonome Einheit gezeigt wird das Gehirn wieder reduzibel, kann, wie ein ganzer Körper, in seine Einzelteile zerlegt werden. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass Anatomie als anatomische Praxis, die anatomische Abbildung als einzelnes Bild oder als Tafel mit verschiedenen Figuren und der anatomische Atlas mit seinem gesamten Tableau von aufeinander bezogenen Bildern nicht gleichgesetzt werden können. Eine Kohärenz von Körperteil und ganzem Körper ist in der anatomischen Abbildung nicht immer gegeben. Die vorgestellten Ge­schichten13 zur Ikonographie des Seelenorgans zeigen, wie ein einzelnes Organ zu einem in sich geschlossenen System avancieren konnte. In diesem wanderte die Seele, und sie tut es im Prinzip noch heute, wenn sie auch physikalisch-chemische Formen angenommen zu haben scheint, also materialisiert wurde. Damit hat sie sich dem gasförmigen Spiritus der Antike wieder angenähert. Im zweiten Teil des Fragenkatalogs ging es um Paradigmenwechsel innerhalb der Hirnforschung in Bezug auf die Frage nach der Seele sowie darum, inwiefern solche Paradigmenwechsel von Bildern bestärkt oder sogar mit ausgelöst wurden. Außerdem war von Interesse, ob und wie Hirnbilder und damit auch das jeweilige Bild der Seele von technischen Vorraussetzungen bestimmt waren. In diesem Zusammenhang können wir eine weitere Frage, nämlich die nach der Bildökonomie, aufwerfen. Die Begriffe iconic und pictorial turn sind im geisteswissenschaftlichen Rahmen Ausdruck eines Bewusstseins, dass unsere Lebenswelt Bildkultur ist. Wie kommt es also, dass uns der Körper, wie Belting feststellt, je mehr er »von Biologie, Genetik und Neurowissenschaften erforscht wird, desto weniger […] uns noch in einem symbolkräftigen Bild zur Verfügung«14 steht? Eine solche Allgegenwart der Bilder war zur Zeit Berengarios, Vesals oder Descartes’ nicht gegeben. Es herrschte vielmehr eine Knappheit an Bildern. Auf diese tiefgreifende kulturhistorische Differenz blickend sind alte und neue Gehirnbilder nicht vergleichbar. Zu unterschiedlich sind die Voraussetzungen: Als nur wenige Bilder produziert wurden und diese wenigen Bilder nur kleinen Gruppen zugänglich waren, musste in einzelne Bilder notwendigerweise eine Vielzahl von Informationen implementiert werden. Ihre Aussagen mussten offensichtlicher sein. Produzenten konnten nicht wie heute davon ausgehen, dass Bildbetrachter über das Gehirn ›visuell informiert‹ waren. Bilder vom Gehirn waren noch nicht Teil eines kollektiven Bildgedächtnisses, waren selten oder nie geschaut worden. In den Köpfen hatte sich also noch kein umfassendes Bildgedächtnis zu Abbildungen des verborgenen Körperinneren entwickeln können. Das Gef lecht von Beziehungen und gegenseitigen Abhängig-

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Aby Warburg sprach von einer Ge­Schichte der Bilder. Belting (2002), S. 87.

SCHLUSS

keiten einer visuell geprägten Kultur der Wahrnehmung des inneren Körpers entwickelte sich erst allmählich. Dass sich der gegenwärtige Zustand einer Wissenschaft mit Blick auf ihre Ideengeschichte erklärt,15 ist sicher richtig. Bilder sind Ausdruck und wichtiger Teil der meisten Ideengeschichten. Legt man eine so lange Zeitleiste an, wie es in der vorliegenden Arbeit der Fall ist, so ist die Gefahr gegeben, dass man nicht alle möglichen Aspekte berücksichtigt: dass beispielsweise Bilder nicht mehr greif bar sind, die gewissermaßen Seitenstränge einer Entwicklungsgeschichte der Bilder vom Gehirn darstellen, oder dass der Fokus auf einen bestimmten Kulturraum (hier den europäischen) wichtige Einf lüsse anderer Kulturkreise ausblendet. Dennoch wird eines deutlich: Die Evolution des Bildgedächtnisses schreitet mit der technischen Reproduzierbarkeit der Bilder seit Erfindung des Buchdrucks voran. Die Bildökonomie zum Ende des Mittelalters war eine ganz andere als die des 16. Jahrhunderts und so fort. Will man mit den hier vorgestellten Bildfunktionen arbeiten, gilt es, solche Fragen einer visual literacy immer im Blick zu behalten. Die in den Abbildungsmethoden verschiedener Epochen bestehenden Differenzen waren ein Weg, um sich der Thematik zu nähern. Dabei ging es weniger um den Weg des Materials wissenschaftlicher Bilder von der Zeichnung über den Holzschnitt zum Kupferstich, sondern vielmehr um einen Wandel wissenschaftlicher Wahrnehmung, der an diesen äußeren Faktoren allein nicht festzumachen ist. Meine historische Betrachtung der Bilder vom menschlichen Gehirn und der Darstellung der Anwesenheit von Seele in diesem Organ endet mit Franz Josef Gall. Um 1800 (z. B. bei Soemmerring) hatte sich eine Gleichsetzung von Seele und Bewusstsein, die später »zum Verschwinden der Vorstellung von einer Abgeschlossenen Wesenheit Seele«16 führen sollte, noch nicht etabliert. Mitte des 19. Jahrhunderts galt das Gehirn als offenes Buch, in dem nur noch die Fußnoten zu lesen waren. Möglich wurde dieses Selbstverständnis durch die vollständige Kenntnis der Anatomie von Gehirn und Nervensystem und damit einhergehend der Annahme, dass diese Kenntnis gleichbedeutend mit der Erkenntnis der Hirnfunktionen sei. In diesem Sinne äußerte sich Autenrieth 1836: Mußte doch dem Menschen von da an, als sein Fuß an einen Stein stieß, klar werden, daß der Stein und sein Körper, der er ja auch selbst war, einen bestimmten Platz einnehmen; warum sollte er, als er anfing, ein geistiges Ich in sich von seinem Körper zu unterscheiden, diesem nicht auch in seinem Körper eine bestimmte Stelle anweisen, da er ja bei seiner, von der übrigen Natur geschiedenen Persönlichkeit nur in sich seiner selbst bewusst war? Die Entdeckung der Verrichtungen 15 16

Vgl. Florey/Breidbach (1993), S. XIII. Weber (1987), S. 1.

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SCHLUSS

der Nerven und des Hirns musste nun diese Meinung, an der niemand zweifelte, weil man sie zum Voraus für entschiedene Wahrheit annahm, begünstigen.17

Nur wenig später finden sich kritische Stimmen hinsichtlich eines tatsächlichen Verständnisses der Gehirnfunktionen. 1842 schrieb Wagner im Handwörterbuch der Physio­ logie: »Das Gehirn gehört zu den Theilen des Körpers, dessen physiologische Verhältnisse am wenigsten bekannt sind.«18 1846 erklärte Joseph Hyrtl (1810–1894) sich ebenfalls weitaus skeptischer als Autenrieth. Ein Etappenziel der Hirnforschung, die genaue Kenntnis der Anatomie, sah er als erreicht an. Darin lag für ihn, wenn auch nicht das Ziel, so doch der Endpunkt dieser Disziplin: Die Anatomie des Gehirns beschäftigt sich theils mit der Beschreibung der Form, theils mit der Erschliessung des inneren Baues. Die Anatomie der Form darf man wohl für vollendet annehmen, da man an keinem anderen Organe des menschlichen Körpers jedes auch noch so unbeträchtliche äussere Merkmal mit solcher Umständlichkeit beschrieb, als eben am Gehirn. Die Anatomie des inneren Baues des Gehirns ist dagegen, und bleibt wahrscheinlich für immerdar, ein mit sieben Siegeln verschlossenes, und überdies noch in Hieroglyphen geschriebenes Buch.19

Die von Hyrtl getroffene Unterscheidung einer inneren und äußeren Anatomie ist gleichzusetzen mit der von Bau und Funktion. Hier zeigt sich, dass man schnell erkannt hatte, dass die Kenntnis von Anatomie und Morphologie nicht notwendigerweise mit einer Kenntnis der physiologischen Vorgänge belohnt wurde. So blieben die scheinbar bewiesene Gegenwart der Seele im Körper und die Vereinigung beider Faktoren im Selbst(bewusstsein) unsicher. Neben der Philosophie waren damit verbundene Fragestellungen nun in den Mittelpunkt neuer Forschungsinteressen gerückt, namentlich in das der Psychologie. Um die komplexen Entwicklungen von Hirnforschung und Seelenproblem im 19. und 20. Jahrhundert zu verfolgen, die bei den Anstrengungen entstehen, die hyrtlschen Hieroglyphen zu entziffern, ist es notwendig, die durch Fotografie, Röntgentechnik und digitale Techniken entstandenen und entstehenden Bilder genauso zu beschreiben, wie es hier mit den vorangegangenen geschehen ist. Dabei ist es bei Weitem nicht ausreichend, sich bei einer Bestimmung und Zuordnung von Bildern der Opposition ›analog‹ – ›digital‹ zu bedienen, zumal noch nicht alle Aspekte dieses Dualismus im Rahmen der Bildwissenschaften hinlänglich geklärt sind. Dass neue bildwissenschaftliche Fachrichtungen wie die Computervisualistik entstehen, ist hierfür Ausdruck. 17 18 19

Autenrieth (1836), S. 533. Wagner (1842), S. 563. Hyrtl (1963), S. 768.

SCHLUSS

Auf die digitalisierten Prozesse bildgebender Verfahren blicken wir ohne größeren zeitlichen Abstand nur wenige Jahrzehnte zurück. Die Zeichnung hat sich über Jahrtausende, Druckverfahren haben sich seit Jahrhunderten entwickelt. Lassen sich zufällig ausgewählte Ausschnitte, einzelne Bilder überhaupt einer Entwicklungsgeschichte der wissenschaftlichen Abbildung zuordnen, und muss diese letztlich nicht immer verallgemeinerndes Konstrukt bleiben? Ein Ziel dieser Arbeit war es, diese Entwicklung anhand von Bildern des menschlichen Gehirns als Phänomene der Hirnforschung nachzuvollziehen. Auf dieser Grundlage kann der Umgang mit Bildern einer deduktiv arbeitenden Neurologie hinterfragt werden, die heute als Universalwissenschaft auftritt. Neue und alte Verfahren der Bildherstellung dienen dem Erkenntnisgewinn und der Wissensproduktion. Diejenigen, die sie anwenden, wollen etwas herausfinden oder beweisen und zusätzlich vielleicht auch eine künstlerisch anspruchsvolle, ästhetischen Anforderungen genügende Arbeit abliefern. Heute werden, wie vereinzelt schon im 18. und 19. Jahrhundert, Hirnbilder in Fachzeitschriften und Massenmedien publiziert. Sie sind ein probates Mittel im Ringen um mediale Aufmerksamkeit und Fördergelder. Durch Bilder werden naturwissenschaftliche Erkenntnisse kommunizierbar. Auch Nicht-Wissenschaftler können so Bedeutungszusammenhänge erkennen. Institutionelles Wissen wird über Bilder in Alltagswissen transformiert oder, anders gesagt, Bilder, die für ein Fachpublikum erzeugt wurden, werden zu öffentlichen Bildern. Was Hirnforschung gegenwärtig leisten will, ist, etwas anschaulich zu machen, das zum größten Teil in einem Bereich liegt, der nicht gesehen, sehr wohl aber abgebildet werden kann. Das bedeutet, visuell nicht wahrnehmbare Phänomene wie Stoffwechselprozesse werden in Bilder ›übersetzt‹. Auch die Entwicklungsdynamik zeitlicher Abfolgen lässt sich im Bild darstellen. Ein Hirnbild veranschaulicht nicht nur Unanschauliches, es macht vergessen, dass wir unsichtbare Dinge sehen. Die »Macht der bunten Bilder«20 überzeugt. Hirnbilder schaffen Realität. Vor diesem Hintergrund gilt es, sowohl die Dichotomien Kunst und Wissenschaft als auch sciences und humanities im Rahmen der Möglichkeiten naturwissenschaftlicher Abbildung immer wieder zu hinterfragen. Dabei ist die Gefahr einer Unschärfe, die aus einer Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen künstlerischen und (natur)wissenschaftlichen Abbildungsstrategien erwächst, nicht gebannt. So hebt Geimer die Tendenz hervor, beide Bereiche einander näher zu bringen, und weist auf historische und strukturelle Gemeinsamkeiten hin. Während aber die Naturwissenschaften ihr »Monopol auf die Wirklichkeit« nie aufgegeben haben, ist die Kunst mit ihren Produkten in einem »Reich der Freiheit« gefangen.21 20 21

Tebartz van Elst (2007), S. 30. Vgl. Geimer (2003), S. 27.

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SCHLUSS

Der hier gewählte Blick auf die Bildgeschichte einer Hirnforschung, die schon immer auch Leitwissenschaft sein wollte, hat gezeigt, dass ein Anspruch auf Bildwirklichkeit nicht neu ist, und dass Philosophen und Kundige des Körpers und der Medizin seit der Antike Lokalisationstheorien entworfen, dass sie Erklärungsmodelle für Hirnfunktion erdacht und in sprachliche und äußere Bilder gefasst haben. Solche Hirnbilder haben immer auch Wirklichkeit konstituiert, festgelegt, was als Seele verstanden wurde und wie das Konzept Seele im organischen Raum verortet war und funktionierte.

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A N H A NG

Ü BERSICHT DE R V E R SCH I E DEN EN H I R NA NSICHT EN U N D BEN EN N U NG EI NZ E LN E R T EI L E

Diese Übersicht soll dazu dienen, Nicht-Medizinern bzw. Nicht-Hirnforschern einen kurzen Überblick über die Architektur des Gehirns und die heute und teilweise traditionell verwendeten Begriffe zu verschaffen.1 Dabei werden solche Organe oder Strukturen hervorgehoben, die in der Geschichte der Hirnforschung von Belang waren. Die hieraus möglicherweise erwachsende Diskrepanz zu meinen im geisteswissenschaftlichen Theorierahmen ausgeführten Überlegungen, in denen ich u. a. den Objektivitätsanspruch naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden in Frage stelle, muss zugunsten einer allgemeinen Verständlichkeit der verwendeten Fachtermini hingenommen werden. Allerdings werden hier bewusst keine Abbildungen eingesetzt. Diese könnten den Eindruck erwecken, die zeitgenössischen Naturwissenschaften seien in der Lage, einen endgültigen (Bild)Status zu erreichen oder hätten ihn bereits erreicht. So wird im Folgenden lediglich die Bauweise des menschlichen Gehirns beschrieben, nicht aber seine Funktion erklärt. Umgeben ist das Gehirn von der Gehirnschale oder dem Hirnschädel (Kranium) und darunter von der harten und weichen Hirnhaut (Dura und Pia Mater) zwischen denen sich die Spinnengewebshaut (Arachnoidea) befindet. Es lässt sich grob in drei Teile aufteilen: Großhirn (Cerebrum, Telencephalon), Kleinhirn (Cerebellum) und Stammhirn. Zum Stammhirn gehören das verlängerte Mark (Medulla oblongata), die Brücke (Pons), das Mittelhirn (Mesencephalon) und das Zwischenhirn (Diencephalon). Den Hauptteil des Zwischenhirns macht der Thalamus aus. In der zeitgenössischen Fachliteratur wird eine Trennung von Zwischenhirn und Hirnstamm (Truncus cerebri) vorgenommen.2 Dem Hirnstamm werden demnach verlängertes Mark, Brücke und Mittelhirn zugerechnet. Die Vierhügelplatte (Lamina tecti) ist Teil des Mittelhirndachs. 1 2

Einen sowohl informativen als auch unterhaltsamen Überblick über die Neuroterminologie und die Entwicklung der Begriffe gibt Karenberg (2007), S. 21–44. Vgl. Trepel (2004), S. 101. Um eine eventuelle Verwechslung mit dem Begriff Stammhirn zu vermeiden, benutze ich in dieser Arbeit nur den Begriff Hirnstamm. Um diese besser zu differenzieren vgl. Forssman/Hein (1985), S. 63f.

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ANHANG

Unter der Großhirnrinde (cerebraler Kortex) bestehend aus der grauen Substanz (Substantia grisea) liegt das Mark, die weiße Substanz (Substantia alba). Der Kortex erhält seine Struktur durch Furchen und Windungen, die Sulci und Gyri. Der Großhirnmantel wird grob in vier Lappen (Lobi) eingeteilt: den Stirn- oder Frontallappen (Lobus frontalis), den Scheitel- oder Parietallappen (Lobus parietalis), den Hinterhaupts- oder Okzipitallappen (Lobus occipitalis) und den Schläfen- oder Temporallappen (Lobus temporalis). Seitlich befindet sich ein tiefer Einschnitt, die Fossa lateralis cerebri (Fossa Silvii). Sie grenzt an Teile des Lobus frontalis, parietalis und temporalis, welche als Opercula (Deckel) die Insel (Insula), einen ungefähr dreieckigen Bezirk an der lateralen Oberf läche der Hemisphäre überdecken.3 Eine Oberf lächenfaltung weist auch das Kleinhirn auf. Seine Oberf läche ist durch längliche Querfurchungen strukturiert. Von besonderem Interesse für diese Arbeit ist das Ventrikelsystem. Die Ventrikel sind innerhalb des Gehirns befindliche und miteinander verbundene Räume oder Höhlen, die mit Nervenwasser (Liquor cerebrospinalis) gefüllt sind. Im Großhirn liegen die beiden Seitenventrikel (laterale Ventrikel). Sie haben Verbindung zum unpaaren dritten Ventrikel, der sich im Zwischenhirn, unterhalb des Balkens (Corpus callosum) befindet, und von den Hörnern der Seitenventrikel eingefasst wird. Der mit dem dritten verbundene vierte Ventrikel ist ebenfalls unpaar und befindet sich unterhalb der anderen Hirnhöhlen im Rautenhirn vor dem Kleinhirn. Die Übergänge in Form von Löchern (Foramina) oder verbindenden Strukturen sind für den Liquor durchlässig. Die Tela choroidea ist eine gefäßführende Bindegewebsplatte (»verdünnte Teile der Gehirnwandung mit dichten Adergef lechten«4 ), die in kleinen Zotten an der Ventrikelinnenwand den Plexus choroideus bildet. Hierin wird der Liquor cerebrospinalis produziert. Drei Außenansichten des Gehirns sind zu unterscheiden: Lateral-, Basal- und Medialansicht. Die Lateralansicht erlaubt es, das Gehirn von der Seite zu betrachten. Der Großhirnanteil dominiert bei dieser Darstellungsform mit dem Stirnlappen zur Stirn hin, dem Scheitellappen von der Mitte der Lateralansicht nach hinten sich erstreckend, dem Hinterhauptslappen am Hinterhaupt und dem Schläfenlappen, der hinter den Schläfen liegt. Ein kleiner Teil von Brücke und verlängertem Mark sowie der untere Teil des Kleinhirns schauen hervor. Die Basalansicht ermöglicht eine Betrachtung des Gehirns von unten, wobei üblicherweise das Kleinhirn unten und die Frontallappen oben im Bild liegen. In dieser Ansicht ist deutlich die Symmetrie beider Hemisphären zu erkennen. Während das Großhirn durch einen Längsspalt (Fissura longitudinalis cerebri) getrennt wird, 3 4

Vgl. Kahle/Frotscher (2005), S. 240. Werner (1972), S. 160.

HIRNANSICHTEN UND BENENNUNG EINZELNER TEILE

liegt dem Kleinhirn der Hirnstamm auf.5 Zwischen beiden wird ein Teil des Mittelhirns sichtbar, über dem sich die Hirnanhangsdrüse (Hypophyse, Glandula pituitaria) befindet. Durch den Medianschnitt (auch medianer Sagittalschnitt oder Mediosagittalschnitt), der die Hirnhälften voneinander trennt, wird die Medialansicht ermöglicht. Geschnitten wird in der beide Hemisphären trennenden Längsspalte des Gehirns. Schneidet man das Kleinhirn solcher Art in seine Hälften, ist der so genannte Kleinhirnbaum zu sehen. Am Großhirn macht dieser Schnitt den Balken sichtbar, der das verbindende Element zwischen den Hemisphären darstellt. Auch hier ist die Hypophyse zu sehen, ebenso wie die Zirbeldrüse (Epiphyse, Corpus pineale), die sich über der Vierhügelplatte unter dem hinteren Ende des Balkens befindet. Zudem erhält der Betrachter Einblick in den unpaaren dritten Ventrikel und, zwischen Hirnstamm und Kleinhirn gelegen, den vierten Ventrikel, wogegen von dem rechten und linken Seitenventrikel nur die dazwischen liegende Trennwand zu sehen ist. Balken und Zwischenhirn werden vom limbischen System gesäumt. Dazu gehören über dem Balken der Gyrus cinguli nach unten hin der Hippocampus und die an ihn anschließenden Strukturen bis zum mammilla-artigen Körper (Corpus mamillare) und dem Mandelkern (Amygdala). Um alle Strukturen und Organe des Gehirns offenzulegen, werden verschiedene Schnitttechniken angewandt. Zum eben genannten Medianschnitt kommen weitere Sagittalschnitte sowie Frontalschnitt und Horizontalschnitt. Der Frontalschnitt ermöglicht die Übersicht über die wichtigsten inneren Großhirnstrukturen 6 , die Großhirnrinde, den Thalamus (ein Teil des Zwischenhirns), die Seitenventrikel und den dritten Ventrikel. Beim Horizontalschnitt wird das Gehirn auf verschiedenen Ebenen horizontal abgetragen (bei einem Schnitt oberhalb der ›Hutkrempe‹ spricht man beim hinteren Teil von dorsal, unterhalb von occipital), so dass der Betrachter von oben bzw. unten die inneren Strukturen erkennen kann, wie zum Beispiel den Streifenkörper oder Streifenhügel (Corpus striatum), der seitlich der beiden Thalami in der Basis der Großhirnhälften liegt.

5 6

Vgl. Trepel (2004), S. 102. Vgl. ebd., S. 191.

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Z EITLEISTE DER V ERW EN DETEN AUSGA BEN A NATOMISCH ER W ER K E

Die Zeitleiste der in der vorliegenden Arbeit erwähnten Anatomien, Traktate und Schriften über das Gehirn soll der besseren Orientierung dienen. Es handelt sich jeweils um die mir zur Verfügung stehende Ausgabe, die nicht notwendigerweise die Erstausgabe ist. Nähere Angaben zu den Erstausgaben finden sich in den entsprechenden Kapiteln, die vollständigen Titel und Literaturangaben in der Literaturliste. Die im Druck erschienenen Werke basieren oft auf anatomischen Schriften, wie denen Galens und anderer antiker Autoren, ebenso wie auf mittelalterlichen Anatomien, etwa der Anatomia Mundini des Mondino dei Luzzi (1316), oder der Anatomia des Guido da Vigevano (1345), auf deren Originale bis heute nur bedingt Zugriff besteht. Letzteres gilt auch für Leonardos anatomische und funktionelle Hirnbilder, die zwischen 1487 und 1510 entstanden sind.

1491 1497 1498 1499 1502 1506 1513 1518 1519 1521 1522 1528 1536 1537 1541 1541 1543

Johannes de Ketham Fasciculus medicinæ. Hieronymus Brunschwig Dis ist das buch der Cirurgia Hantwirckung. Ludovicus de Prussia Trilogium animæ. Johannes Peyligk Philosophiae naturalis compendium. Gabriele Zerbis Liber anatome corporis humanum (o. Abb.). Albertus Magnus Philosophia naturalis. Mondino dei Luzzi De omnibus humani corporis (o. Abb.). Jacopo Berengario da Carpi Tractatus de fractura calve sive cranei. Lorenz Fries Spiegel der Arzny. Jacopo Berengario da Carpi Commentaria […] Anatomia Mundini. Jacopo Berengario da Carpi Isagogae breves. Alessandro Benedetti Anatomica […] corporis humani (o. Abb.). Niccolò Massa Liber Introductorius anatomiæ (o. Abb.). Johannes Dryander Anatomiae, Hoc Est, Corporis humani dissectionis. Johannes Dryander, Anatomia mundini. Walter Hermann Ryff Des aller fürtrefflichsten menschen Anatomi. Andreas Vesal De Humani corporis fabrica.

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ANHANG

1543 1545 1546 1554 1556 1564 1569 1573 1591 1600 1601 1609 1619 1622 1628 1632 1640 1641 1645 1647 1653 1656 1662 1662 1664 1664 1665 1669 1672 1677 1677 1681 1682

Andreas Vesal Epitome. Charles Estienne De dissectione partium corporis humani. Charles Estienne La dissection des parties du corps. Jacob Rueff Ein schoen lustig Trostbuechle. Juan Valverde de Amusco Historia de la composicion del cuerpo humano. Bartolomeo Eustachi Opuscula Anatomica (8 Tafeln, größerer Teil im 18. Jahrhundert gedruckt). Andreas Vesal Les Portraicts Anatomiques […] du Corps Humain. Constantino Varoli De Nervis Opticis. Constantino Varoli De Resulutione Corporis Humani. Hieronymus Fabricius ab Aquapendente Anatomici Patavini de Formato Foetu. Giulio Casserio De Vacis Avditvsq[ue] Organis Historia Anatomica. Caspar Bauhin Institutiones Anatomicæ Corporis. Robert Fludd De Supernaturali, Naturali, […] Microcosmi historia. Caspar Bartholin Anatomicæ Institutiones Corporis Humani (o. Abb.). (Hg. Thomas Bartolin). William Harvey Exercitatio Anatomica de Motu Cordis et Sanguinis. Adrian van der Spiegel De humani corporis Fabrica libri 10 (Hg. Daniel Rindf leisch). Caspar Bauhin Theatrum anatomicum (Erstausgabe 1592). Thomas bzw. Caspar Bartholin Institutiones anatomicæ. Johannes Antonides van der Linden Opera Omnia (Zusammenfassung sämtlicher Werke Spiegels, enthält Abdrucke von Casserios Tafeln). Johannes Vesling Syntagma Anatomicum (Erstausgabe 1641). Johannes Vesling The Anatomy of the Body of Man. Giulio Casserio Anatomische Tafeln (Hg. Simon Pauli, deutsche Ausgabe von Organis Historia Anatomica, Hg. Daniel Rindf leisch). René Descartes De Homine (Hg. Florent Schuyl). Albrecht von Haller Elementa physiologiæ corporis humani, Bd. 4. René Descartes De l’Homme (Hg. Claude Clerselier). Thomas Willis Cerebri Anatome. Marcello Malpighi Tetras anatomicarum epistolarum de lingua, et cerebro. Niels Stensen Discours sur l’Anatomie du Cerveau. Isband van Diemerbroeck Anatome Corporis Humani. René Descartes Tractatus de Homine (Hg. Louis de La Forge, enthält Tafeln der französischen Ausgabe von 1664). Elias Wallner Neu­verbesserte künstliche Zerlegung deß Menschlichen Leibes (deutsche Übersetzung der Werke Caspar und Thomas Bartholins). Thomas Willis The Anatomy of the Brain and Nerves. Johann Amos Comenius Orbis sensualium pictus (Erstausgabe 1668).

Z E I T L E I S T E D E R V E R W E N D E T E N A U S G A B E N A N ATO M I S C H E R W E R K E

1684 1685 1685 1685 1686 1687 1687 1695 1697 1698 1699 1717 1718 1720 1721 1721 1721 1721 1722 1725 1743 1744 1748 1748 1750 1750 1754 1756 1778 1779 1784 1786 1788

Thomas Bartholin Anatome quartum renovata. Raymond Vieussens Neurographia universalis (Erstausgabe 1684). Godefridus Bidloo Anatomia humani corporis. Samuel Collins A Systeme of Anatomy, treating of the Body of Man. Georg Bartisch Augen­Dienst (Erstausgabe 1583). Johannes Vesling/Gerhard Leonard Blasius Künstliche Zerlegung deß ganzen Menschlichen Leibes. Marcello Malpighi Exercitatio Epistolica De Cerebro. Humphrey Ridley The Anatomy of the Brain. Frederik Ruysch Opera Omnia Anatomico­Medico­Chirurgica, Problema nona. William Cowper The Anatomy of Humane Bodies. Edward Tyson Orang­Outang, sive Homo Sylvestris. Jean-Jacques Manget Theatrum Anatomicum. Andreas Ottomar Goelicke/Frederik Ruysch Epistola Anatomica, Problema­ tica nona (Erstausgabe 1697). Frederik Ruysch Adversariorum Anatomico­Medico Chirurgicorum, Bd. 2. Frederik Ruysch Opera Omnia Anatomico­Medico­Chirurgica. Frederik Ruysch Thesaurus Anatomicus Primus. Michael Ernst Ettmüller/Frederik Ruysch Epistola Anatomica Problematica, Duodecima. Johannis Jacobus Rau Responsio ad qualemcunque Defensionem Fredrici Ruyschii (Erstausgabe 1699). Bartolomeo Eustachi Tabulæ Anatomicæ (Tafeln von 1564). Humphrey Ridley Anatomia cerebri complectens (lateinische Ausgabe von The Anatomy of the Brain, 1695). Albrecht von Haller Iconum anatomicarum Fasciculus I. René Jacques Croissant de Garengeot Splanchnologia sive Anatomia Viscerum (deutsche Ausgabe der französischen Erstausgabe von 1733). Jean Bonhomme Traité de la cephalatomie, ou description anatomique. Jacques Fabian Gautier d’Agoty, Anatomie de la Tête. Pierre Tarin Adversaria anatomica […] De omnibus cerebri. Edward Tyson A Philological Essay concerning the Pygmies (Erstausgabe 1699). Albrecht von Haller Iconum anatomicarum Fasciculus VII. Albrecht von Haller Icones anatomicæ. Samuel Thomas Soemmerring De Basi Encephali. Johann Christoph Andreas Mayer Anatomisch­Physiologische Abhandlung vom Gehirn. Samuel Thomas Soemmerring Über die körperliche Verschiedenheit des Mohren vom Europäer (o. Abb.). Félix Vicq d’Azyr Traité d’Anatomie et de Physiologie. Samuel Thomas Soemmerring Vom Hirn und Rückenmark.

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ANHANG

1796 1799 1807 1807–09

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ANHANG

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1721. [Gebunden in Ruysch, Frederik: Opera Omnia Anatomico-Medico Chirurgica. Amsterdam 1721.] Eustachi, Bartolomeo: Tabulæ Anatomicæ clarissimi viri Bartholomæi Eustachii. Quas è tenebris tandem vindicatas et Clementis XI. Pont. Max. Munificentiâ dono acceptas. Præfatione Notisque illustravit, ac ipso suæ Bibliothecæ dedicationis die publici juris fecit Jo. Maria Lancisius Intimus Cubicularius & Archiater Pontificius. Amsterdam 1722. Eustachi, Bartolomeo: Tabulæ Anatomicæ clarissimi viri Bartholomæi Eustachii. Quas è tenebris tandem vindicatas et Sanctissimi Domini Clementis XI. Pont. Max. Rom 1714. Fabian, Bernhard: Newtonsche Anthropologie: Alexander Popes Essay on Man. In: Fabian/ Schmidt-Biggemann/Vierhaus 1980. Fabian, Bernhard/Schmidt-Biggemann, Wilhelm/Vierhaus, Rudolph (Hg.): Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen. Studien zum achtzehnten Jahrhundert. Bd. 2/3. München 1980. Fabricius ab Aquapendente, Hieronymus: [Hieronymi Fabricii von Aquapendente, Edlen Ritters und Professoris zu Padua] Wund=Arznei / In II. Theile abgetheilet. Der I. Theil erkläret in fünff Büchern / alle Geschwulsten / Wunden / Geschwär und Fisteln / Brüche und Verrenckungen. Der II. Theil eröffnet alle neue Chirurgische Operationes oder Handgriffe der ganzen Wund=Arznei / welche von dem Haupt biß auf die Füsse anzubringen sind. Mit allen notwendigen in Kupfer gestochenen Chirurgischen Instrumentis, sonderbaren Anmerkungen / und einem Anhang von Missbrauch des Schrepffens / auch nützlichen Registern versehen. Allen Wund=Aerzten zu grossem Nutzen in die Teutsche Sprach übersetzet / durch Johannem Scultetum, Norib. Phil. & Med. D. P. R. Phys. Ordin. Zum andern mal gedruckt / und vielfältig verbässert. Nürnberg, Frankfurt a. M. 1684. Fabricius ab Aquapendente, Hieronymus: [Hieronymi Fabrici] Anatomices Et Chirurgiae In Florentissimo Gymnasio Patavino Professoris olim publici primarii supraordinarii. Frankfurt a. M. 1624. [Die Holzschnitte dieser Ausgabe sind verkleinerte Reproduktionen der Schnitte in der Ausgabe aus Ferrara 1600.] Faller, Adolf/Andreasen, Erik: Moderne Legenden zu den hirnanatomischen Zeichnungen des Discours. In: Stensen 1965. Felbel, Jochen Markus: Berührungspunkte und Wechselwirkungen zwischen Philosophie und Medizin in Antike, Mittelalter und Neuzeit. Ein Beitrag zur interdisziplinären Kooperation von Philosophie und Wissenschaft. Saarbrücken 1989. Finger, Stanley: Origins of Neuroscience. A History of Explorations into Brain Function. New York, Oxford 1994. Fink-Eitel, Heinrich: Foucault zur Einführung. Hamburg 1989. Fischer, Ernst Peter: Wissenschaft und Kunst. Über die Rolle der Bilder in der Ausübung und Vermittlung von Naturwissenschaft. In: Bredekamp/Werner 2002. Fischer, Kuno: Hegels Leben, Werke und Lehre. In: Ders.: Geschichte der neueren Philosophie. Bd. 8. Heidelberg 1901. Fischer, Rotraut/Schrader, Gerd/Stumpp, Gabriele: Natur nach Maß. Physiognomik zwischen Wissenschaft und Ästhetik. Marburg 1989. Flaherty, Gloria: The Non-Normal Sciences. Survivals of Renaissance Thaught in the Eighteenth Century. In: Fox/Porter/Wokler 1995. Flechsig, Paul: Hirnphysiologie und Willenstheorien. In: Annalen der Naturphilosophie. Bd. 4, Heft 4, S. 475–498. 1905. Florey, Ernst: Geist – Seele – Gehirn. Eine kurze Ideengeschichte der Hirnforschung. In: Roth, Gerhard/Prinz, Wolfgang (Hg.): Kopf-Arbeit. Gehirnfunktionen und kognitive Leistungen. Heidelberg, Berlin, Oxford 1996.

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Gall, Franz Joseph/Spurzheim, Johann Caspar: Anatomie und Physiologie des Nervensystems im Allgemeinen und des Gehirns insbesondere. Bd. 1 Paris 1810c. Gall, Franz Joseph/Spurzheim, Johann Caspar: Recherches sur le Système Nerveux en général, et sur celui du Cerveau en particulier; Mémoire présenté a l’Iinstitut de France, le 14 mars 1808; suivi d’observations sur le rapport en a été fait a cette compagnie par ses commissaires. Par F. J. Gall et G. Spurzheim. Avec une planche. Paris 1809. Garengeot, René Jacques Croissant de [Garengeot, Jacobi Crescentii]: Splanchnologia sive Anatomia Viscerum, Das ist: Gründliche Abhandlung von allen Eingeweiden die in denen dreyen Cavitäten des menschlichen Cörpers enthalten; Mit Original-Figuren gezieret, Welche nach denen Cadaveribus gestochen worden, Samt beygefügter Dissertation vom Ursprunge der Chirurgie und Medicin von der Vereinigung und endlichen Zertheilung dieser beyden Wissenschafften. Aus dem Französischen ins Teutsche übersetzt, von Alexander Mischel. Mit Kupfern. Berlin 1744. Gautier d’Agoty, Jacques Fabian: Anatomie de la Tête, en Tableaux Imprimés qui representent au naturel le Cerveau sous différentes coupes, la distribution des Vaisseaux dans toutes les Parties de la Tête, les Organs des Sens, & une partie de la Névrologie; d’après les Piéces disséquées & préparées, Par M. Duverney, Maître en Chirurgie, à Paris, Membre de l’Académie de Chirurgie, & Démonstrateur en Anatomie au Jardin Royal; En huit grandes planches, Dessinées, Peintes, Gravées, & Imprimées en Couleur & Grandeur naturelle, Par le Sieur Gautier, seul Previlégié du Roy pour cet Ouvrage; avec des Tables relatives aux Figures. Paris 1748. Gehring, Petra: Es blinkt, es denkt. Die bildgebenden und weltbildgebenden Verfahren der Neurowissenschaft. In: Philosophische Rundschau. Bd. 51, Heft 4, S. 273–295. Tübingen 2004. Geimer, Peter: Weniger Schönheit. Mehr Unordnung. Eine Zwischenbemerkung zu »Wissenschaft und Kunst«. In: Balmes/Bong/Mayer 2003. Gennari, Francesco: De peculiari Structura Cerebri nonnullisque ejus morbis. Paucae aliae anatom. Observat. accedunt. Parma 1792. Gerach, Christian: Segmentierung von Hirnstrukturen im MR DICOM-Bild und anderen 3D-Rekonstruktionen. Düsseldorf 2003. Gershon Michael D.: The Second Brain. A Groundbreaking New Understanding of Nervous Disorders of the Stomach and Intestine. New York 1998. Gerson, Horst: Rembrandt Gemälde Gesamtwerk. Wiesbaden 1968. Gertz, S. David: Basiswissen Neuroanatomie. Stuttgart, New York 2003. Geus, Armin: Christian Koeck (1758–1818), der Illustrator Samuel Thomas Soemmerrings. In: Mann/Dumont 1985. Geyer, Christian: Ohnmächtiges Verharren. Ist die Debatte um die Hirnforschung falsch inszeniert? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nr. 21, S. N3, Natur und Wissenschaft. 26. 1. 2005. Geyer, Christian (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt a. M. 2004. Geyer, Paul: Die Entdeckung des modernen Subjekts. Anthropologie von Descartes bis Rousseau. Tübingen 1997. Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt a. M. 2006. [Erstausgabe 1991.] Giglioni, Guido: The Machines of the Body and the Operations of the Soul in Marcello Malpighi’s Anatomy. In: Meli 1997.

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hoch-gelährten und weit-berühmten Herrn D. Joanne Veslingio, Anatom. Pharmac. Und Botanic. In der löblichen Hohen-Schule zu Padua gewesenen Professore; Jetzo aber / Allen Wund-Aerzten zu sonderbaren höchst-ersprießlichen Nutzen ins Teutsche übersetzt durch Gerhardum Blasium, Leon. Fil. Med. Doctorem. Nürnberg 1687. [Deutsche Erstausgabe: Kunstliche Zerlegung Menschlichen Leibes. Leiden 1652.] Vicq d’Azyr, Félix: Traité d’Anatomie et de Physiologie, avec des Planches Coloriées. Représentant au naturel les divers organes de l’Homme et des Animaux. Tome Premier. Paris 1786. Vierhaus, Rudolf (Hg.): Wissenschaften im Zeitalter der Auf klärung. Göttingen 1985. de Vieussens, Raymond: Neurographia Universalis. Ed. Nova. Leiden 1685. de Vieussens, Raymond: Neurographia Universalis. Lyon 1684. Voltaire: Kritische und Satirische Schriften. München 1984. Voss, Julia: Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837–1874. Frankfurt a. M. 2007. Voßkamp, Wilhelm: Semiotik des Menschen: Bildphysiognomie und literarische Transkription bei J. C. Lavater und G. C. Lichtenberg. In: Korrespondenzen. Visuelle Kulturen zwischen früher Neuzeit und Gegenwart. S. 150–163. Köln 2002. Wagner, Monika: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne. München 2001. Wagner, Rudolph: Samuel Thomas Soemmerings Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen. 1. und 2. Abtl. Leipzig 1844. Nachdruck hg. von Franz Dumont, Soemmering-Forschungen Bd. 2. Stuttgart, New York 1986. Wagner, Rudolph (Hg.): Handwörterbuch der Physiologie mit Rücksicht auf physiologische Pathologie. Erster Band. Darin: Volkmann, Alfred Wilhelm: Gehirn, S. 563–597. Braunschweig 1842. Waldby, Catherine: Iatrogenesis. The Visable Human Project and the reproduction of life. In: Fraser, Mariam/Greco, Monica (Hg.): The Body. A Reader. Abingdon, New York 2005. Walter, Harry: Total anschaulich. In: Balmes/Bong/Mayer 2003. von Walther, Philipp Franz: Neue Darstellungen aus der Gallschen Gehirn- und Schedellehre, als Erläuterungen zu der vorgedrukten Vertheidigungsschrift des Doktor Gall eingegeben bey der niederösterreichischen Regierung. Mit einer Abhandlung über den Wahnsinn, die Pädagogik und die Physiologie des Gehirns nach der Gallschen Theorie. München 1804. Wear, Andrew/French, Roger/Lonie, Iain (Hg.): The medical renaissance of the sixteenth century. Cambridge 1985. Weber, Bernhard: »Über das Organ der Seele« Samuel Thomas Soemmerring (1796). Köln 1987. Werner, Fritz Clemens: Wortelemente lateinisch-griechischer Fachausdrücke in den biologischen Wissenschaften. Frankfurt a. M. 1972. Werner, Gabriele: Das technische Bild – aus ästhetischer Sicht betrachtet. In: Heintz/Huber 2001. Wheeler, Susan/Cushing, Harvey: Five Hundred Years of Medicine in Art. An Illustrated Catalog of Prints and Drawings in the Clements C. Fry Collection. Ashgate 2001. White, Michael: Leonardo da Vinci. Der erste Wissenschaftler. Berlin 2004. Wiesing, Lambert: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt a. M. 2005. Wiesing, Urban: Kunst oder Wissenschaft? Konzeption der Medizin in der deutschen Romantik. Stuttgart 1995. Wilkie, J. S.: Body and Soul in Aristotelian Tradition. In: The History and Philosophy of Knowledge of the Brain and its Functions. An Anglo-American Symposium (London, July 15th17th, 1957). Amsterdam 1973. Wilkin, Rebecca M.: Figuring the Dead Descartes: Claude Clerselier’s Homme de René Descartes (1664). Representations. Nr. 83, S. 38–66. University of California Press 2003.

L I T ER AT UR

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Person en r egister

A Achillini,Alessandro 124 Ackermann, J.F. 425 Ancona,Augustinus Triumphus von 125 Alberti, Leon Battista 141 Albertus Magnus 123, 134, [479] Albinus, Bernhard Siegfried 227, 328, 403 Alkmaion von Kroton 112, 142 Andreasen, Erik 279 Aquin,Thomas von 125, 138 Aristoteles 30, 75, 103, 112–114, 116f., 122, 142, 144, 173, 242, 272, 329, 382, 433 Augustinus 121f. Autenrieth, Johann Heinrich Ferdiand von IX, 109, 119, 328, 398, 453f. Averroes 117, 433 Avicenna 101, 117, 122, 142, 174, 433 B Baader, Hannah 2 Bachmann-Medick, Doris 3 Bacon, Francis 29, 329, 371 Baldung , Hans 180f. Balmer, Heinz 333f., 337 Barba,Antonio 108 Bartholin, Caspar 236, 262, 281f., 346, [480] Bartholin,Thomas 252, –, 288, 291, 294, [480f.] Bartisch, Georg 57, [481] Bauhin, Caspar 236–238, [480] Baumgarten,Alexander Gottlieb 28 Beatis,Antonio de 162 Belting, Hans XVII, 5–7, 22, 38, 98, 111, 137, 208, 452

Berengario da Carpi, Jacopo XII, 52, 102, 115, 123–125, 131, 162, –, 184f., 187, 192, 200–209, 220, 284, 346, 412, 424, 452, [479] Bernoulli, Christoph 399, 402, 411, 414, 420 Berrettini da Cortona, Pietro 240 Bertruccio, Niccolò 102 Bidloo, Godefridus 40–42, 90, 189, 240, 270, 281, –, 316, 319–324, 376, [481] Bingen, Hildegard von 112 Blasius, Gerhard Leonard 293f., [481] Blech, Jörg 432 Blokhuysen, Regnier 320 Blooteling,Abraham 319 Blumenbach, Johann Friedrich 365, 368 Boë, Franciscus de la (Sylvius) 173, 285, 287, 300, 354 Boehm, Gottfried XI, XVII, 3, 17, 19, 65 Boerhaave, Herman XIII, 227, 299, 328, 330, 352, 369 Böhme, Gernot XVII, 5, 10, 11, 14, 18 Bonhomme, Jean Baptiste 339, 363, 415, [481] Bonnet, Charles 331, 370, 384 Bosch, Hieronimus 12 Braunfels-Esche, Sigrid 162 Brazier, Mary A. B. 249, 326, 329 Bredekamp, Horst XVII, 12, 17, 32, 62 Breidbach, Olaf 13, 19, 27, 29f., 32f., 74, 83f., 86, 90, 93, 437 Brunelleschi, Filippo 141 Bruns, Ferdinand 26, 31, 35 Brunschwig, Hieronymus 115, 126f., 130, 166, [479] Bucretius, s. Rindfleisch Buffon, Georges-Louis 366 Buonarroti, Michelangelo 138

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ANHANG

Burdach, Karl Friedrich 371, [482] Burke, Peter 60, 64, 75 Burri, Regula 443 Buschhaus, Markus 98, 106, 451 Butler, Judith 9 C Calcar, Stephan von 187 Camper, Petrus (Pieter) 80, 343, 406f. Canano, Giovanni Battista 36f. Carpus, Carpo, s. Berengario da Carpi Cartwright, Lisa 19, 93 Casman, Otto 364 Casserio, Giulio 42, 79, –, 273, 287f., 290, 292, 308, 339, [480] Cavendish, Margaret von 330 Cetto,Anna Maria 104, 208 Chaussier, François 420, [482] Choulant, Ludwig 37, 51, 210, 227, 235, 287, 290 Clair, Jean 361 Clark, Kenneth 146–149, 157 Clarke, Edwin 20, 115, 117, 123, 149, 157, 236, 244, 265, 267, 280, 314, 449 Clausberg, Karl XVIIIf., 184, 261, 280, 439 Clerselier, Claude 249f., 253–260, 262f., [480] Collins, Samuel 46, 293, 312, 315–318, [481] Comenius, Johann Amos 23, 295–297, [480] Conchies,Wilhelm von 120 Constantinus Africanus 101 Cook, Henry 319, 322 Cowey,Alan 130, 438 Cowper,William 316, –, 324, 346, [481] Crick, Francis 131 Cuvier, Georges 66f., 92 D Darwin, Charles 30, 51f., 66f., 367, 370, 429 Dennet, Daniel Clement 132 Descartes, René XIII, XIX, 21, 30, 42, 54f., 58, 74, 110f., 140, 236, –, 271–273, 279–281, 283–285, 289, 295–297, 299f., 325, 329f., 366, 371, 373, 384, 398, 416, 434, 450, 452, [480] Deuber-Mankowsky,Astrid 9 Dewhurst, Kenneth 20, 115, 123, 149, 157, 265, 267, 280, 314 Diderot, Denis 346, 371 Diemerbroeck, Isbrand van 311, [480]

Drake, James 364 Dryander, Johannes XII, 44, 156, 165, –, 191, 204, 206, 208, 218, 220f., 230, 344, 346, 357, [479] Dubois, Jacques (Jacobus Sylvius) 102, 173 Dürer,Albrecht 162 Duverney, Joseph-Gichard 342 E Eccles, John C. 243 Eckart,Wolfgang Uwe 104, 117 Eichmann, Johann s. Dryander Einstein,Albert 429, 441 Elsner, Norbert 122, 429 Erasistratos 114, 142 Erasmus von Rotterdam 433 Ersch, Johann Samuel 371 Estienne, Charles XII, 42, 44, 74, 87, 90, 177, 186, 196, –, 229, 400, 449, [480] Ettmüller, Michael Ernst 305, [481] Eustachi, Bartolomeo 54, –, 252, 277, 292, [480f.] Eyck, Jan van 12 F Fabricius ab Aquapendente, Hieronymus 166, 220, 289, [480] Faller,Adolf 279 Fazio, Bartolomeo 12 Feindel,William 264 Felbel, Jochen Markus 121, 134 Fernel, Jean 138, 246 Finger, Stanley 116, 246, 393 Fiorentini, Erna 28 Fischer, Ernst Peter 4, 28, 65, 70, 163, 438, 440 Fitzgerald, Michael 441 Flaherty, Gloria 385, 388 Fludd, Robert 129–131, [480] Flusser,Vilém 4f., 86, 441 Forge, Louis de La 244, 248–250, 258f., 262, 284, [480] Forster,Thomas 411 Foucault, Michel 30, 141, 364f. Fox, Christopher 365 French, Roger K. 84, 132, 167, 169 Friedrich Wilhelm II 350 Fries, Lorenz 166f., 175, [479]

P ER S O N EN R EGI S T ER

G Galen, Claudius XIf., 30, 36, 75, 82, 85, 92, 102, 106f., –, 121f., 131, 137, 150, 152, 156f., 165, 167, 174, 185–187, 204, 206f., 209, 214, 219, 226f., 234, 246, 265, 272, 294, 318, 330, 393, 412, 416, 433, 450, 480 Galilei, Galileo 249, 329 Galizia, Giovanni 21 Gall, Franz Joseph XIV, 20, 108f., 111, 330, 338, 380, 389–393, 399, 407, –, 434– 436, 449, 453, [482] Garengeot, René Jacques Croissant de 107, –, 363, [481] Gauss, Carl Friedrich 15, 71 Gautier d’Agoty, Jacques Fabian 53f., 278, –, 358, 363, [481] Gehring, Petra 436, 444, 447 Geimer, Peter 62, 455 Geminus,Thomas s. Lambrit,Thomas Gerson, Horst 201, 203 Gezelius d.Ä., Johannes 295 Giesecke, Michael 36, 76, 296 Giglioni, Guido 271 Glassbach, Carl Christian 400 Glassl,Thomas 30, 36, 78, 105, 131 Goelicke,Andreas Ottomar 305, [481] Goethe, Johann Wolfgang XI, 27, –, 84, 92, 299, 327f., 369f., 376, 382f., 387, 411f. Grévin, Jacques 190f. Grien, s. Baldung, Hans Grohmann, Johann Christian August 386 Gruber, Johann Gottfried 371 Gucht, Michiel van der 319 Gutenberg, Johannes 134 Gutschoven, Gérard van 249, 258f., 262, 284 H Haeckel Ernst XV, 270 Hagedorn, Marius 109, 264, 411, 413f. Hagner, Michael XIV, XVII, 13, 87, 113, 281, 327, 389, 398, 413, 422, 427, 431 Halle, Johann Samuel 333 Haller,Albrecht von XIII, 42–44, 47–49, 69, 110, –, 346, 350, 352–354, 363, 369, 400, [480f.] Hammacher, Klaus 243, 249, 260 Harmenszoon van Rijn s. Rembrandt

Harvey,William 83, 85, 220, 241, 264, 270, 292, 412f., [480] Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 34, 411f., 449 Heinroth, Johann Christian August 33 Heintz, Bettina 13, 92 Hentschel, Erwin 91 Herder, Johann Gottfried 366f., 394, 411, 427 Herophilos 114, 121f. Herrlinger, Robert 78, 105, 111, 119, 131, 133, 139, 149f., 159, 162, 170, 175, 177, 185, 210f., 220, 228 Heseler, Baldasar 103, 206, 226 Hildebrand, Reinhard 394 Hippokrates 112, 114, 116f., 142, 207, 272 Hobbes,Thomas 434 Hofmann,Werner 138f. Holbein d.Ä., Hans 208 Hooke, Robert 100, 422 Huard, Pierre 136, 150, 162 Huber, Hans-Dieter 31f., 45, 70f., 82 Huber, Jörg 13, 92 Humboldt,Alexander von 428 Hundt, Magnus 121, 182, 346, 364 Husserl, Edmund 8 Hustvedt, Siri 23 Hwang Woo Suk 442 Hyrtl, Joseph 454 I Isidor von Sevilla 433 Isler, Hansruedi 117 J Jahn, Ilse 117, 307 Jankrift, Kay Peter 131 Jonas, Hans 2, 4 K Kaltenhofer, Joel Paul 334 Kanitscheider, Bernulf 243 Kant, Immanuel XIV, 12, 31, 84, 325, 331, 364, 386, 388, –, 431 Karenberg,Axel 284, 475 Keele, Kenneth D. 118, 121, 144, 146, 148f., 152, 159, 163, 181 Kemp, Martin 32, 53, 68, 102, 105, 137, 139, 143, 145, 152, 209

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ANHANG

Ketham, Johannes de (Kirchheim, Hans von) 125f., 150, [479] Klages, Ludwig 385 Klemm,Tanja 7, 50, 99, 115, 167, 182, 187, 206 Klier, Gerhard 246 Koberger,Anton 126 Koch, Christof 131 Koch, Robert 440 Koeck, Christian 402, 404 Kohl, Karl-Heinz 2 Komensky, Jan s. Comenius Kotzebue,August von 94, 413 Krstic, Radivoj V. 27 Kruse, Christiane XVII, 4, 86 Kuhl,Willi 25, 58 Kurthen, Martin 444, 446 L Lairesse, Gérard de 319 Lamarck, Jean Babtist 372, 407 Lamazzo, Gian Paolo 162 Lambrit,Thomas 190 Lancisi, Giovanni Maria 110, 227 Laqueur,Thomas 9 Lavater, Johann Caspar XIV, 369, 373, 380, –, 389, 402, 412 Le Blon, Jacob Christoph 341f., 346 Leeuvenhoek,Antony von 100, 298 Leibniz, Gottfried Wilhelm 250f., 325, 369f., 384 Lembke, Sven 99, 107, 207 Lepenies,Wolfgang 364, 368 Leonardo da Vinci XIf., XVf., 21, 30, 32, 35–37, 48, 53f., 68f., 78, 105, 111, 117, 121, – , 170, 175, 177, 181, 235, 260, 296, 354, 433, 451, 479 Libet, Benjamin 436f. Lichtenberg, Georg Christoph 383, 387 Lind, Levi Robert 112, 170, 172, 187 Linden, Johannes Antonides van der 221, 224, 290, [480] Linné, Carl von 366 Louis XV (Ludwig XV von Frankreich) 341f., 346 Lowengard, Sarah 342, 345 Lower, Richard 266 Lyons,Albert S. 103, 133, 187

M Magnus,Albertus 123f., 134, [479] Marie Antoinette 357 Malpighi, Marcello 100, 271, 282, 298f., 338, [480f.] Manget, Jean-Jacques (Mangeti, Johannes Jacobi) 227, 277, 290, 303, 305, 314f., 322, [481] Mann, Gunter 401 Mansur ibn Muhammed 118 Massa, Niccolò 165, 184f., 187, [479] Mayer, Johann Christoph Andreas IX, 110, 264, 330, 334, –, 410, [481] McLaughlin, Peter 397 MacLean, Paul 445 Meckel, Johann Friedrich 337, 377, 425, [482] Mende, Matthias 180f. Merker, Nicolao 327 Mersenne, Marin 255 Merten, Sabine 17, 60 La Mettrie, Julien Offray de 280, 330, 352, 363, 389, 434 Mischel, Johann Alexander 338 Mitchell,William J.T. 2–4, 17, 84 Mocek, Reinhard XVI, 20, 243, 326, 329, 392 Mondino dei Luzzi 101f., 104, 120f., 134, 137, 150, 152, 166f., 174–177, 185, 191, 207, 400, 479 More, Henry (Henricus Morus) 214 Moritz, Karl Philipp 388 Mulisch, Harry IX, 61 Mundinus, Lucius s. Mondino dei Luzzi N Nemesios von Emesa 121f. Newberg,Andrew 110 Newton, Isaak 29, 326, 345, 371, 385 Nisbet, Hugh Barr 367 Nöth,Winfried 8 Novalis 391 O Oehler-Klein, Sigrid 385, 389, 391, 406 Oeser, Erhard 110, 114, 205, 243, 245, 280, 290, 407, 427 O’Malley, Charles Donald 136, 144, 146, 148, 152, 181, 187f., 236 Orleans,Theodulf von 433

P ER S O N EN R EGI S T ER

P Panofsky, Erwin 2, 23f., 61, 434 Paracelsus 449 Paré,Ambroise 102 Parmentier, Michael 104, 120, 187, 207 Pauen, Michael 437 Pauli, Simon 221, [480] Pedretti, Carlo 144, 148, 154, 163, 181 Petrucelli II, R. Joseph 103, 133, 187 Peirce, Charles Sanders 8 Petrarka 134 Peukert, Kurt Werner 32 Peyligk, Johannes 101, 128–130, 148f., [479] Peyronie, François Gigot de la 110, 363 Pflüger, Eduard Friedrich Wilhelm 329 Phryes, Phryesen s. Fries Platner, Ernst 367, 372f., 394, 398 Platner, Felix 239 Platon 1, 14, 30, 86, 112 Plinius d.Ä. 368 Pollaiuolo, Piero del 138 Popper, Karl 243 Pordage, Samuel 264 Premuda, Loris 102, 175 Prêtre, Jean Gabriel 415 Proxagoras von Kos 114 Prussia, Ludovicus de 126f., [479] Putscher, Marielene 13, 35, 53, 61, 68f., 77, 98f., 105, 145, 237, 270 R Rather, Lelland Joseph 431 Rau, Johannis Jacobus 304, [481] Reil, Johann Christian 113, 425f., [482] Rembrandt Harmenszoon van Rijn 80, 176, 181, 201, 208 Ridley, Humphrey 42, 227, 312, –, 346, [481] Rifkin, Benjamin A. 105 Rindfleisch, Daniel (Buctetius) 221, 290, [480] Rivière, Estienne de la (Stephano Riviero) 210, 218f. Robert, Jean 346 Roberts, K. B. 72, 107 Rollin, Christian Jeremias 334 Rorty, Richard 3 Roth, Gerhard 444f. Rothschuh, Karl E. 250, 258f.

Rousseau, Jean-Jacques 366f. Ruffel, Robert François 339 Ruysch, Frederik 266, –, 310, 320, 324, 338, 400, 424, [481] Ryff,Walter Hermann (Rivius) 180, [479] S Sachs-Hombach, Klaus 15 Sammet, Kai 120 Sartre, Jean-Paul 4f. Saunders, John Bertrand de C. M. 136, 144, 146, 148, 152, 181 de Saussure, Ferdinand 8 Schaar, Eckhard 138f. Schelle, Josef 435 Scherz, Gustav 271, 277, 279 Schiebinger, Londa 142 Schiller, Friedrich 28f. Schipperges, Heinrich 37f., 113 Schirrmeister,Albert 19, 60, 99, 131 Schischkoff, Georgi 81, 84f. Schmidt, Ludwig 402f. Schmitt, Charles B. 433 Schmitz, Norbert M. 30, 141, 367 Scholz, Oliver R. 22, 61 Schulz, Martin 4, 6, 8, 14, 445 Schuyl, Florent 42, 249f., 252–255, 258–263, 267, 300, [480] Schwann,Theodor Ambrose Hubert 422 Singer, Charles 114, 164, 184f., 188, 207, 280 Singer,Wolf 444 Sloan, Phillip 364 Smith, Edwin 109 Soemmering, Samuel Thomas XIIIf., 10, 25, 28f., 67, 94, 108, 111, 189, 245, 343, 353, 359f., 363, 376–380, –, 415, 419, 424–426, 432, 453, [481f.] Spiegel,Adrian van der 220–225, 290, [479f.] Spitzer, Manfred 449 Spurzheim, Johann Caspar 380f., 389, 391, 394, 411, –, 429, [482] Stafford, Barbara 282 Stahl, Georg Ernst XIII, 328f., 383, 385 Steffens, Heinrich 391, 411, 426 Stensen, Niels (Steno) XIII, 10, 25, 47f., 94, 111, 113, 241f., 252, 265, 268f., –, 281–283, 285, 287, 295, 343, 346, 400, 416, [480]

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ANHANG

Stephanus, Carolus s. Estienne Charles Stilling, Benedict 10, [482] Sturken, Marita 19, 93 Sturma, Dieter 6, 19 Swammerdam, Jan 299, 306f. Sylvius, Franciscus, s. de la Boë Sylvius, Jacobus s. Dubois T Talkenberger, Heike 17, 60 Tarin, Pierre 48, 54, 277f., –, 357f., 361, 363, 400, 415, [481] Teichmeyer, Hermann Friedrich 364 Tebartz van Elst, Ludger 439, 446 Thévenot, Melchisédec 271 Tiedemann, Friedrich 377–380, [482] Tittel, Sabine 102, 115 Tizian 138, 187 Toellner, Richard 326, 369 Tomlinson, J.D.W. 72, 107 Treviranus, Ludolph Christian 38, 49f., 63, 76, 371 Trevor-Roper, Patrick 25, 35 Tyson, Edward 280, 315, –, 380, [481] U Ullrich,Wolfgang 12, 75 V Valverde de Amusco, Juan 187, 234, 239, [480] Varoli, Constantino 110, –, 320, 334, 422, [480] Vasari, Georgio 12, 162 Vecellio,Tiziano s.Tizian Verrocchio,Andrea del 138 Vesal,Andreas XII, 36, 39, 42, 44f., 47, 52, 62f., 73, 75, 82, 85, 88, 92, 102f., 107, 111, 115, 117, 122, 162, 165, 169, 175, –, 214–218, 220–222, 225–227, 230–232, 234f., 238–240, 252, 254, 263, 273, 283, 285–288, 292, 306, 308f., 318, 324, 344, 346, 406, 451f., [479f.] Vesling, Johann 220, 236, 268, 281, 287f., –, 295, 309, 339, [480f.] Vicq d’Azyr, Félix XIII, 10, 25, 48, 54–56, 346, 355, –, 376, 400, 403f., 406, 415, [481]

de Vieussens, Raymond 227, –, 324, [481] da Vinci s. Leonardo Vogt,August Christoph Carl 449 Volkmann,Alfred Wilhelm 426f. Voltaire 326, 363, 370 Vorländer, Karl 386 Voss, Julia 51, 62, 66 Voßkamp,Wilhelm 386 W Wagner, Günther 91 Wagner, Rudolph 394, 406f., 410, 428, 454 Wallace, Marina 102, 105 Wallner, Elias 282–285, 287, 294, [480] Walther, Philipp Franz von 409 Warburg,Aby XV, 189, 452 Weber, Bernhard 432 Weiller, Cornelius 439 Wernicke, Carl 21 White, Michael 140 Whytt, Robert 328f. Wiesing, Lambert XVII, 4, 8, 70 Wilkin, Rebecca M. 249f., 258, 261 Willems, Gottfried 327f. Willis,Thomas XIII, 100, 111, 115, 117, 227, 241f., 245, –, 272f., 277, 280, 283, 285, 288, 290, 292, 295, 303f., 310, 312, 316, 320, 332, 346, 352, 400, 425, 449, [480] Winter von Andernach, Johannes 165 Wolff, Caspar Friedrich 370 Wolff, Christian 84, 369 Wundt, Max 327 Wyss, Beat 8 Z Zaddiks, Joseph ben Jacob ben 433 Zerbi, Gabriel de 166, 176, [479] Zimmermann,Anja 12 Zinn, Johann Gottfried 337 Zittel, Claus XVII, 4, 21, 39, 63–65, 73, 83, 85, 88f., 99, 141, 189, 406 Zizek, Slavoj 11

FA R BTA FEL - U N D BILDNACH W EIS

Farbtafeln TAFEL I: Fludds »Erinnerungsscheinwerfer« (Clausberg, 1999) aus Utriusque Cosmi Maioris scilicet et Minoris Metaphysica, Fludd (1619).Vgl.Abb. 27, S.129. TAFEL II: Gehirn von oben in verschiedenen horizontalen Schnittebenen aus der Isagogae breves, Berengario (1522).Vgl.Abb. 41, S.171. TAFEL III: Details aus der ersten bis vierten Hirntafel aus La dissection des parties du corps humain, Estienne (1546).Vgl.Abb. 60-63, S.212f., S.215f. TAFEL IV: Gehirn, Rückenmark und Nerven,Tafel XVIII aus Tabulæ anatomicæ, Eustachi (1552).Vgl. Abb. 75, S.233. TAFEL V: Zirbeldrüse zum Ausklappen, Fig.LIV aus De Homine. Figuris et Latinitate Donatus a Florentino Schuyl, Descartes (1662).Vgl.Abb. 85, S.255. TAFEL VI: Hirnbasis mit Hirnstamm und -nerven,Tafel I aus Cerebri Anatome,Willis (1664).Vgl.Abb. 92, S.268. TAFEL VII: Injektion von Wachs bzw. Farbe in die Blutgefäße des Gehirns,Tab.10 aus Opera Omnia Anatomico-Medico Chirurgica, Ruysch (1737).Vgl.Abb.107, S.302. TAFEL VIII: Hirnbasis,Tab.I aus Icones anatomicæ, Fasciculus VII, Haller (1754).Vgl.Abb.123, S.335. TAFEL IX: Mediosagittalschnitt durch Kopf und Hals,Tab.4 aus Anatomie de la Tête, Gautier d’Agoty (1748).Vgl.Abb. 8, S.53. TAFEL X oben: Horizontaler Hirnschnitt im aufgesägten und -geklappten Kopf (Fig.1) und Kopf von vorn mit freigelegtem Frontallappen (Fig.2);TAFEL X unten: Frontaler Hirnschnitt auf Höhe des Kleinhirns (Fig.1), Kopf bei dem der obere Teil einer Hirnhälfte entfernt wurde (Fig.2) und hinterer Teil eines horizontal zersägten Schädels mit Blick auf eine Kleinhirnhälfte (Fig.3),Tab.5 und 6 aus Anatomie de la Tête, Gautier d’Agoty (1748).Vgl.Abb.129-130, S.344f. TAFEL XI: : Mediosagittal geschnittenes Gehirn im Schädel (Fig.1), mediosagittal geschnittener und aufgeklappter Hirnstamm samt Kleinhirn (Fig.2), horizontaler Hirnschnitt auf Höhe der Sehnervenkreuzung (Fig.3),Tafel II aus Adversaria anatomica,Tarin (1750).Vgl.Abb. 133, S.349. TAFEL XII:Auf zwei verschiedenen Ebenen frontal geschnittene Gehirne auf Höhe der Hypophyse (Fig.1) und durch die Hinterhörner des Seitenventrikels (Fig.2),Tafel III aus Adversaria anatomica, Tarin (1750).Vgl.Abb. 134, S.349. TAFEL XIII: Freigelegtes Großhirn, Planche III aus Traité d’Anatomie et de Physiologie,Vicq d’Azyr (1786). Vgl.Abb. 138, S.358. TAFEL XIV: Horizontaler Hirnschnitt auf Höhe der Sehnervenkreuzung,Tafel XV aus Traité d’Anatomie et de Physiologie,Vicq d’Azyr (1786).Vgl.Abb. 140, S.359. TAFEL XV: Hirnbasis,Tafel XVII aus Traité d’Anatomie et de Physiologie,Vicq d’Azyr (1786).Vgl.Abb. 11, S.56. TAFEL XVI: Frontispiz des Traité d’Anatomie et de Physiologie,Vicq d’Azyr (1786).Vgl.Abb. 143, S.362.

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ANHANG

Abbildungen Die in den Bildunterschriften angegebenen Jahreszahlen betreffen stets diejenige Buchausgabe, aus der das abgedruckte Bild fotografiert wurde. Sie deckt sich nicht immer mit der Jahresangabe der im Text genannten Erstveröffentlichung. Es war mir möglich, den größeren Teil der Bilder selbst zu fotografieren. Dazu hatte ich vor allem in der Bibliothek des Ärztlichen Vereins der Hamburger Ärztekammer Gelegenheit, wo ein Drittel aller Aufnahmen entstanden ist. Ebenso entgegenkommend war man in der Handschriftensammlung der Hamburger Staatsbibliothek sowie in der Universitätsbibliothek Kiel. Einige dieser Aufnahmen genügten meinen Qualitätsansprüchen nicht. Sie mussten für den Druck der Arbeit erneut aufgenommen werden. Stefan Exler, Hamburg, hat die gekennzeichneten Abbildungen auf Film fotografiert und gescannt. Bibliothek des Ärztlichen Vereins: Abb. 1–2, Abb. 5, Abb. 8, Abb. 11–12, Abb. 14, Abb. 16, Abb. 47a–54, Abb. 56, Abb. 58–59, 60–63 (Exler), Abb. 65, Abb. 67, Abb. 68–73 (Exler), Abb. 74, Abb. 75 (Exler), Abb. 78–79 (Exler), Abb. 98–102, Abb. 105–106, Abb. 110–114, Abb. 117, Abb. 120–122 (Exler), Abb. 126, Abb. 128–130, Abb. 135–143, Abb. 156. Handschriftensammlung der Hamburger Staatsbibliothek: Abb. 9–10, Abb. 15, Abb. 37, Abb. 39–43, Abb. 45, Abb. 82–91, Abb. 103–104. Universitätsbibliothek Kiel: Abb. 3–4b, Abb. 7a–7b, Abb. 95, Abb. 107–109, Abb. 123–125, Abb. 131–134. Weitere Digitalisate konnte ich bei der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, bei der Universitätsbibliothek Rostock und bei der Leibniz Bibliothek Hannover bestellen. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: Abb. 19 Signatur A: 169 Quod. (5) Abb. 20 Signatur M: Mk 472 Abb. 24–26 Signatur A: 125.2 Quod. 2° (2) Abb. 44 Signatur A: 25 Geom. 2° (5) Abb. 57a–57b Signatur A: 26.10 Med. Abb. 64 und Abb. 66 Signatur M: Mb 59 (1) Abb. 76–Abb. 77 Signatur A: 43.13 Phys. (2) Abb. 80 Signatur A: 9.1 Phys. (2) Abb. 92–93 Signatur M: Mb 445 Abb. 115–116 Signatur M: Mb 4° 102 Abb. 127 Signatur M: Mb 235 Abb. 144 Signatur M: Ho 4° 29 Abb. 146 Signatur M: Mb. 2° 78c Abb. 147–149 und Abb. 157–158 Signatur M: Mc 299 Abb. 155 Signatur M: Mb 410 Universitätsbibliothek Rostock: Abb. 152–154. Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek (Niedersächsische Landesbibliothek): Abb. 81a–81b. Die Bildrechte für Abb. 150–151 liegen bei der Universitäts- und Landesbibliothek in Münster (Handschriftenabteilung). Rolf Siemon, Kurator der Ausstellung Samuel Thomas Soemmerring (1755–1830). Mediziner und Naturwissenschaftler aus Thorn gestattete mir freundlicher-

FAR BTAF EL- UN D BI L D N AC H W EI S

weise im Namen des Westpreußischen Landesmuseums in Münster die Veröffentlichung der beiden Tafeln. Sie sind ebenfalls in Siemon (2004), S. 16 abgedruckt. Für die Nutzungsrechte von Abb. 27 (Farbtafel I) bedanke ich mich bei Karl Clausberg. Weitere Abbildungen habe ich der Literatur entnommen (vollständige Angaben s. Literaturliste): Darwin (1919a): Abb. 13 Sudhoff (1923): Abb. 21 Scherz (1965): Abb. 94, Abb. 96–97 (alle Exler) Wolf Heidegger/Cetto (1967): Abb. 17, Abb. 55 Herrlinger (1967a): Abb. 18, Abb. 22, Abb. 28, Abb. 36 (Exler) Hoffmann/Schaar (1979): Abb. 33 Keele/Pedretti (1979): Abb. 29–30, Abb. 31–32 (Exler), Abb. 34–35 (Exler), Abb. 38 (Exler) Vier Abbildungen habe ich aus der Datenbank Early English Books Online (http://eebo.chadwyk. com) geladen, deren Nutzung durch die Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) nach Registrierung (unter www.nationallizenzen.de) ermöglicht wird: Abb. 6, Abb. 23, Abb. 118–119

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